IT-Recht: Kommentar 9783504385781

In contrast to many other legal areas, IT law is not bundled in a single piece of legislation; it is spread out over man

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IT-Recht: Kommentar
 9783504385781

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Schuster/Grützmacher · IT-Recht Kommentar

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ITRecht Kommentar EU-Recht . Nationales Recht Besondere Vertragsbedingungen

herausgegeben von

Prof. Dr. Fabian Schuster Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht, Düsseldorf Honorarprofessor an der Universität zu Köln

Dr. Malte Grützmacher,

LL.M. (University of London) Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht, Hamburg

2020

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Bearbeiter Prof. Dr. Susanne Beck, LL.M. (LSE) Leibniz Universität Hannover Matthias Bergt Berlin Dr. Sebastian Cording Fachanwalt für IT-Recht/Urheber- und Medienrecht, Hamburg Dr. Kay Diedrich Fachanwalt für IT-Recht, Essen Dr. Michael Dorner Rechtsanwalt, München Dr. Alexander Duisberg Rechtsanwalt, München Dr. Bernhard Freund, LL.M. (Wellington), M.Comp.Sc. Fachanwalt für IT-Recht, Hamburg Dr. Anna Giedke Rechtsanwältin, München Dr. Jan-Michael Grages Rechtsanwalt, Hamburg Dr. Malte Grützmacher, LL.M. (University of London) Fachanwalt für IT-Recht, Hamburg Prof. Dr. Philip Haellmigk, LL.M. Rechtsanwalt, München Solicitor (England & Wales) Licencié en Droit (France) Professor an der FOM Universität, München Dr. Jürgen Hartung Rechtsanwalt, Köln Dr. Rolf Hempel Rechtsanwalt, Stuttgart Dr. Truiken Heydn Rechtsanwältin, München Jens Horstkotte Rechtsanwalt, München Dr. Sven Hunzinger Rechtsanwalt, Düsseldorf Dr. Till Jaeger Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht, Berlin Dr. Michael Karger Fachanwalt für IT-Recht/Verwaltungsrecht, München

Dr. Olaf Koglin Rechtsanwalt, Berlin Dr. Michael Kraus Fachanwalt für IT-Recht, Stuttgart Dr. Till Kreutzer Rechtsanwalt, Berlin Dr. Lars Lensdorf Rechtsanwalt, Frankfurt/M. Dr. André Sabellek, B.Sc. Rechtsanwalt, Düsseldorf Dr. Jörg Schneider-Brodtmann Rechtsanwalt, Stuttgart Dr. Jochen Scholz Rechtsanwalt, Freiburg Dr. Carsten Schulz Rechtsanwalt, Hamburg Prof. Dr. Fabian Schuster Fachanwalt für IT-Recht, Düsseldorf Honorarprofessor an der Universität zu Köln Dr. Alin Seegel Rechtsanwältin, München Dr. Thomas Stögmüller, LL.M. (Berkeley) Fachanwalt für IT-Recht, München Prof. Dr. Marc Strittmatter HTWG Konstanz Of-Counsel, Stuttgart Dr. Sascha Vander, LL.M. (Informationsrecht) Fachanwalt für IT-Recht, Köln Prof. Dr. Rupert Vogel Fachanwalt für IT-Recht, Karlsruhe Honorarprofessor an der Universität Mannheim Jenny Wieser, LL.M. (Golden Gate University) Oberverwaltungsrätin, München Dr. Christoph Wolf Rechtsanwalt, Stuttgart Prof. Dr. Herbert Zech Humboldt-Universität zu Berlin Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft

Zitierempfehlung: Bearbeiter in Schuster/Grützmacher, IT-Recht, § … Rz. …

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-56106-2 ©2020 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Die Informationstechnologie ist in den letzten Jahrzehnten, zunächst getrieben durch Großrechner, Server, PCs und Netzwerke (einschl. des Internets), zuletzt durch Embedded Systems, Smartphones und das Cloud-Computing, zu einem bedeutsamen Rückgrat der modernen Informationsgesellschaft geworden. Softwareseitig ermöglichten dies kommerzielle Standardsoftware wie auch Open Source Software einerseits sowie zusehends große Datenmengen und -basen andererseits. Softwareprojekte wie F&E-Kooperationen führen zu deren Veredelung. Die Bedeutung der IT für Unternehmen und deren Produkte, aber auch für die Gesellschaft nimmt weiterhin exponentiell zu. Big Data und KI ermöglichen eine datengetriebene Wirtschaft. Zugleich entwickeln sich immer wieder und immer rasanter neue Anwendungsmöglichkeiten und neue Technologien. Auch klassische Branchen und Industrien werden digitalisiert. Dementsprechend ergeben sich beim IT-Recht täglich viele neue Fragestellungen und Probleme. Der Begriff des IT-Rechts ist dabei schillernd: Begreift man ihn im Sinne des Fachanwaltes für Informationstechnologierecht, dann umfasst er neben dem klassischen EDV-/Computer-Recht auch E-Commerce-, Internet- und Telekommunikationsrecht. Für das vorliegende Werk sind die Herausgeber von einem vor allem technologieorientierten Ansatz ausgegangen, nämlich von einer Konzentration auf das durch die Nutzung von Hardware, Software und Daten geprägte klassische IT-Recht (samt Datenschutzrecht). Während in anderen Bereichen der Gesetzgeber diese Entwicklungen zum Anlass genommen hat, entsprechende Spezialgesetze zu schaffen (etwa im Bereich der Telekommunikation durch das TKG oder bei den Mediendiensten durch das TMG bzw. den MDStV), gibt es im Bereich des klassischen ITRechts nur vereinzelt besondere Gesetze, während sich der weitaus überwiegende Anteil der relevanten Normen über viele verschiedene Rechtsquellen verteilt. Dabei ist das klassische IT-Recht in besonderer Weise von der Praxis und Erfahrung der beteiligten Juristen abhängig, weil es auf der einen Seite in vielen Bereichen keine oder keine nachvollziehbare Rechtsprechung der Gerichte gibt. Bei zahlreichen Themen gibt es auf der anderen Seite zwar umfangreiche Literatur; diese ist aber bisher nicht systematisiert zusammengeführt und auf das IT-Recht fokussiert kommentiert worden. Soweit IT-rechtliche Fragen in den speziellen Gesetzes-Kommentaren überhaupt angesprochen werden, handelt es sich in der Regel (mit Ausnahme der computer- und datenbankbezogenen Vorschriften des UrhG) um eher knappe Ausführungen. Vor diesem Hintergrund war es Ziel des vorliegenden Werkes, erstmals eine ausführliche Querschnittskommentierung, d.h. eine Erörterung der wesentlichen Vorschriften der verschiedenen Gesetze, die für das klassische IT-Recht eine Rolle spielen, vorzulegen. Neben den einschlägigen Vorschriften des Zivil- und Urheberrechts umfasst dies auch kartell- und strafrechtliche Regelungen sowie Normen aus AWG, DSGVO, Dual-Use VO, GeschGehG, HGB, InsO, KWG, PatG, ProdHaftG, ProdSG, Rom I & II und WpHG sowie last, but not least spezifische Vertragsbestimmungen für Open Source Software. Hinsichtlich des Aufbaus haben wir uns für eine Dreiteilung entschieden, die der Hierarchie der Normen folgt und die Handhabung erleichtern soll: EU-Recht, Nationales Recht und Besondere Vertragsbedingungen. Dabei sollen die übergreifenden Rechtsfragen nicht nur in einem Werk erörtert, sondern umfassend und integrativ behandelt werden. Die systematische Zusammenstellung der Aspekte und Probleme sowie korrespondierender Argumentationslinien in Kommentarform soll dem Leser einen besseren und schnelleren Zugriff auf die komplexen Rechtsfragen des klassischen IT-Rechts ermöglichen. Mangels vergleichbarer Werke war dies nicht nur konzeptionell eine besondere Herausforderung, sondern auch mit Blick auf die Gewinnung namhafter und in der Praxis erfahrener Autoren. Die Autoren haben langjährige einschlägige Erfahrung und sind durch Vorträge sowie Veröffentlichungen in dem Gebiet des klassischen IT-Rechts ausgewiesen. Die Entstehung des Kommentars hat sich wegen der Neuartigkeit des Ansatzes und der Gewinnung namhafter, erfahrener Autoren über viele Jahre hingezogen – von der ersten Idee über die Planung bis zur Fertigstellung der Manuskripte. Angesichts dessen ist dieses Werk nicht nur „einfach“ ein Gemeinschaftswerk, sondern eine außerordentliche gemeinschaftliche Anstrengung aller Beteiligten. Die He-

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Vorwort

rausgeber danken allen Autoren für ihr großes Engagement und nicht zuletzt für ihre Geduld während der Entstehung des Werkes. Autoren, Herausgeber und Verlag sind dankbar für jede konstruktive Kritik, die dabei helfen kann, die Diskussion im IT-Recht zu vertiefen. Bitte richten Sie sie per Mail an [email protected] oder direkt an die Herausgeber und Autoren. Düsseldorf und Hamburg, im März 2020 Fabian Schuster

Malte Grützmacher

Es haben bearbeitet: Beck Bergt Cording Diedrich Dorner Duisberg Freund Giedke Grages Grützmacher Haellmigk Hartung Hempel Heydn Horstkotte Hunzinger Jaeger Karger Koglin Kraus Kreutzer Lensdorf Sabellek Schneider-Brodtmann Scholz Schulz Schuster Seegel Stögmüller Strittmatter Vander Vogel Wieser Wolf Zech

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§§ 202a–202d, 303a–303b StGB §§ 611–628 BGB (zusammen mit Horstkotte), Überblick vor §§ 433–675 BGB (zusammen mit Schuster) §§ 276–286 BGB §§ 433–453 BGB §§ 2, 3 GeschGehG §§ 313, 314 BGB (zusammen mit Wieser) DSGVO Rom I VO, Rom II VO LGPLv2.1, LGPLv3 §§ 535–581 BGB; §§ 4, 15–17, 19a, 23, 55a, 60d UrhG; ASL; BSD § 2 AWG; Art. 2 Dual-Use VO § 203 StGB Art. 101 AEUV; §§ 1, 2 GWB; TT-GVO; Vertikal-GVO §§ 249–254, 823, 826 BGB; §§ 1–4 ProdHaftG; §§ 1–3, 6 ProdSG §§ 611–628 BGB (zusammen mit Bergt) §§ 305–310 BGB; §§ 69a–69g UrhG (zusammen mit Schuster) GPLv2 Präambel und Ziffer 0-4 (zusammen mit Koglin), GPLv3 §§ 315–319 BGB GPLv2 Präambel und Ziffer 0-4 (zusammen mit Jaeger) §§ 339–345 BGB GPLv2 Ziffer 5-12 und Anweisungen zur Verwendung (zusammen mit Schulz) §§ 25a, b KWG; § 80 WpHG § 1 PatG §§ 346–350 BGB §§ 97–105 UrhG GPLv2 Ziffer 5-12 und Anweisungen zur Verwendung (zusammen mit Kreutzer) §§ 241, 311, Überblick vor §§ 433–675 BGB (zusammen mit Bergt), §§ 631–650 BGB; §§ 69a–69g UrhG (zusammen mit Hunzinger) § 103 InsO §§ 266, 269, 271, 273, 320–326 BGB §§ 662, 666, 667, 670, 675, 675c BGB IT-Leasing (Vor §§ 535 ff. BGB) §§ 84–92c HGB §§ 313, 314 BGB (zusammen mit Duisberg) Art. 102 AEUV; F&E-GVO; §§ 18–20 GWB §§ 87a–87e UrhG

Inhaltsübersicht Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Teil EU-Recht Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Art. 101 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (Hempel) . . . . . . . . . . . . . . . Art. 102 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Wolf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (Freund) Vorbemerkungen zur DSGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 6 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 9 Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten . . . . . . . . . . . . . Art. 24 Verantwortung des für die Verarbeitung Verantwortlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 26 Gemeinsam Verantwortliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 28 Auftragsverarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 29 Verarbeitung unter der Aufsicht des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters Art. 32 Sicherheit der Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 44 Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 45 Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses . . . . . . . Art. 46 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 47 Verbindliche interne Datenschutzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 48 Nach dem Unionsrecht nicht zulässige Übermittlung oder Offenlegung . . . . . . . . Art. 49 Ausnahmen für bestimmte Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 50 Internationale Zusammenarbeit zum Schutz personenbezogener Daten . . . . . . . .

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Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-Use VO) (Haellmigk) Art. 1 Art. 2 Art. 3 Art. 4 Art. 8 Art. 12

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IX

Inhaltsübersicht

Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung (F&E-GVO) (Wolf) Seite

Art. 1 Art. 2 Art. 3 Art. 4 Art. 5 Art. 6 Art. 7 Art. 8 Art. 9

Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . Freistellung . . . . . . . . . . . . . . . . Freistellungsvoraussetzungen . . . . . Marktanteile und Freistellungsdauer . Kernbeschränkungen . . . . . . . . . . Nicht freigestellte Beschränkungen . . Anwendung der Marktanteilsschwelle Übergangszeitraum . . . . . . . . . . . Geltungsdauer . . . . . . . . . . . . . .

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Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I VO) (Giedke) Vorbemerkungen zu Rom I VO und Rom II VO . . . . . . . . . . . . . . Art. 1 Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 2 Universelle Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 3 Freie Rechtswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 4 Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht . . . . . . . . . . . Art. 6 Verbraucherverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 8 Individualarbeitsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 9 Eingriffsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 10 Einigung und materielle Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . Art. 12 Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts . . . . . . . . . . . Art. 19 Gewöhnlicher Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 20 Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung . . . . . . . . . . Art. 21 Öffentliche Ordnung im Staat des angerufenen Gerichts . . . Art. 22 Staaten ohne einheitliche Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . Art. 23 Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsrechtsakten . . . . . . . . Art. 24 Beziehung zum Übereinkommen von Rom . . . . . . . . . . . Art. 25 Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen . Art. 28 Zeitliche Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II VO) (Giedke) Vorbemerkungen zu Rom I VO und Rom II VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 1 Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 2 Außervertragliche Schuldverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 3 Universelle Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 4 Allgemeine Kollisionsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 5 Produkthaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 6 Unlauterer Wettbewerb und den freien Wettbewerb einschränkendes Verhalten X

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Art. 8 Art. 9 Art. 10 Art. 11 Art. 12 Art. 13 Art. 14 Art. 15 Art. 16 Art. 17 Art. 23 Art. 24 Art. 26 Art. 27 Art. 28 Art. 31 Art. 32

Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums . . . . . . . . Arbeitskampfmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungerechtfertigte Bereicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschäftsführung ohne Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschulden bei Vertragsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . Anwendbarkeit des Art. 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freie Rechtswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts . . . . . . . . . . Eingriffsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheits- und Verhaltensregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewöhnlicher Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung . . . . . . . . . . Öffentliche Ordnung im Staat des angerufenen Gerichts . . . Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsrechtsakten . . . . . . . Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen Zeitliche Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitpunkt des Beginns der Anwendung . . . . . . . . . . . . .

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Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21. März 2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von TechnologietransferVereinbarungen (TT-GVO) (Hempel) (Erwägungsgründe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen zur TT-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 1 Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 2 Freistellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 3 Marktanteilsschwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 4 Kernbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 5 Nicht freigestellte Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . Art. 6 Entzug des Rechtsvorteils im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . Art. 7 Nichtanwendung dieser Verordnung . . . . . . . . . . . . . . Art. 8 Anwendung der Marktanteilsschwellen . . . . . . . . . . . . . Art. 9 Verhältnis zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen . Art. 10 Übergangszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 11 Geltungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (Vertikal-GVO) (Hempel) (Erwägungsgründe) . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen zur Vertikal-GVO . Art. 1 Begriffsbestimmungen . . . Art. 2 Freistellung . . . . . . . . . . Art. 3 Marktanteilsschwelle . . . .

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342 344 346 350 358

XI

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Art. 4 Art. 5 Art. 6 Art. 7 Art. 8 Art. 9 Art. 10

Beschränkungen, die zum Ausschluss des Rechtsvorteils der Gruppenfreistellung führen – Kernbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht freigestellte Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtanwendung dieser Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der Marktanteilsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der Umsatzschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergangszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geltungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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358 361 363 363 364 365 365

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367 367

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373 374 375 375

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377 389 411 415 421 425 430 437 443 449 456 462 462 463 471 472 478

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483

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495 496 497 499

2. Teil Nationales Recht Außenwirtschaftsgesetz (AWG) (Haellmigk) §1 §2 §4 §5 §8 § 15

Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkungen und Handlungspflichten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der auswärtigen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand von Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erteilung von Genehmigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsunwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 241 § 249 § 250 § 251 § 252 § 253 § 254 § 266 § 269 § 271 § 273 § 274 § 275 § 276 § 277 § 278 § 280 § 281 § 282 § 283 § 284 § 285 XII

Pflichten aus dem Schuldverhältnis (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art und Umfang des Schadensersatzes (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz in Geld nach Fristsetzung (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgangener Gewinn (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immaterieller Schaden (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitverschulden (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilleistungen (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsort (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungszeit (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurückbehaltungsrecht (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen des Zurückbehaltungsrechts (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss der Leistungspflicht (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortlichkeit des Schuldners (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz wegen Pflichtverletzung (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz statt der Leistung wegen nicht oder nicht wie geschuldet erbrachter Leistung (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz statt der Leistung wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatz statt der Leistung bei Ausschluss der Leistungspflicht (Cording) . Ersatz vergeblicher Aufwendungen (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausgabe des Ersatzes (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 286 § 287 § 305 § 305a § 305b § 305c § 306 § 306a § 307 § 308 § 309 § 310 § 311 § 313 § 314 § 315 § 316 § 317 § 318 § 319 § 320 § 321 § 322 § 323 § 324 § 325 § 326

Verzug des Schuldners (Cording) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortlichkeit während des Verzugs (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag (Hunzinger) . . . . . Einbeziehung in besonderen Fällen (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorrang der Individualabrede (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überraschende und mehrdeutige Klauseln (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen bei Nichteinbeziehung und Unwirksamkeit (Hunzinger) . . . . . . . . . . Umgehungsverbot (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltskontrolle (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereich (Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse (Schuster) . . . . . Störung der Geschäftsgrundlage (Duisberg/Wieser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund (Duisberg/Wieser) . . Bestimmung der Leistung durch eine Partei (Karger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmung der Gegenleistung (Karger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmung der Leistung durch einen Dritten (Karger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfechtung der Bestimmung (Karger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unwirksamkeit der Bestimmung; Ersetzung (Karger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einrede des nicht erfüllten Vertrags (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unsicherheitseinrede (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verurteilung zur Leistung Zug-um-Zug (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung (Stögmüller) . . . Rücktritt wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 (Stögmüller) . . . . . . . . . Schadensersatz und Rücktritt (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt beim Ausschluss der Leistungspflicht (Stögmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 339 Verwirkung der Vertragsstrafe (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 340 Strafversprechen für Nichterfüllung (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 341 Strafversprechen für nicht gehörige Erfüllung (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 342 Andere als Geldstrafe (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 343 Herabsetzung der Strafe (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 344 Unwirksames Strafversprechen (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 345 Beweislast (Kraus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 346 Wirkungen des Rücktritts (Schneider-Brodtmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 347 Nutzungen und Verwendungen nach Rücktritt (Schneider-Brodtmann) . . . . . . . . . § 348 Erfüllung Zug-um-Zug (Schneider-Brodtmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 349 Erklärung des Rücktritts (Schneider-Brodtmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 350 Erlöschen des Rücktrittsrechts nach Fristsetzung (Schneider-Brodtmann) . . . . . . . . Überblick vor §§ 433–675 (Bergt/Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 433 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 434 Sachmangel (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 435 Rechtsmangel (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 437 Rechte des Käufers bei Mängeln (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 438 Verjährung der Mängelansprüche (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 439 Nacherfüllung (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 440 Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz (Diedrich) . . . . . . . . . § 441 Minderung (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

502 510 510 521 522 523 526 529 531 562 578 606 609 619 630 636 647 649 656 657 661 668 671 673 698 701 702 709 723 726 730 730 733 734 735 755 759 761 763 764 773 798 824 835 841 853 859 865 XIII

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§ 442 Kenntnis des Käufers (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 443 Garantie (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 444 Haftungsausschluss (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 445a Rückgriff des Verkäufers (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 445b Verjährung von Rückgriffsansprüchen (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 446 Gefahr- und Lastenübergang (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 447 Gefahrübergang beim Versendungskauf (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 448 Kosten der Übergabe und vergleichbare Kosten (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 449 Eigentumsvorbehalt (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 450 Ausgeschlossene Käufer bei bestimmten Verkäufen (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . § 451 Kauf durch ausgeschlossene Käufer (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 453 Rechtskauf (Diedrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor §§ 535 ff. IT-Leasing (Vander) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 535 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . § 536 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . § 536a Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 536b Kenntnis des Mieters vom Mangel bei Vertragsschluss oder Annahme (Grützmacher) § 536c Während der Mietzeit auftretende Mängel; Mängelanzeige durch den Mieter (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 536d Vertraglicher Ausschluss von Rechten des Mieters wegen eines Mangels (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 537 Entrichtung der Miete bei persönlicher Verhinderung des Mieters (Grützmacher) . . § 538 Abnutzung der Mietsache durch vertragsgemäßen Gebrauch (Grützmacher) . . . . . . § 539 Ersatz sonstiger Aufwendungen und Wegnahmerecht des Mieters (Grützmacher) . . . § 540 Gebrauchsüberlassung an Dritte (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 541 Unterlassungsklage bei vertragswidrigem Gebrauch (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . § 542 Ende des Mietverhältnisses (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 543 Außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund (Grützmacher) . . . . . . § 544 Vertrag über mehr als 30 Jahre (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 545 Stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses (Grützmacher) . . . . . . . . . . . § 546 Rückgabepflicht des Mieters (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 546a Entschädigung des Vermieters bei verspäteter Rückgabe (Grützmacher) . . . . . . . . . § 547 Erstattung von im Voraus entrichteter Miete (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . § 548 Verjährung der Ersatzansprüche und des Wegnahmerechts (Grützmacher) . . . . . . . § 550 Form des Mietvertrags (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 552 Abwendung des Wegnahmerechts des Mieters (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . § 555a Erhaltungsmaßnahmen (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 555b Modernisierungsmaßnahmen (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 555c Ankündigung von Modernisierungsmaßnahmen (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . § 555d Duldung von Modernisierungsmaßnahmen, Ausschlussfrist (Grützmacher) . . . . . . § 555e Sonderkündigungsrecht des Mieters bei Modernisierungsmaßnahmen (Grützmacher) § 555f Vereinbarungen über Erhaltungs- oder Modernisierungsmaßnahmen (Grützmacher) § 556b Fälligkeit der Miete, Aufrechnungs- und Zurückbehaltungsrecht (Grützmacher) . . . § 556c Kosten der Wärmelieferung als Betriebskosten, Verordnungsermächtigung (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 562 Umfang des Vermieterpfandrechts (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 562a Erlöschen des Vermieterpfandrechts (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 562b Selbsthilferecht, Herausgabeanspruch (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 562d Pfändung durch Dritte (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV

868 871 874 877 881 884 886 888 890 893 895 896 900 941 966 981 990 994 997 998 1000 1000 1003 1006 1008 1014 1027 1028 1030 1032 1035 1036 1038 1038 1038 1039 1039 1040 1040 1041 1041 1041 1042 1042 1042 1043

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§ 566 § 566a § 566b § 566c § 566d § 566e § 567 § 567a § 567b § 569 § 570 § 578 § 579 § 580 § 580a § 581 § 611 § 612 § 613 § 613a § 614 § 615 § 616 § 618 § 619 § 620 § 621 § 624 § 625 § 626 § 627 § 628 § 631 § 632 § 632a § 633 § 634 § 634a § 635 § 636 § 637 § 638 § 639 § 640 § 641 § 642 § 643 § 644 § 645

Kauf bricht nicht Miete (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mietsicherheit (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorausverfügung über die Miete (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinbarung zwischen Mieter und Vermieter über die Miete (Grützmacher) . . . . Aufrechnung durch den Mieter (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitteilung des Eigentumsübergangs durch den Vermieter (Grützmacher) . . . . . . Belastung des Wohnraums durch den Vermieter (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . Veräußerung oder Belastung vor der Überlassung des Wohnraums (Grützmacher) Weiterveräußerung oder Belastung durch Erwerber (Grützmacher) . . . . . . . . . . Außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund (Grützmacher) . . . . Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mietverhältnisse über Grundstücke und Räume (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . Fälligkeit der Miete (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerordentliche Kündigung bei Tod des Mieters (Grützmacher) . . . . . . . . . . . Kündigungsfristen (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertragstypische Pflichten beim Pachtvertrag (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . Vertragstypische Pflichten beim Dienstvertrag (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . Vergütung (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unübertragbarkeit (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . Fälligkeit der Vergütung (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko (Bergt/Horstkotte) . . . . . . Vorübergehende Verhinderung (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflicht zu Schutzmaßnahmen (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabdingbarkeit der Fürsorgepflichten (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . Beendigung des Dienstverhältnisses (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kündigungsfristen bei Dienstverhältnissen (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . Kündigungsfrist bei Verträgen über mehr als fünf Jahre (Bergt/Horstkotte) . . . . . . Stillschweigende Verlängerung (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . Fristlose Kündigung bei Vertrauensstellung (Bergt/Horstkotte) . . . . . . . . . . . . . Teilvergütung und Schadensersatz bei fristloser Kündigung (Bergt/Horstkotte) . . . Vertragstypische Pflichten beim Werkvertrag (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergütung (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschlagszahlungen (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sach- und Rechtsmangel (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechte des Bestellers bei Mängeln (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verjährung der Mängelansprüche (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nacherfüllung (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz (Schuster) . . . . . . . . Selbstvornahme (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minderung (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsausschluss (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abnahme (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fälligkeit der Vergütung (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitwirkung des Bestellers (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kündigung bei unterlassener Mitwirkung (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahrtragung (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortlichkeit des Bestellers (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 646 § 647 § 648 § 648a § 649 § 650 § 662 § 664 § 665 § 666 § 667 § 670 § 675 § 675c § 823 § 826

Vollendung statt Abnahme (Schuster) . . . . . . . . . . . Unternehmerpfandrecht (Schuster) . . . . . . . . . . . . . Kündigungsrecht des Bestellers (Schuster) . . . . . . . . Kündigung aus wichtigem Grund (Schuster) . . . . . . . Kostenanschlag (Schuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung des Kaufrechts (Schuster) . . . . . . . . . . . Auftrag (Strittmatter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unübertragbarkeit; Haftung für Gehilfen (Strittmatter) Abweichung von Weisungen (Strittmatter) . . . . . . . . Auskunfts- und Rechenschaftspflicht (Strittmatter) . . Herausgabepflicht (Strittmatter) . . . . . . . . . . . . . . Ersatz von Aufwendungen (Strittmatter) . . . . . . . . . Entgeltliche Geschäftsbesorgung (Strittmatter) . . . . . Zahlungsdienste und E-Geld (Strittmatter) . . . . . . . . Schadensersatzpflicht (Heydn) . . . . . . . . . . . . . . . Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung (Heydn) . . . . .

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1380 1380 1380 1389

Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) (Dorner) §1 §2 §3 §4 §5 § 23

Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . Erlaubte Handlungen . . . . . . . . . . . Handlungsverbote . . . . . . . . . . . . . Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzung von Geschäftsgeheimnissen

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Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) §1 §2 § 18 § 19 § 20

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (Hempel) . . . . . Freigestellte Vereinbarungen (Hempel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktbeherrschung (Wolf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbotenes Verhalten von marktbeherrschenden Unternehmen (Wolf) Verbotenes Verhalten von Unternehmen mit relativer oder überlegener Marktmacht (Wolf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . 1403

Handelsgesetzbuch (HGB) (Vogel) § 84 § 85 § 86 § 86a § 86b § 87 § 87a § 87b § 87c XVI

Begriff des Handelsvertreters . Vertragsurkunde . . . . . . . . . Pflichten des Handelsvertreters Pflichten des Unternehmers . . Delkredereprovision . . . . . . . Provisionspflichtige Geschäfte . Fälligkeit der Provision . . . . . Höhe der Provision . . . . . . . Abrechnung über die Provision

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§ 87d § 88 § 88a § 89 § 89a § 89b § 90 § 90a § 91 § 91a § 92 § 92a § 92b § 92c

Ersatz von Aufwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aufgehoben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurückbehaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kündigung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fristlose Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgleichsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse . . . . . . . . . . . . . Wettbewerbsabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollmachten des Handelsvertreters . . . . . . . . . . . . . . Mangel der Vertretungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . Versicherungs- und Bausparkassenvertreter . . . . . . . . . Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handelsvertreter im Nebenberuf . . . . . . . . . . . . . . . . Handelsvertreter außerhalb der EU; Schifffahrtsvertreter

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Insolvenzordnung (InsO) (Seegel) § 103

Wahlrecht des Insolvenzverwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1464

Gesetz über das Kreditwesen (Kreditwesengesetz – KWG) (Lensdorf) § 25a § 25b

Besondere organisatorische Pflichten; Bestimmungen für Risikoträger; Verordnungsermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1480 Auslagerung von Aktivitäten und Prozessen; Verordnungsermächtigung . . . . . . . . . 1499

Patentgesetz (PatG) (Sabellek) §1 §3 §4 §5 §9 § 10

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1566 1569 1573 1580

Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsgesetz – ProdHaftG) (Heydn) §1 §2 §3 §4

Haftung . Produkt . Fehler . . Hersteller

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XVII

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Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) (Heydn) Seite

§1 §2 §3 §6

Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Anforderungen an die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt Zusätzliche Anforderungen an die Bereitstellung von Verbraucherprodukten auf dem Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 1584 . . . 1590 . . . 1600 . . . 1609

Strafgesetzbuch (StGB) § 202a § 202b § 202c § 202d § 203 § 303a § 303b

Ausspähen von Daten (Beck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abfangen von Daten (Beck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereiten des Ausspähens und Abfangens von Daten (Beck) . Datenhehlerei (Beck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzung von Privatgeheimnissen (Hartung) . . . . . . . . . . . Datenveränderung (Beck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computersabotage (Beck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§4 Sammelwerke und Datenbankwerke (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15 Allgemeines (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16 Vervielfältigungsrecht (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17 Verbreitungsrecht (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19a Recht der öffentlichen Zugänglichmachung (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . § 23 Bearbeitungen und Umgestaltungen (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 55a Benutzung eines Datenbankwerkes (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 60d Text und Data Mining (Grützmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 69a Gegenstand des Schutzes (Schuster/Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 69b Urheber in Arbeits- und Dienstverhältnissen (Schuster/Hunzinger) . . . . . . . . . . § 69c Zustimmungsbedürftige Handlungen (Schuster/Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . § 69d Ausnahmen von den zustimmungsbedürftigen Handlungen (Schuster/Hunzinger) § 69e Dekompilierung (Schuster/Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 69f Rechtsverletzungen (Schuster/Hunzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 69g Anwendung sonstiger Rechtsvorschriften; Vertragsrecht (Schuster/Hunzinger) . . . Vorbemerkungen zu §§ 87a ff. (Zech) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 87a Begriffsbestimmungen (Zech) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 87b Rechte des Datenbankherstellers (Zech) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 87c Schranken des Rechts des Datenbankherstellers (Zech) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 87d Dauer der Rechte (Zech) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 87e Verträge über die Benutzung einer Datenbank (Zech) . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 97 Anspruch auf Unterlassung und Schadensersatz (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . § 97a Abmahnung (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 98 Anspruch auf Vernichtung, Rückruf und Überlassung (Scholz) . . . . . . . . . . . . § 99 Haftung des Inhabers eines Unternehmens (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 100 Entschädigung (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 101 Anspruch auf Auskunft (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1705 1728 1731 1737 1744 1750 1756 1761 1765 1780 1789 1803 1812 1816 1819 1823 1846 1858 1864 1864 1866 1869 1904 1907 1910 1911 1914

Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz – UrhG)

XVIII

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§ 101a § 101b § 102 § 102a § 103 § 104 § 104a § 105

Anspruch auf Vorlage und Besichtigung (Scholz) . . . . . . Sicherung von Schadensersatzansprüchen (Scholz) . . . . . Verjährung (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansprüche aus anderen gesetzlichen Vorschriften (Scholz) . Bekanntmachung des Urteils (Scholz) . . . . . . . . . . . . . Rechtsweg (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerichtsstand (Scholz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerichte für Urheberrechtsstreitsachen (Scholz) . . . . . . .

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1916 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933

Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz – WpHG) (Lensdorf) § 80

Organisationspflichten; Verordnungsermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1934

3. Teil Besondere Vertragsbedingungen Apache License (ASL) (Grützmacher) Ziffer 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Anweisungen zur Verwendung der Lizenzbedingungen]

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1943 1946 1946 1947 1949 1949 1950 1951 1951 1952

Berkeley Software Distribution (BSD) (Grützmacher) [Lizenztext (4-Klausel-Version)] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1953

GNU General Public License (GPLv2) [Präambel] (Jaeger/Koglin) Ziffer 0 (Jaeger/Koglin) . . Ziffer 1 (Jaeger/Koglin) . . Ziffer 2 (Jaeger/Koglin) . . Ziffer 3 (Jaeger/Koglin) . . Ziffer 4 (Jaeger/Koglin) . . Ziffer 5 (Kreutzer/Schulz) Ziffer 6 (Kreutzer/Schulz) Ziffer 7 (Kreutzer/Schulz) Ziffer 8 (Kreutzer/Schulz)

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1958 1961 1965 1979 1990 2003 2010 2012 2015 2018 XIX

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Ziffer 9 (Kreutzer/Schulz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 10 (Kreutzer/Schulz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 11 (Kreutzer/Schulz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 12 (Kreutzer/Schulz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Anweisungen zur Verwendung der Lizenzbedingungen] (Kreutzer/Schulz) .

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GNU General Public License (GPLv3) (Jaeger) . . . . . . . . . . 2037 GNU Lesser General Public License (LGPLv2.1) (Grages) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Copyright-Hinweis] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Präambel] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziffer 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Anweisungen zur Verwendung der Lizenzbedingungen]

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GNU Lesser General Public License (LGPLv3) (Grages) . . . . . . . 2090

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2093

XX

Allgemeines Literaturverzeichnis Auer-Reinsdorff/Conrad

Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019, zitiert: Auer-Reinsdorff/Conrad/Bearbeiter, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, Kap. … Rz. … Bamberger/Roth/Hau/ Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1-4 4. Aufl. Poseck 2019, Band 5 4. Aufl. 2020, zitiert: Bamberger/Roth/Bearbeiter § … Rz. … Baumbach/Hopt Handelsgesetzbuch mit GmbH & Co., Handelsklauseln, Bankund Kapitalmarktrecht, Transportrecht (ohne Seerecht) Kommentar, 38. Aufl. 2018, 39. Aufl. 2020, zitiert: Baumbach/ Hopt/Bearbeiter, § … Rz. … Beck’sche Onlineherausgegeben von Doukoff/Baumann, zitiert: Beck OF/BearbeiFormulare Prozess ter, Formularnummer Formulartitel Rz. … Beck’scher Online Kommentar herausgegeben von Bamberger/Roth/Hau/Poseck, zitiert: BeckOK Bürgerliches Gesetzbuch BGB/Bearbeiter, § … Rz. … Beck’scher Online Kommentar herausgegeben von Wolff/Brink, zitiert: BeckOK DatenSR/ Datenschutzrecht Bearbeiter § … Rz. … Beck’scher Online Kommentar herausgegeben von Häublein/Hoffmann-Theinert, zitiert: BeckHandelsgesetzbuch OK HGB/Bearbeiter, § … Rz. … Beck’scher Online Kommentar herausgegeben von von Heintschel-Heinegg, zitiert: BeckOK StGB/ Strafgesetzbuch Bearbeiter, § … Rz. … Beck’scher Online Kommentar herausgegeben von Ahlberg/Götting, zitiert: BeckOK UrhR/BeUrheberrecht arbeiter, § … Rz. … Beck’scher TKGherausgegeben von Geppert/Schütz, 4. Aufl. 2013, zitiert: Kommentar Geppert/Schütz/Bearbeiter, Beck TKG § … Rz. … Beck’sches Formularbuch herausgegeben von Hoffmann-Becking/Gebele, 13. Aufl. 2019, Bürgerliches, Handelszitiert: Hoffmann-Becking/Gebele/Bearbeiter, Formular … und Wirtschaftsrecht Anm. … Bräutigam IT-Outsourcing und Cloud-Computing, 4. Aufl. 2019 Conrad/Grützmacher Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, 2014, zitiert: Conrad/Grützmacher/Bearbeiter, § … Rz. … Dreier/Schulze Urheberrechtsgesetz Kommentar, 6. Aufl. 2018, zitiert: Dreier/Schulze/Bearbeiter, § … Rz. … Dreyer/Kotthoff/Meckel/Hentsch Urheberrecht, 4. Aufl. 2018 Erfurter Kommentar herausgegeben von Müller-Glöge/Preis/Schmidt, 20. Aufl. 2020, zum Arbeitsrecht zitiert ErfKomm/Bearbeiter, § … Rz. … Erman BGB Kommentar, herausgegeben von Westermann/Grunewald/ Maier-Reimer, 15. Aufl. 2017, zitiert: Erman/Bearbeiter, § … Rz. … Fromm/Nordemann Urheberrecht, 12. Aufl. 2018 Gola Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), 2. Aufl. 2018 Gola/Heckmann Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), Kommentar, 13. Aufl. 2019, zitiert: Gola/Heckmann/Bearbeiter, § … Rz. … Gola/Schomerus Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), Kommentar, 12. Aufl. 2015, zitiert: Gola/Schomerus/Bearbeiter, § … Rz. … (Vorauflage zu Gola/Heckmann) Härting Internetrecht, 6. Aufl. 2017 Henssler/Willemsen/Kalb Arbeitsrecht Kommentar, 8. Aufl. 2018 XXI

Allgemeines Literaturverzeichnis

Hoeren/Sieber/Holznagel

Intveen/Gennen/Karger Jaeger/Metzger

Jauernig juris PraxisKommentar BGB juris PraxisKommentar Internetrecht Kilian/Heussen

Köhler/Bornkamm/ Feddersen Lehmann/Meents Leupold/Glossner Loewenheim Marly Möhring/Nicolini Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch

Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch

Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung Paal/Pauly Palandt XXII

Handbuch Multimedia-Recht, Loseblatt, 50. Aufl. 2020, zitiert: Hoeren/Sieber/Holznagel/Bearbeiter, Handbuch MultimediaRecht, Teil … Rz. … Handbuch des Softwarerechts, 2018 Open Source Software – Rechtliche Rahmenbedingungen der Freien Software, 4. Aufl. 2016, 5. Aufl. 2020, zitiert: Jaeger/ Metzger, Rz. … Bürgerliches Gesetzbuch: BGB, Kommentar, 17. Aufl. 2018, zitiert: Jauernig/Bearbeiter, § … Rz. … herausgegeben von Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/ Würdinger, 8. Aufl., zitiert: jurisPK BGB/Bearbeiter, § … Rz. … herausgegeben von Heckmann, 6. Aufl. 2014, zitiert: jurisPK Internetrecht/Bearbeiter, § … Rz. … Computerrechts-Handbuch, 32. Aufl. 2013, zitiert Kilian/Heussen/Bearbeiter, Kap. … Rz. …; ab 33. Aufl. von Taeger/Pohle fortgeführt, siehe daher auch Taeger/Pohle Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb: UWG mit GeschGehG, PAngV, UKlaG, DL-InfoV, 38. Aufl. 2020, zitiert: Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bearbeiter, § … Rz. … Handbuch des Fachanwalts Informationstechnologierecht, 2. Aufl. 2011 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht, 3. Aufl. 2013, zitiert: Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Bearbeiter, Teil … Rz. … Handbuch des Urheberrechts, 2. Aufl. 2010 Praxishandbuch Softwarerecht, 7. Aufl. 2018, zitiert: Marly, Softwarerecht, Rz. … Urheberrecht, herausgegeben von Ahlberg/Götting, 4. Aufl. 2018 herausgegeben von Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg, Band 1: Allgemeiner Teil §§ 1-240, Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Allg. PersR), AGG, 8. Aufl. 2018, Band 2: Schuldrecht Allgemeiner Teil I, 8. Aufl. 2019, Band 3 Schuldrecht Allgemeiner Teil II, 8. Aufl. 2019, Band 4 Schuldrecht Besonderer Teil I, 8. Aufl. 2019, Band 5 Schuldrecht Besonderer Teil II, 8. Aufl. 2020, Band 6 Schuldrecht Besonderer Teil III, 8. Aufl. 2020, Band 6 Schuldrecht Besonderer Teil IV, 7. Aufl. 2017, zitiert: MünchKomm/Bearbeiter, § … Rz. … herausgegeben von Karsten Schmidt, Band 4: Drittes Buch, Handelsbücher §§ 238-342e HGB, 3. Aufl. 2013, Band 5: Viertes Buch. Handelsgeschäfte, 4. Aufl. 2018, zitiert: MünchKomm/ Bearbeiter, § … Rz. … herausgegeben von Stürner/Eidenmüller/Schoppmeyer, Bände 1 und 2, 4. Aufl. 2019, Band 3, 4. Aufl. 2020, zitiert: MünchKomm/Bearbeiter, § … Rz. … herausgegeben von Joecks/Miebach, Bände 1, 3 und 4, 3. Aufl. 2017, zitiert: MünchKomm/Bearbeiter, § … Rz. … herausgegeben von Krüger/Rauscher, Band 1 und 2, 5. Aufl. 2016, Band 3, 5. Aufl. 2017, zitiert: MünchKomm/Bearbeiter, § … Rz. … Datenschutz-Grundverordnung, Bundesdatenschutzgesetz, 2. Aufl. 2018 Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, zitiert:

Allgemeines Literaturverzeichnis

Plath Prütting/Wegen/Weinreich Redeker Redeker Reinicke/Tiedtke Schneider Schneider/Graf von Westphalen

Schönke/Schröder Schricker/Loewenheim

Schulze/Dörner/Ebert u.a.

Simitis Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann Söbbing/Dechamps/Frase u.a. Spindler/Schuster J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch

Taeger/Pohle

Ulmer/Brandner/Hensen Wandtke/Bullinger Graf von Westphalen/Thüsing

Zöller

Palandt/Bearbeiter, § … Rz. … DSGVO, BDSG, 3. Aufl. 2018 BGB Kommentar, 14. Aufl. 2019, zitiert: PWW/Bearbeiter, § … Rz. … IT-Recht, 6. Aufl. 2017, zitiert: Redeker, IT-Recht, Rz. … Handbuch der IT-Verträge, Stand: EL 40/März 2020, zitiert: Redeker/Bearbeiter, Handbuch der IT-Verträge, Kap. … Rz. … Kaufrecht, 8. Aufl. 2009, zitiert: Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. … Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017, zitiert: Schneider/Bearbeiter, Handbuch EDV-Recht, Kap. … Rz. … Software-Erstellungsverträge, 2. Aufl. 2014, zitiert: Schneider/Graf von Westphalen/Bearbeiter, Software-Erstellungsverträge, Kap. … Rz. … Strafgesetzbuch Kommentar, 30. Aufl. 2019, zitiert: Schönke/ Schröder/Bearbeiter, § … Rz. … Urheberrecht, herausgegeben von Loewenheim/Leistner/Ohly, 5. Aufl. 2017, 6. Aufl. 2020, zitiert: Schricker/Loewenheim/Bearbeiter, Urheberrecht, § … Rz. … BGB Handkommentar, 10. Aufl. 2019, zitiert: HK BGB/Bearbeiter, § … Rz. …., bisweilen auch Schulze/Dörner/Ebert u.a./Bearbeiter, § … Rz. … Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 8. Aufl. 2014, zitiert: Simitis/Bearbeiter, BDSG, § … Rz. … Datenschutzrecht. DSGVO mit BDSG, 2019, zitiert: Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Bearbeiter, Datenschutzrecht, Art./§ … Rz. … Handbuch IT-Outsourcing, 4. Aufl. 2015, zitiert: Söbbing/ Bearbeiter, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. … Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, zitiert: Spindler/ Schuster/Bearbeiter, § … Rz. … Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse §§ 241-243 (Treu und Glauben), Neubearb. 2015, Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse §§ 255-304 (Leistungsstörungsrecht 1), Neubearb. 2014, zitiert: Staudinger/Bearbeiter, § … Rz. … Computerrechts-Handbuch – Informationstechnologie in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, 34. Aufl. 2018 Stand: 34. EL 5/2018, zitiert: Taeger/Pohle/Bearbeiter, Kap. … Rz. … AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, zitiert: Ulmer/Brandner/Hensen/ Bearbeiter, § … Rz. … Praxiskommentar Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, zitiert: Wandtke/ Bullinger/Bearbeiter, UrhR, § … Rz. … Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 44. EL Stand 11/2019, zitiert: Graf von Westphalen/Thüsing/Bearbeiter, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Kapiteltitel Rz. … ZPO, 33. Aufl. 2020, zitiert Zöller/Bearbeiter, § … Rz. …

XXIII

Abkürzungsverzeichnis AAMÜ ABI ABl. AcP AEUV AG AGB AGG AiB AN AnwBl. AnwZert AnzV AO API ArbNErfG ArbR(Aktuell) ASL ASP AtG

AWG Aw-Prax AWV

Arbeitsausschuss Marktüberwachung Application Binary Interface Amtsblatt Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Arbeitgeber Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Arbeitnehmer Anwaltsblatt (Zeitschrift) AnwaltZertifikat (Online-Zeitschrift) Anzeigenverordnung Abgabenordnung Application-Programming-Interface Gesetz über Arbeitnehmererfindungen Arbeitsrecht Aktuell (Zeitschrift) Apache Software License Application Service Provider/Providing Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Gesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz) Außenwirtschaftsgesetz Außenwirtschaftliche Praxis (Zeitschrift) Außenwirtschaftsverordnung

B2B B2C BA BAFA BaFin BÄO BAIT BattG BauR BB BbgDSG BC BCR BDL BDP BDSG BetrAVG BetrVG BfDI BFS BGB BGBl. BHO BImSchG

Business to Business Business to Consumer Business Analytics Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesärzteordnung Bankaufsichtliche Anforderungen an die IT Batteriegesetz Zeitschrift für das gesamte öffentliche und zivile Baurecht Betriebsberater (Zeitschrift) Brandenburgisches Datenschutzgesetz Zeitschrift für Bilanzierung, Rechnungswesen und Controlling Binding Corporate Rules Bundesverband Deutscher Leasing-Unternehmen Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen Bundesdatenschutzgesetz Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Boos/Fischer/Schulte-Mattler Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundeshaushaltsordnung Bundes-Immissionsschutzgesetz

AuA AÜG

XXV

Abkürzungsverzeichnis

BlnBDI BKR BMJ BNotO BOH BORA BOStB BPatG BQG BRAO BSD BSI Btrfs BVB BVS BW BYOD CAD CAT CATV

Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Bundesnotarordnung Berufsordnung für Heilpraktiker Berufsordnung für Rechtsanwälte Berufsordnung der Bundessteuerberaterkammer Bundespatentgericht Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Bundesrechtsanwaltsordnung Berkeley Software Distribution (Open Source Lizenz) Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik B-tree FS Besondere Vertragsbedingungen für die Beschaffung von DV-Leistungen Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e.V. Baden-Württemberg Bring your own device

CCZ CLA COBIT CPU CR CRD CRi CRM CSV c’t CZZ

computer aided design Computer Aided Transceiver (Fernsteuerung von Funkgeräten durch PCs) Community Antenna Television = precursor of Cable Television (Vorgänger des Kabelfernsehens) Compliance-Berater (Zeitschrift) Rat der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft (Council of Bars and Law Societies of Europe) Corporate Compliance Zeitschrift Contributor License Agreements Control Objectives for Information and Related Technology Central Processing Unit Change Request; Computer und Recht (Zeitschrift) Capital Requirements Directice Computer Law Review International Customer Relationship Management comma-separated values Magazin für Computertechnik Corporate Compliance Zeitschrift

DANA DAR DatenSR DB DGRI DIS DPMA DRiZ DRM DS DSAnpUG DSB DSG DSGVO DSK DSRITB DSRL

Datenschutznachrichten (Zeitschrift) Deutsches Autorecht (Zeitschrift) Datenschutzrecht Der Betrieb (Zeitschrift) Deutsche Gesellschaft für Recht und Informatik Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit Deutsches Patent- und Markenamt Deutsche Richterzeitung Digital Rights Management Der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige (Zeitschrift) Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz Datenschutzberater (Zeitschrift) Datenschutzgesetz Datenschutz-Grundverordnung Datenschutzkonferenz Tagungsband der Deutschen Stiftung für Recht und Informatik Datenschutzrichtlinie

CB CCBE

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

DStR DStRE DuD DVR DZWIR

Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst (Zeitschrift) Datenschutz und Datensicherheit (Zeitschrift) Datenverarbeitung im Recht (Zeitschrift) Deutsche Zeitschrift für Wirtschaft und Insolvenzrecht

EAS EDPB EG-FGV

EULA EuZW EVB-IT EVPG EWR

Enterprise Application Software, Unternehmensanwendungssoftware European Data Protection Board Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge European Intellectual Property Review (Zeitschrift) Elektro- und Elektronikgerätegesetz Elektro- und Elektronikgeräte-Stoff-Verordnung Elektromagnetische-Verträglichkeit-Gesetz Europäisches Patent Europäisches Patentamt Einheitliches Patentgericht (Unified Patent Court – UPC) Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht Europäische Patentorganisation Europäisches Patentübereinkommen Enterprise Ressource Planning Erwägungsgrund Journal of European Consumer and Market Law (Zeitschrift) Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen End User License Agreement Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Ergänzende Vertragsbedingungen für die Beschaffung von IT-Leistungen Energieverbrauchsrelevante-Produkte-Gesetz Europäischer Wirtschaftsraum

F&E FFG FLA FRAND FSF FuAG

Forschung und Entwicklung Finanzmarktförderungsgesetz Fiduciary Licence Agreements fair, reasonable and non-discriminatory Free Software Foundation Funkanlagengesetz

GDV GebrMG GeschGehG GewO GmS-OGB GOBD

Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft Gebrauchsmustergesetz Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen Gewerbeordnung Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Grundsätze zur ordnungsgemäßen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff Global Privacy Enforcement Network General Public License Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht e.V. und Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Graphical user interface Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)

EIPR ElektroG ElektroStoffV EMVG EP EPA EPG EPGÜ EPO EPÜ ERP ErwGr. EuCML EuGVVO

GPEN GPL GRUR GUI GVO GWB GWR

XXVII

Abkürzungsverzeichnis

HGB HRRS HV

Handelsgesetzbuch Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht Handelsvertreter

IaaS IBR IDV IDW IFOSS Law Review ifrOSS IHK IHR IIC IKS InfoSoc-RL InsO InstGE InsVZ InTeR IntImmGR IntPatÜbkG IoT IPrax ISIN ISMS IStR ITIL ITRB IuR

Infrastructure as a Service Immobilien- und Baurecht (Zeitschrift) Individuelle Datenverarbeitung Institut der Wirtschaftsprüfung International Free and Open Source Software Law Review Institut für Rechtsfragen der Freien und Open Source Software Industrie- und Handelskammer Internationales Handelsrecht (Zeitschrift) International Review of Intellectual Property and Competition Law Internes Kontrollsystem Information Society Directive (Urheberrechtsrichtlinie) Insolvenzordnung Entscheidungen der Instanzgerichte zum Recht des Geistigen Eigentums Zeitschrift für Insolvenzverwaltung und Sanierungsberatung Zeitschrift für Innovations- und Technikrecht Internationales Immaterialgüterrecht Gesetz über internationale Patentübereinkommen Internet of Things (Internet der Dinge) Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift) International Securities Identification Number Informationssicherheitsmanagement-System Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) IT Infrastructure Library IT-Rechtsberater (Zeitschrift) Informatik und Recht (Zeitschrift); jetzt JurPC

JA JIPITEC

Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Journal of Intellectual Property, Information Technology and Electronic Commerce Law (Online-Zeitschrift/Open Access Journal) Journal of Intellectual Property Law & Practice Juris die Monatszeitschrift Juristische Rundschau (Zeitschrift) Internet-Zeitschrift für Rechtsinformatik und Informationsrecht Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristische Wochenschrift (Zeitschrift, erschienen von 1872 bis 1939) JuristenZeitung (Zeitschrift)

JIPLP jM JR JurPC JuS JW JZ K&R KPI KriPoZ KSchG KSzW KUG KuR KWG LAN LDA LfD XXVIII

Kommunikation und Recht (Zeitschrift) Key Performance Indicator Kriminalpolitische Zeitschrift Kündigungsschutzgesetz Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie Kirche und Recht (Zeitschrift) Gesetz über das Kreditwesen Local Area Network Landesbeauftragter für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht (Brandenburg) Landesbeauftragter für den Datenschutz (Niedersachsen)

Abkürzungsverzeichnis

LFGB LGPL LMK LMRR LOI LUG

Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch Lesser General Public License Kommentierte BGH-Rechtsprechung Lindenmaier/Möhring Lebensmittelrecht-Rechtsprechung (Zeitschrift) Letter of Intent Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst

M2M MAC MaComp MaRisk MBO MDR MedR MiFID MiStra mfm MMR MOU MPG MPR MR MR-Int MuW

Maschine zu Maschine Material Adverse Change Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion und weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten Mindestanforderungen an das Risikomanagement Musterberufsordnung Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht (Zeitschrift) Markets in Financial Instruments Directive Mitteilungen in Strafsachen Mittelstandsgemeinschaft Foto-Marketing MultiMedia und Recht (Zeitschrift) Memorandum of Understanding Medizinproduktegesetz Medizin Produkte Recht (Zeitschrift) Medien und Recht (Zeitschrift) Medien und Recht International (Zeitschrift) Markenschutz und Wettbewerb (Zeitschrift, erschienen 1901–1941)

NAS NAV NCSA NJ NJOZ NJW NLF NStZ NVwZ NZA NZBau NZG NZI NZKart NZV NZWiSt

Network Attached Storage Niederspannungsanschlussverordnung National Center for Supercomputing Applications Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) New Legislative Framework Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Insolvenz- und Sanierungsrecht Neue Zeitschrift für Kartellrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht

ODR OdW

OEM

Online Dispute Resolution Ordnung der Wissenschaft (Forum für das Recht von Wissenschaft, Forschung und Lehre) (Online-Forum und Zeitschrift) Österreichische Blätter für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development) Original Equipment Manufacturer

PaaS PACS PAO

Platform as a Service Picture Archiving and Communication-System Patentanwaltsordnung

ÖBl. OECD

XXIX

Abkürzungsverzeichnis

PassG PatG PAuswG PCI-DSS PharmR PinG PKS PLM PreisKG ProdHaftG ProdSG ProdSV PsychThG PWW

Passgesetz Patentgesetz Personalausweisgesetz Payment Card Industry Data Security Standard Pharma Recht – Fachzeitschrift für das gesamte Arzneimittelrecht Privacy in Germany (Zeitschrift) Polizeiliche Kriminalstatistik Product Lifecycle Management Preisklauselgesetz Produkthaftungsgesetz Produktsicherheitsgesetz Produktsicherheitsverordnung Psychotherapeutengesetz Prütting/Wegen/Weinreich

r+s RAID RBÜ RdA RDG RDV ReFS RfI RfP RiStBV RIW RPW RRa RVG

recht und schaden (Zeitschrift) Redundant Array of Independent Disk Revidierte Berner Übereinkunft Recht der Arbeit (Zeitschrift) Rechtsdienstleistungsgesetz Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen (Zeitschrift) Recht der Datenverarbeitung (Zeitschrift) Resilient File System Request for Information Request for Proposal Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Recht der Internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Recht und Politik des Wettbewerbs (Zeitschrift) ReiseRecht aktuell (Zeitschrift) Rechtsanwaltsvergütungsgesetz

SaaS SchiedsVZ SCM SEP SGB SJZ SLA SOX SRIW SRM SSNIP StGB StPO StVG SVR

Software as a Service Zeitschrift für Schiedsverfahren Supply Chain Management standardessenzielles Patent Sozialgesetzbuch Schweizerische Juristen-Zeitung Service Level Agreement Sarbanes-Oxley-Act Selbstregulierung Informationswirtschaft e.V. Supplier Relationship Management small but significant non-transitory increase in price Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsrecht (Zeitschrift)

TCDP TGIC TK TMG TRIPs TT-GVO TVG

Trusted Cloud-Datenschutzprofil Trusted German Insurance Cloud Telekommunikation Telemediengesetz Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Technologie-Transfer-GVO Tarifvertragsgesetz

XXX

Abkürzungsverzeichnis

ULD UMTS UmwG UP UrhG USV UWG

Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Universal Mobile Telecommunications System Umwandlungsgesetz Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung (unitary patent) Urheberrechtsgesetz unterbrechungsfreie Stromversorgung Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

VAG VerlG VerpflG VersR VuR VW

Versicherungsaufsichtsgesetz Gesetz über das Verlagsrecht Verpflichtungsgesetz Versicherungsrecht (Portal für Versicherungs-, Haftungs- und Schadensrecht) Verbraucher und Recht (Zeitschrift) Versicherungswirtschaft Jura (Zeitschrift)

WCT WHG WIPO wistra WM WorldECR WP WpHG WPO WRP WuW WZG

WIPO Copyright Treaty Wasserhaushaltsgesetz World Intellectual Property Organization Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wertpapier-Mitteilungen-Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht THE JOURNAL OF EXPORT CONTROLS AND SANCTIONS (Zeitschrift) Wirtschaftsprüfer Gesetz über den Wertpapierhandel Wirtschaftsprüferordnung Wettbewerb in Recht und Praxis (Zeitschrift) Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) Warenzeichengesetz

ZAG ZAP ZD ZEuP ZfBR ZfPW ZFS ZfWG ZGE ZGS ZHR ZInsO ZIP ZIS ZRP ZStW ZUM ZUM-RD ZVertriebsR ZVglRWiss ZWeR

Gesetz über die Beaufsichtigung von Zahlungsdiensten Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft Zeitschrift für Schadensrecht Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Geistiges Eigentum Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht – Rechtsprechungsdienst Zeitschrift für Vertriebsrecht Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht

XXXI

1. Teil EU-Recht Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vom 25. März 1957 in der durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 geänderten Fassung (ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, 47), zuletzt konsolidiert in ABl. EU Nr. C 202 vom 7.6.2016, 47 (Auszug)

Art. 101 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (1) Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, insbesondere a) die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen; b) die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung oder der Investitionen; c) die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen; d) die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden; e) die an den Abschluss von Verträgen geknüpfte Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. (2) Die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse sind nichtig. (3) Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden auf – Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, – Beschlüsse oder Gruppen von Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen, – aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen von solchen, die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen a) Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder b) Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. I. Allgemeines zum Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen . . . . . 1. Einführung in das Verbot . . . . . . . . . . a) Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . b) Historie der Vorschriften . . . . . . . . . c) Verhältnis zwischen Art. 101 AEUV und § 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

aa) Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . bb) Vorrang des EU-Kartellrechts . . . . d) Konkretisierung durch Rechtsprechung und Behördenpraxis . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9

. . 13

Hempel

1

AEUV Art. 101 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen II. Norminhalt: Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . 1. Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarung, Beschluss, aufeinander abgestimmte Verhaltensweise . . . . . . . . . a) Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufeinander abgestimmte Verhaltensweise d) Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Vereinbarungen . . . . . . . 3. Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . bb) Keine Wettbewerbsbeschränkung . . . (1) Arbeitsgemeinschaftsgedanke . . . . . (2) Konzerninterne Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung zwischen Wettbewerbsbeschränkung und Urheberrecht . . . b) Bezwecken oder Bewirken . . . . . . . . . . c) Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff der Spürbarkeit . . . . . . . . . bb) Bedeutung der Marktabgrenzung . . . d) Typische IT-bezogene Beschränkungen . . aa) Beschränkungen in IT-bezogenen horizontalen Vereinbarungen . . . . . (1) Hardcore-Kartelle . . . . . . . . . . . . (2) Kooperationen im IT-Bereich . . . . . (3) Gemeinsame Normung und Standardsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 20 21 22 23

4.

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7.

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(4) Informationsaustausch zwischen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkungen in IT-bezogenen vertikalen Vereinbarungen . . . . . . . (1) Beschränkungen in Software-Lizenzverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sonstige wettbewerbsbeschränkende Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 101 AEUV: Eignung zur Beeinträchtigung des Handels zwischen den EUMitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschränkungen des Verbots . . . . . . . . . Freistellung vom Verbot . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Freistellungsvorschrift (Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 Abs. 1 GWB) . b) Gruppenfreistellungsverordnungen . . . . Rechtsfolgen von Verstößen gegen das Verbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nichtigkeit von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen und Beschlüssen . . . aa) Art. 101 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . bb) § 1 GWB i.V.m. § 134 BGB . . . . . . cc) Weitere Auswirkungen der Unwirksamkeit der kartellrechtswidrigen Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . b) Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . aa) Deutsches Kartellrecht . . . . . . . . . bb) EU-Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . c) Strafbarkeit von Kartellrechtsverstößen . . d) Schadensersatzansprüche . . . . . . . . . . e) Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Backu, Kundenschutzklauseln mit Subunternehmern/freien Mitarbeitern, ITRB 2002, 193; Bechtold/ Bosch, Kartellgesetz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Kommentar, 8. Aufl. 2018; Frank, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen und ihre Relevanz für Verträge der Informationstechnologie, CR 2014, 349; Grützmacher, Die juristische Beurteilung von DRM-Maßnahmen und Sperren im Rahmen verschiedener Lizenzmodelle – Teil 2, ITRB 2015, 141; Grützmacher, Anmerkung zu LG Frankfurt a.M. Urt. v. 6.9.2006 – 2-6 O 224/06, CR 2006, 729, CR 2006, 733; Grützmacher, Software-Verträge und die 7. GWB-Novelle, ITRB 2005, 205; Hörl, Geheimhaltung, Kundenschutz und Wettbewerbsverbot beim Einsatz freier Mitarbeiter, ITRB 2003, 182; Kilian/Heussen (Hrsg.), Computerrechts-Handbuch, Informationstechnologie in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, 34. EL 2018; Kling/Thomas, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016; Kremer/Hoppe/Kamm, Apps und Kartellrecht, CR 2015, 18; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann (Hrsg.), Kartellrecht Kommentar, 3. Aufl. 2016; Martinek/Semler/Habermeier/Flohr, Handbuch des Vertriebsrechts, 4. Aufl. 2016; Matthiesen, Die Freistellung von Softwarenutzungsverträgen nach Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2010; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983; Nordmeyer, Lizenzantiquitätenhandel: Der Handel mit „gebrauchter“ Software aus kartellrechtlicher Perspektive, GRUR Int 2010, 489; Polenz, Neues zum Subunternehmervertrag im IT-Recht, CR 2008, 685; Schneider, Softwarenutzungsverträge im Spannungsfeld von Urheber- und Kartellrecht, 1989; Scholz/Wagener, Kartellrechtliche Bewertung hardwarebezogener Verwendungsbeschränkungen in Software-Überlassungsverträgen, CR 2003, 880; Schumacher, Wirksamkeit von typischen Klauseln in Softwareüberlassungsverträgen, CR 2000, 641; Seffer/Beninca, OEM-Klauseln unter dem Gesichtspunkt des europäischen Kartellrechts, ITRB 2004, 210; Sucker, Lizenzierung von Computersoftware (II), CR 1989, 468; Thomas, Konzernprivileg und Gemeinschaftsunternehmen – Die kartellrechtliche Beurteilung konzerninterner Wettbewerbsbeschränkungen mit Gemeinschaftsunternehmen, ZWeR 2005, 236; Timm, Kartellrecht der Softwareverträge, 2005; Wandtke/Bullinger (Hrsg.), Praxiskommentar zum Urheberrecht, 5. Aufl. 2019.

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Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 6 Art. 101 AEUV

I. Allgemeines zum Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen 1. Einführung in das Verbot Art. 101 AEUV und § 1 GWB verbieten wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, abgestimmte Ver- 1 haltensweisen und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Das Verbot gilt nicht ausnahmslos. Unter bestimmten Voraussetzungen sind wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweisen und Beschlüsse von dem Verbot freigestellt (Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB). a) Normzweck Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarung ist eine Kernvorschrift des deutschen und EUKartellrechts. Entsprechende Verbote gibt es in jeder reifen Kartellrechtsordnung.

2

Die Vorschrift richtet sich gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die auf die Willlensübereinstimmung zwischen Unternehmen zurückgehen. Für Wettbewerbsbeschränkungen durch einseitige Verhaltensweisen und für Gefährdungen des Wettbewerbs durch Zusammenschlüsse zwischen Unternehmen bestehen gesonderte Vorschriften (Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV und §§ 19, 20 GWB, und Fusionskontrolle).

3

b) Historie der Vorschriften Art. 101 AEUV geht auf den EWG-Vertrag von 1957 zurück (dort Art. 85 EWG). Die Vorschrift ist seit dieser Zeit unverändert geblieben. Es hat sich lediglich durch verschiedene umfassende Änderungen des Vertragswerks die Nummerierung der Vorschrift geändert.

4

§ 1 GWB war als Kartellverbot bereits in dem ersten GWB von 1958 enthalten.1 Durch die 7. GWB-No- 5 velle 20052 wurde die bis dahin bestehende Aufteilung der Regelungen für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern einerseits (§ 1 GWB a.F.) und für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Teilnehmern auf unterschiedlichen Marktstufen (Vertikalvereinbarungen) andererseits (§§ 14 ff. GWB a.F.) auf mehrere Vorschriften beseitigt und § 1 GWB unter Streichung der gesonderten Vorschriften für Vertikalvereinbarungen vollständig mit Art. 101 Abs. 1 AEUV harmonisiert. In diesem Zusammenhang hat der Gesetzgeber auch die besonderen Vorschriften des deutschen Kartellrechts zu Lizenzverträgen3 gestrichen. c) Verhältnis zwischen Art. 101 AEUV und § 1 GWB aa) Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV Art. 101 AEUV ist unmittelbar geltendes Recht.4 Die Vorschrift ist von deutschen Gerichten daher unmittelbar anzuwenden.5 Für Art. 101 Abs. 1 AEUV galt das schon immer. Die ursprünglich bestehende Alleinzuständigkeit der Europäischen Kommission6 für die Erteilung von Freistellungen nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift in Art. 101 Abs. 3 AEUV wurde im Jahr 2004 beseitigt (Art. 1 VO 1/2003). Die Vorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV ist seitdem als gesetzliche Ausnahme von dem Verbot des Absatzes 1 zu verstehen. Die gesamte Vorschrift (Art. 101 Abs. 1 bis Abs. 3 AEUV) ist daher seit 2004 unmittelbar von den Gerichten der Mitgliedstaaten anzuwenden. Zudem sind neben der

1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27.7.1957, BGBl. I 1957, 1081. 2 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 7.7.2005, BGBl. I 2005, 1954. 3 Vgl. §§ 17, 18 GWB a.F. (i.d.F. des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.8.1998, BGBl. I 1998, 2521). 4 So bereits EuGH v. 5.2.1963 – 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos, für das EU-Primärrecht. 5 Vgl. hierzu Art. 6 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. EG L 1 v. 4.1.2003, 1 (im Folgenden: „VO 1/2003“). 6 Im Folgenden nur: „Kommission“.

Hempel

3

6

AEUV Art. 101 Rz. 6 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen Kommission die Kartellbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Vorschrift in Verwaltungs- und Bußgeldverfahren zuständig (Art. 5 VO 1/2003). bb) Vorrang des EU-Kartellrechts 7

In ihrem Anwendungsbereich hat Art. 101 AEUV Vorrang vor dem Kartellrecht der Mitgliedstaaten (vgl. Art. 3 Abs. 1 und 2 VO 1/2003; für das deutsche Recht expliziter Verweis in § 22 GWB).

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In der deutschen Rechtspraxis bereitet der Vorrang des Art. 101 AEUV vor § 1 GWB i.d.R. kein Problem, da beide Vorschriften – bis auf den für die Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV maßgeblichen Zwischenstaatlichkeitszusammenhang – inhaltsgleich sind. Das Bundeskartellamt und die Gerichte wenden sie parallel an. d) Konkretisierung durch Rechtsprechung und Behördenpraxis

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Art. 101 AEUV ist durch die Rspr. des EuGH und der deutschen Gerichte, durch die Verwaltungspraxis der Kommission und der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden sowie schließlich durch die Rspr. rezipierende Handreichungen der Behörden konkretisiert worden.

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Von diesen Handreichungen der Kommission haben die folgenden für die Anwendung von Art. 101 AEUV auf wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen im IT-Bereich Bedeutung: – die Bekanntmachung der Kommission: Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG C 101 v. 27.4.2004, 97. – die Mitteilung der Kommission: Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (De-minimis-Bekanntmachung), ABl. EU C 291 v. 30.8.2014, 1. – die Mitteilung der Kommission: Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU C 11 v. 14.1.2011, 1.7 – die Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. EU C 130 v. 19.5.2010, 1.8 – die Mitteilung der Kommission: Leitlinien zur Anwendung von Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. EU C 89 v. 28.3.2014, 3.9

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Auf diese Handreichungen wird in der Kommentierung immer wieder verwiesen werden. Sie geben dem Rechtsanwender nützliche Hinweise für die von der Kommission vorgenommene Auslegung des Primärrechts (Art. 101 AEUV) und der Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission. Die Handreichungen erzeugen eine Selbstbindung für die Kommission.10 Für die Gerichte – EuGH wie mitgliedstaatliche Gerichte – sind sie unverbindlich. Sie werden aber von deutschen Gerichten im Rahmen der rechtlichen Argumentation herangezogen.11

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Zu Art. 101 AEUV gibt es sehr wenig IT-spezifische Praxis. Die Rspr. des EuGH in diesem Bereich betrifft vor allem urheberrechtliche Vorfragen der Reichweite des Software-Urheberrechts oder aber der Erschöpfung desselben.12 Von den eher sporadischen Hinweisen in den vorgenannten Leitlinien abgesehen, gibt es auch nur wenig Behördenpraxis zur Anwendung von Art. 101 AEUV auf IT-spezifische Sachverhalte.

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Im Folgenden nur: Horizontal-Leitlinien. Im Folgenden nur: Vertikal-Leitlinien. Im Folgenden nur: TT-Leitlinien. Vgl. EuGH v. 11.7.2013 – C-439/11, WuW/E EU-R 2811 ff. Vgl. BGH v. 26.1.2016 – KVR 11/15, NZKart 2016, 280. Vgl. EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 – Usedsoft/Oracle.

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Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 20 Art. 101 AEUV

2. Bedeutung und Anwendungsbereich der Vorschrift Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 101 AEUV und § 1 GWB hat überragende Bedeutung für die Wirtschaftsordnung. Es betrifft jegliche Wettbewerbsbeschränkungen durch Vereinbarung, abgestimmte Verhaltensweise oder Beschluss einer Unternehmensvereinbarung. Diese sind von sog. einseitigen Verhaltensweisen abzugrenzen, die den Missbrauchsverboten in Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB unterliegen können (vgl. die Kommentierungen zu Art. 102 AEUV, § 19 GWB und § 20 GWB).

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Im IT-Bereich findet die Vorschrift Anwendung z.B. auf wettbewerbsbeschränkende Klauseln in Software-Lizenzverträgen, aber auch soweit der Vertrieb von Waren, z.B. Hardware und Dienstleistungen, betroffen ist. Sie findet auch Anwendung auf Kooperationsvereinbarungen zwischen konkurrierenden Hardware- oder Software-Herstellern.

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II. Norminhalt: Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen 1. Unternehmen Das Verbot richtet sich nur an Unternehmen. Unternehmen i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB ist jede eine wirtschaftliche Tätigkeit im Geschäftsverkehr ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.13

15

Im deutschen Recht wird dabei traditionell zwischen absoluten Unternehmen und relativen Unternehmen unterschieden. Nach dieser Unterscheidung ist jede Handelsgesellschaft (AG, GmbH, OHG und KG) unabhängig von ihrem Marktauftritt Unternehmen, da ihre Tätigkeit immer eine geschäftliche Tätigkeit ist.14 Relative Unternehmen sind demgegenüber solche, deren Unternehmenseigenschaft von der konkret zu betrachtenden Tätigkeit abhängt.15

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Auch im EU-Kartellrecht ist die Figur des relativen Unternehmens anerkannt. So verliert ein Unter- 17 nehmen nach der Rspr. des EuGH seine Unternehmenseigenschaft nicht dadurch, dass es für andere Bereiche seiner Tätigkeit über Hoheitsbefugnisse verfügt, denen eine Qualifizierung als wirtschaftliche Tätigkeit entgegensteht.16 Auch die wirtschaftliche Tätigkeit des Staats unterliegt damit dem Kartellrecht.17

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Aus dem Unternehmensbegriff folgt, dass Geschäfte privater Endverbraucher für den privaten Bedarf 19 nicht von dem Verbot erfasst werden. So fallen Verträge zwischen Unternehmen und privaten Endverbrauchern nicht unter das Verbot, wenn der private Endverbraucher die Kaufsache nur zum Zwecke der privaten Verwendung erwirbt. 2. Vereinbarung, Beschluss, aufeinander abgestimmte Verhaltensweise Die Vorschriften erfassen mit Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen unterschiedliche Arten des Verhaltens.

13 Für das deutsche Kartellrecht: BGH v. 11.12.1997 – KVR 7/96, WuW/E DE-R 17, 18 f. – Europapokalheimspiele; BGH v. 16.6.2015 – KZR 83/13 – WuW/E DE-R 4773, 4778 – Einspeiseentgelt; für das EU-Kartellrecht: EuGH v. 12.7.1987 – 170/83, Slg. 1984, 3000 – Hydrotherm; EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90, Slg. 1991, I-2010 – Macrotron; EuGH. v. 11.7.2006 – C-205/03 P, Slg. 2006, I-6319 – Fenin. 14 KG v. 19.8.1981 – Kart 13/81 WuW/E OLG 2601, 2602 – IBB. 15 Kling/Thomas, Kartellrecht, § 16 Rz. 7. 16 EuGH v. 24.10.2002 – C-82/01 P, Slg. 2002, I-9334, Tz. 74 – Aéroportes de Paris. 17 Für das GWB folgt das aus § 130 Abs. 1 GWB, für das EU-Kartellrecht aus dem Unternehmensbegriff.

Hempel

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AEUV Art. 101 Rz. 21 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen a) Vereinbarung 21

Eine Vereinbarung liegt vor, wenn die beteiligten Unternehmen ihren übereinstimmenden Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten.18 Es wird also kein Vertrag im Sinne des Bürgerlichen Rechts vorausgesetzt. Unabhängig von ihrer Form erfüllt jede Willensübereinstimmung zwischen Unternehmen den Begriff der Vereinbarung. b) Beschluss

22

Ein Beschluss liegt vor, wenn eine Unternehmensvereinigung ihren ernsthaften Willen zum Ausdruck bringt, das Verhalten ihrer Mitglieder auf dem Markt koordinieren zu wollen.19 c) Aufeinander abgestimmte Verhaltensweise

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Eine abgestimmte Verhaltensweise beschreibt die Koordinierung zwischen Unternehmen, die noch keine Vereinbarung darstellt, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt.20 d) Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Vereinbarungen

24

Im Rahmen dieses Tatbestandsmerkmales wird üblicherweise zwischen horizontalen und vertikalen Vereinbarungen unterschieden.

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Dabei beschreiben horizontale Vereinbarungen solche zwischen aktuellen oder potentiellen Wettbewerbern.

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Vertikale Vereinbarungen sind solche zwischen Marktteilnehmern, die auf unterschiedlichen Marktstufen tätig sind. Art. 101 AEUV und seit 13.7.2005 auch § 1 GWB erfassen jeweils beide Arten von Vereinbarungen.

27

Einer wegen der unterschiedlichen Schädlichkeit für den Wettbewerb gebotenen Differenzierung wird im deutschen Recht seit 2005 nicht mehr durch unterschiedliche Vorschriften, sondern – wie im EU-Kartellrecht – teils auf der Ebene des Verbots, überwiegend aber auf der Ebene der Freistellung Rechnung getragen. Auf der Ebene des Verbots kann eine Differenzierung anhand des Merkmals der Spürbarkeit (vgl. Rz. 43 ff.) vorgenommen werden. Auf der Ebene der Freistellung ergibt sich eine Differenzierung, da Beschränkungen in vertikalen Vereinbarungen eher zu Effizienzvorteilen führen und damit die Freistellungsvoraussetzungen der allgemeinen Freistellungsvorschrift eher erfüllen als horizontale Vereinbarungen. Zudem hat die Kommission ihre Gruppenfreistellungsverordnungen für horizontale und vertikale Vereinbarungen unterschiedlich ausgestaltet bzw. innerhalb der Gruppenfreistellungsverordnungen zwischen horizontalen und vertikalen Vereinbarungen unterschieden (vgl. Art. 1 TT-GVO Rz. 51 ff.). So sind z.B. Wettbewerbsbeschränkungen in vertikalen Vereinbarungen sehr weitgehend – soweit für den IT-Bereich relevant – durch die Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung21 und die Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung22 von dem Verbot freigestellt.

18 EuG v. 14.5.1998 – T-347/94, Slg. 1998, II-1759, Tz. 65 – Mayr-Melnhof/Kommission; EuGH v. 15.7.1970 – 41/69, Slg. 1970, 664, Tz. 110/114 – ACF Chemiefarma; EuGH v. 29.10.1980 – verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78, Slg. 1980, 3127, Tz. 86 – van Landewyck; EuG v. 17.12.1991 – T-7/89, Slg. 1991, II-1715, Tz. 256 – Hercules Chemical. 19 BGH v. 14.8.2008 – KVR 54/07, WuW/E DE-R 2408, 2413 – Lottoblock. 20 EuGH v. 14.7.1972 – 48/69 Slg. 1972, 622, Tz. 64/67 – ICI; EuGH v. 14.7.1972 – 49/69, Slg. 1972, 715, Tz. 22 – BASF. 21 Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 10.4.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. EU L 102 v. 23.4.2010, 1; im Folgenden nur: „Vertikal-GVO“. 22 Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21.3.2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. EU L 93 v. 28.3.2014, 17, im Folgenden nur: „TT-GVO“.

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Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 35 Art. 101 AEUV

3. Wettbewerbsbeschränkung Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB nennen die Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs als gleichberechtigte Tatbestandsmerkmale. In der Praxis werden die drei Begriffe einheitlich mit dem Begriff der Wettbewerbsbeschränkung bezeichnet.23

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a) Begriff aa) Wettbewerbsbeschränkung Eine Beschränkung des Wettbewerbs liegt vor, wenn die wettbewerbliche Handlungsfreiheit als Anbieter oder Nachfrager beeinträchtigt wird.24

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bb) Keine Wettbewerbsbeschränkung (1) Arbeitsgemeinschaftsgedanke Das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung ist nach dem Arbeitsgemeinschaftsgedanken zu verneinen, wenn erst die Vereinbarung es den an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen ermöglicht, am Wettbewerb teilzunehmen.

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Die Kommission legt dabei einen objektiven Maßstab an und verlangt, dass das fragliche Projekt oder die fragliche Tätigkeit nicht mit weniger spürbaren Wettbewerbsbeschränkungen durchgeführt werden kann.25

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Der BGH hat hingegen in seiner Rspr. auf die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und die kaufmännische Vernünftigkeit abgestellt.26

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(2) Konzerninterne Wettbewerbsbeschränkungen Das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung ist auch dann zu verneinen, wenn es um Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen innerhalb ein und desselben Konzerns im kartellrechtlichen Sinne geht.27

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Im EU-Kartellrecht handelt es sich um eine Frage des Unternehmensbegriffs, also der Reichweite der wirtschaftlichen Einheit.28 Art. 101 AEUV gilt nur für Vereinbarungen zwischen unabhängigen Unternehmen. Bilden Unternehmen hingegen eine einzige wirtschaftliche Einheit, so liegt nur ein Unternehmen i.S.d. Art. 101 AEUV vor. Eine Vereinbarung zwischen zwei Unternehmen, die Teil der gleichen wirtschaftlichen Einheit sind, unterliegt nicht dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Maßgebliches Kriterium für die wirtschaftliche Einheit ist die Ausübung bestimmenden Einflusses eines Unternehmens auf ein anderes Unternehmen.

34

Rechtssicher wird man vom Vorliegen eines konzerninternen Vorgangs bei alleiniger Beherrschung eines Unternehmens über ein anderes ausgehen können. Schwierig und ungeklärt sind die Fälle gemeinsamer Kontrolle.29

35

23 Vgl. beispielsweise Horizontal-Leitlinien, Tz. 23 Fn. 5. 24 BGH v. 13.12.1983 – KZR 10/83, WuW/E BGH 2049, 2049 f. – Holzschutzmittel; aus der Rspr. des EuGH: EuGH v. 18.4.1998 – C-306/96, Slg. 2002, I – 1997, Tz. 13 – Javico. 25 Horizontal-Leitlinien, Tz. 30. 26 BGH v. 5.2.2002 – KZR 3/01, WuW/E DE-R 876, 878 – Jugend- und Frauennachtfahrten, BGH v. 13.12.1983 – KRB 3/83, WuW/E BGH 2050, 2051 – Bauvorhaben Schramberg. 27 Sog. „Konzernprivileg“, vgl. OLG Stuttgart v. 27.6.1980 – 2 U (Kart) 130/79, WuW/E OLG 2352, 2355 – Grundig/Südschall, OLG Frankfurt v. 22.4.1985 – 6 U 174/81, WuW/E OLG 3600, 3601 – Guy Laroche, BKartA, Tätigkeitsbericht 1989/1990, S. 31, BKartA, Tätigkeitsbericht 1969, S. 57 f., Kling/Thomas, Kartellrecht, § 19 Rz. 76. 28 Vgl. hier nur Horizontal-Leitlinien, Tz. 11 m.w.N. aus der Rspr. des EuGH. 29 Offengelassen in: BGH v. 11.12.1997 – KVR 7/96, WuW/E DE-R 17, 23 – Europapokalheimspiele; bejahend: Bechtold/Bosch, § 1 GWB Rz. 30, Kling/Thomas, Kartellrecht, § 19 Rz. 78, Thomas, ZWeR 2005, 236, 254 ff.

Hempel

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AEUV Art. 101 Rz. 36 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen cc) Abgrenzung zwischen Wettbewerbsbeschränkung und Urheberrecht 36

Das Verhältnis zwischen Kartellrecht und (Software-)Urheberrecht ist nicht mit letzter Eindeutigkeit geklärt.30 In der Rspr. des EuGH wird die Unterscheidung zwischen dem Bestand des Rechts des geistigen Eigentums und der Ausübung des Rechts betont. Letztere, also die Modalitäten der Ausübung, könnten sich als mit Art. 101 AEUV unvereinbar herausstellen, wenn sie Gegenstand einer Kartellabsprache sind, die möglicherweise eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt.31 Die Kommission will der besonderen Bedeutung von Rechten des geistigen Eigentums für den Wettbewerb bei der kartellrechtlichen Prüfung von Lizenzvereinbarungen Rechnung tragen. Sie betont zwar, dass es einen immanenten Konflikt zwischen den Rechten des geistigen Eigentums einerseits und dem Kartellrecht andererseits nicht gebe. Eine klare Abgrenzung nimmt aber auch sie – innerhalb der kartellrechtlichen Prüfung und dabei z.B. der Prüfung des Vorliegens einer Wettbewerbsbeschränkung – nicht vor.32

37

Das bedeutet, dass sich bei einer Beschränkung der Nutzungsberechtigung im Zusammenhang mit Rechten des geistigen Eigentums, also in Lizenzverträgen, immer die Frage stellt, ob die Beschränkung auch eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt.33

38

In diesem Zusammenhang hat die Frage der Erschöpfung des gesetzlichen Schutzrechts auch für das Kartellrecht Bedeutung (vgl. hierzu auch TT-Leitlinien, Tz. 6). Ist Erschöpfung eingetreten, steht dem Rechtsinhaber nicht mehr die Rechtsmacht zu, seine Rechtsposition durch Vereinbarung zu erweitern, ohne dabei den Tatbestand der Wettbewerbsbeschränkung zu realisieren. Zur Frage der Erschöpfung im Software-Urheberrecht vgl. § 69c UrhG Rz. 20 ff. b) Bezwecken oder Bewirken

39

Das Verbot erfasst sowohl das Bezwecken als auch das Bewirken von Wettbewerbsbeschränkungen.

40

Eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung liegt dann vor, wenn die Beschränkung ihrem Wesen nach geeignet ist, den Wettbewerb zu beschränken (vgl. nur Horizontal-Leitlinien, Tz. 24). Es ist anerkannt, dass Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, die die Festsetzung von Verkaufspreisen, die Beschränkung der Produktion oder des Absatzes oder die Zuweisung von Märkten oder Kundengruppen betreffen, bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.34

41

Wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen liegen dann vor, wenn die Vereinbarung tatsächlich oder wahrscheinlich eine negative Beeinflussung zumindest eines Wettbewerbsparameters erwarten lässt (Horizontal-Leitlinien, Tz. 27). Dabei sind neben dem wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang der Vereinbarung die Wettbewerbsbedingungen auf dem betroffenen Markt zu betrachten, also neben der Zahl und Größe der auf dem Markt tätigen Unternehmen auch der Konzentrationsgrad und Verbrauchergewohnheiten.35 Die Kommission geht dabei davon aus, dass wettbewerbsbeschrän-

30 Vgl. z.B. die Darstellung bei Matthiesen, Die Freistellung, S. 12 ff.; auch Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/ Kersting/Meyer-Lindemann/Nordemann, Europäisches Recht, 3. Teil Rz. 10. 31 Vgl. aus der Rspr. des EuGH: für aus dem Urheberrecht folgende Filmaufführungsrechte EuGH v. 6.10.1982 – 262/81, Slg. 1982, 3382, Tz. 14 und 15 – Coditel/Ciné-Vog Films; für das Sortenschutzrecht: EuGH v. 8.6.1982 – 258/78, Slg. 1982, 207, Tz. 28 – Maissaatgut; für das Warenzeichenrecht EuGH v. 15.6.1976 – 51/75, Slg. 1976, 812, Tz. 25/29 – EMI Reccords/CBS United Kingdom. 32 Zum Vorstehenden: TT-Leitlinien, Tz. 5 ff. 33 Vgl. auch Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Nordemann, Europäisches Recht, 3. Teil Rz. 16. 34 Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken („De-minimis-Bekanntmachung“), ABl. EU C 291 v. 30.8.2014, 1, Tz. 13; Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 18/2007 über die Nichtverfolgung von Kooperationsabreden mit geringer wettbewerbsbeschränkender Bedeutung („Bagatellbekanntmachung“) vom 13.3.2007, Tz. 13 ff.; vgl. auch Auflistung bezweckter Wettbewerbsbeschränkungen in Kommission, Guidance on restrictions of competition „by object“ for the purpose of defining which agreements may benefit from the De Minimis Notice, SWD(2014) 198 final. 35 Vgl. z.B. EuGH v. 26.11.2015 – C-345/14, EuZW 2016, 180, 181 f.

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Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 48 Art. 101 AEUV

kende Auswirkungen wahrscheinlich sind, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die an der Vereinbarung Beteiligten durch die Vereinbarung in die Lage versetzt werden, gewinnbringend die Preise zu erhöhen oder die Produktionsmenge, die Produktqualität, die Produktvielfalt oder die Innovationen zu reduzieren (Horizontal-Leitlinien, Tz. 28). Zu dem wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang der Vereinbarung gehören auch gleichartige Vereinbarungen auf dem Markt. Deren kumulative Auswirkungen auf den Wettbewerb sind zu berücksichtigen (sog. Bündeltheorie).36

42

c) Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung aa) Begriff der Spürbarkeit Im europäischen wie im deutschen Kartellrecht ist anerkannt, dass der Tatbestand von Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB durch das ungeschriebene Merkmal der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung zu ergänzen ist. Dabei werden bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen immer als spürbar angesehen.37

43

Die Kartellbehörden haben für ihre Verwaltungspraxis definiert, unter welchen Voraussetzungen sie von der Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen ausgehen.38

44

Für die Fälle nur bewirkter Wettbewerbsbeschränkungen gehen die Kartellbehörden übereinstimmend davon aus, dass wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen den Wettbewerb nicht spürbar beschränken, wenn die Marktanteile der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen im Falle von horizontalen Vereinbarungen die Schwelle von 10 % und im Falle von vertikalen Vereinbarungen die Schwelle von 15 % nicht übersteigen. In Fällen von Netzen gleichartiger Vereinbarungen gilt eine reduzierte Schwelle von 5 %. Die genannten Bekanntmachungen der Kartellbehörden sind für die Gerichte nicht verbindlich,39 für die Praxis aber ein wichtiger Anhaltspunkt.

45

bb) Bedeutung der Marktabgrenzung Die Bekanntmachungen der Kartellbehörden zur Spürbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen stellen auf Marktanteile ab. Die Bestimmung von Marktanteilen setzt eine Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes voraus (vgl. hierzu Art. 102 AEUV Rz. 5 ff.).

46

d) Typische IT-bezogene Beschränkungen Im Folgenden werden für den IT-Bereich relevante Wettbewerbsbeschränkungen kurz behandelt.

47

aa) Beschränkungen in IT-bezogenen horizontalen Vereinbarungen IT-bezogene Besonderheiten haben in wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen zwischen Wett- 48 bewerbern eher keine Bedeutung:

36 Vgl. nur EuGH v. 28.2.1991 – C-234/89, Slg. 1991, I-977, Tz. 14 – Delimitis/Henninger Bräu. 37 EuGH v. 13.12.2012 – C-226/11, EuZW 2013, 113, Tz. 27 – Expedia; vgl. Kommission, De-minimis-Bekanntmachung, Tz. 2. 38 Vgl. mit weitgehendem Gleichlauf, aber geringen Unterschieden im Detail: Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die im Sinne des Artikels 101 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken („De-minimis-Bekanntmachung“), ABl. EU C 291 v. 30.8.2014, 1, Tz. 13; Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 18/2007 über die Nichtverfolgung von Kooperationsabreden mit geringer wettbewerbsbeschränkender Bedeutung („Bagatellbekanntmachung“) vom 13.3.2007, Tz. 13 ff. 39 Vgl. explizit EuGH v. 13.12.2012 – C-226/11, EuZW 2013, 113, Tz. 27 – Expedia.

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AEUV Art. 101 Rz. 49 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (1) Hardcore-Kartelle 49

So sind Hardcore-Kartelle, d.h. Preis-, Mengen- und Gebietskartelle, auch in der IT-Branche denkbar. Allerdings mag wegen der hohen Bedeutung von Technologiewettbewerb und Innovation eher weniger mit Kartellbildung zu rechnen sein als in Branchen mit homogenen Massengütern.40 (2) Kooperationen im IT-Bereich

50

Denkbar sind auch Wettbewerbsbeschränkungen in Kooperationsverträgen in der IT-Branche (gemeinsamer Einkauf, gemeinsamer Vertrieb, gemeinsame Forschung- und Entwicklung, gemeinsame Produktion, Spezialisierungsvereinbarungen, usw.). IT-Besonderheiten können dann eine Rolle spielen. Dies rührt aber dann eher aus Besonderheiten des Wettbewerbs auf den IT-Märkten (Konzentrationsgrad, etwaige Marktzutrittsschranken, etc.) her als aus rechtlichen Besonderheiten. (3) Gemeinsame Normung und Standardsetzung

51

Vereinbarungen über Normen und gemeinsame Standardsetzung können in der IT-Branche Bedeutung haben. Bei solchen Vereinbarungen ist anerkannt, dass die gemeinsame Normsetzung zur Intensivierung des Wettbewerbs führen und Kostensenkungen ermöglichen kann und daher wettbewerbsfördernde Wirkungen hat. Zugleich können solche Vereinbarungen aber unter bestimmten Umständen auch wettbewerbsgefährdend sein. Das ist der Fall, wenn sie den Preiswettbewerb beschränken, die technische Entwicklung und Innovation behindern oder wenn Unternehmen am Zugang zu dem Normungsergebnis durch hold-up mittels geistiger Schutzrechte gehindert werden.41 (4) Informationsaustausch zwischen Unternehmen

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Schließlich können die Grundsätze der Kartellbehörden zum Informationsaustausch auch in der ITBranche Bedeutung erlangen.42 Der Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen zwischen mit einander im Wettbewerb stehenden Unternehmen kann gegen Art. 101 AEUV verstoßen. Dabei erfasst der untechnische Begriff des Informationsaustausches Sachverhalte, die vom kartellgleichen Austausch künftiger Preis- und Mengeninformationen über kartellbegleitende Instrumente zur Überwachung der Einhaltung des Kartells bis hin zum Austausch von Unternehmensdaten im Rahmen von effizienzfördernden Kooperationen und dem Informationsaustausch zur Erreichung von Effizienzvorteilen (z.B. Benchmarking) reichen. In jedem Einzelfall ist die Vereinbarkeit mit Art. 101 Abs. 1 AEUV und eine etwaige Freistellungsfähigkeit zu prüfen.43 bb) Beschränkungen in IT-bezogenen vertikalen Vereinbarungen (1) Beschränkungen in Software-Lizenzverträgen

53

In den Fällen von Beschränkungen in Software-Lizenzverträgen stellt sich immer die Frage, ob diese Beschränkung unter Berücksichtigung der wettbewerbsfördernden Bedeutung des Software-Urheberrechts eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt.

40 Vgl. aber zur Überlegung, ob Appstore-Betreiber die Höhe der Provision für die App-Programmierer beim Vertrieb von Apps abgesprochen haben: Kremer/Hoppe/Kamm, CR 2015, 18, 23 ff.; das dürfte aber eher fernliegend sein. 41 Die Kommission behandelt dies ausführlich in den Horizontal-Leitlinien, Tz. 257 ff.; vgl. zur Normung auch aus der Zeit vor Erlass der Horizontal-Leitlinien: Einzelfreistellung der Vereinbarung der X/Open Group über eine Standardschnittstelle für das Betriebssystem Unix: Kommission v. 15.12.1986, IV/31.458, ABl. EG L 35 v. 6.2.1987, 36 – X/Open Group; vgl. zur Standardsetzung auch Kilian/Heussen/Klees, Computerrecht, Das Kartellverbot, Rz. 32 ff. 42 Vgl. hierzu Horizontal-Leitlinien, Tz. 53 ff.; vgl. zu einem Informationsaustausch unter IT-Unternehmen auch Albers, CR 1987, 753, 754. 43 Vgl. mit ausführlichen Hinweisen für die Prüfung des Informationsaustauschs: Horizontal-Leitlinien, Tz. 53 ff.

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Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 53 Art. 101 AEUV

– Weiterverkaufsbeschränkungen/Abspaltungsverbot/Unterlizenzverbot – Weiterverkaufsbeschränkungen für Software Weiterverkaufsbeschränkungen in Software-Lizenzverträgen unterbinden den Handel mit gebrauchter Software. Bei gebrauchter Software handelt es sich um Software, bei der die Lizenz vom Lizenznehmer schon ausgeübt wurde. Solche Weiterverkaufsbeschränkungen unterliegen dann dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, wenn bereits Erschöpfung eingetreten ist. In diesem Fall dient die Vereinbarung einer Erweiterung der Rechtsmacht des Rechteinhabers, die nicht mehr vom Bestand des Schutzrechtes gedeckt ist.44 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Lizenzgeber dem Lizenznehmer eine unbefristete Nutzungslizenz eingeräumt hatte und dieser sich die Software aus dem Internet herunterladen durfte. Wenn der Lizenznehmer die lizenzierte Software vollständig von seinem Rechner entfernt, ist eine Beschränkung des „Weiterverkaufs“ der lizenzierten Software an einen Dritten nicht mehr vom Software-Urheberrecht erfasst.45 – Aufspaltungsverbot Es handelt sich um eine vertragliche Klausel, bei der dem Lizenznehmer bei einem einheitlich vereinbarten Nutzungsvolumen (Client-Server-Lizenz) die Aufspaltung der erteilten Volumina und die Veräußerung des nicht benötigten Anteils des Lizenzvolumens an einen Dritten untersagt werden. Es liegt keine Wettbewerbsbeschränkung vor, da noch keine Erschöpfung eingetreten ist.46 Keine Erschöpfung tritt auch ein, wenn der Lizenzgeber die Nutzung der Software davon abhängig macht, dass der Anwender/Lizenznehmer sich zunächst auf einer Internetseite registrieren muss, bevor er die Software tatsächlich nutzen kann.47 Eine solche Verpflichtung stellt dann keine Wettbewerbsbeschränkung dar. Anders liegt der Fall bei (offenen) Volumenlizenzen. Bei diesen ist ein Aufspaltungsverbot nicht mehr vom Software-Urheberrecht umfasst.48 Eine Klausel, nach der es dem Lizenznehmer untersagt ist, nicht benötigte Lizenzen aus dem Gesamtvolumen weiter zu veräußern, stellt damit eine Wettbewerbsbeschränkung dar. – Unterlizenzverbote Unterlizenzverbote in Software-Lizenzverträgen sind – aus Sicht des Urheberrechts – Ausdruck des Bestands des Software-Urheberrechts. Sie werden nicht als unzulässige Ausübung desselben angesehen. Sie stellen daher keine Wettbewerbsbeschränkung dar.49 Auch die Kommission sieht hierhin keine Wettbewerbsbeschränkung (TT-Leitlinien, Tz. 183). – Programmsperren und DRM-Maßnahmen Programmsperren und DRM-Maßnahmen können, wenn sie auf einer Vereinbarung zwischen Lizenzgeber und Lizenznehmer beruhen, die Weitergabefähigkeit zur Sollbeschaffenheit der Software machen. Hierin wird eine Wettbewerbsbeschränkung gesehen.50 – Verwendungsbeschränkungen – Field of use-Klauseln Field of use-Klauseln sehen eine Beschränkung der Lizenz auf einen bestimmten Anwendungsbereich vor. Solche Field of use-Klauseln stellen Wettbewerbsbeschränkungen dar.51 – CPU-Klauseln Sog. CPU-Klauseln sehen eine Beschränkung der Verwendung der Software auf eine bestimmte Hardware vor. Die Lizenz gilt beispielsweise nur für den Computer, auf dem die Software instal44 45 46 47 48 49 50 51

Nordmeyer, GRUR Int 2010, 489, 490 f. Vgl. EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565, Tz. 46-48 – Usedsoft/Oracle. Vgl. zu einem solchen Verbot für Paketlizenzen: OLG Karlsruhe v. 27.7.2011 – 6 U 18/10, BB 2011, 2189. Zu dieser Gestaltung: BGH v. 11.2.2010 – I ZR 178/08, NJW 2010, 2661 – Half-life 2; vgl. hierzu auch Leistner, CR 2011, 209, 215, Hörl/Brandi-Dohrn, ITRB 2011, 229, 230 f. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772, 776 Tz. 45 – UsedSoft III. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 59 m.w.N.; Matthiesen, Die Freistellung, S. 81. Grützmacher, ITRB 2015, 141, 146; vgl. zu dem Thema auch: Grützmacher, ITRB 2017, 141, 144. Grützmacher, ITRB 2005, 205, 207; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 59.

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AEUV Art. 101 Rz. 53 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen liert wurde. Soll die Lizenz auf einem leistungsstärkeren Computer eingesetzt werden, muss eine zusätzliche Lizenzgebühr bezahlt werden. Solche Klauseln sind vom Bestand des Software-Urheberrechts nicht mehr gedeckt und stellen daher wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen dar.52 – CPU-Klauseln mit Ausweichmöglichkeit Im Unterschied zu den oben beschriebenen CPU-Klauseln wird dem Lizenznehmer durch eine CPU-Klausel mit Ausweichmöglichkeit im Falle eines Defekts des Computers, auf dem die Software eingesetzt werden darf, gestattet, die Software auf einem Ersatz-Computer zu installieren. Eine solche Klausel stellt ebenfalls eine Wettbewerbsbeschränkung dar.53 – Netzwerkklauseln Bei Netzwerkklauseln handelt sich um vertragliche Beschränkungen der Verwendung der lizenzierten Software auf eine im Lizenzvertrag festgelegte Anzahl von Computern innerhalb eines Netzwerks. Erhöht sich die Zahl der Computer, auf denen die Software eingesetzt wird, erhöht sich die Lizenzgebühr. Solche Klauseln stellen keine Wettbewerbsbeschränkung dar.54 – Site-, Installations- oder Gebäudelizenzen Im Falle von Site-, Installations- oder Gebäudelizenzen ist die Software-Lizenz auf die Nutzung innerhalb bestimmter Einrichtungen, z.B. Gebäude, beschränkt. Solche Ausgestaltungen stellen Wettbewerbsbeschränkungen dar.55 – Upgrade-Klauseln Durch Upgrade-Klauseln wird die Lizenz für eine verbesserte Version der Software davon abhängig gemacht, dass der Lizenznehmer bereits eine Lizenz für die Vorgängerversion hatte. Hierin liegt keine Wettbewerbsbeschränkung.56 – Befristung der Lizenz Die zeitliche Beschränkung der Lizenz stellt keine Wettbewerbsbeschränkung dar.57 – Kopplungsbindungen In der Praxis sind ganz unterschiedliche Kopplungsbindungen in Software-Lizenzverträgen anzutreffen. So kann die Software-Lizenz gekoppelt sein mit einer Pflicht zur Abnahme einer bestimmten Hardware, mit Lizenzen für andere Software oder mit dem Abschluss von Wartungs- und Pflegeleistungen für die Software.58 Bei der Prüfung von Kopplungsbindungen stellt sich zunächst die Frage, ob die gekoppelten Produkte überhaupt als getrennte Produkte anzusehen sind. Dies hängt von der Verbrauchernachfrage ab (Vertikal-Leitlinien, Tz. 251). So dürfte es der Verbrauchernachfrage entsprechen, dass Verbraucher Computer oder Laptops nur mit vorinstallierten Betriebssystemen abnehmen. Es handelt sich dann um ein einheitliches Produkt. Von einem einheitlichen Produkt ist auch bei Firmware oder

52 Hierzu BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, NJW 2003, 2014 – CPU-Klauseln; zu diesen Klauseln vgl. auch: Scholz/ Wagener, CR 2003, 880, mit dem Hinweis, dass die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung fehlen soll, wenn die Software-Überlassung nur für ein Jahr ohne automatische Verlängerung erfolgt (dort 884); Kilian/ Heussen/Klees, Computerrecht, Das Kartellverbot, Rz. 28; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 207; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 61 m.w.N.; Grützmacher, ITRB 2017, 141, 144. 53 Vgl. hierzu Scholz/Wagener, CR 2003, 880, mit dem Hinweis auf die fehlende Spürbarkeit bei kurzfristigen Verträgen. 54 TT-Leitlinien, Tz. 184; vgl. auch Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 60; Schumacher, CR 2000, 641, 649 f. 55 Grützmacher, ITRB 2005, 205, 207; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 60, auch zu Servicebüroklauseln; Sucker, CR 1989, 468, 469. 56 Matthiesen, Die Freistellung, S. 77. 57 Vgl. für Film-Urheberrechte: EuGH v. 6.10.1982 – 262/81, Slg. 1982, 3382, Tz. 15 – Coditel I; allgemein: TTLeitlinien, Tz. 183. 58 Vgl. Kopplungsbindungen: Schneider, Softwarenutzungsverträge, S. 158 ff.; Sucker, CR 1989, 468, 473 f.; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 207; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 63 m.w.N.; Timm, Softwareverträge, S. 202 ff.

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Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 54 Art. 101 AEUV

bei hardwarespezifischen Betriebssystemen auszugehen.59 Teils wird vertreten, dass Individualsoftware und eine hierauf bezogene Pflege/Wartung der Software ein Produkt darstellen sollen.60 Dies erscheint wegen der zunehmenden Standardisierung von Software aber als zweifelhaft. Die Koppelung muss Gegenstand einer Vereinbarung sein und zwar zwischen Unternehmen. Gerade im Verhältnis zu privaten Endnutzern dürfte daher die einseitige Praktizierung von Kopplungen häufiger sein.61 Wird die Kopplung durch Vertrag zwischen Unternehmen festgelegt und handelt es sich bei den gekoppelten Produkten nicht um ein einheitliches Produkt, so liegt eine Wettbewerbsbeschränkung vor. Keine Kopplung stellt die zwischen Lizenzgeber und Lizenznehmer vereinbarte Beschränkung dar, keine Drittanbietersoftware zu verwenden.62 – OEM-Klauseln Durch eine sogenannte OEM-Klausel wird der Hardwarehersteller verpflichtet, ihm lizenzierte Software nicht ohne Hardware zu vertreiben. Es handelt sich um eine Wettbewerbsbeschränkung.63 – Sonstige Beschränkungen – Änderungs- und Bearbeitungsverbote Klauseln, die dem Lizenznehmer pauschal untersagen, lizenzierte Software zu verändern und zu bearbeiten, sind nicht vom Bestand des Software-Urheberrechts gedeckt und stellen Wettbewerbsbeschränkungen dar.64 – Rücklizenzierungspflichten Klauseln, die eine exklusive Rücklizenzierungspflicht für Verbesserungen vorsehen, stellen Wettbewerbsbeschränkungen dar.65 – Weitergabe der Verpflichtung zur Beachtung des Software-Urheberrechts Beim Vertrieb von Software darf der Händler durch den Rechteinhaber verpflichtet werden, seine Abnehmer dazu zu verpflichten, das Software-Urheberrecht des Rechtsinhabers nicht zu verletzen. Die Kommission sieht hierin schon keine Wettbewerbsbeschränkung. Jedenfalls hält sie eine solche Klausel für freigestellt (Vertikal-Leitlinien, Tz. 40). – Preis- und Konditionenbindung in der GNU General Public License Die Verpflichtung in der GNU General Public License („GPL“) der Free Software Foundation, die veränderte Software nur unter GPL-Bedingungen weiter zu lizenzieren, d.h. kostenlos zu gleichen Bedingungen weiterzugeben, stellt eine Wettbewerbsbeschränkung dar.66 (2) Sonstige wettbewerbsbeschränkende Klauseln Daneben können sich in IT-bezogenen Verträgen wettbewerbsbeschränkende Klauseln finden, wie sie auch in Verträgen in anderen Wirtschaftsbereichen Anwendung finden. Dies gilt für Lizenzverträge 59 Vgl. Martinek/Semler/Habermeier/Flohr/Chrocziel, Vertriebsrecht, § 47 Rz. 53, mit dem zutreffenden Hinweis auf die zunehmend nicht mehr bestehende technische Abhängigkeit der Software von der Hardware; vgl. auch in etwas anderem Kontext: Matthiesen, Die Freistellung, S. 56 ff. 60 So Timm, Softwareverträge, S. 203 ff., anders als bei Standardsoftware. 61 Vgl. zum Fall Microsoft/Windows Mediaplayer: Europäische Kommission, Entscheidung v. 24.3.2004 – COMP/37.792, ABl. EG L 32 v. 6.2.2007, 23 und EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3619 – Microsoft. 62 Vgl. hierzu Metzger/Hoppen, CR 2017, 625, 631 f. 63 Vgl. hierzu Seffer/Beninca, ITRB 2004, 210 f.; instruktiv und mit weiteren Nachweisen und zur Rechtsprechung: Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 125; vgl. auch Kilian/Heussen/Klees, Computerrecht, Das Kartellverbot, Rn. 27; Matthiesen, Die Freistellung, S. 106. 64 Grützmacher, ITRB 2005, 205, 207; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 64 m.w.N. 65 Vgl. Art. 5 Abs. 1 Buchst. a TT-GVO; vgl. hierzu Frank, CR 2014, 349, 353; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 208; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 59. 66 Instruktiv: Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 116 m.w.N.: freigestellte Höchstpreisund Konditionenbindung; zu diesem Thema auch: Kilian/Heussen/Klees, Computerrecht, Das Kartellverbot, Rz. 30 f.; vgl. auch Matthiesen, Die Freistellung, S. 142 ff.; zur Rspr.: LG Frankfurt v. 6.9.2006 – 1-6 O 224/06, CR 2006, 729, m. Anm. Grützmacher, CR 2006, 733 ff.

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AEUV Art. 101 Rz. 54 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen wie auch für Verträge über den Vertrieb von Hardware und Software. Als Beispiel seien genannt: Preisbeschränkungen,67 Kundenbeschränkungen, Gebietsbeschränkungen, Wettbewerbsverbote und Alleinbezugsverpflichtungen, Alleinbelieferungsverpflichtungen,68 Nutzungsbeschränkungen einschließlich Field of use-Beschränkungen, Kopplungs- und Paketvereinbarungen (vgl. hierzu bereits Rz. 53), Beschränkung auf den Eigenbedarf 69 und Beschränkungen von Forschung und Entwicklung. 4. Art. 101 AEUV: Eignung zur Beeinträchtigung des Handels zwischen den EU-Mitgliedstaaten 55

Art. 101 AEUV ist nur auf solche Vereinbarungen und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen anwendbar, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind. Die praktische Bedeutung des Merkmals ist sehr begrenzt. Der EuGH legt das Merkmal seit jeher sehr weit aus.70

56

Zudem sind das deutsche und das EU-Kartellrecht im Bereich des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarung inhaltsgleich. Dies gilt für das Verbot selbst wie auch für die Freistellung vom Verbot. § 2 GWB übernimmt für das deutsche Recht die Freistellungsvoraussetzungen des § 101 Abs. 3 AEUV und die Geltung der Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission.

57

Die Kommission hat Leitlinien zur Ermittlung des sogenannten Zwischenstaatlichkeitszusammenhangs veröffentlicht.71 In der Praxis kann im Zweifelsfall von der Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV ausgegangen werden. Dies gilt schon deswegen, weil Wettbewerbsbeschränkungen in IT-bezogenen Verträgen eher selten eine nur lokale Bedeutung haben werden. 5. Einschränkungen des Verbots

58

Art. 101 Abs. 1 AEUV sowie § 1 GWB gelten nach st. Rspr. und Behördenpraxis nicht für erforderliche Nebenabreden in im Übrigen kartellrechtsneutralen Verträgen.

59

Dies gilt für Wettbewerbsverbote in Verträgen über Unternehmenstransaktionen,72 Wettbewerbsverbote in Verträgen über Gemeinschaftsunternehmen73 sowie Wettbewerbsverbote in sonstigen Austauschverträgen.

60

IT-Bezug haben zum Beispiel Wettbewerbsverbote bzw. Kundenschutzregelungen für Subunternehmer bei Softwareprojekten.74

67 Vgl. Verhängung eines Bußgeldes durch das Bundeskartellamt gegen Microsoft wegen vertikaler Preisbindungen; Pressemitteilung des Bundeskartellamts vom 8.4.2009. 68 Vgl. Verpflichtung der App-Programmierer, die mit von Apple zur Verfügung gestellten Werkzeugen programmierten Apps nur über den Appstore zu vertreiben: Krämer/Hoppe/Kamm, CR 2015, 18, 22 ff., auch zur etwaigen Freistellung dieser Beschränkung. 69 Schon keine Wettbewerbsbeschränkung: Matthiesen, Die Freistellung, S. 94 f. 70 EuGH v. 30.6.1966 – 56/65, Slg. 1966, 281 – Maschinenbau Ulm; vgl. für eine auf das Bundesland RheinlandPfalz begrenzte Wettbewerbsbeschränkung: EuGH v. 25.10.2001 – C-475/99, Slg. 2001 I-8137 – Ambulanz Glöckner. 71 Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages, ABl. EG C 101 v. 27.4.2004, 81. 72 Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABl. EG C 56 v. 5.3.2005, 24. 73 Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABl. EG C 56 v. 5.3.2005, 24, Tz. 36 ff. 74 Vgl. explizit zu IT-Projekten: Backu, ITRB 2002, 193 ff.; Hörl, ITRB 2003, 182 ff. und Polenz, CR 2008, 685, 691; vgl. die Subunternehmer-Rechtsprechung des BGH: BGH v. 10.12.2008 – KZR 54/08, WuW/E DE-R 2554 – Subunternehmervertrag II; BGH v. 12.5.1998 – KZR 18/97, WuW/E DE-R 131 – Subunternehmervertrag I.

14

Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 66 Art. 101 AEUV

6. Freistellung vom Verbot a) Allgemeine Freistellungsvorschrift (Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 Abs. 1 GWB) Vor 2004 bzw. für Deutschland vor 2005 war eine Freistellung von dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nur durch eine Entscheidung der Kommission (für Art. 101 AEUV) bzw. durch Entscheidung der deutschen Kartellbehörden (für § 1 GWB) möglich.

61

Mittlerweile handelt es sich bei Art. 101 Abs. 3 AEUV um eine Legalausnahme vom Verbot wett- 62 bewerbsbeschränkender Vereinbarungen, die von Behörden und Gerichten zu beachten und anzuwenden ist (vgl. Art. 1 VO 1/2003). Unternehmen haben nach dem Prinzip der Selbstveranlagung festzustellen, ob die von ihnen beabsichtigten und praktizierten Vereinbarungen die Freistellungsvoraussetzungen erfüllen. Die Voraussetzungen für die Freistellung sind wegen ihres hohen Grades an Abstraktheit im Einzelfall nicht immer leicht zu prüfen.75 Daher nutzt die Kommission auch noch nach der Systemumstellung im Jahr 2004 das Instrument der Gruppenfreistellungsverordnung. Gruppenfreistellungsverordnungen definieren sichere Häfen für bestimmte Vereinbarungen. Es wird dabei angenommen, dass die von der Gruppenfreistellungsverordnung erfasste Vereinbarung alle vier Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt.76 Die Gruppenfreistellungsverordnungen haben eine hohe praktische Bedeutung. Im Bereich der horizontalen Vereinbarungen treten neben die einschlägigen Gruppenfreistellungsverordnungen auch Hinweise der Kommission in den Horizontal-Leitlinien. Im behördlichen Verfahren liegt die Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen der allgemeinen Freistellungsvoraussetzungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV ergeben soll, bei dem Unternehmen, das sich darauf beruft. Im Zivilprozess gilt dies für die Darlegungs- und die Beweislast.77

63

Die allgemeinen Freistellungsvoraussetzungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV/§ 2 GWB haben im IT-Bereich dann Bedeutung, wenn wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nicht nach der VertikalGVO (im Bereich Software-Vertrieb) oder der TT-GVO (im Bereich der Lizenzierung von Software zur Herstellung von Vertragsprodukten) freigestellt sind.78 Dies gilt z.B. für Wettbewerbsbeschränkungen in Endnutzerlizenzvereinbarungen. Für Kopplungsbindungen, Hardwareklauseln und Weitergabeverbote und ähnliche Beschränkungen in Endnutzerlizenzvereinbarungen kann die Freistellungsfähigkeit nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift allerdings zu verneinen sein.79

64

b) Gruppenfreistellungsverordnungen Von Gruppenfreistellungsverordnungen oder Hinweisen der Kartellbehörden für die Anwendung der allgemeinen Freistellungsvoraussetzungen werden im IT-Bereich erfasst:

65

im Bereich der Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern: – Vereinbarungen über die gemeinsame Forschung und Entwicklung und Auftragsforschung und -entwicklung im IT-Bereich,80 – Vereinbarungen über den gemeinsamen Einkauf von Hard- oder Software (Horizontal-Leitlinien, Tz. 194 ff.),

66

75 Vgl. als – immer noch sehr abstrakte – Hilfestellung: Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG C 101 v. 27.4.2004, 97. 76 Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG C 101 v. 27.4.2004, 97, Tz. 35. 77 Art. 2 VO 1/2003; zur Beweislast im Falle der Anwendbarkeit von Gruppenfreistellungsverordnungen vgl. Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG C 101 v. 27.4.2004, 97, Tz. 35. 78 Vgl. zum Beispiel Standard-Software-Überlassung an Endnutzer, näher dazu Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69d UrhG, Rz. 58. 79 Grützmacher, ITRB 2005, 205, 206 f.; Matthiesen, Die Freistellung, S. 82 ff. 80 Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14.12.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, ABl. EU L 335 v. 18.12.2010, 36; im Folgenden: „F&E-GVO“. Vgl. die Kommentierung dort.

Hempel

15

AEUV Art. 101 Rz. 66 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen – Vereinbarungen über den gemeinsamen Vertrieb von Hard- oder Software (Horizontal-Leitlinien, Tz. 225 ff.), – Vereinbarungen über den gemeinsamen Betrieb von IT oder das Outsourcing von IT auf Wettbewerber81 – Gemeinschaftsunternehmen im IT-Bereich82 und im Bereich der vertikalen Vereinbarungen insbesondere – Lizenzverträge (TT-GVO, vgl. hierzu Art. 1 TT-GVO Rz. 1 ff.) und – Verträge über den Software- und Hardwarevertrieb (Vertikal-GVO, vgl. hierzu Art. 1 Vertikal-GVO Rz. 6 und Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 16 ff.). 7. Rechtsfolgen von Verstößen gegen das Verbot 67

Verstöße gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen ziehen unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich. Sie führen zur Nichtigkeit der verbotswidrigen Vereinbarung, wenn diese ein Rechtsgeschäft darstellt. Die Kartellbehörden können bei Verstößen Geldbußen gegen die beteiligten Unternehmen sowie – jedenfalls im Fall der deutschen Kartellbehörden – gegen die verantwortlich handelnden Personen verhängen. Von dem Verstoß gegen das Verbot Betroffenen stehen Schadenssatzsowie Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche gegen die an dem Verstoß beteiligten Unternehmen zu. Die Kartellbehörden können im Wege des Verwaltungsverfahrens Abstellung des Verstoßes verlangen. Im Einzelfall können Verstöße gegen das Verbot auch Straftatbestände des deutschen Strafrechts verwirklichen. Nicht weiter behandelt werden sollen hier sonstige mittelbare Rechtsfolgen wie der Ausschluss von öffentlichen Vergaben (§ 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB) und arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen die an einem Verstoß beteiligten Arbeitnehmer. a) Nichtigkeit von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen und Beschlüssen

68

Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Beschlüsse sind unwirksam. Die Unwirksamkeitsanordnung dient präventiven Zwecken. Sie soll die Kartellen innewohnende Instabilität fördern.83 aa) Art. 101 Abs. 2 AEUV

69

Das EU-Primärrecht ordnet in Art. 101 Abs. 2 AEUV die Nichtigkeit wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Beschlüsse an. bb) § 1 GWB i.V.m. § 134 BGB

70

Das GWB regelt die Rechtsfolge von Verstößen gegen § 1 GWB nicht. Die Rechtsfolge solcher Verstöße ergibt sich aus § 134 BGB.84 cc) Weitere Auswirkungen der Unwirksamkeit der kartellrechtswidrigen Vereinbarung

71

Die Nichtigkeit nach Art. 101 Abs. 2 AEUV und § 134 BGB betrifft allein die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung oder den wettbewerbsbeschränkenden Beschluss. Welche Auswirkungen die Unwirksamkeit eines Teils der (Gesamt-)Vereinbarung hat, ergibt sich – für Art. 101 AEUV – nicht aus dem europäischen Recht. Die Rechtsfolgen ergeben sich – wie auch für Verstöße gegen § 1 GWB – aus dem mitgliedstaatlichen Recht.85 81 Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission vom 14.12.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen, ABl. EU L 335 v. 18.12.2010, 43 ff., im Folgenden: „Spezialisierungs-GVO“. 82 Je nach Gegenstand des Gemeinschaftsunternehmens: Spezialisierungs-GVO, FuE-GVO oder Horizontal-Leitlinien. 83 Vgl. hier nur Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rz. 161, 220, 1111. 84 § 1 GWB ist Verbotsgesetz und eine Rechtsnorm i.S.v. Art. 2 EGBGB. 85 So bereits EuGH v. 19.12.1983 – 319/82, Slg 1983, 4174, Tz. 10 und 11 – Zementimport.

16

Hempel

Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen

Rz. 80 Art. 101 AEUV

Nach deutschem Recht richten sich die Folgen für die übrigen Teile einer Vereinbarung nach § 139 72 BGB. Die Vorschrift ist anwendbar, wenn es sich bei der kartellrechtswidrigen, unwirksamen Vereinbarung und den übrigen Regelungen um ein einheitliches Rechtsgeschäft handelt. Ist dies der Fall, setzt die Anwendbarkeit von § 139 BGB eine Teilbarkeit dieses Rechtsgeschäfts voraus. Der nicht von der Nichtigkeit erfasste Teil des Rechtsgeschäfts muss allein Bestand haben können und die Parteien müssen das Rechtsgeschäft auch in dieser Form abgeschlossen haben, wenn sie die Nichtigkeit des anderen Teils des Rechtsgeschäfts gekannt hätten.86 Ist diese Voraussetzung gegeben, ist § 139 BGB als Auslegungsregel anwendbar und erlegt die Darlegungs- und Beweislast für den hypothetischen Willen zur Erhaltung des Rechtsgeschäfts im übrigen demjenigen auf, der sich hierauf beruft. Durch eine salvatorische Klausel im Vertragswerk wird die Darlegungs- und Beweislast auf denjenigen verlagert, der die Unwirksamkeit der übrigen Vereinbarungen behauptet.87

73

b) Bußgeldverfahren Verstöße gegen Art. 101 AEUV und § 1 GWB stellen Bußgeldtatbestände nach deutschen und EUKartellrecht dar.88

74

aa) Deutsches Kartellrecht Deutsche Kartellbehörden können Verstöße gegen Art. 101 AEUV und § 1 GWB im Bußgeldverfahren nach dem OWiG verfolgen.

75

Gegen Unternehmen können sie Geldbußen innerhalb der Bußgeldobergrenze von 10 % des konzernweiten Vorjahresgesamtumsatzes verhängen.

76

Gegen die verantwortlich handelnden natürlichen Personen können Bußgelder bis zu 1 Mio. Euro 77 verhängt werden.89 Das Bundeskartellamt hat sich Bußgeldleitlinien gegeben.90 In Fällen von Kartellen kann das Bundeskartellamt dem Kartellteilnehmer, der das Kartell bei dem Bundeskartellamt als erster anzeigt, das Bußgeld erlassen und den weiteren Kartellteilnehmern, die an der Aufklärung des Kartellrechtsverstoßes mitwirken, das Bußgeld teilweise erlassen.91

78

In seiner Praxis verfolgt das Bundeskartellamt nur Kartelle und Fälle der vertikalen Preisbindung im Wege des Bußgeldverfahrens nach dem OWiG.92 In Fällen nicht eindeutiger rechtlicher Beurteilung wählt das Bundeskartellamt traditionell das Verwaltungsverfahren.

79

bb) EU-Kartellrecht Die Kommission kann bei Verstößen gegen Art. 101 AEUV Geldbußen nach der Verordnung 80 Nr. 1/2003 gegen die beteiligten Unternehmen verhängen. In der Praxis erlegt die Kommission die Geldbuße dem an der verbotswidrigen Vereinbarung beteiligten Unternehmen und, sofern die Voraussetzungen für das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit gegeben sind, der Konzernobergesell-

86 BGH v. 11.5.2012 – V ZR 193/11, Tz. 15, NJW 2012, 2648. 87 BGH v. 24.9.2002 – KZR 10/01, BB 2003, 175 – Tennishallenpacht; vgl. auch OLG Düsseldorf v. 19.1.2011 – VI-U (Kart) 10/10, Tz. 30, BeckRS 2011, 05484. 88 § 81 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB und Art. 23 Abs. 2 VO Nr. 1/2003. 89 § 81 Abs. 4 Sätze 2 und 3 GWB; zur Bußgeldobergrenze: BGH v. 26.2.2013 – KRB 20/12, NJW 2013, 1972 – Grauzementkartell; BGH v. 3.6.2014 – KRB 46/13, NJW 2014, 2806 – Silostellengebühren II. 90 Bundeskartellamt, Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren vom 25.6.2013. 91 Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung – vom 17.3.2006. 92 Vgl. die Verhängung eines Bußgelds gegen Microsoft wegen vertikaler Preisbindung beim Vertrieb von Software, Pressemitteilung des Bundeskartellamts vom 8.4.2009.

Hempel

17

AEUV Art. 101 Rz. 80 Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen schaft gesamtschuldnerisch auf. Dies kann dazu führen, dass beiden Muttergesellschaften eines an einem Kartell beteiligten Gemeinschaftsunternehmens eine Geldbuße auferlegt wird.93 81

Die Verordnung sieht vor, dass die Geldbuße 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes des Unternehmens nicht übersteigen darf (Kappungsgrenze), Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003. Maßgeblich ist dabei der Umsatz der wirtschaftlichen Einheit. Auch die Kommission hat sich Leitlinien für die Bemessung von Geldbußen gegeben.94 Auch sie betreibt zur Förderung der Aufklärung von Kartellfällen ein Kronzeugenprogramm.95

82

In ihrer Praxis verfolgt die Kommission Kartelle im Wege des Bußgeldverfahrens. Sie greift aber auch in Fällen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zu diesem Instrument.96 c) Strafbarkeit von Kartellrechtsverstößen

83

Kartellrechtsverstöße sind nach deutschem Recht nur in bestimmten Fällen strafbar (§ 298 StGB – Wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibung; § 263 StGB – Betrug). d) Schadensersatzansprüche

84

Verstöße gegen Art. 101 AEUV und § 1 GWB begründen nach deutschen Recht Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche (§ 33 GWB) und Schadensersatzansprüche (§ 33a GWB). Anspruchsberechtigt sind die von dem Verstoß Betroffenen, z.B. die Abnehmer. Die Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche können auch von Wirtschaftsverbänden und Verbraucherschutzvereinigungen geltend gemacht werden (§ 33 Abs. 4 GWB). Die Verbände können, wenn die Kartellbehörde dies nicht macht, die Abschöpfung des durch den Verstoß erlangten Vorteils und Abführung an die Staatskasse verlangen (§ 34a GWB). Die an einem Verstoß gegen Art. 101 AEUV und § 1 GWB Beteiligten haften den Gläubigern des Schadensersatzanspruchs als Gesamtschuldner (§ 840 BGB).

85

Mit der 7. GWB-Novelle 2005 hatte der Gesetzgeber weitere Regelungen zur Erleichterung der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen eingeführt, wie eine Verzinsungspflicht ab Schadenseintritt (§ 33 Abs. 3 Satz 4 GWB a.F.), die Bindungswirkung vorhergehender behördlicher Entscheidungen (§ 33 Abs. 4 GWB a.F.) sowie die Hemmung der Verjährung während des kartellbehördlichen Verfahrens (§ 33 Abs. 5 GWB a.F.).

86

In Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU (Kartellschadensersatzrichtlinie)97 hat der Gesetzgeber mit der 9. GWB-Novelle 2017 umfangreiche weitere Regelungen zum kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch in das GWB aufgenommen. Dazu zählen insbesondere eine widerlegliche Vermutung, dass Kartelle Schäden verursachen (§ 33a Abs. 2 GWB), eine Regelung zur Schadensabwälzung (sog. pass-on, § 33c GWB), Regelungen zu der gesamtschuldnerischen Haftung bei Kartellen (§ 33d GWB), ein Beweismittelherausgabe- und Auskunftsanspruch für die Geschädigte, aber auch Schädiger (§ 33g GWB), ein eigenes Verjährungsrecht (§ 33h GWB) sowie flankierende prozessuale Regelungen (§§ 89a ff. GWB).

87

Die meisten Regelungen des neuen Kartellschadensersatzrechts haben gegenwärtig noch keine Bedeutung, da sie erst auf Kartellrechtsverstöße anwendbar sind, die nach Inkrafttreten begangen wurden.

93 Vgl. nur EuGH v. 26.9.2013 – C-172/12, WuW/E EU-R 2870 – EI du Pont de Nemours/Kommission. 94 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gem. Artikel 23 Absatz 2 a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EG C 210 v. 1.9.2006, 2. 95 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG C 298 v. 8.12.2006, 17, und Änderung der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU C 256 v. 5.8.2012, 1. 96 Vgl. aus dem IT-Bereich: Europäische Kommission, Entsch. v. 13.5.2009 – COMP/C-3/37.990, ABl. EG C 227 v. 22.9.2009, 13 – Intel. 97 ABl. EU L 349 v. 5.12.2014, 1.

18

Hempel

Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Art. 102 AEUV

e) Verwaltungsverfahren Die deutschen Kartellbehörden wie auch die Europäische Kommission können in Fällen vermuteter Kartellrechtsverstöße auch Verwaltungsverfahren einleiten und z.B. Abstellungsentscheidungen, nachträgliche Feststellungen von Verstößen oder Verpflichtungszusagenentscheidungen erlassen.98

88

Die deutschen Kartellbehörden können bei Kartellrechtsverstößen eine Abschöpfung des durch den 89 Verstoß erlangten Vorteils anordnen (§ 34 GWB). Diese Befugnis hat in der Praxis keine Bedeutung gewonnen.

Art. 102 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dieser Missbrauch kann insbesondere in Folgendem bestehen: a) der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen; b) der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher; c) der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden; d) der an den Abschluss von Verträgen geknüpften Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Regelungsgehalt der Norm .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . b) Beherrschende Stellung . . . . . . . . . . aa) Marktabgrenzung . . . . . . . . . . (1) Sachlich relevanter Markt, insb. IT-Märkte . . . . . . . . . . . . . . . (2) Primär- und Sekundärmärkte . . . (3) Märkte für gebrauchte Güter, insb. Gebrauchtsoftware . . . . . . . . . . (4) Räumlich relevanter Markt . . . . . bb) Marktbeherrschung . . . . . . . . . c) Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff/Definition . . . . . . . . . .

3 3 3 4 5

. . . . .

. . . . .

. . 8 . . 14 . . . . .

. . . . .

19 21 23 32 32

bb) Generalklausel, Fallgruppen und Systematisierung . . . . . . . . . . . cc) Ausbeutungsmissbrauch . . . . . . . dd) Behinderungsmissbrauch . . . . . . (1) Geschäftsverweigerung und Lizenzverweigerung . . . . . . . . . . . . . (2) Erlangung und Ausübung von geistigen Eigentumsrechten . . . . . (3) Preis-Kosten-Schere . . . . . . . . . (4) Kampfpreise . . . . . . . . . . . . . . (5) Ausschließlichkeitsbindungen . . . (6) Rabattsysteme . . . . . . . . . . . . . (7) Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . (8) Diskriminierung . . . . . . . . . . . d) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenstaatlichkeitsklausel . . . . . . 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 33 . . 34 . . 37 . . 37 . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

48 51 52 53 54 57 61 62 65 66

Literatur: Bechtold, Die Kontrolle von Sekundärmärkten, 2007; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Aufl. 2014; Bornkamm/Montag/Säcker, Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), 2. Aufl. 2015; Conrad/Grützmacher, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, 2014; Grützmacher, Gebrauchtsoftware und Übertragbarkeit von Lizenzen – Zu den Rechtsfragen auch jenseits der Erschöpfungslehre, CR 2007, 549; Grützmacher, Gebrauchtsoftwarehandel mit erzwungener Zustimmung – eine gangbare Alternative, CR 2010, 141; Grützmacher, Teilkündigungen bei Softwarepflege- und Softwarelizenzverträgen, Eine 98 §§ 32, 32b GWB; Art. 7, 9 VO Nr. 1/2003.

Hempel und Wolf

19

AEUV Art. 102 Rz. 1 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Analyse unter besonderer Berücksichtigung der AGB- und kartellrechtlichen Aspekte, ITRB 2011, 133; Heydn, Verbot der Aufspaltung von Softwarelizenzen, K&R 2011, 707; Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Band 1. EU/Teil 1, 6. Aufl. 2019; Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 94. Lieferung 2019; Kilian/Heussen, Computerrechts-Handbuch – Informationstechnologie in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, Loseblattausgabe, Stand: 34. EL 5/2018; Körber, Machtmissbrauch durch Android? – Zum Wettbewerb auf den Märkten für mobile Betriebssysteme und Anwendungen, NZKart 2014, 378; Langen/Bunte, Kartellrecht, 13. Aufl. 2018; Metzger/Hoppen, Zur Zulässigkeit von Nutzungsbeschränkungen in Lizenzverträgen bei Verwendung von Drittanbietersoftware, CR 2017, 625; Nordmeyer, Lizenzantiquitätenhandel: Der Handel mit „gebrauchter“ Software aus kartellrechtlicher Perspektive, GRUR Int 2010, 489; Pena Castellot, Commission settles allegations of abuse and clears patent pools in the CD market, Competition Policy Newsletter 3/2003, S. 56; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017; Schulte/Just, Kartellrecht, 2. Aufl. 2015; Schweitzer, Controlling the Unilateral Exercise of Intellectual Property Rights, EUI Working Papers, LAW 2007/31; Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018; Ulmer/Hoppen, Die UsedSoft-Entscheidung des EuGH: Europa gibt die Richtung vor, ITRB 2012, 232; Graf von Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 43. EL 04.2019; Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016.

I. Allgemeines 1. Zweck der Norm 1

Art. 102 AEUV verbietet den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch Unternehmen. Wesentlicher Unterschied zu den §§ 18 bis 20 GWB ist, dass sich Art. 102 AEUV auf den Binnenmarkt und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten bezieht. Im Gegensatz zu Art. 101 AEUV regelt Art. 102 AEUV einseitige Verhaltensweisen von Unternehmen. Allerdings gilt die Vorschrift nicht für alle Unternehmen, sondern nur für solche, die sich in gewissem Maß von den Wettbewerbskräften unabhängig verhalten können und damit marktbeherrschend sind. Der auf entsprechenden Märkten noch bestehende Wettbewerb soll durch das Verbot bestimmter „leistungsfremder“ Mittel aufrechterhalten werden.1 Erfasst werden nicht nur Verhaltensweisen, durch die Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden entstehen kann, sondern auch Verhaltensweisen, die schädlich sind, weil sie in die Struktur des Wettbewerbs eingreifen.2 Der Begriff des Missbrauchs ist dabei ein objektiver Begriff und setzt keine Absicht oder anderweitige subjektive Zielsetzungen der Unternehmen voraus.3 2. Bedeutung und Regelungsgehalt der Norm

2

Die Vorschrift nennt eine Reihe von missbräuchlichen Verhaltensweisen. Die Aufzählung ist aber nicht erschöpfend.4 Damit hat die Generalklausel in Abs. 1 entscheidende Bedeutung. Die Anwendung der Vorschrift folgt weitgehend den von der Rspr. der europäischen Gerichte entwickelten Fallgruppen. Dabei kann eine einzige Verhaltensweise durchaus zugleich die Generalklausel und eines oder mehrere Regelbeispiele erfüllen oder unter mehrere Fallgruppen der Rspr. subsumierbar sein.5 Bedeutung haben darüber hinaus Bekanntmachungen der EU-Kommission. Die EU-Kommission hat im Jahr 2009 „Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Art. 82 des EG-Vertrags auf Fälle von Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen“ („Durchsetzungsprioritäten“) bekannt gemacht.6 Die Durchsetzungsprioritäten geben die Rspr. der europäischen Gerichte wieder, gehen aber an einigen Stellen auch darüber hinaus. Sie sollen „mehr Klarheit und Vorhersehbarkeit in Bezug auf den allgemeinen Prüfungsrahmen schaffen, anhand dessen die Kommission entscheidet, ob sie Fälle, in denen die ein oder andere Form eines Behinderungsmissbrauchs vorliegt, verfolgt“ und Unternehmen als Hilfestellung zur Selbsteinschätzung von Verhaltensweisen dienen.7

1 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 45 – Huawei/ZTE. 2 EuGH v. 21.2.1973 – C-6/72, Slg. 1973, 215, Rz. 26 – Continental Can; EuG v. 12.6.2014 – T-286/09, Rz. 105 – Intel. 3 Vgl. nur EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 45 – Huawei/ZTE und Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 149 jeweils m.w.N. 4 EuGH v. 21.2.1973 – C-6/72, Slg. 1973, 215, Rz. 26 – Continental Can. 5 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 8. 6 EU-Kommission, ABl. 2009, Nr. C 45/7. 7 EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, Nr. C 45/7, Rz. 2.

20

Wolf

Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 7 Art. 102 AEUV

Die Durchsetzungsprioritäten entfalten allerdings keine Bindungswirkung für nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte.8

II. Norminhalt 1. Tatbestand a) Unternehmen Art. 102 AEUV verbietet den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung „durch […] Unternehmen“. Dieser Unternehmensbegriff entspricht dem für Art. 101 AEUV relevanten Begriff des Unternehmens. Nach ständiger Rspr. des EuGH umfasst der Begriff des Unternehmens „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“.9 Soweit diese Voraussetzungen erfüllt sind, gilt das auch für öffentliche Unternehmen, unabhängig davon, wie diese organisiert sind.10

3

b) Beherrschende Stellung Die Prüfung „einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil 4 desselben“ setzt zunächst die Abgrenzung des relevanten Teils des Binnenmarktes voraus. Grund ist, dass die Wettbewerbsmöglichkeiten und damit die Marktposition von Unternehmen nur anhand von bestimmten Produkten oder Dienstleistungen bewertet werden können, die denselben Bedarf befriedigen und nicht mit anderen Produkten oder Dienstleistungen austauschbar sind.11 Wenn der relevante Markt abgegrenzt ist, kann festgestellt werden, ob ein oder mehrere Unternehmen auf diesem relevanten Markt eine beherrschende Stellung haben. aa) Marktabgrenzung Der relevante Markt wird i.d.R. sachlich und räumlich, vereinzelt auch zeitlich abgegrenzt. Die EU- 5 Kommission erläutert in ihrer Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft (ABl. 1997 C 372/5), wie sie die Begriffe des sachlich und räumlich relevanten Marktes verwendet. Der Kommission kommt insoweit eine besondere Rolle bei der Marktabgrenzung zu, weil die europäischen Gerichte die Marktabgrenzung aufgrund der notwendigen komplexen wirtschaftlichen Beurteilungen nur beschränkt kontrollieren.12 Die Wettbewerbskräfte, denen ein Unternehmen unterliegt, setzen sich aus der Nachfragesubstituierbarkeit, der Angebotssubstituierbarkeit und dem potentiellen Wettbewerb zusammen.13 Die EUKommission stützt sich bei der Marktabgrenzung hauptsächlich auf die Nachfragesubstituierbarkeit, weil das die „unmittelbarste und wirksamste disziplinierende Kraft“ ist.14 Soweit Anbieter kurzfristig ohne spürbare Zusatzkosten oder Risiken umstellen können, z.B. wenn sie verschiedene Sorten oder Qualitäten eines Produktes anbieten, kann die Marktabgrenzung entsprechend erweitert werden.15 Wenn das nicht erfüllt ist, finden Angebotssubstituierbarkeit und potentieller Wettbewerb keine Berücksichtigung bei der Marktabgrenzung, dagegen aber bei der Bewertung, ob eine beherrschende Stellung vorliegt.16

6

Zu beachten ist, dass die Marktabgrenzung sich je nach Norm, zu deren Anwendung sie durchgeführt 7 wird, unterscheiden kann. Der Marktabgrenzung zu Zwecken der Fusionskontrolle liegt grundsätzli8 9 10 11 12 13 14 15 16

EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 52 – Post Danmark II. EuGH v. 12.12.2013 – C-327/12, Rz. 27 – SOA Zertifizierungsunternehmen. Ausf.: MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 60 ff. EuGH v. 21.2.1973 – C-6/72, Slg. 1973, 215, Rz. 32 – Continental Can. EuG v. 15.12.2010 – T-427/08, Rz. 66 – CEAHR; vgl. dazu auch Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 6. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 13. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 13. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 20 ff. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 23 f.

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AEUV Art. 102 Rz. 7 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung che eine zukunftsbezogene Betrachtungsweise zugrunde. Dagegen ist die Betrachtung bei der Beurteilung, ob ein Verstoß nach Art. 102 AEUV vorliegt, meist in die Vergangenheit gerichtet.17 Dem ist insb. Rechnung zu tragen, wenn bei der Marktabgrenzung – wegen der überschaubaren Zahl an Entscheidungen zu Art. 102 AEUV – die vielfältige Kommissionspraxis aus dem Bereich der Fusionskontrolle herangezogen wird. (1) Sachlich relevanter Markt, insb. IT-Märkte 8

Der sachlich relevante Produktmarkt umfasst nach Auffassung der EU-Kommission „sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden.“18 Die Ermittlung der danach austauschbaren Produkte oder Dienstleistungen erfordert eine wertende Betrachtung.19 Es ist keine vollkommene Austauschbarkeit erforderlich.20

9

Eine Rolle spielen kann teilweise21 die Kreuzpreiselastizität in Form des sog. SSNIP-Tests („small but significant non-transitory increase in price“; auch „hypothetischer Monopolistentest“). Dabei wird ermittelt, „ob die Kunden der Parteien als Reaktion auf eine angenommene kleine, bleibende Erhöhung der relativen Preise (im Bereich zwischen 5 und 10 %) für die betreffenden Produkte und Gebiete auf leicht verfügbare Substitute ausweichen würden.“ Soweit die Kunden auf andere Produkte ausweichen und die Preiserhöhung deshalb wegen des daraus folgenden Absatzrückgangs nicht einträglich ist, gehören die Produkte zum selben sachlich relevanten Markt. Soweit die Kunden nicht auf andere Produkte ausweichen und die Preiserhöhung damit gewinnbringend ist, gehören die Produkte zu zwei verschiedenen sachlich relevanten Märkten.22 Zu beachten ist allerdings, dass der SSNIP-Test auf beherrschten Märkten zu einer zu weiten Marktabgrenzung führen kann, wenn das Preisniveau ohnehin schon hoch gegenüber einem hypothetischen Wettbewerbspreis ist (sog. „Cellophane-Fallacy“).23

10

Eine Rolle spielen können Produkteigenschaften, z.B. die Leistung von Mikroprozessoren. Die EUKommission hielt im Verfahren gegen Intel wegen missbräuchlicher Rabatte Mikroprozessoren für Computer aus Sicht der OEMs als Nachfrager u.a. deshalb für nicht austauschbar mit Mikroprozessoren für andere Systeme, wie z.B. Spielkonsolen, Kassen und Geldautomaten, weil Mikroprozessoren für andere Systeme üblicherweise eine geringere Leistung haben.24 Aufgrund von unterschiedlichen Eigenschaften hat die EU-Kommission auch separate Märkte für integrierte Schaltkreise („Field Programmable Gate Arrays“) und programmierbare logische Schaltungen („Complex Programmable Logic Devices“) angenommen.25 Schwer zu unterscheiden, aber i.E. unerheblich ist die Frage, ob in derartigen Fällen die Eigenschaft eines Produktes oder sein Verwendungszweck den entscheidenden Ausschlag für die sachliche Marktabgrenzung gibt. Die für die Austauschbarkeit relevanten Eigenschaften können sich auch im Zusammenspiel mit weiteren Produkten zeigen. Die EU-Kommission ging z.B. ebenfalls im Verfahren gegen Intel davon aus, dass x86-Prozessoren und Prozessoren, die auf anderer Architektur basieren, nicht zum selben Markt gehören, hauptsächlich deshalb, weil nur x86-Prozessoren mit dem Betriebssystem Windows funktionieren.26

11

Die Austauschbarkeit oder Nicht-Austauschbarkeit kann sich aus dem Verwendungszweck des Produktes ergeben. Im Fall Intel sah die EU-Kommission z.B. die Möglichkeit, Mikroprozessoren (CPUs) für Desktop-Rechner, Laptops und Server als nicht miteinander austauschbar anzusehen, weil an den 17 EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 12. 18 EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 7. 19 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 50; MünchKomm/Füller, Einl. D Rz. 1058; Bechtold/Bosch/ Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 11. 20 EuG v. 9.9.2009 – T-301/04, Slg. II 2009, 3164 ff. Rz. 64 – Clearstream. 21 Vgl. dazu Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 10 m.w.N. 22 EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 17. 23 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 39; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 52; MünchKomm/Kerber/Schwalbe, Einl. B Rz. 262; EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 19. 24 EU-Kommission v. 13.5.2009, COMP/37.990, Rz. 809 ff. – Intel. 25 EU-Kommission v. 14.10.2015, COMP/M.7688, Rz. 40 ff. – Intel/Altera. 26 EU-Kommission v. 13.5.2009, COMP/37.990, Rz. 803 ff. – Intel.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 12 Art. 102 AEUV

Mikroprozessor – je nachdem, in welchem Gerät er eingesetzt wird – unterschiedliche Anforderungen gestellt werden.27 Auch die sich stark unterscheidenden Preise spielten dafür eine Rolle.28 I.E. konnte die EU-Kommission die Frage aber offen lassen. Ein relevanter Markt kann auch dadurch begrenzt sein, dass zwischen zwei Produkten nur eine einseitige Austauschbarkeit besteht, z.B. zwischen Breitband- und Schmalbandinternet.29 Insb. Softwaremärkte werden nach dem Verwendungszweck des Produkts abgegrenzt. Am Anfang steht die Unterscheidung von Unternehmenssoftware und Verbrauchersoftware, Unternehmenssoftware kann wiederum in Infrastruktursoftware („middleware“) und Anwendungssoftware unterteilt werden.30 Anwendungssoftware kann weiter in Produktivitätssoftware, z.B. Textverarbeitung, und Unternehmensanwendungssoftware (EAS) unterteilt werden.31 Der Markt für EAS-Software wiederum kann in Märkte für Enterprise Resource Planning-Software (ERP), Customer Relationship Management-Software (CRM), Supplier Relationship ManagementSoftware (SRM), Supply Chain Management-Software (SCM), Product Lifecycle Management-Software (PLM), Business Analytics-Software (BA) und entsprechende weitere Bereiche unterteilt werden.32 Weiter kann eine Unterscheidung nach Einsatzbereich im Unternehmen (z.B. Personal oder Finanzen) und Qualität notwendig werden. Die EU-Kommission hat z.B. einen Markt für Hochfunktionslösungen für die Personal- oder die Finanzverwaltung in einem Unternehmen abgegrenzt.33 Hochfunktionslösungen zeichnen sich dabei durch besondere Komplexitäts- und Leistungsmerkmale aus, die von großen Kunden mit komplexen Anforderungen nachgefragt werden (auch „upmarket“ oder „Tier 1“).34 Unter dem Aspekt des Einsatzzwecks kommt auch eine Marktabgrenzung nach Branche der Abnehmer infrage. Bei der Marktabgrenzung für EAS-Software ist regelmäßig umstritten, ob nach Branche des Softwarenutzers unterschieden werden muss. Die EU-Kommission hat zwar oft entschieden, dass die Frage offen bleiben kann.35 Sie hat aber auch einerseits schon angenommen, dass eine derartige Abgrenzung nach Branchen nicht angemessen ist,36 und andererseits, dass ein eigener Markt für Anwendungssoftware für die Gesundheitsbranche besteht.37 Dasselbe gilt für IT-Dienstleistungen. Ob nach Funktionalität (Consulting, Implementierung, Outsourcing, Geschäftsprozess Outsourcing, Software-Support und Hardware-Support) oder nach Branchen der Abnehmer unterschieden werden muss, konnte bislang am Ende immer offen bleiben.38 Die EU-Kommission hat zudem einen einheitlichen Markt für relationale Datenbank-Managementsysteme abgegrenzt, auf dem zumindest auf Ebene der Marktabgrenzung nicht danach unterschieden wird, ob es sich um eingebettete oder nicht-eingebettete Datenbanken handelt, und nicht nach Betriebssystem oder Kundengruppen differenziert wird.39 Außerhalb der Marktabgrenzung können aber, z.B. bei einer Würdigung der wettbewerblichen Effekte, bestimmte Teilsegmente unterschieden werden, insbesondere ein Web-, ein KMU, ein Großunternehmens-, ein High-End-Segment und ein Segment für eingebettete Datenbanken.40 Der Markt für CAD-Software ist ein einheitlicher Markt. Er ist zumindest dann nicht anbieterspezifisch abzugrenzen, soweit es tatsächlich Anbieterwechsel gibt, die auf Wettbewerb zurückzuführen sind.41 Der sachlich relevante Markt muss nicht aus einzelnen Produkten oder Dienstleistungen bestehen, wie z.B. Mikroprozessoren oder einer bestimmten Software, sondern kann auch ganze Sortimente 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

EU-Kommission v. 13.5.2009, COMP/37.990, Rz. 795 ff. – Intel. EU-Kommission v. 13.5.2009, COMP/37.990, Rz. 799 – Intel. EU-Kommission v. 16.17.2003, COMP/38.233, Rz. 173 ff. – Wanadoo Interactive. EU-Kommission v. 26.10.2004, COMP/M.3216, Rz. 15 – Oracle/Peoplesoft. EU-Kommission v. 26.10.2004, COMP/M.3216, Rz. 15 – Oracle/Peoplesoft. EU-Kommission v. 26.10.2004, COMP/M.3216, Rz. 18 – Oracle/Peoplesoft; EU- Kommission v. 27.11.2007, COMP/M.4944, Rz. 13 ff. – SAP/Business Objects; EU- Kommission v. 29.3.2010, COMP/M.5763, Rz. 10 ff. – Dassault Systemes/IBM DS PLM Software business. EU-Kommission v. 26.10.2004, COMP/M.3216, Rz. 55 ff. – Oracle/Peoplesoft. EU-Kommission v. 26.10.2004, COMP/M.3216, Rz. 60 ff. – Oracle/Peoplesoft. EU-Kommission v. 29.8.2014, COMP/M.7334, Rz. 9 – Oracle/Micros. EU-Kommission v. 22.12.2005, COMP/M.3978, Rz. 12 – Oracle/Siebel. EU-Kommission v. 20.6.2011, COMP/M.6237, Rz. 20 ff. – Computer Sciences Corporation/iSoft Group. EU-Kommission v. 15.12.2014, COMP/M.7548, Rz. 14 ff. – IBM/Deutsche Lufthansa. EU-Kommission v. 21.1.2010, COMP/M.5529, Rz. 86 ff. – Oracle/Sun Microsystems. EU-Kommission v. 21.1.2010, COMP/M.5529, Rz. 426 ff. – Oracle/Sun Microsystems. EuG v. 14.9.2017 – T-751/15, Rz. 59 ff. – Contact Software.

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12

AEUV Art. 102 Rz. 12 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung umfassen. Die EU-Kommission grenzt z.B. einen Markt für den Großhandel mit IT-Produkten ab, zu dem die Lieferung einer breiten Palette von IT-Produkten durch viele IT-Hersteller und Softwareanbieter an eine große Anzahl von Wiederverkäufern und Einzelhändler gehört.42 Mit einbezogen werden auch Dienstleistungen wie Kundendienst, Schulungen und Finanzdienstleistungen. Ob weiter nach Produktkategorien (z.B. Speicherhardware oder Zubehör) unterteilt werden muss, blieb bislang offen. 13

Abgrenzungsmerkmal können auch Vertriebsstufen oder Vertriebskanäle sein. Zum Markt für den Großhandel mit IT-Produkten gehören Lieferungen an Wiederverkäufer und Einzelhändler, nicht aber an Endverbraucher.43 Offen gelassen hat die EU-Kommission bislang, ob der Direktvertrieb durch Hersteller zum Markt für den Großhandel mit IT-Produkten gehört.44 (2) Primär- und Sekundärmärkte

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Werden zu einem Primärprodukt zusätzlich Sekundärprodukte oder -leistungen angeboten, z.B. Wartungsleistungen, Ersatzteile oder Updates, stellt sich die Frage, ob der relevante Markt ein einheitlicher Systemmarkt (z.B. Hauptprodukt inkl. Wartungsleistung) ist oder vom Primärmarkt für das Hauptprodukt ein Sekundärmarkt für die Folgeprodukte- oder Dienstleistungen abzugrenzen ist. Es geht darum, Fälle zu identifizieren, in denen der Abnehmer auf das Sekundärprodukt des entsprechenden Anbieters auf dem Primärmarkt angewiesen ist (lock-in Effekt) und der Anbieter des primären Produkts die Möglichkeit hat, gewinnbringend die Preise für die Sekundärprodukte zu erhöhen.45 Die Abgrenzung der Märkte erfolgt dabei grundsätzlich nach denselben Kriterien wie in anderen Fällen. Es geht um die Reaktion der Kunden auf Änderungen bei den relativen Preisen.46 Zusätzlich sind aber Verbindungen zwischen Primär- und Sekundärmarkt zu berücksichtigen.47

15

Ein eigener relevanter Markt für die Sekundärleistung eines bestimmten Anbieters oder einer bestimmten Marke liegt vor, wenn die Kunden nicht auf Sekundärleistungen anderer Anbieter ausweichen können und auf dem Primärmarkt hohe Wechselkosten bestehen.48 Sekundärleistungen bilden dagegen keinen eigenständigen anbieterspezifischen Markt, wenn die Kunden auf Sekundärleistungen anderer Anbieter ausweichen49 oder das Primärprodukt wechseln können, um einer Preiserhöhung auf dem Sekundärmarkt auszuweichen.50 Dabei soll es nur auf die Perspektive der Kunden ankommen, die das Primärprodukt schon erworben haben („installed base“).51

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Die Möglichkeit, auf Sekundärleistungen anderer Anbieter auszuweichen, kann vor allem technisch eingeschränkt sein. Z.B. können Patronen für Drucker eines bestimmten Herstellers i.d.R. nicht in Druckern anderer Hersteller verwendet werden,52 dasselbe kann für Software und Patches eines Hardware-Herstellers gelten, die für den Betrieb der Hardware benötigt werden.53 Wartungsleistungen für ERP-Software werden oft nur vom Hersteller oder dessen Partnern bezogen, die Verträge dafür zusam-

42 43 44 45 46 47 48

49 50 51 52 53

24

EU-Kommission v. 21.10.2015, COMP/M.7708, Rz. 10 m.w.N. – ALSO/PCF. EU-Kommission v. 21.10.2015, COMP/M.7708, Rz. 10 m.w.N. – ALSO/PCF. EU-Kommission v. 21.10.2015, COMP/M.7708, Rz. 11 f. m.w.N. – ALSO/PCF. EU-Kommission v. 22.9.1995, COMP/34.330, Rz. 62 – Pelikan/Kyocera; EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 56. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 56. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 56. EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 23 – IBM Maintenance Services; EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 56. Dagegen wurde Auswirkungen auf dem Primärmarkt in der älteren Rspr. weniger Bedeutung zugemessen, vgl. dazu Bechtold, Kontrolle von Sekundärmärkten, S. 58 f. Vgl. dazu EuGH v. 31.5.1979 – 22/75, Rz. 7 ff. – Hugin; EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 56. EuG v. 15.12.2010 – T-427/08, Slg. 2010, II-5865, Rz. 79 – CEAHR. EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82, Rz. 247; EU-Kommission v. 22.9.1995, COMP/34.330, Rz. 55 – Pelikan/Kyocera. Vgl. z.B. EU-Kommission v. 22.9.1995, COMP/34.330, Rz. 54 – Pelikan/Kyocera. EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 27 f. – IBM Maintenance Services.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 18 Art. 102 AEUV

men mit dem Verkauf der ERP-Softwarelizenz abgeschlossen haben.54 Wenn dagegen zu Sekundärprodukten anderer Anbieter gewechselt werden kann, kommt ein allgemeiner Sekundärmarkt für die Produkte verschiedener Anbieter in Betracht.55 Wenn zwar nicht zu Sekundärprodukten anderer Primäranbieter, aber zu den Produkten eines Unternehmens gewechselt werden kann, das markenspezifische Sekundärprodukte anbietet, kann ein anbieterspezifischer Sekundärmarkt bestehen, auf dem neben dem Anbieter des Primärprodukts weitere Unternehmen (i.d.R. mit geringeren Marktanteilen) tätig sind.56 Insb. ist die Existenz von Unternehmen, die auf Sekundärprodukte oder -dienstleistungen (z.B. Ersatzteile oder Kundendienst) spezialisiert sind, ein Indiz dafür, dass ein eigener relevanter Sekundärmarkt vorliegt.57 Wenn für die Tätigkeit auf dem anbieterspezifischen Sekundärmarkt wiederum Inputs des Primäranbieters notwendig sind (z.B. Ersatzteile, bestimmte Software oder Patches), kann ein eigener relevanter Markt für diese Inputs bestehen, auf dem der Primäranbieter i.d.R. der einzige Anbieter ist.58 Hohe Wechselkosten auf dem Primärmarkt können z.B. in Fällen bestehen, in denen erhebliche Investitionen für die Einarbeitung und das Training in Bezug auf das Primärprodukt notwendig waren und eine Umstellung kostenintensiv ist.59 Das kommt insb. bei EAS-/ERP-Software in Betracht, wenn mit der Implementierung die Geschäftsprozesse des Unternehmens angepasst wurden und fortdauernd angepasst werden.60 Wechselkosten können auch durch Netzwerkeffekte begründet werden. Indirekte Netzwerkeffekte erhöhen z.B. die Wechselkosten zwischen unterschiedlichen Softwaresystemen, wenn die hohe Verbreitung der Software dazu geführt hat, dass eine hohe Zahl komplementärer Software dafür besteht.61 Die Wechselkosten können dadurch begrenzt sein, dass das Primärprodukt zu einem hinreichend attraktiven Preis weiterverkauft werden kann.62 Beim Weiterverkauf von „gebrauchter“ Software wird es darauf ankommen, inwieweit dieser rechtlich möglich sowie tatsächlich durchführbar ist und inwieweit diese Möglichkeit auch wirklich genutzt wird. Für die Ablehnung eines eigenen Sekundärmarktes und die Annahme eines Systemmarktes reicht es nicht aus, dass der Abnehmer die Wahl zwischen mehreren Primärprodukten hat. Der Wechsel auf dem Primärmarkt muss gerade auf Grundlage der Wettbewerbsbedingungen auf dem Sekundärmarkt getroffen werden.63 Gegen einen derartigen Zusammenhang kann sprechen, dass die Kosten auf dem Sekundärmarkt im Vergleich zu den Kosten auf dem Primärmarkt geringfügig sind.64

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Nach diesen Grundsätzen nahm die EU-Kommission in ihrer Entscheidung IBM Maintenance Services einen Primärmarkt für große Unternehmensserver an, auf denen IBM seine Mainframe-Systeme verkauft, und separate Sekundärmärkte für Inputs, die für die Wartung der Mainframe-Systeme benötigt werden und die nur IBM liefern kann, sowie für die Wartung der Mainframe-Hardware und -Software.65 Die EU-Kommission hielt IBM infolge für beherrschend bei den folgenden Inputs für die Wartung seiner Mainframe-Systeme, weil nur IBM diese Inputs liefern kann:66 Maschinencode für die Aktivierung bestimmter Ersatzteile, Updates für den Maschinencode der Mainframe-Systeme, Patches/Bugfixes für das Betriebssystem.67 Es sei unwahrscheinlich, dass andere Anbieter diese Inputs

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54 So etwa in der Schweiz, vgl. Schweizerische Wettbewerbskommission, Recht und Politik des Wettbewerbs (RPW), 2010/3, S. 438. 55 EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 248. 56 EU-Kommission v. 22.9.1995, COMP/34.330, Rz. 55 – Pelikan/Kyocera. 57 EuG v. 15.12.2010 – T-427/08, Slg. 2010, II-5865, Rz. 108 – CEAHR; EuG v. 12.12.1991 – T-30/89, Rz. 67 – Hilti. 58 EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 20 ff. – IBM Maintenance Services. 59 EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 249. 60 Grützmacher, CR 2010, 141, 145; Schweizerische Wettbewerbskommission, Recht und Politik des Wettbewerbs (RPW), 2010/3, S. 439. 61 Kilian/Heussen/Klees, 25. EL 10/2006, Kartellrecht Rz. 8 f. 62 EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82, Rz. 249. 63 EuG v. 15.12.2010 – T-427/08, Slg. 2010, II-5865, Rz. 105 – CEAHR. 64 EuG v. 15.12.2010 – T-427/08, Slg. 2010, II-5865, Rz. 106 – CEAHR. 65 EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 20 – IBM Maintenance Services. 66 Die Identifizierung der Inputs erfolgt in der Kommissionentscheidung nicht bei Prüfung der Marktabgrenzung, sondern der Beherrschung. 67 EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 27 f. – IBM Maintenance Services.

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AEUV Art. 102 Rz. 18 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anbieten werden, weil dafür erhebliche Investitionen notwendig seien und IBM Schutz der Technologie durch geistige Eigentumsrechte beanspruche.68 (3) Märkte für gebrauchte Güter, insb. Gebrauchtsoftware 19

Relevant werden kann auch die Frage, ob gebrauchte Versionen eines Produktes einen eigenen sachlich relevanten Markt bilden. Eine Rolle spielen kann das z.B. im Fall von gebraucht verkaufter Software. Infrage kommt ein separater Markt für gebrauchte Produkte, wenn sich neue und gebrauchte Produkte in ihren Eigenschaften oder im Verwendungszweck unterscheiden. Gebrauchte Autos sollen z.B. einen eigenen sachlich relevanten Markt darstellen können.69 Unterschiede zwischen neuen und gebrauchten Autos können im Hinblick auf Wert, Abnutzung und Individualisierbarkeit bestehen.70 Der EuGH ging zudem von der nur eingeschränkten Austauschbarkeit von neuen und runderneuerten Reifen aus, u.a. weil runderneuerten Reifen in Bezug auf Zuverlässigkeit und Sicherheit ein geringerer Wert zugeschrieben werde.71 Das kann Berücksichtigung finden, weil eine nur eingeschränkte Austauschbarkeit die Zuordnung zweier Produkte zu einem einheitlichen sachlich relevanten Markt verhindern kann.72 Die EU-Kommission hat zudem einen eigenen Markt für gebrauchte Flugzeuge angenommen, soweit diese für andere Zwecke, nämlich zur Gepäck- und Postbeförderung anstatt für Personen verwendet werden.73 Gebrauchte Software unterscheidet sich von neuer Software allerdings nicht in ihren Eigenschaften und auch nicht im Verwendungszweck.74 Allenfalls der Preis kann ein zu unterschiedlichen Märkten führendes Abgrenzungsmerkmal darstellen. Wenn die Preisunterschiede zwischen neuen und gebrauchten Produkten groß sind oder die Kreuzpreiselastizität niedrig ist, kommen getrennte sachlich relevante Märkte grundsätzlich in Betracht. Die Abgrenzung von unterschiedlichen Märkten allein anhand des Preises ist aber nicht unproblematisch, weil dadurch möglicherweise der Preiswettbewerb einfach wegdefiniert wird.75

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Fraglich ist, ob auch der Zukauf weiterer Lizenzen für eine Software durch einen Abnehmer, der schon einen gewissen Umfang dieser Lizenzen hat, einen eigenen Markt im Sinne eines Sekundärmarkts bilden kann.76 Immerhin sind konkurrierende Softwareprodukte für diesen Abnehmer aufgrund von i.d.R. hohen Wechselkosten nur noch eingeschränkt mit der schon erworbenen Software austauschbar.77 Gegen eine solche Abgrenzung spricht aber, dass sich die erste und jede weitere Softwarelizenz nicht in Eigenschaften oder in ihrem Verwendungszweck unterscheiden. Bei Ersatzteilen oder Wartungsleistungen, den klassischen Sekundärprodukten, handelt es sich dagegen offensichtlich um andere Produkte oder Dienstleistungen als das Primärprodukt. Bei der Unterteilung des Marktes in den erstmaligen Kauf von Softwarelizenzen und den Zukauf von Softwarelizenzen wäre zudem unklar, wo die Grenze gezogen werden müsste, vor allem ab welchem Umfang an erworbenen Lizenzen ein Abnehmer die Lizenzen anderer Anbieter nicht mehr für austauschbar hält. Diese Unterscheidung zugunsten eines einheitlichen Marktes für das Produkt zu vernachlässigen, würde sich insoweit in die Dogmatik einfügen, als die Marktabgrenzung immer in gewissem Umfang von den konkreten Marktverhältnissen abstrahiert und Aspekte wie z.B. hohe Wechselkosten im Rahmen der Prüfung der Marktbeherrschung berücksichtigt werden können. Es ist aber nicht ausgeschlossen, gerade die Wechselkosten schon auf Ebene der Marktabgrenzung zu berücksichtigen. Auch die EU-Kommission möchte im Bereich der Sekundärmärkte bei der Marktabgrenzung stärker die schon bestehenden Kunden eines Produkts als potentielle Neukunden in den Blick nehmen.78 Die Wechselkosten für Bestandskunden können eine Schranke für die Nachfragesubstitution bilden und dazu führen, dass zwei auf den

68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

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EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 30 – IBM Maintenance Services. Immenga/Mestmäcker/Möschel, Band 2. GWB, 4. Aufl. 2007, § 19 GWB Rz. 34. Nordmeyer, GRUR-Int. 2010, 489, 493. EuGH v. 9.11.1983 – 322/81, Rz. 49 – Michelin I. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 55 m.w.N. EU-Kommission v. 2.10.1991, COMP IV/M053, Rz. 50 – Aerospatiale-Alenia/de Havilland. Vgl. Heydn, K&R 2011, 707, 709; Kilian/Heussen/Heydn, 34. EL 5/2018, Kap. 32.12, Rz. 7. Immenga/Mestmäcker/Immenga/Körber, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, Art. 2 FKVO Rz. 48. So Grützmacher, CR 2010, 141, 145. Vgl. Immenga/Mestmäcker/Immenga/Körber, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, Art. 2 FKVO Rz. 56. EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 247.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 23 Art. 102 AEUV

ersten Blick austauschbare Produkte unterschiedlichen Märkten zuzuordnen sind.79 Anerkannt ist, dass „captive customers“, d.h. Abnehmer, die hohen Wechselkosten ausgesetzt sind („lock-in“), im Rahmen der Marktabgrenzung eigene relevante Nachfragergruppen darstellen können.80 Ein eigener Markt in Bezug auf eine bestimmte Kundengruppe kann aber nur angenommen werden, wenn in Bezug auf diese Kundengruppe eine Preisdiskriminierung ggü. anderen Kundengruppen erfolgen kann. Das ist i.d.R. nur erfüllt, wenn (1) der Anbieter zum Verkaufszeitpunkt feststellen kann, welcher Gruppe der Kunde angehört, und (2) Handel zwischen Kunden oder Arbitrage durch Dritte nicht möglich ist.81 Der Anbieter einer Software wird i.d.R. nachvollziehen können, ob ein Interessent schon bisher Kunde bei ihm ist oder nicht. Allerdings wird der Handel mit gebrauchter Software mittlerweile zumindest im Grundsatz für zulässig gehalten. Damit kann der „captive customer“, also der Bestandskunde, erworbene Softwarelizenzen – zumindest in den rechtlich unumstrittenen Bereichen – an Mitglieder der Kundengruppe „Neukunden“ weiterverkaufen bzw. Dritte können entsprechende Arbitragegeschäfte durchführen. Soweit allerdings derartige Weiterveräußerungen urheberrechtlich unzulässig sind (§ 69c UrhG Rz. 16 ff.), kommt ein eigener relevanter Markt für den Zukauf von Softwarelizenzen durch Bestandskunden in Betracht. (4) Räumlich relevanter Markt Der räumlich relevante Markt umfasst „das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.“82

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Märkte für Halbleiterprodukte sind z.B. in räumlicher Hinsicht oft weltweit abzugrenzen, weil die 22 meisten Anbieter und Abnehmer weltweit tätig sind, die Produkte sich weltweit nicht unterscheiden, die Transportkosten im Vergleich zu den Herstellungskosten gering sind und sich die Preise weltweit nicht bedeutend unterscheiden.83 Dagegen umfasst der Markt für Co-Location-Services in externen Rechenzentren nach Auffassung der EU-Kommission nur die entsprechende Metropolregion, und zwar einen Radius von 50 km um die Innenstadt.84 Märkte für Unternehmenssoftware (EAS-Software) sind nach der Praxis der EU-Kommission zumindest EU-weit abzugrenzen, teilweise sogar weltweit.85 Umso mehr Unternehmenssoftware aber auf länderspezifische regulatorische Vorgaben angepasst wird und es gerade auf das entsprechende spezifische Know-how eines Anbieters ankommt, umso eher kommen auch nationale Märkte in Betracht.86 Das kann beispielsweise für Finanzsoftware gelten, soweit diese etwa auf das deutsche Steuerrecht zugeschnitten ist und entsprechende Hürden für ausländische Anbieter bestehen, den deutschen Markt zu bedienen. bb) Marktbeherrschung Eine „beherrschende Stellung“ auf dem relevanten Markt liegt nach ständiger Rspr. der europäischen Gerichte vor, wenn die Position das Unternehmen „in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Konkurrenten, seinen Kunden und letztlich den Verbrauchern gegenüber in nennenswertem Umfang unabhängig zu verhalten.“87 Eine beherrschende Stellung schließt nicht aus, dass auf dem Markt in gewissem Umfang Wettbewerb herrscht. Das Unternehmen mit beherrschender Stellung

79 80 81 82 83 84 85 86

EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 42. Immenga/Mestmäcker/Immenga/Körber, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, Art. 2 FKVO Rz. 69. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 43. EU-Kommission, Bekanntmachung zum relevanten Markt, ABl. 1997, Nr. C 372/5, Rz. 8. EU-Kommission v. 14.10.2015, COMP/M.7688, Rz. 23 ff. und Rz. 55 ff. – Intel/Altera. EU-Kommission v. 13.11.2015, COMP/M.7678, Rz. 30 ff. – Equinix/Telecity. Vgl. dazu EU-Kommission v. 29.8.2014, COMP/M.7334, Rz. 15 ff. m.w.N. – Oracle/Micros. Vgl. auch Schweizerische Wettbewerbskommission, Recht und Politik des Wettbewerbs (RPW), 2010/3, S. 440. 87 EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P, Rz. 175 – AstraZeneca.

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AEUV Art. 102 Rz. 23 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung kann aber die Bedingungen für diesen Wettbewerb merklich beeinflussen oder muss darauf zumindest keine Rücksicht nehmen.88 24

Ob eine beherrschende Stellung vorliegt, ist anhand einer Gesamtbetrachtung zu ermitteln. Die einfließenden Faktoren müssen für sich genommen keine Beherrschung begründen.89 Die Bewertung setzt eine Untersuchung der Marktstruktur, der Unternehmensstruktur, des Marktverhaltens und – mit Einschränkungen – der Marktergebnisse voraus.90

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Im Hinblick auf die Marktstruktur liegt eine beherrschende Stellung jedenfalls immer dann vor, wenn Unternehmen auf dem relevanten Markt Monopole haben. Das gilt unabhängig davon, wie das Monopol zustande gekommen ist.91 In der Praxis ist der Marktanteil eines Unternehmens das wichtigste Indiz für Marktbeherrschung. Zwar können Marktanteile auf unterschiedlichen Märkten unterschiedliche Bedeutung haben. Wenn allerdings keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, gehen besonders hohe Marktanteile mit Marktbeherrschung einher.92 Ein Marktanteil von 70 % bis 80 % ist ein klares Indiz für eine beherrschende Stellung.93 Bei Marktanteilen von deutlich unter 50 % müssen besondere weitere Umstände für eine beherrschende Stellung hinzutreten.94 Nach den Durchsetzungsprioritäten der Kommission ist eine Marktbeherrschung bei Marktanteilen von unter 40 % unwahrscheinlich, wobei es Ausnahmen geben soll.95 Die wettbewerblichen Spielräume können aber, selbst bei hohen Marktanteilen,96 dennoch begrenzt sein, wenn der Markteintritt oder die Expansion anderer Unternehmen wahrscheinlich ist. Die Kommission hält einen Markteintritt oder eine Expansion für wahrscheinlich, wenn dieses Verhalten für das betreffende Unternehmen hinreichende Gewinne verspricht.97 Im Zusammenschlussverfahren Microsoft/Skype etwa hat die Kommission hohe gemeinsame Marktanteile bei Videotelefonie u.a. mit der Begründung zugelassen, Google und Facebook übten trotz aktuell in diesem Bereich geringer Marktanteile ausreichend starken wettbewerblichen Druck aus.98 Generell müssen hohe Marktanteile in jungen und dynamischen Märkten, die von kurzen Innovationszyklen geprägt sind, nicht zwangsläufig auf Marktmacht hinweisen.99 Das kann vor allem gelten, wenn es einen stark ausgeprägten Wettbewerb „um den Markt“ gibt (sog. „winner takes it all“Märkte). Die Missbrauchsvorschriften sind aber in der Regel dennoch anwendbar, wenn der Markt keine relevante Instabilität zeigt.100 Bei der Bewertung der beherrschenden Stellung spielt auch eine Rolle, ob Marktzutrittsschranken bestehen, z.B. hohe Anfangsinvestitionen,101 administrative oder rechtliche Hindernisse, Größen- und Verbundvorteile des beherrschenden Unternehmens oder ein bevorzugter Zugang des beherrschenden Unternehmens zu Inputs oder Technologien oder ein etabliertes Vertriebsnetz.102 Dabei kann auch die Verfügbarkeit von Daten beim potentiell beherrschenden Unternehmen eine Rolle spielen, z.B. der Umfang von Anfragen an eine Suchmaschine, die benötigt werden um die Suchmaschine zu verbessern,103 oder die Kundendaten aus einer großen Zahl aufgerufener An-

88 EuG v. 25.6.2010 – T-66/01, Slg. 2010, II-2631 ff., Rz. 254 – Imperial Chemical Industries. 89 EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P, Rz. 175 – AstraZeneca. 90 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 24; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 86; MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 103; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 44. 91 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 23. 92 EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P, Rz. 176 – AstraZeneca. 93 EuG v. 1.7.2010 – T-321/05, Rz. 243 – AstraZeneca. 94 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 23. 95 EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 14. 96 EU-Kommission v. 7.11.2011, COMP/M.6281, Rz. 108, 120 ff. – Microsoft/Skype. 97 EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 16; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 97. 98 EU-Kommission v. 7.11.2011, COMP/M.6281, Rz. 124 ff. – Microsoft/Skype. 99 EuG v. 11.12.2013 – T-79/12, Rz. 69 – Cisco Systems. 100 EuG v. 30.1.2007 – T-340/03, Rz. 107 f. – France Télécom; EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 267 – Google Search (Shopping); EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099, Rz. 435 – Google Android. 101 EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 286 – Google Search (Shopping). 102 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 98 m.w.N.; EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 17. 103 EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 287 ff. – Google Search (Shopping).

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 27 Art. 102 AEUV

zeigen.104 Eingeschränkt werden kann der Verhaltensspielraum eines möglicherweise beherrschenden Unternehmens aber durch die Nachfragemacht seiner Abnehmer, z.B. wenn diese schnell zu konkurrierenden Lieferanten wechseln können.105 Das kann etwa bei einer Umstellung von einem unentgeltlichen auf ein entgeltliches Geschäftsmodell vorkommen oder wenn das potentiell beherrschende Unternehmen in einem Markt, in dem Abnehmer ein hohes Innovationstempo gewohnt sind, wesentliche Innovationen verpasst.106 Auch Netzwerkeffekte können als Marktzutrittsschranken wirken. Direkte Netzwerkeffekte entstehen, 26 wenn der Nutzen eines Produktes oder einer Dienstleistung mit der Zahl der Nutzer steigt (wie z.B. bei Telefonen).107 Das kann so weit gehen, dass der ganze Markt zugunsten des Normadressaten kippt („tipping point“).108 Indirekte Netzwerkeffekte entstehen, wenn der Nutzen für eine Nutzergruppe (z.B. Nutzer eines Betriebssystems) durch die Größe einer anderen Nutzergruppe (z.B. Programmierer für Anwendungssoftware für ein Betriebssystem) steigt.109 In der Microsoft-Entscheidung hat die EUKommission die beherrschende Stellung von Microsoft mit Windows auf dem Markt für PC-Betriebssysteme auch damit begründet, dass Windows diverse Schnittstellen hat und auf dieser Grundlage eine hohe Zahl an kompatibler Software programmiert wurde, und diese hohe Zahl an kompatibler Software wiederum Kunden anzieht.110 Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass die hohe Anzahl an Nutzern wiederum zu höheren Investitionen in die Entwicklung kompatibler Software führt („positive feedback loop“).111 Derselbe Effekt kann bei zweiseitigen Plattformen auftreten. Die EU-Kommission hat die marktbeherrschende Stellung von Google bei der Google-Suche u.a. damit begründet, dass die hohe Zahl an Nutzern der Suchmaschine zu höheren Erlösen bei der Werbung führen, die wiederum in die Verbesserung der Suchmaschine und damit in neue Kunden investiert werden können.112 Wenn die beherrschende Stellung auf derartigen Netzwerkeffekten beruht, kann die dadurch errichtete Marktzutrittsschranke durch die Möglichkeit für Dritte, durch Reverse Engineering Kompatibilität herzustellen, relativiert werden. Das gilt allerdings nicht, wenn die Kosten oder der Aufwand für das Reverse Engineering sehr hoch sind oder sich das beherrschende Unternehmen der dadurch geschaffenen Kompatibilität durch Veränderung seiner Schnittstellen, z.B. durch Updates, wieder entziehen könnte.113 Durch Netzwerkeffekte begründete Marktzutrittsschranken können auch dadurch relativiert werden, dass Abnehmer i.d.R. mehrere konkurrierende Produkte parallel nutzen (sog. Multi-Homing).114 Im Hinblick auf die Unternehmensstruktur kann die vertikale Integration eines Unternehmens, ein 27 technologischer oder kommerzieller Vorsprung, die Abhängigkeit von Unternehmen, Produktionsund Lieferkapazitäten, die Breite des Produktsortiments und die Wirtschafts- und Finanzkraft von Bedeutung sein.115 Im Hinblick auf das Marktverhalten kann z.B. von Bedeutung sein, inwieweit ein Unternehmen den Marktpreis beeinflussen kann.116 In den Durchsetzungsprioritäten vertritt die Kommission die Auffassung, ein Unternehmen, das über einen längeren Zeitraum seine Preise gewinnbringend auf ein Niveau über dem Wettbewerbspreis erhöhen könne, sei keinem ausreichend wirksamen Wettbewerbsdruck ausgesetzt und könne somit im Allgemeinen als marktbeherrschend betrachtet werden.117

104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117

Kommission v. 11.3.2008, COMP/M.4731, Rz. 179 ff. – Google/Doubleclick. EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 18. EU-Kommission v. 7.11.2011, COMP/M.6281, Rz. 122 f. – Microsoft/Skype. Wiedemann/Ewald, Handbuch des Kartellrechts, § 7 Rz. 70. EU-Kommission v. 16.12.2016, COMP/M.8124, Rz. 343 – Microsoft/LinkedIn. Wiedemann/Ewald, Handbuch des Kartellrechts, § 7 Rz. 71. EU-Kommission v. 24.3.2004, COMP/C-3/37.792, Rz. 448 ff. – Microsoft. EU-Kommission v. 24.3.2004, COMP/C-3/37.792, Rz. 458. – Microsoft. EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 293 – Google Search (Shopping). So die EU-Kommission in Bezug auf Windows, EU-Kommission v. 24.3.2004, COMP/C-3/37.792, Rz. 683 ff. – Microsoft. EU-Kommission v. 3.10.2014, COMP/M.7217, Rz. 127 ff. – Facebook/Whatsapp. Vgl. dazu m.w.N. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 51. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 63 m.w.N.; EuGH v. 14.2.1978 – 27/76, Rz. 126/128 – United Brands. EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C-45/7, Rz. 11.

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AEUV Art. 102 Rz. 28 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung 28

Die bloße Inhaberschaft von geistigen Eigentumsrechten begründet als solche keine beherrschende Stellung.118 Sie ist aber geeignet, unter bestimmten Umständen eine beherrschende Stellung zu schaffen, und zwar wenn sie Unternehmen die Möglichkeit verleiht, einen wirksamen Wettbewerb auf dem Markt zu verhindern.119 Inwiefern das geistige Eigentumsrecht zu einer beherrschenden Stellung führt, hängt von den Marktverhältnissen und vor allem auch von der Marktabgrenzung ab. Entspricht der relevante Markt der Reichweite des Schutzrechts, und ist damit der Imitationswettbewerb ausgeschlossen, dürfte das Schutzrecht mit Marktbeherrschung zusammenfallen.120 Soweit der relevante Markt weiter reicht als die Ausschlusswirkung des Schutzrechts und damit Substitutionswettbewerb möglich bleibt, hängt die beherrschende Stellung von denselben Faktoren ab wie auf Märkten, in denen Schutzrechte keine Rolle spielen. Selbst wenn aber ein geistiges Eigentumsrecht und eine beherrschende Stellung zusammenfallen, liegt ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV nur vor, wenn die beherrschende Stellung missbraucht wird.

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Wenn die Marktabgrenzung, zu einem vom Primärmarkt abzugrenzendem Sekundärmarkt führt, gibt es in vielen Fällen dort nur einen Anbieter. Der Software- oder Hardwarehersteller ist z.B. der einzige Anbieter auf dem Markt, wenn die Voraussetzungen für einen anbieterspezifischen Markt für Wartungsleistungen oder für Inputs für die Wartung oder den Zukauf von Lizenzen vorliegen (Rz. 14 ff.). Bei einer schematischen Prüfung gelangt man deshalb schnell zur Bejahung der Marktbeherrschung auf dem Sekundärmarkt. Allerdings kann Wettbewerb auf dem Primärmarkt die Ausübung von Marktmacht auf dem Sekundärmarkt und damit eine beherrschende Stellung auf diesem Markt einschränken oder ausschließen.121 Die Europäische Kommission hat vier Voraussetzungen für die Disziplinierung der Sekundärmärkte durch Primärmärkte aufgestellt, das EuG hat diese bestätigt:122 (1) Der Verbraucher kann eine sachkundige Wahl in Bezug auf die Kosten für die gesamte Lebensdauer der Produkte treffen, (2) es ist wahrscheinlich, dass der Verbraucher eine solche sachkundige Wahl beim Verkauf trifft, (3) im Falle überhöhter Preise auf den Sekundärmärkten würde eine ausreichende Zahl von Verbrauchern ihre Kaufpraktiken auf dem Primärmarkt anpassen (4) und diese Anpassung der Kaufpraktiken würde innerhalb angemessener Frist erfolgen.123 Der Verbraucher kann die Wahl in Bezug auf Kosten der Produkte für die gesamte Lebensdauer nur treffen, wenn ausreichend Informationen darüber verfügbar sind. Entsprechende Informationen dürften eher vorliegen, wenn es um Verbrauchsmaterial für das Primärprodukt als wenn es um Ersatzteile und Wartungsleistungen geht.124 Zudem dürften professionelle Kunden die Kosten des Produkts für die gesamte Lebensdauer i.d.R. genauer bestimmen als private Abnehmer.125 Kunden werden die Kosten für die gesamte Lebensdauer des Produktes umso eher sorgfältig prüfen, umso höher die Kosten für die Sekundärprodukte oder -leistungen im Verhältnis zu den Kosten für das Primärprodukt sind.126 Auch wenn die Kunden die Kosten für die gesamte Lebensdauer der Produkte nicht ermitteln können, kann der Wettbewerb auf dem Primärmarkt den Wettbewerb auf dem Sekundärmarkt beschränken. Das gilt z.B. dann, wenn die Preise auf dem Sekundärmarkt zwar hoch, die Preise auf dem Primärmarkt aber entsprechend niedrig sind und die Marge für das System deshalb für Wettbewerb spricht.127 In Betracht gezogen werden können auch Effekte in Bezug auf potentielle neue Kunden. Soweit der Anbieter bestehenden und neuen Kunden keine unterschiedlichen Konditionen auferlegen kann und es eine ausreichend hohe Zahl potentieller neuer Kunden gibt, kann der Spielraum des Primäranbieters auf dem Sekundärmarkt stärker beschränkt sein.128 Für eine Beherrschung des Sekundärmarktes kann allerdings 118 EuGH v. 6.4.1995 – C-241/91 P, Slg. 1995, I-743, Rz. 46 – Magill; EuG v. 1.7.2010 – T-321/05, Slg. 2010, II-2805 ff., Rz. 270 – AstraZeneca; EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P, Rz. 186 – AstraZeneca. 119 EuG v. 1.7.2010 – T-321/05, Slg. 2010, II-2805 ff., Rz. 270 – AstraZeneca; EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P, Rz. 186 – AstraZeneca. 120 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 267. 121 EuG v. 24.11.2011 – T-296/09, Rz. 60 – EFIM. 122 EuG v. 24.11.2011 – T-296/09, Rz. 60 ff. – EFIM. 123 EU-Kommission v. 20.5.2009, COMP/C-3/39.391, Rz. 16 – EFIM; insoweit bestätigt durch EuG v. 24.11.2011 – T-296/09, Rz. 60 – EFIM. 124 EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 257. 125 EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 258. 126 EU-Kommission v. 22.9.1995, COMP/34.330, Rz. 62 – Pelikan/Kyocera. 127 EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 259. 128 EU-Kommission v. 22.9.1995, COMP/34.330, Rz. 67 – Pelikan/Kyocera.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 33 Art. 102 AEUV

sprechen, dass Konkurrenten durch geistige Eigentumsrechte von einem Markteintritt in den Sekundärmarkt abgehalten werden.129 Der Markteintritt ist möglicherweise auch dann unwahrscheinlich, wenn ein Hersteller als Vergeltung einen Eintritt in seinen eigenen Sekundärmarkt erwarten muss.130 Nach diesen Grundsätzen nahm die EU-Kommission eine Marktbeherrschung von IBM auf den Sekundärmärkte für Inputs an, die für die Wartung der Mainframe-Systeme benötigt werden und die nur IBM liefern kann, sowie für die Wartung der Mainframe-Hardware und -Software.131 Vom Anwendungsbereich erfasst ist auch eine beherrschende Stellung mehrerer Unternehmen (ge- 30 meinsame oder kollektive Marktbeherrschung). Mehrere Unternehmen können eine beherrschende Stellung in diesem Sinne haben, wenn sie in wirtschaftlicher Hinsicht auf einem bestimmten Markt gemeinsam als kollektive Einheit auftreten oder handeln.132 Eine beherrschende Stellung setzt voraus, dass die Unternehmen keinem wirksamen Außenwettbewerb ausgesetzt sind und zwischen ihnen kein wirksamer Innenwettbewerb besteht.133 Das Fehlen wirksamen Außenwettbewerbs ist nach denselben Kriterien zu bewerten wie bei der beherrschenden Stellung eines einzelnen Unternehmens. Wirksamer Innenwettbewerb zwischen den Unternehmen kann wegen struktureller oder vertraglicher Verbindungen der Unternehmen oder aufgrund ihrer Reaktionsverbundenheit im Oligopol fehlen.134 Die beherrschende Stellung muss auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben 31 bestehen. Diese Voraussetzung ist zumindest dann erfüllt, wenn sich die beherrschende Stellung auf das Gebiet eines Mitgliedstaates erstreckt und das möglicherweise missbräuchliche Verhalten diesen Markt abschottet.135 Je nach Größe des Mitgliedsstaates können auch Teile des Gebietes einen wesentlichen Teil des Binnenmarktes darstellen.136 c) Missbrauch aa) Begriff/Definition Der Begriff des Missbrauchs ist ein objektiver Begriff.137 Er erfasst Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung, die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb wegen der Anwesenheit des beherrschenden Unternehmens geschwächt ist.138 Missbräuchlich sind in dieser Situation Verhaltensweisen, die den Restwettbewerb oder die Entwicklung von Wettbewerb auf diesem Markt behindern, und zwar durch andere Mittel als die eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistungen der Wirtschaftsteilnehmer.139

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bb) Generalklausel, Fallgruppen und Systematisierung Die Aufzählung missbräuchlicher Verhaltensweisen in Abs. 2 ist nicht abschließend.140 Es handelt sich dabei nur um Beispiele für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Verhaltensweisen können auch dann einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen, wenn sie nicht

129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140

EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 252. EU-Kommission, Diskussionspapier Art. 82 Rz. 252. EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/39.692, Rz. 20 – IBM Maintenance Services. EuGH v. 16.3.2000 – C-395/96 P, Slg. 2000, I-1365 ff., Rz. 36 – Compagnie maritime belge. MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 79; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 115. Vgl. dazu MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 80 ff. EU-Kommission v. 20.3.2001, ABl. 2001 L 125/27, Rz. 42 – Deutsche Post AG; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 20. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 20. EuGH v. 13.2.1979 – 85/76, Rz. 91 – Hoffmann-La Roche. EuGH v. 9.11.1983 – 322/81, Rz. 70 – Michelin I; EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04 P, Rz. 66 – British Airways; EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 26 – Post Danmark II. EuGH v. 13.2.1979 – 85/76, Rz. 91 – Hoffmann-La Roche; EuGH v. 3.7.1991 – C-62/86, Rz. 69 – Akzo; EuGH v. 19.4.2012 – C-549/10 P, Rz. 17 – Tomra; EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 45 – Huawei/ZTE. EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04 P, Rz. 57 – British Airways.

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AEUV Art. 102 Rz. 33 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung die Voraussetzungen eines dort genannten Beispiels erfüllen.141 In der Praxis spielen die zu Art. 102 AEUV entwickelten Fallgruppen eine größere Rolle als die Regelbeispiele.142 In manchen Fallgruppen werden die Regelbeispiele dennoch zur Begründung der Anwendbarkeit der Norm herangezogen. Die Fallgruppen lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen. I.d.R. werden der Ausbeutungsmissbrauch und der Behinderungsmissbrauch unterschieden.143 Hinzu kommen können Diskriminierung und Marktstrukturmissbrauch.144 Die Grenzen zwischen den Fallgruppen sind aber fließend. Missbräuchliches Verhalten kann z.B. Elemente des Ausbeutungs- und des Behinderungsmissbrauchs enthalten. Im Rahmen des Behinderungsmissbrauchs werden unterschiedliche Fallgruppen und Verhaltensweisen auch unter dem Aspekt des Marktmachttransfers („leveraging“) diskutiert.145 Kennzeichnend ist, dass ein Unternehmen mit beherrschender Stellung seine Marktmacht auf einen nachgelagerten oder verbundenen Markt ausdehnt oder überträgt.146 Ein Marktmachttransfer kann in den etablierten Fallgruppen der Ausschließlichkeitsbindungen, Kopplungen, Preis-Kosten-Scheren oder Geschäftsverweigerungen enthalten sein.147 Insbesondere in aktuellen Verfahren zur Internetökonomie wird das Konzept des Marktmachttransfers auch außerhalb etablierter Fallgruppen diskutiert und zumindest faktisch auf die Generalklausel gestützt.148 Ein Beispiel ist die Entscheidung der EU-Kommission im Verfahren „Google Search (Shopping)“ mit dem Vorwurf gegen Google, seinen eigenen Preisvergleichsdienst in den Ergebnissen der Suchmaschine gegenüber Vergleichsdiensten der Konkurrenz bevorzugt zu haben („self-preferencing“).149 Darin kann man eine Ausdehnung der beherrschenden Stellung von Google auf dem Markt für die generelle Suche auf den Markt für Preisvergleichsdienste sehen.150 Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob diese Art von Marktmachttransfer auch ohne Zuordnung zu einer der etablierten Fallgruppen als missbräuchlich bewertet werden kann. cc) Ausbeutungsmissbrauch 34

Das Regelbeispiel in Abs. 2 lit. a, nämlich ein Missbrauch in Form „der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen“ umschreibt Formen des Ausbeutungsmissbrauchs. Erzwingung ist die einseitige Auferlegung von Preisen oder Konditionen.151 Unerheblich ist, ob die unangemessenen Preise oder Konditionen akzeptiert werden.152 Das ist vielmehr Folge der Marktbeherrschung.

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Ein Preishöhenmissbrauch liegt vor, wenn der Inhaber der marktbeherrschenden Stellung, die sich aus seiner Stellung ergebenden Möglichkeiten nutzt, „geschäftliche Vorteile zu erhalten, die er bei einem normalen und hinreichend wirksamen Wettbewerb nicht erhalten“ würde und wenn der Preis „in keinem angemessenen Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung steht“.153 Ob ein Preis angemessenen ist, kann anhand einer Kosten-Preis-Analyse, anhand von Vergleichsmärkten oder anhand eines Vergleichs von Gewinnen beurteilt werden.154 Die Bewertung des Verhältnisses

141 EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04 P, Rz. 58 – British Airways. 142 Vgl. z.B. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 33; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 155. 143 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 134. Vgl. zu den unterschiedlichen Schutzrichtungen der Missbrauchsformen EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 20 – Post Danmark I. 144 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 134. 145 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 194. 146 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 194. Zur Verbindung auch Immenga/Mestmäcker/ Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 140 f. 147 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 195; Streinz/Eilmansberger/Kruis, Art. 102 AEUV Rz. 121. 148 Streinz/Eilmansberger/Kruis, Art. 102 AEUV Rz. 121; EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 334 f. – Google Search (Shopping). 149 EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 2, 341 f. – Google Search (Shopping). 150 So die EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 334 u. 649. – Google Search (Shopping). 151 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 174. 152 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 174. 153 EuGH v. 14.2.1978 – 27/76, Rz. 248/257 – United Brands; EuGH v. 14.9.2017 – C-177/16, Rz. 35 – Lettische Verwertungsgesellschaft für Urheberrechte. 154 EuGH v. 14.2.1978 – 27/76, Rz. 248/257 – United Brands; vgl. im Einzelnen MünchKomm/Eilmansberger/ Bien, Art. 102 AEUV Rz. 202 ff.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 36 Art. 102 AEUV

zwischen Kosten und Preis kann zu ergänzen sein um Vergleiche mit Preisen von Konkurrenten.155 Allein das Verhältnis zwischen Preis und Kosten kann nicht entscheidend sein, weil durch hohe Gewinne vermittelte Anreize ein zentrales Element des Wettbewerbs sind.156 Der Preis kann mit Preisen in anderen räumlichen157 oder zeitlichen Märkten158 verglichen werden (Vergleichsmarktanalyse) oder mit den Preisen von Konkurrenten.159 In Betracht kommt grundsätzlich auch ein Vergleich mit sachlich vergleichbaren Märkten, etwa der Vergleich zwischen Wartungsmärkten für unterschiedliche Software. Ein Missbrauch kommt insbesondere in Betracht, wenn der Unterschied groß und nicht sachlich gerechtfertigt ist. Diese Voraussetzung ist bei einem Unterschied von 100 % erfüllt, dürfte aber bei Unterschieden unter 30 % regelmäßig nicht vorliegen.160 Dennoch gibt es keine Mindestschwelle für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls.161 Im Bereich der ERP-Software kann ein Preishöhenmissbrauch z.B. in Bezug auf Preise für Wartungsleistungen in Betracht kommen.162 Ein Konditionenmissbrauch liegt vor, wenn Vertragsbedingungen unbillig sind oder zu den Kosten der Leistungserbringung offensichtlich in einem Missverhältnis stehen.163 Es ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt.164 Missbräuchlich sind Verpflichtungen, die für den Vertragszweck nicht unentbehrlich sind und die Freiheit des Gebundenen unbillig beeinträchtigen.165 Dabei ist unerheblich, ob eine Vertragsklausel mit nationalem Recht vereinbar ist.166 Auch eine Regelung, die mit den §§ 307 ff. BGB vereinbar ist, kann missbräuchlich sein.167 Ebenso irrelevant ist, ob eine Regelung branchenüblich ist.168 In Standardlizenzbedingungen kann es z.B. problematisch sein, dass nicht klar aus ihnen hervorgeht, für welche Gebiete oder Technologien tatsächlich Schutzrechte bestehen, und Lizenznehmer nicht über Veränderungen der Bedingungen informiert werden.169 Die EU-Kommission hielt darüber hinaus auch eine Klausel für problematisch, nach der ein Softwarehersteller bei jeder Neuentwicklung die Kompatibilität mit älteren Produkten eines Vertragspartners, der zugleich Konkurrent war, herstellen musste.170 Auf Grundlage der Fallpraxis der EU-Kommission zum Konditionenmissbrauch171 kommt ein Konditionenmissbrauch vor allem infrage für wettbewerbsbeschränkende Klauseln, die auch in den Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV fallen.172 Eine Orientierung für die Bewertung eines Konditionenmissbrauchs können deshalb die durch die Gruppenfreistellungsverordnungen gezogenen Grenzen für Vertragsbestimmungen sein. Generell problematisch sind Klauseln, die die Dispositionsfreiheit des Abnehmers in Bezug auf das beschaffte Produkte einseitig und im Interesse des beherrschenden Unter-

155 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 210. 156 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 211 m.w.N. 157 EuGH v. 13.7.1989 – 110/88 u.a., Rz. 25 – SACEM; EuGH v. 14.9.2017 – C-177/16, Rz. 38 – Lettische Verwertungsgesellschaft für Urheberrechte. 158 Vgl. dazu MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 225. 159 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 228 ff.; EuGH v. 14.9.2017 – C-177/16, Rz. 36 – Lettische Verwertungsgesellschaft für Urheberrechte. 160 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 227 m.w.N.; EuGH v. 8.6.1971 – 78/70, Rz. 19 – Deutsche Grammophon. 161 EuGH v. 14.9.2017 – C-177/16 Rz. 55 – Lettische Verwertungsgesellschaft für Urheberrechte. 162 Die Schweizerische Wettbewerbskommission hat die Einleitung eines entsprechenden Verfahrens gegen SAP geprüft, i.E. aber mangels genügender Anhaltspunkte keine Untersuchung eingeleitet, vgl. Wettbewerbskommission, Recht und Politik des Wettbewerbs (RPW), 2010/3, S. 435 ff. 163 EuGH v. 30.4.1974 – 155/73, Rz. 17 – Sacchi; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 186. 164 EU-Kommission v. 20.4.2001, COMP D3/34.493, Rz. 112 – Duales System Deutschland; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 180. 165 EuGH v. 27.3.1974 – 127/73, Rz. 15 – BRT II/SABAM, Fonior. 166 Vgl. EuG v. 30.9.2003 – T-203/01, Rz. 112 – Michelin; MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 238. 167 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 188. 168 EuG v. 30.9.2003 – T-191/98 u.a., Rz. 1124 – Atlantic Container Line. 169 Pena Castellot, Competition Policy Newsletter, 3/2003, S. 56, 57 f. 170 EU-Kommission, XXVII. Bericht über die Wettbewerbspolitik 1997, Rz. 79. 171 Vgl. zu einer Zusammenstellung der Fallpraxis: Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 184 m.w.N. 172 Vgl. dazu auch MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 245 ff.

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AEUV Art. 102 Rz. 36 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nehmens beschränken und die wirtschaftliche Verwertung durch den Abnehmer verhindern.173 Nach diesen Vorgaben können z.B. auch CPU-Klauseln einen Konditionenmissbrauch darstellen.174 dd) Behinderungsmissbrauch (1) Geschäftsverweigerung und Lizenzverweigerung 37

Nach dem Regelbeispiel in Abs. 2 lit. b kann ein Missbrauch in der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher liegen. Ein offensichtlicher Fall der Einschränkung der Erzeugung ist die Weigerung eines beherrschenden Unternehmens, ein anderes Unternehmen zu beliefern oder anderweitig mit ihm Geschäfte zu machen. Dogmatisch wird das aber auf die Generalklausel und nicht auf das Regelbeispiel gestützt, weil der Schutzzweck von Art. 102 nicht auf Verbraucher beschränkt ist.175 Eine andere Fallgruppe, allerdings mit demselben Ausgangspunkt bilden Fälle, in denen die Erteilung einer Lizenz an einem geistigen Eigentumsrecht verweigert wird, und Fälle, in denen sich ein Softwareanbieter weigert, anderen Anbietern Informationen über Schnittstellen zu seinem Programm zu liefern und damit Interoperabilität herzustellen. Der Sache nach können Fälle von Geschäfts- oder Lizenzverweigerungen Anwendungsfälle der „essential facilities“-Doktrin sein.176

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Einer vollständigen Geschäftsverweigerung stehen Fälle gleich, in denen die Lieferung oder Dienstleistung in ungeeigneter Weise erfolgt (konstruktive oder materielle Geschäftsverweigerung)177. Z.B. warf die EU-Kommission IBM vor, eine beherrschende Stellung auf dem Markt für die Instandhaltung von IBM Mainframe-Systemen missbraucht zu haben, indem das Unternehmen unangemessene Konditionen für die Instandhaltung von für Mainframe-Systemen notwendigen Inputs verlangte.178 Die unangemessenen Bedingungen sollen darin bestanden haben, dass der Zugang zu Ersatzteilen für Wartungsunternehmen zeitlich eingeschränkt wurde (von zuvor 24 Stunden in 7 Tagen in der Woche auf Montag bis Freitag von 09.00 Uhr bis 12.30 Uhr und von 13.30 Uhr bis 17.30 Uhr) und dass bestimmte neue Teile nur von IBM gekauft und von Wartungsunternehmen vorrätig gehalten werden konnten.179

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Grundsätzlich sind auch beherrschende Unternehmen frei darin, ihre Vertragspartner auszuwählen.180 Zu unterscheiden sind Konstellationen, in denen bestehende Geschäftsbeziehungen abgebrochen werden, von solchen, in denen es um die Aufnahme neuer Geschäftsbeziehungen geht.181 Der Abbruch einer bestehenden Geschäftsbeziehung durch ein beherrschendes Unternehmen, z.B. die Weigerung, die Bestellung eines bisherigen Kunden auszuführen, ist aber missbräuchlich, wenn das Verhalten geeignet ist, den Wettbewerb von Seiten des Geschäftspartners auszuschalten, und eine sachliche Rechtfertigung fehlt.182 Die Voraussetzungen gelten unabhängig davon, ob der Kunde Wettbewerber des beherrschenden Unternehmens ist oder nicht.183

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Für die Frage, ob neue Geschäftsbeziehungen aufgenommen werden müssen, gelten andere Voraussetzungen. Diese wurden von der Rspr. hauptsächlich anhand von Fällen entwickelt, in denen es um den Zugang bzw. die Lizenzierung von Rechten des geistigen Eigentums ging, aber modifiziert auch für Fälle ohne Bezug zu geistigem Eigentum angewandt. Allein die Weigerung eines beherrschenden Unter173 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 245. 174 Vgl. zu den möglichen in die Abwägung einzustellenden Interessen Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, 37. EL 2015 IT-Verträge Rz. 28 ff. 175 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 310 m.w.N. 176 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 371. 177 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 254. 178 EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/C-3/39.692, Rz. 32 ff. – IBM Maintenance Services. 179 EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/C-3/39.692, Rz. 33 f. – IBM Maintenance Services. 180 EuGH v. 14.2.1978 – 27/76, Rz. 182/191 – United Brands; EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 319 – Microsoft. 181 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 258. 182 EuGH v. 16.9.2008 – C-468/06 u.a., Rz. 34 – GlaxoSmithKline (Griechenland); EuGH v. 6.3.1974 – 6/73 u.a., Slg. 1974, 223, Rz. 25 – Commercial Solvents; EU-Kommission v. 13.12.2011, COMP/C-3/39.692, Rz. 36 – IBM Maintenance Services. 183 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 260 f. Zu Einzelfällen und Rechtfertigungsgründen s. Immenga/ Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 315 ff.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 42 Art. 102 AEUV

nehmens, Dritten eine Lizenz für die Nutzung eines durch ein Recht des geistigen Eigentums geschützten Erzeugnisses zu erteilen, stellt keinen Missbrauch der beherrschenden Stellung dar.184 Die Ausübung des Ausschließlichkeitsrechts kann einen Missbrauch darstellen, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen und die Weigerung nicht objektiv gerechtfertigt ist.185 Außergewöhnliche Umstände liegen insb. vor, (1) wenn die Weigerung Erzeugnisse oder Dienstleistungen betrifft, die für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auf einem benachbarten Markt unerlässlich sind, (2) wenn die Weigerung geeignet ist, jeglichen wirksamen Wettbewerb auf diesem benachbarten Markt auszuschließen und (3) wenn die Weigerung das Auftreten eines neuen Produkts verhindert, nach dem eine potentielle Nachfrage der Verbraucher besteht.186 Nach Auffassung des EuGH müssen die außergewöhnlichen Umstände kumulativ erfüllt sein.187 Die Aufzählung „außergewöhnlicher Umstände“ ist aber insoweit nicht abschließend, als die Ausübung von geistigen Eigentumsrechten auch in anderen Konstellationen missbräuchlich sein kann.188 Die Geschäftsverweigerung ohne Bezug zu einem geistigen Eigentumsrecht setzt voraus, dass (1) die 41 Weigerung Erzeugnisse oder Dienstleistungen betrifft, die für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit auf einem benachbarten Markt unerlässlich sind, (2) die Weigerung geeignet ist, jeglichen wirksamen Wettbewerb auf diesem benachbarten Markt auszuschließen, und (3) nicht sachlich gerechtfertigt ist.189 Auf die Verhinderung eines „neuen Produkts“ kommt es allenfalls an, wenn geistiges Eigentum betroffen ist.190 Keinen direkten Bezug zu geistigem Eigentum haben z.B. Fälle, in denen ein beherrschender Anbieter von Unternehmenssoftware den Abschluss oder die Fortsetzung eines Wartungsvertrags verweigert, wenn der Anbieter für die Wartung keine Lizenz erteilen muss. Ebenso können grundsätzlich Fälle betroffen sein, in denen Händler für gebrauchte Software durch einen beherrschenden Anbieter von Software behindert werden, wenn diese Behinderung nicht in der NichtErteilung einer Softwarelizenz besteht, etwa weil sich das Urheberrecht schon erschöpft hat. Im Verfahren „Google Search (Shopping)“ stellt sich die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Geschäftsverweigerung, insbesondere die Unerlässlichkeit der Leistung für den benachbarten Markt, auch in Fällen des „self-preferencing“ bzw. allgemein in Fällen eines Marktmachttransfers anwendbar sind.191 Ein Produkt oder eine Dienstleistung ist nach der Rechtsprechung des EuGH unerlässlich, wenn es 42 keine alternativen Produkte oder Dienstleistungen für das Tätigwerden eines Unternehmens auf einem bestimmten Markt gibt.192 Taugliche Alternativen können auch teurere Produkte oder Dienstleistungen sein.193 Bei Schnittstelleninformationen kann die Unerlässlichkeit für eine Lizenzierung an Wettbewerber entfallen, wenn der Zugang der Kunden des Wettbewerbers zu den Schnittstelleninformationen wirksamen Wettbewerb ermöglicht.194 Zudem muss es jedem Unternehmen, das auf diesem Markt tätig werden will, aus technischen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen unmöglich oder zumindest unzumutbar sein, ggf. in Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen alternative Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln.195 Wirtschaftliche Hindernisse liegen nicht schon dann vor, wenn die Entwicklung alternativer Produkte oder Dienstleistungen für das Zugang begehrende Unternehmen unrentabel wären, sondern setzen voraus, dass die Entwicklung unrentabel wäre, wenn die Produkte oder Dienstleistungen in vergleichbarem Umfang hergestellt bzw. erbracht würden wie von 184 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 331 – Microsoft; EuGH v. 6.4.1995 – C-241/91 P, Slg. 1995, I-743, Rz. 49 – Magill. 185 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 331 und 333 – Microsoft; EuGH v. 6.4.1995 – C-241/91 P, Slg. 1995, I-743, Rz. 50 – Magill; EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 47 – Huawei/ZTE. 186 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 332 – Microsoft; EuG v. 14.9.2017 – T-751/15, Rz. 156 – Contact Software. 187 EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 38 – IMS Health; MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 306. 188 Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 268; vgl. dazu z.B. EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 47 ff. – Huawei/ZTE. 189 EuGH v. 26.11.1998 – C-7/97, Rz. 40 f. – Bronner; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 284 f. 190 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 334 – Microsoft. 191 EU-Kommission v. 27.6.2017, COMP/AT.39740, Rz. 645 – Google Search (Shopping). 192 EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 28 – IMS Health; EuGH v. 3.10.1985 – 311/84, Rz. 26 Télémarketing. 193 EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 28 – IMS Health. 194 EuG v. 14.9.2017 – T-751/15, Rz. 160 f. – Contact Software. 195 EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 28 – IMS Health.

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AEUV Art. 102 Rz. 42 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung dem Unternehmen in beherrschender Stellung.196 Nach ihren Durchsetzungsprioritäten prüft die EUKommission in diesen Fällen, ob die Wettbewerber den vom marktbeherrschenden Unternehmen produzierten Input in absehbarer Zukunft effektiv duplizieren könnten, d.h. eine alternative effiziente Bezugsquelle schaffen, die den Wettbewerbern die Ausübung von Wettbewerbsdruck auf das beherrschende Unternehmen auf dem nachgelagerten Markt ermöglicht.197 43

Es genügt, wenn als benachbarter Markt ein potentieller oder ein nur hypothetischer Markt bestimmt oder zwei verschiedene Produktionsstufen unterschieden werden können.198 Dies ist der Fall, wenn der begehrte Input für eine bestimmte Tätigkeit unerlässlich ist und es danach eine tatsächliche Nachfrage gibt.199 Kritisiert wird, dass die Rspr. einen potentiellen oder hypothetischen Markt ausreichen lässt, weil damit in die Entscheidung des Unternehmens eingegriffen wird, welche Märkte es selbst entwickeln möchte.200 Dagegen wird eingewandt, dem beherrschenden Unternehmen könne nicht die Entscheidung überlassen werden, auf welchen Märkten Wettbewerb stattfinde.201

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Das Tatbestandsmerkmal der Unerlässlichkeit kann eng verbunden sein mit dem Tatbestandsmerkmal des Ausschlusses von Wettbewerb, weil sich für die Frage, welcher Input für möglicherweise behinderte Unternehmen unerlässlich ist, geklärt werden muss, welches Maß an Wettbewerb „angestrebt“ wird.202 Die EU-Kommission definierte im Microsoft-Verfahren die erforderliche Interoperabilität im Hinblick auf Arbeitsgruppenserver als die Fähigkeit von zwei Software-Produkten zum Austausch von Informationen und zur wechselseitigen Verwendung der ausgetauschten Informationen, die es ermöglichen soll, dass jedes Produkt voll und ganz wie vorgesehen funktioniert.203 Das sollte im konkreten Fall Client/Server- und Server/Server-Interoperabilität beinhalten und letztendlich bewirken, dass in einem Windows-Arbeitsgruppennetzwerk der Windows-Server gegen einen Server ausgetauscht werden kann, der mit einem mit Windows konkurrierenden Betriebssystem betrieben wird, und weiterhin alle Funktionen des Servers, aber auch alle Funktionen der (Windows-)Client-PCs genutzt werden können.204 Die Möglichkeit von Reverse Engineering nehme der Zurverfügungstellung von Schnittstelleninformationen in diesem Fall nicht die Unerlässlichkeit.205 Das EuG bestätigte dieses Verständnis.206 Microsoft hingegen argumentierte, Interoperabilität sei schon dann erreicht, wenn auf sämtliche Funktionen des Interoperabilität begehrenden Programms, also des Servers mit konkurrierendem Betriebssystem zugegriffen werden könne („unidirektionale Interoperabilität“).207

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Der Ausschluss jeglichen wirksamen Wettbewerbs erfordert, dass die Lizenzverweigerung jeglichen wirksamen Wettbewerb auf dem Markt auszuschalten droht oder dazu geeignet ist.208 Unerheblich ist, ob Konkurrenten des beherrschenden Unternehmens in marginaler Weise in bestimmten „Marktnischen“ präsent bleiben.209 Art. 102 AEUV greift nicht erst dann, wenn auf dem Markt kein oder praktisch kein Wettbewerb mehr besteht.210 Die Weigerung, Informationen über Schnittstellen zur Herstellung von Interoperabilität zur Verfügung zu stellen, beeinträchtigt wirksamen Wettbewerb, wenn der bestehende Interoperabilitätsgrad es den Anbietern der Interoperabilität begehrenden Programme nicht ermöglicht, auf dem Markt zu überleben.211

196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211

EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 28 – IMS Health; EuGH v. 26.11.1998 – C-7/97, Rz. 45 f. – Bronner. EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 83. EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 44 f. – IMS Health. EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 44 f. – IMS Health. Schweitzer, Controlling the Unilateral Exercise of Intellectual Property Rights, S. 77. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 279; Immenga/Mestmäcker/Ullrich/Heinemann, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, GRUR B, Rz. 46. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 278. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 225 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 215 u. 232 f. – Microsoft. EU-Kommission v. 24.3.2004, COMP/C-3/37.792, Rz. 683 ff. – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 225 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 215 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 563 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 563 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 561 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 228 f. – Microsoft.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 47 Art. 102 AEUV

Die Lizenzverweigerung ist nach der Rspr. des EuGH missbräuchlich, wenn sie das Auftreten eines 46 neuen Produktes verhindert, nach dem eine potentielle Nachfrage der Verbraucher besteht.212 Nach der Argumentation des EuGH soll diese Anforderung sicherstellen, dass dem Interesse am Schutz des freien Wettbewerbs nur dann der Vorrang vor dem Interesse am Schutz des geistigen Eigentums gewährt wird, wenn sich das Zugang begehrende Unternehmen nicht darauf beschränkt dieselben Produkte anzubieten wie der Inhaber des geistigen Eigentumsrechts.213 Die Anforderung „neues Produkt“ kann auch als Konkretisierung des Regelbeispiels in Art. 102 Abs. 2 lit. b AEUV verstanden werden, nach dem ein Missbrauch in „der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher“ liegen kann.214 Die Rspr. hat es anstelle eines „neuen Produktes“ aber auch genügen lassen, dass durch die Verweigerung die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher eingeschränkt werden, weil mit dem beherrschenden Unternehmen konkurrierende Unternehmen davon abgehalten würden, (bestehende) Produkte mit innovativen Merkmalen zu entwickeln.215 Das ist schon deshalb nachvollziehbar, weil die Rspr. andernfalls die in vielen Fällen kaum mögliche Abgrenzung zwischen neuen Produkten und Produktverbesserungen vornehmen müsste. Auch die EU-Kommission verlangt als Voraussetzung für eine missbräuchliche Lieferverweigerung einen Schaden für die Verbraucher. Dieser könne auch – aber nicht nur – in der Verhinderung innovativer Produkte oder Anschlussinnovationen liegen.216 In der Literatur ist das Merkmal des „neuen Produktes“ umstritten. Das Kriterium werde ergebnisorientiert ausgefüllt.217 Abgelehnt wird es teilweise auch, weil die Kernproblematik entsprechender Fälle der Transfer von Marktmacht von einem auf einen anderen Markt mittels einer Hebelwirkung („leveraging“) sei.218 Eine aus diesem Kriterium abgeleitete Sonderbehandlung für geistiges Eigentum sei nicht gerechtfertigt.219 Oft dürfte zudem ein neues Produkt schon deshalb nicht verhindert werden, weil das beherrschende Unternehmen selbst alle Verwertungsmöglichkeiten ausschöpft.220 Vielmehr sei eine umfassende Abwägung aller Interessen durchzuführen, bei der es vor allem auch auf die Belohnungsreichweite des geistigen Eigentumsrechts ankomme.221 Soweit ein „neues Produkt“ und damit eine Innovation gefordert wird, sollte diese zumindest nicht eng im Sinne eines konkreten Produkts verstanden werden, sondern als jede technische Entwicklung gem. Art. 102 Abs. 2 lit. b AEUV.222 Dazu zählen auch einzelne Produktmerkmale.223 Ein missbräuchliches Verhalten kann generell gerechtfertigt sein, wenn es objektiv notwendig und verhältnismäßig ist.224 Als Rechtfertigung für die Verweigerung einer Lizenz zu einem geistigen Eigentumsrecht kann vorgebracht werden, dass die Innovationsanreize des beherrschenden Unternehmens geschützt werden müssen.225 Allein der Schutz geistigen Eigentums kann aber eine missbräuchliche Lizenzverweigerung nicht rechtfertigen, weil schon die Tatbestandsmerkmale dieser Fallgruppe voraussetzen, dass Zugang zu geistigen Eigentumsrechten nur unter außergewöhnlichen Umständen gewährt werden muss.226 Auch die Tatsache, dass eine (z.B. zur Herstellung von Interoperabilität) offenzulegende Technologie geheim ist, stellt keine sachliche Rechtfertigung dar, wenn die Geheimhaltung auf einer

212 EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 38 – IMS Health. 213 EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 48 f. – IMS Health. 214 Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder/Brand, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 86. Lfg. 2016, Art. 102 AEUV Rz. 428. 215 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 647 u. 652 f. – Microsoft. Conrad/Grützmacher/Grützmacher, § 20 Rz. 17. 216 EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 87. 217 Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder/Brand, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 86. Lfg. 2016, Art. 102 AEUV Rz. 429. 218 Immenga/Mestmäcker/Ullrich/Heinemann, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, GRUR B, Rz. 61; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 277. 219 MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 371 ff. 220 Immenga/Mestmäcker/Ullrich/Heinemann, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, GRUR B, Rz. 59. 221 Immenga/Mestmäcker/Ullrich/Heinemann, Band 1. EU, 5. Aufl. 2012, GRUR B, Rz. 64a. 222 Vgl. auch EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 647 – Microsoft. 223 Conrad/Grützmacher/Grützmacher, § 20 Rz. 20. 224 EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 41 – Post Danmark I. 225 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 697 f. – Microsoft; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 282. 226 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 690 – Microsoft.

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AEUV Art. 102 Rz. 47 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung geschäftspolitischen Entscheidung beruht.227 Entsprechend gilt das für die besondere Werthaltigkeit der offenzulegenden Technologie, weil es die für den Missbrauch erforderliche „Unerlässlichkeit“ für die Konkurrenten automatisch mit sich bringt, dass die Technologie einen großen Wert hat.228 (2) Erlangung und Ausübung von geistigen Eigentumsrechten 48

Die Geltendmachung der Ausschließlichkeitswirkung von geistigen Eigentumsrechten, d.h. der Ausschluss Dritter von der Nutzung, gehört zu den Vorrechten des Inhabers des geistigen Eigentumsrechts und stellt als solche keinen Missbrauch dar.229 Das gilt für die Weigerung eine Lizenz zu erteilen,230 aber auch für die Erhebung einer Verletzungsklage.231 Die Ausübung des Ausschließlichkeitsrechts kann nur dann einen Missbrauch darstellen, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen.232

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Außergewöhnliche Umstände liegen vor, wenn das geistige Eigentumsrecht für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essenziell ist, die Benutzung für dem Standard entsprechende Produkte unerlässlich ist und der Inhaber des geistigen Eigentumsrechts diese Stellung gegen eine unwiderrufliche Zusage ggü. der Standardisierungsorganisation erlangt hat, Dritten zu FRAND-Bedingungen (fair, reasonable and non-discriminatory) Lizenzen zu erteilen.233 I.E. kann der Inhaber des geistigen Eigentumsrechts damit verhindern, dass dem Standard entsprechende Produkte auf den Markt gelangen oder auf dem Markt bleiben.234 Dagegen lassen geistige Eigentumsrechte außerhalb von Standards i.d.R. die Herstellung von konkurrierenden Produkten durch Abweichung vom Schutzrecht zu.235 Missbräuchlich kann unter diesen Umständen die Weigerung des Schutzrechtsinhabers sein, Lizenzen zu FRAND-Bedingungen zu erteilen.236 Dieser Missbrauch kann auch einer Verletzungsklage des Schutzrechtsinhabers entgegen gehalten werden.237 Allerdings ist auch der notwendigen Wahrung von Rechten des geistigen Eigentums Rechnung zu tragen.238 Für einen gerechten Interessenausgleich müssen deshalb vor Klageerhebung mehrere Voraussetzungen erfüllt sein.239 Der Inhaber des standard-essenziellen Schutzrechts handelt bei Erhebung der Verletzungsklage nicht missbräuchlich, wenn er (1) vor Erhebung einer Klage den angeblichen Verletzer auf das Schutzrecht und die Art und Weise der Verletzung hingewiesen hat, (2) dem angeblichen Verletzer, nachdem dieser seine Bereitschaft zu einem Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen zum Ausdruck gebracht hat, ein konkretes schriftliches Lizenzangebot zu FRAND-Bedingungen unterbreitet hat, in dem insb. die Lizenzgebühr und ihre Berechnung angegeben ist, (3) der Verletzer trotz Weiterbenutzung des Patents auf das Angebot des Schutzrechtsinhaber nicht mit Sorgfalt gem. den in dem betreffenden Bereich anerkannten geschäftlichen Gepflogenheiten und nach Treu und Glauben reagiert hat, was auf der Grundlage objektiver Gesichtspunkte zu bestimmen ist und u.a. impliziert, dass keine Verzögerungstaktik verfolgt wird.240

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Missbräuchlich kann nicht nur die Ausübung von geistigen Eigentumsrechten sondern auch deren Erlangung sein. Die EU-Kommission hat 2005 ein Bußgeld gegen einen Arzneimittelhersteller verhängt, der ggü. Behörden irreführende Angaben bei der Erlangung von ergänzenden Schutzzertifikaten für 227 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 693 – Microsoft. 228 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 694 – Microsoft. 229 EuGH v. 5.10.1988 – C-238/87, Rz. 8 – Volvo; EuGH v. 6.4.1995 – C-241/91 P, Slg. 1995, I-743, Rz. 49 – Magill; EuGH v. 29.4.2004 – C-418/01, Rz. 34 – IMS Health; EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 45 – Huawei/ ZTE. 230 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 331 – Microsoft; EuGH v. 6.4.1995 – C-241/91 P, Slg. 1995, I-743, Rz. 49 – Magill. 231 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 46 – Huawei/ZTE. 232 EuGH v. 6.4.1995 – C-241/91 P, Slg. 1995, I-743, Rz. 50 – Magill; EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 47 – Huawei/ZTE. 233 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 49 ff. – Huawei/ZTE. 234 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 52 – Huawei/ZTE. 235 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 50 – Huawei/ZTE. 236 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 54 – Huawei/ZTE. 237 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 54 – Huawei/ZTE. 238 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 57 – Huawei/ZTE. 239 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 54 – Huawei/ZTE. 240 EuGH v. 16.7.2015 – C-170/13, Rz. 55 – Huawei/ZTE.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 51 Art. 102 AEUV

Arzneimittel gemacht und Marktzulassungen abgemeldet hatte, um den Markteintritt von Generikaherstellern hinauszuzögern.241 Diese Vorgaben sind in Bezug auf alle technische Schutzrechte zu beachten, soweit diese von Behörden erteilt werden. Maßstab dabei ist, ob das Unternehmen in beherrschender Stellung zu anderen Mitteln als denjenigen des Leistungswettbewerbs greift.242 Im Bereich des Softwareurheberrechts sind vergleichbare Fälle allenfalls denkbar, wenn Ansprüche geltend gemacht werden, die – z.B. aufgrund von Erschöpfung – offenkundig nicht bestehen. (3) Preis-Kosten-Schere Nach dem Regelbeispiel in Abs. 2 lit. a kann ein Missbrauch auch in der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Preisen liegen. Eine derartige Preispolitik kann missbräuchlich sein, wenn sie die Margen der Wettbewerber bei den Endkundenpreisen beschneidet (Preis-Kosten-Schere).243 Das kann eintreten, wenn ein vertikal integriertes Unternehmen ein Produkt oder eine Leistung an Endkunden anbietet, einen dafür notwendigen Input aber auch an Konkurrenten verkauft. Eine Preis-Kosten-Schere ist missbräuchlich, wenn die Differenz zwischen den Preisen für die Abgabe des Inputs an den Wettbewerber und dem Endkundenpreis für das gesamte Produkt bzw. die gesamte Leistung negativ ist oder nicht ausreicht, um die spezifischen Kosten zu decken, die zur Erbringung der Leistungen an Endkunden notwendig sind.244 Maßstab sind die Kosten, die das beherrschende Unternehmen zur Erbringung der Endkundenleistung tragen muss.245 Kann ein Wettbewerber diese Kosten nicht decken, hat er, obwohl er (unterstellt) genauso effizient wie das beherrschende Unternehmen ist, keine Möglichkeit, mit dem beherrschenden Unternehmen bei den entsprechenden Leistungen in Wettbewerb zu treten.246 Dabei muss nicht nachgewiesen werden, dass die Preise für die Abgabe des Inputs an den Wettbewerber oder die Endkundenpreise für sich genommen zu hoch sind oder Verdrängungswirkung haben.247 Die Preis-Kosten-Schere muss aufgrund der durch die Beschneidung der Margen entfalteten Verdrängungswirkung geeignet sein, den Wettbewerbern den Zugang zum Markt zu erschweren oder unmöglich zu machen.248 Für die Missbräuchlichkeit muss deshalb eine potentielle wettbewerbswidrige Wirkung, nicht eine wettbewerbswidrige Wirkung im konkreten Fall nachgewiesen werden.249 Eine zumindest potentielle wettbewerbswidrige Wirkung liegt wahrscheinlich vor, wenn der Zugang zum für den Wettbewerber notwendigen Input für den Verkauf des Endkundenprodukts unentbehrlich ist.250 Aber auch wenn der an den Wettbewerber gelieferte Input für diesen nicht unentbehrlich ist, kann die Margenbeschneidung missbräuchlich sein.251 Eine Verdrängungswirkung ist wahrscheinlich, wenn die Differenz zwischen dem Preis für den Input und dem Endkundenpreis negativ ist, d.h. wenn der Preis für den Wettbewerber höher als der Endkundenpreis ist, weil die Wettbewerber dann mit Verlust verkaufen müssen.252 Bei einer positiven Differenz muss dagegen nachgewiesen werden, dass die Margenbeschneidung die Tätigkeiten der Wettbewerber erschwert.253 Die Preis-Kosten-Schere kann gerechtfertigt sein, wenn die

241 EU-Kommission v. 15.6.2005, COMP/A.37.507/F3 – AstraZeneca; bestätigt durch EuG v. 1.7.2010 – T-321/05 – AstraZeneca; EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P – AstraZeneca. 242 EuGH v. 6.12.2012 – C-457/10 P, Rz. 75 – AstraZeneca. Zur Problematik dieses Begriffs Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 202 ff. m.w.N. 243 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 30 – TeliaSonera. 244 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 32 – TeliaSonera. 245 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 32 – TeliaSonera. 246 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 32 – TeliaSonera. 247 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 34 – TeliaSonera; EuGH v. 14.10.2010 – C-280/08 P, Rz. 138 – Deutsche Telekom. 248 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 63 – TeliaSonera; EuGH v. 14.10.2010 – C-280/08 P, Rz. 253 – Deutsche Telekom. 249 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 64 – TeliaSonera. 250 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 70 f. – TeliaSonera; EuGH v. 14.10.2010 – C-280/08 P, Rz. 234 – Deutsche Telekom. 251 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 72 – TeliaSonera. 252 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 73 – TeliaSonera. 253 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 74 – TeliaSonera.

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AEUV Art. 102 Rz. 51 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Nachteile der Verdrängungswirkung durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden.254 (4) Kampfpreise 52

Die Missbräuchlichkeit von Kampfpreisstrategien hängt davon ab, ob das beherrschende Unternehmen bei der Preissetzung bestimmte Kostenstandards über- oder unterschreitet. Preise unter den durchschnittlichen variablen Kosten sind grundsätzlich missbräuchlich.255 Sie lassen sich nach Auffassung des EuGH nur damit erklären, dass das beherrschende Unternehmen Wettbewerber vom Markt verdrängen will, um anschließend die Preise wieder anzuheben.256 Preise über den durchschnittlichen variablen Kosten aber unter den durchschnittlichen Gesamtkosten sind dagegen nur missbräuchlich, wenn ein Plan zur Verdrängung eines Mitbewerbers festgestellt werden kann.257 Diese Preise können Unternehmen vom Markt verdrängen, „die vielleicht ebenso leistungsfähig sind wie das beherrschende Unternehmen, wegen ihrer geringeren Finanzkraft jedoch nicht dem auf sie ausgeübten Konkurrenzdruck standhalten können.“258 Die Missbräuchlichkeit setzt nicht den Nachweis voraus, dass das beherrschende Unternehmen die Verluste durch die Preise unter einem bestimmtem Kostenniveau wieder ausgleichen kann.259 Zulässig sind dagegen Preise, die die Kosten für den Vertrieb des Produkts oder die Erbringung der Dienstleistung im Wesentlichen decken, weil dann ein ebenso leistungsfähiger Wettbewerber die Möglichkeit hat zu konkurrieren ohne Verluste zu erleiden.260 Auch Kampfpreisstrategien können grundsätzlich gerechtfertigt sein, wenn sie objektiv notwendig und verhältnismäßig sind oder die Verdrängungswirkung durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugute kommen.261 (5) Ausschließlichkeitsbindungen

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Ein Missbrauch liegt vor, wenn das beherrschende Unternehmen Abnehmern die Verpflichtung auferlegt, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil ausschließlich beim beherrschenden Unternehmen zu beziehen.262 Das gilt sowohl für ausdrückliche Ausschließlichkeitsverpflichtungen als auch für Verpflichtungen, die dieselbe Wirkung haben, z.B. auch für eine entsprechende Gewährung von Rabatten.263 Im Android-Verfahren hat die EU-Kommission ein Bußgeld gegen Google u.a. dafür verhängt, dass Google Smartphone-Herstellern und Mobilfunknetzbetreibern finanzielle Anreize dafür angeboten hat, ausschließlich die Google-Suche auf Geräten vorzuinstallieren.264 Als missbräuchliche Ausschließlichkeitsverpflichtung wurde z.B. auch die mit der Bedingung verknüpfte Zurverfügungstellung von Tiefkühltruhen durch das beherrschende Unternehmen interpretiert, die Tiefkühltruhen ausschließlich zur Lagerung von Produkten des beherrschenden Unternehmens zu verwenden.265 Eine Ausschließlichkeitsbindung kann auch die langfristige Bindung von Softwarenutzern an Softwarehersteller durch den Ausschluss von Kündigungs- oder Teilkündigungsrechten darstellen.266 Dadurch können Wettbewerber auf dem Softwaremarkt (Primärmarkt), Wettbewerber auf 254 EuGH v. 17.2.2011 – C-52/09, Rz. 76 – TeliaSonera. 255 EuGH v. 3.7.1991 – C-62/86, Slg. 1991, I-3395, Rz. 71 – AKZO; EuGH v. 2.4.2009 – C-202/07 P, Rz. 109 – France Télécom; EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 27 – Post Danmark I. 256 EuGH v. 3.7.1991 – C-62/86, Slg. 1991, I-3395, Rz. 71 – AKZO; EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 27 – Post Danmark I. 257 EuGH v. 2.4.2009 – C-202/07 P, Rz. 109 – France Télécom; EuGH v. 3.7.1991 – C-62/86, Rz. 70 ff. – AKZO; EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 27 – Post Danmark I. Zum Nachweis eines Verdrängungsplans s. Langen/ Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 315 m.w.N. 258 EuGH v. 3.7.1991 – C-62/86, Slg. 1991, I-3395, Rz. 72 – AKZO. 259 EuGH v. 2.4.2009 – C-202/07 P, Rz. 110 – France Télécom. 260 EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 38 – Post Danmark I. 261 EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 40 ff. – Post Danmark I. 262 EuGH v. 13.2.1979 – 85/76, Rz. 89 – Hoffmann-La Roche; EuGH v. 19.4.2012 – C-549/10 P, Rz. 708 – Tomra; EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 137 – Intel. 263 EuGH v. 13.2.1979 – 85/76, Rz. 89 – Hoffmann-La Roche. 264 EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099, Rz. 1192 ff. – Google Android. 265 EuG v. 23.10.2003 – T-65/98, Rz. 160 – Van Den Bergh Foods. 266 Grützmacher, ITRB 2011, 133, 135 ff.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 55 Art. 102 AEUV

dem Wartungsmarkt (Sekundärmarkt) oder Anbieter gebrauchter Software behindert werden.267 Bewirkt werden kann eine Ausschließlichkeitsbindung auch durch Lizenzbedingungen, die Zahlungen für die indirekte Nutzung von Programmen vorsehen.268 Eine indirekte Nutzung eines Programmes kann darin liegen, dass die Software eines anderen Anbieters bei der Ausführung auf das lizenzierte Programm zugreifen muss, die Programme über Schnittstellen zusammenwirken oder die Drittanbietersoftware Code des lizenzierten Programmes enthält.269 Wenn die Kosten für die Drittanbietersoftware durch die indirekte Nutzung des lizenzierten Programms steigen und die Nutzung der Drittanbietersoftware unwirtschaftlich wird, kann faktisch die Wirkung einer Ausschließlichkeitsbindung an das lizenzierte Programm entstehen. Soweit allerdings schutzfähiger Code des lizenzierten Programms indirekt genutzt wird, sind die Grundsätze über Missbräuche bei Ausübung geistiger Eigentumsrechte zu beachten (Rz. 48 ff.).270 Überträgt man die Ansicht der EU-Kommission zu Ausschließlichkeitsverpflichtungen in vertikalen Vereinbarungen auf die Beurteilung nach Art. 102 AEUV, liegt schon bei einer Verpflichtung in Bezug auf 80 % des Bedarfs eine Verpflichtung vor, den gesamten Bedarf beim beherrschenden Unternehmen zu decken.271 Derartige Ausschließlichkeitsverpflichtungen beruhen nach Ansicht des EuGH nicht auf einer wirtschaftlichen Leistung, sondern zielen darauf ab, dem Abnehmer die Wahl zwischen mehreren Bezugsquellen unmöglich zu machen oder zu erschweren und anderen Herstellen den Zugang zum Markt zu versperren.272 Die EU-Kommission möchte bei der Bewertung von Ausschließlichkeitsverpflichtungen insb. den Wettbewerbsdruck durch andere (potentielle) Anbieter und die Dauer der Bindung berücksichtigen.273 (6) Rabattsysteme Rabatte sind insb. dann missbräuchlich, wenn sie nicht für wirtschaftliche Leistungen gewährt werden, 54 sondern darauf abzielen, die Wahl des Abnehmers zwischen mehreren Bezugsquellen einzuschränken und anderen Anbietern den Zugang zum Markt zu verwehren.274 Die Rspr. hat bisher vor allem Treuerabatte als missbräuchlich eingestuft, also Rabatte, die ein marktbeherrschendes Unternehmen seinen Abnehmern gewährt, wenn sie ihren gesamten oder zumindest ihren überwiegenden Bedarf bei ihm decken (auch „Ausschließlichkeitsrabatte“).275 Diese Rabatte wirken wie Ausschließlichkeitsbindungen, indem sie die Nachfrage bei anderen Unternehmen abziehen. Sie sind grundsätzlich missbräuchlich.276 Der EuGH hat aber in der Intel-Entscheidung klargestellt, dass diese Vermutung erschüttert werden kann.277 Zulässig sind dagegen Mengenrabatte, bei denen das marktbeherrschende Unternehmen Größenvorteile an seine Abnehmer weitergibt,278 ebenso Funktionsrabatte, die keinen direkten Warenbezug haben, mit denen das marktbeherrschende Unternehmen aber die Übernahme besonderer Aufgaben oder die Erfüllung besonderer Qualitätsanforderungen belohnt.279 Bei potentiell missbräuchlichen Rabatten ist unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände der Rabattgewährung zu prüfen, ob der Rabatt darauf abzielt, dem Abnehmer durch die Gewährung eines Vorteils, der nicht auf einer ihn rechtfertigenden wirtschaftlichen Leistung beruht, die Wahl zwischen mehreren Bezugsquellen unmöglich zu machen oder zu erschweren, den Konkurrenten den Zugang zum Markt zu verwehren, Handelspartnern für gleichwertige Leistungen ungleiche Bedingungen auf267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279

Grützmacher, ITRB 2011, 133, 135 ff. Metzger/Hoppen, CR 2017, 625 ff. Metzger/Hoppen, CR 2017, 625, 628 ff. Metzger/Hoppen, CR 2017, 625, 634. Art. 1 lit. d VO 330/2010 (Vertikal-GVO); so auch Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 41 und Schulte/Just/Weber, Art. 102 AEUV Rz. 78. EuGH v. 13.2.1979 – 85/76, Rz. 90 – Hoffmann-La Roche. EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 36. EuGH v. 13.2.1975 – 85/76, Rz. 90 – Hoffmann-La Roche; EuG v. 9.9.2010 – T-155/06, Rz. 209 – Tomra. EuGH v. 13.2.1975 – 85/76, Rz. 89 f. – Hoffmann-La Roche; EuG v. 7.10.1999 – T-228/97, Rz. 197 – Irish Sugar; EuGH v. 19.4.2012 – C-549/10, Rz. 70 – Tomra; EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 27 – Post Danmark II; vgl. EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 137 – Intel. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 345; MünchKomm/Eilmansberger/Bien, Art. 102 AEUV Rz. 560. EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P Rz. 138 ff. – Intel; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 345. EuGH v. 9.11.1983 – 322/81, Rz. 71 – Michelin I; EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 27 – Post Danmark II. EuGH v. 13.2.1975 – 85/76, Rz. 96 – Hoffmann-La Roche.

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AEUV Art. 102 Rz. 55 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zuerlegen oder die beherrschende Stellung durch einen verfälschten Wettbewerb zu stärken.280 Das gilt z.B. für Zielrabatte.281 Zielrabatte werden gewährt, wenn in einem bestimmten Zeitraum festgelegte Verkaufsziele erreicht werden. Insb. kommt es darauf an, ob die Rabatte eine Verdrängungswirkung entfalten können und ob eine objektive wirtschaftliche Rechtfertigung für sie besteht.282 Bei der Verdrängungswirkung kommt es nicht darauf an, ob die Rabatte tatsächlich eine Verdrängungswirkung entfaltet haben, sondern ob sie geeignet sind, den Wettbewerbern des beherrschenden Unternehmens den Zugang zum Markt und darüber hinaus seinen Vertragspartnern die Wahl zwischen mehreren Bezugsquellen oder Handelspartnern zu erschweren oder sogar unmöglich zu machen.283 Unterschieden werden können rückwirkende (retroaktive) Rabatte, die sich auf die gesamte Bezugsmenge beziehen, und stufenweise Rabatte, die für Mengen oberhalb der Rabattschwelle gewährt werden,284 wobei rückwirkende Rabatte eine besonders starke Verdrängungswirkung entfalten können.285 Die EU-Kommission prüft die Verdrängungswirkung anhand der Frage, ob das Rabattsystem die Expansion oder den Markteintritt eines ebenso leistungsfähigen (efficient) Wettbewerbers verhindern kann.286 Die Rspr. hält diesen Test nicht für zwingend, sondern allenfalls für ein Element unter mehreren zur Begründung der Missbräuchlichkeit.287 Nach der Rspr. muss die EU-Kommission die Eignung zur Verdrängung insbesondere dann umfassend prüfen, wenn das betroffene Unternehmen die Verdrängungswirkung substantiiert bestreitet.288 In diesem Fall sind relevant das Ausmaß der beherrschenden Stellung, die Marktabdeckung durch die Rabattpraxis, die Rabattbedingungen und -modalitäten, ihre Dauer und Höhe sowie „das Vorliegen einer Strategie zur Verdrängung der mindestens ebenso leistungsfähigen Wettbewerber“.289 56

Das Rabattsystem ist nicht missbräuchlich, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Verdrängungswirkung durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder übertroffen wird, die auch dem Verbraucher zugutekommen.290 Auch dabei muss die Eignung zur Verdrängung geprüft werden.291 Das beherrschende Unternehmen muss nachweisen, dass die Effizienzvorteile wahrscheinliche negative Auswirkungen auf den Wettbewerb und auf die Interessen der Verbraucher ausgleichen. Die Effizienzvorteile müssen zudem gerade durch die Rabatte erzielt werden oder erzielt werden können. Die Rabatte müssen für das Erreichen der Effizienzvorteile notwendig sein. Schließlich dürfen die Rabatte einen wirksamen Wettbewerb nicht ausschalten, indem sie alle oder die meisten bestehenden Quellen tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerbs zum Versiegen bringen.292 (7) Kopplung

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Nach dem Regelbeispiel in Abs. 2 lit. d kann ein Missbrauch auch vorliegen, wenn an den Abschluss von Verträgen die Bedingung geknüpft wird, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen. Ei280 EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 29 – Post Danmark II; EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04, Rz. 67 – British Airways. 281 EuGH v. 9.11.1983 – 322/81, Rz. 81 u. 85 – Michelin I; EuG v. 17.12.2003 – T-219/99, Rz. 299; EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04, Rz. 65 ff. – British Airways. 282 EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04, Rz. 69 – British Airways; EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 31 – Post Danmark II. 283 EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04, Rz. 68 – British Airways; EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 31 – Post Danmark II; EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 138 ff. – Intel. 284 EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 37. 285 EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04, Rz. 73 – British Airways; EuGH v. 19.4.2012 – C-549/10, Rz. 75 – Tomra. Vgl. zur Wirkung EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 40. 286 EU-Kommission v. 13.5.2009, COMP/37.990, Rz. 1002 ff. – Intel; EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 41 ff. 287 EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 57 ff. – Post Danmark II; EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 142 ff. – Intel. 288 EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 138 f. – Intel. 289 EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 139 – Intel. 290 EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 140 – Intel; EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 48 – Post Danmark II; EuGH v. 15.3.2007 – C-95/04, Rz. 86 – British Airways. 291 EuGH v. 6.9.2017 – C-413/14 P, Rz. 140 – Intel. 292 EuGH v. 6.10.2015 – C-23/14, Rz. 49 – Post Danmark II.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 59 Art. 102 AEUV

ne Kopplung ist nach Auffassung der Rspr. missbräuchlich, wenn die folgenden Voraussetzungen vorliegen: (1) Das Kopplungsprodukt und das daran gekoppelte Produkt sind zwei gesonderte Produkte, (2) das betreffende Unternehmen hat eine beherrschende Stellung auf dem Markt für das Kopplungsprodukt, (3) das Kopplungsprodukt kann nicht ohne das gekoppelte Produkt vom beherrschenden Unternehmen bezogen werden, (4) die Kopplung beschränkt den Wettbewerb (Marktverschließung oder Verdrängungswirkung) und (5) die Kopplungspraxis ist nicht objektiv gerechtfertigt.293 Offen ist allerdings, ob die Rspr. tatsächlich fordert, dass die Kopplung zu einer Marktverschließung führt, oder die Kopplung per se wettbewerbsbeschränkend ist.294 Kopplungspraktiken waren insb. Gegenstand des Microsoft-Verfahrens und des Android-Verfahrens der EU-Kommission. Im Android-Verfahren hat die EU-Kommission Google u.a. vorgeworfen, widerrechtlich von Herstellern als Vorbedingung für die Lizenzierung bestimmter geschützter Google-Apps zu verlangen, die Google-Suche und den Browser Google Chrome vorzuinstallieren.295 Eine Kopplung ist z.B. auch dann denkbar, wenn der Anbieter einer Software eine marktbeherrschende Stellung hat und den Abschluss des Softwareüberlassungsvertrags vom Abschluss eines Softwarepflegevertrags abhängig macht (§ 19 GWB Rz. 14). Kopplungsprodukt und gekoppeltes Produkt können nur dann zwei gesonderte Produkte darstellen, 58 wenn es eine eigenständige Nachfrage nach dem gekoppelten Produkt gibt.296 Es kommt nicht darauf an, ob das Kopplungsprodukt regelmäßig ohne das gekoppelte Produkt angeboten wird, oder ob Verbraucher das Kopplungsprodukt nicht ohne das gekoppelte Produkt erwerben wollen.297 Im Fall Microsoft, in dem es um die Kopplung des Windows Media Player (gekoppeltes Produkt) an das Betriebssystem Windows (Kopplungsprodukt) ging, kam es damit nicht darauf an, ob Windows ohne den Media Player angeboten wird oder Verbraucher Windows ohne den Media Player wollen, sondern nur darauf, ob eine eigenständige Nachfrage nach Medienabspielprogrammen besteht.298 Für eine eigenständige Nachfrage nach dem gekoppelten Produkt spricht die Existenz von Unternehmen, die auf dessen Herstellung und Verkauf spezialisiert sind.299 Bei der Frage, ob das Kopplungsprodukt vom beherrschenden Unternehmen ohne das gekoppelte Produkt bezogen werden kann, kommt es nicht darauf an, ob für das gekoppelte Produkt ein Entgelt bezahlt werden muss.300 Unerheblich ist auch, ob das gekoppelte Produkt (z.B. der mit Windows vorinstallierte Windows Media Player) genutzt werden muss oder ob auch mit dem gekoppelten Produkt konkurrierende Produkte genutzt werden können.301 In älteren Fällen war eine durch die Kopplung bewirkte Wettbewerbsbeschränkung (Verdrängungs- 59 wirkung) keine Voraussetzung für die Missbräuchlichkeit.302 Die Kopplung war in diesen Fällen per se missbräuchlich. Die EU-Kommission hat im Microsoft-Verfahren die Verdrängungswirkung vor allem deshalb vertieft geprüft, weil die mit dem Windows Media Player konkurrierenden Programme kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden konnten und eine Ausschlusswirkung deshalb nicht auf der Hand lag.303 Das Herunterladen aus dem Internet wurde aber als weniger wirksamer Vertriebsweg bewertet als die Möglichkeit von Microsoft, den Windows Media Player zusammen mit dem Betriebssystem auszuliefern.304 Zur Verdrängungswirkung trugen nach Auffassung der EU-Kommission auch mittelbare Netzwerkeffekte bei, die sich daraus ergaben, dass Anbieter von Inhalten und Software ihre Produkte vor allem für den Windows Media Player entwickeln, weil sie damit die meisten Nutzer von Client-PCs erreichen.305 Aus der Entscheidung des EuG geht nicht eindeutig hervor, ob die von der 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305

EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 842 f. u. 859 – Microsoft. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 234 m.w.N. EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099 – Google Android. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 918 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 919 – Microsoft. Diese wurde von EU-Kommission und EuG bejaht, s. dazu EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 925 ff. – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 927 – Microsoft; EuG v. 12.12.1991 – T-30/89, Rz. 67 – Hilti; EuG v. 6.10.1994 – T-83/91, Rz. 36 – Tetra Pak. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 969 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 970 – Microsoft. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 233. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 977 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 1050 – Microsoft. EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 1060 ff. – Microsoft.

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AEUV Art. 102 Rz. 59 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Kommission geprüfte und bejahte Verdrängungswirkung notwendige Voraussetzung der missbräuchlichen Kopplung ist.306 Die EU-Kommission jedenfalls will eine Verdrängungswirkung auch in Kopplungsfällen prüfen.307 Die Rspr. zu Rabattsystemen legt nahe, dass Gerichte im Zweifel eine missbräuchliche Kopplung auch ohne Nachweis einer Verdrängungswirkung annehmen würden. 60

Ggü. dem Microsoft-Verfahren findet die Kopplung im Android-Verfahren auf einer anderen Ebene statt. Im Microsoft-Verfahren ging es um die Kopplung einer Anwendung an das Betriebssystem. Im Android-Verfahren geht es um die Kopplung von Apps untereinander. Das Betriebssystem Android selbst enthält keine Apps von Google und wird separat lizenziert.308 Google bietet Smartphone-Herstellern, die Android als Betriebssystem nutzen wollen, ein Paket von Google-Apps an („Google Mobile Applications Suite“ oder GMS).309 Die Apps in diesem Paket können von Google nur zusammen lizenziert und müssen auf den Geräten vorinstalliert werden.310 Das Paket enthält u.a. den App-Store Play Store, die Google-Suche, den Browser Chrome und Youtube. Nach Angaben der EU-Kommission verlangt Google bei Lizenzierung des Pakets, dass die Google-Suche als Standardsuchdienst festgelegt wird.311 Die EU-Kommission hält Google u.a. für beherrschend auf dem Markt für App-Stores für das Android-Betriebssystem.312 Dementsprechend sei es für die Hersteller von Geräten mit Android-Betriebssystem wichtig, den Google App-Store Play Store vorzuinstallieren.313 Damit geht der Vorwurf der EU-Kommission u.a. dahin, die marktbeherrschende Stellung auf dem Markt für AppStores für das Android-Betriebssystem auf den Markt für Internetsuchdienste auszudehnen. Eine Verdrängungswirkung sieht die EU-Kommission darin, dass konkurrierende Suchmaschinen auf der großen Mehrheit der Geräte nicht der Standardsuchdienst werden könnten. Zudem sinke der Anreiz für Gerätehersteller, konkurrierende Suchanwendungen vorzuinstallieren, und der Anreiz für Verbraucher, solche Anwendungen herunterzuladen.314 Infrage gestellt werden kann, ob die einzelnen GoogleApps gesonderte Produkte sind, die missbräuchlich gekoppelt werden können. Als relevante Produkte kann man auch App-Pakete betrachten, wodurch dem Wettbewerb zwischen den „Nutzererfahrungen“ der verschiedenen (angepassten) Betriebssysteme eine größere Bedeutung zukommt (Google/Android, Amazon/Android, iOS von Apple oder Windows Phone).315 Im Hinblick auf eine mögliche Verdrängungswirkung kann nach dieser Sichtweise relevant sein, ob auf einem Gerät mehrere App-Stores installiert werden können und welche Apps Gerätehersteller vorinstallieren oder Nutzer herunterladen können.316 (8) Diskriminierung

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Nach dem Regelbeispiel in Abs. 2 lit. c kann ein Missbrauch auch in der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern bestehen, wenn die Handelspartner dadurch im Wettbewerb benachteiligt werden. Die Diskriminierung von Verbrauchern fällt dagegen unter die Generalklausel.317 Das Diskriminierungsverbot nach Abs. 2 lit. c schützt den Wettbewerb zwischen Zulieferern oder Abnehmern des beherrschenden Unternehmens.318 Es setzt nicht nur eine Ungleichbehandlung voraus. Die Verhaltensweise muss darauf gerichtet sein, eine Wettbe-

306 EuG v. 17.9.2007 – T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 1035 u. 1058 – Microsoft; Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 234. 307 EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 52 ff. 308 Körber, NZKart 2014, 378, 383; Schneider/Polley/Graf, Handbuch EDV-Recht, Kap. L Rz. 235. 309 Körber, NZKart 2014, 378, 379. 310 Körber, NZKart 2014, 378, 379, 384. 311 EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099, Rz. 118 ff. – Google Android. 312 EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099, Rz. 590 ff. – Google Android. 313 EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099, Rz. 600 ff. – Google Android. 314 EU-Kommission v. 18.7.2018, COMP/40.099, Rz. 752 ff. – Google Android. 315 Monopolkommission, Sondergutachten 68, Rz. 243; Körber, NZKart 2014, 378, 383; Schneider/Polley/Graf, Handbuch EDV-Recht, Kap. L Rz. 236. 316 Monopolkommission, Sondergutachten 68, Rz. 243; Schneider/Polley/Graf, Handbuch EDV-Recht, Kap. L Rz. 237. 317 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 102 AEUV Rz. 57. 318 EuGH v. 19.4.2018 – C-525/16, Rz. 24 – Portugiesische Urheberechtsverwertungsgesellschaft.

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Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rz. 64 Art. 102 AEUV

werbsverzerrung zwischen diesen Handelspartnern herbeizuführen.319 Der Beweis einer tatsächlichen und quantifizierbaren Verschlechterung der Wettbewerbsstellung muss aber nicht erbracht werden.320 Notwendig ist eine Prüfung sämtlicher relevanter Umstände des konkreten Falles.321 Die Benachteiligung im Wettbewerb setzt voraus, dass die Interessen des Wirtschaftsteilnehmers beeinträchtigt werden, wobei keine Spürbarkeitsschwelle gilt.322 In Bezug auf gebrauchte Software kommt grundsätzlich in Betracht, dass ein beherrschendes Unternehmen Aufspaltungen und Transfers zustimmen muss, wenn es diesen auch in vergleichbaren Fällen schon zugestimmt hat.323 d) Rechtfertigung Der Wortlaut von Art. 102 AEUV kennt keine Rechtfertigung des Missbrauchs. Dennoch werden zwei Arten von Rechtfertigungsgründen anerkannt: Gründe, die auf einer objektiven Notwendigkeit beruhen, und Effizienzvorteile. Diese Rechtfertigungsgründe haben sich fallgruppenspezifisch entwickelt, bestimmte Aspekte lassen sich aber verallgemeinern. Die Rspr. erkennt zudem an, dass beherrschende Unternehmen in vernünftigem Maß ihre eigenen geschäftlichen Interessen wahren dürfen, wenn das nicht auf die Verstärkung der beherrschenden Stellung und ihren Missbrauch abzielt.324 Dabei handelt es sich jedoch eher um einen Teil der Missbrauchsprüfung selbst als um einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund.325

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Ein missbräuchliches Verhalten kann gerechtfertigt sein, wenn es objektiv notwendig und verhält- 63 nismäßig ist.326 In Betracht kommt eine Rechtfertigung aufgrund von Produktmerkmalen aus Gründen der Gesundheit und Sicherheit.327 Bei Lieferverweigerungen kommen Versorgungsengpässe als Rechtfertigung in Betracht oder eine mangelnde Qualifikation des Absatzmittlers.328 Voraussetzung ist aber jeweils, dass der Erfolg nicht auf einem weniger wettbewerbsbeschränkenden Weg erzielt werden kann.329 Beachtet werden muss zudem, dass die Festlegung von z.B. technischen Standards die Aufgabe von Behörden ist, und ein Unternehmen deshalb nicht aus eigener Initiative versuchen darf, vermeintlich minderwertige Produkte vom Markt auszuschließen.330 Ein missbräuchliches Verhalten kann gerechtfertigt sein, wenn es durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen wird.331 Dazu muss das beherrschende Unternehmen nachweisen, dass die möglicherweise entstehenden „Effizienzvorteile wahrscheinlich negative Auswirkungen auf den Wettbewerb und die Interessen der Verbraucher auf den betroffenen Märkten aufwiegen“ (1), dass die Effizienzvorteile durch das missbräuchliche Verhalten erzielt werden können (2), dass das missbräuchliche Verhalten „für das Erreichen der Effizienzvorteile notwendig ist und einen wirksamen Wettbewerb nicht ausschaltet, indem es alle oder die meisten bestehenden Quellen tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerbs zum Versiegen bringt“ (3).332

319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332

EuGH v. 19.4.2018 – C-525/16, Rz. 25 ff. – Portugiesische Urheberechtsverwertungsgesellschaft. EuGH v. 19.4.2018 – C-525/16, Rz. 27 – Portugiesische Urheberechtsverwertungsgesellschaft. EuGH v. 19.4.2018 – C-525/16, Rz. 28 u. 31 – Portugiesische Urheberechtsverwertungsgesellschaft. EuGH v. 19.4.2018 – C-525/16, Rz. 29 f. – Portugiesische Urheberechtsverwertungsgesellschaft. Grützmacher, CR 2007, 549, 555. EuGH v. 16.9.2008 – C-468/06 u.a., Rz. 50 – GlaxoSmithKline (Griechenland); EuGH v. 14.2.1978 – 27/76, Rz. 184/194 – United Brands. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 143; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 102 AEUV Rz. 154 jeweils m.w.N.; a.A. GA Colomer, Schlussanträge v. 1.4.2008 – C-468/06, Rz. 79 – GlaxoSmithKline (Griechenland). EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 41 – Post Danmark I. EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 29. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 140. Langen/Bunte/Bulst, Art. 102 AEUV Rz. 140. EuG v. 12.12.1991 – T-30/89, Rz. 118 – Hilti; EuG v. 6.10.1994 – T-83/91, Rz. 83 f. – Tetra Pak. EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 41 – Post Danmark I. EuGH v. 27.3.2012 – C-209/10, Rz. 42 – Post Danmark I. Vgl. auch EU-Kommission, Durchsetzungsprioritäten, ABl. 2009, C45/7, Rz. 30.

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AEUV Art. 102 Rz. 65 Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung e) Zwischenstaatlichkeitsklausel 65

Art. 102 AEUV ist anwendbar, wenn das missbräuchliche Verhalten dazu führen kann, „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen“. Die EU-Kommission erläutert die Anwendung dieses Begriffs in ihren Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Art. 81 und 82 des Vertrags.333 2. Rechtsfolgen

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Ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV kann verwaltungsrechtliche und zivilrechtliche Folgen haben. Die EU-Kommission kann Unternehmen nach Art. 7 VO 1/2003334 verpflichten, festgestellte Zuwiderhandlungen abzustellen und nach Art. 8 VO 1/2003 einstweilige Maßnahmen anordnen. Nach Art. 9 VO 1/2003 kann die EU-Kommission von den Unternehmen angebotene Verpflichtungszusagen für bindend erklären, wenn diese geeignet sind, die Bedenken auszuräumen. Nach Art. 23 VO 1/2003 kann die EU-Kommission Geldbußen verhängen, wenn der Verstoß fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Auf zivilrechtliche Folgen sind ergänzend die nationalen Vorschriften anzuwenden. Rechtsgeschäfte, die infolge des missbräuchlichen Verhaltens zustande kamen, können nach § 134 BGB nichtig sein. Nach § 33 GWB können durch den Verstoß betroffene Unternehmen wegen des missbräuchlichen Verhaltens Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche geltend machen.

333 ABl. 2004, Nr. C 101/81. 334 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003, Nr. L 1/1.

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Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ABl. EU Nr. L 119 vom 4.5.2016, 1, berichtigt durch ABl. EU Nr. L 314 vom 22.11.2016, 72 und ABl. EU Nr. L 127 vom 23.5.2018, 2 (Auszug)

Vorbemerkungen zur DSGVO I. Neuregelung des Datenschutzes durch die DSGVO; Überblick . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Verhältnis zum neuen BDSG . . . . . . . . . .

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Literatur: Auernhammer, DSGVO BDSG, 6. Aufl. 2018 (zitiert: Auernhammer/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); AuerReinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019 (zitiert: Auer-Reinsdorff/Conrad/Bearbeiter, § … Rz. …); Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch Kommentar, 38. Aufl. 2018 (zitiert: Baumbach/Hopt/Bearbeiter, § … Rz. …); Behling/Abel (Hrsg.), Praxishandbuch Datenschutz, 2015 (zitiert: Behling/Abel/Bearbeiter, Kap. … Rz. …); Bergmann/Möhrle/Herb, Datenschutzrecht, 57. Ergänzungslieferung 2019 (zitiert: Bergmann/ Möhrle/Herb, Art./§ … Rz. …); BfDI, Info 1, DSGVO – BDSG, Texte und Erläuterungen, Stand: Juni 2019; Damann/Simitis, Datenschutzrecht, 9. Aufl. 2005 (zitiert: Damann/Simitis, § … Rz. …); Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 5. Aufl. 2016 (zitiert: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert/Bearbeiter, § … Rz. …); Däubler/Kittner/Klebe/Wedde (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz, 16. Aufl. 2018 (zitiert: Däubler/Kittner/ Klebe/Wedde/Bearbeiter, § … Rz. …); Däubler/Wedde/Weichert/Sommer, EU-DSGVO und BDSG-neu, Kompaktkommentar, 2018 (zitiert: Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); Eckert, IT-Sicherheit, 9. Aufl. 2014; Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Aufl. 2018 (zitiert: Ehmann/Selmayr/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Forgó/Helfrich/Schneider, Betrieblicher Datenschutz, 3. Aufl. 2019 (zitiert: Forgó/Helfrich/Schneider/Bearbeiter, Teil … Kap. … Rz. …); Gierschmann/Säugling (Hrsg.), Systematischer Praxiskommentar Datenschutzrecht, 2014 (zitiert: Gierschmann/Säugling/Bearbeiter, § … Rz. …); Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil, Kommentar Datenschutzgrundverordnung, 2018 (zitiert: Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Gola, Datenschutzgrundverordnung Kommentar, 2. Aufl. 2018 (zitiert: Gola/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 12. Aufl. 2015 (zitiert: Gola/Schomerus/Bearbeiter, § … Rz. …); Härting, Datenschutz-Grundverordnung, 2016; Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 4. Aufl. 2014 (zitiert: Heidel/Bearbeiter, Aktien- und Kapitalmarktrecht, § … Rz. …); Kazerni/Lenhard, Datenschutz und Datensicherheit in der Rechtsanwaltskanzlei, 2014; Kersten/Reuter/Schröder, IT-Sicherheitsmanagement nach ISO 27001 und Grundschutz, 4. Aufl. 2013; Korte/Romeike, MaRisk VA erfolgreich umsetzen, 2. Aufl. 2011; Knyrim, Der DatKomm, 38. Ergänzungslieferung 2019 (zitiert: DatKomm/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Kühling/Buchner, Datenschutzgrundverordnung/BDSG Kommentar, 2. Aufl. 2018 (zitiert: Kühling/Buchner/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); Kühling/Martini/Heberlein/Kühl/Nink/Weinzierl/Wenzel, Die Datenschutz-Grundverordnung und das nationale Recht, Erste Überlegungen zum innerstaatlichen Regelungsbedarf, 2016; Laue/Kremer, Das neue Datenschutzrecht in der betrieblichen Praxis, 2. Aufl. 2019 (zitiert: Laue/Kremer/Bearbeiter, § … Rz. …); LDA Brandenburg, Technische und organisatorische Aspekte des Datenschutzes, 4. Aufl. 2010; Moos/Schefzig/Arning, Die neue DatenschutzGrundverordnung mit Bundesdatenschutzgesetz 2018, 2018 (zitiert: Moos/Schefzig/Arning/Bearbeiter, Kap. … Rz. …); Paal/Pauly, Datenschutz-Grundverordnung Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2018 (zitiert: Paal/Pauly/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); Plath, BDSG Kommentar, 1. Aufl. 2013 (zitiert: Plath/Bearbeiter, 1. Aufl. 2013, § … Rz. …; Plath (Hrsg.), BDSG/DSGVO Kommentar, 3. Aufl. 2018 (zitiert: Plath/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); Schaffland/Wiltfang, Datenschutz-Grundverordnung, Lfg. 1/20 – I/20, 2019 (zitiert: Schaffland/Wildfang/ Bearbeiter, Art. … Rz. …); Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann, DSGVO und BDSG, 2. Aufl. 2018 (zitiert: Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht DSGVO mit BDSG Kommentar, 2019 (zitiert: Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Specht/Mantz, Handbuch Europäisches und deutsches Datenschutzrecht, 2019; Spiecker gen. Döhmann/Bretthauer, Dokumentation zum Datenschutz, Stand 75. Aufl. 2019; Sydow, Europäische Datenschutzgrundverordnung Handkommentar, 2. Aufl. 2018 (zitiert: Sydow/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Taeger/Gabel (Hrsg.),

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DSGVO Vor Rz. 1 Vorbemerkungen BDSG und Datenschutzvorschriften des TKG und TMG Kommentar, 2. Aufl. 2013 (zitiert: Taeger/Gabel/Bearbeiter, 2. Aufl. 2013, § … Rz. …); Taeger/Gabel, DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2019 (zitiert: Taeger/Gabel/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); Wolff/Brink, Datenschutzrecht in Bund und Ländern, 2013 (zitiert: Wolff/Brink/Bearbeiter, § … Rz. …); Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, 30. Ed. 2019 (zitiert: BeckOK DatenSR/Bearbeiter, Art./§ … Rz. …); Wybitul, Handbuch EU-Datenschutz-Grundverordnung, 2017 (zitiert: Wybitul/Bearbeiter, Art. … Rz. …).

I. Neuregelung des Datenschutzes durch die DSGVO; Überblick 1

Mit dem Inkrafttreten der EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)1 am 25.5.2018 ist die EUDatenschutzrichtlinie (DSRL)2 abgelöst und das europäische Datenschutzrecht nach zwei Jahrzehnten rasanter technologischer Entwicklung auf eine neue, modernere Grundlage gestellt worden.

2

Die DSGVO ist aufgeteilt in allgemeine Bestimmungen (Kapitel I), Grundsätze der Verarbeitung (Kapitel II), Betroffenenrechte (Kapitel III), Verhaltenspflichten für Verantwortliche und Auftragsverarbeiter (Kapitel IV), Regelungen zur Übermittlung in Drittländer (Kapitel V), Regelungen zur Aufsicht und zu Sanktionen (Kapitel VI-VIII), Spezialregelungen für bestimmte Verarbeitungssituationen (Kapitel IX) sowie Durchführungs- und Schlussbestimmungen (Kapitel X und XI).

3

Kommentiert werden im Folgenden die grundlegenden Bestimmungen zur Rechtmäßigkeit von Datenverarbeitungen (Art. 6 und Art. 9), zur Pflichtenstellung des Verantwortlichen (Art. 24), zur gemeinsamen Verantwortlichkeit (Art. 26), zur Auftragsverarbeitung (Art. 28), zur Weisungsbindung unterstellter Personen (Art. 29), zur Sicherheit der Datenverarbeitung (Art. 32) sowie zum Datentransfer in Drittstaaten (Art. 44–50).

II. Verhältnis zum neuen BDSG 4

Anders als die bloß harmonisierend wirkende RL, welche durch die Mitgliedstaaten noch in eigenes Recht umgesetzt werden musste, ist die VO unmittelbar anwendbar und führt damit zu einer echten Rechtsvereinheitlichung. Dieses Ziel wird jedoch nur unvollständig erreicht. Denn die DSGVO enthält eine Vielzahl von Regelungs- und Öffnungsklauseln,3 die den Mitgliedstaaten erhebliche Spielräume eröffnen, abweichendes Datenschutzrecht zu setzen oder bestehende nationale Gesetze fortgelten zu lassen. Neben der DSGVO gibt es daher in den Mitgliedstaaten weiterhin nationale Datenschutzgesetze.

5

Der deutsche Gesetzgeber hat zur Anpassung der nationalen Regelungen an die DSGVO ein neues Bundesdatenschutzgesetz (BDSG n.F.) erlassen.4 Dieses hat zeitgleich mit dem Inkrafttreten der DSGVO zum 25.5.2018 das bisherige, zuletzt 1990 grundlegend reformierte Bundesdatenschutzgesetz (BDSG a.F.) abgelöst.5 Es gilt für alle nicht-öffentlichen Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter, die personenbezogene Daten in Deutschland, durch eine deutsche Niederlassung oder sonst im Anwendungsbereich der DSGVO verarbeiten (§ 1 Abs. 4 Satz 2 BDSG n.F.). Unternehmen in Deutschland unterliegen damit sowohl der DSGVO als auch dem BDSG n.F.

6

Das Verhältnis beider Gesetze ist im Ausgangspunkt klar. Die DSGVO genießt als europäisches Recht Anwendungsvorrang. Soweit sie für einen Sachverhalt unmittelbar gilt, ist sie anzuwenden, das BDSG gilt nur subsidiär (§ 1 Abs. 5 BDSG n.F.). Verantwortliche sollten daher ihre Verarbeitungstätigkeit zunächst an den Vorgaben der DSGVO ausrichten. Ergänzend sind dann für die Verarbeitung im nichtöffentlichen Bereich die §§ 1–44 BDSG n.F. zu beachten. Im Wesentlichen betrifft dies konkretisieren1 VO (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG. 2 RL 95/46/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. EG 1995, L 281, 31. 3 Im Einzelnen Kühling/Martini et al., Die DSGVO und das nationale Recht, 2016, passim. 4 S. Art. 1 Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU (DSAnpUG-EU) vom 30.6.2017, BGBl. I 2017, 2097. 5 Art. 8 DSAnpUG-EU vom 30.6.2017, BGBl. I 2017, 2132.

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Art. 6 DSGVO

de Regelungen zur Verarbeitung sensibler Daten (§ 22 BDSG n.F.), zur Zweckänderung (§ 24 BDSG n.F.), zu den Betroffenenrechten (§§ 32–37 BDSG n.F.) sowie zu besonderen Verarbeitungssituationen, insb. der Verarbeitung von Beschäftigtendaten (§ 26 BDSG n.F.).6

Art. 6 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung (1) Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist: a) Die betroffene Person hat ihre Einwilligung zu der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere bestimmte Zwecke gegeben; b) die Verarbeitung ist für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist, oder zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen erforderlich, die auf Anfrage der betroffenen Person erfolgen; c) die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt; d) die Verarbeitung ist erforderlich, um lebenswichtige Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person zu schützen; e) die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde; f) die Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt. Unterabsatz 1 Buchstabe f gilt nicht für die von Behörden in Erfüllung ihrer Aufgaben vorgenommene Verarbeitung. (2) Die Mitgliedstaaten können spezifischere Bestimmungen zur Anpassung der Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung in Bezug auf die Verarbeitung zur Erfüllung von Absatz 1 Buchstaben c und e beibehalten oder einführen, indem sie spezifische Anforderungen für die Verarbeitung sowie sonstige Maßnahmen präziser bestimmen, um eine rechtmäßig und nach Treu und Glauben erfolgende Verarbeitung zu gewährleisten, einschließlich für andere besondere Verarbeitungssituationen gemäß Kapitel IX. (3) Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Absatz 1 Buchstaben c und e wird festgelegt durch a) Unionsrecht oder b) das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt. Der Zweck der Verarbeitung muss in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Absatz 1 Buchstabe e für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Diese Rechtsgrundlage kann spezifische Bestimmungen zur Anpassung der Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung enthalten, unter anderem Bestimmungen darüber, welche allgemeinen Bedingungen für die Regelung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung durch den Verantwortlichen gelten, welche Arten von Daten verarbeitet werden, welche Personen betroffen sind, an welche Einrichtungen und für welche Zwecke die personenbezogenen Daten offengelegt werden dürfen, welcher Zweckbindung sie unterliegen, wie lange sie gespeichert werden dürfen und welche Verarbeitungsvorgänge und -verfahren angewandt werden dürfen, einschließlich Maßnahmen zur Gewährleistung einer rechtmäßig und nach Treu und Glauben erfolgenden Ver6 Zum Beschäftigtendatenschutz nach der DSGVO Maier, DuD 2017, 169 ff., zur Regelung im BDSG n.F. Gola, RDV 2017, 25, 26 ff.

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DSGVO Art. 6 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung arbeitung, wie solche für sonstige besondere Verarbeitungssituationen gemäß Kapitel IX. Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen. (4) Beruht die Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nicht auf der Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer Rechtsvorschrift der Union oder der Mitgliedstaaten, die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Artikel 23 Absatz 1 genannten Ziele darstellt, so berücksichtigt der Verantwortliche – um festzustellen, ob die Verarbeitung zu einem anderen Zweck mit demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbar ist – unter anderem a) jede Verbindung zwischen den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten erhoben wurden, und den Zwecken der beabsichtigten Weiterverarbeitung, b) den Zusammenhang, in dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den betroffenen Personen und dem Verantwortlichen, c) die Art der personenbezogenen Daten, insbesondere ob besondere Kategorien personenbezogener Daten gemäß Artikel 9 verarbeitet werden oder ob personenbezogene Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten gemäß Artikel 10 verarbeitet werden, d) die möglichen Folgen der beabsichtigten Weiterverarbeitung für die betroffenen Personen, e) das Vorhandensein geeigneter Garantien, wozu Verschlüsselung oder Pseudonymisierung gehören kann. I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (Art. 6 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einwilligung (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 7 und 8) . . . . . . aa) Merkmale (Art. 4 Nr. 11) . . . . . (1) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . (2) Informierte Einwilligung . . . . . (3) Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . (4) Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . (bb) Bedingungen für die Einwilligung (Art. 7 ) . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Einwilligung eines Kindes im Online-Kontext (Art. 8) . . . . . .

. . . .

. . . .

1 1 2 5

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5

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8 9 10 15 16 17

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b) Vertrag mit der betroffenen Person (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b) . . . c) Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c; Abs. 2 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Lebenswichtige Interessen (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d) . . . . . . . . . . . . e) Öffentliches Interesse (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e; Abs. 2 und 3) . . . . f) Berechtigte Interessen (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f) . . . . . . . . . . . . 2. Zweckänderung (Art. 6 Abs. 4) . . . . . . . . a) Zweck und Systematik . . . . . . . . . . . . b) Einwilligung oder Rechtsgrundlage nach Art. 23 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vereinbarkeit des neuen Zwecks mit dem Erhebungszweck . . . . . . . . . . . . . . . d) Information der Betroffenen . . . . . . . .

27 33 37 38 39 51 51 58 60 68

Literatur: Albrecht, Das neue EU-Datenschutzrecht – von der Richtlinie zur Verordnung, CR 2016, 88; Art.-29Datenschutzgruppe, Leitlinien in Bezug auf die Einwilligung gemäß Verordnung 2016/769, WP 259 rev.01; Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), Abschlussbericht der Studie IT-Sicherheit für Industrie 4.0; Drewes, Dialogmarketing nach der DSGVO ohne Einwilligung der Betroffenen, CR 2016, 721; DSK, Orientierungshilfe der Aufsichtsbehörden für Anbieter von Telemedien, Stand März 2019; European Data Protection Board (EDPB), Guidelines 2/2019 on the processing of personal data under Article 6(1)(b) GDPR in the context of the provision of online service to data subjects, Version 2.0, 08.10.2019; Gierschmann, Was „bringt“ deutschen Unternehmen die GS-DVO?, ZD 2016, 51; Härting, Kopplungsverbot nach der DSGVO, ITRB 2017, 42; Jandt/Steidle, Datenschutz im Internet, 2018; Kazerni/Lenhard, Datenschutz und Datensicherheit in der Rechtsanwaltskanzlei, 3. Aufl. 2017; Kehr, Die neue Zahlungsdiensterichtlinie (PSD II): Regulatorische Erfassung „Dritter Zahlungsdienstleister“ und anderer Leistungsanbieter – Teil 1, CB 2016, 420; Oberbeck, Facebook Custom Audiences: Eine datenschutzrechtliche Bewertung, DSB 2015, 166; Räther/Seitz, Übermittlung personenbezogener Daten in Drittstaaten, MMR 2002, 425; Robrahn/Bremert, Interessenskonflikte im Datenschutzrecht, ZD 2018, 291; Roßnagel/Nebel/Richter, Was bleibt vom Europäischen Datenschutzrecht?, ZD 2015, 455; Schantz, Die Datenschutz-Grundverordnung – Beginn einer neuen Zeitrechnung im Datenschutzrecht, NJW 2016, 1841; Schmidl, Datenschutz für Whistleblowing-Hotlines, DuD 2006, 353; Voigt, Konzerninterner Datentransfer, CR 2017, 428; Wedde, Daten-

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Rz. 6 Art. 6 DSGVO

schutz in Arbeitsverhältnissen, AiB 2003, 285; Werkmeister/Schröder, BAG: Schriftliche Einwilligung des Arbeitnehmers für Foto oder Video auf Unternehmerwebsite, CR 2015, 453; Wisskirchen/Goebel, Arbeitsrechtliche Aspekte der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland (Off-Shoring), DB 2004, 1937; Ziegenhorn/von Heckel, Datenverarbeitung durch Private nach der europäischen Datenschutzreform, NVwZ 2016, 1585.

I. Allgemeines 1. Einführung Art. 6 ist die Zentralnorm der DSGVO zur Regelung der Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten. Wie im BDSG a.F. gilt ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (teils auch „Verbotsprinzip“ genannt).1 Für jede Verarbeitung muss daher entweder eine Einwilligung (Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a) vorliegen oder es müssen die Voraussetzungen mindestens eines der Erlaubnistatbestände erfüllt sein, die in Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b–f aufgelistet sind. Art. 6 entspricht weitgehend der Vorgängerregelung in Art. 7 DSRL.

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Art. 6 ist maßgeblich für die Bestimmung der Zulässigkeit jeglicher Verarbeitungshandlung. Der Begriff der Verarbeitung ist in Art. 4 Nr. 2 definiert und weit gefasst. Er schließt automatisierte wie manuelle Vorgänge und Vorgangsreihen im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten ein. Dies umfasst alle Arten des Erhebens und des Umgangs mit Daten bis zur Löschung.

2

Die Überschrift „Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“ ist eine leicht irreführende Vereinfachung, da Art. 6 nicht sämtliche Rechtmäßigkeitsanforderungen an die Verarbeitung enthält. Die Vorschrift regelt zwar das entscheidende „Ob“ der Verarbeitung, also deren Rechtsgrundlage. Für das „Wie“ kommen aber noch weitere Anforderungen aus anderen Regelungen der DSGVO hinzu. Hierzu zählen insb. die Grundsätze aus Art. 5 und einzelne Vorschriften, welche diese Grundsätze konkretisieren, etwa hinsichtlich der zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen (s. Art. 32).

3

Im Fall der Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten richtet sich die Zuläs- 4 sigkeit zusätzlich nach Art. 9. Bei Datentransfers in Drittstaaten sind auf der ersten Stufe die Voraussetzungen von Art. 6 und auf einer zweiten Stufe die besonderen Anforderungen nach Kapitel V zu prüfen (s. Art. 44 Rz. 6).

II. Norminhalt 1. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (Art. 6 Abs. 1) Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 lässt eine Verarbeitung nur zu, wenn mindestens eine von sechs Bedingungen erfüllt ist. Diese sechs Zulässigkeitstatbestände des Art. 6 stehen gleichrangig nebeneinander. Die Reihenfolge der Aufzählung drückt keine Präferenz des Gesetzgebers aus. Verantwortliche sind daher grundsätzlich nicht gehalten, in erster Linie eine Einwilligung nach Ziffer a. anzustreben oder nur bei Ausfallen aller anderen Tatbestände auf ein berechtigtes Interesse nach Buchst. f zurückzugreifen.2

5

Zum Teil wird allerdings unter Verweis auf Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) gefordert, Einwilligungen nur dann einzuholen, wenn die Verarbeitung nicht bereits durch einen anderen Erlaubnistatbestand gedeckt ist.3 Damit soll vermieden werden, Betroffenen eine Dispositionsfreiheit über die Datenverarbeitung vorzugaukeln, die tatsächlich nicht besteht, weil die Verarbeitung ohnehin ge-

6

1 Vgl. Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Albrecht, Einführung zu Art. 6 DSGVO Rz. 1; ablehnend zur Einordnung als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 2; ähnlich Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 2; kritisch zum Begriff „Verbotsprinzip“ hingegen Paal/Pauly/Frenzel, Art. 6 DSGVO Rz. 1. 2 Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 10. 3 Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 23; dies empfehlend auch Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 12.

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DSGVO Art. 6 Rz. 6 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung setzlich erlaubt ist.4 Der Rückgriff auf die Einwilligung könnte in diesem Fall den Transparenzgrundsatz verletzen und ist vereinzelt von Aufsichtsbehörden mit dieser Begründung geahndet worden.5 Gegen einen Verstoß spricht jedoch, dass der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 („mindestens eine“) die mögliche Parallelität von Zulässigkeitstatbeständen ausdrücklich vorsieht, ohne die Einwilligung hiervon auszunehmen.6 Auch Art. 17 Abs. 1 Buchst. b setzt die Möglichkeit eines Nebeneinander von Einwilligung und anderer Rechtsgrundlage voraus, indem er für den Falle des Widerrufs der Einwilligung eine Löschung nur verlangt, wenn es „an einer anderweitigen Rechtsgrundlage“ für die Verarbeitung fehlt. 7

Jedenfalls in den Fällen, wo das Eingreifen einer anderen Rechtsgrundlage unsicher ist – z.B. weil die Interessenabwägung nach Buchst. f nicht offensichtlich zugunsten des Verantwortlichen ausgeht – muss es daher nach hier vertretener Auffassung möglich sein, die beabsichtigte Verarbeitung durch eine Einwilligung zu rechtfertigen.7 a) Einwilligung (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 7 und 8)

8

Das Datenschutzrecht dient der Selbstbestimmung der von einer Datenverarbeitung betroffenen Personen. Die Einwilligung in die Verarbeitung ist unmittelbarer Ausdruck dieser Selbstbestimmung und damit der natürlichste Erlaubnistatbestand. aa) Merkmale (Art. 4 Nr. 11)

9

Die Anforderungen an eine wirksame Einwilligung ergeben sich in erster Linie aus der Definition in Art. 4 Nr. 11. Danach muss die Einwilligung freiwillig, in informierter Weise, für den konkreten Fall und unmissverständlich erfolgen. Bei der Auslegung sind ferner die ErwGr. 32, 33, 38, 42 und 43 sowie Art. 7 Abs. 4 heranzuziehen. (1) Freiwilligkeit

10

Zunächst muss die Einwilligung freiwillig erteilt werden (vgl. Art. 4 Nr. 11), d.h. ohne Zwang.8 Der Betroffene muss die Einwilligung verweigern oder zurückziehen können, ohne Nachteile zu erleiden (ErwGr. 42 Abs. 5). Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag, Einwilligungen bei signifikantem Ungleichgewicht zwischen Betroffenem und Verantwortlichem als Rechtsgrundlage auszuschließen und hierfür beispielhaft das Arbeitsverhältnis zu nennen, wurde im Gesetzgebungsverfahren verworfen.9 Es bleibt allerdings dabei, dass ein klares Ungleichgewicht für die Freiwilligkeit grundsätzlich schädlich ist, als typischen Fall nennt ErwGr. 43 Einwilligungen gegenüber einer Behörde.

11

Insofern bleibt die Freiwilligkeit auch bei Einwilligungen von Mitarbeitern ggü. dem Arbeitgeber problematisch. Nach früher verbreiteter Auffassung sollte die Asymmetrie in Arbeitsverhältnissen grundsätzlich die Freiwilligkeit ausschließen.10 Nach der Rspr. des BAG können Arbeitnehmer hingegen grundsätzlich über ihre personenbezogenen Daten disponieren.11 Es bedarf jedoch einer Prüfung im Einzelfall, ob es ggf. an der Freiwilligkeit fehlt, etwa weil die Arbeitnehmer bei Verweigerung

4 Vgl. zur Verarbeitung im Beschäftigungsverhältnis nach der alten Rechtslage Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 48, S. 3. 5 Vgl. Entscheidung der griechischen Aufsichtsbehörde Nr. 26/2019, abrufbar unter https://edpb.europa.eu. 6 Vgl. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 6 DSGVO Rz. 7. Die Art.-29-Datenschutzgruppe hatte dies zunächst anders gesehen, s. WP 259 (en), S. 22 („a processing activity for one specific purpose cannot be based on multiple lawful bases“). Sie hat diese Aussage aber in einer späteren Fassung entfernt, s. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 27. 7 Ähnlich Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 12. 8 Sydow/Ingold, Art. 4 DSGVO Rz. 175 und Art. 7 DSGVO Rz. 26 ff.; BeckOK DatenSR/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 127; Paal/Pauly/Ernst, Art. 4 DSGVO Rz. 69; vgl. Art. 2 Buchst. h DSRL. 9 Wybitul/Fladung/Pötters, Art. 7 DSGVO Rz. 5; Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 8. 10 Aufsichtsbehörde Hessen, 14. TB, LT-Drucks. 15/2950, 25; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 13. 11 BAG v. 11.12.2014 – 8 AZR 1010/13, CR 2015, 453 ff. m. Anm. Werkmeister/Schröder = ITRB 2015, 133; s. mit Blick auf § 4c Abs. 1 BDSG auch schon Wedde, AiB 2003, 285, 288; Wisskirchen/Goebel, DB 2004, 1937, 1942; Schmidl, DuD 2006, 353, 355.

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Rz. 14 Art. 6 DSGVO

der Einwilligung Sanktionen befürchten müssen. Mit dieser Maßgabe bleibt auch nach der DSGVO eine Einwilligung im Arbeitsverhältnis möglich12 (vgl. § 26 Abs. 2 BDSG). Die Freiwilligkeit der Einwilligung kann auch durch daran geknüpfte, sachfremde Anreize beeinträch- 12 tigt sein. So untersagte das BDSG a.F., einen Vertragsabschluss von der Einwilligung in Werbung abhängig zu machen, sofern kein anderer Zugang zu gleichwertigen vertraglichen Leistungen besteht (s. § 28 Abs. 3b BDSG a.F.). Umstritten war, ob und inwieweit dieses Verbot als Ausdruck eines allgemeinen Kopplungsverbots zu verstehen war.13 Art. 7 Abs. 4 entscheidet diese Frage zugunsten eines zwar nicht absoluten, aber doch weitgehenden Verbots der Kopplung vertraglicher Leistungen an sachlich dafür nicht erforderliche datenschutzrechtliche Einwilligungen.14 Während ErwGr. 43 isoliert betrachtet sogar auf ein allgemeines Kopplungsverbot hindeutet, verlangt der maßgebliche Normtext des Art. 7 Abs. 4 eine Wertung im Einzelfall, jedoch soll dabei der Tatsache der Kopplung „in größtmöglichem Umfang Rechnung getragen werden“. Die unnötige Kopplung eines Vertrages an eine datenschutzrechtliche Einwilligung ist danach ein starkes, wenngleich nicht zwingendes Indiz für deren Unwirksamkeit.15 Es muss keine Sonderkonstellation hinzutreten, wie etwa eine Monopolstellung des Verantwortlichen.16 Wann die Kopplung eines Vertragsschlusses an eine Einwilligung „nicht erforderlich“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 ist, ist keine triviale Frage, insoweit sind die Aufsichtsbehörden gefordert, Typisierungen und Kriterien zu entwickeln, um der Norm die gebotene Bestimmtheit zu verleihen.17 Zur (engen) Auslegung des Begriffs der „Erforderlichkeit für die Vertragserfüllung“ durch die Art.-29-Datenschutzgruppe s. Rz. 29. ErwGr. 43, der so autoritativ wie ein Artikel der Verordnung formuliert ist, dehnt den Gedanken des Kopplungsverbots unter bestimmten Umständen auch auf die en bloc eingeholte Einwilligung in mehrere Verarbeitungsvorgänge aus. Danach gilt eine Einwilligung als nicht freiwillig erteilt, wenn „zu verschiedenen Verarbeitungsvorgängen von personenbezogenen Daten nicht gesondert eine Einwilligung erteilt werden kann, obwohl dies im Einzelfall angebracht ist“. Umgekehrt gewendet muss die Einwilligung also eine angemessene Granularität aufweisen, was wiederum mit den Anforderungen der Bestimmtheit und Freiwilligkeit zusammenhängt.18 Auslegungshilfen zu der Frage, wann gesonderte Einwilligungen „angebracht“ sind, bietet die Verordnung selbst jedoch nicht und bleibt auch insoweit ein Musterbeispiel für mangelnde Normenklarheit.19 Verantwortliche tragen insofern das Risiko einer Fehlbeurteilung.

13

Nach Ansicht der Art.-29-Datenschutzgruppe ist ErwGr. 43 in Zusammenhang mit ErwGr. 32 zu lesen, so dass insb. bei Verfolgung mehrerer Zwecke gesonderte Einwilligungen einzuholen sind.20 So soll eine Einwilligung in die werbliche Nutzung einer E-Mail-Adresse von der Einwilligung in die Weitergabe innerhalb der Unternehmensgruppe getrennt werden.21 Für das konkrete Beispiel mag das zutreffen. Als allgemeiner Grundsatz ist ein so eng verstandenes Granularitätserfordernis allerdings zweifelhaft angesichts des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a, wonach die betroffene Person ihre Einwilligung „für einen oder mehrere bestimmte Zwecke“ geben kann. Dieser Wortlaut legt nicht nahe, dass die Einwilligung bei mehreren Zwecken stets in mehrere Einwilligungen aufzuspalten ist.22

14

12 Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 54. 13 Dafür Wolff/Brink/Wolff, § 28 BDSG Rz. 168. 14 Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 95; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/ Schwartmann/Klein, Art. 7 DSGVO Rz. 46 („kein absolutes Kopplungsverbot“); strenger Wybitul/Fladung/Pötters, Art. 7 DSGVO Rz. 15 („quasi allgemeines Kopplungsverbot“) und Dammann, ZD 2016, 307, 311 („im praktischen Ergebnis striktes Kopplungsverbot“). 15 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 10; einschränkend Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 98. 16 Vgl. Gierschmann, ZD 2016, 51, 54; a.A. Plath/Plath, Art. 7 DSGVO Rz. 19 (Kopplungsverbot nur für Monopolisten); dazu skeptisch Härting, ITRB 2017, 42, 43. 17 Umfassende Vorschläge hierzu machen Kühling/Buchner/Buchner/Kühling, Art. 7 DSGVO Rz. 46 ff. 18 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 11. 19 Vgl. Dammann, ZD 2016, 307, 311; Härting, ITRB 2017, 42, 43. 20 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 11. 21 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 12 (Beispiel 7). 22 Vgl. Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 20; Kühling/Buchner/Buchner/Kühling, Art. 7 DSGVO Rz. 62.

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DSGVO Art. 6 Rz. 15 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung (2) Informierte Einwilligung 15

Für eine informierte Einwilligung muss der Betroffene zuvor umfassend über Umfang und Zweck der Datenverarbeitung aufgeklärt werden. Unrichtig, unvollständig bzw. nicht rechtzeitig erteilte Informationen führen zur Unwirksamkeit der Einwilligung.23 Das daraus erwachsende Risiko bußgeldpflichtiger Verstöße kann der Verantwortliche durch möglichst detaillierte Hinweise gegenüber den Betroffenen verringern. Zu den erforderlichen Angaben gehören mindestens der Verantwortliche und der Zweck der Verarbeitung (ErwGr. 42 Abs. 4), die erhobenen und verwendeten Daten – sensible Daten sind ausdrücklich zu bezeichnen, vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. a – sowie bei Übermittlungen Informationen über den Empfänger und die dortigen Verarbeitungsvorgänge.24 Ggf., insb. im Beschäftigungsverhältnis, ist auch über negative Folgen der Verweigerung einer Einwilligung zu informieren.25 Mit Blick auf Art. 7 Abs. 3 Satz 3 ist der Betroffene zudem über die Widerruflichkeit der Einwilligung zu belehren (s. Rz. 22).26 Schließlich ist nach Treu und Glauben über besondere Risiken der Verarbeitung zu informieren; hierzu zählt die Verwendung der Daten für eine automatisierte Entscheidungsfindung (Art. 22 Abs. 2 Buchst. c) und eine Datenübermittlung in Drittstaaten ohne Angemessenheitsbeschluss und ohne geeignete Garantien gemäß Art. 46.27 Die weitergehenden Informationspflichten nach Art. 13 und 14 bleiben unberührt; ihre Erfüllung ist aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Einwilligung (s. Rz. 24).28 (3) Bestimmtheit

16

Nach der Vorgabe in Art. 4 Nr. 11 muss die Einwilligung ferner einen bestimmten Fall betreffen.29 Gemeint sind damit zunächst ein oder mehrere konkrete Verarbeitungsverfahren,30 so dass z.B. keine Pauschaleinwilligung in „sämtliche denkbaren Übermittlungen“ zulässig ist.31 Nach hier vertretener Auffassung ist es aber angesichts des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a nicht per se ausgeschlossen, Einwilligung auf mehrere bestimmte Zwecke zu erstrecken (s. Rz. 14).32 Unzulässig ist eine Einwilligung auf Vorrat.33 Bestimmt sein müssen neben dem Inhalt der Einwilligung auch Tragweite und Zweck (vgl. Rz. 15).34 (4) Eindeutigkeit

17

Schließlich ergibt sich aus Art. 4 Nr. 11, dass die Einwilligung unmissverständlich erteilt werden muss.35 23 Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 8; Kühling/Buchner/Buchner/Kühling, Art. 7 DSGVO Rz. 59; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 7 DSGVO Rz. 22; vgl. zu DSRL und BDSG a.F. Dammann/Simitis, EG-Datenschutzrichtlinie, Art. 2 Anm. 24; Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 431. 24 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 15; Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 58; Sydow/Ingold, Art. 7 DSGVO Rz. 35; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 7 DSGVO Rz. 23; Gola/Schulz, Art. 7 DSGVO Rz. 36; Wybitul/Fladung/Pötters, Art. 7 DSGVO Rz. 18. 25 Wybitul/Fladung/Pötters, Art. 7 DSGVO Rz. 18. 26 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 15; Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 58; Gola/Schulz, Art. 7 DSGVO Rz. 34. Vgl. aber Plath/Plath, Art. 7 DSGVO Rz. 16, der zweifelt, ob eine unterlassene Belehrung über das Widerrufsrecht zur Unwirksamkeit der Einwilligung führt. 27 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 15. 28 Düsseldorfer Kreis, Beschluss v. 13./14. September 2016; vgl. Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 8. 29 Vgl. zu DSRL und BDSG a.F. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 14: „für die konkrete Übermittlung oder eine bestimmte Kategorie von Datenübermittlungen“. 30 Sydow/Ingold, Art. 4 DSGVO Rz. 174. 31 Sydow/Ingold, Art. 7 DSGVO Rz. 39; Kühling/Buchner/Buchner/Kühling, Art. 4 Nr. 11 DSGVO Rz. 7; vgl. zu DSRL und BDSG a.F. HmbDSB, TB 2001/2002, S. 196; Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 431. 32 So auch Kühling/Buchner/Buchner/Kühling, Art. 7 DSGVO Rz. 62; a.A. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 11 f. 33 So zu DSRL und BDSG a.F. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 14; Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 431 Fn. 47. 34 BeckOK DatenSR/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 125. 35 Dazu Geis, NJW 1997, 288, 291; Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 431 f.

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Rz. 23 Art. 6 DSGVO

Wie schon die DSRL lässt auch die DSGVO bei der Einwilligung verschiedene Formen einschließlich 18 der elektronischen und der konkludenten Einwilligung zu.36 Gleichwohl ist dem Verantwortlichen eine schriftliche oder sonst fixierte Form der Information und der Einwilligung zu empfehlen, da er für beides die Beweislast trägt (Art. 7 Abs. 1).37 Dann entfällt das Problem, ggf. den Erklärungswert eines konkludenten Verhaltens der betroffenen Person bestimmen zu müssen.38 Bei der Verarbeitung von Beschäftigtendaten im Arbeitsverhältnis hat die Einwilligung nach § 26 Abs. 2 Satz 3 BDSG schriftlich oder elektronisch zu erfolgen, soweit nicht wegen besonderer Umstände eine andere Form angemessen ist. (bb) Bedingungen für die Einwilligung (Art. 7) Als Folge seiner Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 4) trägt der Verantwortliche die Beweislast für das Vorliegen einer sämtlichen Voraussetzungen genügenden Einwilligung (Art. 7 Abs. 11 und ErwGr. 42 Satz 1).39

19

Eine Einwilligung kann auch zusammen mit anderen Erklärungen schriftlich erteilt werden.40 Art. 7 20 Abs. 2 formuliert für diesen Fall jedoch hohe Anforderungen an die Transparenz. Neben einer klaren, einfachen und verständlichen Sprache muss das Ersuchen um Einwilligung klar von anderen Sachverhalten zu unterscheiden sein. Hierfür empfiehlt sich die schon bisher für Einwilligungen im Fließtext von AGB erforderliche Hervorhebung durch Fettdruck, Schriftart oder -größe, farbliche Gestaltung oder Umrahmung.41 Verstößt die schriftliche Einwilligungserklärung teilweise gegen die DSGVO, so können die übrigen Teile gleichwohl wirksam sein (Art. 7 Abs. 2 Satz 2); bei formularmäßigen Einwilligungen setzt dies nach der deutschen Rspr. voraus, dass die Bestimmungen sich inhaltlich und nach ihrem Wortlaut aus sich heraus verständlich in einen zulässigen und einen unzulässigen Regelungsteil trennen lassen.42

21

Ein Widerruf der Einwilligung ist jederzeit mit Wirkung für die Zukunft möglich (Art. 7 Abs. 3). Hie- 22 rauf sind die betroffenen Personen vorab hinzuweisen.43 Die Belehrung muss das Widerrufsrecht, die Modalitäten seiner Ausübung44 und – soweit nicht den Umständen nach damit zu rechnen ist – seine Wirkung umfassen.45 Der Widerruf muss zudem genauso einfach möglich sein wie die Einwilligung. Die Artikelüberschrift „Bedingungen für die Einwilligung“ spricht dafür, dass eine erschwerte Widerrufsmöglichkeit oder ein mangelhafter Hinweis auf die Widerrufbarkeit zur Unwirksamkeit der Einwilligung führt.46 Diese strenge Rechtsfolge erscheint allerdings nicht für jeden Verstoß gegen Art. 7 Abs. 3 angemessen. Bei nicht in Textform erteilten Einwilligungen könnten Verantwortliche zudem in Nachweisprobleme bezüglich des Hinweises auf das Widerrufsrecht geraten, die dann unmittelbar auf die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung durchschlagen würden. Vor diesem Hintergrund reduziert eine Dokumentation, die neben der Einwilligung auch den Hinweis auf das Widerrufsrecht umfasst, rechtliche Unsicherheiten.

36 Im Gegensatz dazu hatte das BDSG a.F. nur ausnahmsweise ein Abweichen von der Schriftform zugelassen), s. § 4a Abs. 1 Satz 3 BDSG a.F.; dazu Räther, DuD 2004, 468, 469; Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 431. 37 Sydow/Ingold, Art. 7 DSGVO Rz. 53; Gola/Schulz, Art. 7 DSGVO Rz. 60; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 7 DSGVO Rz. 19; vgl. zur DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 14. 38 Dazu Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 12. 39 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 v.01, S. 10; Gola/Schulz, Art. 7 DSGVO Rz. 60. 40 Gola/Schulz, Art. 7 DSGVO Rz. 44; vgl. zur DSRL BGH v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06, MMR 2008, 731, 733 – PayBack. 41 Sydow/Ingold, Art. 7 DSGVO Rz. 24; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 7 DSGVO Rz. 26; Gola/Schulz, Art. 7 DSGVO Rz. 44 f.; Vgl. zum BDSG a.F. Düsseldorfer Kreis, Orientierungshilfe zur datenschutzrechtlichen Einwilligungserklärung in Formularen, März 2016, S. 3. 42 BGH v. 16.7.2008 – VIII ZR 348/06, MMR 2008, 731, 735 m.w.N. – PayBack. 43 Dies meint der unglücklich platzierte Art. 7 Abs. 3 Satz 3; dazu Plath/Plath, Art. 7 DSGVO Rz. 16; Ehmann/ Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 88. 44 Ehmann/Selmayr/Heckmann/Paschke, Art. 7 DSGVO Rz. 88. 45 Vgl. Wybitul/Fladung/Pötters, Art. 7 DSGVO Rz. 24. 46 Vgl. Plath/Plath, Art. 7 DSGVO Rz. 11.

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23

DSGVO Art. 6 Rz. 24 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung 24

Nicht zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen der Einwilligung zählt nach Ansicht der deutschen Aufsichtsbehörden die Erfüllung der Informationspflichten nach Art. 13;47 unzureichende Hinweise sind allerdings ein eigenständiger Bußgeldtatbestand nach Art. 83 Abs. 5 Buchst. b.

25

Einwilligungserklärungen, die vor Inkrafttreten der DSGVO erteilt wurden, behalten nach ErwGr. 171 Abs. 3 ihre rechtfertigende Wirkung, sofern sie den Bedingungen der DSGVO entsprechen. Insb. das Kopplungsverbot nach Art. 7 Abs. 4 und das Mindestalter für Einwilligungen im Rahmen von OnlineDiensten gem. Art. 8 (dazu sogleich) können dabei einer Fortgeltung entgegenstehen.48 (cc) Einwilligung eines Kindes im Online-Kontext (Art. 8)

26

Anbieter von elektronischen Diensten für Kinder und Jugendliche – z.B. sozialen Netzwerken – müssen beachten, dass für die eigenhändige Erteilung der Einwilligung durch die Betroffenen nach Art. 8 Abs. 1 eine feste Altersgrenze gilt. Diese beträgt nach der DSGVO 16 Jahre, kann aber durch abweichende mitgliedstaatliche Vorschriften auf bis zu 13 Jahre gesenkt werden. b) Vertrag mit der betroffenen Person (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b)

27

Nach Buchst. b dürfen personenbezogene Daten verarbeitet werden, soweit dies zur Erfüllung eines Vertrags mit der betroffenen Person erforderlich ist. Ebenso ist die Verarbeitung zur Durchführung vorvertraglicher Maßnahmen auf Anfrage der betroffenen Person zulässig. Eine umfassende Abwägung mit entgegenstehenden schutzwürdigen Belangen der betroffenen Personen im Sinne einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung findet in diesen Fällen nicht statt.49 Allerdings ist die Erforderlichkeit normativ zu beurteilen, wobei die Interessen der Beteiligten und Betroffenen zu berücksichtigen sind (s. Rz. 28 ff.).50

28

Die Verarbeitung ist grundsätzlich nicht erforderlich, wenn ein milderes Mittel, also eine weniger stark in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingreifende Alternative besteht; dabei muss man aber bereits einschränken, ob das mildere Mittel dem Verantwortlichen auch zumutbar ist (vgl. ErwGr. 39). So kann ein Handelsunternehmen die bestellte Ware theoretisch auch selbst ausliefern, um die Weitergabe der Lieferanschriften der Kunden an einen Paketdienst zu vermeiden. Zumutbar ist diese Alternative jedoch nicht und steht damit der Erforderlichkeit der Adressübermittlung an Post- oder Paketdienste nicht entgegen.51 Im Übrigen ist bei Übermittlungen an Dritte ist im Rahmen der Erforderlichkeit jedoch stets die Möglichkeit der Pseudonymisierung zu prüfen (s. Art. 32 Rz. 31 ff.).

29

Die Art.-29-Datenschutzgruppe möchte den Begriff „erforderlich für die Erfüllung eines Vertrags“ ausdrücklich eng auslegen und verlangt eine direkte und objektive Verbindung zwischen der Verarbeitung und dem Zweck der Vertragserfüllung.52 Dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Verarbeitung und dem Vertragszweck bestehen muss, ist nicht zu bestreiten; allerdings sollte die Auslegung an die Erforderlichkeit nicht überspannt werden.53 Auch ist nicht allein auf die Notwendigkeit der Daten für eine zivilrechtliche Erfüllungshandlung, sondern in einem weiteren Sinne für die Durchführung des gesamten Vertrags abzustellen (einschließlich von Sekundäransprüchen, Nebenpflichten, 47 Düsseldorfer Kreis, Beschl. v. 13./14.9.2016, „Fortgeltung bisher erteilter Einwilligungen unter der DatenschutzGrundverordnung“. 48 Düsseldorfer Kreis, Beschl. v. 13./14.9.2016, „Fortgeltung bisher erteilter Einwilligungen unter der Datenschutz-Grundverordnung“; vgl. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 6 DSGVO Rz. 18-20. 49 Sydow/Reimer, Art. 6 DSGVO Rz. 20; Paal/Pauly/Frenzel, Art. 6 DSGVO Rz. 14; Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 16; Ziegenhorn/von Heckel, NVwZ 2016, 1585, 1588; vgl. zu § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG a.F. Kazemi/Lenhard, Datenschutz und Datensicherheit in der Rechtsanwaltskanzlei, Kap. M Rz. 26; a.A. BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 32. 50 Vgl. Wybitul/Pötters/Rauer, Art. 6 DSGVO Rz. 16; weitergehend BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 32 („umfassende Abwägung der gegenseitigen Interessen“). 51 Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 20; s. auch Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 9. 52 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 259 rev.01, S. 9. 53 BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 32; Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 38 („bei vernünftiger Würdigung … objektiv sinnvoll im Kontext des Vertragszwecks“).

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Rz. 35 Art. 6 DSGVO

der Vertragsbeendigung und nachvertraglicher Pflichten).54 Unter Buchst. b fällt somit die Verarbeitung der Kontaktdaten eines Kunden zur Abwicklung des Bestell- und Lieferprozesses, der Rechnungsstellung und von Reklamationen. Ein weiteres Beispiel ist der Transfer von individuellen Kundenwünschen an Fertigungsanlagen im Rahmen von Industrie 4.0.55 Nach der hier vertretenen Auffassung ist darüber hinaus nicht ausgeschlossen, dass auch Verarbeitungen, die den Vertragszweck bloß fördern, z.B. indem sie eine erhebliche Beschleunigung oder Verbesserung der Erfüllung oder kundenfreundlicheren, erweiterten Service ermöglichen, unter Umständen unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen noch als erforderlich angesehen werden können.56 Dies darf aber nicht überspannt werden; jedenfalls wenn andere Zwecke des Verantwortlichen verfolgt werden, ist die Grenze von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b überschritten und die Rechtfertigung kann nur über andere Tatbestände erfolgen, wie „berechtigte Interessen“ (Buchst. f) oder eine Einwilligung (Buchst. a). So kann bei einem Online-Dienst die Verarbeitung der Daten zur Personalisierung der Inhalte noch vom Vertragszweck gedeckt sein.57 Zu weit vom Vertragszweck entfernt, um für die Vertragserfüllung „erforderlich“ zu sein, sind aber beispielsweise Verarbeitungen zur allgemeinen Verbesserung der Dienste des Verantwortlichen, zur Betrugsprävention oder zur interessenbasierten Werbung.58 Auch die Berechnung von Kundenprofilen für Marketingzwecke fällt nicht unter Buchst. b, sondern unter Buchst. f (dazu Rz. 42).59

30

Bei der Erhebung von Daten zur Vertragserfüllung zu beachten sind im Fall der Direkterhebung die Informationspflichten nach Art. 13, bei der mittelbaren Erhebung die Informationspflichten nach Art. 14.

31

Zum Sonderfall der Datenübermittlung an Empfänger in Drittstaaten s. Art. 49 Abs. 1 Buchst. b (Rz. 9 ff.).

32

c) Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c; Abs. 2 und 3) Die Datenverarbeitung ist ferner zulässig, soweit sie zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung des Verantwortlichen erforderlich ist. „Erforderlich“ ist hier strenger zu verstehen als nach Buchst. b und an der Notwendigkeit zur Erfüllung der gesetzlichen Pflicht zu messen.60 Auf eine Abwägung mit den Interessen der betroffenen Personen kommt es nicht an. Der Verantwortliche muss aber, soweit ihm dies nach der rechtlichen Verpflichtung möglich ist, den Grundsatz der Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) beachten und ggf. anonyme oder pseudonyme Daten verwenden.61

33

Die Verpflichtung des Verantwortlichen muss sich aus dem Unionsrecht oder aus anwendbarem mitgliedstaatlichen Recht ergeben (Art. 6 Abs. 2 und ErwGr. 40). Die Erfüllung von nach dem Recht eines Drittstaats bestehenden Pflichten kann allenfalls ein berechtigtes Interesse gem. Buchst. f sein (s. Rz. 45 und Art. 48 Rz. 6).

34

Das mitgliedstaatliche Recht muss kein Parlamentsgesetz sein (ErwGr. 41), sondern umfasst auch Anordnungen in Form von Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsakten oder Urteilen; nicht gemeint ist aber wohl das von nicht-staatlichen Akteuren gesetzte Recht, wie Verträge, Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen.62

35

54 Vgl. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 6 DSGVO Rz. 49 m.w.N.; Däubler/ Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 6 DSGVO Rz. 27; BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 31 m.w.N. 55 Vgl. zu § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG a.F. BMWi, IT-Sicherheit für die Industrie 4.0, S. 53. 56 So auch Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 21; ähnlich BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 32; a.A. Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 6 DSGVO Rz. 22; Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 13. 57 EDPB, Guidelines 2/2019 (en), V2.0, Rz. 57. 58 EDPB, Guidelines 2/2019 (en), V2.0, Rz. 48, 50 und 52. 59 Vgl. Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 13. 60 BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 34; Paal/Pauly/Frenzel, Art. 6 DSGVO Rz. 16; Sydow/Reimer, Art. 6 DSGVO Rz. 28. 61 Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 17. 62 Sydow/Reimer, Art. 6 DSGVO Rz. 24; zweifelnd für Betriebsvereinbarungen auch Wybitul/Pötters/Rauer, Art. 6 DSGVO Rz. 22.

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DSGVO Art. 6 Rz. 36 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung 36

Nähere Anforderungen an die Rechtsgrundlage normiert Art. 6 Abs. 3. So muss diese den Zweck der Verarbeitung festlegen, ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Dies vorausgesetzt, eröffnet Art. 6 Abs. 3 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die näheren Anforderungen und Umstände der jeweiligen Verarbeitung mittels ihres nationalen Rechts näher zu bestimmen. d) Lebenswichtige Interessen (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. d)

37

Buchst. d stellt klar, dass die zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder eines Dritten erforderliche Datenverarbeitung stets erlaubt ist. Dies zielt auf Ausnahmefälle, in denen es um die körperliche Unversehrtheit oder das Leben von Personen geht (vgl. ErwGr. 112). Die Relevanz für die Unternehmenspraxis ist entsprechend gering.63 e) Öffentliches Interesse (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e; Abs. 2 und 3)

38

Buchst. e ist die Generalnorm für die Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen oder sonstige hoheitlich handelnde Verantwortliche. Das Nähere wird durch Unionsrecht oder mitgliedstaatliches Recht geregelt (s. Abs. 3 und dazu Rz. 34 f.). f) Berechtigte Interessen (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f)

39

Schließlich ist die Verarbeitung zulässig zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten (Buchst. f). In diesem Fall ist eine Abwägung mit den Interessen der betroffenen Personen erforderlich. Sofern die Interessen der betroffenen Personen nicht überwiegen, ist die Verarbeitung zulässig, allerdings besteht ein Widerspruchsrecht der betroffenen Personen nach Art. 21, auf das diese hinzuweisen sind (s. Rz. 49).

40

Auch wenn die Rechtfertigungstatbestände von Abs. 1 in keinem Rangverhältnis stehen und Buchst. f somit keinen Auffangtatbestand im eigentlichen Sinne darstellt,64 übernimmt er in der Praxis eine ähnliche Funktion.65 Er ist als Generalnorm entsprechend vage gehalten.66 Auch hier obliegt dem Verantwortlichen die ordnungsgemäße Rechtsanwendung, also insb., die von der Regelung geforderte Interessenabwägung mit Leben zu füllen. In der Unternehmenspraxis wird sich dies ohne Bestellung eines Datenschutzbeauftragten, der in die Prüfung sämtlicher Verarbeitungsvorgänge einbezogen wird, kaum angemessen umsetzen lassen.67 Die Beurteilung des Verantwortlichen ist behördlich und gerichtlich voll nachprüfbar.68

41

Nach den Erläuterungen zum berechtigten Interesse in ErwGr. 47 ist dieses weit zu verstehen. Es kann wirtschaftlicher, ideeller oder rechtlicher Natur sein.69 So kann sich ein berechtigtes Interesse des Verantwortlichen aus einer Kundenbeziehung oder einem Arbeitsverhältnis ergeben, jedoch ist eine solche Nähebeziehung keine notwendige Voraussetzung (ErwGr. 47 Abs. 2).

42

Als Beispielsfälle berechtigter Interessen nennt ErwGr. 47 ferner die Betrugsprävention und die Direktwerbung. Inwieweit zu dem letztgenannten Zweck eine Verarbeitung personenbezogener Daten zulässig ist, ist für deutsche Unternehmen nach dem Wegfall des sog. Listenprivilegs (§ 28 Abs. 3 BDSG a.F.) eine drängende Frage. Aus ErwGr. 47 und Art. 21 Abs. 2 lässt sich immerhin entnehmen, dass eine Profilbildung (auch „Profiling“, s. Art. 4 Nr. 4) für Zwecke der Direktwerbung auch weiterhin grundsätzlich zulässig ist, wenn die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen gewahrt sind und Ihnen ein Widerspruchsrecht eingeräumt wird.70 Ferner besteht nach ErwGr. 49 ein berechtigtes Interesse an der Gewährleistung der Netz- und Informationssicherheit, z.B. daran, den Zugang Unbefug63 64 65 66 67 68 69 70

58

Wybitul/Pötters/Rauer, Art. 6 DSGVO Rz. 27. Spiecker gen. Döhmann/Bretthauer, G 2.4.91; Robrahn/Bremert, ZD 2018, 291. Wybitul/Pötters/Rauer, Art. 6 DSGVO Rz. 30; Jandt/Steidle/Richter, Datenschutz im Internet, B II Rz. 54. Vgl. Roßnagel/Nebel/Richter, ZD 2015, 455, 457. Vgl. Paal/Pauly/Frenzel, Art. 6 DSGVO Rz. 28; Wybitul/Pötters/Rauer, Art. 6 DSGVO Rz. 65. Vgl. Paal/Pauly/Frenzel, Art. 6 DSGVO Rz. 28; Dammann, ZD 2016, 307, 312. DSK, Orientierungshilfe der Aufsichtsbehörden für Anbieter von Telemedien, S. 11. Drewes, CR 2016, 721, 725.

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Rz. 48 Art. 6 DSGVO

ter zu elektronischen Kommunikationsnetzen und die Verbreitung schädlicher Programmcodes zu verhindern sowie Denial-of-service-Angriffe (auch DoS-Attacken) und Schädigungen von Computerund elektronischen Kommunikationssystemen abzuwehren. Diese Interessen sind lediglich Beispiele, die aus Sicht der DSGVO jedoch also besonders bedeutsam betrachtet werden.71 Anbieter von Telemedien haben typischerweise vielerlei berechtigte Interessen zur Verarbeitung nutzerbezogener Daten wie IP-Adressen, Cookie-IDs oder Session-Identifier. Hierzu können die Bereitstellung besonderer Funktionalitäten (Warenkorb-Funktion), die freie Gestaltung der Website unter Effizienz- und Kostenerwägungen (z.B. Einbindung fremdgehosteter Inhalte, Nutzung von Content Delivery Networks (CDN), Web Fonts, Kartendiensten, Social Plugins), die Integrität und Sicherheit der Website, die Reichweitenmessung und statistische Analysen, die Optimierung und Personalisierung des jeweiligen Webangebots, die Wiedererkennung und Merkmalszuordnung der Nutzer (z.b. bei werbefinanzierten Angeboten) und der Ausschluss von Bot-Nutzung gehören.72

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Die DSGVO verzichtet zwar auf die Einführung eines sog. Konzernprivilegs (zur Auftragsverarbeitung im Konzern Art. 28 Rz. 44) für Datenübermittlungen innerhalb von Unternehmensgruppen, sie erkennt aber an, dass hieran jedenfalls für gruppeninterne Verwaltungszwecke ein berechtigtes Interesse bestehen kann.73 Dies gilt ausdrücklich auch für Mitarbeiter- und Kundendaten (ErwGr. 48). Bei Transfers in Drittstaaten sind zusätzlich die Voraussetzungen von Kapitel V zu beachten (dazu Art. 44 Rz. 9 ff.).

44

Ein berechtigtes Interesse besteht grundsätzlich auch an der Einhaltung von Verpflichtungen nach dem Recht eines Drittstaates, die den Verantwortlichen oder ein verbundenes Unternehmen treffen. Buchst. c greift in diesem Fall nicht ein (s. Rz. 34). Beispiele sind Offenlegungspflichten auf der Grundlage von Gesetzen zur Geldwäsche- oder Terrorismusprävention. Ein Interesse des Verantwortlichen an der Compliance mit solchen Anforderungen dürfte nur dann gänzlich fehlen, wenn diese dem hiesigen ordre public widersprechen. Allerdings ist hier eine besonders sorgfältige Abwägung zu treffen, bei der auch die Wertung von Art. 48 zu berücksichtigen ist (s. Art. 48 Rz. 6). Dieser schränkt die Übermittlung von Daten in Drittstaaten aufgrund dortiger behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen erheblich ein. Im Ergebnis wird dies häufig zur Unzulässigkeit der Übermittlung und damit ggf. zu einer für den Verantwortlichen unauflöslichen Pflichtenkollision führen. Ferner müssen für eine Übermittlung in Drittstaaten die Voraussetzungen von Kapitel V der DSGVO erfüllt sein (s. Art. 44–50).

45

Weit gefasst ist Buchst. f auch deshalb, weil das berechtigte Interesse in der Person des Verantwortlichen oder eines Dritten bestehen kann. Dies kann ein weiterer Verantwortlicher sein, an den die Daten übermittelt werden, aber auch eine sonstige Person, in deren Interesse die Verarbeitung stattfindet (etwa der Mandant eines Rechtsanwalts).74 Die Interessen des Dritten sind in gleicher Weise wie die des Verantwortlichen mit den Interessen der betroffenen Person abzuwägen.75

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Das berechtigte Interesse allein führt noch nicht zur Zulässigkeit der Verarbeitung nach Buchst. f. Die- 47 se setzt ferner voraus, dass die jeweilige Verarbeitung zur Wahrung des Interesses erforderlich ist und die Abwägung mit den Interessen der betroffenen Personen zugunsten des Verantwortlichen ausgeht. Im Rahmen der Interessenabwägung können u.a. die folgenden, aus den Erwägungsgründen abgeleiteten Kriterien herangezogen werden:76 die vernünftigen Erwartungen der betroffenen Personen (Vorhersehbarkeit, Transparenz), die Interventionsmöglichkeiten der betroffenen Personen (einfache Widerspruchsmöglichkeit; Einfluss auf den Umfang der Datenverarbeitung), die Verkettung von Daten, die beteiligten Akteure, die Dauer der Beobachtung oder sonstigen Verarbeitung, der Kreis der Betroffenen (z.B. besonders schutzwürdige Personen), die Datenkategorien und der Umfang der Datenverarbeitung. Sowohl bei der Bestimmung, ob ein berechtigtes Interesse vorliegt, als auch bei der anschließenden Abwägung soll nach ErwGr. 47 besonders berücksichtigt werden, ob eine Verarbeitung für diesen 71 72 73 74 75 76

BfDI, Info 1, S. 34. DSK, Orientierungshilfe der Aufsichtsbehörden für Anbieter von Telemedien, Stand März 2019, S. 11 f. Kehr, CB 2016, 420, 424; Voigt, CR 2017, 428, 429. Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 50. Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 26 DSGVO Rz. 27. DSK, Orientierungshilfe der Aufsichtsbehörden für Anbieter von Telemedien, Stand März 2019, S. 16.

Freund

59

48

DSGVO Art. 6 Rz. 48 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung Zweck für die betroffene Person zum Zeitpunkt der Datenerhebung vorhersehbar ist bzw. ob sie vernünftigerweise mit einer solchen Verarbeitung rechnen muss. Ferner sind Kinder hinsichtlich ihrer Privatsphäre besonders schutzbedürftig, so dass eine Verarbeitung ihrer Daten nach Buchst. f nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann. 49

Die betroffene Person kann der Verarbeitung ihrer Daten auf Grundlage von Buchst. f jederzeit widersprechen (Art. 21). Bei einer Verarbeitung zum Zweck der Direktwerbung, einschließlich eines damit zusammenhängenden Profilings, besteht das Widerspruchsrecht unbedingt (Art. 21 Abs. 2), sodass der Widerspruch nicht begründet werden muss und die Verarbeitung einzustellen ist. Im Übrigen setzt das Widerspruchsrecht aber voraus, dass die betroffene Person eine besondere Situation geltend macht, aufgrund derer die Abwägung in ihrem Fall gegen die Zulässigkeit der Verarbeitung spricht (Art. 21 Abs. 1). Der Widerspruch muss insofern konkret begründet werden und muss besondere individuelle Gründe enthalten, die über die in der allgemeinen Abwägung nach Buchst. f bereits berücksichtigten Kriterien hinausgehen.77 Dies kann z.B. eine besondere individuelle Gefahrensituation sein.78 Will der Verantwortliche trotz eines so begründeten Widerspruchs die Verarbeitung fortsetzen, muss er zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die auch die besonderen Interessen der betroffenen Person überwiegen (Art. 21 Abs. 1 Satz 2). Auf das Widerspruchsrecht muss die betroffene Person spätestens zum Zeitpunkt der ersten Kommunikation ausdrücklich hingewiesen werden (Art. 21 Abs. 4). Der Hinweis muss in einer von anderen Informationen getrennten Form erfolgen, z.B. durch eine drucktechnisch Hervorhebung (Rahmen oder Fettdruck).

50

Zur Drittlandsübermittlung vgl. auch Art. 49 Abs. 1 Buchst. c, der allerdings engere Voraussetzungen hat (s. Art. 49 Rz. 12 f.). 2. Zweckänderung (Art. 6 Abs. 4) a) Zweck und Systematik

51

Abs. 4 konkretisiert den Grundsatz der Zweckbindung, indem er regelt, wann der Zweck einer Weiterverarbeitung mit dem ursprünglichen Verarbeitungszweck vereinbar ist. Er beschreibt dazu eine Art Kompatibilitätstest zwischen dem neuen und dem alten Zweck.79

52

Die durch Art. 4 ausgestaltete Zweckbindung ist ein zentraler Grundsatz der DSGVO. Der Zweck einer Verarbeitung kann definiert werden als das erwartete Ergebnis, das beabsichtigt ist oder die geplanten Aktionen leitet.80 Personenbezogene Daten dürfen nur für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden; eine Weiterverarbeitung zu anderen Zwecken muss mit den ursprünglichen Zwecken vereinbar sein (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b). Diese Zweckbindung soll zum einen die sinnlose Verarbeitung von Daten verhindern, da die ziellose Anhäufung oder sonstige Verarbeitung von Daten ein potentielles Risiko für die Rechte der betroffenen Personen darstellt, dem kein rechtfertigendes, legitimes Nutzungsinteresse gegenübersteht. Zum anderen hat die Zweckbindung für Verarbeitungen eine begrenzende und einschränkende Funktion.

53

Umstritten ist, ob Abs. 4 über den Kompatibilitätstest hinaus auch einen eigenen Rechtfertigungstatbestand für Weiterverarbeitungen darstellt, die mit dem Ursprungszweck vereinbar sind. Dafür spricht ErwGr. 50 Satz 2, wonach mit dem Ursprungszweck vereinbare Weiterverarbeitungen keine andere Rechtsgrundlage erfordern als diejenige für die Erhebung der personenbezogenen Daten. Allerdings wird diese Passage des Erwägungsgrundes mit Recht als Redaktionsversehen eingeordnet.81 Denn das EU-Parlament hatte im Gesetzgebungsprozess darauf bestanden, dass auch eine Verarbeitung, die den Kompatibilitätstest besteht, nicht vom Rechtmäßigkeitserfordernis des Abs. 1 ausgenommen ist.82

77 78 79 80 81 82

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Plath/Kamlah, Art. 21 DSGVO Rz. 5 m.w.N. Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Däubler, Art. 21 DSGVO Rz. 10. Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 181; Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 48. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 16. Schantz, NJW 2015, 1841, 1844. Albrecht, CR 2016, 88, 92.

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Rechtmäßigkeit der Verarbeitung

Rz. 61 Art. 6 DSGVO

Überzeugender ist daher die Gegenansicht, wonach Abs. 4 keinen Rechtfertigungstatbestand ent- 54 hält und insofern unabhängig neben Abs. 1 steht.83 Beide Absätze betreffen nebeneinanderstehende Erfordernisse an die Verarbeitung, wobei Abs. 1 den Grundsatz der Rechtmäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) und Abs. 4 den Grundsatz der Zweckbindung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) ausgestaltet.84 Hierfür spricht auch der Wortlaut von Art. 1 und Abs. 4. Beide Absätze nehmen nicht aufeinander Bezug, und Abs. 4 spricht nicht davon, dass eine mit dem Ursprungszweck vereinbare Verarbeitung allein deswegen rechtmäßig wäre. Eine Weiterverarbeitung zu einem neuen Zweck fällt daher zunächst, wie jede Verarbeitung, unter das grundsätzliche Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und bedarf somit einer Rechtfertigung nach Abs. 1. Dabei mag es vorkommen, dass der die ursprüngliche Verarbeitung legitimierende Erlaubnistatbestand auch die Weiterverarbeitung zu dem geänderten Zweck rechtfertigt, weil sich die Weiterverarbeitung als Fortführung des ursprünglichen Verarbeitungszwecks verstehen lässt (dies wäre dann die in ErwGr. 50 Satz 2 beschriebene Situation).85 Ist dies nicht der Fall, so benötigt die Weiterverarbeitung eine neue, eigene Rechtsgrundlage.

55

Unabhängig von der gerade beschriebenen Prüfung der Rechtmäßigkeit verpflichtet Abs. 4 den Verant- 56 wortlichen, einen Kompatibilitätstest durchzuführen, um zu bestimmen, ob der die Weiterverarbeitung mit dem Zweck der ursprünglichen Verarbeitung vereinbar ist. Der Kompatibilitätstest ist wegen der Rechenschaftspflicht zu dokumentieren.86 Keines Kompatibilitätstests bedarf es, wenn die Weiterverarbeitung durch eine darauf bezogene Einwilligung oder durch eine Vorschrift aus dem Recht der Union oder eines Mitgliedstaats gedeckt ist.

57

b) Einwilligung oder Rechtsgrundlage nach Art. 23 Abs. 1 Die Prüfung der besonderen Voraussetzungen einer Zweckänderung ist entbehrlich, wenn eine Einwilligung der betroffenen Person für die Weiterverarbeitung zu dem neuen Zweck vorliegt. Es gelten die allgemeinen Anforderungen an die Einwilligung (dazu Rz. 8 ff.).87 Nicht gemeint ist der Fall, dass bereits die ursprüngliche Verarbeitung sich auf eine Einwilligung stützte. Sofern eine solche Einwilligung die Weiterverarbeitung zum geänderten Zweck nicht bereits mitumfasste, kann sie die Weiterverarbeitung auch nicht rechtfertigen, da sich die Einwilligung unmissverständlich auf die jeweiligen Verarbeitungszwecke beziehen muss. In diesem Fall bedarf es einer neuen Einwilligung in die geänderte Verarbeitung (oder einer anderen Rechtsgrundlage).

58

Ferner ist eine Zweckänderung nicht nach Art. 6 Abs. 4 zu prüfen, wenn eine Rechtsgrundlage nach Art. 23 Abs. 1, der insb. Zwecke der öffentlichen Sicherheit und der Rechtspflege betrifft, die Zweckänderung vorsieht. Es kommt dann nicht darauf an, ob der neue Verarbeitungszweck mit dem Ursprungszweck vereinbar ist (ErwGr. 50 Abs. 7).

59

c) Vereinbarkeit des neuen Zwecks mit dem Erhebungszweck Liegen die beiden vorgenannten Fälle nicht vor, so muss der Verantwortliche prüfen, ob die Verarbeitung zu dem neuen Zweck mit dem ursprünglichen Erhebungszweck vereinbar ist. Abzustellen ist auf den ursprünglichen Zweck, so dass bei mehrfacher Zweckänderung die zwischenzeitlichen Verarbeitungszwecke außer Betracht bleiben (anderenfalls wäre es möglich, unzulässige Zweckänderungen in kleinere zulässige Schritte aufzuteilen).

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Für die Beurteilung, ob Erhebungszweck und neuer Zweck vereinbar sind, werden in Art. 6 Abs. 4 Buchst. a–e einige Kriterien vorgegeben. Gleichwohl bleiben diese im Einzelnen unscharf und eröffnen ein weites Interpretationsfeld.88 Auch hier ist davon auszugehen, dass kein Beurteilungsspielraum zugunsten des Verantwortlichen geschaffen werden soll, sondern dass dessen Entscheidung gerichtlich

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83 84 85 86 87 88

Ehmann/Selmay/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 48. Vgl. Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 184. Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 48. Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 6 DSGVO Rz. 48. Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 179. Kritisch dazu Paal/Pauly/Frenzel, Art. 6 DSGVO Rz. 47.

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61

DSGVO Art. 6 Rz. 61 Rechtmäßigkeit der Verarbeitung uneingeschränkt überprüfbar ist und er mithin das volle Risiko trägt, dass der neue Zweck mit dem Erhebungszweck „unvereinbar“ und damit die Weiterverarbeitung unzulässig ist. 62

In der Beurteilung zu berücksichtigen ist zunächst „jede Verbindung“ zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Zweck (Art. 6 Abs. 4 Buchst. a). Der Wortlaut spricht dafür, dass eine Zweckänderung auch dann zulässig sein kann, wenn es an jeglicher inneren oder äußeren Verbindung zwischen den Zwecken fehlt (s. auch ErwGr. 50 Abs. 6: „prüfen, ob […] ein Zusammenhang […] besteht“). Allerdings wird die Verarbeitung umso eher zulässig sein, je näher die Zwecke miteinander zusammenhängen.89

63

Ferner ist der Erhebungskontext zu berücksichtigen, insb. das Verhältnis zwischen den betroffenen Personen und dem Verantwortlichen (Art. 6 Abs. 4 Buchst. b). Nach ErwGr. 50 kommt es dabei maßgeblich darauf an, welche Erwartungen die betroffenen Personen im Rahmen der Beziehung zum Verantwortlichen hinsichtlich der weiteren Verwendung ihrer Daten vernünftigerweise haben.90 Weiterverarbeitungen, die sozialadäquat oder zumindest üblich und vorhersehbar sind, sind danach eher zulässig als solche, mit denen vernünftigerweise nicht gerechnet werden muss.91 Hat der Verantwortliche bei der Erhebung darauf hingewiesen, dass die Daten unter keinen Umständen für andere Zwecke (etwa außerhalb der Vertragsbeziehung) verwendet werden, so wird eine Zweckänderung in der Regel unzulässig sein.92 Umgekehrt können nach Art. 13 und 14 im Zusammenhang mit der Erhebung erteilte Hinweise auf mögliche Weiterverarbeitungen (z.B. die Übermittlung im Rahmen einer Unternehmenstransaktion) tendenziell für die Zulässigkeit entsprechender Zweckänderungen sprechen.

64

Eine Zweckänderung ist ferner umso leichter möglich, je geringer der Schutzbedarf in Bezug auf die personenbezogenen Daten ist (Art. 6 Abs. 4 Buchst. c). Jedenfalls bei den formal „sensiblen“ Daten (Art. 9) und Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten (Art. 10) ist der Rechtfertigungsbedarf für Zweckänderungen entsprechend erhöht.93 Zu weiteren Datenarten mit erhöhtem Schutzbedarf s. Art. 32 Rz. 20 f.

65

Ferner muss der Verantwortliche die aus der beabsichtigten Weiterverarbeitung erwachsenden Folgen für die betroffenen Personen abschätzen (Art. 6 Abs. 4 Buchst. d). Hierzu empfiehlt sich eine Risikoanalyse (dazu ErwGr. 75 und Art. 32 Rz. 22 ff.).

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Die festgestellten Risiken können durch geeignete Garantien, also z.B. technisch-organisatorische Sicherheitsmaßnahmen zum Teil kompensiert werden (dazu Art. 32 Rz. 13 ff.). Die DSGVO nennt beispielhaft Pseudonymisierung und Verschlüsselung, mit deren Hilfe der Personenbezug der Daten abgeschwächt und damit regelmäßig Missbrauchsgefahr und Persönlichkeitsbeeinträchtigung verringert werden (dazu Art. 32 Rz. 30 ff.).

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Angesichts des von Abs. 4 eröffneten weiten Interpretationsspielraums und der Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 2) erweist sich eine auf sorgfältige Prüfung und Dokumentation von Zweckänderungen ausgerichtete interne Datenschutzorganisation unter Beteiligung des Datenschutzbeauftragten als notwendiges Element einer Compliance-Strategie für die DSGVO.94 d) Information der Betroffenen

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Unabhängig davon, ob Daten direkt oder von Dritten erhoben worden sind, besteht eine Pflicht zur Information der betroffenen Personen über eine beabsichtigte Zweckänderung, bevor diese durchgeführt wird (Art. 13 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 4 sowie ErwGr. 50 Abs. 8).

89 Sydow/Reimer, Art. 6 DSGVO Rz. 75. 90 Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 206; allein auf eine verobjektivierte Erwartungshaltung abstellend Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 138 und 145. 91 Gola/Schulz, Art. 6 DSGVO Rz. 206; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Klein, Art. 6 DSGVO Rz. 193. 92 Kühling/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 188; Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 138. 93 Vgl. Sydow/Reimer, Art. 6 DSGVO Rz. 75; Wybitul/Pötters/Rauer, Art. 6 DSGVO Rz. 53; Plath/Plath, Art. 6 DSGVO Rz. 140. 94 Vgl. BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rz. 69.

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Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten

Art. 9 DSGVO

Art. 9 Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten (1) Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt. (2) Abs. 1 gilt nicht in folgenden Fällen: a) Die betroffene Person hat in die Verarbeitung der genannten personenbezogenen Daten für einen oder mehrere festgelegte Zwecke ausdrücklich eingewilligt, es sei denn, nach Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten kann das Verbot nach Absatz 1 durch die Einwilligung der betroffenen Person nicht aufgehoben werden, b) die Verarbeitung ist erforderlich, damit der Verantwortliche oder die betroffene Person die ihm bzw. ihr aus dem Arbeitsrecht und dem Recht der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes erwachsenden Rechte ausüben und seinen bzw. ihren diesbezüglichen Pflichten nachkommen kann, soweit dies nach Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten oder einer Kollektivvereinbarung nach dem Recht der Mitgliedstaaten, das geeignete Garantien für die Grundrechte und die Interessen der betroffenen Person vorsieht, zulässig ist, c) die Verarbeitung ist zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person erforderlich und die betroffene Person ist aus körperlichen oder rechtlichen Gründen außerstande, ihre Einwilligung zu geben, d) die Verarbeitung erfolgt auf der Grundlage geeigneter Garantien durch eine politisch, weltanschaulich, religiös oder gewerkschaftlich ausgerichtete Stiftung, Vereinigung oder sonstige Organisation ohne Gewinnerzielungsabsicht im Rahmen ihrer rechtmäßigen Tätigkeiten und unter der Voraussetzung, dass sich die Verarbeitung ausschließlich auf die Mitglieder oder ehemalige Mitglieder der Organisation oder auf Personen, die im Zusammenhang mit deren Tätigkeitszweck regelmäßige Kontakte mit ihr unterhalten, bezieht und die personenbezogenen Daten nicht ohne Einwilligung der betroffenen Personen nach außen offengelegt werden, e) die Verarbeitung bezieht sich auf personenbezogene Daten, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat, f) die Verarbeitung ist zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen oder bei Handlungen der Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit erforderlich, g) die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich, h) die Verarbeitung ist für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- oder Sozialbereich oder für die Verwaltung von Systemen und Diensten im Gesundheits- oder Sozialbereich auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats oder aufgrund eines Vertrags mit einem Angehörigen eines Gesundheitsberufs und vorbehaltlich der in Absatz 3 genannten Bedingungen und Garantien erforderlich, i) die Verarbeitung ist aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie dem Schutz vor schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren oder zur Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gesundheitsversorgung und bei Arzneimitteln und Medizinprodukten, auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person, insbesondere des Berufsgeheimnisses, vorsieht, erforderlich, oder Freund

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DSGVO Art. 9 Rz. 1 Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten j) die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gemäß Artikel 89 Absatz 1 erforderlich. (3) Die in Absatz 1 genannten personenbezogenen Daten dürfen zu den in Absatz 2 Buchstabe h genannten Zwecken verarbeitet werden, wenn diese Daten von Fachpersonal oder unter dessen Verantwortung verarbeitet werden und dieses Fachpersonal nach dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats oder den Vorschriften nationaler zuständiger Stellen dem Berufsgeheimnis unterliegt, oder wenn die Verarbeitung durch eine andere Person erfolgt, die ebenfalls nach dem Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats oder den Vorschriften nationaler zuständiger Stellen einer Geheimhaltungspflicht unterliegt. (4) Die Mitgliedstaaten können zusätzliche Bedingungen, einschließlich Beschränkungen, einführen oder aufrechterhalten, soweit die Verarbeitung von genetischen, biometrischen oder Gesundheitsdaten betroffen ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbot der Verarbeitung (Art. 9 Abs. 1) . a) Besondere Kategorien von Daten . . . b) Kontextabhängige Auslegung . . . . . 2. Ausnahmen (Art. 9 Abs. 2) . . . . . . . . a) Ausdrückliche Einwilligung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. a) . . . . . . . . b) Rechtfertigung nach Arbeits- oder Sozialrecht (Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) . c) Schutz lebenswichtiger Interessen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) . . . . . . . .

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d) Verarbeitung in Tendenzvereinigungen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. d) . . . . . . . . . . e) Veröffentlichte Daten (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Geltendmachung und Verteidigung von Ansprüchen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. f) . . g) Erhebliches öffentliches Interesse (Art. 9 Abs. 2 Buchst. g) . . . . . . . . . . h) Individuelle Gesundheit (Art. 9 Abs. 2 Buchst. h, Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . i) Öffentliche Gesundheit (Art. 9 Abs. 2 Buchst. i) . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Archiv- und Forschungszwecke; Statistik (Art. 9 Abs. 2 Buchst. j) . . . . . . . . . . 3. Öffnungsklausel (Art. 9 Abs. 4) . . . . . . .

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Literatur: Schnabel, Datenschutz bei profilbasierten Location Based Services, in Hornung (Hrsg.), Rechtliche Herausforderungen der Industrie 4.0, 2017; Spranger/Schulz, Auswirkungen der Datenschutz-Grundverordnung auf die pharmazeutische Forschung, PharmR 2017, 128.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Die DSGVO führt den Ansatz der DSRL fort, eine Auswahl besonders persönlichkeitsrelevanter Datenarten herauszugreifen und den Umgang damit erhöhten Anforderungen zu unterwerfen.

2

Häufig werden diese Daten auch als sensibel bezeichnet (vgl. ErwGr. 51), wobei dies den Nachteil hat, dass aus dem Kontext oft nicht klar wird, ob gerade die in Art. 9 Abs. 1 genannten Kategorien gemeint sind oder allgemein erhöht schutzwürdige Daten (zu weiteren schutzwürdigen Datenarten s. Art. 32 Rz. 20 ff.). Leider verzichtet die DSGVO insoweit auf eine Begriffsdefinition und verwendet stattdessen die sperrige Bezeichnung „besondere Kategorien personenbezogener Daten gem. Art. 9“ (s. Art. 6 Abs. 4 Buchst. c). Die Entscheidung, erhöhte Verarbeitungsanforderungen nur für klar abgegrenzte Kategorien von Daten zu stellen, erhöht die Rechtssicherheit, bringt aber den Nachteil mit sich, dass andere Daten, die situationsabhängig ebenso schutzwürdig sein können, nicht unter besonderen Schutz gestellt werden.1

1 Vgl. BfDI, Info 1, BDSG mit Erläuterungen, 21. Aufl., S. 26.

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Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten

Rz. 8 Art. 9 DSGVO

Art. 9 erleichtert die Rechtsanwendung im Vergleich zum BDSG a.F. insoweit marginal, als nunmehr ein und dieselbe Vorschrift den Umgang mit sensiblen Daten sowohl durch nicht-öffentliche als auch öffentliche Stellen regelt.2 In Deutschland sind allerdings bei der Rechtsanwendung §§ 22 und 26 Abs. 3 BDSG n.F. hinzuzuziehen, welche die zahlreichen Öffnungsklauseln von Art. 9 ausfüllen und den Verantwortlichen dabei vorschreiben, zur Wahrung der Interessen der betroffenen Personen umfangreiche technisch-organisatorische Maßnahmen bzw. Regelungen zu treffen (§ 22 Abs. 2 BDSG n.F.).

3

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Art. 9 ist von zentraler Bedeutung für Verantwortliche, deren Geschäftsmodell die Verarbeitung von 4 besonderen Arten personenbezogener Daten umfasst, insb. Hersteller, Dienstleister und Leistungsträger im Medizin- und Gesundheitssektor. Auch hier geht die zunehmende Digitalisierung mit neuen Formen der IT-gestützten Verarbeitung zusammen (Stichworte: Digitalisierung des Gesundheitswesens, E-Health-Produkte, Datenerhebung durch patienteneigene Geräte, Fitnesstracker, Quantified Self, Big-Data-Analysen und sonstige Auswertungen von Gesundheitsdaten durch private IT-Dienstleister).3 Darüber hinaus fallen besondere Arten personenbezogener Daten fallen allerdings unvermeidlich auch im Rahmen der Tätigkeit anderer Organisationen an. So sind im Beschäftigungskontext notwendig gesundheitsbezogene Daten zur Fehlzeiten oder Daten zur Religionszugehörigkeit im Rahmen der Lohnabrechnung zu verarbeiten (s. dazu § 22 Abs. 2 BDSG).

II. Norminhalt 1. Verbot der Verarbeitung (Art. 9 Abs. 1) Für die in Abs. 1 genannten besonders sensiblen Daten gilt ein – im Vergleich zu Art. 6 Abs. 1 – noch strengeres Verarbeitungsverbot4 mit den in Abs. 2 formulierten Ausnahmen.

5

a) Besondere Kategorien von Daten Die Aufzählung der Kategorien übernimmt zunächst vollständig den entsprechenden Katalog der DSRL (und des BDSG a.F.). Besonders geschützt sind also personenbezogene Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie Gesundheitsdaten und Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung. Hinzu kommen die genetischen Daten sowie biometrische Daten zur eindeutigen Identifizierung; beide waren bisher nur teilweise erfasst, nämlich soweit es sich zugleich um Gesundheitsdaten handelt. Genetische Daten, biometrische Daten sowie Gesundheitsdaten sind in Art. 4 Nr. 13–15 näher definiert.

6

Danach sind Gesundheitsdaten personenbezogene Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen. ErwGr. 35 zeigt, dass der Begriff weit auszulegen ist und z.B. den früheren, gegenwärtigen und zukünftigen körperlichen und geistigen Gesundheitszustand, bloße Krankheitsrisiken, klinische Behandlungen sowie Nummern, Symbole und Kennzeichen erfasst, die einer Person zur Identifizierung für Gesundheitszwecke zugeordnet wurden (also Pseudonyme, dazu Art. 44 Rz. 16 ff.).

7

Genetische Daten sind personenbezogene Daten zu den ererbten oder erworbenen genetischen Eigen- 8 schaften einer natürlichen Person, die eindeutige Informationen über die Physiologie oder die Gesundheit dieser natürlichen Person liefern und insb. aus der Analyse einer biologischen Probe der betreffenden natürlichen Person gewonnen wurden; dies sind insb. Daten aus DNS-Analysen (ErwGr. 34).

2 Vgl. Wybitul/Steinhaus/Böhm, Art. 9 DSGVO Rz. 3. 3 Näher Specht/Mantz/Paschke, § 13 II. 4 Vgl. Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 5.

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DSGVO Art. 9 Rz. 9 Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten 9

Biometrische Daten sind mit speziellen technischen Verfahren gewonnene personenbezogene Daten zu den physischen, physiologischen oder verhaltenstypischen Merkmalen einer natürlichen Person, die die eindeutige Identifizierung dieser natürlichen Person ermöglichen oder bestätigen, wie Gesichtsbilder oder daktyloskopische Daten (d.h. Fingerabdrücke). ErwGr. 51 stellt klar, dass Foto- und Filmaufnahmen von Gesichtern hiervon grundsätzlich nicht erfasst werden, es denn, dass diese mit Methoden der automatisierten Gesichtserkennung verarbeitet werden. b) Kontextabhängige Auslegung

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Die gerade genannte Einschränkung in ErwGr. 51 verweist auf das grundsätzliche Problem einer objektiven, kontextunabhängigen Definition der besonderen Kategorien personenbezogener Daten. Durch diesen, im Wortlaut von Abs. 1 angelegten Ansatz werden bestimmte Daten per se besonders geschützt, obwohl sich ihre besondere Sensibilität eigentlich erst aus einer konkreten Verwendungsabsicht ergibt.5 In Verbindung mit den hohen Rechtfertigungsanforderungen nach Abs. 2 führt dies zu problematischen Ergebnissen, insb., wenn man zugleich eine weite, objektive Auslegung verfolgt, bei der personenbezogene Daten immer schon dann unter Art. 9 fallen, wenn sich die in Abs. 1 genannten Informationen, mit welchen Algorithmen und sonstigen Mitteln auch immer, daraus mit einiger Sicherheit – also statistisch – mittelbar ableiten lassen.6 Das insoweit auch die Ausgangsdaten grundsätzlich erfasst sein sollen, ergibt sich allerdings für die in Abs. 1 Halbs. 1 genannten Kategorien (rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen und Gewerkschaftszugehörigkeit) schon aus dem Wortlaut von Abs. 1 („aus denen … hervorgehen“).7 Es trifft aber nach richtiger Ansicht grundsätzlich auch auf für die in Halbs. 2 genannten Daten (Gesundheitsdaten, genetische Daten und biometrische Daten zur eindeutigen Identifizierung und Daten zur Sexualität) zu, so dass etwa die Kenntnis eines Arzt-Patientenverhältnisses grundsätzlich ein Gesundheitsdatum ist.

11

Ein strikt kontextunabhängiger Ansatz bei gleichzeitiger Erfassung aller denkbaren „Ausgangsdaten“ macht allerdings nicht nur Big-Data-Analysen weithin unmöglich (diese verfolgen meist berechtigte Interessen, die unter Art. 6 Abs. 1 Buchst. f. fallen, nicht aber unter Art. 9 Abs. 2).8 Er stellt auch viele alltägliche Verarbeitungen auf Grundlage von Art. 6 in Frage, bei denen sich nicht in zumutbarer Weise vermeiden lässt, dass in den Daten sensitive Informationen „versteckt“ sein können. Beispiele sind der Kauf einer Tageszeitung (politische Meinung),9 die Verarbeitung von Kontodaten durch eine Bank (Rückschlüsse etwa auf Gesundheit, Religion, politische Überzeugungen etc.), die Bereitstellung eines elektronischen Newsletters (die Empfänger könnten E-Mail-Adressen angeben, die Rückschlüsse auf sexuelle Orientierung, politische Ansichten etc. zulassen) oder überhaupt die Verarbeitung von Vor- und Nachnamen (bei den vielfache statistische Zusammenhänge zur Religionszugehörigkeit oder Herkunft bestehen) oder die Kommunikation mit natürlichen Personen (die Fähigkeit zur Beherrschung einer bestimmten Sprache kann Rückschlüsse auf die Herkunft erlauben, die Art des Ausdrucks und die Stimmmodulation mögen weitere sensible Informationen offenbaren).

12

Eine einschränkende Auslegung von Abs. 1 bei mittelbar sensiblen Daten ist daher geboten.10 Hierzu wird vorgeschlagen, dass eine auf die Kategorien von Abs. 1 bezogene Auswerteabsicht hinzukommen müsse.11 Dies ist aber wiederum zu eng und nimmt zu viele Fälle, in denen die Datenverarbeitung auch ohne zielgerichtete Auswertung auf sensible Merkmale die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen besonders gefährdet, aus dem Anwendungsbereich von Art. 9 aus. Richtigerweise 5 Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 6; Plath/Plath, Art. 9 DSGVO Rz. 3. 6 So Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 9 DSGVO Rz. 12; beschränkt auf die in Halbs. 1 genannten Daten Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 8. 7 Zweifelnd Plath/Plath, Art. 9 DSGVO Rz. 4. 8 Vgl. Schneider, ZD 2017, 303, 307. 9 Plath/Plath, Art. 9 DSGVO Rz. 4. 10 Plath/Plath, Art. 9 DSGVO Rz. 4; Schneider, ZD 2017, 303, 307; a.A. Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 9 DSGVO Rz. 12. 11 Gola/Schulz, Art. 9 DSGVO Rz. 13; a.A. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Jaspers/Schwartmann/ Mühlenbeck, Art. 9 DSGVO Rz. 32; Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 9 DSGVO Rz. 12; wohl auch Kühling/ Buchner/Weichert, Art. 9 DSGVO Rz. 24.

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Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten

Rz. 19 Art. 9 DSGVO

kommt es vielmehr darauf an, dass sich die konkrete Datenverwendung gegen den jeweiligen Schutzzweck der Regelung richtet.12 Die Beachtung des Verwendungszusammenhangs bei der Kategorisierung von Daten als sensibel wurde schon unter dem alten Recht vertreten.13 Dass dieser kontextbezogene Ansatz zur Bestimmung sensibler Daten unter Beachtung der konkreten Verarbeitungsvorgänge und des Verarbeitungszwecks im Einzelfall auch unter der DSGVO gilt, lässt sich u.a. mit dem Verweis auf ErwGr. 51 begründen (s. Rz. 9).14 2. Ausnahmen (Art. 9 Abs. 2) a) Ausdrückliche Einwilligung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. a) In konsequenter Achtung der aus dem Gedanken der informationellen Selbstbestimmung erwachsenden Dispositionsbefugnis der betroffenen Personen ist auch die Verarbeitung besonderer Kategorien auf Grundlage einer Einwilligung möglich. Die Einwilligung nach Buchst. a muss ausdrücklich erfolgen.15

13

Hinsichtlich der Form wird vertreten, dass mindestens eine elektronische Einwilligung vorliegen müsse, während eine mündliche Einwilligung mangels Nachweisbarkeit nach dem Schutzzweck nicht genügen soll.16 Dem ist entgegenzuhalten, dass sich auch eine mündliche Einwilligung beweisen lässt, z.B. durch Zeugen oder mittels Tonaufzeichnung. Zudem geht ein besonderes Formerfordernis für die Einwilligung in den Umgang mit sensiblen Daten weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik der DSGVO hervor. Eine mündliche, ausdrückliche Einwilligung genügt daher.17 Die Beweislast liegt allerdings beim Verantwortlichen.18

14

Im Übrigen gelten die allgemeinen Anforderungen an die Einwilligung nach Art. 4 Nr. 11 und Art. 7 (dazu Art. 6 Rz. 9 ff.). Für die Einwilligung im Beschäftigungsverhältnis ist ergänzend § 26 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 BDSG heranzuziehen.

15

b) Rechtfertigung nach Arbeits- oder Sozialrecht (Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) Buchst. b ermöglicht die Verarbeitung sensibler Daten im Rahmen des Arbeits- und Sozialrechts.

16

Die Datenverarbeitung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses vom Bewerbungsverfahrens bis zur Beendigung kann durch die Mitgliedstaaten näher geregelt werden (Art. 88 Abs. 1); der deutsche Gesetzgeber hat dies in § 26 Abs. 3 BDSG getan. Auch Regelungen in Kollektivvereinbarungen, zu denen Betriebsvereinbarungen zählen (ErwGr. 155), können die Verarbeitung von Beschäftigtendaten legitimieren und näher ausgestalten.

17

Ebenso ist es den Mitgliedstaaten überlassen, im Recht der sozialen Sicherheit einschließlich von 18 Renten die Verarbeitung von Gesundheitsdaten und anderen sensiblen Daten näher zu regeln (s. ErwGr. 52 Abs. 1). Eine nähere Regelung findet sich in § 22 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BDSG bzw. für das Arbeitsverhältnis in § 26 Abs. 3 BDSG. Der Unionsgesetzgeber hat Buchst. b als Öffnungsklausel gestaltet, dabei allerdings zur Voraussetzung 19 gemacht, dass die Mitgliedstaaten in ihrem Recht geeignete Garantien für die Grundrechte und Inte-

12 Kühling/Buchner/Weichert, Art. 9 DSGVO Rz. 23 f. 13 Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Jaspers/Schwartmann/Mühlenbeck, Art. 9 DSGVO Rz. 32; Kühling/ Buchner/Weichert, Art. 9 DSGVO Rz. 24; Schnabel, Datenschutz bei profilbasierten Location Based Services, S. 216 m.w.N. 14 Vgl. Schneider, ZD 2017, 303, 307 mit den allerdings ebenfalls naheliegenden systematischen Gegenargumenten. 15 Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 33; Wybitul/Steinhaus/Böhm, Art. 9 DSGVO Rz. 23; Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 14; Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 21. 16 Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 35. 17 Wie hier Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 14; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Jaspers/Schwartmann/Mühlenbeck, Art. 9 DSGVO Rz. 115; mit Empfehlung für schriftliche Fixierung Gola/Schulz, Art. 9 DSGVO Rz. 17; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 9 DSGVO Rz. 33. 18 Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 35.

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DSGVO Art. 9 Rz. 19 Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten ressen der Personen vorsehen.19 Der deutsche Gesetzgeber hat demgemäß in § 22 Abs. 2 BDSG die Verantwortlichen zu „angemessenen und spezifischen Maßnahmen“ zur Wahrung der Betroffeneninteressen verpflichtet und zur Erläuterung einen ausführlichen, wenngleich abstrakten Katalog beigefügt, der unter anderem die Anforderungen aus Art. 32 aufgreift. c) Schutz lebenswichtiger Interessen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) 20

In Notfällen können besondere Arten von Daten zum Schutz lebenswichtiger Interessen verarbeitet werden, sofern eine Einwilligung vom Betroffenen nicht erlangt werden kann (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c). Auch wenn dieses Erfordernis im Wortlaut nicht zum Ausdruck gekommen ist, muss nach einer – zur Vorgängerregelung der DSRL entwickelten – Auffassung von einer mutmaßlichen Einwilligung der betroffenen Person auszugehen sein.20 Dies ist konsequent, da die betroffene Person, wenn sie erreichbar wäre, nicht gezwungen wäre, ihre Einwilligung zu erteilen; ihr (mutmaßlicher) Wille ist dementsprechend auch in den Fällen von Buchst. c zu beachten. Insb. darf sie nicht, bevor sie in die Notlage geriet, der Verarbeitung ausdrücklich widersprochen haben.21

21

Anders ist es jedoch, wenn die betroffene Person und die von dem Notfall betroffene Person nicht identisch sind (Buchst. c Fall 2). In diesem Fall ist der Widerspruch gegen die Verarbeitung angesichts des höherrangigen Interesses an lebensrettenden Maßnahmen zugunsten des Dritten unbeachtlich, so dass es auf die mutmaßliche Einwilligung nicht ankommen kann.22 d) Verarbeitung in Tendenzvereinigungen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. d)

22

Buchst. d erlaubt die Datenverarbeitung durch nicht gewinnorientierte Tendenzvereinigungen, bei denen regelmäßig schon die Information über die Mitgliedschaft ein sensibles Datum darstellt. Die Verarbeitung ist auf die Daten der Mitglieder und regelmäßigen Kontaktpersonen beschränkt; eine Offenlegung nach außen erfordert die Einwilligung der betroffenen Personen. e) Veröffentlichte Daten (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e)

23

Nach Buchst. e dürfen sensible Daten, welche die betroffene Person offensichtlich selbst veröffentlicht hat, verarbeitet werden. Die Daten müssen also von der betroffenen Person in einem unzweideutigen, bewussten Willensakt einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis zugänglich gemacht worden sein. Dies kann bei Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken auch von den Privatsphäre-Einstellungen abhängen.23 Die Verarbeitungsbefugnis ist – wie schon in der DSRL – bedenklich weit geraten. Über die eigenhändige Veröffentlichung hinaus müssen schutzwürdige Interessen der betroffenen Person nach dem Wortlaut nicht geprüft werden. Damit fehlt ein Korrektiv, das etwa berücksichtigt, ob die beabsichtigte Form der Verarbeitung bei der Veröffentlichung vorhersehbar war oder besondere Gefahren für die betroffene Person mit sich bringt. Dies ist angesichts der zunehmenden unbedarften Bereitschaft vieler, auch sensible Daten über soziale Netzwerke oder vergleichbare Dienste zu veröffentlichen, nur schwer nachzuvollziehen. Die Tatbestandsmerkmale der Regelung sind vor diesem Hintergrund eng auszulegen. Genügt dies nicht, muss zur Wahrung der Interessen der Betroffenen notfalls auf die allgemeinen Verarbeitungsgrundsätze aus Art. 5 Abs. 1 zurückgegriffen werden, etwa auf die Verarbeitung nach Treu und Glauben.24

19 Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Jaspers/Schwartmann/Mühlenbeck, Art. 9 DSGVO Rz. 120; Sydow/ Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 17; Gola/Schulz, Art. 9 DSGVO Rz. 20. 20 Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 29; Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 21; in die Richtung auch BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 9 DSGVO Rz. 57. 21 Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 21. 22 Vgl. Wybitul/Steinhaus/Böhm, Art. 9 DSGVO Rz. 27; Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 42; a.A. Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 21, der auf die Erlaubnistatbestände der Art. 9 Abs. 2 Buchst. g, h und i verweist (die jedoch nicht in allen Fällen helfen). 23 Vgl. Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 45. 24 Vgl. in Wybitul/Steinhaus/Böhm, Art. 9 DSGVO Rz. 34 m.w.N.

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Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten

Rz. 28 Art. 9 DSGVO

f) Geltendmachung und Verteidigung von Ansprüchen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. f) Der Datenschutz soll nicht die Durchsetzbarkeit von Rechten und die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege infrage stellen. Daher lässt Buchst. f die Verarbeitung (auch) sensibler Daten zur Verfolgung rechtlicher Ansprüche zu. Dies umfasst die Vorbereitung25 auf oder die Teilnahme an rechtsförmlichen Verfahren, etwa vor Behörden oder Gerichten (vgl. ErwGr. 52).26 „Rechtsansprüche“ ist weit zu verstehen, erfasst sind solche des Privatrechts wie des öffentlichen Rechts.27

24

g) Erhebliches öffentliches Interesse (Art. 9 Abs. 2 Buchst. g) Unions- oder mitgliedstaatliche Vorschriften, die ein erhebliches öffentliches Interesse schützen, können Rechtsgrundlagen zur Verarbeitung sensibler Daten enthalten. Eine ähnliche Öffnungs- und Generalklausel enthält Art. 6 Abs. 1 Buchst. e für die Verarbeitung einfacher Daten im öffentlichen Interesse, demgegenüber muss das verfolgte Interesse bei sensiblen Daten „erheblich“ sein.28 Der unbestimmte Begriff des erheblichen öffentlichen Interesses wird in der DSGVO nicht definiert. Jedoch können die in ErwGr. 46 aufgeführten Interessen als Anhaltspunkt herangezogen werden, um die Schwelle der Erheblichkeit greifbarer zu machen.29

25

Auch wenn ein qualifiziertes öffentliches Interesse verfolgt werden muss, so eröffnet Buchst. g den Mitgliedstaaten doch einen erheblichen Gestaltungsspielraum.30 Denn solange die verfolgten Interessen erheblich sind, sind auf diese Generalklausel gestützte Gesetze nicht auf bestimmte Zwecke beschränkt.31 Ausgenommen sind nur die bereits vom Unionsgesetzgeber durch Buchst. a und b-f abschließend geregelten Bereiche; diesen Regelungen kommt insoweit eine Sperrwirkung zu.32

26

h) Individuelle Gesundheit (Art. 9 Abs. 2 Buchst. h, Abs. 3) Buchst. h betrifft den wichtigen Bereich der individuellen Gesundheitsmaßnahmen (s. auch § 22 27 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BDSG). Im Gesundheitswesen, wo routinemäßig sensibler Daten verarbeitet werden, würde es die Abläufe erheblich erschweren und die Erreichung gesundheitsbezogener Zwecke gefährden (vgl. ErwGr. 53), wenn über das Einverständnis in die Behandlung hinaus jede Datenverarbeitung nur mit Einwilligung zulässig wäre.33 Daher erkennt Buchst. h zum einen die rechtfertigende Wirkung von Verträgen mit Angehörigen eines Gesundheitsberufes an – z.B. Behandlungsverträge –, zum anderen enthält er eine Öffnungsklausel für weitere Rechtfertigungstatbestände im Unions- oder mitgliedstaatlichen Recht. Abs. 3 bildet mit Buchst. h eine einheitliche Regelung, die ohne ersichtlichen Grund aufgeteilt wurde.34 Abs. 3 stellt sicher, dass jegliche Verarbeitung auf Grundlage von Buchst. h nur durch schweigepflichtiges Fachpersonal erfolgt. Eine entsprechende Geheimhaltungspflicht kann sich aus Unionsrecht oder nationalem Recht ergeben (in Deutschland etwa § 203 StGB), einschließlich von berufsständischen Regelungen und Vorschriften sonstiger nach nationalem Recht zuständiger Stellen.35

25 Vgl. Gola/Schulz, Art. 9 DSGVO Rz. 29 („Ansprüche müssen nicht rechtshängig sein.“). 26 Wybitul/Steinhaus/Böhm, Art. 9 DSGVO Rz. 36; Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 47; BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 9 DSGVO Rz. 68. 27 Ehmann/Selmayr/Schiff, Art. 9 DSGVO Rz. 48. 28 Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 38; Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 36. 29 Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 36; Auernhammer/Greve, Art. 9 DSGVO Rz. 28 m.w.N. 30 Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 41; Auernhammer/Greve, Art. 9 DSGVO Rz. 28. 31 Mögliche Beispiele bei Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 39. 32 Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 41. 33 Paal/Pauly/Frenzel, Art. 9 DSGVO Rz. 41; in die Richtung auch BeckOK DatenSR/Albers/Veit, Art. 9 DSGVO Rz. 77. 34 Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 42. 35 Auernhammer/Greve, Art. 9 DSGVO Rz. 34; Sydow/Kampert, Art. 9 DSGVO Rz. 57; Spranger/Schulz, PharmR 2017, 128, 130.

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DSGVO Art. 9 Rz. 29 Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten i) Öffentliche Gesundheit (Art. 9 Abs. 2 Buchst. i) 29

Komplementär zur individuellen Gesundheit ermöglicht Buchst. i die Schaffung von Rechtsgrundlagen zur Förderung der öffentlichen Gesundheit, etwa zur Prävention gegen und Bekämpfung von Epidemien (s. § 22 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c BDSG). Der Begriff der öffentlichen Gesundheit ist i.S.d. VO 1338/2008/EG zu verstehen (ErwGr. 54 Abs. 3) und umfasst damit „alle Elemente im Zusammenhang mit der Gesundheit wie den Gesundheitszustand einschließlich Morbidität und Behinderung, die sich auf diesen Gesundheitszustand auswirkenden Determinanten, den Bedarf an Gesundheitsversorgung, die der Gesundheitsversorgung zugewiesenen Mittel, die Bereitstellung von Gesundheitsversorgungsleistungen und den allgemeinen Zugang zu diesen Leistungen sowie die entsprechenden Ausgaben und die Finanzierung und schließlich die Ursachen der Mortalität“. j) Archiv- und Forschungszwecke; Statistik (Art. 9 Abs. 2 Buchst. j)

30

Buchst. j ermöglicht die Datenverarbeitung im öffentlichen Interesse zu Archivzwecken, für die Statistik und für die wissenschaftliche und historische Forschung. Anforderungen an die Rechtsgrundlagen enthält Art. 89, Erläuterungen finden sich in den ErwGr. 156-162. 3. Öffnungsklausel (Art. 9 Abs. 4)

31

Die Verarbeitung von genetischen, biometrischen und Gesundheitsdaten kann durch mitgliedstaatliches Recht weiter beschränkt werden (Abs. 4). Beispiele für Beschränkungen aus dem deutschen Recht finden sich für die Verarbeitung genetischer Daten in §§ 7 ff. Gendiagnostikgesetz, für die Verarbeitung biometrischer Daten in § 16 Abs. 3 Satz 2 PassG sowie §§ 14 ff. PAuswG und für die Verarbeitung von Gesundheitsdaten in zahlreichen speziellen Regelungen des Sozial- und Gesundheitsdatenschutzes.

Art. 24 Verantwortung des für die Verarbeitung Verantwortlichen (1) Der Verantwortliche setzt unter Berücksichtigung der Art, des Umfangs, der Umstände und der Zwecke der Verarbeitung sowie der unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere der Risiken für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen geeignete technische und organisatorische Maßnahmen um, um sicherzustellen und den Nachweis dafür erbringen zu können, dass die Verarbeitung gemäß dieser Verordnung erfolgt. Diese Maßnahmen werden erforderlichenfalls überprüft und aktualisiert. (2) Sofern dies in einem angemessenen Verhältnis zu den Verarbeitungstätigkeiten steht, müssen die Maßnahmen gemäß Absatz 1 die Anwendung geeigneter Datenschutzvorkehrungen durch den Verantwortlichen umfassen. (3) Die Einhaltung der genehmigten Verhaltensregeln gemäß Artikel 40 oder eines genehmigten Zertifizierungsverfahrens gemäß Artikel 42 kann als Gesichtspunkt herangezogen werden, um die Erfüllung der Pflichten des Verantwortlichen nachzuweisen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verantwortlicher . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Technisch-organisatorische Maßnahmen zur Gewährleistung rechtmäßiger Verarbeitung (Art. 24 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3. Geeignete Datenschutzvorkehrungen (Art. 24 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 4. Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren (Art. 24 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Verantwortung des für die Verarbeitung Verantwortlichen

Rz. 4 Art. 24 DSGVO

Literatur: Kehr, Die neue Zahlungsdiensterichtlinie (PSD II): Regulatorische Erfassung „Dritter Zahlungsdienstleister“ und anderer Leistungsanbieter – Teil 1, CB 2016, 420; Lepperhoff, Dokumentationspflichten in der DSGVO, RDV 2016, 197; Veil, Accountability – Wie weit reicht die Rechenschaftspflicht der DS-GVO?, ZD 2018, 9.

I. Allgemeines 1. Einführung Art. 24 regelt ausweislich seiner sprachlich missglückten Überschrift die grundsätzliche Pflichtenstel- 1 lung des Verantwortlichen. Wer gemäß der Definition in Art. 4 Nr. 7 Verantwortlicher ist, ist Adressat gesetzlicher Verpflichtungen, Maßnahmen der Aufsichtsbehörde und von Betroffenenrechten.1 Tatsächlich beschränkt sich Art. 24 jedoch auf die Organisationspflicht, für eine rechtmäßige Verarbeitung zu sorgen (auch Datenschutz-Compliance)2. Diese war in ähnlicher Form in Art. 17 Abs. 1 DSRL enthalten. Ein Teilaspekt, nämlich die Gewährleistung der Datensicherheit, ist nun ausführlicher in dem zu Art. 24 streckenweise wortgleichen Art. 32 geregelt; insofern liegt eine unnötige Dopplung vor. Art. 24 stellt aber klar, dass der Verantwortliche nicht nur die Datensicherheit zu gewährleisten hat (wie auch der Auftragsverarbeiter nach Art. 28, 32), sondern darüber hinaus sicherstellen muss, dass die Verarbeitung materiell den Vorgaben der DSGVO entspricht. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Art. 24 gilt für jede Stelle, die in eigener Verantwortung personenbezogene Daten verarbeitet. Sie führt dem Verantwortlichen die erheblichen Organisationspflichten vor Augen, die angesichts der Grundsätze des Art. 5 – insb. der Grundsätze der Rechtmäßigkeit, der Integrität und Vertraulichkeit sowie der Rechenschaftspflicht – mit jeder Verarbeitung verbunden sind. Um den Anforderungen der DSGVO zu genügen, muss der Verantwortliche schon im Vorfeld der Verarbeitung eine Risikoanalyse durchführen und angemessene technisch-organisatorische Maßnahmen treffen, um die Rechtmäßigkeit und Datensicherheit zu gewährleisten und dieses auch nachweisen zu können.

2

II. Norminhalt 1. Verantwortlicher Die Begriffsdefinition des Verantwortlichen ist in Art. 4 Nr. 7 zu finden und entspricht derjenigen aus Art. 2 Buchst. d DSRL. Bei dem Verantwortlichen kann es sich um eine natürliche oder juristische Person, eine Behörde oder um jede andere Einrichtung oder andere Stelle handeln. Ausschlaggebend für den Status als Verantwortlicher ist, ob die jeweilige Stelle über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. Zum Zweck der Verarbeitung s. Art. 6 Rz. 52. Unter den Mitteln der Verarbeitung ist die tatsächliche Ausgestaltung der Durchführung der Verarbeitung zu verstehen, bzw. die „Art und Weise, wie ein Ergebnis oder Ziel erreicht wird“.3 Darunter fallen etwa die Methoden, um an Daten zu gelangen (z.B. Fragebögen im Internet, das Fotografieren mit einer Kamera oder die bloße mündliche Befragung), die zur Verarbeitung eingesetzte Hard- und Software sowie die Abfolge und konkrete Gestaltung der einzelnen Verarbeitungsschritte.

3

2. Technisch-organisatorische Maßnahmen zur Gewährleistung rechtmäßiger Verarbeitung (Art. 24 Abs. 1) Der Verantwortliche muss im Rahmen seiner datenschutzrechtlichen Organisationspflicht geeignete Maßnahmen implementieren, um sicherzustellen, dass die Verarbeitung sämtlichen Vorgaben der DSGVO entspricht. Dies umfasst zunächst die klassischen Maßnahmen der IT- bzw. Datensicherheit gem. Art. 32 (s. im Einzelnen dort). Art. 24 geht jedoch weiter. Während sich klassische Datensicher1 Vgl. Specht/Mantz/Mantz/Marosi, § 3 Rz. 19. 2 Auernhammer/Kramer/Meints, Art. 24 DSGVO Rz. 1. 3 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 16.

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DSGVO Art. 24 Rz. 4 Verantwortung des für die Verarbeitung Verantwortlichen heitsmaßnahmen auf die Schutzziele der Integrität, Vertraulichkeit und Verfügbarkeit der personenbezogenen Daten richten, fordert Art. 24 auch technisch-organisatorische Maßnahmen zur Einhaltung materieller Vorgaben der DSGVO. 5

Zu den somit von Art. 24 geforderten Maßnahmen gehören solche zur effektiven Umsetzung der Betroffenenrechte gemäß Kapitel III, wie etwa Formulare zur Information über die Datenerhebung, Zuweisung einer Zuständigkeit für Beschwerden und die Aufstellung und Umsetzung von Lösch- und Sperrkonzepten. Ferner zählt hierzu eine angemessene interne Datenschutzorganisation, z.B. durch Benennung eines Datenschutzbeauftragten (Art. 37–39), Integration der erforderlichen DatenschutzFolgenabschätzungen in die betrieblichen Innovationsprozesse (Art. 35 f.) und die Einführung eines Meldeprozesses für Datenschutzverletzungen (Art. 33).

6

Schließlich muss der Verantwortliche die Einhaltung der Verordnung jederzeit nachweisen können (Abs. 1 Satz 1), er trägt hierfür also in Verfahren die Darlegungs- und Beweislast.4 Dies ist eine Konkretisierung der in Art. 5 Abs. 2 statuierten Rechenschaftspflicht.5 3. Geeignete Datenschutzvorkehrungen (Art. 24 Abs. 2)

7

Aus sich heraus nicht verständlich ist der mit Abs. 2 eingeführte und nur dort verwendete Begriff „Datenschutzvorkehrungen“. Er ist jedenfalls nicht mit dem ähnlichen Begriff der „Sicherheitsvorkehrungen“ aus Art. 34 Abs. 3 Buchst. a gleichzusetzen,6 dort ist der Begriff wohl im natürlich-sprachlichen Sinne schlicht als Synonym für „Maßnahmen“ zu interpretieren.

8

Martini versteht unter „Datenschutzvorkehrungen“ Strategien,7 da im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen wurde, diese neben den in Abs. 1 genannten Maßnahmen als abstraktes organisatorisches Mittel verpflichtend vorzusehen.8 Daran ist richtig, dass Maßnahmen und Strategien zwingend zusammengehören und daher auch von der DSGVO beides gefordert wird (s. ErwGr. 78 Abs. 2). Denn Maßnahmen ohne Strategie wären blind, Strategie ohne Maßnahmen gegenstandslos. Zudem gehört es nach Art. 39 Abs. 1 Buchst. b zu den Aufgaben eines Datenschutzbeauftragten, die Datenschutz-Strategien des Verantwortlichen zu überwachen. Daraus ergibt sich, dass der Verantwortliche ein umfassendes Datenschutz-Compliance-Management zu installieren hat.9

9

Nach richtiger Ansicht meint „Datenschutzvorkehrungen“ jedoch nicht bloße Strategien oder Planungen, sondern ganz konkret die internen Richtlinien (Policies) zum Umgang mit personenbezogenen Daten, also z.B. IT- oder Datenschutzrichtlinien.10 Dafür spricht schon der Wortlaut von Abs. 2, wonach die Datenschutzvorkehrungen ein Unterfall der Maßnahmen nach Abs. 1 sind, also etwas Konkretes. Ferner ergibt sich dieses Verständnis ganz eindeutig aus dem Vergleich mit anderen Sprachfassungen des Art. 24.11 4 BeckOK DatenSR/Schantz, Art. 5 DSGVO Rz. 39; Ehmann/Selmayr/Heberlein, Art. 5 DSGVO Rz. 32; Gola/Pötters, Art. 5 DSGVO Rz. 34; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 24 DSGVO Rz. 20; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Roßnagel, Art. 5 DSGVO Rz. 186; Taeger/Gabel/Lang, Art. 24 DSGVO Rz. 65; Kehr, CB 2016, 420, 424; a.A. Sydow/Reimer, Art. 5 DSGVO Rz. 53 („reine Nachweispflicht, keine Beweislastumkehr“); ebenso Veil, ZD, 2018, 9, 16 (Beweislastumkehr „rechtsstaatlich nicht zu begründen“); differenzierend zwischen Bußgeld-/ Strafverfahren und materiellrechtl. Prozessen Taeger/Gabel/Voigt, Art. 5 DSGVO Rz. 41. 5 Zu den Dokumentationspflichten im Einzelnen Paal/Pauly/Frenzel, Art. 5 DSGVO Rz. 52; Kühling/Buchner/ Herbst, Art. 5 Rz. 80; Taeger/Gabel/Voigt, Art. 5 DSGVO Rz. 42; ausf. Lepperhoff, RDV 2016, 197 ff. 6 So auch Plath/Plath, Art. 24 DSGVO Rz. 23. 7 Paal/Pauly/Martini, Art. 24 DSGVO Rz. 39. 8 Vgl. Art. 22 Abs. 1 DSGVO-E (Kommission) und Art. 22 Abs. 1 DSGVO-E (Parlament). 9 Auernhammer/Kramer/Meints, Art. 24 DSGVO Rz. 18. 10 Plath/Plath, Art. 24 DSGVO Rz. 23 fasst unter Policies auch „externe Unternehmensrichtlinien“. Gemeint sind wohl Gruppenrichtlinien oder Vereinbarungen mit Dritten zum Datenschutz. Diese kommen allerdings nur dann als Datenschutzvorkehrung i.S.v. Art. 24 Abs. 2 in Betracht, wenn sie durch unternehmensinterne Weisungen umgesetzt werden. 11 S.iehe z.B. Art. 24 Abs. 2 auf Englisch („policies“), Französisch („politiques“) oder italienisch („politiche“); so nun im Ausgangspunkt auch Paal/Pauly/Martini, Art. 24 DSGVO Rz. 39, der allerdings aus diesen Formulierungen weiterhin den in Art. 24 bewusst nicht (mehr) verwendeten Begriff „strategies“ herausliest. Vgl. BeckOK DatenSR/Schmidt/Brink, Art. 24 DSGVO Rz. 26; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 24 DSGVO Rz. 21; Simitis/Hoernung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 24 DSGVO Rz. 22; Taeger/Gabel/Lang, Art. 24 DSGVO

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Gemeinsam Verantwortliche

Art. 26 DSGVO

Datenschutzvorkehrungen, also Datenschutz-Richtlinien, sind nur einzuführen, sofern (lies: soweit) dies im Verhältnis zur Verarbeitungstätigkeit angemessen ist. Ein gänzlicher Verzicht auf dokumentierte interne Richtlinien wird allenfalls für Kleinstunternehmen vertretbar sein. Im Regelfall setzt eine ordnungsgemäße Datenschutzorganisation verbindliche interne Vorgaben voraus, die im Rahmen der Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1) nachzuweisen und dafür in Form von Richtlinien zu verschriftlichen sind. Der Maßstab der Verhältnismäßigkeit richtet sich im Einzelnen nach Abs. 1, d.h. die dort aufgezählten Faktoren sind zu berücksichtigen.12 Je nach Art, Umfang und Komplexität der Verarbeitungsabläufe und abhängig von den damit verbundenen Risiken sind danach mehr oder weniger detaillierte Richtlinien aufzustellen. Neben allgemeingültigen Richtlinien (z.B. Richtlinien zum allgemeinen Datenschutz, zum Verhalten bei Datenschutz-Verletzungen, zur Aufbewahrung und Löschung personenbezogener Daten) sind je nach Tätigkeitsbereich auch gezielte Arbeitshilfen und Handlungsanweisungen für einzelne Fachbereiche notwendig (z.B. für die Kundenbetreuung, die ITEntwicklungsabteilung etc.).

10

4. Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren (Art. 24 Abs. 3) Die DSVGO verzichtet in vielen Bereichen auf allzu detaillierte Vorgaben und setzt stattdessen auf eine 11 gesteuerte Selbstregulierung. Zentrales Instrument hierzu sind die in Art. 40 geregelten genehmigten Verhaltensregeln, die von Verbänden und anderen Vereinigungen von datenverarbeitenden Unternehmen ausgearbeitet werden sollen. Ziel ist, die zahlreichen offenen Rechtsbegriffe der DSGVO auf klare Handlungsrichtlinien herunterzubrechen, die an branchenspezifische Anforderungen und die Bedürfnisse von Unternehmen unterschiedlicher Größe angepasst sind. Ferner sind in Art. 42 Verfahren vorgesehen, nach denen Aufsichtsbehörden oder akkreditierte Zertifizierungsstellen Datenschutzsiegel und -prüfzeichen zum Nachweis der Konformität mit den Anforderungen der DSGVO verleihen.

Art. 26 Gemeinsam Verantwortliche (1) Legen zwei oder mehr Verantwortliche gemeinsam die Zwecke der und die Mittel zur Verarbeitung fest, so sind sie gemeinsam Verantwortliche. Sie legen in einer Vereinbarung in transparenter Form fest, wer von ihnen welche Verpflichtung gemäß dieser Verordnung erfüllt, insbesondere was die Wahrnehmung der Rechte der betroffenen Person angeht, und wer welchen Informationspflichten gemäß den Artikeln 13 und 14 nachkommt, sofern und soweit die jeweiligen Aufgaben der Verantwortlichen nicht durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten, denen die Verantwortlichen unterliegen, festgelegt sind. In der Vereinbarung kann eine Anlaufstelle für die betroffenen Personen angegeben werden. (2) Die Vereinbarung gemäß Absatz 1 muss die jeweiligen tatsächlichen Funktionen und Beziehungen der gemeinsam Verantwortlichen gegenüber betroffenen Personen gebührend widerspiegeln. Das Wesentliche der Vereinbarung wird der betroffenen Person zur Verfügung gestellt. (3) Ungeachtet der Einzelheiten der Vereinbarung gemäß Absatz 1 kann die betroffene Person ihre Rechte im Rahmen dieser Verordnung bei und gegenüber jedem einzelnen der Verantwortlichen geltend machen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 5

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verantwortliche (Art. 26 Abs. 1 Satz 1) . . . .

7 7

2. Zwei oder mehr (Art. 26 Abs. 1 Satz 1) . 3. Gemeinsames Festlegen der Zwecke und Mittel der Verarbeitung (Art. 26 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gemeinsame Entscheidung . . . . . . b) Einfluss auf die Verarbeitung . . . . .

. . .

9

. . . 12 . . . 12 . . . 16

Rz. 72; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 24 DSGVO Rz. 14. Für ein Verständnis als technisch-organisatorische Maßnehmen Gola/Piltz, Art. 24 DSGVO Rz. 58. 12 So auch Paal/Pauly/Martini, Art. 24 DSGVO Rz. 42.

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DSGVO Art. 26 Rz. 1 Gemeinsam Verantwortliche c) Kumulatives Festlegen von Zweck und Mitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Übereinstimmung bzw. Konnexität der Zwecke und Mittel . . . . . . . . . . . . . . e) Grad der Mitbestimmung . . . . . . . . . . f) Betrachtung der einzelnen Verarbeitungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vereinbarung zwischen den gemeinsam Verantwortlichen (Art. 26 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zweck und Wirkung . . . . . . . . . .

21 24 29 35 38 38 38

bb) Regelungsinhalt . . . . . . . . . . . cc) Beschreibung der Funktionen und Beziehungen der Verantwortlichen in transparenter Form . . . . . . . dd) Zurverfügungstellen des wesentlichen Inhalts . . . . . . . . . . . . ee) Form der Vereinbarung . . . . . . . b) Verantwortlichkeit und Haftung . . . . c) Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

42

. .

46

. . . .

. . . .

49 53 54 58

III. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . .

59 61

Literatur: Art.-29-Datenschutzgruppe, Stellungnahme 1/2010 zu den Begriffen „für die Verarbeitung Verantwortlicher“ und „Auftragsverarbeiter“, WP 169; Art.-29-Datenschutzgruppe, Leitlinien für Transparenz gemäß der Verordnung 2016/769, WP 260 rev.01; Bechtolf/Vogt, Datenschutz in der Blockchain – Ein Frage der Technik, ZD 2018, 66; Datenschutzkonferenz der Länder (DSK), Auftragsverarbeitung, Kurzpapier Nr. 13, Stand 17.12.2018; Datenschutzkonferenz der Länder (DSK), Gemeinsam für die Verarbeitung Verantwortliche, Kurzpapier Nr. 16, Stand 19.3.2018; Dovas, Joint Controllership – Möglichkeiten oder Risiken der Datennutzung?, ZD 2016, 512; EDPS, Guidelines on the concepts of controller, processor and joint controllership under Regulation (EU) 2018/1725; Janicki/Saive, Privacy by Design in Blockchain-Netzwerken, Verantwortlichkeit und datenschutzkonforme Ausgestaltung von Blockchains, ZD 2019, 251; Jung/Hansch, Die Verantwortlichkeit in der DS-GVO und ihre praktischen Auswirkungen, ZD 2019, 143; Hanloser, Keine gemeinsame Verantwortlichkeit für Datenspeicherung durch Facebook – Fashion ID, ZD 2019, 455; Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 6. Aufl. 2019 (zitiert: jurisPK-Internetrecht/Bearbeiter, Kap. … Rz. …); Kartheuser/Nabulsi, Abgrenzungsfragen bei gemeinsam Verantwortlichen, MMR 2018, 717; Kollmar, Umfang und Reichweite gemeinsamer Verantwortlichkeit im Datenschutz, NVwZ 2019, 1740; Kremer, Gemeinsame Verantwortlichkeit: Die neue Auftragsverarbeitung?, CR 2019, 225; Kunnert, Das Aus für Social-/Media-Plug-ins?, DuD 2019, 257; Lee/Cross, (Gemeinsame) Verantwortlichkeit beim Einsatz von Drittinhalten auf Websites, MMR 2019, 559; Lezzi/Oberlin, Gemeinsam Verantwortliche in der konzerninternen Datenverarbeitung, ZD 2018, 398; Marosi/Matthe, 1. Anm. zu EuGH, Urteil vom 5.6.2018 – C-210/16, ZD 2018, 361; Mester, Joint Control, DuD 2019, 167; Monreal, „Der für die Verarbeitung Verantwortliche“ – das unbekannte Wesen des deutschen Datenschutzrechts – Mögliche Konsequenzen aus einem deutschen Missverständnis, ZD 2014, 611; Moos/Rothkegel, „Gefällt mir“-Button von Facebook – Fashion ID, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 29.7.2019 – C-40/17, MMR 2019, 579; Rothkegel/Strassemeyer, Joint Control in European Data Protection Law – How to make Sense of the CJEU’s Holy Trinity, CRi 2019, 161; Sattler, Gemeinsame Verantwortlichkeit – getrennte Pflichten, GRUR 2019, 1023; Schlee, EuGH: Fashion ID: Gemeinsame Verantwortlichkeit 3.0, ZD-aktuell 2019, 06762; Schmidt, Der Einsatz von Dritt-Plug-Ins auf Webseiten: Klärung der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit, jurisPR-ITR 22/2019 Anm. 5; Schreiber, Gemeinsame Verantwortlichkeit gegenüber Betroffenen und Aufsichtsbehörden, ZD 2019, 55; Schulz, 2. Anm. zu EuGH, Urteil vom 5.6.2018 – C-210/16, ZD 2018, 363; Specht-Riemenschneider/Schneider, Die gemeinsame Verantwortlichkeit im Datenschutzrecht, MMR 2019, 503; Spittka/Mantz, Datenschutzrechtliche Anforderungen an den Einsatz von Social Plugins, NJW 2019, 2742.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Art. 26 trifft eine Regelung für den Fall, dass eine Verarbeitung durch zwei oder mehr Verantwortliche erfolgt. Die Möglichkeit einer gemeinsamen Verantwortlichkeit ergibt sich aus der Definition des Verantwortlichen in Art. 4 Nr. 7 („allein oder gemeinsam mit anderen“). Sie war schon in der insoweit wortgleichen Vorgängernorm der Datenschutzrichtlinie angelegt,1 allerdings ohne daran anknüpfende Spezialvorschriften. Mit Art. 26 sowie den Haftungsregelungen des Art. 82 erfährt die gemeinsame Verantwortlichkeit eine genauere Ausformung und führt nunmehr zu besonderen Pflichten und Haftungsrisiken (insb. durch die gesamtschuldnerische nach Art. 82 Abs. 4).2 Spiegelbildlich ergeben sich Rechte der von der Verarbeitung betroffenen Personen.

1 Art. 2 Buchst. d DSRL. 2 Vgl. Kartheuser/Nabulsi, MMR 2018, 717, 718.

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Gemeinsam Verantwortliche

Rz. 5 Art. 26 DSGVO

Neben dem erweiterten Schutz der Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen3 besteht der Zweck 2 von Art. 26 in einer klaren Zuteilung der Verantwortlichkeiten.4 Diese soll einer effektiven Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden5 sowie der Klärung von Haftungsfragen dienen.6 Zu einer klaren Zuteilung von Verantwortlichkeit gehört allerdings nicht nur die Regelung der Rechtsfolgen einer gemeinsamen Verantwortlichkeit, sondern auch die Frage, wann überhaupt eine gemeinsame Verantwortlichkeit vorliegt. Diese seit der Datenschutzrichtlinie weitgehend offene Frage nach den Voraussetzungen lässt Art. 26 unbeantwortet.7 Insofern hat die DSGVO die Aufgabe, Klarheit zu schaffen, dem Europäischen Datenschutzausschuss und letztlich der Rechtsprechung überlassen.8 Durch die Lösungsansätze der Aufsichtsbehörden und die Rechtsprechung des EuGH9 konnte die insofern bestehende Rechtsunsicherheit jedoch bisher nur teilweise ausgeräumt werden. Art. 26 regelt nur bestimmte Modalitäten, nach denen eine gemeinsame Verarbeitung durchzuführen 3 ist, beantwortet aber nicht die Frage, ob die in gemeinsamer Verantwortlichkeit durchgeführte Verarbeitung rechtmäßig ist.10 Vielmehr muss jeder der Verantwortlichen sich für den von ihm (mit-)verantworteten Teil der Verarbeitung auf eine eigene Rechtsgrundlage nach den allgemeinen Vorschriften, also insb. nach Art. 6 DSGVO, stützen können.11 Nach überwiegender Ansicht ist auch die Weitergabe von Daten, die in gemeinsamer Verantwortung 4 erhoben wurden, unter den (zwei oder mehreren) gemeinsam Verantwortlichen eine rechtfertigungsbedürftige Übermittlung. Art. 26 entfaltet insoweit keine Privilegierungswirkung,12 wie diese für die Auftragsverarbeitung vertreten wird (s. dazu Art. 28 Rz. 6 ff.). Die Gegenansicht führt unter anderem an, dass der die Daten empfangende Verantwortliche nach Art. 4 Nr. 10 kein Dritter sei und es darum an einer rechtfertigungsbedürftigen Übermittlung fehle.13 Das überzeugt jedoch nicht, weil der Wortlaut des Art. 4 Nr. 10 den Fall der gemeinsamen Verantwortlichkeit nicht erkennbar widerspiegelt. Die Definition ist hierfür bestenfalls unergiebig und kann auch so verstanden werden kann, dass vom Begriff des Dritten nur der einzelne, für die konkrete Verarbeitung Verantwortliche ausgenommen wird (also hier der die Daten weitergebende Verantwortliche), nicht aber ein weiterer am Gesamtvorgang beteiligter Verantwortlicher. Sonst müsste es in Art. 4 Nr. 10 heißen: „bezeichnet … ‚Dritter‘ eine natürliche oder juristische Person … außer … dem oder den Verantwortlichen“. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Die Norm des Art. 26 hat in der Praxis eine erhebliche Bedeutung erlangt. Der EuGH hat die Voraus- 5 setzungen der gemeinsamen Verantwortlichkeit in seinen neueren Entscheidungen weit ausgelegt.14 Die unter der DSRL wenig beachtete Rechtsfigur hat damit – über den digitalen Raum hinaus – große 3 4 5 6 7 8 9 10 11

12 13 14

Vgl. die Gesetzgebungskompetenz der EU gem. Art. 16 Abs. 2 AEUV. Vgl. ErwGr. 79. Vgl. Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 26 DSGVO Rz. 1. DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 2. Kunnert, DuD 2019, 257, 260. S. Art. 70 Abs. 1 Buchst. e. Die in 2018 und 2019 ergangenen drei Entscheidungen „Facebook Fanpage“, „Zeugen Jehovas“ und „Fashion ID“ betreffen die Rechtslage unter der DSRL, sind aber uneingeschränkt auf die DSGVO übertragbar, vgl. Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161. Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 26 DSGVO Rz. 1; Dovas, ZD 2016, 512, 515. Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 26 DSGVO Rz. 1; jurisPK-Internetrecht/Heckmann/Scheurer, Kap. 9, Rz. 210; Schlee, ZD-Aktuell 2019, 06762; Spittka/Mantz, NJW 2019, 2742, 2744; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 27; Laue/Kremer/Laue, § 1 Rz. 57; Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 26 DSGVO Rz. 3; Hanloser, ZD 2019, 455, 460. DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 1; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 27; Monreal, ZD 2014, 611, 616 (die Legitimierung erfolge stattdessen „aus der Rolle des Verantwortlichen“); Dovas, ZD 2016, 512, 515; Mester, DuD 2019, 167; Kollmar, NVwZ 2019, 1742; a.A. Gola/Piltz, Art. 28 DSGVO Rz. 8. Gola/Piltz, Art. 28 DSGVO Rz. 8. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID; EuGH v. 5.6.2018 – C-210/16, CR 2018, 576 m. Anm. Brüggemann – Facebook Fanpage; EuGH v. 10.7.2018 – C 25/17 – Zeugen Jehovas; zur Anwendbarkeit der Grundsätze auf die DSGVO: Schmidt, jurisPR-ITR 22/2019 Anm. 5; Kunnert, DuD 2019, 257, 258.

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DSGVO Art. 26 Rz. 5 Gemeinsam Verantwortliche Relevanz erlangt. Wann immer mehrere Stellen untereinander Daten übermitteln (oder die Übermittlung ermöglichen) oder sonst an einer Verarbeitung beteiligt sind, muss spätestens nun auch an die Möglichkeit der gemeinsamen Verantwortlichkeit gedacht werden.15 6

Die Abgrenzung zur Auftragsverarbeitung nach Art. 28 einerseits und zur bloßen Übermittlung von Daten zwischen zwei separat Verantwortlichen andererseits bleibt jedoch aufgrund der unklaren Konturen der Rechtsfigur der gemeinsamen Verantwortlichkeit schwierig.16

II. Norminhalt 1. Verantwortliche (Art. 26 Abs. 1 Satz 1) 7

Die gemeinsame Verantwortlichkeit bildet mit der alleinigen Verantwortlichkeit die beiden Unterfälle der in Art. 4 Nr. 7 definierten Rolle als Verantwortlicher für die Verarbeitung personenbezogener Daten. Für beide Fälle ist Voraussetzung, dass die Stellen, die das Gesetz als Verantwortliche kennzeichnet, über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung entscheiden (s. Art. 24 Rz. 3). Aus der Definition in Art. 4 Nr. 7 ergibt sich unmittelbar, dass die Entscheidung „allein oder gemeinsam mit anderen“ erfolgen kann.

8

Das Vorliegen einer Entscheidung über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung, und damit einer (alleinigen oder gemeinsamen) Verantwortlichkeit ist in erster Linie aus einer Analyse der faktischen Gegebenheiten des Einzelfalls abzuleiten, bei der zu fragen ist: „Warum wird diese Verarbeitung durchgeführt? Wer hat sie veranlasst? Wer profitiert unmittelbar von der Verarbeitung?“17 (s. Rz. 12 ff.). 2. Zwei oder mehr (Art. 26 Abs. 1 Satz 1)

9

Für eine gemeinsame Verantwortlichkeit müssen mindestens zwei Verantwortliche mitwirken. Eine größere Anzahl ist möglich. ErwGr. 92 nennt als Beispiele für mehrere gemeinsam Verantwortliche gemeinsame Anwendungen oder Verarbeitungsplattformen im öffentlichen Sektor und in der Wirtschaft.

10

Eine Häufung von Verantwortlichen ist zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine gemeinsame Verantwortlichkeit.18 Dies gilt auch, wenn die Verantwortlichen an demselben Datenverarbeitungsvorgang beteiligt sind. Vielmehr wirken in der Praxis häufig mehrere Verantwortliche zusammen, ohne gemeinsam Verantwortliche zu sein. Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn Daten aus der Sphäre eines Verantwortlichen an einen anderen Verantwortlichen übermittelt werden. Erst die gemeinsame Entscheidung über Zwecke und Mittel der Verarbeitung führt zu einer gemeinsamen Verantwortlichkeit im Sinne von Art. 26 (dazu im Einzelnen […]).

11

Ferner abzugrenzen von der gemeinsamen Verantwortung ist das Zusammenwirken zweier oder mehrerer Stellen im Rahmen einer Auftragsverarbeitung. Diese ist gekennzeichnet durch ein tatsächliches Hierarchieverhältnis und eine gelebte Weisungsgebundenheit zwischen den Beteiligten,19 wobei nur der Weisungsgeber Verantwortlicher, die Weisungsempfänger hingegen Auftragsverarbeiter sind. Für die Beurteilung, ob eine Auftragsverarbeitung vorliegt, ist auch der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag von Bedeutung (vgl. im Einzelnen die Kommentierung zu Art. 28).

15 Vgl. Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 165. 16 Specht/Mantz/Mantz/Marosi, § 3 Rz. 143. 17 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 11; EDPS, Guidelines on the concepts of controller, processor and joint controllership under Regulation (EU) 2018/1725, Ziff. 3.1.2. 18 Insofern ist die häufig zitierte Formulierung der Art.-29-Datenschutzgruppe, dass „gemeinsam“ auch als „nicht allein“ verstanden werden könne, sehr missverständlich (s. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 22). 19 Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Veil, Art. 26 DSGVO Rz. 38; Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 18 und 20; Auernhammer/Thomale, Art. 26 DSGVO Rz. 8; a.A. Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 10 (Dispositionsbefugnis).

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Rz. 17 Art. 26 DSGVO

3. Gemeinsames Festlegen der Zwecke und Mittel der Verarbeitung (Art. 26 Abs. 1 Satz 1) a) Gemeinsame Entscheidung Für die Stellung als Verantwortlicher konstitutiv ist die Entscheidung über die Verarbeitungszwecke und -mittel (Art. 4 Nr. 7). Entsprechend kommt es für die gemeinsame Verantwortlichkeit darauf an, dass diese Entscheidung gemeinsam erfolgt.

12

Die deutsche Fassung beschreibt den Entscheidungsvorgang mit drei verschiedenen Verben, nämlich „entscheiden über“ (Art. 4 Nr. 7), „bestimmen“ (Art. 28 Abs. 10) und „festlegen“ (Art. 26 Abs. 1 Satz 1). Sie sind jedoch synonym zu verstehen, wie sich auch daran zeigt, dass die englische Fassung einheitlich den Begriff „to determine“ benutzt. Gemeint ist in allen Fällen der Entschluss zur Verarbeitung einschließlich der Festlegung ihres Zwecks und ihrer näheren Gestaltung. Für eine gemeinsame Entscheidung bedarf es folglich einer Absprache20 oder in sonstiger Weise koordinierter Willensakte und damit eines gewollten und bewussten Zusammenwirkens.21 Hierbei kommt es auf eine bestimmte Form der Entscheidung – etwa deren schriftliche Fixierung – nicht an.22 Eine rein faktische oder gar zufällige Zusammenarbeit der Verantwortlichen genügt aber nicht.23

13

Im Einzelnen ist noch nicht zufriedenstellend geklärt, wann die Verantwortlichen im Sinne von Art. 26 „gemeinsam“ entscheiden.24 Das liegt auch daran, dass die möglichen Formen pluralistischer Kontrolle über eine Verarbeitung äußerst vielfältig sind. Angesichts dieser Komplexität möglicher Verarbeitungskonstellationen wird sogar vertreten, dass sich eine abstrakte Definition der gemeinsamen Verantwortlichkeit verbiete.25 Auch soll es – so die Art.-29-Datenschutzgruppe zur Rechtslage unter der DSRL – nicht möglich sein, eine abschließende Liste oder auch nur Kategorisierung der verschiedenen Formen der gemeinsamen Verantwortlichkeit aufzustellen.26 Belastbare Anhaltspunkte für die Konturen der Rechtsfigur, die allerdings kein geschlossenes Bild erkennen lassen, finden sich nur in drei jüngeren Entscheidungen des EuGH.27

14

Vor diesem Hintergrund verbleiben auch unter Berücksichtigung der im folgenden dargestellten, durch Literatur und Rechtsprechung entwickelten Grundsätze und Indizien erhebliche Unsicherheiten bei der Prüfung einer konkreten Verarbeitung auf das Vorliegen einer gemeinsamen Verantwortlichkeit. Dies ist für die beteiligten Verantwortlichen, denen diese Prüfung auferlegt ist, eine kaum zumutbare Belastung. Sie führt zu schwer kalkulierbaren Bußgeld- und Haftungsrisiken, die sich in der Praxis auch durch proaktive Abstimmungen mit Aufsichtsbehörden nicht gänzlich ausräumen lassen.

15

b) Einfluss auf die Verarbeitung Ob eine gemeinsame Entscheidung über Zweck und Mittel und damit eine gemeinsame Verantwort- 16 lichkeit vorliegt, ist in einer Gesamtbetrachtung der tatsächlichen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.28 Dabei sind insb. objektive Faktoren und rechtliche Regelungen relevant, die es den Beteiligten ermöglichen, Einfluss auszuüben auf die Zwecke und Mittel der Verarbeitung.29 So kann die physische Kontrolle über eine Verarbeitung auf eine Entscheidung der verarbeitenden Stelle für die Verarbeitung schließen lassen. Zu beachten ist aber stets, dass es für die Verantwortlichkeit auf die Entscheidung über Zweck und Mittel ankommt, nicht auf die Beteiligung an der tatsäch20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Gola/Piltz, Art. 26 DSGVO Rz. 5. Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 21 („kooperative Bestimmung“ von Zweck und Mitteln). EuGH v. 10.7.2018 – C-25/17 Rz. 75 – Zeugen Jehovas. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 12; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 26 DSGVO Rz. 10. Vgl. Schulz/Marosi/Matthe, ZD 2018, 357 ff.; Specht/Mantz/Mantz/Marosi, § 3 Rz. 142; Kunnert, DuD 2019, 257, 260. Taeger/Gabel/Lang, Art. 26 DSGVO Rz. 18; Jung/Hansch, ZD 2019, 143, 144; ähnlich Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 166 („not a schematic concept“). Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 22 zur Rechtslage unter der DSRL. EuGH v. 5.6.2018 – C-210/16, CR 2018, 576 m. Anm. Brüggemann – Facebook Fanpage; EuGH v. 10.7.2018 – C 25/17 – Zeugen Jehovas; EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. Gola/Piltz, Art. 26 DSGVO Rz. 10; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 3; Kremer, CR 2019, 225, 227 m.w.N.; Mester, DuD 2019, 167, 167; Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 166. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 12; Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 167.

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17

DSGVO Art. 26 Rz. 17 Gemeinsam Verantwortliche lichen Durchführung der Verarbeitung. Daher schließt die fehlende Zugriffsmöglichkeit eines Beteiligten auf die Daten dessen Stellung als Verantwortlicher nicht aus. Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH auch für die gemeinsame Verantwortlichkeit.30 Ebensowenig ist Eigentum an den Verarbeitungsmitteln erforderlich.31 18

Zu den zu berücksichtigenden Umständen gehört ferner, ob die beteiligten Stellen rechtlich zur Verarbeitung verpflichtet sind, ob sie für deren Beaufsichtigung oder Überwachung zuständig sind und ob sie über gesellschaftsrechtliche oder organisatorische Einflussmöglichkeiten in Konzernstrukturen verfügen.32

19

Zu berücksichtigen sind auch die zwischen den Verantwortlichen getroffenen Vereinbarungen. Allerdings schließt das Fehlen von Vereinbarungen nicht aus, dass nach den Gesamtumständen gleichwohl eine gemeinsame Verantwortlichkeit vorliegt.33 Die Beteiligten können also durch Vereinbarung (nur) in Grenzen mitgestalten, ob Art. 26 zur Anwendung kommt. Die Selbstbezeichnung durch die beteiligten Stellen als gemeinsam Verantwortliche, etwa in einem Vertragsdokument, ist nicht konstitutiv, sondern nur ein Indiz für eine gemeinsame Verantwortlichkeit.34

20

Jeder gemeinsam Verantwortliche muss nach den vorstehenden Kriterien vor oder während der Verarbeitung seinen Einfluss darauf ausgeübt haben. Es genügt nicht, lediglich im Anschluss an die Verarbeitung davon zu profitieren oder diese gutzuheißen (kein „Beitritt“ zur einer bereits erfolgten Verarbeitung).35 c) Kumulatives Festlegen von Zweck und Mitteln

21

Voraussetzung für die gemeinsame Verantwortlichkeit ist, dass Mittel und Zweck von den Beteiligten gemeinsam festlegt werden.36 Dafür spricht insb. der Wortlaut von Art. 26 und ErwGr. 79. Angesichts der hohen Bußgelddrohung, die Art. 83 Abs. 4 Buchst. a für einen Verstoß gegen Art. 26 vorsieht, ist es kaum zu rechtfertigen, Art. 26 auch bei einer alternativen Bestimmung der Mittel oder des Zwecks anzuwenden.37

22

Nach der Gegenansicht reicht bereits ein Beitrag jedes Verantwortlichen zur Festlegung der Zwecke oder Mittel aus.38 Das kumulative Verständnis sei zu eng und werde den vielfältigen Konstellationen, die zum Schutz der Betroffenen als gemeinsame Verantwortlichkeit geregelt werden sollten, nicht gerecht.39 Eine solche teleologische Erweiterung der Norm ist allerdings nicht geboten. Insb. entstehen keine Haftungslücken, weil auch bei einer Einordnung der Beteiligten als alleinige Verantwortliche die Betroffenen ein Haftungssubjekt haben und insb. die gesamtschuldnerische Haftung nach Art. 82 Abs. 4 auch dann eintritt, wenn mehrere allein Verantwortliche an einer Verarbeitung beteiligt sind.40

23

Zuzugeben ist allerdings, dass die möglichen Formen der gemeinsamen Verantwortlichkeit vielfältig sind und insb. der Beitrag eines Beteiligten zur Festlegung der Mittel sehr untergeordnet erscheinen 30 EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 69, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID; EuGH v. 5.6.2018 – C-210/16 Rz. 38, CR 2018, 576 m. Anm. Brüggemann – Facebook Fanpage; EuGH v. 10.7.2018 – C 25/17 Rz. 69 – Zeugen Jehovas; zustimmend Lee/Cross, MMR 2019, 559, 560. 31 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 19. 32 Vgl. DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 2 ff.; Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 167. 33 Vgl. Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 13; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 14. 34 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 9; DatKomm/Horn, Art. 26 DSGVO Rz. 25; Gola/Piltz, Art. 26 DSGVO Rz. 10; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 20; Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 20, 22; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 3; Taeger/Gabel/Lang, Art. 26 DSGVO Rz. 13; Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 26 DSGVO Rz. 5; Kremer, CR 2019, 225, 226. 35 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3. 36 So wohl DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3; Gola/Piltz, Art. 26 DSGVO Rz. 3; Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 26 DSGVO Rz. 12; Kartheuser/Nabulsi, MMR 2018, 717, 720; einschränkend Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 8; unklar EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 74, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 37 Kartheuser/Nabulsi, MMR 2018, 717, 720. 38 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 23; Taeger/Gabel/Lang, Art. 26 DSGVO Rz. 19; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 13. 39 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 13. 40 Kartheuser/Nabulsi, MMR 2018, 717, 720.

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Gemeinsam Verantwortliche

Rz. 28 Art. 26 DSGVO

kann.41 So kann es genügen, dass einer der Verantwortlichen die Mittel festlegt und ihn gegenüber dem oder den anderen Verantwortlichen nur Abstimmungs- oder Berichtspflichten42 treffen oder dass der andere Verantwortliche sich der Festlegung der Mittel anschließt. Insofern ergibt sich nach der hier vertretenen Auffassung durch das Erfordernis einer kumulativen Festlegung von Zweck und Mitteln keine wesentliche Einschränkung des Anwendungsbereichs. d) Übereinstimmung bzw. Konnexität der Zwecke und Mittel Im einfachsten Fall treffen die gemeinsam Verantwortlichen ihre Entscheidung über Zweck und Mittel 24 zusammen und gleichermaßen, z.B. indem sie diese vorab und gleichberechtigt in einer einheitlichen, für die Verarbeitung konstitutiven Vereinbarung festlegen.43 Es gibt jedoch noch eine Vielzahl weiterer Konstellationen, in denen die Gemeinsamkeit weniger offensichtlich ist und die Entscheidungsbeiträge der Verantwortlichen zeitlich, inhaltlich und/oder ihrem Umfang nach auseinanderfallen. Dann stellt sich die Frage, welches Maß an Übereinstimmung für eine gemeinsame Entscheidung zu verlangen ist. Zeitlich können die Entscheidungen auseinanderfallen. Es genügt etwa, wenn ein Verantwortlicher die vom anderen (z.B. dem Anbieter einer Plattform) im Voraus festgelegten Zwecke und Mittel akzeptiert oder sich diesen anschließt.44 Die zeitliche Grenze der Beteiligung als Verantwortlicher bildet aber das Ende der Verarbeitung.

25

Die Entscheidungen bzw. Entscheidungsbeiträge der gemeinsam Verantwortlichen über Zwecke und Mittel müssen sich, soweit eine gemeinsame Verantwortlichkeit vorliegt, jedenfalls zum Teil inhaltlich decken. Ohne eine gewisse Kongruenz der Festlegungen der Beteiligten kann nicht von einer „gemeinsamen“ Entscheidung gesprochen werden. Je eher die Leitfragen nach dem Warum, dem Veranlasser und dem Profiteur der Verarbeitung auf mehr als einen Verantwortlichen und damit auf übereinstimmende Entscheidungen hinweisen, umso größer ist mithin die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen Verantwortlichkeit.45

26

Die Mittel müssen von den Verantwortlichen identisch gewählt werden (wofür es genügen kann, diese 27 zu akzeptieren). Zu eng erscheint allerdings die Formulierung, alle gemeinsam Verantwortlichen müssten die Mittel gleichermaßen einsetzen.46 Ein gemeinsamer Einsatz des Verarbeitungsmittels kann zwar vorkommen, wie etwa bei der Einbindung eines Social Plugins auf einer Website, wobei dessen Programmcode vom sozialen Netzwerk entwickelt und bereitgestellt und vom Website-Betreiber in die Website eingebaut wird.47 Der tatsächliche Einsatz des Mittels kann in anderen Fällen aber auch bloß durch einen Verantwortlichen erfolgen, sofern die anderen dies (mit-)bestimmen oder zumindest akzeptieren. So hatte in der EuGH-Entscheidung „Zeugen Jehovas“ die Religionsgemeinschaft die Datenerhebung durch die Mitglieder nur organisiert und koordiniert, ohne auf die erhobenen Daten und die Verarbeitungsmittel (insb. Notizen) Zugriff zu haben.48 Bezüglich des Zwecks genügt jedenfalls ein gewisser Grad an Übereinstimmung; Identität ist nicht er- 28 forderlich. Dafür spricht, dass Stellen und Organisationen in der Natur der Sache regelmäßig im Eigeninteresse handeln, welches zu dem Interesse der anderen Beteiligten gleichlaufen mag, diesem aber nicht identisch ist; die Vorschrift hätte sonst also kaum einen Anwendungsbereich. Daher wird es als ausreichend angesehen, wenn ein gemeinsamer Teilzweck49, ein „enges Zusammenhängen“50 oder eine „wechselseitige Ergänzung“51 der Zwecke gegeben ist. Nach einer Ansicht soll es sogar genügen, dass je41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Vgl. Taeger/Gabel/Lang, Art. 26 DSGVO Rz. 20; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 8. Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 8. Vgl. BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 15. DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3. Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 167; vgl. Kremer, CR 2019, 676, 681. So aber Kremer, CR 2019, 225, 227. Vgl. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 77–79, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. Vgl. EuGH v. 10.7.2018 – C-25/17 Rz. 73 – Zeugen Jehovas. Specht/Mantz/Mantz/Marosi, § 3, Rz. 20. DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3. Schlussanträge des Generalanwalts zu der Rechtssache C-40/17 Rz. 105 – Fashion ID; Jung/Hansch, ZD 2019, 143, 147.

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DSGVO Art. 26 Rz. 28 Gemeinsam Verantwortliche der Verantwortliche mit der Datenverarbeitung einen eigenen Zweck verfolgt.52 Der EuGH hat allerdings in seiner Entscheidung zu Social Plugins darauf abgestellt, dass die verfolgten wirtschaftlichen Zwecke verbunden waren durch eine Art von Austauschverhältnis;53 insofern ist jede Verbindung zwischen den Zwecken wenn nicht erforderlich, so doch zumindest ein Indiz für eine gemeinsame Verantwortlichkeit. e) Grad der Mitbestimmung 29

Der Einfluss jedes Verantwortlichen auf die Verarbeitung muss eine gewisse Relevanzschwelle („Entscheidungshöhe“) überschreiten; es muss zumindest die Möglichkeit bestehen, dass die Datenverarbeitung ohne den steuernden Beitrag der jeweiligen Stelle andersartig gestaltet worden wäre.54

30

Insofern muss auch die Formulierung der DSK, dass es genügt, sich den von einem anderen Verantwortlichen festgelegten Zwecken und Mitteln anzuschließen bzw. diese zu akzeptieren, einschränkend verstanden werden.55 Dies betrifft etwa von Web- oder Cloud-Anbietern vorstrukturierte Angebote (wie z.B. den Betrieb einer Fanpage56 und die damit gemeinsam verantwortete Verarbeitung von Nutzerdaten für Statistiken). In diesen Fällen findet die konkrete Verarbeitung regelmäßig nur statt, wenn und weil das Angebot in Anspruch genommen und die Festlegungen damit akzeptiert werden. Dies kann dann folglich zu einer gemeinsamen Verantwortung führen (wie vom EuGH für den Betreib von Fanpages entschieden).

31

Im Übrigen werden keine allzu hohen Anforderungen an den Einfluss des einzelnen Verantwortlichen gestellt. Der tatsächliche Einfluss kann gering und mittelbar sein.57 Der EuGH hat beispielsweise die Auswirkung der Parametrierung der gewünschten Daten für die Anzeige einer Statistik über Fanpagebesucher durch Facebook als kausalen Beitrag ausreichen lassen58, obwohl seitens des Fanpage-Betreibers auf den Umfang der Erhebung und die angebotenen Parameter kein Einfluss besteht.

32

Ferner muss kein gleich großer Einfluss aller beteiligten Verantwortlichen auf die Entscheidung bestehen.59 Der Mitbestimmung bezüglich des Zwecks wird mehr Gewicht beigemessen als derjenigen bezüglich der Mittel.60

33

Auch das Ermuntern zu und das Organisieren und Koordinieren einer Verarbeitung führt nach EuGH-Rechtsprechung schon zu einer gemeinsamen Verantwortlichkeit.61

34

Ferner kann die Ermöglichung der Verarbeitung durch eine andere Stelle kann ausreichen.62 Die bloße Mitursächlichkeit für die Verarbeitung in einer Kausalkette genügt allerdings regelmäßig nicht (wie etwa im Fall des Stromlieferanten bezüglich der Datenverarbeitung eines von ihm versorgten Rechenzentrums).63 Hinzukommen muss ein voluntatives Element, insb. derart, dass die verursachte Verarbeitung eigenen Zwecken des Verantwortlichen dient. f) Betrachtung der einzelnen Verarbeitungsschritte

35

Nach Art. 4 Nr. 2 definiert die Verarbeitung als „Vorgang oder … Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten […]“. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die zielgerich52 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 17; Specht-Riemenschneider/Schneider, MMR 2019, 503, 505. 53 EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 80, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID; Zusammenfassung der Kriterien, die der EuGH in diesem Fall anlegt: Sattler, GRUR 2019, 1023, 1024. 54 Sydow/Ingold, Art. 26 DSGVO Rz. 4. 55 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 2. 56 EuGH v. 5.6.2018 – C-210/16, CR 2018, 576 m. Anm. Brüggemann – Facebook Fanpage. 57 Kremer, CR 2019, 225, 228; a.A. OVG Schleswig v. 4.9.2014 – 4 LB 20/13, ZD 2014, 643, 644 vor der „Fanpages“-Entscheidung; für einen geringen Einfluss auf die Datenverarbeitung: Lezzi/Oberlin, ZD 2018, 398, 400. 58 EuGH v. 5.6.2018 – C-210/16 Rz. 36, CR 2018, 576 m. Anm. Brüggemann – Facebook Fanpage. 59 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 16. 60 Schreiber, ZD 2019, 55, 55. 61 EuGH v. 10.7.2018 – C-25/17 Rz. 73 – Zeugen Jehovas. 62 EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 75, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 63 Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 19.

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Rz. 41 Art. 26 DSGVO

tete Verarbeitung personenbezogener Daten, etwa im Rahmen eines Geschäftsprozesses, im allgemeinen aus eine Reihe einzelner Verarbeitungsschritte besteht, die verschiedenen Phasen der Datenverarbeitung zugeordnet sind (wie Erhebung, Prüfung, Bereinigung, Speicherung, Übermittlung etc.).64 Ob eine alleinige oder gemeinsame Verantwortlichkeit vorliegt, ist nach der jüngeren EuGH-Rechtsprechung (Urteil „Fashion ID“) für jeden Vorgang, d.h. für jeden Verarbeitungsschritt getrennt zu beurteilen.65 So gelangte der EuGH bei der Einbindung eines Social Plugins von Facebook durch einen Website- 36 betreiber in dessen Website zu dem Ergebnis, dass für die damit ermöglichte Erhebung der personenbezogenen Daten der Besucher durch Facebook eine gemeinsame Verantwortlichkeit des Websitebetreibers und des sozialen Netzwerks bestand (gemeinsamer Werbezweck und Plugin als gemeinsames Mittel), nicht aber für die an die Erhebung anschließende Verarbeitung durch Facebook, deren Mittel allein das soziale Netzwerk festlegen konnte.66 Die gesonderte Betrachtung der jeweiligen Einzelschritte steht der Berücksichtigung der Gesamtumstände im Sinne eines holistischen Ansatzes nicht entgegen, insb. soweit es die Beurteilung der Gemeinsamkeit der Zwecke betrifft.67 So ist es nicht ausgeschlossen, dass eine Reihe von Verarbeitungsvorgängen auf Makroebene einem übergeordneten gemeinsamen Zweck dient und, soweit auch die Mittel gemeinsam festgelegt sind, in gemeinsamer Verantwortlichkeit erfolgt.68 Jedoch müssen die gemeinsame Festlegung von Zweck und Mitteln nach dem EuGH für jeden Vorgang einzeln geprüft und festgestellt werden.69 Nur so wird die Verantwortlichkeit und damit auch die Haftung der Beteiligten unter Berücksichtigung ihres Beitrags zur Verarbeitung angemessen beschränkt.

37

4. Rechtsfolge a) Vereinbarung zwischen den gemeinsam Verantwortlichen (Art. 26 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2) aa) Zweck und Wirkung Die gemeinsam Verantwortlichen sind nach Abs. 1 Satz 2 berechtigt und verpflichtet, in einer Verein- 38 barung festzulegen, wer von ihnen welche Verpflichtung nach der DSGVO erfüllt. Die Möglichkeit, die Verpflichtungen nach der DSGVO unter sich aufzuteilen, stellt dabei durchaus auch eine Erleichterung und Entlastung dar, die ein ökonomisches und arbeitsteiliges Vorgehen insb. bei der Erfüllung von Informations- und Auskunftspflichten zulässt und fördert. Außerdem kann eine detailliert ausgearbeitete Vereinbarung mit klarer Zuweisung von Verantwortlichkeiten zur Klärung von Haftungsfragen im Innenverhältnis sorgen und damit zur Kalkulierbarkeit von Haftungsrisiken beitragen.70

39

Die Vereinbarung über die Wahrnehmung der Aufgaben beschränkt allerdings im Außenverhältnis nicht die Betroffenenrechte. Vielmehr können die betroffenen Personen ihre Rechte, insb. nach Art. 15 bis 22, nach Belieben gegenüber jedem Verantwortlichen geltend machen (Art. 26 Abs. 3). Durch die Aufgabenzuteilung lässt sich damit auch nicht die gesamtschuldnerische Haftung (Art. 82 Abs. 4) gegenüber den Betroffenen umgehen oder verändern. Die Beschränkung von Haftung und Regressmöglichkeiten im Innenverhältnis bleibt den Verantwortlichen hingegen unbenommen.71

40

Schließlich soll die Vereinbarung zwischen den Verantwortlichen Transparenz bezüglich der Tätigkei- 41 ten und Rollen der gemeinsam Verantwortlichen für die Betroffenen und die Aufsichtsbehörde herstel-

64 Vgl. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 72, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 65 Vgl. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 74, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID; BeckOK DatenSR/ Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 16. 66 Vgl. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 76 ff., CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 67 Vgl. Rothkegel/Strassemeyer, CRi 2019, 161, 167. 68 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), S. 25. 69 Vgl. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 74 und Rz. 99, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 70 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 4; in diese Richtung auch Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 26 DSGVO Rz. 8. 71 Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 18.

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DSGVO Art. 26 Rz. 41 Gemeinsam Verantwortliche len.72 Die Vereinbarung hat also eine Regelungskomponente im Innenverhältnis (insb. Abs. 1 Satz 2) und eine Informationskomponente im Verhältnis zu den betroffenen Personen (insb. Abs. 2). bb) Regelungsinhalt 42

Der Mindestinhalt der Vereinbarung ergibt sich aus Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 und betrifft die Verteilung der Verantwortlichkeiten nach der DSGVO. Zu regeln ist also, wer welche Pflichten erfüllt. Dabei sind die Funktionen und Beziehungen der Verantwortlichen nachvollziehbar zu beschreiben, einschließlich einer Beschreibung der logischen und physikalischen Infrastruktur und der Schnittstellen.73 Rechenschafts- und Transparenzpflichten sprechen für eine detaillierte Regelung.74

43

Die Verteilung von Verantwortlichkeiten darf nicht gegen das Recht der Union oder das anwendbare Recht der Mitgliedstaaten verstoßen (Abs. 1 Satz 3); insoweit ist die Dispositionsfreiheit der gemeinsam Verantwortlichen eingeschränkt.

44

Als „Serviceangebot“ für die betroffene Person haben die gemeinsam Verantwortlichen die Möglichkeit, eine gemeinsame Anlaufstelle für die betroffenen Personen in die Vereinbarung aufzunehmen, Abs. 1 Satz 3.75 Allerdings hindert diese Angabe die betroffenen Personen nicht, ihre Rechte gegenüber jedem der gemeinsam Verantwortlichen geltend zu machen (Art. 26 Abs. 3). Zwischen den Verantwortlichen ist die Vereinbarung jedoch verbindlich und kann gegenseitige Ersatzansprüche auslösen.76

45

Weitergehende Regelungen stehen den Verantwortlichen frei. Insb. werden sie ergänzend zur Verteilung der Pflichten im Innenverhältnis regelmäßig Haftungsregelungen treffen wollen. cc) Beschreibung der Funktionen und Beziehungen der Verantwortlichen in transparenter Form

46

Die Vereinbarung, mit der die Pflichten aus der DSGVO zwischen den Verantwortlichen aufgeteilt werden, muss in transparenter Form abgefasst sein (Abs. 1 Satz 2) und die tatsächlichen Funktionen und Beziehungen der gemeinsam Verantwortlichen gegenüber den betroffenen Personen gebührend widerspiegeln (Abs. 2 Satz 1). Dies erfordert eine nachvollziehbare Beschreibung des Zusammenwirkens und der Rollen der Beteiligten und ihrer jeweiligen Beziehung zur betroffenen Person.77 Diese Beschreibung muss zumindest für Dritte verständlich sein.78

47

Zum Teil wird vorgeschlagen, zur näheren Bestimmung der „transparenten Form“ ErwGr. 58 heranzuziehen.79 Damit würden die Anforderungen an die Transparenz allerdings überspannt. Die Vereinbarung selbst ist – anders als die nach Abs. 2 Satz 2 zu veröffentlichenden Informationen über ihren wesentlichen Inhalt – nicht für die Öffentlichkeit oder die betroffene Person bestimmt, was ErwGr. 58 voraussetzt. Die Vereinbarung wird im allgemeinen nur von den Parteien, einsichtsberechtigten Aufsichtsbehörden, ggf. Gerichten und sonstigen damit befassten Dritten eingesehen. Überzeugender ist daher eine addressatenspezifische Auslegung des Begriffs der „transparenten Form“ im Sinne einer Eindeutigkeit und Nachvollziehbarkeit, aber nicht Allgemeinverständlichkeit.80

72 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 5; Auernhammer/Thomale, Art. 26 DSGVO Rz. 12; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 26 DSGVO Rz. 12. 73 Simitis/Hornung/Spiecker/Petri, Art. 26 DSGVO Rz. 16. 74 Für Überblicke über mögliche Regelungen s. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 25; Lezzi/Oberlin, ZD 2018, 398, 404 sowie die Mustervorlage der Aufsichtsbehörde Baden-Württemberg, https://www.badenwuerttemberg.datenschutz.de/mehr-licht-gemeinsame-verantwortlichkeit-sinnvoll-gestalten/. 75 Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 29; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 26 DSGVO Rz. 23. 76 In die Richtung auch Sydow/Ingold, Art. 26 DSGVO Rz. 10. 77 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 2; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 12. 78 Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 12. 79 Taeger/Gabel/Lang, Art. 26 DSGVO Rz. 37; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 20. 80 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 29; Schreiber, ZD 2019, 55, 56.

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Gemeinsam Verantwortliche

Rz. 53 Art. 26 DSGVO

Nach einer Ansicht soll eine korrekte Wiedergabe von Funktionen und Beziehungen zwischen den Verantwortlichen eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Vereinbarung sei, um Verantwortliche mit schwächerer Verhandlungsposition vor willkürlicher Haftungsüberleitung zu schützen.81 Die Wirksamkeit der Abreden der Verantwortlichen im Innenverhältnis sollte jedoch in erster Linie nach dem einschlägigen Zivilrecht beurteilt werden, zumal die DSGVO in Art. 83 Abs. 4 Buchst. a bereits eine ausdrückliche Sanktion für Verstöße gegen Art. 26 Abs. 2 Satz 1 enthält.

48

dd) Zurverfügungstellen des wesentlichen Inhalts Das Wesentliche der Vereinbarung ist den betroffenen Personen zur Verfügung zu stellen (Abs. 2 Satz 2). Zum Wesentlichen gehört zunächst die Beschreibung der Funktionen und Beziehungen der Verantwortlichen nach Abs. 2 Satz 1 (s. Rz. 46 ff.). Darüber hinaus sind die in Art. 26 Abs. 1 DSGVO genannten Inhalte anzugeben, soweit diese für die Betroffenen relevant sind, insb. um ihre Betroffenenrechte ausüben zu können.82 Es muss nicht die gesamte Vereinbarung veröffentlicht werden; insb. sind rein wirtschaftliche Konditionen nicht offenzulegen.83 Es bietet sich an, die offenzulegenden Inhalt in einer separaten Vertragsanlage zu regeln.84

49

Hinsichtlich der Transparenz der Informationen gilt ErwGr. 58 Satz 1, wonach für die Öffentlichkeit oder betroffene Personen bestimmte Informationen „präzise, leicht zugänglich und verständlich sowie in klarer und einfacher Sprache“ abzufassen sind.85 Dabei müssen die Eigenarten des konkreten Betroffenenkreises beachtet werden. Je geringer der Verständnishorizont der betroffenen Person für gewöhnlich ist, desto einfacher sollte die Sprachwahl ausfallen (insb. bei Kindern). Wie in ErwGr. 58 Satz 1 nahegelegt, können grafische Darstellungen zur Förderung des Verständnisses verwendet werden.

50

Unklar ist, ob die Information aktiv zur Verfügung gestellt werden muss (wie im Fall der Informationspflichten nach Art. 13 und 14) oder ob es genügt, diese auf Antrag des Betroffenen offenzulegen.86 Die Formulierung „zur Verfügung stellen“ ist insoweit schwächer als „mitteilen“ (wie in Art. 13), aber ihre Bedeutung ist – auch unter Berücksichtigung der anderen Sprachfassungen – nicht eindeutig. Eine proaktive Information vermeidet insoweit unnötige Risiken.

51

Eine besondere Form ist nicht vorgeschrieben. Die Bereitstellung der Information nach Abs. 2 Satz 2 kann zum Beispiel über ein Website erfolgen (vgl. ErwGr. 58 Satz 2).87 Dies ist angesichts der Verbreitung und Verfügbarkeit von Internetzugängen grundsätzlich auch dann eine angemessene Art und Weise der Bereitstellung, wenn die Datenverarbeitung in einem Offline-Kontext erfolgt.88 Für eine angemessene Auffindbarkeit der Informationen ist jedoch zu sorgen, ggf. sind insoweit ergänzende Hinweise auf die Website zum Beispiel in einer ausgehängten oder ausgehändigten Datenschutzerklärung zu erteilen.

52

ee) Form der Vereinbarung Die DSGVO verlangt keine besondere Form für die Vereinbarung zwischen den Verantwortlichen 53 (wie auch für die Bereitstellung des wesentlichen Teils der Vereinbarung für die betroffenen Personen, s. Rz. 52).89 Die fixierte/abrufbare Form (schriftlich oder elektronisch) wird aber zur Dokumentation der Einhaltung der Pflichten zu Recht einhellig empfohlen.90

81 82 83 84 85 86 87 88 89

Sydow/Ingold, Art. 26 DSGVO Rz. 9; DatKomm/Horn, Art. 26 DSGVO Rz. 32. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 26; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 15. Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 26 DSGVO Rz. 15. Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 15. Taeger/Gabel/Lang, Art. 26 DSGVO Rz. 37. Tendenziell gegen eine aktive Offenlegungspflicht Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 17. DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 4; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 16. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 260 rev.01, Rz. 40. Gola/Piltz, Art. 26 DSGVO Rz. 14; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 20; Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 25; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 26 DSGVO Rz. 30. 90 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 20; Paal/Pauly/Martini, Art. 26 DSGVO Rz. 25; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 29; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 26 DSGVO Rz. 30.

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DSGVO Art. 26 Rz. 54 Gemeinsam Verantwortliche b) Verantwortlichkeit und Haftung 54

Für Verarbeitungsvorgänge, die in alleiniger Verantwortung stattfinden, muss nur der jeweilige Verantwortliche für die Einhaltung der Pflichten sorgen, die die DSGVO ihm als Verantwortlichen auferlegt. Insofern hat die auf den einzelnen Vorgang beschränkte Betrachtung, die seit dem EuGH-Urteil „Fashion ID“ anzustellen ist, für die Begrenzung der Haftung der Beteiligten große Bedeutung. Eine Haftung für „vor- oder nachgelagerte“ Verarbeitungstätigkeiten in der ausschließlichen Verantwortung anderer Beteiligter besteht danach grundsätzlich nicht.91

55

Soweit die gemeinsame Verantwortlichkeit reicht, sind die gemeinsam Verantwortlichen jeder für sich zur Gewährleistung der Rechtmäßigkeit und zur Einhaltung aller Pflichten des Verantwortlichen nach der DSGVO verpflichtet. So haben sie nach Art. 24 für angemessene technisch-organisatorische Maßnahmen zu sorgen. Die nach Abs. 1 Satz 2 abzuschließende Vereinbarung führt nur im Innenverhältnis zur Aufteilung der Zuständigkeiten (vgl. Abs. 3).

56

Für die Einbindung von Social Plugins hat der EuGH allerdings entschieden, dass die für die – gemeinsam verantwortete – Erhebung erforderliche Einwilligung von dem Betreiber der Website und nicht dem Anbieter des Social Plugins einzuholen ist; dasselbe gilt für die im Zeitpunkt der Erhebung zu erfüllenden Informationspflichten.92 Dabei ist der EuGH offenbar davon ausgegangen, dass die Erfüllung dieser Pflichten für das soziale Netzwerk unmöglich sei (was zweifelhaft ist). Ggf. steht dahinter der allgemeine Grundsatz, dass niemand zu etwas Unmöglichem verpflichtet ist.93 Dessen Anwendung überrascht allerdings. Die Art.-29-Datenschutzgruppe war jedenfalls unter der DSRL davon ausgegangen, dass die subjektive Unfähigkeit zur Erfüllung den Verantwortlichen nicht von seinen Pflichten befreit.94 Zudem kann im Fall des Art. 26 durch die obligatorische Vereinbarung gerade eine Erfüllung durch den dazu fähigen anderen Verantwortlichen sichergestellt werden.

57

Im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit haften die Verantwortlichen den Betroffenen auf Schadensersatz jedenfalls nach Art. 82 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1. Im Außenverhältnis haften sie als Gesamtschuldner (Art. 82 Abs. 2). Im Innenverhältnis kann nach Verschuldensanteilen Regress genommen werden (Art. 82 Abs. 5). Nach der jüngeren EuGH-Rechtsprechung, die eine gemeinsame Verantwortlichkeit für jeden Verarbeitungsvorgang getrennt prüft, muss auch die Haftung auf diejenigen Phase der Verarbeitung begrenzt sein, auf die der Verantwortliche jeweils tatsächlich Einfluss hat.95 c) Sanktionen

58

Verstöße gegen Art. 26 sind nach Art. 83 Abs. 4 Buchst. a mit Bußgeld von bis zu 10.000.000 Euro oder im Fall eines Unternehmens von bis zu 2 % des weltweit erzielten Jahresumsatzes bewehrt (im Sinne des Konzernumsatzes).

III. Einzelfälle 59

Folgende Fälle werden von Aufsichtsbehörden oder in der Literatur – je nach Gestaltung – als Beispiele für eine gemeinsame Verarbeitung genannt (den Facebook-Fanpages, dem Facebook-Like-Button und der religiösen Mission liegen die angegebenen EuGH-Entscheidungen zugrunde):

91 EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 101, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID; Sattler, GRUR 2019, 1023, 1025. 92 EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 102, 103, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 93 EuGH v. 6.11.2018 – C-622/16 P bis C-624/16 P Rz. 79 – Scuola Elementare. 94 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 27; vgl. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 26 DSGVO Rz. 28 f. 95 Vgl. EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17 Rz. 101, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID; Spittka/Mantz, NJW 2019, 2742, 2744.

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Gemeinsam Verantwortliche

Rz. 61 Art. 26 DSGVO

Behavioural Targeting (Anbieter von Online-Inhalten und Werbenetzwerk);96 Blockchain (etwa die 60 Node-Betreiber des Bitcoin-Netzwerks, sehr streitig);97 Diagnosedaten aus der Nutzung von Software (im konkreten Fall ging die niederländische Aufsichtsbehörde von einer gemeinsamen Verantwortlichkeit des Herstellers Microsoft und des jeweiligen Unternehmens aus, dass Microsoft Office einsetzt);98 E-Government-Portal (Portalbetreiber und jeweilige Behörden);99 Facebook-Fanpages (Betreiber einer „Fanpage“ genannten Unterseite auf Facebook und Facebook selbst);100 Facebook-Like-Button (einbindender Websitebetreiber und Facebook);101 Finanztransaktionen und -mitteilungen (durchführende Bank und der mit ihr kooperierende Übermittlungsdienst für Finanzmitteilungen);102 gemeinsame Infrastruktur (z.B. gemeinsamer Betrieb einer Internet-Plattform für Reisereservierungen durch ein Reisebüro, eine Hotelkette und eine Fluggesellschaft);103 HR-Abteilung eines Konzerns (die Gesellschaft, bei der die zentrale Abteilung angesiedelt ist, und die übrigen Konzernunternehmen, deren Personal sie mitverwaltet);104 Informationspool/gemeinsame Warndatei über säumige Schuldner (z.B. teilnehmende Banken);105 klinische Arzneimittelstudien (Sponsor und Studienzentren/Ärzte, soweit diese gemeinsame Entscheidungen über die Verarbeitung treffen)106, zentralisierte Geschäftsprozesse im Konzern (die beteiligten Konzernunternehmen bei gemeinsamer Verwaltung von Daten – z.B. Adressdaten – für gleichlaufende Geschäftsprozesse);107 Krankenversicherungen und Dienstleister (bzgl. Online-Geschäftsstellen, wenn die Dienstleister an der Festlegung der Dienste beteiligt sind);108 Lettershop (Auftraggeber und Dienstleister, wenn dieser eigene Adressen und Elemente ergänzend zu denen des Auftraggebers einpflegt);109 Patientendaten (nationale Schaltstelle zur Regelung des Austauschs zwischen Gesundheitsdiensten und Behörde);110 PersonalvermittlungsDienstleister (Arbeitgeber und Personalvermittler, der nicht nur gezielte Bewerbungen für den Arbeitgeber einholt, sondern auch auf einen Pool mit allgemein Arbeitssuchenden zurückgreift);111 Religiöse Mission (Religionsgemeinschaft und deren Mitglieder beim Sammeln von Daten an Haustüren).112

IV. Verweise/Kontext – ErwGr. 79 spezifiziert den Sinn und Zweck der gemeinsamen Verantwortlichkeit. – Art. 4: Die Übermittlung von Daten zwischen den Controllern ist eine eigene Verarbeitung (Art. 4 Nr. 3), die rechtfertigungsbedürftig ist.113 Art. 4 Nr. 7 definiert den (allein oder gemeinsam) Verantwortlichen. Gemeinsam Verantwortliche sind untereinander Empfänger im Sinne von Art. 4 Nr. 9.114 96 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), Beispiel Nr. 14. 97 Vgl. BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 4a m.w.N.; jurisPK-Internetrecht/Heckmann/Scheurer, Kap. 9, Rz. 220; Plath/Plath, Art. 26 DSGVO Rz. 7a; Janicki/Saive, ZD 2019, 251, 255; Bechtolf/Vogt, ZD 2018, 66, 69. 98 Kremer, CR 2019, 225, 234 m.w.N. 99 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), Beispiel Nr. 11. 100 EuGH v. 5.6.2018 – C-210/16, CR 2018, 576 m. Anm. Brüggemann – Facebook Fanpage. 101 EuGH v. 29.7.2019 – C-40/17, CR 2019, 574 m. Anm. Schleipfer – Fashion ID. 102 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, Beispiel Nr. 10. Zwecke und Mittel sollen hier auf Makroebene verknüpft sein; eine vorherige Einigung über die Mittel wird vorausgesetzt. 103 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), Beispiel Nr. 8. 104 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 26 DSGVO Rz. 3 m.w.N.; Lezzi/Oberlin, ZD 2018, 398, 403. 105 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 4; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), Beispiel Nr. 13; Kremer, CR 2019, 225, 234. 106 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3. 107 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 3. 108 Kremer, CR 2019, 225, 233. 109 Kremer, CR 2019, 225, 233. 110 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), Beispiel Nr. 15. 111 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 4; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169 (de), S. 23, Beispiel Nr. 6. 112 EuGH v. 10.7.2018 – C-25/17 – Zeugen Jehovas. Im konkreten Fall hatte die Religionsgemeinschaft auf die Daten keinen Zugriff, bestimmte aber nach Auffassung des EuGH Zweck und Mittel der Erhebung mit. 113 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 1. 114 DSK, Kurzpapier Nr. 16, S. 1.

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DSGVO Art. 26 Rz. 61 Gemeinsam Verantwortliche – Art. 35: Bei einem „hohen Risiko“ für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen ist eine Datenschutzfolgenabschätzung durchzuführen. Für ein hohes Risiko kann ggf. die Komplexität einer gemeinsamen Verarbeitung sprechen. – Art. 82 Abs. 1–5 regeln die gesamtschuldnerische Haftung der Verantwortlichen für einen Schaden durch eine nicht DSGVO-konforme Verarbeitung. Der Nachweis fehlenden Verschuldens (Exkulpation) ist möglich, obliegt aber dem Verantwortlichen (Abs. 3). Abs. 5 regelt den Haftungsausgleich im Innenverhältnis der gemeinsam Verantwortlichen nach deren Anteil an der Verantwortung für den Schaden. – Art. 83 Abs. 4 Buchst. a regelt die mögliche Geldbuße bei einem Verstoß gegen Art. 26, nämlich bis zu 10.000.000 Euro oder 2 % des weltweit erzielten Jahresumsatzes des vorangegangenen Geschäftsjahres des Unternehmens (im Sinne des Konzerns), je nachdem welcher Betrag höher ist.

Art. 28 Auftragsverarbeiter (1) Erfolgt eine Verarbeitung im Auftrag eines Verantwortlichen, so arbeitet dieser nur mit Auftragsverarbeitern, die hinreichend Garantien dafür bieten, dass geeignete technische und organisatorische Maßnahmen so durchgeführt werden, dass die Verarbeitung im Einklang mit den Anforderungen dieser Verordnung erfolgt und den Schutz der Rechte der betroffenen Person gewährleistet. (2) Der Auftragsverarbeiter nimmt keinen weiteren Auftragsverarbeiter ohne vorherige gesonderte oder allgemeine schriftliche Genehmigung des Verantwortlichen in Anspruch. Im Fall einer allgemeinen schriftlichen Genehmigung informiert der Auftragsverarbeiter den Verantwortlichen immer über jede beabsichtigte Änderung in Bezug auf die Hinzuziehung oder die Ersetzung anderer Auftragsverarbeiter, wodurch der Verantwortliche die Möglichkeit erhält, gegen derartige Änderungen Einspruch zu erheben. (3) Die Verarbeitung durch einen Auftragsverarbeiter erfolgt auf der Grundlage eines Vertrags oder eines anderen Rechtsinstruments nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten, der bzw. das den Auftragsverarbeiter in Bezug auf den Verantwortlichen bindet und in dem Gegenstand und Dauer der Verarbeitung, Art und Zweck der Verarbeitung, die Art der personenbezogenen Daten, die Kategorien betroffener Personen und die Pflichten und Rechte des Verantwortlichen festgelegt sind. Dieser Vertrag bzw. dieses andere Rechtsinstrument sieht insbesondere vor, dass der Auftragsverarbeiter a) die personenbezogenen Daten nur auf dokumentierte Weisung des Verantwortlichen – auch in Bezug auf die Übermittlung personenbezogener Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation – verarbeitet, sofern er nicht durch das Recht der Union oder der Mitgliedstaaten, dem der Auftragsverarbeiter unterliegt, hierzu verpflichtet ist; in einem solchen Fall teilt der Auftragsverarbeiter dem Verantwortlichen diese rechtlichen Anforderungen vor der Verarbeitung mit, sofern das betreffende Recht eine solche Mitteilung nicht wegen eines wichtigen öffentlichen Interesses verbietet; b) gewährleistet, dass sich die zur Verarbeitung der personenbezogenen Daten befugten Personen zur Vertraulichkeit verpflichtet haben oder einer angemessenen gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen; c) alle gemäß Artikel 32 erforderlichen Maßnahmen ergreift; d) die in den Absätzen 2 und 4 genannten Bedingungen für die Inanspruchnahme der Dienste eines weiteren Auftragsverarbeiters einhält; e) angesichts der Art der Verarbeitung den Verantwortlichen nach Möglichkeit mit geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen dabei unterstützt, seiner Pflicht zur Beantwortung von Anträgen auf Wahrnehmung der in Kapitel III genannten Rechte der betroffenen Person nachzukommen;

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Auftragsverarbeiter

Art. 28 DSGVO

f) unter Berücksichtigung der Art der Verarbeitung und der ihm zur Verfügung stehenden Informationen den Verantwortlichen bei der Einhaltung der in den Artikeln 32 bis 36 genannten Pflichten unterstützt; g) nach Abschluss der Erbringung der Verarbeitungsleistungen alle personenbezogenen Daten nach Wahl des Verantwortlichen entweder löscht oder zurückgibt und die vorhandenen Kopien löscht, sofern nicht nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zur Speicherung der personenbezogenen Daten besteht; h) dem Verantwortlichen alle erforderlichen Informationen zum Nachweis der Einhaltung der in diesem Artikel niedergelegten Pflichten zur Verfügung stellt und Überprüfungen – einschließlich Inspektionen –, die vom Verantwortlichen oder einem anderen von diesem beauftragten Prüfer durchgeführt werden, ermöglicht und dazu beiträgt. Mit Blick auf Unterabsatz 1 Buchstabe h informiert der Auftragsverarbeiter den Verantwortlichen unverzüglich, falls er der Auffassung ist, dass eine Weisung gegen diese Verordnung oder gegen andere Datenschutzbestimmungen der Union oder der Mitgliedstaaten verstößt. (4) Nimmt der Auftragsverarbeiter die Dienste eines weiteren Auftragsverarbeiters in Anspruch, um bestimmte Verarbeitungstätigkeiten im Namen des Verantwortlichen auszuführen, so werden diesem weiteren Auftragsverarbeiter im Wege eines Vertrags oder eines anderen Rechtsinstruments nach dem Unionsrecht oder dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats dieselben Datenschutzpflichten auferlegt, die in dem Vertrag oder anderen Rechtsinstrument zwischen dem Verantwortlichen und dem Auftragsverarbeiter gemäß Absatz 3 festgelegt sind, wobei insbesondere hinreichende Garantien dafür geboten werden muss, dass die geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen so durchgeführt werden, dass die Verarbeitung entsprechend den Anforderungen dieser Verordnung erfolgt. Kommt der weitere Auftragsverarbeiter seinen Datenschutzpflichten nicht nach, so haftet der erste Auftragsverarbeiter gegenüber dem Verantwortlichen für die Einhaltung der Pflichten jenes anderen Auftragsverarbeiters. (5) Die Einhaltung genehmigter Verhaltensregeln gemäß Artikel 40 oder eines genehmigten Zertifizierungsverfahrens gemäß Artikel 42 durch einen Auftragsverarbeiter kann als Faktor herangezogen werden, um hinreichende Garantien im Sinne der Absätze 1 und 4 des vorliegenden Artikels nachzuweisen. (6) Unbeschadet eines individuellen Vertrags zwischen dem Verantwortlichen und dem Auftragsverarbeiter kann der Vertrag oder das andere Rechtsinstrument im Sinne der Absätze 3 und 4 des vorliegenden Artikels ganz oder teilweise auf den in den Absätzen 7 und 8 des vorliegenden Artikels genannten Standardvertragsklauseln beruhen, auch wenn diese Bestandteil einer dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter gemäß den Artikeln 42 und 43 erteilten Zertifizierung sind. (7) Die Kommission kann im Einklang mit dem Prüfverfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 Standardvertragsklauseln zur Regelung der in den Absätzen 3 und 4 des vorliegenden Artikels genannten Fragen festlegen. (8) Eine Aufsichtsbehörde kann im Einklang mit dem Kohärenzverfahren gemäß Artikel 63 Standardvertragsklauseln zur Regelung der in den Absätzen 3 und 4 des vorliegenden Artikels genannten Fragen festlegen. (9) Der Vertrag oder das andere Rechtsinstrument im Sinne der Absätze 3 und 4 ist schriftlich abzufassen, was auch in einem elektronischen Format erfolgen kann. (10) Unbeschadet der Artikel 82, 83 und 84 gilt ein Auftragsverarbeiter, der unter Verstoß gegen diese Verordnung die Zwecke und Mittel der Verarbeitung bestimmt, in Bezug auf diese Verarbeitung als Verantwortlicher. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . a) Zweck . . . . . . . . . . . . . . aa) Normative Abbildung des IT-Outsourcing . . . . . . bb) Privilegierung . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 1

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1 6

(1) Rechtslage nach DSRL und BDSG a.F. . . . . . . . . . . . . . . (2) Privilegierung unter der DSGVO . b) Entwicklung der Vorschrift . . . . . . . c) Altverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . .

. . . . .

. . . . .

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DSGVO Art. 28 Auftragsverarbeiter a) Merkmale und Erscheinungsformen der Auftragsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . aa) Der Verantwortliche entscheidet über Zweck und Mittel . . . . . . . . . (1) Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter (Art. 4 Nr. 7 und 8) . . . . . . (2) Entscheidung über Zweck und Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verbleibender Entscheidungsspielraum des Auftragsverarbeiters . . . . . bb) Abgrenzung zur Funktionsübertragung . . . . . . . . . . . . . . . (1) Diskussion um den Begriff der Funktionsübertragung . . . . . . . . . (2) Abgrenzungskriterien (entwickelt zum BDSG a.F.) . . . . . . . . . . . . . cc) Gestaltbarkeit durch Vereinbarung; Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . dd) Prüfung und Wartung von Datenverarbeitungsanlagen . . . . . . . . . . ee) Abgrenzung zur gemeinsamen Verantwortlichkeit (Art. 26) . . . . . . ff) Auftragsverarbeitung im Konzern . . . b) Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . aa) Auftragnehmer im Drittland . . . . . . bb) Auftraggeber im Drittland . . . . . . . (1) Verarbeitungen nach Art. 3 Abs. 2 . . (2) Keine Verarbeitung nach Art. 3 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Auftraggeber und Auftragnehmer im Drittland . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Technisch-organisatorische Maßnahmen des Auftragsverarbeiters (Art. 28 Abs. 1) . . a) Auswahl des Auftragnehmers . . . . . . . . b) Überwachung des Auftragnehmers . . . . . 2. Grundlage der Auftragsverarbeitung (Art. 28 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertrag oder anderes Rechtsinstrument . . b) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gegenstand und Dauer der Verarbeitung (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nähere Angaben zur Verarbeitung (Art. 28 Unterabs. 1 Satz 1) . . . . . . cc) Pflichten und Rechte des Verantwortlichen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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dd) Weisungsgebundenheit (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. a) . (1) Dokumentation von Weisungen . . . . (2) Abweichen von Weisungen bei rechtlicher Pflicht . . . . . . . . . . . . (3) Datentransfer an Stellen außerhalb der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Vertraulichkeitsverpflichtung (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. b) . ff) Technisch-organisatorische Maßnahmen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. c) . . . . . . . . . . . . . gg) Unterauftragsverarbeitung (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. d, Abs. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Betroffenenrechte (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. e) . . . . . . ii) Unterstützung des Verantwortlichen bei Pflichten nach Art. 32 bis 36 (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. f) . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Löschung oder Rückgabe der Daten bei Auftragsende (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. g) . . . . . kk) Nachweise und Überprüfungen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. h) . . . . . . . . . . . . . . . . ll) Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Information bei rechtswidrigen Weisungen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2) . . . . . . Unterauftragsverarbeiter (Art. 28 Abs. 2, Abs. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hinzuziehen von Unterauftragnehmern (Art. 28 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schriftliche Genehmigung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1) . . . . . . . . . bb) Mitteilung und Widerspruchsrecht (Art. 28 Abs. 2 Satz 2) . . . . . . . . . b) Vereinbarung mit dem Unterauftragsverarbeiter (Art. 28 Abs. 4) . . . . . . . . . Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren (Art. 28 Abs. 5) . . . . . . . . . . . Standardvertragsklauseln (Art. 28 Abs. 6, 7 und 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftform (Art. 28 Abs. 9) . . . . . . . . . . Exzess des Auftragsverarbeiters (Art. 28 Abs. 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, 1. Aufl. 2017 (zitiert: Albrecht/Jotzo, Teil … Rz. …); Becker, EU-Datenschutz-Grundverordnung, ITRB 2016, 107; Bieker/Hansen/Friedewald, Die grundrechtskonforme Ausgestaltung der Datenschutz-Folgenabschätzung nach der neuen europäischen Datenschutz-Grundverordnung, RDV 2016, 188; Bussche v.d./Voigt, Konzerndatenschutz Rechtshandbuch, 2. Aufl. 2019 (zitiert: Bussche/Voigt/Bearbeiter, Kap. … Rz. …); Conrad, Freelancer als Auftragsverarbeiter?, DuD 2019, 134; Conrad, Die Verantwortlichkeit in der Realität, DuD 2019, 563; Cornelius, Die „datenschutzrechtliche Einheit“ als Grundlage des bußgeldrechtlichen Unternehmensbegriffs nach der EU-DSGVO, NZWiSt 2016, 421; Dovas, Joint Controllership – Möglichkeiten oder Risiken der Datennutzung?, ZD 2016, 512; Datenschutzkonferenz der Länder (DSK), Kurzpapier Nr. 13 Auftragsverarbeitung, Stand 17.12.2018, https://www.datenschutzzentrum.de/uploads/dsgvo/kurzpa piere/DSK_KPNr_13_Auftragsverarbeitung.pdf (zitiert: DSK, Kurzpapier Nr. 13, S. …); Düsseldorfer Kreis, Hand-

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Auftragsverarbeiter

Rz. 2 Art. 28 DSGVO

reichung „Fallgruppen zur internationalen Auftragsdatenverarbeitung“, Stand 28.3.2007, https://www.ldi.nrw.de/ mainmenu_Service/submenu_Entschliessungsarchiv/Inhalt/Beschluesse_Duesseldorfer_Kreis/Inhalt/2007/20070419_ Internationaler_Datenverkehr/Handreichung.pdf (zitiert: Düsseldorfer Kreis, Handreichung, S. …); Eckhardt, DSGVO: Anforderungen an die Auftragsverarbeitung als Instrument zur Einbindung Externer, CCZ 2017, 111; Europäischer Datenschutzausschuss, Richtlinien 3/2018 bezüglich des räumlichen Anwendungsbereiches der DSGVO (Artikel 3) – Version für öffentliche Beratung, Stand 16.11.2018, https://edpb.europa.eu/sites/edpb/files/consulta tion/edpb_guidelines_3_2018_territorial_scope_en.pdf (zitiert: Europäischer Datenschutzausschuss, Richtlinie 3/2018, S. …); Faus/Spittka/Wybitul, Milliardenbußgelder nach der DS-GVO?, ZD 2016, 120; Franck, Das System der Betroffenenrechte nach der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), RDV 2016, 111; Fromageau/Bäuerle/ Werkmeister, Auftragsverarbeitung in der Praxis, PinG 2018, 216; Gola, Verbandsklagen – ein neues Schwert des Datenschutzes?, RDV 2016, 17; Grützmacher, Datenschutz und Outsourcing, ITRB 2007, 183; Hartung/Büttgen, Die Auftragsverarbeitung nach der DS-GVO, DuD 2017, 549; Härting, Auftragsverarbeitung nach der DSGVO, ITRB 2016, 137; Isik, Die Schriftform im EU-Recht, 1. Aufl. 2013; Jahn, Die Auftragsverarbeitung in der Vertragsgestaltung, DSB 2019, 131; Jung/Hansch, Die Verantwortlichkeit in der DS-GVO und ihre praktischen Auswirkungen, ZD 2019, 143; Koós/Englisch, Eine „neue“ Auftragsdatenverarbeitung?, ZD 2014, 276; LDA Bayern, Orientierungshilfe Auftragsdatenverarbeitung, Stand 1.4.2019, https://www.datenschutz-bayern.de/technik/orient/oh_auftragsverar beitung.pdf; LfDI Baden-Württemberg, Auftragsdatenverarbeitung und Funktionsübertragung, Stand 31.12.2012, https://www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de/wp-content/uploads/2013/02/Auftragsdatenverarbeitung-undFunktions%C3%BCbertragung.pdf; Lissner, Auftragsdatenverarbeitung nach der DSGVO – Was kommt, was bleibt?, in Taeger (Hrsg.), Tagungsbandherbstakademie 2016, 1/2016; Lücke, Die Betriebsverfassung in Zeiten der DS-GVO, NZA 2019, 658; Malatidis, Der Auftragsverarbeitungsvertrag gem. Art. 28 DSGVO in der Praxis: Aus alt muss neu? (Teil 2), ITRB 2019, 144; Müthlein, ADV 5.0 – Neugestaltung der Auftragsdatenverarbeitung in Deutschland, RDV 2016, 74; Petri, Auftragsdatenverarbeitung – heute und morgen, ZD 2015, 305; Redeker, IT-Recht, 6. Aufl. 2017; Roßnagel/Kroschwald, Was wird aus der Datenschutzgrundverordnung?, ZD 2014, 495; Roßnagel/Richter/Nebel, Besserer Internetdatenschutz für Europa, ZD 2013, 103; Rost, Bußgeld im digitalen Zeitalter – was bringt die DSGVO?, RDV 2017, 13; Schantz, Die Datenschutz-Grundverordnung – Beginn einer neuen Zeitrechnung im Datenschutzrecht, NJW 2016, 1841; Schmidt/Freund, Perspektiven der Auftragsverarbeitung, ZD 2017, 14; Schreiber, Gemeinsame Verantwortlichkeit gegenüber Betroffenen und Aufsichtsbehörden, ZD 2019, 55; Schröder, Datenschutzrecht für die Praxis, 3. Aufl. 2019; Seiter, Auftragsverarbeitung nach der Datenschutz-Grundverordnung, DuD 2019, 127; Voigt, Konzerninterner Datentransfer, CR 2017, 428; Völkel, Die Auftragsverarbeitung im Sozialdatenschutz bei Gesetzlichen Krankenversicherungen mit besonderen Herausforderungen bei Wartung und CloudComputing, PinG 2018, 189; Weth/Herberger/Wächter/Sorge, Daten und Persönlichkeitsschutz im Arbeitsverhältnis, 2. Aufl. 2019 (zitiert: Weth/Herberger/Wächter/Sorge/Bearbeiter, Teil … Kap. …); Wybitul, EU-DatenschutzGrundverordnung in der Praxis – Was ändert sich durch das neue Datenschutzrecht?, BB 2016, 1077.

I. Allgemeines 1. Einführung a) Zweck aa) Normative Abbildung des IT-Outsourcing Zweck der Auftragsverarbeitung ist es, die Effizienzvorteile arbeitsteiligen Wirtschaftens zu nutzen,1 insb. durch IT-Outsourcing. I.d.R. ergeben sich durch die Infrastrukturen der Dienstleister zugleich Vorteile für die Datensicherheit. Auf der anderen Seite ist dem Schutz der Betroffenen Rechnung zu tragen, indem das durch die Auslagerung entstehende Defizit an unmittelbarer Kontrolle durch eine robuste Bindung des Auftragsverarbeiters an die Weisungen des Verantwortlichen und diesbezügliche Kontrollmaßnahmen kompensiert wird.

1

Vor diesem Hintergrund trifft die DSGVO, wie schon die DSRL, Sonderregeln für diese Form der Zusammenarbeit. Rechtlich wird der Auftragsverarbeiter als „verlängerte Werkbank“ des für die Datenverarbeitung Verantwortlichen behandelt und diesem zugerechnet. Es entsteht gleichsam eine datenschutzrechtliche Zelle, innerhalb derer die Datenweitergabe keiner Rechtfertigung als Datenübermittlung bedarf.

2

1 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 1; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 1; Simitis/ Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 2.

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DSGVO Art. 28 Rz. 3 Auftragsverarbeiter 3

Nach außen obliegt es dem Verantwortlichen, die materielle Rechtmäßigkeit der Verarbeitung sicherzustellen. Da er über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung entscheidet, ist nur er „Verantwortlicher“ nach der Definition in Art. 4 Nr. 7.

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Der Auftragnehmer ist lediglich „Auftragsverarbeiter“ i.S.v. Art. 4 Nr. 8 und unterliegt nur den an diese Rolle geknüpften Pflichten. Dazu gehört insb., die Daten ausschließlich nach Weisung des Auftraggebers zu verarbeiten (Art. 29). Nur bei einer eigenmächtigen Überschreitung des Auftrags unterliegt der Auftragsverarbeiter auch den materiellen Pflichten eines Verantwortlichen (Art. 28 Abs. 10). Diese Entlastung des Auftragsverarbeiters von der materiellen Verantwortung für Vorgänge, die ohnehin nur den Zwecken des Auftraggebers dienen, ist sachgerecht und ermöglicht ihm die Konzentration auf die Optimierung der Verarbeitungsabläufe.

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Der Auftragsverarbeiter bleibt jedoch unmittelbar selbst verpflichtet, eine angemessene Datensicherheit zu gewährleisten (Art. 32). Zudem wurde das Pflichtenprogramm des Auftragsverarbeiters mit Blick auf die eigene Datenschutzorganisation ggü. der DSRL ausgeweitet. So gelten für den Auftragsverarbeiter z.B. Art. 27 Abs. 1 (Benennung eines Vertreters); Art. 30 Abs. 2 (Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten), Art. 31 (Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde); Art. 33 Abs. 2 (Meldung von Datenschutzverletzungen), Art. 37 Abs. 1 (Benennung eines Datenschutzbeauftragten) und Art. 44 (Datenübermittlung in Drittländer). All dies führt aber nicht zu einer Gleichstellung mit den Pflichten eines Verantwortlichen, dem weiterhin allein die materielle Rechtsmäßigkeitskontrolle obliegt. Eine solche Gleichstellung strebt die DSGVO entgegen anderslautender Ansichten in der Literatur auch nicht an.2 bb) Privilegierung

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Eine zentrale rechtliche Wirkung des Rechtsinstituts der Auftragsverarbeitung ist deren sog. Privilegierung. Sie besagt, dass die Weitergabe von personenbezogenen Daten an einen ordnungsgemäß ausgewählten und verpflichteten Auftragsverarbeiter keiner gesonderten Rechtfertigung bedarf. (1) Rechtslage nach DSRL und BDSG a.F.

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Da diese privilegierende Wirkung der Auftragsverarbeitung in der DSRL nur impliziert angelegt war, wurde sie teilweise bestritten. Die Zurechnung des Auftragsverarbeiters zum Verantwortlichen wurde am ehesten daran deutlich, dass er nach Art. 2 Buchst. f DSRL nicht als „Dritter“ anzusehen war. Erst durch die Umsetzung in das BDSG a.F. wurde die Privilegierung der Auftragsverarbeitung im deutschen Datenschutzrecht eindeutig geregelt, allerdings in komplizierter Weise. Dazu wurde der Begriff der Übermittlung so definiert, dass er nur die Bekanntgabe von Daten an Dritte erfasste und somit nicht an Auftragsverarbeiter. Folglich war die Datenüberlassung an Auftragsverarbeiter keine Übermittlung und fiel damit nicht unter das allgemeine Verarbeitungsverbot.3

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Allerdings änderte das BDSG zugleich die Definition des Dritten ggü. der DSRL derart, dass Auftragsverarbeiter in Drittstaaten (im Gegensatz zu solchen im EWR) als Dritte galten. Die Privilegierung der Auftragsverarbeitung nach dem BDSG a.F. galt damit nur innerhalb des EWR. Sie entfiel für die Beauftragung von Drittstaaten-Auftragsverarbeitern, welche an den allgemeinen Vorschriften gemessen wurde. Zumeist kam dabei § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG zur Anwendung (berechtigtes Interesse des Verantwortlichen). Da diese Vorschrift jedoch für sensible Daten nicht galt, war die Auftragsverarbeitung z.B. von Gesundheitsdaten im EU-Ausland ohne Einwilligung der Betroffenen nach herrschender Ansicht unter dem BDSG a.F. nicht zulässig.

2 A.A. Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 18 mit Hinweis auf ErwGr. 13, wonach die DSGVO „dieselben Pflichten und Zuständigkeiten für die Verantwortlichen und Auftragsverarbeiter vorsieht“. Gemeint sind damit aber EUweit einheitliche Pflichten, nicht identische Pflichten für Verantwortliche und Auftragsverarbeiter. 3 Vgl. Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 7; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 15-17; Forgó/ Helfrich/Schneider/Borges, Betrieblicher Datenschutz, Teil I. Kap. 3. Rz. 167.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 12 Art. 28 DSGVO

(2) Privilegierung unter der DSGVO Leider versäumt die DSGVO die gebotene Klarstellung hinsichtlich der privilegierenden Wirkung der Auftragsverarbeitung. Sie übernimmt wesentliche Teile der relevanten Definitionen aus der DSRL und schweigt wie diese zu der Frage, ob der Datenaustausch zwischen Verantwortlichem und Auftragsverarbeiter als rechtfertigungsbedürftige Übermittlung anzusehen ist.

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Dies hat Teile der Literatur zu der Auffassung geführt, dass die aus dem BDSG bekannte Privilegierung 10 mit der DSGVO entfalle.4 Dies würde bedeuten, dass bei der Auftragsverarbeitung zusätzlich zu den Bedingungen des Art. 28 noch zu prüfen wäre, ob die Datenüberlassung an den Auftragsverarbeiter nach den allgemeinen Vorschriften, also Art. 6 oder Art. 9, zu rechtfertigen ist.5 Die Situation wäre dann ähnlich wie unter dem BDSG a.F. für die Beauftragung von Drittlands-Auftragsverarbeitern: Für einfache Daten käme Art. 6 Abs. 1 Buchst. f als Rechtsgrundlage in Betracht (berechtigtes Interesse des Verantwortlichen an einer effizienten Verarbeitung), die Auslagerung von sensiblen Daten wäre indes nach Art. 9 kaum zu rechtfertigen. Nach der überwiegenden Gegenansicht besteht die Privilegierung hingegen unverändert fort.6 Aus 11 der Sicht des BDSG a.F. entfällt dann sogar die bisherige Beschränkung der Privilegierung auf Auftragsverarbeiter im EWR, so dass abgesehen von den Anforderungen nach Kapitel V der DSGVO keine zusätzlichen Einschränkungen mehr für die Beauftragung von Auftragsverarbeitern in Drittländern bestehen.7 Nach dieser Ansicht ist dann insb. auch die Verarbeitung sensibler Daten unter den Voraussetzungen von Art. 28 zulässig. Dogmatisch lässt sich die Privilegierung der Auftragsverarbeitung unter der DSGVO auf verschiedene Weise begründen. So wird vertreten, dass der Datenaustausch zwischen dem Verantwortlichen und dem Auftragsverarbeiter keine Datenübermittlung i.S.d. Art. 4 Nr. 2 ist.8 Hierfür wird insb. angeführt, dass der Auftragsverarbeiter nicht Dritter gem. Art. 4 Nr. 10 ist.9 Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man die Auftragsverarbeitung als einen datenschutzrechtlichen Sonderfall behandelt, dessen Rechtmäßigkeitsanforderungen in Art. 28 abschließend geregelt sind.10 Schließlich besteht nach einer vermittelnden Auffassung unter der DSGVO eine beschränkte Privilegierung. Die DSGVO habe das Konzept des BDSG nur mit Einschränkungen übernommen.11 Zwar sei der Datenaustausch zwischen Verantwortlichem und Auftragsverarbeiter für sich betrachtet auch weiterhin keine rechtfertigungsbedürftige Datenübermittlung. Jedoch sei dieser Austausch eingebunden in das übergeordnete Verarbeitungsverfahren des Verantwortlichen und bilde mit diesem einen einheitlichen, nach Art. 6 rechtfertigungsbedürftigen Verarbeitungsvorgang.12 Diese Auffassung ist aller4 Laue/Kremer/Kremer, § 5 Rz. 6; Härting, ITRB 2016, 137, 138, der allerdings verschiedene Wege zur Korrektur vorschlägt; Roßnagel/Kroschwald, ZD 2014, 495, 497 (zum Kommissions- und LIBE-Entwurf); Roßnagel/Richter/Nebel, ZD 2013, 103, 105 (zum Kommissionsentwurf); Dovas, ZD 2016, 512, 516; Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 5 ff. 5 Vgl. Roßnagel/Kroschwald, ZD 2014, 495, 497 (zum Kommissions- und LIBE-Entwurf). 6 LDA Bayern, Orientierungshilfe Auftragsverarbeitung, S. 7; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 11; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 18 und 23; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 8; Gola/Gola, Art. 4 DSGVO Rz. 75; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 15; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 8a; Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 6; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 33; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 11; Moos/Schefzig/Arning/Moos/Cornelius, Kap. 7 Rz. 15; Schmidt/Freund, ZD 2017, 14, 15; Eckhardt, CCZ 2017, 111, 113; Voigt, CR 2017, 428, 430; im Ergebnis auch Redeker, IT-Recht, Rz. 1390; Fromageau/Bäuerle/Werkmeister, PinG 2018, 216, 218; Völkel, PinG 2018, 189, 190. 7 LDA Bayern, Orientierungshilfe Auftragsverarbeitung, passim; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 106; Müthlein, RDV 2016, 74, 83; Eckhardt, CCZ 2017, 111, 116; Fromageau/Bäuerle/Werkmeister, PinG 2018, 216, 219. 8 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 8a; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 10; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 20. 9 Seiter, DuD 2019, 127, 130; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 11; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 19; Conrad, Dud 2019, 134, 134. 10 Schmidt/Freund, ZD 2017, 14, 16. 11 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 29. Richtig ist hingegen, dass das BDSG die weitergehende Privilegierung der DSRL nur unvollständig übernommen hat und die DSGVO der DSRL folgt. 12 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 29; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 61 ff.; wohl auch Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 31; vgl. auch Härting, ITRB 2016, 137, 139.

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DSGVO Art. 28 Rz. 12 Auftragsverarbeiter dings schwer in eine praxisgerechte Prüfung umzusetzen. Es bleibt unklar, in welchem Umfang die Auftragsverarbeitung im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung konkret zu berücksichtigen wäre; sie dürfte wohl nur in Ausnahmefällen zur Unzulässigkeit des gesamten Verarbeitungsvorgangs führen.13 13

Vorzugswürdig ist die herrschende Auffassung, wonach die Privilegierung unter der DSGVO fortbesteht und Drittlands-Auftragsverarbeiter umfasst.14 Dafür spricht insb. das historische Argument, da die DSGVO das Konzept der DSRL zur Auftragsverarbeitung durch weitgehende Übernahme der entscheidenden Definitionen fortführt und damit auch die Privilegierung übernimmt.15 Bis zu einer eindeutigen Positionierung der Aufsichtsbehörden oder einer Klärung in der Rspr. verbleibt allerdings für die Auftragsverarbeitung von sensiblen Daten eine bedauerliche Rechtsunsicherheit. Diese wäre ohne eine Privilegierung der Auftragsverarbeitung an Art. 9 zu messen und damit ohne Einwilligung der Betroffenen kaum zu rechtfertigen. b) Entwicklung der Vorschrift

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Das Konzept der Auftragsverarbeitung fand sich schon im BDSG von 197716 und später in der DSRL.17 Seine Bedeutung für die Praxis hat seit den Anfängen des Datenschutzrechts stetig zugenommen. Treibende Faktoren sind zum einen die aus Skaleneffekten resultierenden Einsparpotentiale,18 zum anderen eine fortschreitende Vernetzung, die die Auslagerung auch datenintensiver Anwendungen mit weltweiter Verfügbarkeit in Echtzeit ermöglicht. Hinzu kommt in jüngerer Zeit eine Monopolisierung von Knowhow (etwa im Bereich künstlicher Intelligenz) und von Datenbeständen durch große CloudAnbieter, die neuartige Dienstangebote teils ohne lokale Konkurrenz ermöglicht.

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Die DSRL regelte die Auftragsdatenverarbeitung rudimentär und beiläufig. Neben den Definitionen des Verantwortlichen und des Auftragsverarbeiters in Art. 2 Buchst. d und e DSRL war die eigentliche Regelung in der Vorschrift über die Sicherheit der Verarbeitung enthalten, nämlich in Art. 17 DSRL. Nach Art. 17 Abs. 2 DSRL muss der Auftragsverarbeiter ausreichende Gewähr für angemessene technisch-organisatorische Maßnahmen bieten und sorgfältig ausgewählt werden. Die inhaltlichen Vorgaben für die Vereinbarung über die Auftragsverarbeitung gem. Art. 17 Abs. 3 DSRL waren denkbar knapp; sicherzustellen waren danach die strikte Weisungsgebundenheit des Auftrags und die Verpflichtung auf ordnungsgemäße Sicherheitsmaßnahmen.

16

Diese unsystematische Regelung wurde der Bedeutung der Auftragsverarbeitung nicht gerecht. Die fehlenden Vorgaben für die Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung waren nicht geeignet, ein einheitliches Datenschutzniveau bei der Auslagerung sicherzustellen und Rechtssicherheit für die Verantwortlichen zu schaffen. Zu begrüßen ist insofern, dass die DSGVO den detaillierten Anforderungskatalog des § 11 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. inhaltlich weitgehend übernommen hat. c) Altverträge

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Ob und inwieweit bereits bestehende Vereinbarungen nach den Vorgaben von § 11 BDSG a.F. anzupassen sind, ist im Einzelfall zu prüfen.19 Grundsätzlich besteht eine erhebliche Übereinstimmung zwischen den Anforderungskatalogen aus § 11 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. und Art. 28 Abs. 3. Unterschie-

13 Ingold gibt als Beispiel eine Verarbeitung auf Basis einer Einwilligung, bei der der Einwilligende eine Auftragsverarbeitung ausgeschlossen hat, s. Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 31. 14 S. zu Zweigstellen in Drittstaaten: Forgó/Helfrich/Schneider/Borges, Teil I, Kap. 3 Rz. 115 ff. 15 Zu weiteren Argumenten s. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 16-19; Schmidt/Freund, ZD 2017, 14, 15 f. 16 S. §§ 8, 22 Abs. 2 und 31 Abs. 22 BDSG 1977. 1990 wurden die Regelungen in § 11 BDSG a.F. überführt und 2009 erheblich reformiert. 17 S. Art. 2 Buchst. e und f, Art. 16 und insb. Art. 17 Abs. 2 und 3 DSRL. 18 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 8. 19 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 83 f.; Hartung/Büttgen, DuD 2017, 549, 554; Moos/Schefzig/ Arning/Moos/Cornelius, Die Neue Datenschutzgrundverordnung, Kap. 7 Rz. 35; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 38; von einer Pflicht zur Anpassung ausgehend Roßnagel/Hofmann, DS-GVO, § 3 Rz. 267; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 32.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 21 Art. 28 DSGVO

de betreffen teils nur Begrifflichkeiten ohne inhaltliche Abweichungen20 bzw. lassen sich durch Auslegung auflösen.21 Bei der Prüfung von Altverträgen sind insb. die Vorgaben nach Art. 28 Abs. 2 bis 4 zu berücksichtigen, z.B. die Pauschalgenehmigung mit Widerspruchsvorbehalt im Hinblick auf die Einschaltung von weiteren Auftragsverarbeitern, die neuartigen obligatorischen Unterstützungspflichten, Normverweise (z.B. für Meldepflichten bei Datenschutzvorfällen, vgl. Art. 33, 34) und die Vereinbarkeit von Haftungsregelungen mit der DSGVO (vgl. Art. 28 Abs. 4 Satz 2 und Art. 82 ff.).22 Anpassungen können durch Zusatz- oder Änderungsvereinbarungen vorgenommen werden, ein vollständig neuer Vertrag ist nicht zwingend erforderlich. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich a) Merkmale und Erscheinungsformen der Auftragsverarbeitung Sachverhalte, in denen eine Auftragsverarbeitung vorliegt oder in Betracht kommt, sind vielfältig. Allein das klassische IT-Outsourcing bietet eine hohe Bandbreite von der Auslagerung von Services (z.B. Druckoutput oder Anwendungssupport) über das Hosting (Co-Location, Root/Managed Dedicated Server) bis zu den Erscheinungsformen des Cloud Computing (Infrastructure/Platform/Software as a Service, Public/Private/Hybrid/Community Cloud). Regelmäßig sind dabei beide Seiten, also Auftraggeber und Dienstleister, daran interessiert, dass Art. 28 eingreift: der Auftraggeber möchte das Outsourcing durch die Privilegierungswirkung der Auftragsverarbeitung legitimieren (s. Rz. 6 und 13), der Dienstleister möchte die Pflichtenstellung eines Verantwortlichen vermeiden. Angesichts dieser rechtlichen Bedeutung des Konstrukts der Auftragsdatenverarbeitung einerseits und der Vielzahl möglicher Verarbeitungssituationen andererseits ist eine praxisgerechte Abgrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 28 notwendig.

18

aa) Der Verantwortliche entscheidet über Zweck und Mittel Die Schlüsselbegriffe für die Einordnung einer Verarbeitungssituation als Auftragsverarbeitung sind die des Verantwortlichen und des Auftragsverarbeiters. Ob ein konkreter Verarbeitungsvorgang unter Art. 28 fällt, bestimmt sich allein danach, ob der unmittelbar Verarbeitende seiner vertraglichen und faktischen Rolle nach die Definition des Auftragsverarbeiters erfüllt. Anderenfalls ist er Verantwortlicher.

19

(1) Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter (Art. 4 Nr. 7 und 8) Der Verantwortliche ist definiert als „die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet […]“ (Art. 4 Nr. 7; ebenso Art. 2 Buchst. d DSRL). Der Auftragsverarbeiter ist „eine natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die personenbezogene Daten im Auftrag des Verantwortlichen verarbeitet“ (Art. 4 Nr. 8; ebenso Art. 2 Buchst. e DSRL). Die Definition des Auftragsverarbeiters knüpft also unselbständig an die des Verantwortlichen an. Entscheidend zur Bestimmung der Rollen ist damit die Frage nach der Verantwortlichkeit, also danach, wer über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung entscheidet (Art. 4 Nr. 7).

20

Für die vorgenannten Begriffe ist eine autonome, EU-weit einheitliche Auslegung zu finden.23 Hierfür 21 kann auf das Working Paper 169 der europäischen Aufsichtsbehörden zu den Begriffen des „Verantwortlichen“ und des „Auftragsverarbeiters“ unter der DSRL zurückgegriffen werden. Da die DSGVO die Definitionen der DSRL insoweit übernommen hat und das Konstrukt der Auftragsverarbeitung nicht grundlegend ändern wollte, ist diese Stellungnahme weiterhin gültig.24

20 Dazu Hartung/Büttgen, DuD 2017, 549, 550; Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 27. 21 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 84. 22 Ähnliches empfehlend auch Moos/Schefzig/Arning/Moos/Cornelius, Kap. 7 Rz. 35 f.; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 84. 23 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 11. 24 Vgl. Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 16.

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DSGVO Art. 28 Rz. 22 Auftragsverarbeiter (2) Entscheidung über Zweck und Mittel 22

Vornehmlicher Regelungsadressat der materiellen Datenschutzvorschriften ist der Verantwortliche, der sich dadurch auszeichnet, dass er über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung bestimmt (Art. 4 Nr. 7). Seine Bestimmungsmacht über die Daten kann auf gesetzlicher Grundlage beruhen,25 ergibt sich aber noch häufiger aus rein faktischen Umständen.26 Insofern ist zur Bestimmung des Verantwortlichen zunächst zu fragen: „Warum wird diese Verarbeitung durchgeführt? Wer hat sie veranlasst?“.27 Die Verantwortung für die Verarbeitung ergibt sich also in erster Linie daraus, dass eine Organisation entschieden hat, personenbezogene Daten für ihre eigenen Zwecke zu verarbeiten. Auf die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung oder der verfolgten Zwecke kommt es nicht an.28

23

Die so festgestellte (faktische) Bestimmungsmacht des Verantwortlichen durch das Datenschutzrecht legitimiert, dass er in die Verantwortung genommen und auf die Einhaltung der Datenschutzgrundsätze verpflichtet wird (vgl. Art. 5 Abs. 2). Hieraus folgt, dass die Sonderbehandlung des Auftragsverarbeiters, der in den „inneren Kreis“ der Datenverarbeitung des Verantwortlichen einbezogen und dafür selbst von materieller Verantwortung weitgehend freigestellt wird,29 nur dann angemessen ist, wenn der Auftragsverarbeiter selbst an der Bestimmungsmacht über die Daten nicht oder jedenfalls nicht wesentlich teilhat. (3) Verbleibender Entscheidungsspielraum des Auftragsverarbeiters

24

Wird neben dem Verantwortlichen ein weiterer Akteur an der Verarbeitung beteiligt (z.B. durch Outsourcing), so bestimmt sich dessen Rolle danach, ob und in welchem Grad er an der Entscheidung über Zwecke und Mittel beteiligt ist. Die Frage ist, welchen Handlungsspielraum einem Auftragsverarbeiter nach dem Gesetz eingeräumt werden kann, bevor er zum Verantwortlichen wird.

25

Die europäischen Aufsichtsbehörden betonen dabei den Vorrang der Entscheidung über den Zweck (das „Warum“) der Verarbeitung, die beim Verantwortlichen liegen sollte, während die Entscheidung über die Mittel (das „Wie“) nachrangig ist und eher auf den Auftragsverarbeiter verlagert werden kann.30 Nach diesem pragmatischen Ansatz der Art.-29-Datenschutzgruppe kann ein Auftragsverarbeiter also aufgrund allgemeiner Weisungen tätig sein, die in erster Linie die Zwecke betreffen und in Bezug auf die Mittel nicht zu sehr ins Detail gehen.31

26

Nach der Ansicht der Aufsichtsbehörden können Auftragsverarbeiter vor allem hinsichtlich der Wahl der Mittel (also hinsichtlich des „Wie“) Entscheidungsspielräume behalten. Dies betrifft etwa einige technische und organisatorische Fragen, deren Entscheidung „problemlos“ an Auftragsverarbeiter delegiert werden könne.32 Dazu zählt etwa die Festlegung, welche Hard- oder Software beim IT-Outsourcing verwendet wird. Andererseits zählen zum „Wie“ der Verarbeitung auch Elemente, die naturgemäß der Entscheidung des Verantwortlichen vorbehalten sind, z.B. wer die Daten verarbeitet, wie lange die Daten verarbeitet werden und wer Zugang dazu hat.33

27

Um bei einem Outsourcing die regelmäßig beidseits gewünschten Wirkungen der Auftragsverarbeitung herbeizuführen, ist vor diesem Hintergrund zu empfehlen, weder die Entscheidung über das Ob 25 Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 4; Simitis/Hornung/Spieker gen. Döhmann/Petri, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 26 ff. 26 Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 5; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 27; ausf. dazu Taeger/Gabel/ Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 169 ff.; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 11; zur problematischen Bestimmbarkeit Conrad, DuD 2019, 563, 564. 27 Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 169; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 11. 28 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 11 und 12. 29 Vgl. etwa Art. 82 Abs. 2 Satz 2 DSGVO; Noch klarer als in der DSGVO war diese Freistellung nach § 11 Abs. 4 BDSG a.F. 30 Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 15; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 4; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 4 Nr. 8 DSGVO Rz. 7, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 13, Art. 28 DSGVO Rz. 30; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 3; Moos/Schefzig/Arning/Moos/Cornelius, Kap. 7 Rz. 11; Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 219; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 16. 31 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 16. 32 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 17. 33 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 17.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 30 Art. 28 DSGVO

der Verarbeitung an den Auftragnehmer zu delegieren noch die wesentlichen Entscheidungen über das Wie der Verarbeitung – also Dauer, Beteiligte, Zugangsberechtigte – vollständig aus der Hand zu geben. bb) Abgrenzung zur Funktionsübertragung Unter dem BDSG a.F. wurde die Auftragsverarbeitung von den deutschen Aufsichtsbehörden34 und 28 vielen Literaturstimmen zur Funktionsübertragung abgegrenzt, bei der der Dienstleister nicht streng weisungsgebunden, sondern eigenverantwortlich tätig wird. Der Begriff der Funktionsübertragung war und ist im Gesetz nicht zu finden. Er war aber als Gegenbegriff zur Auftragsverarbeitung in Literatur und Rspr. anerkannt.35 (1) Diskussion um den Begriff der Funktionsübertragung Um die autonome Auslegung der DSGVO zu befördern, wollen einige Autoren den Begriff der Funktionsübertragung aufgeben.36 Es wird sogar behauptet, der Begriff sei obsolet, weil Auftragsverarbeiter nach der DSGVO nicht mehr notwendig weisungsgebunden seien, so dass auch eine eigenverantwortliche Verarbeitung wie die bisherige Funktionsübertragung nunmehr als Auftragsverarbeitung unter Art. 28 fallen könne.37 Diese Behauptung geht allerdings fehl. Art. 28 Abs. 10 und Art. 29 statuieren nach wie vor eine strenge Bindung des Auftragsverarbeiters an die Weisungen des Verantwortlichen.38 Das Konzept der Auftragsverarbeitung hat sich nicht fundamental geändert. Angesichts dessen scheint die Abwendung von dem Konzept der Funktionsübertragung der (verständlichen) Motivation zu folgen, die Auftragsverarbeitung zu flexibilisieren und für weitere Anwendungsfälle verfügbar zu machen. Dieses Bemühen schießt aber zum Teil über das rechte Maß hinaus, nämlich über die Grenzen, welche die DSGVO für die Auftragsverarbeitung vorgibt.

29

Den Kritikern am Konzept der Funktionsübertragung ist zuzugeben, dass dessen Bedeutung in der 30 Diskussion zum BDSG a.F. sich ungewöhnlich verselbständigt hat. Auch kann die Wortschöpfung „Funktionsübertragung“ Missverständnisse auslösen. Sie suggeriert, dass eine Auftragsverarbeitung gerade dann nicht mehr vorliegt, wenn über die bloße technische Datenverarbeitung hinaus eine ganze Funktion ausgelagert wird. Damit wären etwa Fälle des Business Process Outsourcing (bei der ein ganzer Geschäftsprozess ausgelagert wird) per se aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 herausgenommen. Dies dürfte zwar häufig zutreffen,39 aber doch nicht in jedem Fall. Nochmals ist der Hinweis geboten, dass es für die Abgrenzung der Auftragsverarbeitung gegen Fälle des eigenverantwortlichen Handelns (z.B. eines Outsourcing-Anbieters) nach der DSGVO allein darauf ankommt, 34 S. LfDI Baden-Württemberg, Auftragsdatenverarbeitung und Funktionsübertragung, Stand 31.12.2012, ,www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de., S. 4 f. 35 S. etwa OLG Köln v. 20.7.2015 – 19 U 24/15, juris Rz. 18; vgl. dazu auch Forgó/Helfrich/Schneider/Schneider, Teil VII. Kap. 2 Rz. 34 ff. 36 Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 14; BeckOK DatenSR/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 98; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 26 („keinen Anwendungsfall mehr“); Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 44; Plath/Schreiber, Art. 4 DSGVO Rz. 33; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 48; Wybitul/Pötters/Böhm, Art. 4 DSGVO Rz. 41; deutlich DSK, Kurzpapier Nr. 13, S. 1 („Die Figur […] ist jedoch in der DS-GVO nicht vorgesehen“); Dovas, ZD 2016, 512, 516; Jung/Hansch, ZD 2019, 143, 145 („war eine rein nationalstaatlich gefärbte Rechtsfigur“); Seiter, DuD 2019, 127, 130 („unnötig, weil keinerlei rechtlichen Gewinn bietend“); a.A. Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 15 f.; Gierschmann/ Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 4 Nr. 8 DSGVO Rz. 20; Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 18 ff.; mit zahlreichen dazugehörigen Praxisbeispielen Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 28 DSGVO Rz. 10 ff. 37 Härting, ITRB 2016, 137, 137; mit ähnlicher Erwägung Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 48; Dovas, ZD 2016, 512, 516, der dies jedoch mit dem nicht zutreffenden „Wegfall der Privilegierung des Auftragsverarbeiters“ begründet; im Ergebnis nunmehr auch Plath/Schreiber, Art. 4 DSGVO Rz. 33; a.A. Wybitul/Pötters/Böhm, Art. 4 DSGVO Rz. 41. 38 Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 8; a.A. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 35 ff. 39 Differenzierend Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 28 DSGVO Rz. 19; ebenso Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 17 ff.; s. auch zum BDSG a.F. Grützmacher, ITRB 2007, 183, 185.

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DSGVO Art. 28 Rz. 30 Auftragsverarbeiter inwieweit der Dienstleister über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung bestimmt (dazu Rz. 24 ff.).40 Ob dabei eine Aufgabe mit übertragen wird, ist nicht entscheidend.41 Vielmehr vergleicht die Art.-29Datenschutzgruppe die Auftragsverarbeitung sogar ausdrücklich mit der Aufgabenübertragung („Delegation“).42 31

Richtig ist auch, dass die Auftragsverarbeitung nach der DSGVO ein eigenverantwortliches Handeln des Auftragsverarbeiters nicht gänzlich ausschließt.43 Denn eigenverantwortliche Entscheidungen sind auch unterhalb der Schwelle möglich, ab der er nach Art. 4 Nr. 7 zum Verantwortlichen wird. Bei der Verfolgung eigener Zwecke wird diese Schwelle allerdings regelmäßig überschritten.44 Somit dürften viele Fälle, die in der Vergangenheit als „Funktionsübertragung“ erfasst worden sind, auch unter der DSGVO keine Auftragsdatenverarbeitung sein, weil der Auftragnehmer Eigeninteressen verfolgt.45 Zu prüfen ist dann, ob eine separate Verantwortlicheit vorliegt oder eine gemeinsame Verantwortlichkeit nach Art. 26 (zu den Voraussetzungen s. Art. 26 Rz. 12 ff.).46

32

Im Ergebnis hat das Konzept der Funktionsübertragung durch die DSGVO an Bedeutung verloren.47 Der Begriff mag als Stütze zum Verständnis einiger Aspekte der Auftragsverarbeitung erhalten bleiben.48 Er veranschaulicht, dass die Auftragsverarbeitung auf einer klaren Zuweisung von Verantwortung beruht (s. Rz. 22), und fokussiert dabei auf bestimmte Gegenbeispiele, in denen Dienstleister im Rahmen einer übertragenen Aufgabe erhebliche Freiheitsgrade im Umgang mit den verarbeiteten Daten besitzen. Insofern können die unter dem Stichwort der Funktionsübertragung entwickelten Abgrenzungskriterien auch unter der DSGVO hilfreich sein, um Erscheinungsformen der Auslagerung zu identifizieren, auf die das Rechtsinstitut der Auftragsverarbeitung nicht passt.49 Maßgeblich ist aber allein die Festlegung der Auftragsverarbeitung über die Begriffe des Verantwortlichen und des Auftragsverarbeiters (s. Rz. 19 ff.). (2) Abgrenzungskriterien (entwickelt zum BDSG a.F.)

33

Die deutschen Aufsichtsbehörden haben zum BDSG a.F. eine Reihe von Abgrenzungskriterien vorgeschlagen. So sollen für eine Funktionsübertragung – und damit für die Einordnung des Dienstleisters als Verantwortlicher statt als Auftragsverarbeiter – u.a. folgende Kriterien sprechen50 – ein Nutzungsrecht des Dienstleisters an den Daten für eigene Zwecke, – fehlender Einfluss des Auftraggebers auf die Datenverarbeitung durch den Dienstleister, – die Entscheidungsbefugnis des Dienstleisters darüber, wie, wann und welche Daten erhoben und verarbeitet werden, – die Erbringung einer Dienstleistung, die über die weisungsabhängige technische Datenverarbeitung hinausgeht, – die Übernahme der Verantwortung für die Zulässigkeit der Datenverarbeitung und die Ergreifung der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen durch den Dienstleister (gemeint ist: ohne Kontrolle durch den Verantwortlichen). 40 Vgl. Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 17; Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 28 DSGVO Rz. 19. 41 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 27. 42 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 31. 43 Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 5; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 27; Schwartmann/Jaspers/ Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 48; DSK, Kurzpapier Nr. 13, S. 1; Hartung/Büttgen, DuD 2017, 549, 551. 44 Müthlein, RDV 2016, 74, 84; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 15. 45 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 26; Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 28 DSGVO Rz. 10 ff.; ähnlich Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 17; a.A. Müthlein, RDV 2016, 74, 84; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 16; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 44. 46 Dazu Schreiber, ZD 2019, 55, 56. 47 So auch Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 5. 48 Vgl. Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 21. 49 S. etwa Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 7; Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 16, der in der DSGVO zumindest einen leicht „abweichenden Abgrenzungsmaßstab“ erkennt. 50 LDA Bayern, Orientierungshilfe Auftragsverarbeitung, S. 12.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 39 Art. 28 DSGVO

Diese Kriterien können für die Beurteilung der Anwendbarkeit von Art. 28 auf Outsourcing-Sachver- 34 halte weiterhin als (negative) Indizien herangezogen werden. Ihre Relevanz ist aber, wie oben ausgeführt, im Einzelnen nach Maßgabe der unter Rz. 19 ff. dargestellten Fragestellungen auf den Prüfstand zu stellen. cc) Gestaltbarkeit durch Vereinbarung; Vertragstheorie Ob man ganz auf eine autonome Auslegung der „Entscheidung über die Zwecke und Mittel“ abstellt 35 (Rz. 19 ff.) oder die Abgrenzungskriterien zur Funktionsübertragung weiterhin heranzieht (s. Rz. 33 f.): Es fehlt an einem einzelnen, trennscharfen Kriterium oder einer verbindlichen Gewichtung des Kriterienkatalogs. Die Grenzen der Auftragsverarbeitung bleiben damit im Einzelnen unscharf und eine Wertungsfrage. In Grenzfällen bedeutet dies eine für die Beteiligten belastende Rechtsunsicherheit. Behandeln sie einen Sachverhalt fälschlich als Auftragsverarbeitung, so kann dies für den vermeintlichen Auftragsverarbeiter zur Verletzung seiner Pflichten als Verantwortlicher, für den Auftraggeber zum Verstoß gegen Art. 6 bzw. Art. 9 mangels Eingreifens der Privilegierung des Art. 28 führen. Als Abhilfe wird seit langem vorgeschlagen, die Entscheidung über das Vorliegen einer Auftragsverarbeitung stärker zur Disposition der Beteiligten zu stellen. Dies wäre zu erreichen, indem die Beurteilung, wer über Zwecke und Mittel der Verarbeitung bestimmt, in erster Linie auf Grundlage der Vereinbarung der Parteien anstatt in Ansehung der faktischen Umstände erfolgt (Vertragstheorie).51

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Die europäischen Aufsichtsbehörden haben unter der DSRL die Gegenposition eingenommen. Die Benennung einer Partei als für die Verarbeitung Verantwortlicher oder Auftragsverarbeiter ist danach nicht ausschlaggebend für ihren tatsächlichen Status.52 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass es nach der Definition darauf ankommt, wer über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung „entscheidet“, nicht darauf, wer „rechtmäßig entscheidet“.53 Unter der DSGVO spricht hierfür ferner Art. 28 Abs. 10, wonach der faktische Exzess des Auftragsverarbeiters diesen zum Verantwortlichen werden lässt. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass die vertragliche Gestaltungsmacht der Parteien nach der DSGVO begrenzt ist.54 Wer als Dienstleister eigenverantwortlich handelt (z.B. typischerweise ScoringUnternehmen oder Personalvermittler) kann nicht entgegen seiner faktischen Rolle willkürlich zum Auftragsverarbeiter bestimmt werden.

37

Unstreitig dürfte aber sein, dass die vertraglichen Vereinbarungen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer ein nicht unwesentlicher Faktor bei der Beurteilung der Anwendbarkeit des Art. 28 sind.55 Insofern bestehen erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten. Je detaillierter die im Auftrag enthaltenen Weisungen hinsichtlich der Zwecke und der wesentlichen Mittel Verarbeitung sind, umso eher ist eine Auftragsverarbeitung anzunehmen.56

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dd) Prüfung und Wartung von Datenverarbeitungsanlagen Bei der vielfach ausgelagerten Wartung von Hard- und Softwaresystemen (Systemwartung) haben Dienstleister häufig jedenfalls faktisch Zugriffsmöglichkeiten auf in den Systemen enthaltene personenbezogene Daten. In diesem Fall waren nach dem BDSG a.F. die Regelungen für die Auftragsverarbeitung entsprechend anzuwenden (§ 11 Abs. 5 BDSG a.F.). Die DSGVO enthält keine vergleichbaren Sonderregelungen für die Systemwartung. Damit wird der längst erledigt geglaubte Streit um die Rechtsnatur der Systemwartung wieder relevant, den der Bundesgesetzgeber 2001 mit der Regelung in § 11 Abs. 5 BDSG a.F. beendet hatte.

51 So wohl Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 39; dazu Forgó/Helfrich/Schneider/Schneider, Teil VII. Kap. 2 Rz. 44, Teil VIII. Kap. 5. Rz. 47. 52 So auch Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 27 m.w.N.; ausf. BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 21; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 5. 53 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 11. 54 A.A. wohl Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 39. 55 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 14; vgl. zum BDSG a.F. Grützmacher, ITRB 2007, 183, 185. 56 In diese Richtung auch Kühling/Buchner/Hartung, Art. 4 Nr. 8 DSGVO Rz. 7.

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DSGVO Art. 28 Rz. 40 Auftragsverarbeiter 40

Nach einer Ansicht ist die Systemwartung unter der DSGVO kein datenschutzrechtlich relevanter Vorgang.57 Um entstehende Schutzlücken zu schließen, wird zum Teil vorgeschlagen, die Regelungen über die Auftragsverarbeitung analog auf die Systemwartung anzuwenden.58

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Die weite Definition des Verarbeitungsbegriffs in Art. 4 Nr. 2 spricht allerdings dafür, die Systemwartung unter der DSGVO als Verarbeitungsvorgang einzuordnen. Denn soweit ein Dienstleister bei der Systemwartung die Möglichkeit erhält, auf personenbezogene Daten zuzugreifen, dürfte dies eine „Offenlegung“ i.S.v. Art. 4 Nr. 2 sein (ohne dass es darauf ankommt, ob diese Offenlegung „durch Übermittlung“, „Verbreitung“ oder „eine andere Form der Bereitstellung“ erfolgt).59 Auch der Schutzzweck der DSGVO spricht dafür, Wartungsvorgänge, bei denen einer Zugriffsmöglichkeit auf die personenbezogenen Daten nicht ausgeschlossen werden kann und die somit eine Gefahr für das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen darstellen, nicht dem Anwendungsbereich der DSGVO zu entziehen.60

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Aus den dargestellten Gründen wird die Systemwartung zu Recht überwiegend, insb. von Behörden, als Auftragsverarbeitung qualifiziert.61 Folglich bedarf sie grundsätzlich einer Rechtfertigung gem. Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 9 Abs. 2. Daher ist zu empfehlen, für die Systemwartung eine Auftragsverarbeitung nach den Regelungen des Art. 28 abzuschließen, um in den Genuss der Privilegierung zu kommen.62 Insofern bestehen keine Bedenken gegen eine direkte Anwendung von Art. 28 auf die Systemwartung. ee) Abgrenzung zur gemeinsamen Verantwortlichkeit (Art. 26)

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Liegt keine Auftragsverarbeitung vor, weil der Auftragnehmer über Zwecke und Mittel der Verarbeitung (mit-)bestimmt und damit selbst Verantwortlicher ist, so kann die Konstellation der gemeinsam Verantwortlichen nach Art. 26 vorliegen. Dabei sind mehrere juristische oder natürliche Personen für denselben Verarbeitungsvorgang verantwortlich (s. Art. 26 Rz. 9 f.). Somit ergeben sich insgesamt drei mögliche Fälle: alleinige Verantwortung, gemeinsame Verantwortung und Auftragsverarbeitung.63

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Im Fall der gemeinsamen Verantwortung ist nach Art. 26 Abs. 1 eine Vereinbarung zu treffen, in der abgegrenzt wird, wer welche Pflichten nach der DSGVO zu erfüllen hat. Die Vereinbarung muss die jeweiligen Funktionen und Beziehungen ggü. den Betroffenen widerspiegeln, Art. 26 Abs. 2. Die Betroffenenrechte können jedoch ggü. allen Verantwortlichen geltend gemacht werden, Art. 26 Abs. 3. ff) Auftragsverarbeitung im Konzern

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Wie die DSRL, so kennt auch die DSGVO kein echtes Konzernprivileg.64 Unternehmen eines Konzerns, die als selbständige juristische Personen organisiert sind, sind im Verhältnis zueinander Dritte 57 Lissner, DSRITB 2016, S. 401, 406 f.; a.A. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 80: demnach Auftragsverarbeitung nur bei zielgerichteter Verarbeitung personenbezogener Daten; ebenso Laue/Kremer/Kremer, § 5 Rz. 10. 58 Müthlein, RDV 2016, 74, 83. 59 Schmidt/Freund, ZD 2017, 14, 17; wohl auch Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 54. 60 Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 155; Schmidt/Freund, ZD 2017, 14, 17; wohl auch Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 20. 61 Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 18 („fallen nun unmittelbar unter den Begriff der Auftragsverarbeitung“); DSK, Kurzpapier Nr. 13, S. 3 f.; LDA Bayern, Orientierungshilfe zur Auftragsverarbeitung, S. 26. 62 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 54; vgl. Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 155; unklar Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 20. 63 Für eine Abgrenzung mit praxisrelevanten Beispielen s. auch DSK, Kurzpapier Nr. 13, S. 4 f.; Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 28 DSGVO Rz. 10 ff. 64 Einhellige Meinung: BeckOK DatenSR/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 146; Schröder, Datenschutzrecht für die Praxis, S. 62; Gola/Gola, Art. 6 DSGVO Rz. 104; Lücke, NZA 2019, 658, 666; Kühling/Buchner/Buchner/Petri, Art. 6 DSGVO Rz. 168; Bussche/Voigt/Voigt/v.d.Bussche, Teil 3 Kap. 1 Rz. 2; Simitis/Hoernung/Spiecker gen. Döhmann/Seifert, Art. 88 DSGVO Rz. 37; Ehmann/Selmayr/Selk, Art. 88 DSGVO Rz. 176; Taeger/Gabel/Taeger, Art. 6 DSGVO Rz. 110; Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 252; Albrecht/Jotzo, Teil 3 Rz. 15.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 50 Art. 28 DSGVO

gem. Art. 4 Nr. 10.65 Sie sind grundsätzlich nicht anders zu behandeln als nicht verbundene Unternehmen (abgesehen von gewissen Erleichterungen für „Unternehmensgruppen“ im Sinne von Art. 4 Nr. 19 und der Anerkennung berechtigter Konzerninteressen durch ErwGr. 48 Satz 1, der auch „kleines Konzernprivileg“ oder „Konzernprivileg light“66 genannt wird). Wird ein Konzernunternehmen für ein anderes als Auftragsverarbeiter tätig, so gilt mithin Art. 28 (sofern der räumliche Geltungsbereich eröffnet ist, dazu Rz. 47 f.). Nach der Definition des Verantwortlichen in Art. 4 Nr. 7 ist die relevante Zurechnungseinheit für 46 rechtliche Pflichten grundsätzlich die juristische Person.67 Damit fällt eine Verarbeitung von Daten eines Verantwortlichen durch eine eigene unselbständige Niederlassung (oder umgekehrt) nicht unter Art. 28.68 Das Gleiche gilt für eine Verarbeitung einer unselbständigen Niederlassung für eine andere unselbständige Niederlassung. Für unselbständige Niederlassungen im EU-Ausland wird teilweise vertreten, dass diese zur Vermeidung von Schutzlücken als Dritte im Sinne von Art. 4 Nr. 10 anzusehen seien,69 wonach es konsequent wäre, dass diese auch als Auftragsverarbeiter eingesetzt werden könnten und ggf. müssten. Richtigerweise sind solche Niederlassungen nicht Dritte; ein effektiver Schutz ist in ausreichender Weise dadurch gewährleistet, dass bei der Weitergabe von Daten ggf. Kapitel V zu beachten ist (s. Art. 44 Rz. 9 ff.).70 Keine Auftragsverarbeitung ist ferner die Verarbeitung durch Mitarbeiter eines Verantwortlichen innerhalb ihrer Befugnisse.71 Unabhängig davon gelten die Pflichten der DSGVO, wie die Pflicht zur Einhaltung angemessener technisch-organisatorischer Maßnahmen (Art. 32) und zur Dokumentation der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung (Art. 5 Abs. 2).

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b) Räumlicher Geltungsbereich Ob die DSGVO auf eine Datenverarbeitung Anwendung findet, richtet sich nach Art. 2 (Sachlicher 48 Anwendungsbereich) und Art. 3 (Räumlicher Anwendungsbereich). Fällt die Verarbeitung danach unter die Regelungen der DSGVO und handelt es sich zudem der Sache nach um eine Auftragsverarbeitung (s. Rz. 18 ff.), so findet Art. 28 Anwendung. Der Anwendungsbereich von Art. 28 ist jedoch im Übrigen nicht territorial beschränkt. Sowohl der Verantwortliche als auch der Auftragsverarbeiter – sogar beide zugleich –72 können außerhalb der EU bzw. des EWR ansässig sein und handeln. Art. 3 setzt für die räumliche Geltung der DSGVO allerdings bestimmte territoriale Anknüpfungs- 49 punkte voraus. Zum einen gilt die DSGVO, wenn die Verarbeitung im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters in der Union erfolgt, ohne dass es darauf ankommt, ob die Verarbeitung physisch in der Union stattfindet (Art. 3 Abs. 1). Zum anderen gilt die DSGVO, wenn die Verarbeitung Personen innerhalb der Union betrifft und entweder im Zusammenhang mit Angeboten an diese Personen steht („Marktortprinzip“, Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) oder sich auf die Beobachtung ihres Verhaltens richtet (Art. 3 Abs. 2 Buchst. b). Befinden sich Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter innerhalb des Geltungsbereichs der DSGVO, so ergibt sich die Anwendbarkeit der DSGVO einschließlich von Art. 28 regelmäßig über Art. 3 Abs. 1.

65 Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 252; BeckOK DatenSR/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 116; Auernhammer/Eßer, Art. 4 DSGVO Rz. 90; differenzierend bzgl. unselbstständiger Zweigstellen: Gola/Gola, Art. 4 DSGVO Rz. 83; dazu kritisch Kühling/Buchner/Hartung, Art. 4 Nr. 10 DSGVO Rz. 6. 66 Bussche/Voigt/Voigt/v.d.Bussche, Teil 3 Kap. 1 Rz. 7; dazu Voigt, CR 2017, 428, 429. 67 BeckOK DatenSR/Schild, Art. 4 DSGVO Rz. 88; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 4 Nr. 7 DSGVO Rz. 9; Weth/ Herberger/Wächter/Sorge/Schöttle, Teil C Kap. III Rz. 14. 68 So wohl auch Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 247-249. 69 Gola/Gola, Art. 4 DSGVO Rz. 83 für Zweigstellen im EU-Ausland; a.A. Weth/Herberger/Wächter/Sorge/ Schöttle, Teil C Kap. III Rz. 15. 70 So zu Recht Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 249. 71 Vgl. Taeger/Gabel/Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 255; Gola/Gola, Art. 4 DSGVO Rz. 82; Schwartmann/ Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Schwartmann/Hermann, Art. 4 DSGVO Rz. 156 mit Beispiel. 72 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rn. 109; Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 278.

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DSGVO Art. 28 Rz. 51 Auftragsverarbeiter aa) Auftragnehmer im Drittland 51

Es steht dem Verantwortlichen grundsätzlich frei, nach Art. 28 einen Auftragsverarbeiter in Deutschland, einem anderen Mitgliedstaat der EU bzw. des EWR oder in einem Drittland einzuschalten.73 Im Falle der Auftragsverarbeitung in einem Drittland muss er allerdings die Anforderungen von Kapitel V beachten (s. Art. 44 Rz. 9 ff.).

52

Die unter dem BDSG a.F. herrschende Ansicht,74 dass eine „echte“ Auftragsverarbeitung nur innerhalb des EWR möglich sei und im Übrigen eine rechtfertigungsbedürftige Übermittlung zwischen Verantwortlichen vorliege, ist nach der hier vertretenen Auffassung obsolet (zur Privilegierung der Auftragsverarbeitung im Einzelnen Rz. 9 ff.).75 bb) Auftraggeber im Drittland (1) Verarbeitungen nach Art. 3 Abs. 2

53

Befindet sich der Verantwortliche in einem Drittland und nur der Auftragsverarbeiter in der Union, so gilt Art. 28 jedenfalls dann, wenn die Verarbeitung nach Art. 3 Abs. 2 unter die DSGVO fällt (was der Fall ist bei der Verarbeitung von Daten von Personen in der EU zwecks Angebots von Waren oder Dienstleistungen oder zur Verhaltensbeobachtung, s. Rz. 48). (2) Keine Verarbeitung nach Art. 3 Abs. 2

54

Ferner soll nach einer Ansicht Art. 28 auch dann gelten, wenn der Auftraggeber in einem Drittland sitzt und einziger Anknüpfungspunkt für die Anwendung der DSGVO die Niederlassung des Auftragsverarbeiters in der Union ist (also ein Fall von Art. 3 Abs. 1, aber kein Fall des Art. 3 Abs. 2 vorliegt).76 Dem ist mit der Einschränkung zuzustimmen, dass in diesem Fall die DSGVO nur für den Auftragsverarbeiter gilt und auf diesem Weg Art. 28 für das Auftragsverarbeitungsverhältnis zur Anwendung kommt. Hingegen gilt die DSGVO nicht für den Auftraggeber, so dass die von der DSGVO an den Verantwortlichen gestellten materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen nicht greifen.77 Die materielle Rechtmäßigkeit der Verarbeitung richtet sich nach den Vorschriften im Drittland.78

55

Die Gegenansicht möchte die DSGVO auch auf den Verantwortlichen im Drittland anwenden, so dass dieser sämtliche materiellen und formellen Anforderungen an die Verarbeitung zu gewährleisten habe;79 hierzu gehört dann z.B. die Bestellung eines Vertreters in der EU nach Art. 27.80 Diese Auffassung führt zu schwer tragbaren Ergebnissen und zu einem kaum durchsetzbaren und rechtspolitisch fragwürdigen Geltungsanspruch der DSGVO.81 Europäische Cloudanbieter wären genötigt, mit ihren Leistungen auch die materiellen Regelungen der DSGVO zu exportieren. Für Verantwortliche in Drittländern wäre die Inanspruchnahme solcher Leistungen schon angesichts der damit verbundenen Bußgeld- und Haftungsrisiken vollkommen unattraktiv. Ebenso müssten sich internationale Cloudanbieter fragen, ob sie in ihre Infrastruktur Einrichtungen (z.B. ferngewartete Serverstandorte)82 in der EU 73 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 104; Müthlein, RDV 2016, 74, 83. 74 Dazu Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 9. 75 Ebenso Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 278; vgl. Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 27; Taeger/Gabel/ Arning/Rothkegel, Art. 4 DSGVO Rz. 246; ausf. zur alten und aktuellen Rechtslage Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 104 ff. 76 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 109; Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 279; BeckOK DatenSR/Hanloser, Art. 3 DSGVO Rz. 12 und 26; differenzierend Taeger/Gabel/Schmidt, Art. 3 DSGVO Rz. 13 ff. (Anwendung der DSGVO nur auf den Auftragsverarbeiter); ebenso Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hornung, Art. 3 DSGVO Rz. 33. 77 A.A. BeckOK DatenSR/Hanloser, Art. 3 DSGVO Rz. 12. 78 Taeger/Gabel/Schmidt, Art. 3 DSGVO Rz. 13 ff.; wohl auch Knyrim/Bogendorfer, DatKomm, Art. 28 DSGVO Rz. 31; a.A. wohl Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 109; Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 279; BeckOK DatenSR/Hanloser, Art. 3 DSGVO Rz. 12 und 26. 79 BeckOK DatenSR/Hanloser, Art. 3 DSGVO Rz. 12 und 26. 80 Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 279. 81 Kritisch auch Taeger/Gabel/Schmidt, Art. 3 DSGVO Rz. 13 ff. 82 Dazu BeckOK DatenSR/Hanloser, Art. 3 DSGVO Rz. 16.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 59 Art. 28 DSGVO

einbinden und damit sämtliche ihrer Kunden den Regelungen der DSGVO unterwerfen wollen. Einer solcher „Export“ der DSGVO schafft auch unnötige Rechtskollisionen und ist auch mit Blick auf den Schutzzweck von Art. 1 Abs. 1 nicht erforderlich, da ein ausreichender Schutz der betroffenen in der EU bereits durch die Ergänzung des Marktortprinzips (Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) erreicht wird. Die Lösung liegt in dem Verständnis, dass die DSGVO einmal aus Sicht des Auftragsverarbeiters und einmal aus Sicht des Auftraggebers auszulegen ist. Dies war auch unter dem alten Recht so, wobei hier im Ergebnis das BDSG a.F. insgesamt anwendbar war. So galten nach dem BDSG a.F. in dieser Konstellation nach Ansicht der deutschen Aufsichtsbehörden für den Auftragsverarbeiter grundsätzlich nur die technisch-organisatorischen Pflichten (§ 11 i.Vm. § 9 BDSG a.F., Art. 17 DSRL; jetzt Art. 28 und Art. 32 DSGVO), während die materiellen Pflichten dem Verantwortlichen oblagen (d.h. insbesondere die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung z.B. nach § 28 BDSG a.F. – vgl. jetzt Art. 6 DSGVO – einschließlich der Prüfung der Voraussetzungen für die Übermittlung an den Verantwortlichen im Drittland nach §§ 4b, 4c BDSG a.F. – jetzt Kapitel V der DSGVO –, wobei diese Prüfung für die Rückübermittlung ggf. entfiel).83 Die Anwendung des Datenschutzrechts wurde für den Verantwortlichen durch den Rückgriff auf in Europa belegene Verarbeitungsmittel ausgelöst (§ 1 Abs. 5 Satz 2 BDSG a.F. i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. c DSRL).

56

Die DSGVO knüpft ihre Anwendung nicht an den Rückgriff auf Verarbeitungsmittel. Vielmehr unterwirft Art. 3 Abs. 1 die jeweilige Verarbeitung der DSGVO, soweit sie im Rahmen der Tätigkeiten einer EU-Niederlassung „eines Verantwortlichen oder eines Auftragsverarbeiters“ erfolgt.84 Eine Niederlassung des Auftragsverarbeiters in der EU löst also über Art. 3 Abs. 1 die Anwendung der DSGVO aus. Allerdings ist Art. 3 Abs. 1 separat aus Sicht des Verantwortlichen und des Auftragsverarbeiters anzuwenden.85 Der Verantwortliche hat in der hier diskutierten Fallgestaltung keine Niederlassung in der EU. Insbesondere ist ihm auch die Niederlassung des Auftragsverarbeiters nicht zuzurechnen.86 Damit ergibt sich für den Verantwortlichen aus Art. 3 Abs. 1 keine Anwendung der DSGVO (wohl aber ggf. über Art. 3 Abs. 2, s. Rz. 53).

57

Somit gelten alle Pflichten aus der DSGVO, die sich auf den Auftragsverarbeiter beziehen. Dies umfasst Art. 28, schon weil dieser – abgesehen von Abs. 1 – nicht allein Pflichten des Verantwortlichen statuiert, sondern beide Beteiligten in die Pflicht nimmt und die Auftragsverarbeitung als solche regelt.87 Die Verarbeitung muss also den Anforderungen von Art. 28 entsprechen, auch um die Privilegierung der Auftragsverarbeitung zu begründen.88 Art. 28 kann im Übrigen nicht sinnvoll einseitig auf nur einen der Beteiligten angewendet werden. Der Auftragsverarbeiter hat ferner bei der Übermittlung an den Auftraggeber im Drittland die Anforderungen von Kapitel V einzuhalten; dies auch dann, wenn die Daten aus dem Drittland stammen und lediglich „zurückübermittelt“ werden.89

58

cc) Auftraggeber und Auftragnehmer im Drittland In den Fällen des Art. 3 Abs. 2 (s. Rz. 49) findet Art. 28 auch dann Anwendung, wenn Auftraggeber und Auftragnehmer in einem Drittland ansässig sind. In dieser Konstellation kann die extraterritoriale Geltung der DSGVO jedoch zu Problemen in der Durchsetzung führen.90 83 Vgl. LfDI Baden-Württemberg, Auftragsdatenverarbeitung und Funktionsübertragung, 31.12.2012, ,www.ba den-wurttemberg.de., S. 6; Düsseldorfer Kreis, Handreichung „Fallgruppen zur internationalen Auftragsdatenverarbeitung“, Beschl. v. 19./20.4.2007, S. 13. 84 In der englischen und französischen Fassung von Art. 3 Abs. 1 hat die einschränkende Wendung „soweit“ allerdings keine Entsprechung, so dass hieraus keine Folgerungen abgeleitet werden sollten (s. aber Kühling/ Buchner/Klar, Art. 3 DSGVO Rz. 38). 85 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hornung, Art. 3 DSGVO Rz. 32. 86 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hornung, Art. 3 DSGVO Rz. 32; Kühling/Buchner/Klar, Art. 3 DSGVO Rz. 38. 87 Vgl. Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hornung, Art. 3 DSGVO Rz. 34. 88 So auch Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hornung, Art. 3 DSGVO Rz. 34. 89 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hornung, Art. 3 DSGVO Rz. 34; a.A. Kühling/Buchner/Klar, Art. 3 DSGVO Rz. 38. 90 BeckOK DatenSR/Hanloser, Art. 3 DSGVO Rz. 46; Gola/Piltz, Art. 3 DSGVO Rz. 27; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 109; Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 278 u. 280; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/

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DSGVO Art. 28 Rz. 60 Auftragsverarbeiter

II. Norminhalt 1. Technisch-organisatorische Maßnahmen des Auftragsverarbeiters (Art. 28 Abs. 1) a) Auswahl des Auftragnehmers 60

Der Verantwortliche muss vor der Zusammenarbeit mit einem Auftragsverarbeiter sicherstellen, dass dessen Betriebsabläufe den Anforderungen der DSGVO genügen. Hierzu muss er sich von dem Auftragsverarbeiter hinreichende Garantien dafür geben lassen, dass die technischen und organisatorischen Maßnahmen den Sicherheitsanforderungen (Art. 32) sowie den sonstigen Vorgaben der DSGVO entsprechen. Die Garantien sollen sich insb. auf Fachwissen, Zuverlässigkeit und Ressourcen des Auftragsverarbeiters beziehen (ErwGr. 81 Abs. 1). Zu diesen Garantien kann die Einhaltung genehmigter Verhaltensregeln nach Art. 40 oder eine Zertifizierung gem. Art. 42 zählen (ErwGr. 81 Abs. 2).

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Die Anforderungen an die Dienstleisterauswahl erscheinen insgesamt strenger als nach dem BDSG a.F., welches lediglich eine sorgfältige Auswahl unter besonderer Berücksichtigung der technischen und organisatorischen Maßnahmen verlangte.91 Diesbezüglich wird sogar vertreten, dass unter der DSGVO eine Prüfung des Auftragsverarbeiters anhand von Maßnahmenlisten nicht genüge. Vielmehr müsse dieser mit Blick auf Art. 30 auch seine Sicherheitskonzeption einschließlich der angestellten Risikoabwägung offenlegen, damit der Verantwortliche diese nachvollziehen könne.92 Dies erscheint jedoch zu weitgehend. Zwar muss der Auftragsverarbeiter Nachweise erbringen, die wahrscheinlich machen, dass sein Sicherheitskonzept der DSGVO entspricht und angemessen ist.93 Plausible Belege hierfür muss der Verantwortliche aber nicht hinterfragen und das Sicherheitskonzept im Detail nachprüfen, wenn hierzu kein Anlass besteht.

62

Die vom ausgewählten Auftragsverarbeiter gebotenen Garantien müssen vom Verantwortlichen dokumentiert werden, um der Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 2) zu genügen. b) Überwachung des Auftragnehmers

63

Im Gegensatz zu § 11 Abs. 2 Satz 4 und 5 BDSG a.F. sieht die DSGVO keine Pflicht des Auftraggebers zur regelmäßigen Kontrolle des Auftragnehmers und seiner technischen und organisatorischen Maßnahmen vor.94 Damit gibt es zwar ein Kontrollrecht (dazu Rz. 111 ff.), aber wohl grundsätzlich keine Kontrollpflicht.95

64

Allerdings wird aus der Formulierung in Abs. 1, dass der Verantwortliche nur mit Auftragnehmern „arbeitet“ (Präsens), die hinreichende Garantien bieten, gefolgert, dass diese Garantien nicht nur anfänglich, sondern fortlaufend vorliegen müssen.96 Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass die Zusammenarbeit zu beenden ist, wenn die Garantien nicht mehr bestehen bzw. nicht mehr wirksam sind und der Verantwortliche hiervon Kenntnis erlangt.97 Ferner müssen wegen der Rechenschafts- und Nachweispflicht des Verantwortlichen (s. Art. 5 Abs. 2 und Art. 24 Abs. 1) stets gültige Nachweise für diese Garantien vorliegen, so dass der Fortbestand befristeter Garantien des Auftragnehmers, wie etwa von Sicherheits- oder Datenschutzzertifizierungen, durch den Auftraggeber nachzuhalten ist. Die weitergehende Ansicht, dass sich aus Abs. 1 in jedem Fall eine Dauerpflicht des Verantwortlichen ergibt, sich fortwährend proaktiv von der Erfüllung der nach Abs. 1 zu stellenden Anforderungen durch den Auf-

91 92 93 94 95 96 97

Schlender, Art. 3 DSGVO Rz. 29 („Vollstreckungsdefizit“); Beispiele zur Bestimmung des Anwendungsbereiches finden sich in Europäischer Datenschutzausschuss, Richtlinie 3/2018, S. 13 f. Vgl. Müthlein, RDV 2016, 74, 75. Müthlein, RDV 2016, 74, 81. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 56; Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 24 und 27; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 31; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 6. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 60; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 25; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 31 f.; Müthlein, RDV 2016, 74, 77. So auch Redeker, IT-Recht, Rz. 1391; a.A. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 21. Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 31; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 21; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 28; Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 12. Vgl. Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 31.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 70 Art. 28 DSGVO

tragnehmer zu überzeugen,98 überdehnt jedoch den Wortlaut von Abs. 1. Eine risiko- und anlassunabhängige Pflicht zur permanenten Kontrolle ist abzulehnen. Ob und in welcher Häufigkeit regelmäßige Überprüfungen geboten sind, bestimmt sich nach den Umständen, insb. nach der Art der von dem Auftragsverarbeiter gebotenen Garantien und nach der Schutzbedürftigkeit der Daten.99 Danach kann sich eine Pflicht zur Überprüfung etwa bei einer besonders risikobehafteten Verarbei- 65 tung ergeben, für die eine Datenschutz-Folgenabschätzung erforderlich ist. Nach Art. 35 Abs. 11 können hier je nach den Umständen nachträgliche regelmäßige Prüfungen notwendig sein, ob die Datenverarbeitung gemäß den bei der Folgenabschätzung getroffenen Festlegungen erfolgt.100 Für die Prüfintervalle wird empfohlen, sich an dem Stand der Technik in der IT-Sicherheit zu orientieren, z.B. den jährlichen Überprüfungsaudits nach IT-Grundschutz.101 2. Grundlage der Auftragsverarbeitung (Art. 28 Abs. 3) a) Vertrag oder anderes Rechtsinstrument Die Auftragsverarbeitung ist durch Vertrag zwischen dem Verantwortlichen und dem Auftragsverarbeiter zu regeln. Häufig werden die Regelungen zur Auftragsverarbeitung in eine selbständige Vereinbarung ausgegliedert und/oder dem Hauptvertrag (z.B. Werk-, Dienst- oder Mietvertrag) als Anlage beigefügt.

66

Die in Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1 genannte Alternative eines „anderen Rechtsinstruments“ nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten“ ist eine Öffnungsklausel, die vor allem für den öffentlichen Bereich von Relevanz ist und unter anderem in Gestalt einer Verwaltungsentscheidung genutzt werden kann.102

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b) Inhalt Abs. 3 nennt die obligatorischen Inhalte einer Regelung über die Auftragsverarbeitung. Der Katalog enthält weitgehend die schon aus § 11 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. bekannten Vorgaben.103 Es liegt im Interesse beider Parteien, den Katalog des Abs. 3 sorgfältig abzuarbeiten, d.h. die einzelnen Vorgaben jeweils in erkennbar korrespondierende Vertragsklauseln umzusetzen.

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Seit dem Inkrafttreten der DSGVO am 25. Mai 2018 werden auch die zuvor geschlossenen Vereinbarungen über die Auftragsverarbeitung an der DSGVO gemessen und sind ggf. anzupassen (s. Rz. 17).104

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Erfahrungsgemäß verweigern viele Dienstleister den Abschluss ausreichender Vereinbarungen.105 70 Dies trifft nicht nur, aber auch auf große Cloud-Anbieter zu, die typischerweise marktmächtig und verhandlungsstark sind. Zwar ist diesen zuzugestehen, dass sie ihre Dienstleistung grundsätzlich nicht an individuelle Bedürfnisse anpassen können und daher ein nachvollziehbares Interesse daran haben, ihre Musterverträge möglichst unverändert zu übernehmen. Dies kann aber keine Rechtfertigung sein, bei diesen Verträgen und der Gestaltung der Dienstleistung hinter den Minimalanforderungen der DSGVO zurückzubleiben oder vermeintliche Spielräume der DSGVO mit gewagten Interpretationen auszunutzen. Gerade bei Verstößen, die im Muster des Anbieters angelegt sind, trifft das daraus erwachsende Bußgeldrisiko (s. Rz. 146) diesen im Zweifel stärker als den (einzelnen) Verantwortlichen.

98 So Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 21; wohl auch Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 70; a.A. Redeker/ Redeker, IT-Recht, Rz. 1391; zurückhaltend Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 25. 99 Vgl. Eckhardt, CCZ 2017, 111, 114. 100 Vgl. Bieker/Hansen/Friedewald, RDV 2016, 188, 189 (Schaubild des DSFA-Zyklus). 101 BeckOK DatenSR/Hansen, Art. 35 DSGVO Rz. 72. 102 Vgl. Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 7; Europäische Kommission innerhalb einer parlamentarischen Antwort vom 27.8.2018, E-003163/2018. 103 Eckhardt, CCZ 2017, 111, 116; Voigt, CR 2017, 428, 430. 104 Eckhardt, CCZ 2017, 111, 113; Voigt, CR 2017, 428, 430. 105 Müthlein, RDV 2016, 74, 78.

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DSGVO Art. 28 Rz. 71 Auftragsverarbeiter aa) Gegenstand und Dauer der Verarbeitung (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1) 71

Bereits Teil der essentiala negotii sind der Gegenstand und die Dauer der Verarbeitung. Sie bezeichnen den Inhalt der Verarbeitungstätigkeit und deren zeitliche Erstreckung. Für beides kann in vielen Fällen auf den Hauptvertrag verwiesen werden.106

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Die Wirksamkeit der Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung muss die Zeitspanne der tatsächlichen Datenverarbeitung vollständig abdecken, d.h. von der Erhebung der Daten (bzw. von der Bereitstellung der Daten durch den Verantwortlichen an den Auftragsverarbeiter) bis zur Löschung beim Auftragsverarbeiter.107 I.d.R. ist es sinnvoll, an die Geltungsdauer des Hauptvertrages anzuknüpfen.

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Auch eine Vereinbarung auf unbestimmte Dauer ist zulässig. Da der Verantwortliche aber Herr der Daten bleiben muss, sind in diesem Fall entweder ordentliche Kündigungsmöglichkeiten vorzusehen oder es ist festzulegen, unter welchen Bedingungen der Auftragsverarbeiter die Daten vor Vertragsbeendigung löschen bzw. herausgeben muss.108 bb) Nähere Angaben zur Verarbeitung (Art. 28 Unterabs. 1 Satz 1)

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Die Anforderungen an die nähere Beschreibung der Verarbeitung entsprechen denen aus der DSRL und dem BDSG. Nach der diesbezüglichen Auslegung der Art.-29-Datenschutzgruppe muss die Aufgabe des Auftragsverarbeiters „angemessen ausführlich“ beschrieben werden,109 also nicht bis ins letzte Detail. Mit Blick auf die Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 2) liegt es allerdings im Interesse des Verantwortlichen, die Auftragsverarbeitung so sorgfältig zu dokumentieren, dass diese für Dritte wie z.B. Aufsichtsbehörden hinreichend nachvollziehbar ist.110

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Danach sind Art und Zweck der Verarbeitung in ihren wesentlichen Zügen zu benennen. Durch die Zweckbestimmung wird der Charakter der Auftragsverarbeitung festgelegt (s. Rz. 18 ff.); sie ist entscheidend, um die klare Verantwortungsverteilung zwischen dem Verantwortlichen und dem Auftragsverarbeiter zu begründen. Entsprechend unmissverständlich sollte die Festlegung des Verarbeitungszwecks erfolgen. Auch nach dem Grundsatz der Zweckbindung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) sind „festgelegte, eindeutige“ Zwecke Voraussetzung jeder Verarbeitung; dies stellt sicher, dass Zweckänderungen erkennbar sind und an Art. 6 Abs. 4 gemessen werden können.111 Hinsichtlich der Art der Verarbeitung sollten auch die Mittel der Verarbeitung jedenfalls grob beschrieben werden, um der Definition in Art. 4 Nr. 7 Rechnung zu tragen, wonach der Verantwortliche Zweck und Mittel der Verarbeitung bestimmt.112

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Bei der Angabe der Art personenbezogener Daten muss nicht jedes einzelne Datenfeld angegeben werden, vielmehr sind in gewissem Umfang Abstrahierungen zulässig.113 So zeigt Art. 6 Abs. 4 Buchst. c, dass die DSGVO unter „Art der personenbezogenen Daten“ Kategorien versteht, z.B. die besonderen Arten von Daten gem. Art. 9 Abs. 1 oder die in Art. 10 geregelte Kategorie der Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten.114 Weitere Datenarten können z.B. Anschriften, Bestelldaten, Nutzungsdaten etc. sein. Im Sinne einer ordnungsgemäßen und nachvollziehbaren Dokumentation ist jedoch zu empfehlen, die Kategorien nicht zu grob zu wählen. Als Kompromiss zwischen Exakt106 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 65; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 38. 107 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 30. 108 Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 70; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 52; Ehmann/ Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 19; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 38; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 52. 109 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 32. 110 Vgl. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 65. 111 Paal/Pauly/Martini, Art. 24 DSGVO Rz. 31; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 55; Bergmann/ Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 72. 112 Vgl. Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 73; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 35 f. („Umkehrschluss“ aus Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1: Nennung der Mittel nicht erforderlich). 113 Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 40; differenzierend nach besonderen/einfachen Kategorien von personenbezogenen Daten: Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 53; in die Richtung, aber die größtmögliche Präzision fordernd: Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 21. 114 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 56; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 74.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 81 Art. 28 DSGVO

heit und Flexibilität hat sich bewährt, Datenkategorien durch Beispiele zu erläutern (z.B. „Kontaktdaten, insb. Postanschrift und E-Mail“). Ähnliches gilt für die Kategorien der betroffenen Personen. Hier kann grundsätzlich auf Hauptkategorien wie „Mitarbeiterdaten“, „Kundendaten“ und „Lieferantendaten“ zurückgegriffen werden, wenn nach den Umständen keine feineren Kategorienbildungen angezeigt sind (wie z.B.: Interessenten, Festangestellte und freie Mitarbeiter, Handelsvertreter, Website-Besucher, Schuldner, Ärzte, Patienten, Versicherungsnehmer).115

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cc) Pflichten und Rechte des Verantwortlichen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1) Satz 1 verpflichtet zur Festlegung der Pflichten und Rechte des Verantwortlichen, ohne dies näher 78 auszuführen. Spiegelbildlich werden damit zugleich die Rechte und insb. die Pflichten des Auftragsverarbeiters geregelt (s. auch ErwGr. 81 Abs. 3 und Unterabs. 1 Satz 1 a.E.). Es geht also letztlich um das Verhältnis zwischen beiden Parteien. Dieses wird insb. durch die in Art. 24, 28, 29 und 32 enthaltene Verantwortungszuweisung geprägt und dadurch, dass viele weitere Vorschriften der DSGVO nur den Verantwortlichen, nicht aber den Auftragsverarbeiter „in die Pflicht nehmen“. So muss der Verantwortliche für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung und die Einhaltung der Betroffenenrechte aus Kapitel III sorgen.116 Nach innen, ggü. dem Auftragsverarbeiter, bestimmt er durch Weisung über Art und Mittel der Verarbeitung. Von dieser durch die DSGVO vorgegebenen Verantwortungsverteilung können die Parteien nicht grundsätzlich abweichen;117 sie müssen die gesetzlichen Vorgaben auch nicht wiederholen. Sie sollen diese vielmehr für den jeweiligen Auftrag konkretisieren.118 Die dafür im Einzelnen (mindestens) zu regelnden Punkte sind in Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. a-h aufgeführt.119 dd) Weisungsgebundenheit (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. a) Die strikte Bindung des Auftragsverarbeiters an die Weisungen des Verantwortlichen ergibt sich u.a. schon aus Art. 29.

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(1) Dokumentation von Weisungen Zu vereinbaren ist darüber hinaus, dass entsprechende Weisungen dokumentiert werden. Ohne eine solche Dokumentation könnte der Verantwortliche seiner Rechenschaftspflicht aus Art. 5 Abs. 2 nicht nachkommen. Eine Dokumentationspflicht kannte das alte Recht nicht,120 gleichwohl wurde zu Beweiszwecken auch bisher in aller Regel vereinbart, dass Weisungen in Schrift- oder Textform erfolgen.

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Nach einer Auffassung muss die Dokumentation durch den Auftragsverarbeiter erfolgen und dies entsprechend vereinbart werden.121 Der Wortlaut der Regelung verlangt jedoch lediglich, dass Weisungen überhaupt dokumentiert werden, so dass auch eine Dokumentation durch den Verantwortlichen in Betracht kommt.122 Da beide Seiten ein Interesse an einer vollständigen Beweislage haben, ist letztlich sogar eine doppelte Dokumentation zu empfehlen.123

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115 Zu weiteren Beispielen für Unterkategorien s. Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 75. 116 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 66; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 27. 117 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 66; Wybitul/Tinnefeld/Hanßen, Art. 29 DSGVO Rz. 10; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 13. 118 Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 78; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 34; Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 21. 119 Vgl. Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 1; Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 46, „Mindestinhalte“. 120 Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 44; Härting, ITRB 2016, 137, 139; Petri, ZD 2015, 305, 309. 121 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 39; so wohl auch BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 58 und Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 99. 122 In diese Richtung auch Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 44, die die Dokumentation durch den Auftragsverarbeiters für „ausreichend“ halten. 123 Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 55, wollen nach dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich der Verarbeitungsvorgänge differenzieren.

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DSGVO Art. 28 Rz. 82 Auftragsverarbeiter 82

Für die Dokumentation wird keine Schriftform verlangt. Sie kann daher auch dadurch umgesetzt werden, dass Weisungen in Textform, also insb. per Fax, Brief oder E-Mail erteilt werden und diese Kommunikation archiviert wird.124 Es genügt aber auch, dass die Weisung selbst mündlich ergeht, sofern sichergestellt ist, dass im Anschluss eine Dokumentation erfolgt.125 So wurde unter dem alten Recht häufig vereinbart, dass Weisungen grundsätzlich schriftlich erfolgen, und dass die im Ausnahmefall (z.B. bei Gefahr im Verzug) nicht schriftlich erteilten Weisungen nachträglich schriftlich bestätigt werden; dies erfüllt bei ordnungsgemäßer Archivierung der Bestätigungen auch die Anforderungen nach Buchst. a. (2) Abweichen von Weisungen bei rechtlicher Pflicht

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Die Bindung an die Weisungen wird durchbrochen, soweit der Auftragsverarbeiter zur Verarbeitung rechtlich verpflichtet ist.126 Es ist zu vereinbaren, dass der Auftragsverarbeiter den Verantwortlichen in diesen Fällen vor der Verarbeitung von der rechtlichen Verpflichtung in Kenntnis setzt, sofern das einschlägige Recht eine solche Mitteilung nicht wegen eines wichtigen öffentlichen Interesses ausschließt. Die Ausnahme von der Mitteilungspflicht zielt u.a. auf Auskunftsverpflichtungen ggü. Geheimdiensten, über die der Auskunftspflichtige aufgrund gesetzlicher, behördlicher oder richterlicher Anordnung („Gag Order“) Dritten ggü. schweigen muss.

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Zu beachten und in der Formulierung der Vereinbarung zu berücksichtigen ist, dass ein Abweichen von Weisungen des Verantwortlichen nur bei Verpflichtungen zulässig ist, denen der Auftragsverarbeiter nach Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats unterliegt. Anforderungen auf Grundlage des Rechts eines Drittstaats bleiben als Rechtfertigung außer Betracht (s. auch Art. 49).127

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Um eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Vereinbarung zu erleichtern, ist zu empfehlen, eine am Wortlaut von Art. 28 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a orientierte Vertragsklausel zu verwenden und dabei insb. nur auf Verpflichtungen des Auftragsverarbeiters durch das Recht der Union oder der Mitgliedstaaten abzustellen. In der Praxis verweigern international agierende Cloud-Anbieter allerdings häufig eine solche Festlegung, weil und sofern damit im Umkehrschluss eine Offenlegung der verarbeiteten Daten aufgrund von US-Recht oder sonstigem internationalen Recht vertraglich ausgeschlossen ist. Tatsächlich befinden sich u.a. US-Anbieter hier in einem rechtlichen Konflikt mit politischer Dimension. Sie sind einerseits potentiell Herausgabe-Anforderungen nach US-Recht, regelmäßig kombiniert mit „Gag Orders“ ausgesetzt, denen sie sich kaum entziehen können. Andererseits sind die Vorgaben der DSGVO in Bezug auf die Unbeachtlichkeit solcher Anforderungen eindeutig (s. auch Art. 48 Rz. 7). Verantwortliche sollten darauf bestehen, dass das aus dieser Pflichtenkollision des Auftragsverarbeiters128 erwachsende Risiko nicht vertraglich auf sie abgewälzt wird. (3) Datentransfer an Stellen außerhalb der EU

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Aus der Formulierung von Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. a wird zum Teil gefolgert, dass der Verantwortliche auch darüber bestimmen kann, ob Daten an Stellen außerhalb der EU übermittelt werden.129 Dem ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen, denn die in Art. 29 enthaltene Weisungsbefugnis des Verantwortlichen ist umfassend und erstreckt sich sowohl auf die Bestimmung des Verarbeitungsorts als auch darauf, wann, unter welchen Umständen und an wen die im Auftrag verarbeiteten Daten übermittelt werden. Da die Übermittlung an Drittstaaten nur unter den besonderen 124 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 99; Simitis/Hornung/Spieker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 59; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 59; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 44 („sicher vor nachträglichen Veränderungen“). 125 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 39; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 55; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 23. 126 Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 85; Simitis/Hornung/Spieker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 61; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 40. 127 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 62; missverständlich insofern der Hinweis auf „Gag Orders“ nach US-Recht bei Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 68. 128 Dazu Kühling/Buchner/Klar, Art. 3 DSGVO Rz. 88; Hornung/Städler, CR 2012, 638, 640. 129 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 69; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 102; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 57.

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Rz. 92 Art. 28 DSGVO

Voraussetzungen des Kapitels V zulässig ist (s. Art. 44 Rz. 9), sollten Auftraggeber bereits im Vertrag festhalten, ob und unter welchen Umständen eine Übermittlung an Stellen in Drittstaaten erfolgen darf. ee) Vertraulichkeitsverpflichtung (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. b) Ferner ist zu vereinbaren, dass der Auftragsverarbeiter die zur Verarbeitung befugten Personen auf die Vertraulichkeit verpflichtet, soweit diese nicht bereits einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen.

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Nähere Vorgaben zu Inhalt und Umfang der Vertraulichkeitsverpflichtung fehlen. Eine Parallele zum Datengeheimnis nach § 5 Satz 1 BDSG a.F., welches Beschäftigten schlicht jede „unbefugte“ Verarbeitung untersagte, liegt nahe.130 Ähnlich wie dort verpflichtet Art. 29 die dem Auftragsverarbeiter unterstellten Personen, die auftragsgegenständlichen Daten nur nach den Weisungen des Verantwortlichen zu verarbeiten (wobei diese Weisungen vom Auftragsverarbeiter an seine Beschäftigten weiterzugeben sind). Dies sollte sich der Auftragsverarbeiter von den zur Verarbeitung eingesetzten Beschäftigten bestätigen lassen und diese zudem ausdrücklich verpflichten, die verarbeiteten Daten nicht unbefugt Dritten zu offenbaren.

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Buchst. b zielt auf eine Vertraulichkeitsverpflichtung der Beschäftigten ggü. dem Auftragsverarbeiter. Eine unmittelbare Verpflichtung ggü. dem Auftraggeber ist nicht erforderlich.131 Auch verlangt die DSGVO keine gesonderte Vereinbarung, die Vertraulichkeitsverpflichtung kann daher auch im Anstellungsvertrag enthalten sein.

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Keiner gesonderten Belehrung bedarf Personal, das einer gesetzlichen Schweigepflicht unterliegt, wie dies bei angestellten Ärzten, Apothekern, Steuerberatern oder Rechtsanwälten der Fall ist (s. auch § 203 StGB).132 Keine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht in diesem Sinne ist die Pflicht zur weisungsgemäßen Verarbeitung nach Art. 29, schon weil die Regelung des Buchst. b anderenfalls leerliefe.

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ff) Technisch-organisatorische Maßnahmen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. c) Art. 32 verpflichtet sowohl den Verantwortlichen als auch den Auftragsverarbeiter, angemessene Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Zur Beachtung dieser Pflicht ist der Auftragsverarbeiter nach Buchst. c auch vertraglich anzuhalten.

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Der Wortlaut von Buchst. c beschränkt sich darauf, den Auftragsverarbeiter auf die Einhaltung von 92 Art. 32 zu verpflichten.133 Fraglich ist, ob darüber hinaus detailliertere Regelungen zu den technischorganisatorischen Maßnahmen zu treffen sind. So sehen etwa die Standardvertragklauseln für Auftragsverarbeiter in Drittstaaten in Appendix 2 eine Beschreibung der vom Auftragsverarbeiter implementierten Sicherheitsmaßnahmen vor,134 und auch nach § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BDSG a.F. mussten die technisch-organisatorischen Maßnahmen näher geregelt werden. Im Ergebnis lässt sich Buchst. c bei autonomer Auslegung jedoch kein Gebot zur Konkretisierung der technisch-organisatorischen Maßnahmen entnehmen.135 Das bestätigt neben dem Wortlaut der Blick auf die Geschichte der Vor130 Müthlein, RDV 2016, 74, 79; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 24; Gierschmann/Schlender/ Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 60 (auf § 5 BDSG a.F. verweisende Vereinbarungen durch Auslegung fortlaufend wirksam); in die Richtung auch BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 63; auch Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 70 sieht die bisher üblichen Vertragsmuster als im Wesentlichen gültig an. 131 Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 22; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 48. 132 Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 49; zum Sonderfall des Postdienstleisters ausführlich Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 20 und 61. 133 Dazu Müthlein, RDV 2016, 74, 81. 134 S. Kommissionsentscheidung C(2010)593. 135 Vgl. Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 68; wohl auch Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 45; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 71 (allerdings mit Praxisempfehlung zur Konkretisierung der Maßnahmen); a.A. BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 71 („am Einzelfall orientierte Maßnahmenfestlegung im Regelfall erforderlich“; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 25.

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DSGVO Art. 28 Rz. 92 Auftragsverarbeiter schrift. Die Vorgängerregelung in der DSRL verlangte keine nähere Regelung des Sicherheitskonzeptes im Rahmen der Auftragsverarbeitung (s. Art. 17 Abs. 3 DSRL). Entsprechend ließen einige Mitgliedstaaten es zu, die Sicherheitsvorkehrungen in das Ermessen des Auftragsverarbeiters zu stellen, was auch von der Art.-29-Datenschutzgruppe nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde.136 Dass mit Art. 32 die Anforderungen an den Detaillierungsgrad der Vereinbarung erhöht werden sollten, ist nicht ersichtlich. 93

Auch wenn Buchst. c somit keine direkte Verpflichtung zur Konkretisierung eines Sicherheitskonzepts enthalten dürfte, so liegt diese im Interesse beider Parteien und ist unbedingt zu empfehlen.137 Zum einen erleichtert sie im Innenverhältnis die Zuordnung von Verantwortung im Falle von Verstößen.138 Dies ist sinnvoll, da nach Art. 32 Abs. 1 grundsätzlich beide Seiten für angemessene Sicherheitsmaßnahmen verantwortlich sind.139 Zum anderen dienen konkrete Festlegungen nach außen der Dokumentation ordnungsgemäßer Verarbeitung. Auch dies dient beiden Parteien. So muss der Verantwortliche die für die Verarbeitung eingesetzten Sicherheitsmaßnahmen dokumentieren (Art. 5 Abs. 1 Buchst. f i.V.m. Art. 5 Abs. 2) und vom Auftragsverarbeiter hinreichende Garantien dafür einfordern, dass dessen Sicherheitsmaßnahmen der DSGVO entsprechen (Art. 28 Abs. 1). Der Auftragsverarbeiter kann diese Garantien bereitstellen, in dem er ein gut dokumentiertes, an Art. 32 orientiertes Sicherheitskonzept vorhält und dem Verantwortlichen anbietet, dieses zum Gegenstand der Vereinbarung nach Art. 28 Abs. 3 zu machen. Hiermit kann er sich ggf. auch von Mitbewerbern mit weniger verbindlichen Sicherheitsmaßnahmen absetzen.

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Wie bei der Beschreibung des Auftrags ist auch für das Sicherheitskonzept eine Abwägung zwischen Bestimmtheit und Flexibilität notwendig.140 Bewährt hat sich insofern, die nach dem status quo vom Auftragsverarbeiter implementierten Maßnahmen kategorisiert nach Kontrollzielen zu erfassen (dazu Art. 32 Rz. 75 ff.) und dieser Beschreibung eine Klausel beizufügen, die eine Weiterentwicklung des Sicherheitskonzeptes einschließlich des Austausches einzelner Maßnahmen zulässt, sofern das Sicherheitsniveau dadurch insgesamt nicht abgesenkt wird. Der Verantwortliche sollte ferner auf eine Verpflichtung des Auftragsverarbeiters dringen, jedenfalls über wesentliche Änderungen zu informieren. gg) Unterauftragsverarbeitung (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. d, Abs. 4)

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Die Bedingungen der Vergabe von Unteraufträgen sind in den Abs. 2 und 4 verhältnismäßig detailliert geregelt. Der Auftragsverarbeiter ist entsprechend dieser Bedingungen zu verpflichten.

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Dies betrifft zum einen das Ob der Unterauftragsvergabe. Selbstverständlich kann der Verantwortliche, auch wenn dies in Art. 28 nicht angesprochen ist, die Beauftragung von Unterauftragsverarbeitern vertraglich untersagen.141 Anderenfalls muss er die Vergabe von Unteraufträgen von seiner vorherigen schriftlichen Genehmigung abhängig machen.142 Er kann diese Genehmigung bereits im Rahmen des Auftrags oder später erteilen. Die Genehmigung kann für einzelne benannte Unterauftragnehmer oder „in allgemeiner Form“ erfolgen. Im letzteren Fall werden die Entscheidung über die Unterbeauftragung und die Auswahl des Unterauftragnehmers in das Ermessen des Auftragsverarbeiters gestellt. Dabei muss sich der Verantwortliche das in Abs. 2 Satz 2 geregelte Widerspruchsrecht zumindest für den Fall vorbehalten, dass der Unterauftragnehmer keine hinreichende Gewähr für eine der DSGVO entspre-

136 Dazu Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169(de), S. 18. 137 Ähnlich Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 71; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 25; Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 30. 138 Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 25, dieses ist „mit Blick auf die Haftungsregelung zweckmäßig“. 139 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 71 („gemischte Verantwortung“); Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 68; Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 28. 140 S. auch Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 65 f. 141 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 69; Eckhardt, CCZ 2017, 114; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 35. 142 Zur Widersprüchlichkeit des Wortlauts im Vergleich zur Genehmigung i.S.d. § 184 BGB s. Wybitul/Tinnefeld/ Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 34; ebenso Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 87 f.

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chende Verarbeitung bietet;143 ferner ist der Auftragsverarbeiter zur Mitteilung über beabsichtigte Unteraufträge zu verpflichten, damit das Widerspruchsrecht erforderlichenfalls ausgeübt werden kann (s. im Einzelnen Rz. 123 ff.).144 Das Wie der Unterauftragsvergabe regelt Abs. 4. Der Auftragsverarbeiter ist danach zu verpflichten, den Unterauftragsverarbeiter denselben Datenschutzpflichten zu unterwerfen, denen er selbst nach der Vereinbarung mit dem Verantwortlichen unterliegt. Nach Abs. 4 Satz 1 ist besonderes Augenmerk auf die Garantien bezüglich der technisch-organisatorischen Maßnahmen zu legen; insofern sollte der Auftragnehmer verpflichtet werden, die von ihm nach Abs. 1 einzuholenden hinreichenden Garantien des Unterauftragnehmers auf Verlangen dem Verantwortlichen vorzulegen bzw. – falls die Unterbeauftragung vorab in allgemeiner Form genehmigt wird – im Rahmen der Mitteilung nach Abs. 2 Satz 2 vorzulegen.

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Nicht erforderlich sind unmittelbare Kontrollrechte des Verantwortlichen ggü. dem Unterauftragsverarbeiter (dazu Rz. 132).145 Bei erhöhtem Schutzbedarf kann es gleichwohl empfehlenswert sein, dass sich der Verantwortliche direkte Kontrollen vorbehält, ohne den Auftragsverarbeiter insoweit von seiner Pflicht zur Kontrolle des Unterauftragsverarbeiters zu entbinden.

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hh) Betroffenenrechte (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. e) Nach Kapitel III der DSGVO stehen den von der Datenverarbeitung betroffenen Personen eine Reihe von Ansprüchen gegen den Verantwortlichen zu, insb. auf Transparenz, Benachrichtigung, Auskunft, Berichtigung, Löschung und Sperrung (s. Art. 12 ff.).146 Diese Betroffenenrechte dienen unmittelbar der informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen, indem sie ihnen eine beschränkte Kontrolle über die Verarbeitung der auf sie bezogenen personenbezogenen Daten ermöglichen. Diese Kontrolle soll nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass der Verantwortliche die Verarbeitung an einen Auftragsverarbeiter auslagert. Daher bestimmt Buchst. e, dass der Auftragsverarbeiter zu verpflichten ist, den Verantwortlichen bei der Erfüllung der Ansprüche der Betroffenen nach Kapitel III zu unterstützen.

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Die Unterstützung des Auftragsverarbeiters hat „nach Möglichkeit“ und „mit geeigneten technischen 100 und organisatorischen Maßnahmen“ zu erfolgen. Wie im Fall von Buchst. c verlangt der Wortlaut keine konkrete Festlegung der Unterstützungsleistungen, so dass es jedenfalls in einfach gelagerten Fällen genügen wird, eine allgemeine Unterstützungspflicht in Anlehnung an die Formulierung von Buchst. e zu vereinbaren.147 Unabhängig davon liegt es im Interesse des Verantwortlichen, den ggf. erforderlichen Unterstützungsbedarf im Vorfeld der Verarbeitung zu ermitteln und den Auftragsverarbeiter entsprechend konkret zu verpflichten.148 So kann vermieden werden, dass im laufenden Betrieb durch die Geltendmachung von Betroffenenrechten zusätzlicher technisch-administrativer Aufwand entsteht. Ob und inwieweit der Verantwortliche der Unterstützung des Auftragsverarbeiters tatsächlich bedarf, hängt dabei von der Art der Verarbeitung ab;149 Buchst. e soll insofern auch nicht dazu führen, das Pflichten des Verantwortlichen unverhältnismäßig auf den Auftragsverarbeiter abgewälzt werden.150 Hat beispielsweise der Verantwortliche im Rahmen eines IT-Outsourcing auf Datenbankebene vollen 143 Zum Umfang der Widerspruchsmöglichkeit s. Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 40 f.; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 63; einschränkend Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 18; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 18 DSGVO Rz. 37; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 28 DSGVO Rz. 45. 144 Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 15; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 13; Laue/Kremer/Kremer, § 5 Rz. 23; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 61; Müthlein, RDV 2016, 74, 82; Wybitul/Tinnefeld/ Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 36. 145 Müthlein, RDV 2016, 74, 82. 146 Zu den Betroffenenrechten Franck, RDV 2016, 111 ff. 147 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 74; a.A. Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 53 („Genauere Regelungen hierzu sind […] zu treffen“). 148 Ebenso Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 69; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 27; ähnlich Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 74. 149 Vgl. Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 57; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 74. 150 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 47; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 70; zusammenfassend: Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 53.

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DSGVO Art. 28 Rz. 101 Auftragsverarbeiter administrativen Zugriff auf die ausgelagerten Daten, so kann er die Betroffenenrechte hierüber i.d.R. weitgehend selbst erfüllen. Beschränken sich die Zugriffsmöglichkeiten des Verantwortlichen hingegen auf die Benutzer- bzw. Anwendungsebene, so ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Anwendung bereits ausreichende Funktionen zur Abfrage, Bearbeitung, Löschung und Sperrung von Daten enthält, oder ob der Auftragsverarbeiter ggf. durch administrativen Support im Einzelfall zuarbeiten muss. 102

Für die Umsetzung von Löschansprüchen ist ggf. zu prüfen (und zu vereinbaren), inwieweit eine Löschung auch in Sicherungskopien möglich ist bzw. ob diese in angemessener Zeit automatisch überspielt werden.

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Ferner ist zu berücksichtigen, dass betroffene Personen unter den Voraussetzungen von Art. 18 ein Recht auf Einschränkung der Verarbeitung haben; in der Terminologie des BDSG a.F. entspricht dies der Sperrung von Daten. Die Einschränkung bzw. Sperrung wird umgesetzt, in dem die Datensätze besonders markiert werden (z.B. durch Setzen eines „Flags“, also eines Bits mit einer entsprechenden Bedeutung; s. auch § 3 Abs. 4 Nr. 4 BDSG a.F.). Der Verantwortliche sollte in der Vereinbarung sicherstellen, dass entsprechende technische Möglichkeiten zur Sperrung in der Anwendung vorhanden sind oder sonst vom Auftragsverarbeiter bereitgestellt werden. ii) Unterstützung des Verantwortlichen bei Pflichten nach Art. 32 bis 36 (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. f)

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Der Auftragsverarbeiter ist zudem zu verpflichten, den Verantwortlichen bei der Einhaltung der Pflichten aus den Art. 32 bis 36 zu unterstützen. Dies betrifft die Unterstützung bei der Gewährleistung der Sicherheit (Art. 32), der Benachrichtigung der Aufsichtshörde und der Betroffenen im Falle von Verletzungen (Art. 33 und 34) sowie bei der Datenschutz-Folgenabschätzung (Art. 35) und der ggf. erforderlichen Konsultation der Aufsichtsbehörde vor der Verarbeitung (Art. 36).

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In diesem Rahmen sollte der Auftragsverarbeiter im Vertrag auch auf seine nach Art. 32 Abs. 2 bestehende Pflicht hingewiesen werden, die ihm bekanntwerdenden Datenschutzverletzungen unverzüglich an den Verantwortlichen zu melden.

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Für die Unterstützung bei der Folgenabschätzung und der Konsultation kann vereinbart werden, dass diese erforderlichenfalls auf Anfrage des Verantwortlichen geleistet wird (vgl. ErwGr. 95). jj) Löschung oder Rückgabe der Daten bei Auftragsende (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. g)

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Der Auftragsverarbeiter ist zu verpflichten, die zu verarbeitenden Daten nach Abschluss der Verarbeitungsleistungen nach Wahl des Verantwortlichen zu löschen oder zurückzugeben. Auch wenn der Wortlaut von Buchst. g dies nicht andeutet, spricht nichts dagegen, das Wahlrecht151 bereits in der Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung auszuüben.152

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Der Begriff „zurückgeben“ bezieht sich nicht lediglich (und auch nicht vorrangig) auf die physische Übergabe eines Datenträgers,153 sondern umfasst bei automatischer Verarbeitung zwanglos auch deren elektronisches Äquivalent, nämlich die Weiter- bzw. Rückgabe der Daten an den Verantwortlichen in elektronischer Form (z.B. durch Download) mit anschließender Löschung der Daten beim Auftragsverarbeiter. Die Modalitäten der Rückgabe wie etwa Format, Zeitpunkt und erforderliche Unterstützungsleistungen sollten im Detail vereinbart werden.154 Beim IT-Outsourcing gibt es hierzu auch im 151 A.A. BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 79, der nach Sinn und Zweck der Norm das „oder“ als „oder bzw. und“ lesen will, womit dasjenige einschlägig sein soll, was am ehesten dazu führt, dass keine Daten beim Auftragsverarbeiter verbleiben. 152 So wohl auch Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 10; ausdrücklich die vorherige Festlegung empfehlend Ehmann/ Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 28; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 71; a.A. Laue/Kremer/Kremer, § 5 Rz. 27 („vertragliche Regelungen und Verhandlungen diesbezüglich nunmehr überflüssig“). 153 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 50; Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 28. 154 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 78; so wohl auch Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 71.

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Rz. 114 Art. 28 DSGVO

Rahmen des Hauptvertrags oft umfassende Regelungen, um eine reibungslose Re-Migration (also die Ablösung der Leistungen des Auftragsverarbeiters durch eine In-House-Lösung) oder die Möglichkeit eines Second Generation Outsourcing (also einen Wechsel des Dienstleisters) zu gewährleisten. Unabhängig davon, ob der Verantwortliche Löschung oder Rückgabe wählt, dürfen beim Auftragsver- 109 arbeiter grundsätzlich keine Kopien zurückbleiben. Dieses Erfordernis kollidiert häufig mit BackupMaßnahmen, die der Auftragsverarbeiter durchführt, um die Verfügbarkeit der Daten sicherzustellen. Insofern kann über die eigentliche Verarbeitung hinaus eine zeitlich begrenzte Speicherung in Form zugriffsgeschützter Backups zulässig sein;155 es ist dann jedoch zu vereinbaren, dass die nach Abs. 3 geschlossene Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung in Bezug auf diese Daten bis zu deren vollständiger Löschung fortgilt. Mit Blick auf die Rechenschaftspflicht des Verantwortlichen kann es sinnvoll sein, zu vereinbaren, dass der Auftragsverarbeiter die Löschung nachzuweisen hat.156 Die Pflicht zur Löschung oder Rückgabe stellt die DSGVO unter den Vorbehalt, dass der Auftragsverarbeiter keiner Pflicht zur fortgesetzten Speicherung nach Unionsrecht oder dem Recht eines Mitgliedstaats unterliegt. Dies ist entsprechend bei der Formulierung der vertraglichen Verpflichtung des Auftragsverarbeiters nach Buchst. g zu berücksichtigen. Hierbei bietet sich eine Übernahme des Wortlauts an; keinesfalls darf die Ausnahme auf Aufbewahrungspflichten des Auftragsverarbeiters erstreckt werden, die sich lediglich aus dem Recht von Drittstaaten ergeben (vgl. dazu Rz. 84 f.). Die praktische Bedeutung der Ausnahme ist allerdings zweifelhaft. Insb. dürften die in diesem Zusammenhang genannten Archivierungspflichten157 regelmäßig nicht den Auftragsverarbeiter, sondern den Verantwortlichen treffen. Zudem soll es sich nur um eine sog. unechte Öffnungsklausel handeln, die für sich genommen den Mitgliedstaaten keine Befugnis gibt, gesetzliche Aufbewahrungspflichten für Auftragsverarbeiter zu statuieren.158

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kk) Nachweise und Überprüfungen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. h) Buchst. h sieht Informationsrechte und Kontrollbefugnisse des Verantwortlichen vor. Der Auftragsverarbeiter ist zu verpflichten, dem Verantwortlichen alle erforderlichen Informationen zum Nachweis der Einhaltung der Pflichten des Art. 32 zur Verfügung zu stellen.

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Die Kontrollbefugnisse umfassen ausdrücklich Überprüfungen einschließlich von Inspektionen, also 112 Vor-Ort-Kontrollen beim Auftragsverarbeiter. Dies ist eine Verschärfung ggü. den Anforderungen des § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 7 BDSG a.F., der ein Vor-Ort-Kontrollrecht des Verantwortlichen nicht zwingend verlangte. Anders als nach dem alten Recht ist nach dem klaren Wortlaut des Buchst. h eine Befugnis zur Vor-Ort-Kontrolle vorzusehen.159 Die nach Buchst. h zu vereinbarende Befugnis zur Vor-Ort-Kontrolle ist allerdings mit der Praxis des modernen IT-Outsourcings nur schwer vereinbar. Die Betreiber großer Rechenzentren, die ihre Leistungen einer Vielzahl von Auftraggebern bereitstellen, haben ein nachvollziehbares Interesse, nicht sämtlichen Auftraggebern Vor-Ort-Kontrollrechte einzuräumen. Neben der Beeinträchtigung des Betriebsablaufs können solche individuellen Prüfrechte die Risiken der Verarbeitung sogar erhöhen.160 Umgekehrt verzichten viele Auftraggeber freiwillig auf den mit Vor-Ort-Kontrollen verbundenen Aufwand, etwa beim Cloud Computing in internationalen oder weltweit verteilten Rechenzentren.161

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Dies wirft die Frage nach einer praxisgerechten Umsetzung von Buchst. h beim Cloud Computing und in ähnlichen Verarbeitungssituationen auf. Naheliegend ist es, zu vereinbaren, dass Inspektionen

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155 Zur „Erforderlichkeit“ der weiteren Speicherung i.R.d. Durchsetzung von Zivilansprüchen: BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 78. 156 Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 55. 157 S. etwa Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 77. 158 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 51; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 72; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 80. 159 Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 12; Simitis/Hornung/Spieker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 81; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 84; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 57; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 11; a.A. Fromageau/Bäuerle/Werkmeister, PinG 2018, 216, 217 f. 160 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 196, S. 27 Ziff. 4.2, zweiter Aufzählungspunkt. 161 Zu den Schwierigkeiten Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 279.

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DSGVO Art. 28 Rz. 114 Auftragsverarbeiter durch Dritte vorzunehmen sind. Nach dem Wortlaut von Buchst. h müssen diese externen Prüfer jedoch vom Verantwortlichen beauftragt werden.162 Dies entspricht auch den Empfehlungen der Art.29-Datenschutzgruppe zum bisherigen Recht.163 Sinn dieser Vorgabe des Buchst. h ist, sich Prüfungen durch unabhängige Stellen vorzubehalten, die nicht im Lager des Auftragsverarbeiters stehen. Es genügt daher nicht, lediglich Audits durch vom Auftragsverarbeiter beauftragte Dritte (bzw. die Vorlage entsprechender Zertifizierungen) vorzusehen.164 In Betracht kommt aber, dass der Verantwortliche sich im Vertrag hinsichtlich der Durchführung von Inspektionen auf die Beauftragung bestimmter externer Prüfer beschränkt, sofern deren Unabhängigkeit gewährleistet ist. 115

Das Recht zur Vor-Ort-Kontrolle muss zwar vereinbart, aber nicht notwendig vom Verantwortlichen auch ausgeübt werden.165 Gerade beim Cloud Computing kann es sinnvoller sein, aussagekräftige Zertifizierungen oder Gütesiegel heranzuziehen, die der Auftragsverarbeiter vorlegt.166 ll) Haftung

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Nicht zu den obligatorischen Inhalten gehört einer Regelung zur Haftung. Die DSGVO bringt allerdings eine erhebliche Verschärfung der Haftungsregelungen im Außenverhältnis insb. für den Auftragsverarbeiter. So wird zum einen die unmittelbare Haftung des Auftragsverarbeiters ggü. den Betroffenen nach Art. 82 Abs. 1 eingeführt (mit Exkulpationsmöglichkeit nach Art. 82 Abs. 2 Satz 2, soweit der Auftragsverarbeiter seinen gesetzlichen Pflichten und den Weisungen des Verantwortlichen nachgekommen ist).167 Zum anderen kann der Auftragsverarbeiter bei eigenen Verstößen gegen Pflichten aus Art. 28 oder anderen für ihn geltenden Normen mit Bußgeldern belegt werden.168 Daher dürften Auftragsverarbeiter versucht sein, im Innenverhältnis zum Verantwortlichen entsprechende Haftungsfreistellungen oder Regressmöglichkeiten einzufordern.169 c) Information bei rechtswidrigen Weisungen (Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2)

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Nach Unterabs. 2 ist der Auftragsverarbeiter verpflichtet, den Verantwortlichen unverzüglich zu benachrichtigen, falls er der Ansicht ist, dass eine Weisung des Verantwortlichen gegen die DSGVO oder sonstige Datenschutzregelungen der EU oder ihrer Mitgliedstaaten verstößt.

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Diese Pflicht ergibt sich bereits unmittelbar aus Unterabs. 2. Dieser ist nicht Teil des davorstehenden Katalogs. Einer Vereinbarung zur Mitteilungspflicht bedarf es also nicht (s. aber die allgemeine Informationspflicht nach Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. h).170 Aus Sicht des Verantwortlichen ergibt es allerdings Sinn, diese Pflicht auch vertraglich nachzuzeichnen und sie nach Möglichkeit noch weiter zu fassen, nämlich eine Mitteilung bereits bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit einer Weisung vorzusehen.171

162 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 53; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 81; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 57. 163 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 196, S. 27 Ziff. 4.2, zweiter Aufzählungspunkt. 164 A.A. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 78. wohl ebenfalls a.A. Koós/Englisch, ZD 2014, 276, 282, die sich auf Basis der LIBE-Entwurfs dafür aussprechen, dass sämtliche Kontrollen ggf. durch eine Zertifizierung ersetzt werden können. 165 Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 11; Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 74. 166 Vgl. zum BDSG a.F. Datenschutzkonferenz und Düsseldorfer Kreis, Orientierungshilfe Cloud Computing, V2.0, S. 10 f. 167 Dazu Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Boehm, Art. 82 DSGVO Rz. 17 f.; BeckOK DatenSR/Quaas, Art. 82 DSGVO Rz. 41; Ehmann/Selmayr/Nemitz, Art. 82 Rz. 24; Schantz, NJW 2016, 1841, 1847. 168 Wybitul, BB 2016, 1077; Gola/Piltz, Art. 28 DSGVO Rz. 5; Kühling/Buchner/Bergt, Art. 28 DSGVO Rz. 25 f. 169 Becker, ITRB 2016, 107, 108; zur Gestaltung von Haftungsklauseln: Jahn, DSB 2019, 131, 131; zur Möglichkeit von Haftungsbeschränkungen unter der DSGVO: Malatidis, ITRB 2019, 144, 146. 170 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 79. 171 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 57, wonach die Vorschrift rechtspolitisch unbefriedigend und „unglücklich eng“ gefasst ist; a.A. wohl Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 76, der, aufgrund der Unklarheit in Bezug auf die Haftung, eine detaillierte vertragliche Ausgestaltung dennoch für „geboten“ erachtet.

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Rz. 123 Art. 28 DSGVO

Eine vertragliche Regelung ist auch in Bezug auf die Folgen einer Mitteilung nach Unterabs. 2 zu erwägen.172 Diese lässt Unterabs. 2 offen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Weisungsbefugnis des Auftraggebers aus Art. 29 grundsätzlich durchsetzt, wenn er die Weisung bestätigt und auf ihre Befolgung besteht.173 Unklar ist aber, ob der Auftragsverarbeiter nicht zumindest bis zur Bestätigung der Weisung diese als suspendiert betrachten kann; dieser Punkt und das Bestätigungsverfahren sollten daher vertraglich geregelt werden. Im Übrigen sprechen gute Gründe dafür, dass der Auftragsverarbeiter bei offensichtlichen Rechtsverletzungen von der Pflicht zur Befolgung der Weisung entbunden ist, auch wenn diese bestätigt wird.

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3. Unterauftragsverarbeiter (Art. 28 Abs. 2, Abs. 4) Mehrstufige Auftragsverhältnisse sind beim IT-Outsourcing die Regel. Für die damit praktisch sehr 120 wichtige Unterbeauftragung trifft Abs. 2 Regelungen über das Ob, während Abs. 4 das Wie regelt, nämlich die inhaltlichen Anforderungen an den Unterauftrag. a) Hinzuziehen von Unterauftragnehmern (Art. 28 Abs. 2) Abs. 2 soll sicherstellen, dass die Vergabe von Unteraufträgen der Kontrolle des Verantwortlichen nicht gänzlich entzogen werden kann. Die Vorschrift spricht umständlich von „weiteren Auftragsverarbeitern“ (Satz 1) bzw. „anderen Auftragsverarbeitern“ (Satz 2). Sie will damit offenbar auch Konstellationen erfassen, in denen mehrere Auftragsverarbeiter nicht in der klassischen Form einer Auftragskette tätig sind, sondern nebeneinander stehend an der Verarbeitung beteiligt sind.174 Beispiele sind große Forschungsinfrastrukturen mit verteilten Rechensystemen in unabhängigen Einrichtungen. In solchen Fällen kann sich ein Verantwortlicher mehrerer parallel arbeitender Auftragsverarbeiter bedienen (und mit diesen entweder direkte Verträge unterhalten oder aber, vermittelt durch einen Auftragsverarbeiter, sich ihrer als Unterauftragnehmer bedienen).175 Jedoch irritiert die Verwendung des Begriffs des „weitere Auftragsverarbeiters“ gerade im Rahmen von Art. 28, da es dort ausnahmslos um Stellen geht, die nicht der Verantwortliche, sondern der Auftragsverarbeiter hinzuzieht und mit denen er kontrahiert, also schlicht um Unterauftragsverarbeiter. Der Begriff der „weiteren Auftragsverarbeiter“ hat allerdings den Vorzug, klarzustellen, dass jeder Unterauftragsverarbeiter zugleich ein Auftragsverarbeiter i.S.d. DSGVO ist und die Anforderungen von Art. 28 Abs. 2 und 4 auch entlang mehrstufiger Auftragsketten gelten.176

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aa) Schriftliche Genehmigung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1) Die Beauftragung von Unterauftragsverarbeitern setzt eine vorherige schriftliche Genehmigung durch 122 den Verantwortlichen voraus.177 Diese kann entweder gesondert, also für einen oder mehrere konkrete Unterauftragsverarbeiter, oder allgemein für vom Auftragsverarbeiter noch zu bestimmende Unterauftragsverarbeiter erteilt werden. Das Erfordernis der Schriftlichkeit ist trotz des hier fehlenden Zusatzes „auch in elektronischem Format“ so auszulegen wie in Art. 28 Abs. 9 (s. dazu Rz. 139 ff.), so dass auch elektronische Genehmigun-

172 So auch Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 69. 173 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 58; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 89; Empfehlung bei Uneinigkeit die Aufsichtsbehörde hinzuzuziehen: Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 60. 174 So auch Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 85; a.A. Knyrim/Bogendorfer, DatKomm, Art. 28 DSGVO Rz. 62; Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 4. 175 Vgl. zur DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 33. 176 Ebenso Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 85; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Petri, Art. 28 DSGVO Rz. 85. 177 Zur Widersprüchlichkeit des Wortlauts im Vergleich zur Genehmigung i.S.d. § 184 BGB s. Wybitul/Tinnefeld/ Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 34; ebenso Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 87 f.

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DSGVO Art. 28 Rz. 123 Auftragsverarbeiter gen genügen.178 Es handelt sich um ein Redaktionsversehen.179 Es wäre offensichtlich verfehlt, an die wesentlich umfangreicheren Auftragsverarbeiterverträge ein geringeres Formerfordernis zu stellen, als an die Genehmigung zum Abschluss von Unteraufträgen.180 bb) Mitteilung und Widerspruchsrecht (Art. 28 Abs. 2 Satz 2) 124

Wird die Genehmigung in allgemeiner Form erteilt, so verlangt Satz 2, dass der Auftragsverarbeiter den Verantwortlichen über „jede beabsichtigte Änderung“ in Bezug auf die Hinzuziehung oder die Ersetzung von Unterauftragsverarbeitern informiert. Der Verantwortliche muss dadurch die Möglichkeit erhalten, gegen diese Änderungen „Einspruch“ zu erheben. Die DSGVO verzichtet auf eine detaillierte Regelung dieses Widerspruchsrechts und lässt damit für die Praxis vieles offen.

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Klar erscheint allerdings, dass die Mitteilungspflicht aus Abs. 2 Satz 2 weit zu verstehen ist und nicht nur die Benachrichtigung über die beabsichtigte Beauftragung und Ersetzung eines Unterauftragnehmers, sondern auch über jede Änderung an den Bedingungen eines bestehenden Auftrags umfasst. Anderenfalls wäre die beabsichtigte Kontrolle der Auftragskette durch den Verantwortlichen nicht gewährleistet.

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Zeitpunkt und Umfang der Mitteilungspflicht sollte der Verantwortliche in der Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung konkretisieren. Aus Abs. 2 Satz 2 lässt sich ableiten, dass die Mitteilung über den beabsichtigten Unterauftrag so frühzeitig erfolgen muss, dass der Verantwortliche die Umstände des Unterauftrags angemessen prüfen kann, und dass der Auftragsverarbeiter die für diese Prüfung notwendigen Informationen bereitstellen muss. Zu empfehlen ist daher, zu vereinbaren, welche Zeitspanne mindestens zwischen der Benachrichtigung und dem beabsichtigten Auftragsbeginn liegen muss, und zudem festzulegen, dass der Auftragsverarbeiter jedenfalls auf Verlangen sämtliche (beabsichtigten) datenschutzrelevanten Vereinbarungen mit dem Unterauftragnehmer sowie vorhandene Garantien i.S.v. Abs. 1 dem Verantwortlichen rechtzeitig vor Beginn des Unterauftrags zur Prüfung überlässt.

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Einer vertraglichen Konkretisierung bedarf auch das Widerspruchsrecht selbst.181 So zeigt Abs. 2 Satz 2, dass der Verantwortliche gegen die Unterbeauftragung „Einspruch erheben“ kann, lässt aber offen, ob und unter welchen Bedingungen der Auftragsverarbeiter diesen Einspruch auch beachten muss. Sinn und Zweck der Regelung sprechen dafür, dass der Verantwortliche jedenfalls dann, wenn der Unterauftragsverarbeiter keine Gewähr für die ordnungsgemäße Verarbeitung i.S.v. Art. 28 Abs. 1 bietet oder die Regelungen des Unterauftrags nicht den Vorgaben nach Art. 28 Abs. 4 entsprechen, dem Auftragsverarbeiter das Hinzuziehen des Unterauftragsverarbeiters untersagen können soll.182 Insoweit dürfte das Widerspruchsprecht also nicht disponibel sein; es sollte daher mindestens mit diesem Umfang ausdrücklich vereinbart werden.

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Es steht den Parteien des Auftragsverhältnisses frei, ein weitergehendes oder auch freies Widerspruchsrecht des Verantwortlichen gegen die Unterauftragsvergabe zu vereinbaren.183 In der Praxis suchen Auftragsverarbeiter eine solche Beschränkung ihrer unternehmerischen Gestaltungsfreiheit zu vermeiden; insb. bei großen Dienstleistern, die für eine Vielzahl von Auftraggebern tätig sind, wäre dies auch nicht angemessen. Die DSGVO verlangt daher ein so weitgehendes Widerspruchsrecht nicht.

178 Ebenso Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 47; Müthlein, RDV 2016, 74, 82. 179 So auch Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 15; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 97; Hartung/ Büttgen, DuD 2017, 549, 554; Müthlein, RDV 2016, 74, 82; a.A. Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 87; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 62. 180 Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 15; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 13; Knyrim/Bogendorfer, DatKomm, Art. 28 DSGVO Rz. 59. 181 Dazu unbedingt ratend Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 88. 182 Im Ergebnis ähnlich Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 40, die die Norm allerdings eng auslegen und Rücknahmevereinbarungen entsprechend nur bedingt mit dem Telos für vereinbar halten. 183 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 41; a.A. Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 40.

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Rz. 133 Art. 28 DSGVO

b) Vereinbarung mit dem Unterauftragsverarbeiter (Art. 28 Abs. 4) In einer Auftragskette sind die „Datenschutzpflichten“ aus der Vereinbarung zwischen dem Verantwortlichen und dem Auftragsverarbeiter an den Unterauftragsverarbeiter weiterzugeben. Abs. 4 greift für jeden Fall, in dem Unterauftragsverarbeiter hinzugezogen werden; der sprachlich missglückte Passus „um bestimmte Verarbeitungstätigkeiten im Namen des Verantwortlichen auszuführen“ ist nicht als einschränkende Bedingung zu verstehen, sondern beschreibt lediglich den normalen Gegenstand jeder Unterauftragsverarbeitung.184

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Der Begriff der Datenschutzpflichten wird in der DSGVO nicht definiert und bedarf der Auslegung. Der Begriff sollte weit verstanden werden als jede Verpflichtung des Auftragsverarbeiters, die dem Schutz der Rechte und Freiheiten der von der Verarbeitung betroffenen Personen dient (s. Art. 1 Abs. 1 und 2). Durch den ausdrücklichen Bezug auf Abs. 3 ist klar, dass jedenfalls der Katalog von Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. a–h auch im Unterauftrag vollständig umzusetzen ist und die dazu im Hauptauftrag vereinbarten Datenschutzpflichten an den Unterauftragsverarbeiter durchzureichen sind. Darüber hinaus ist nach dem Wortlaut von Abs. 4 („dieselben Datenschutzpflichten“) davon auszugehen, dass die Vereinbarungen zum Datenschutz aus Auftrag und Unterauftrag noch weitergehend korrespondieren müssen, so dass auch über den Katalog von Abs. 3 hinausgehende Vereinbarungen zum Datenschutz an den Unterauftragsverarbeiter weiterzugeben sind.185 Hierfür spricht auch, dass dem Katalog in Abs. 3 ein „insbesondere“ vorangestellt ist, er also den Inhalt der Vereinbarung nicht abschließend beschreibt.

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Der Gehalt der jeweiligen Datenschutzpflichten in Haupt- und Unterauftrag darf jedenfalls nicht maßgeblich abweichen („dieselben Datenschutzpflichten“).186 Allerdings wäre es realitätsfremd, für die Vereinbarungen denselben Wortlaut zu verlangen. Insb., wenn die Vereinbarung mit dem Hauptauftraggeber zeitlich nach dem Unterauftrag geschlossen wird und/oder die Unterauftragnehmer in die Leistungserbringung für verschiedene Hauptauftraggeber einbezogen sind – beides ist beim IT-Outsourcing die Regel – würde dies die Spielräume für die Verhandlung über den Hauptauftrag unnötig einschränken. Zu verlangen ist also lediglich, dass die Pflichten inhaltlich gleichlaufen.187 Insb. darf sich nach dem Schutzzweck von Abs. 4 durch die Unterbeauftragung keine Verschlechterung des im Hauptauftrag vereinbarten Datenschutzstandards ergeben,188 und zwar bezogen auf die Datenschutzpflichten im Einzelnen (nicht bloß in einer Gesamtbetrachtung). Wird der Unterauftrag (bzw. die diesen betreffende Datenschutzvereinbarung) zeitlich nach dem Hauptauftrag geschlossen, bietet sich eine ausdrückliche Bezugnahme auf die im Hauptauftrag enthaltenen Datenschutzpflichten an.

131

Über das Durchreichen der Datenschutzpflichten sind dem Unterauftragsverarbeiter hinreichende Garantien dafür abzuverlangen, dass er geeignete technische und organisatorische Maßnahmen durchführt, um eine der DSGVO entsprechende Verarbeitung sicherzustellen. Insofern sind die gleichen Maßstäbe anzulegen wie nach Abs. 1 für den Auftragsverarbeiter (dazu Rz. 60). Die Garantien müssen nicht dieselben sein wie die vom Auftragsverarbeiter ggü. dem Verantwortlichen abgegebenen, aber sie müssen dasselbe Schutzniveau erreichen (da dieses Gegenstand der von Abs. 4 in Bezug genommenen Vereinbarung nach Abs. 3 ist).189 Wie nach Abs. 1 können zu den Garantien die Einhaltung von Verhaltensregeln oder Zertifizierungen zählen (Abs. 5).

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Nicht eindeutig sind die Regelungen von Abs. 4 hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Verantwortlichem und Unterauftragsverarbeiter. So ist nach einer Ansicht das nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. h zu vereinbarende Kontrollrecht – mit Zutritts- und Zugangsrecht zu den Verarbeitungsanlagen – wegen

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184 Die ungenaue Wendung „im Namen des Verantwortlichen“ findet sich sonst nur in den ErwGr. 80 und 81, und dies mit ganz unterschiedlicher Bedeutung. 185 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 43; Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 43; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 89; Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 47. 186 Ebenso Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 89, „den Grundsätzen […] entspricht“. 187 Ebenso Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 28; Laue/Kremer/Kremer, § 5 Rz. 54; vgl. aber Moos/Schefzig/Arning/ Moos/Cornelius, Die Neue Datenschutzgrundverordnung, Kap. 7 Rz. 52, die eine Übernahme des Vertragstextes empfehlen zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit. 188 Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 62; Laue/Kremer/Kremer, § 5 Rz. 54. 189 Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 43, führen an, dass dieses nur für „Tätigkeiten [die im jeweiligen Auftragsverhältnis] relevant sind“ gelten könne.

Freund

115

DSGVO Art. 28 Rz. 133 Auftragsverarbeiter Art. 28 Abs. 4 Satz 1 als unmittelbares Kontrollrecht des Verantwortlichen gegenüber dem Unterauftragsverarbeiter auszugestalten ist;190 wobei teils eine Delegation dieses Kontrollrechts auf den Auftragsverarbeiter für zulässig erachtet wird.191 Vorzugswürdig ist die Gegenauffassung, wonach es genügt, dass das Kontrollrecht dem Auftragsverarbeiter zukommt, also demjenigen, der den Unterauftragsverarbeiter unmittelbar beauftragt (Kontrolle „in der Kette“).192 Gegen das Erfordernis eines unmittelbaren Kontrollrechts spricht die in Art. 28 Abs. 4 Satz 2 normierte verschuldensunabhängige haftungsrechtliche Zurechnung des Unterauftragsverarbeiters zum Auftragsverarbeiter. Diese Haftung motiviert den Auftragsverarbeiter, auf die Einhaltung der Pflichten durch den Unterauftragsverarbeiter hinzuwirken, und spricht insofern (jedenfalls auch) für eine mittelbare Kontrolle.193 Eine vertragliche Regelung, die auch dem Verantwortlichen ein Kontrollrecht einräumt, bleibt aber zulässig.194 4. Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren (Art. 28 Abs. 5) 134

Die DSGVO möchte das Stellen hinreichender Garantien durch den Auftragsverarbeiter (Abs. 1) bzw. Unterauftragsverarbeiter (Abs. 4) erleichtern, indem sie auf die Möglichkeit der Einhaltung genehmigter Verhaltensregeln (Art. 40) und genehmigter Zertifizierungsverfahren (Art. 42) hinweist. Dass beide ausdrücklich nur „als Faktor herangezogen“ werden können,195 zeigt aber zugleich, dass die Verantwortlichkeit für die Prüfung der hinreichenden Garantien beim Verantwortlichen bleibt (bzw. im Fall von Abs. 4 beim Auftragsverarbeiter).

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Gleichwohl ist davon auszugehen, Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren, sobald diese erst einmal etabliert sind, eine bedeutende Rolle bei der Erfüllung der Prüf- und Kontrollpflichten einnehmen werden. Anbieter, die entsprechende einschlägige Zertifizierungen erlangt haben oder genehmigten Verhaltensregeln folgen, können sich insofern einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Der Prüfaufwand für die Verantwortlichen sinkt dann erheblich und es wird für sie einfacher, ihrer Rechenschaftspflicht nach Art. 5 Abs. 2 nachzukommen.196 5. Standardvertragsklauseln (Art. 28 Abs. 6, 7 und 8)

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So wie der Nachweis hinreichender Garantien durch die Instrumente des Abs. 5 erleichtert wird, so eröffnen die Abs. 6-8 eine Möglichkeit zur einfachen und rechtssicheren Implementierung von Verträgen mit Auftragsverarbeitern auf Basis von Standardvertragsklauseln. Standardvertragsklauseln sind Musterverträge, die entweder nach Abs. 7 unmittelbar von der Kommission erlassen werden oder nach Abs. 8 von einer Aufsichtsbehörde nach dem Kohärenzverfahren angenommen werden.

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Missverständlich ist ErwGr. 81, der davon spricht, dass die von einer Aufsichtsbehörde im Kohärenzverfahren angenommenen Standardvertragsklauseln anschließend noch von der Kommission erlassen werden. Die Beteiligung der Kommission am Kohärenzverfahren wurde im Laufe des Gesetzgebungsprozesses deutlich reduziert von einer Letztentscheidungsbefugnis auf eine beratende Rolle als nicht stimmberechtigtes Mitglied im Datenschutzausschuss.197 Dass die Klauseln in diesem Fall noch durch einen Durchführungsrechtsakt der Kommission erlassen werden, erscheint daher zwar nicht ausge190 So Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 98; Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 149; wohl auch Sydow/Ingold, Art. 28 Rz. 41. 191 Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 149. 192 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 86 und 89; Hartung/Büttgen, DuD 2017, 549, 554; Müthlein, RDV 2016, 74, 82; wohl auch Knyrim/Bogendorfer, DatKomm, Art. 28 DSGVO Rz. 63. 193 So wohl auch Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 91; vgl. Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 14; Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 64; a.A. Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/ Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 149. 194 Im Ergebnis ebenso Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 149, der allerdings das Kontrollrecht des Verantwortlichen als Normalfall ansieht und die Delegation auf den Auftragsverarbeiter zulässt. 195 Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 69 liest „können“ allerdings als „müssen“ („intendiertes Entschließungsermessen“). 196 Auernhammer/Thomale, Art. 28 DSGVO Rz. 40. 197 BeckOK DatenSR/Marsch, Art. 63 DSGVO Rz. 11.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 141 Art. 28 DSGVO

schlossen, ist aber nach Abs. 8 wohl nicht Voraussetzung für die Gültigkeit der Standardvertragsklauseln.198 Anders ist es bei den nach Kapitel III für den Transfer an Empfänger in Drittstaaten vorgesehenen Standarddatenschutzklauseln, die nach der Annahme durch eine Aufsichtsbehörde noch von der Kommission nach Art. 93 Abs. 2 geprüft und genehmigt werden (Art. 46 Abs. 2 Buchst. d). Soweit Aufsichtsbehörden noch Vertragsmuster zum alten Recht veröffentlich haben, sind dies keine 138 Standardverträge i.S.v. Abs. 6.199 Sie müssen nach Anpassung an die DSGVO erst noch das Kohärenzverfahren nach Abs. 8 durchlaufen und von der Aufsichtsbehörde formal angenommen werden.200 6. Schriftform (Art. 28 Abs. 9) Die Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung (Abs. 3) und die Unteraufträge (Abs. 4) unterliegen der 139 Schriftform. Ausdrücklich zugelassen ist auch die Abfassung in einem elektronischen Format; damit werden Auslegungsprobleme zum Begriff der Schriftform im Unionsrecht vermieden.201 Nach der DSRL diente das Formerfordernis ausdrücklich nur Beweiszwecken (Art. 17 Abs. 4 DSRL). Die DSGVO übernimmt diese Einschränkung nicht, was für einen nunmehr weitergehenden Gesetzeszweck spricht, der sich auch auf Dokumentation und Authentizitätssicherung richtet.202

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Ein bestimmtes elektronisches Format ist nicht vorgeschrieben. In Betracht kommen z.B. PDF-Doku- 141 mente oder auch Vereinbarungen per E-Mail-Austausch. Umstritten ist, inwieweit eine elektronische Signatur erforderlich ist. Zu unterscheiden sind nach Art. 3 Nrn. 10-12 VO (EU) 910/2014 die Formen der (einfachen) elektronischen Signatur, der fortgeschrittenen elektronischen Signatur und der qualifizierten elektronischen Signatur (ebenso schon nach der aufgehobenen Signaturrichtlinie und dem deutschen Signaturgesetz). Während im ersten Fall der Aussteller eines elektronischen Dokuments dieses lediglich irgendwie digital „unterzeichnet“, z.B. durch Namenswiedergabe unter einer E-Mail, wird bei einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur die Authentizität der Nachricht durch kryptographische Verfahren abgesichert. Die Gültigkeit einer qualifizierten elektronischen Signatur ist darüber hinaus durch die staatlich kontrollierte Public-Key-Infrastruktur gewährleistet. Unter dem BDSG a.F., welches Schriftform i.S.v. § 126 BGB verlangte, war bei elektronischer Form eine qualifizierte elektronische Signatur erforderlich (§ 126a BGB).203 Nach einer Auffassung soll sich mit der DSGVO insofern nichts geändert haben, so dass weiterhin eine qualifizierte Signatur notwendig sei.204 Eine andere Auffassung stellt auf den Gesetzeszweck ab und verlangt, dass die Echtheit der Vereinbarung nach Art. 28 Abs. 3 bzw. Abs. 4 sicherzustellen ist, insb. mit Blick auf spätere Änderungen oder Fälschungen.205 Dies wäre etwa durch eine fortgeschrittene elektronische Signatur zu leisten;206 aber auch durch eine als Scan oder Fax übersandte Urkunde.207 Eine dritte Auffassung lässt eine einfache elektronische Signatur genügen.208 Noch weitergehend ist eine vierte Ansicht, die in dem Form-

198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208

Vgl. aber Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 73. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 92. Müthlein, RDV 2016, 74, 85; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 98. Die Schriftformbegriffe der Mitgliedstaaten unterscheiden sich, vgl. Isik, Die Schriftform im EU-Recht, S. 220. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 75; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 103. Vgl. BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 103. So BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 103. Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 75. Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 75, der untechnisch eine „elektronische Signatur“ fordert. Kühling/Buchner/Hartung, Art. 28 DSGVO Rz. 96, der eine „ausreichende aber nicht notwendigerweise qualifizierte Signatur“ verlangt; im Ergebnis wohl auch Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 113 f., der den Nachweis der „Echtheit und Authentizität“ fordert. Ehmann/Selmayr/Bertermann, Art. 28 DSGVO Rz. 12; Müthlein, RDV 2016, 74, 76; wohl auch Plath/Plath, Art. 28 DSGVO Rz. 166; Gola/Klug, Art. 28 DSGVO Rz. 12; Sydow/Ingold, Art. 28 DSGVO Rz. 45; Europäische Kommission innerhalb einer parlamentarischen Antwort vom 27.8.2018, E-003163/2018; Eckhardt, CCZ 2017, 111, 116.

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DSGVO Art. 28 Rz. 141 Auftragsverarbeiter erfordernis ein Nachweisbarkeitszweck erkennen wollen, der ausreichend gewahrt ist, sofern eine Dokumentation erfolgt, also auch der mündlich geschlossene, aber einseitig dokumentierte Vertrag.209 142

Zuzustimmen ist der drittgenannten Auffassung (einfach elektronische Signatur). Indem Art. 28 Abs. 9 schlicht von „einem elektronischen Format“ spricht, gesteht er den Parteien bei der Wahl der Form eine gewisse Flexibilität zu. Dieses Ziel würde vollkommen verfehlt, wenn wie nach dem BDSG a.F. die in der Praxis kaum verbreitete qualifizierte elektronische Signatur erforderlich wäre. Im Gegenteil ist, da Art. 28 Abs. 9 gerade nicht auf die Signaturstandards der Verordnung 910/2014) Bezug nimmt, nicht einzusehen, wieso nicht auch ein einfacher E-Mail-Austausch den Mindestanforderungen genügen sollte. Für diese Auslegung spricht außerdem das der europäische Gesetzgeber in der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (2000/31/EG) „elektronisches Format“ in dieser Form versteht.210 Nicht ausreichend ist hingegen der einseitig dokumentierte mündliche Vertrag. Andernfalls wäre die Regelung in Art. 28 Abs. 9 obsolet, indem bereits nach Art. 5 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a eine Pflicht zur Dokumentation bestünde. Das Erfordernis eines „schriftlich […], auch elektronischen“ Vertrags erfordert mithin mehr als nur die einfache Dokumentation und zugleich deutlich weniger als die alte Rechtslage – ausreichend und zugleich erforderlich ist daher zumindest die digitale Signatur, wobei mit Blick auf die Dokuments- und Rechenschaftspflichten beiden Parteien zu empfehlen ist, Vereinbarungen zur Auftragsverarbeitung nur in elektronischen Formaten abzuschließen, die einen angemessenen Beweiswert aufweisen.211 Hierfür kann je nach Bedeutung des Auftrags der Austausch von Scans unterschriebener Dokumente oder ein digital erstelltes Dokument mit fortgeschrittener elektronischer Signatur genügen.

143

Nicht ausdrücklich geregelt ist, ob es ausreicht, wenn die Unterschriften der Parteien auf derselben Urkunde erfolgen müssen. Die Rspr. des EuGH spricht dafür, dass es genügt, wenn Urkunden mit der jeweils eigenen Unterschrift zum Verbleib bei der Gegenseite ausgetauscht werden;212 dies gilt auch bei Verwendung eines elektronischen Formats.

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Die Folgen eines Formmangels legt die DSGVO nicht fest. Nach dem BDSG a.F. war umstritten, ob die Einhaltung der Form konstitutiv, also der Auftrag ohne sie unwirksam war.213 Der durch die DSGVO erweiterte Gesetzeszweck spricht für ein konstitutives Formerfordernis, d.h. das objektiv zwar eine funktionale Betrachtung erforderlich ist, ob die Auftragsverarbeitung aber auch DSGVO-konform abgebildet wird auch von der Form des Vertrags abhängig.214 7. Exzess des Auftragsverarbeiters (Art. 28 Abs. 10)

145

Überschreitet ein Auftragsverarbeiter die Grenzen seines Auftrages und bestimmt er eigenmächtig über Mittel und Zwecke der Verarbeitung, so behandelt ihn die DSGVO konsequent als Verantwortlichen. Er muss dann in Bezug auf die eigenverantwortliche Verarbeitung sämtliche Vorschriften, die für Verantwortliche gelten, beachten und haftet entsprechend. Diese Folge tritt neben die Sanktionen, die ihn ggf. als Auftragsverarbeiter wegen der Überschreitung des Auftrags nach Art. 82-84 treffen. Abs. 10

209 Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 93 ff., der schon die Möglichkeit der Nachweisbarkeit ausreichen lassen will, unabhängig davon wodurch; ebenso Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 47; ebenso Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Kremer, Art. 28 DSGVO Rz. 166 und Art. 27 DSGVO Rz. 26, „Schriftlichkeit […] liegt mithin bei jeder dokumentierten, nicht nur mündlich erteilten Erklärung vor […]“. 210 Darauf hinweisend auch Jourová im Namen der Europäische Kommission innerhalb einer parlamentarischen Antwort vom 27.08.2018, E-003163/2018. 211 Dies als maßgeblich herausstellend auch Däubler/Wedde/Weichert/Sommer/Wedde, Art. 28 DSGVO Rz. 113 f. 212 Vgl. EU-Recht vgl. EuGH v. 19.6.1984– C-71/83, Rz. 16; s. zum deutschen Recht auch § 126 Abs. 2 Satz 2 BGB. 213 Für ein konstitutives Schriftformerfordernis Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 11 BDSG Rz. 17; Taeger/ Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 73 dagegen: Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 93. 214 So auch BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 28 DSGVO Rz. 102, a.A. Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 93; ebenso Wybitul/Tinnefeld/Krätschmer, Art. 28 DSGVO Rz. 48.

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Auftragsverarbeiter

Rz. 149 Art. 28 DSGVO

greift etwa, wenn ein Auftragsverarbeiter die Daten des Verantwortlichen weisungswidrig für eigene Zwecke einsetzt (Beispiel: ein Lettershop nutzt überlassene Adressdaten weisungswidrig zur Profilbildung oder überlässt diese Dritten). Da der Auftragsverarbeiter in einem solchen Fall die Definition des Verantwortlichen erfüllt (vgl. Art. 4 Nr. 7), behandelt ihn die DSGVO auch als solchen (ebenso wie schon die DSRL).215 Abs. 10 ist daher keine gesetzliche Fiktion, sondern hat klarstellenden Charakter.216 8. Sanktionen Die Aufsichtsbehörden haben im Fall von Verstößen gegen die DSGVO umfassende Sanktionsmög- 146 lichkeiten (Art. 58 Abs. 2). Neben Warnungen und Verwarnungen können sie den Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter unter Fristsetzung anweisen, die Verarbeitung in Einklang mit der Verordnung zu bringen (Art. 58 Abs. 2 Buchst. d) oder die Verarbeitung vorläufig oder endgültig beschränken oder untersagen (Art. 58 Abs. 2 Buchst. f). Für ein IT-Outsourcing, das gegen Art. 28 verstößt, kann dies im ungünstigsten Fall – insb. wenn eine Anpassung an die gesetzlichen Vorgaben nicht möglich oder ggü. dem Dienstleister nicht durchsetzbar ist – bedeuten, dass eine aufwendige Migration zu einem anderen Anbieter erforderlich wird. Neben den Sanktionen nach Art. 58 Abs. 2 können Verantwortliche und Auftragsverarbeiter nach 147 Art. 83 Abs. 4 Buchst. a bei Verstößen gegen die Pflichten aus Art. 28 mit Bußgeldern bis zu 10.000.000 Euro oder bis zu 2 % des weltweiten Umsatzes aus dem vorangegangenen Geschäftsjahr belegt werden, je nachdem, welcher Betrag höher ist. Der Umsatz des Unternehmens wird dabei nach dem weiten kartellrechtlichen Unternehmensbegriff bestimmt (s. ErwGr. 150),217 erfasst also die „eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“.218 Die Bußgelder sind damit im Verhältnis zum Umsatz des gesamten Konzerns zu bestimmen, sofern die Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaften aus wirtschaftlichen, organisatorischen oder rechtlichen Gründen einen bestimmenden Einfluss ausübt.219 Die drohenden Bußgelder sollten auch als Anreiz für Auftragsverarbeiter wirken, Vereinbarungen anzubieten, die den datenschutzrechtlichen Vorgaben zur Auftragsverarbeitung genügen. Dies ist erfahrungsgemäß bei vielen Dienstleistern leider nicht der Fall.220 Unter der DSGVO ist die Auftragsverarbeitung ohne ordnungsgemäße Vereinbarung nach Art. 28 Abs. 3 ein Verstoß sowohl des Verantwortlichen, als auch des Auftragsverarbeiters.221 Diesem erwächst damit allein aus unzureichenden Vereinbarungen ein eigenständiges Bußgeldrisiko nach Art. 83 Abs. 4 Buchst. a.

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Unzureichende Vereinbarungen zur Auftragsverarbeitung können zudem unwirksam sein. Dies gilt je- 149 denfalls, wenn eine Vereinbarung zu wesentlichen Inhalten wie Dauer und Gegenstand des Auftrags fehlt.222 Als Folge kann eine darauf gestützte Datenverarbeitung nach Art. 6 Abs. 1 unzulässig sein. Insofern drohen dann auch Bußgelder nach Art. 83 Abs. 5 Buchst. a mit dem erhöhten Bußgeldrahmen von bis zu 20.000.000 Euro oder bis zu 4 % des weltweiten Umsatzes aus dem vorangegangenen Geschäftsjahr.

215 Vgl. zur DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 169, S. 18 Beispiel 3. 216 Ähnlich wohl Gierschmann/Schlender/Stentzel/Veil/Kramer, Art. 28 DSGVO Rz. 98; a.A. Paal/Pauly/Martini, Art. 28 DSGVO Rz. 77. 217 Kritisch Cornelius, NZWiSt 2016, 421 ff., der auf die sprachlichen Unterschiede der ErwGr. hinweist und im Ergebnis ein kartellrechtliches Verständnis ablehnt. 218 EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90, MDR 1991, 647, 648 = CR 1992, 18. 219 Rost, RDV 2017, 13, 17; Faus/Spittka/Wybitul, ZD 2016, 120, 121 und 124 die dieses Kriterium im Ergebnis jedoch aufgrund der Systematik der DSGVO ablehnen und ein enges Verständnis bevorzugen. 220 Müthlein, RDV 2016, 74, 78. 221 Müthlein, RDV 2016, 74, 78. 222 Noch weitergehend zum BDSG a.F. LG Oldenburg v. 3.4.2014 – 5 O 2164/12, NJW-RR 2014, 1315, 1318: der gesamte Katalog von § 11 Abs. 2 BDSG sei für eine Auftragsverarbeitung konstitutiv.

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DSGVO Art. 28 Rz. 150 Auftragsverarbeiter 150

Unabhängig von Bußgeldern kann eine unzulässige Auftragsverarbeitung Schadensersatzansprüche der Betroffenen nach Art. 82 gegen den Verantwortlichen und den Auftragsverarbeiter auslösen.223 Der Auftragsverarbeiter kann sich allerdings exkulpieren, wenn er seinen gesetzlichen Pflichten nachgekommen ist und die Weisungen des Verantwortlichen beachtet hat, Art. 82 Abs. 2 Satz 2. Anders als unter dem BDSG, welches die Haftung – wohl entgegen der DSRL und damit europarechtswidrig –224 grundsätzlich auf materielle Schäden beschränkte, kann bei Verstößen gegen die DSGVO auch Ersatz für immaterielle Schäden verlangt werden. Art. 80 erlaubt den Mitgliedstaaten ferner, Verbandsklagen zuzulassen. Dies ist ein potentiell sehr scharfes Instrument, um über private Initiativen auf die Einhaltung der DSGVO hinzuwirken. In Deutschland bietet § 2 Abs. 2 Nr. 11 UKlaG aber bisher nur ein beschränktes und ineffektives Verbandsklagerecht.225

Art. 29 Verarbeitung unter der Aufsicht des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters Der Auftragsverarbeiter und jede dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter unterstellte Person, die Zugang zu personenbezogenen Daten hat, dürfen diese Daten ausschließlich auf Weisung des Verantwortlichen verarbeiten, es sei denn, dass sie nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zur Verarbeitung verpflichtet sind. I. Zweck der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

I. Zweck der Vorschrift 1

Art. 29 bindet die mit der Datenverarbeitung befassten natürlichen Personen an die Weisungen des Verantwortlichen. Die Weisungsrechte des Art. 29 sorgen dafür, dass der Verantwortliche auch im Rahmen der Auftragsverarbeitung über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung bestimmen kann. Die Vorschrift steht in engem systematischen Zusammenhang mit Art. 28 und rundet das gesetzgeberische Konzept der Auftragsdatenverarbeitung ab.1

2

Die Vorgängerregelung des Art. 29 findet sich im inhaltlich identischen Art. 16 DSRL. Die Übernahme dieser Norm ist ein weiterer Beleg, dass das Konstrukt der Auftragsverarbeitung samt der Verantwortungsverteilung zwischen Verantwortlichem und Auftraggeber durch die DSGVO nicht grundsätzlich geändert werden soll.2

II. Norminhalt 3

Art. 29 bindet zunächst den Auftragsverarbeiter an die Weisungen des Verantwortlichen. Die Weisungsgebundenheit ergibt sich für ihn also unmittelbar aus dem Gesetz. Nach Art. 28 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a muss sie jedoch auch Gegenstand der Vereinbarung mit dem Verantwortlichen sein, so dass der Auftragsverarbeiter parallel aus Vertrag und Gesetz zur Befolgung der Weisungen verpflichtet ist.

4

Des Weiteren sind dem Verantwortlichen unterstellte Personen, soweit sie Zugang zu personenbezogenen Daten haben, an dessen Weisungen gebunden. Der Begriff der unterstellten Personen ist in der

223 Dazu Franck, RDV 2016, 111, 118 f. 224 S. die ausführliche Begründung des Court of Appeal in Google v. Vidal-Hall [2015] EWCA Civ 311. 225 Kühling/Buchner/Bergt, Art. 80 DSGVO Rz. 13 ff. die engen Voraussetzungen und Schwierigkeiten hervorhebend Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler, § 2 UKlaG Rz. 29 f.; anders Gola, RDV 2016, 17 ff. 1 Ausführlich zum Verhältnis von Art. 28 und 29 BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 29 DSGVO Rz. 1. 2 S. aber Härting, Datenschutz-Grundverordnung, Rz. 579.

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Freund

Sicherheit der Verarbeitung

Art. 32 DSGVO

DSGVO nicht definiert. In erster Linie sind die Beschäftigten des Verantwortlichen gemeint.3 Da Sinn und Zweck der Vorschrift sich darauf richtet, dem Verantwortlichen die Kontrolle über die tatsächlichen Verarbeitungsvorgänge zu ermöglichen, ist der Begriff weit zu verstehen (vgl. den Begriff der „bei der Datenverarbeitung beschäftigten Personen“ nach § 5 Satz 1 BDSG a.F.). Erfasst sind zumindest sämtliche Personen, die bereits aufgrund eines Dienstvertrages, Arbeitsvertrages, Ausbildungsverhältnisses oder Leiharbeitsverhältnisses den Weisungen des Verantwortlichen unterliegen.4 Zudem wird man auch freie Mitarbeiter (z.B. Software-Entwickler) zu den unterstellten Personen zählen können, die auf der Grundlage eines Dienst- oder Werkvertrages in Projekte des Verantwortlichen fachlich eingebunden sind. Insofern wird vertreten, dass mit einzelnen freien Mitarbeitern wegen der direkten Bindung über Art. 29 keine Vereinbarung zur Auftragsdatenverarbeitung nach Art. 28 Abs. 3 abgeschlossen werden muss, sondern lediglich eine vertragliche Absicherung i.S.d. Art. 32 Abs. 4.5

5

Bemerkenswert ist die dem Wortlaut von Art. 29 nach bestehende Bindung der Beschäftigten des 6 Auftragsverarbeiters an die Weisungen des Verantwortlichen. Sie provoziert Konflikte mit dem Weisungsrecht des Auftragsverarbeiters ggü. seinen Mitarbeitern. Bei wörtlicher Auslegung haben die Weisungen des Verantwortlichen Vorrang vor denen des Auftragsverarbeiters und hebeln damit die zivilrechtliche Auftragskette aus.6 Ein Hineinsteuern des Verantwortlichen in den Betrieb des Auftragsverarbeiters würde Auftragsverarbeiter in der Praxis vor offensichtliche Probleme stellen und deren Mitarbeiter verunsichern. Sachgerechter erscheint daher eine korrigierende Auslegung von Art. 29 dahin, dass Beschäftigte des Auftragsverarbeiters den Weisungen des Auftragsverarbeiters unterliegen.7 Der Verantwortliche steuert sie indirekt über den Auftragsverarbeiter,8 welcher die Weisungen weitergibt (vgl. Art. 32 Abs. 4). Dafür spricht auch, dass die Beschäftigten des Auftragsverarbeiters (im Gegensatz zu Dritten) nach Art. 4 Nr. 10 „unter der unmittelbaren Verantwortung […] des Auftragsverarbeiters“ tätig werden.

Art. 32 Sicherheit der Verarbeitung (1) Unter Berücksichtigung des Stands der Technik, der Implementierungskosten und der Art, des Umfangs, der Umstände und der Zwecke der Verarbeitung sowie der unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere des Risikos für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen treffen der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter geeignete technische und organisatorische Maßnahmen, um ein dem Risiko angemessenes Schutzniveau zu gewährleisten; diese Maßnahmen schließen gegebenenfalls unter anderem Folgendes ein: a) die Pseudonymisierung und Verschlüsselung personenbezogener Daten; b) die Fähigkeit, die Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Belastbarkeit der Systeme und Dienste im Zusammenhang mit der Verarbeitung auf Dauer sicherzustellen; c) die Fähigkeit, die Verfügbarkeit der personenbezogenen Daten und den Zugang zu ihnen bei einem physischen oder technischen Zwischenfall rasch wiederherzustellen; d) ein Verfahren zur regelmäßigen Überprüfung, Bewertung und Evaluierung der Wirksamkeit der technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Verarbeitung.

3 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 29 DSGVO Rz. 12; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 29 DSGVO Rz. 11. 4 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 29 DSGVO Rz. 12; BeckOK DatenSR/Spoerr, Art. 29 DSGVO Rz. 11, hält daneben das Vorliegen einer „faktische[n] Zugriffsmöglichkeit“ für maßgeblich. 5 Kühling/Buchner/Hartung, Art. 29 DSGVO Rz. 13. 6 So wohl Paal/Pauly/Martini, Art. 29 DSGVO Rz. 14 und 23; Kühling/Buchner/Hartung, Art. 29 DSGVO Rz. 10. 7 Gola/Klug, Art. 29 DSGVO Rz. 1 (ohne Begründung). 8 Plath/Plath, Art. 29 DSGVO Rz. 2.

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DSGVO Art. 32 Sicherheit der Verarbeitung (2) Bei der Beurteilung des angemessenen Schutzniveaus sind insbesondere die Risiken zu berücksichtigen, die mit der Verarbeitung verbunden sind, insbesondere durch – ob unbeabsichtigt oder unrechtmäßig – Vernichtung, Verlust, Veränderung oder unbefugte Offenlegung von beziehungsweise unbefugten Zugang zu personenbezogenen Daten, die übermittelt, gespeichert oder auf andere Weise verarbeitet wurden. (3) Die Einhaltung genehmigter Verhaltensregeln gemäß Artikel 40 oder eines genehmigten Zertifizierungsverfahrens gemäß Artikel 42 kann als Faktor herangezogen werden, um die Erfüllung der in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Anforderungen nachzuweisen. (4) Der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter unternehmen Schritte, um sicherzustellen, dass ihnen unterstellte natürliche Personen, die Zugang zu personenbezogenen Daten haben, diese nur auf Anweisung des Verantwortlichen verarbeiten, es sei denn, sie sind nach dem Recht der Union oder der Mitgliedstaaten zur Verarbeitung verpflichtet. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzziele der Datensicherheit . . c) Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . d) Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich .

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1 2 2 3 7 8 11

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sicherheit der Verarbeitung (Art. 32 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Technisch-organisatorische Maßnahmen . b) Angemessenes Schutzniveau . . . . . . . . aa) Bestimmung des Schutzzwecks . . . . bb) Risikoanalyse (Art. 32 Abs. 2) . . . . . cc) Maßnahmenauswahl nach Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . c) Maßnahmenkatalog (Art. 32 Abs. 1 Buchst. a–d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Pseudonymisierung und Verschlüsselung (Art. 32 Abs. 1 Buchst. a) . . . . (1) Pseudonymisierung . . . . . . . . . . . (2) Verschlüsselung . . . . . . . . . . . . . (a) Stand der Technik . . . . . . . . . . . . (b) Anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . bb) Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Belastbarkeit (Art. 32 Abs. 1 Buchst. b) . . . . . . . . . . . . cc) Wiederherstellung der Verfügbarkeit bei Zwischenfällen (Art. 32 Abs. 1 Buchst. c) . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Regelmäßige Überprüfung, Bewertung und Evaluierung der Maßnahmen (Art. 32 Abs. 1 Buchst. d) . . . . 2. Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren (Art. 32 Abs. 3) . . . . . . . . . . . 3. Maßnahmen betreffend Personen mit Zugang zu Daten (Art. 32 Abs. 4) . . . . . . . 4. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 14 18 20 22 25 29 30 31 40 41 43 47 54 56 61 65 68

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Einzelfälle und -fragen – Praktische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Konkretisierung der Anforderungen des Art. 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abdeckung wesentlicher Anforderungen der DSGVO durch Implementierung der Kontrollziele nach BDSG a.F. . . . . . . . . . a) Zutrittskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugangskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . c) Zugriffskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . d) Weitergabekontrolle . . . . . . . . . . . . . e) Eingabekontrolle . . . . . . . . . . . . . . . f) Auftragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . g) Verfügbarkeitskontrolle . . . . . . . . . . . h) Trennungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anpassungsbedarf von Sicherheitskonzepten nach BDSG an die DSGVO . . . . . . . . a) Belastbarkeit der Systeme und Dienste . . b) Wiederherstellung der Verfügbarkeit von Daten nach Störfällen in angemessener Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahren zur regelmäßigen Überprüfung und Bewertung der Maßnahmen . . . . . . 4. Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Cloud-Computing . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Datensicherheit beim Einsatz mobiler Endgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Softwaretests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verweise/Kontext – Verhältnis zwischen Datenschutz- und Informationssicherheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. IT-Sicherheitsanforderungen in anderen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) GOBD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Risikomanagement und Compliance . . . c) Betriebs- und IT-Sicherheit . . . . . . . . . 2. Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) ISO/IEC 27001 und ISO/IEC 27002 . . . . b) BSI IT-Grundschutz . . . . . . . . . . . . . c) PCI-DSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) SOX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) VdS 3473 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Im Besonderen: Standards für Cloud Computing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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75 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 92 96 98

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 2 Art. 32 DSGVO

Literatur: Bartels/Backer, Die Berücksichtig des Stands der Technik in der DSGVO, DuD 2018, 214; Behling/Abel, Praxishandbuch Datenschutz im Unternehmen, 2015; Bieker, Die Risikoanalyse nach dem neuen EU-Datenschutzrecht und dem Standard-Datenschutzmodell, DuD 2018, 27; Bieker/Bremert/Hansen, Die Risikobeurteilung nach der DSGVO, DuD 2018, 492; Bock/Rost, Privacy By Design und die Neuen Schutzziele, DuD 2011, 30; Borges, Cloud Computing und Datenschutz, DuD 2014, 165; Cornelius, Die „datenschutzrechtliche Einheit“ als Grundlage des bußgeldrechtlichen Unternehmensbegriffs nach der EU-DSGVO, NZWiSt 2016, 421; Arbeitsgruppe für datenschutzfreundliche Technologien der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, Arbeitspapier „Datenschutzfreundliche Technologien in der Telekommunikation“, Stand 17.10.1997 (zitiert: Arbeitspapier DfTT der Arbeitsgruppe für datenschutzfreundliche Technologien); Denkhaus/Geiger, Praxishandbuch bay. E-GovernmentGesetz, 2017; Djeffal, Neue Sicherungspflicht für Telemediendiensteanbieter, MMR 2015, 716; Falker, Risikomanagement unter der Datenschutz-Grundverordnung, in Taeger (Hrsg.), Tagungsband Herbstakademie 1/2017, 2017; Faust/Spittka/Wybitul, Milliardenbußgelder nach der DS-GVO?, ZD 2016, 120; Franck, Das System der Betroffenenrechte nach der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), RDV 2016, 111; Gola/Heckmann, Bundesdatenschutzgesetz Kommentar, 13. Aufl. 2019 (zitiert: Gola/Heckmann/Bearbeiter, § … Rz. …); Greveler/Reinermann, Schutzstandards für Informationssicherheit in KMU – Ein Vergleich, CCZ 2015, 274; Heidrich/Wegener, Sichere Datenwolken, MMR 2010, 803; Heussner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, 2007; von Holleben/Menz, IT-Risikomanagement – Pflichten der Geschäftsleitung, CR 2010, 63; Hornung/Wagner, Der schleichende Personenbezug, CR 2019, 565; Kersten/Reuter/Schröder, IT-Sicherheitsmanagement nach ISO 27001 und Grundschutz, 4. Aufl. 2013; Kipker/Harner/Müller, Der Mensch an der Schnittstelle zur Technik – Praxishilfe in der Umsetzung von Datensicherheit durch den IT-Security Navigator, in Taeger (Hrsg.), Tagungsband Herbstakademie 1/2017, 2017; Kipker/Harner/Müller, Der Mensch an der Schnittstelle zur Technik, InTeR 2018, 24; Knopp, Datenschutzherausforderung Webtracking, DuD 2010, 783; Korte/Romeike, MaRisk VA erfolgreich umsetzen, 2. Aufl. 2011; Kraska, Datenschutz-Zertifizierungen in der EU-Datenschutzgrundverordnung, ZD 2016, 153; Lensdorf, Eine Orientierungshilfe für Unternehmen bei Auslagerungen an Cloud-Anbieter, CR 2019, 8; Lensdorf/Züllich, Verwendung personenbezogener Daten in IT-System zu Testzwecken für Weiter- und Neu-Entwicklung von Software, CR 2015, 2; Link/Steßl, Erste Überlegungen zur Prüfung von Risikomanagementsystemen und seiner Bedeutung im Kontext effektiver Corporate Governance, CB 2016, 238; Maisch, Nutzertracking im Internet, ITRB 2011, 13; Müthlein, Neugestaltung der Auftragsdatenverarbeitung in Deutschland, RDV 2016, 74; Ott, Schutz der Nutzerdaten bei Suchmaschine, MMR 2009, 448; Pordesch, DIN ISO/IEC 27001-orientiertes ISMS, DuD 2017, 667; Reinermann, Neue VdS-Richtlinien für die Cyber- Security, ,kes.-Special IT-Sicherheit in Kommunen und Behörden 2015, 12; Ritter/Reibach/Lee, Lösungsvorschlag für eine praxisgerechte Risikobeurteilung von Verarbeitungen, ZD 2019, 531; Roßnagel, Datenschutzgrundsätze – unverbindliches Programm oder verbindliches Recht?, ZD 2018, 339; Roßnagel/Schnabel, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und sein Einfluss auf das Privatrecht, NJW 2008, 3534; Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, 2017; Schmidt, Compliance in Kapitalgesellschaften, 2010; Schmidt/Babilon, Anforderungen an den Einsatz von Cookies, Browser-Fingerprinting und ähnliche Techniken im deutschen Recht, K&R 2016, 86; Schnabel/Freund, „Ach wie gut, dass niemand weiß …“ – Selbstdatenschutz bei der Nutzung von Telemedienangeboten, CR 2010, 718; Spiecker gen. Döhmann/Bretthauer, Dokumentation zum Datenschutzrecht, 75. Ergänzungslieferung 2019; Stoklas, IT-Sicherheit in den Kommunen: Alle Wege führen nach Rom?, ZD-Aktuell 2016, 05146; Voßhoff/Büttge, Verschlüsselung tut Not, ZRP 2014, 232; Wächter, Datenschutz im Unternehmen, 5. Aufl. 2017; Weidenhammer/Gundlach, Wer kennt den „Stand der Technik“?, DuD 2018, 106; Wenger, Sicherheit als Teil des Informationsmanagements, 2013.

I. Allgemeines Art. 32 enthält die zentrale gesetzliche Regelung zur Datensicherheit. Er verpflichtet sämtliche Stellen, die personenbezogene Daten automatisiert verarbeiten, angemessene Maßnahmen zu treffen, um insb. die Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit der Daten zu gewährleisten und dadurch die Rechte und Freiheiten der Betroffenen zu schützen.

1

1. Einführung a) Zweck Art. 32 geht – wie schon Art. 17 DSRL – von der Erkenntnis aus, dass das Ziel des Datenschutzrechts, 2 die Rechte und Freiheiten der von der Datenverarbeitung Betroffenen zu schützen, ohne flankierende

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DSGVO Art. 32 Rz. 2 Sicherheit der Verarbeitung Maßnahmen zur Datensicherheit nicht erreicht werden kann.1 In der modernen, automatisierten und vernetzten Verarbeitungsrealität setzt dies technische und organisatorische Maßnahmen voraus, um die durch das Datenschutzrecht untersagten Verarbeitungsvorgänge auch tatsächlich zu verhindern.2 Die abzuwehrenden Gefahren bestehen im Verlust von Daten, vor allem aber in unzulässigen Zugriffen und Manipulation durch Mitarbeiter der datenverarbeitenden Stelle oder Dritte; wobei die vielfältigen Motivlagen von menschlicher Neugier über die kriminelle Verwertung fremder Geheimnisse bis hin zur Ausforschung durch staatliche Sicherheitsdienste reichen können. b) Schutzziele der Datensicherheit 3

Als klassische Schutzziele der Datensicherheit werden dementsprechend die Wahrung der Vertraulichkeit (Schutz gegen unbefugten Zugriff), Integrität (Unversehrtheit von Daten und Systemen; Erkennbarkeit von Veränderungen)3 und Verfügbarkeit von IT-Systemen und Daten angesehen.4 Diese hebt auch Art. 32 Abs. 1 Buchst. b heraus (dazu im Einzelnen Rz. 47 ff.).

4

Zu den klassischen Schutzzielen zählt ferner die Authentizität,5 also die Verbindlichkeit und Herkunftssicherheit von Nachrichten, Dokumenten und Urkunden. Die DSGVO erwähnt dieses Schutzziel nur nebenbei in den Erwägungsgründen (ErwGr. 49), gleichwohl ist es unverzichtbarer Bestandteil eines Datensicherheitskonzepts.6 Die Aufsichtsbehörden sprechen von einem „abgeleiteten Gewährleistungsziel“, das Integrität voraussetzt und zur Schaffung der Transparenz der Datenverarbeitung erforderlich ist.7

5

In engem Zusammenhang mit der Authentizität und der Integrität steht ferner das Schutzziel der Revisionsfähigkeit bzw. Revisionssicherheit,8 also der Fähigkeit, dass jederzeit festgestellt werden kann, wer wann welche Daten in welcher Weise verarbeitet hat.9 Dieses in Art. 32 nicht genannte Ziel ist datenschutzrechtlich dennoch besonders relevant als notwendige Voraussetzung für die Nachprüfbarkeit der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung. Entsprechend ist die Revisionsfähigkeit (und die Eingabekontrolle als wesentlicher Bestandteil) in den deutschen Vorschriften zur Datensicherheit seit längerem – teils ausdrücklich – verankert.10 Sie ist aber auch unabhängig von datenschutzrechtlichen Vorgaben eine elementare Anforderung der IT-Sicherheit.11

6

In jüngerer Zeit sind aus datenschutzrechtlicher Sicht als neue Schutzziele ergänzend Transparenz, Nichtverkettbarkeit (Erschwerung zweckwidriger Auswertung in Verbindung mit weiteren Daten), Intervenierbarkeit12 (Ermöglichung der Geltendmachung von Betroffenenrechten) sowie Daten-

1 Vgl. zum Regelungsziel von Art. 32 DSGVO und Art. 17 DSRL Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 2; Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 21 ff. 2 Vgl. ErwGr. 83 DSGVO und schon 46 DSRL. 3 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hansen, Art. 32 DSGVO Rz. 40. 4 Datenschutzkonferenz, Standard-Datenschutzmodell V1.1, 25./26.04.2018, Ziff. 5.4.1; Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 1 und 3; Wolff/Brink/Karg, § 9 BDSG Rz. 44; Heidrich/Wegener, MMR 2010, 803, 804. 5 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, § 33 Rz. 133. 6 Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hansen, Art. 32 DSGVO Rz. 40 mit Verweis auf ErwGr. 49; vgl. Wenger, Sicherheit als Teil des Informationsmanagements, S. 21 f. 7 Datenschutzkonferenz, Standard-Datenschutzmodell V1.0, 9./10.11.2016, Ziff. 5.5 (gestrichen in der V1.1 vom 25./26.04.2018). 8 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, § 33 Rz. 199; Forgó/Helfrich/Schneider/Scheja/Quae/Conrad/Hausen, Teil IV Kap. 3 Rz. 1; Taeger/Gabel/Gabel/Lutz, Art. 28 DSGVO Rz. 23. 9 Dazu LDA Bdb., Technische und organisatorische Aspekte des Datenschutzes, Ziff. 2.5. 10 S. etwa § 10 Abs. 2 Nr. 5 BbgDSG sowie die Eingabekontrolle gem. Satz 2 Nr. 5 Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG. Zur Revisionsfähigkeit als „abgeleitetes Gewährleistungsziel“ Datenschutzkonferenz, Standard-Datenschutzmodell V1.0, 9./10.11.2016, Ziff. 5.5. 11 Vgl. von Holleben/Menz, CR 2010, 53, 65. 12 Den Begriff synonym zu „Betroffenenrechte“ einsetzend: Spiecker gen. Döhmann/Bretthauer/Spiecker gen. Döhmann/Bretthauer, G. 2.4.3; Katalog mit Maßnahmen zur Herstellung der Intervenierbarkeit: Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, § 34 Rz. 557.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 9 Art. 32 DSGVO

minimierung vorgeschlagen worden.13 Diese Ziele gehen bewusst über die Gewährleistung der bloßen IT-Sicherheit hinaus und sollen die Einhaltung des materiellen Datenschutzrechts fördern und ermöglichen. Sie werden in der neueren Datenschutzgesetzgebung zum Teil berücksichtigt und auch von den Aufsichtsbehörden propagiert.14 Sie sind allerdings nicht ausdrücklich Gegenstand der in Art. 32 vorgeschriebenen Maßnahmen. Gleichwohl haben diese Schutzziele zum Teil Eingang in andere Normen der DSGVO gefunden, nämlich insb. die Ziele der Transparenz und Intervenierbarkeit in Form der Betroffenenrechte des Kapitels III und die Datenminimierung in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c. Insoweit sind Verantwortliche über Art. 24, der sich über die Datensicherheit hinaus auf die Einhaltung der materiellen Vorgaben der DSGVO insgesamt richtet, zu entsprechenden Maßnahmen verpflichtet (dazu Rz. 29 ff.). c) Rechtsnatur Die Absicherung von IT-Systemen erfordert selbst die Verarbeitung personenbezogener Daten,15 z.B. 7 bei der Zugriffsrechteverwaltung und der Protokollierung von Zugriffen und Eingaben. Auch die Videoüberwachung kann zur Absicherung von Gebäuden oder Serverräumen eine angemessene Sicherheitsmaßnahme darstellen und wird regelmäßig eine personenbezogene Auswertung im Fall unbefugter Zutritte nach sich ziehen. Fraglich ist, ob Art. 32 insofern einen Erlaubnistatbestand für die Datenverarbeitung gem. Art. 6 Abs. 1 Buchst. c darstellt.16 Nach hier vertretener Auffassung ist dies nicht der Fall; vielmehr führt Art. 32 erst in der Zusammenschau mit der jeweils einschlägigen Rechtsgrundlage für die primäre Datenverarbeitung, also den Tatbeständen aus Art. 6 oder Art. 9, dazu, dass auch die für die begleitenden Sicherheitsmaßnahmen erforderliche sekundäre Datenverarbeitung zulässig ist (s. Rz. 100 f.).17 d) Begriffe Die DSGVO spricht in Art. 32 von der „Sicherheit der Verarbeitung“ und verwendet in ErwGr. 83 und Art. 47 den geläufigeren Begriff der Datensicherheit. Diese kann verstanden werden als die Eigenschaft eines Systems, nur solche Zustände anzunehmen, die zu keinem Datenverlust und keinem unautorisierten Zugriff auf Daten führen.18 Da es bei der Anwendung von Art. 32 faktisch fast immer um die automatisierte Datenverarbeitung geht, also speziell um die Datensicherheit von IT-Systemen, besteht weitgehende Bedeutungsgleichheit mit IT-Sicherheit.19 Datensicherheit wie auch IT-Sicherheit berücksichtigen, dass IT-Systeme in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden sind und so soziotechnische Systeme formen.20 Daher erfordern sie nicht nur technische, sondern auch organisatorische Maßnahmen.

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Datensicherung (vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b BDSG) bezeichnet hingegen die Duplizierung von 9 Daten zur Vermeidung von Datenverlusten (Backup).21 Soweit Datensicherung vereinzelt noch syno-

13 Datenschutzkonferenz, Standard-Datenschutzmodell V1.0, 9./10.11.2016, Ziff. 5.3 und 5.4.; Bock/Rost, DuD 2011, 30, 32; mit Verweis darauf auch Ritter/Reibach/Lee, ZD 2019, 531, 532; Roßnagel, ZD 2018, 339, 341. 14 Datenschutzkonferenz, Standard-Datenschutzmodell V1.0, 9./10.11.2016, Ziff. 5.4.2; Datenschutzkonferenz und Düsseldorfer Kreis, Orientierungshilfe Cloud Computing, V2.0, S. 35 f. 15 Vgl. § 31 BDSG a.F. 16 Vgl. Wolff/Brink/Karg, § 9 BDSG Rz. 58 (zum BDSG a.F.). 17 Vgl. Wolff/Brink/v. Lewinski, § 31 BDSG Rz. 2 (zum BDSG a.F.); so wohl auch Gola/Piltz, Art. 32 DSGVO Rz. 2. 18 Eckert, IT-Sicherheit, S. 6. Wohl enger Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 31 BDSG Rz. 3, die Datensicherheit nur als Schutz vor Daten gegen „Verlust, Zerstörung etc.“ verstehen; BeckOK DatenSR/Paulus, Art. 32 DSGVO Rz. 4 versteht Datensicherheit als Summe von Maßnahmen, um den Ablauf der Datenverarbeitung, Hard- und Software sowie Daten zu schützen. 19 Ähnlich Behling/Abel/Giebichenstein/Schirp/Kölsch, Praxishandbuch Datenschutz im Unternehmen, S. 623 Rz. 24. 20 Eckert, IT-Sicherheit, S. 3; ähnlich auch Wybitul/Schreibauer/Spittka, Art. 32 DSGVO Rz. 2. 21 So z.B. als Standard-Erstmaßnahme der Computer-Forensik bei Heinson, IT-Forensik, S. 13; Gola/Heckmann/ Werkmeister, § 34 Rz. 13.

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DSGVO Art. 32 Rz. 9 Sicherheit der Verarbeitung nym zur Datensicherheit verwendet wird,22 handelt es sich um ein sprachliches Rudiment aus der datenschutzrechtlichen Entwicklungsgeschichte.23 10

Aus dem BDSG ist ferner die Datenschutzkontrolle24 bekannt (s. § 31 BDSG a.F. und § 34 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, Abs. 2 BDSG n.F.). Diese bezeichnet speziell die Prävention unbefugter Datenverarbeitung. Nicht dazu gehören Sicherheitsmaßnahmen gegen allgemeine Verarbeitungsrisiken wie Datenverlust und -degeneration. Insoweit wird die Datenschutzkontrolle nur zum Teil von Art. 32 geregelt und fällt im Übrigen unter Art. 24. Der Begriff der Datenschutzkontrolle erfasst allerdings auch die Kontrolle des Datenschutzrechts im Sinne von Prüfung und Aufsicht25 und geht damit über die Datensicherheit hinaus. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

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Die Organisationspflicht zur Gewährleistung angemessener Datensicherheit gilt gleichermaßen für nicht-öffentliche und öffentliche Stellen (soweit diese nicht nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. d Aufgaben der Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung wahrnehmen). Ferner zählen neben den Verantwortlichen ausdrücklich auch die Auftragsverarbeiter zu den Normadressaten.26 Im Falle der Auslagerung der Datenverarbeitung bleibt also der Auftragsverarbeiter nach Art. 32 unmittelbar für die Datensicherheit verantwortlich, der Auftraggeber ist seinerseits zur Kontrolle der hierzu vom Auftragsverarbeiter getroffenen Maßnahmen verpflichtet (Art. 28 Abs. 1).

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Der sachliche Anwendungsbereich umfasst alle Vorgänge, bei denen personenbezogene Daten nach den Regelungen der DSGVO verarbeitet werden, einschließlich aller dafür relevanten Unternehmensressourcen. Diese sind so zu organisieren, dass eine DSGVO-konforme Datenverarbeitung gewährleistet ist. Art. 32 gilt auch, wenn Daten nicht automatisiert, aber in einem Akten- oder Dateisystem verarbeitet werden (Art. 2 Abs. 1).27

II. Norminhalt 1. Sicherheit der Verarbeitung (Art. 32 Abs. 1) 13

Wie die Vorgängerregelung aus DSRL/BDSG fordert Art. 32 nicht das bestmögliche, sondern ein angemessenes Datensicherheitsniveau und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen. An solchen Maßnahmen besteht im Allgemeinen ohnehin ein Eigeninteresse der datenverarbeitenden Stellen. Die DSGVO setzt darüber hinaus noch einen zusätzlichen Anreiz, indem die technisch-organisatorischen

22 S. etwa Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 32 DSGVO Rz. 2; Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 9 BDSG Rz. 1 ff. 23 Vgl. z.B. Art. 7 der Datenschutzkonvention des Europarats vom 28.1.1981, der unter der Überschrift „Datensicherung“ – nach heutigem Verständnis – Maßnahmen der Datensicherheit beschreibt, so etwa Heinson, ITForensik, S. 76. Im Rahmen des BDSG a.F. – nämlich in §§ 14, 19, 31 und 33 BDSG a.F. – kann Datensicherung hingegen bereits als Backup verstanden werden. 24 Zu den drei „Säulen“: Eigenkontrolle/Selbstkontrolle/Fremdkontrolle: Wächter, Rz. 311; zu den bei der Datenschutzkontrolle verarbeiteten Daten: Kühling/Buchner/Golla, § 34 BDSG Rz. 12. 25 Vgl. etwa Heussner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, S. 352 ff.; etwa auch als institutionelle Garantie: Schantz/Wolff/Wolff, Rz. 90. 26 Dies galt auch unter dem BDSG, vgl. Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 9 BDSG Rz. 3. 27 BeckOK DatenSR/Bäcker, Art. 2 DSGVO Rz. 4, wonach nur Einzeldokumente und unsortierte Zettelsammlungen der DSGVO nicht unterfallen; Ehmann/Selmayr/Zerdick, Art. 2 DSGVO („Akten oder Aktensammlungen sowie ihre Deckblätter, die nicht nach bestimmten Kriterien geordnet sind“); so auch Gola/Gola, Art. 2 DSGVO Rz. 11; Kühling/Buchner/Kühling/Raab, Art. 2 DSGVO („nach zumindest zwei Kriterien sortierbar“); Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Roßnagel, Art. 2 DSGVO, wonach nur wahllos gesammelte Dokumente der DSGVO nicht unterfallen; Paal/Pauly/Ernst, Art. 2 DSGVO („Sortierung nach Personen genügt“); Sydow/Einöckl, Art. 2 DSGVO (Bestehen der „vereinfachte[n] Möglichkeit ihrer inhaltlichen Erschließung“); Taeger/Gabel/Schmidt, Art. 2 DSGVO („nach Kriterien strukturiert sein, die den Zugriff erleichtern“); Däubler/Klebe/Wedde/Weichert/Wedde, § 9 BDSG Rz. 3.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 19 Art. 32 DSGVO

Sicherheitsmaßnahmen bei jeder Bußgeldbemessung als Faktor zu berücksichtigen sind (Art. 83 Abs. 2 Satz 2 Buchst. e).28 a) Technisch-organisatorische Maßnahmen Der Begriff der technisch-organisatorischen Maßnahmen ist weit zu fassen.29

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Technische Maßnahmen umfassen in diesem Sinne über die IT hinaus auch solche der Gebäudeund Sicherheitstechnik. Daher fordert Art. 32 auch bauliche Maßnahmen zur Datensicherung.30

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Organisatorische Maßnahmen umfassen die grundlegende betriebliche, infrastrukturelle und per- 16 sonelle Organisation der Datenverarbeitung.31 Zu letzterer gehören sämtliche Anweisungen an die Mitarbeiter, etwa in Form von Datenschutzrichtlinien (s. Art. 24 Abs. 2), aber z.B. auch die Schaffung der Funktionen eines Datenschutz- und/oder IT-Sicherheitsbeauftragten. Die Maßnahmen müssen geeignet sein, also die Schutzziele der Datensicherheit – insb. Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit – fördern können.32 Schon bei der Vorauswahl der in Betracht zu ziehenden Maßnahmen bietet es sich insofern an, den Stand der Technik zu berücksichtigen und bewährte Maßnahmenkataloge wie IT-Grundschutz heranzuziehen.33

17

b) Angemessenes Schutzniveau Die breit angelegte Pflicht des Art. 32 wird durch das Korrektiv der Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit erst praktikabel.34 Danach sind von den geeigneten technisch-organisatorischen Sicherheitsmaßnahmen nur diejenigen auch erforderlich, die mit einem dem Schutzzweck angemessenen Aufwand realisiert werden können. Dies ist auf Basis einer Risikoanalyse unter Berücksichtigung der Umstände der Verarbeitung, des Stands der Technik und der Umsetzungskosten zu ermitteln.

18

Die von Abs. 2 geforderte Analyse der Risiken ist der erste Schritt bei der Aufstellung eines Sicherheitskonzepts und erfolgt vor der eigentlichen Maßnahmenauswahl. Sie liefert das Material für die anschließende Abwägung von Aufwand und Nutzen einzelner Maßnahmen. Für Risikoanalysen im Bereich der IT-Sicherheit existieren verschiedene methodische Ansätze. Da die Risiken erfahrungsgemäß von den Umständen der Verarbeitung und vor allem auch der Art der Daten abhängen, ist eine kombinierte Schutzbedarfs- und Risikoanalyse35 zu empfehlen, also insb. zunächst der Schutzzweck zu bestimmen.

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28 Dazu Rost, RDV 2017, 13, 18; Forgó/Helfrich/Schneider/Schmieder, Teil XII Kap. 2 Rz. 30; zum Bußgeldbemessungskonzept der deutschen Datenschutzbehörden: Spieker gen. Döhmann/Bretthauer/Spieker gen. Döhmann/ Bretthauer, G 2.4.98. 29 Mit Verweis auf JI-RL und Anl. zu BDSG a.F.: Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 29; vgl. zu § 9 BDSG a.F. Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 9 BDSG Rz. 5. 30 Vgl. zu § 9 BDSG a.F. Muksch, Datenschutz und Datensicherung in Klein- und Mittelbetrieben, S. 114 ff. 31 Ähnlich Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 28 „alle Handlungen, die sich auf den Vorgang der Verarbeitung oder seine äußeren Rahmenbedingungen mit dem Ziel richten, diese in Einklang mit den Vorgaben der VO zu bringen“. 32 Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 5. 33 Ausführlich zur Auslegung des Stands der Technik Bartels/Backer, DuD 2018, 214, 215 ff.; abstrakt zur Begrifflichkeit unabhängig von der DSGVO Weidenhammer/Gundlach, DuD 2018, 106. 34 Vgl. zu § 9 BDSG a.F. Gierschmann/Saeugling/Saeugling, § 9 BDSG Rz. 13. 35 Ausf. dazu Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, § 33 Rz. 133; vgl. zu § 9 BDSG a.F. Wolff/Brink/Karg, § 9 BDSG Rz. 84; Bieker/Bremert/Hansen, DuD 2018, 492, 493, nehmen einen Dreischritt vor (Risikoidentifikation; Abschätzung von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere möglicher Schäden; Zuordnung zu Risikostufungen), was inhaltlich gleichlaufend ist; zu Kriterien einer Risikoanalyse von Cloud-Diensten: Lensdorf, CR 2019, 8, 10; zu einer Analyse am Maßstab der EU-Grundrechte: Bieker, DuD 2018, 27 ff.

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DSGVO Art. 32 Rz. 20 Sicherheit der Verarbeitung aa) Bestimmung des Schutzzwecks 20

In der Praxis der deutschen Aufsichtsbehörden ist die Klassifizierung der verarbeiteten Daten nach ihrem Schutzbedarf etabliert.36 Aus dem Datenschutzrecht lassen sich einige Kriterien für eine solche Klassifikation ableiten: – Grad des Personenbezugs: Anonyme Daten dürfen frei verarbeitet werden und erfordern somit keine Sicherheitsmaßnahmen. Pseudonyme Daten (vgl. Art. 4 Nr. 5) sind grundsätzlich zu schützen, ihr Schutzbedarf hängt aber von der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer Re-Identifikation im jeweiligen Verarbeitungskontext ab; dasselbe gilt für (nicht sicher) verschlüsselte Daten.37 Personenbezogene Daten verlangen Schutz gem. § 9 Satz 1 BDSG a.F. je nach ihrem Aussagegehalt. – Sensibilität der Daten: Einen erhöhten Schutzbedarf haben nach der Wertung der DSGVO die in Art. 9 Abs. 1 aufgeführten Kategorien von Daten, nämlich Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit und Sexualleben sowie genetische Daten und biometrische Identifikationsdaten. Auch einem Berufsgeheimnis unterliegende Daten sollten – auch wenn ihr Schutz nicht direkt durch die DSGVO geregelt ist – per se als besonders schützenswert behandelt werden (s. auch ErwGr. 75 Abs. 2). Ferner heben die ErwGr. 75 und 91 den Schutzbedarf von Daten hervor, die sich auf Straftaten beziehen. Besonderen Schutz erfordern auch wirtschaftlich relevante Daten (s. ErwGr. 85) wie Angaben zu Bank- oder Kreditkartenkonten. Schließlich liegt bei Persönlichkeitsbewertungen und Profilen ein erhöhter Schutzbedarf jedenfalls nahe (vgl. Art. 4 Nr. 4 und Art. 35 Abs. 3 Buchst. a sowie ErwGr. 75). – Ferner können das Format der Daten und der Verarbeitungskontext einen Einfluss auf den Schutzbedarf haben. Bei Daten, die leicht verkettbar und nach sensiblen Merkmalen auswertbar sind, ist ein Missbrauch tendenziell leichter und somit der Schutzbedarf im Zweifel höher als bei Daten, die nur aufwendig manuell interpretiert werden können.

21

Für die praktische Handhabung empfiehlt sich eine Klassifizierung in z.B. drei Schutzbedarfsklassen38, wie sie etwa auch das BSI in seinen Empfehlungen zum IT-Grundschutz vorsieht;39 auch die Aufsichtsbehörden empfehlen dieses Vorgehen und kategorisieren nach „normalem“, „hohem“ und „sehr hohem“ Schutzbedarf.40 Bei der Zuordnung sollte neben den oben genannten formalen Kriterien insb. auch der materielle Gehalt der Daten berücksichtigt werden. Ferner sind bei der Klassifizierung die in Abs. 2 genannten Risiken zu berücksichtigen (dazu sogleich Rz. 23 f.), so dass Schutzbedarfsund Risikoanalyse integriert sind. bb) Risikoanalyse (Art. 32 Abs. 2)

22

Im Rahmen der von Abs. 2 geforderten Risikoanalyse ist zu fragen, welche Beeinträchtigungen den Betroffenen bei Verarbeitung der Daten drohen. Angesichts der Rechenschafts- und Nachweispflicht (vgl. Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Buchst. f; Art. 24 Abs. 1) sollte diese Risikoanalyse sorgfältig dokumentiert werden.

23

Über die Bestimmung des Schutzzwecks hinaus empfiehlt es sich, die konkreten Risiken aus den in Abs. 2 genannten Risikokategorien Vernichtung, Verlust (Abhandenkommen), Veränderung und unbefugter Offenbarung für die verschiedenen Datenkategorien zu bestimmen und deren Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere abzuschätzen.

24

Die Risikobetrachtung sollte die den Betroffenen drohenden physischen, materiellen und immateriellen Schäden umfassen. Eine Hilfestellung mit Beispielen für konkrete Risiken bietet ErwGr. 75 Abs. 2. Danach sind regelmäßig die Risiken der Diskriminierung, des Identitätsdiebstahls, finanziel-

36 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 51 ff.; vgl. zur Rechtslage nach § 9 BDSG a.F. Behling/Abel/Alsbih, Praxishandbuch Datenschutz im Unternehmen, S. 626 Rz. 31. 37 LDA Brandenburg, Technische und organisatorische Aspekte des Datenschutzes, S. 38. 38 Ausf. dazu mit praktischen Beispielen: Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, § 33 Rz. 195. 39 Vgl. BSI, BSI-Standard 100-2, IT-Grundschutz-Vorgehensweise (2008), S. 49 ff.; darauf verweist auch Ehmann/Selmayr/Hladjk, Art. 32 DSVO Rz. 11. 40 LDA Brandenburg, Technische und organisatorische Aspekte des Datenschutzes, S. 25.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 31 Art. 32 DSGVO

len Verlustes, der Rufschädigung, der Verletzung von Berufsgeheimnissen sowie andere wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile zu bedenken. cc) Maßnahmenauswahl nach Verhältnismäßigkeit Schließlich ist abzuwägen, welche Maßnahmen in Anbetracht des festgestellten Schutzzwecks und der bestehenden Risiken für die Betroffenen noch als angemessen gelten können. Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten grundsätzlich naheliegende, übliche und dem Stand der Technik entsprechende Sicherheitsmaßnahmen erforderlich macht. Dies vorausgesetzt ist es klare Intention der DSGVO, bei der Maßnahmenauswahl Wirtschaftlichkeitserwägungen Raum zu geben.41 Maßnahmen, die unter Berücksichtigung des Schutzbedarfs und des erzielbaren Sicherheitsgewinns ökonomisch unvernünftig sind, muss die verantwortliche Stelle nicht treffen.

25

Verbleiben, wie im Regelfall, nach der Abwägung zwischen Aufwand und Schutzzweck mehrere alternative Maßnahmen, so liegt grundsätzlich die Auswahl im Ermessen des Verantwortlichen.

26

Zu beachten ist aber, dass in vielen Fällen zur Erreichung der in Abs. 1 Buchst. b und c genannten Schutzziele auch die Kombination mehrerer Maßnahmen erforderlich, angemessen und üblich ist. Insb. ist angesichts der typischerweise schichtenartig organisierten IT-Infrastruktur – s. etwa das OSISchichtenmodell der Netzwerkprotokolle sowie die geläufige Aufteilung der System-Architektur in die Hardware-, Virtualisierungs-, Betriebssystem-, Middleware- und Anwendungsebene – ein korrespondierender Sicherheitsansatz durch Maßnahmen auf mehreren Ebenen geboten (sog. Layered Defense).42

27

Den Ansatz der Layered Defense verfolgte auch das BDSG a.F., indem in der Anlage zu § 9 Satz 1 28 BDSG a.F. die abstrakten IT-Schutzziele – Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit – auf acht Kontrollziele heruntergebrochen wurden. Diesen lag erkennbar eine Art Zwiebelmodell mit mehreren Schutzhüllen um die datenverarbeitenden Systeme zugrunde (namentlich Zutritts-, Zugangs-, Zugriffs- und Eingabekontrolle). Der Ansatz sollte sich aber auch innerhalb der einzelnen Kontrollziele fortsetzen, in dem jeweils angemessene Maßnahmen auf den verschiedenen System- und Netzwerkebenen getroffen werden. c) Maßnahmenkatalog (Art. 32 Abs. 1 Buchst. a–d) Zu der sehr abstrakten Forderung, angemessene Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, liefert Art. 32 Abs. 1 auch noch einen Katalog von „Maßnahmen“ in Buchst. a–d. Die Zusammenstellung ist allerdings nur bedingt hilfreich und wirft einige Fragen auf. Zudem ist der Katalog nicht als abschließend zu verstehen.43

29

aa) Pseudonymisierung und Verschlüsselung (Art. 32 Abs. 1 Buchst. a) Maßnahmen im eigentlichen Sinne enthält nur Buchst. a mit der Pseudonymisierung und der Verschlüsselung.44

30

(1) Pseudonymisierung Art. 4 Nr. 5 definiert Pseudonymisierung als „die Verarbeitung personenbezogener Daten in einer Weise, dass die personenbezogenen Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr 41 Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 60 sieht Maßnahmen im Extremfall als entbehrlich, wenn die Gefahren gering sind und die Implementierungskosten hoch; a.A. wohl Auernhammer/Kramer/Meints, Art. 32 DSVO Rz. 41; vgl. auch § 9 Satz 2 BDSG a.F. und dazu Behling/Abel/Alsbih, Praxishandbuch Datenschutz im Unternehmen, S. 626 Rz. 33. 42 Dazu Heidrich/Wegener, MMR 2010, 803, 804. 43 Bartels/Backer, DuD 2018, 214, 216. 44 So auch Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 32 DSGVO Rz. 7 f., der in den anderen Aufzählungen nur „Aufgabenstellungen […] die eine Summe von Maßnahmen beinhalten“ erkennt; ähnlich Gierschmann/ Schlender/Stenzel/Veil/Jergl, Art. 32 DSGVO Rz. 30.

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31

DSGVO Art. 32 Rz. 31 Sicherheit der Verarbeitung einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, sofern diese zusätzlichen Informationen gesondert aufbewahrt werden und technischen und organisatorischen Maßnahmen unterliegen, die gewährleisten, dass die personenbezogenen Daten nicht einer identifizierten oder identifizierbaren natürlichen Person zugewiesen werden“. 32

Personenbezogene Daten werden also pseudonymisiert, indem zunächst jeder betroffenen Person ein Pseudonym zugeordnet wird und dann sämtliche Identifizierungsmerkmale (wie etwa Namen) durch die jeweiligen Pseudonyme ersetzt werden. Der sich ergebende, pseudonymisierte Datenbestand kann – bei ordnungsgemäßer Pseudonymisierung – nur noch mit Kenntnis der Zuordnungsregel bzw. -tabelle wieder den betroffenen Personen zugeordnet werden.45 Somit können personenbezogene Daten vor Missbrauch durch Dritte – z.B. Cloud-Anbieter –, aber auch durch eigene Mitarbeiter geschützt werden, soweit sichergestellt ist, dass diese keinen Zugriff auf die Zuordnungsregel haben. Daher verlangt Art. 4 Nr. 5, dass die Zuordnungsregel (die „zusätzlichen Informationen“) ihrerseits vor unbefugtem Zugriff geschützt sein muss, um von Pseudonymisierung i.S.d. DSGVO sprechen zu können.

33

Die von Art. 4 Nr. 5 für ein Pseudonym vorausgesetzte technisch-organisatorische Abschottung zwischen der Zuordnungsregel einerseits und dem pseudonymisierten Datenbestand andererseits bezieht sich nicht notwendig auf eine Konstellation mit mehreren Beteiligten, sondern kann auch innerhalb ein und derselben verantwortlichen Stelle vollzogen werden. Dies war für das Regime von BDSG a.F. und TMG umstritten. Nach einer auch in Stellungnahmen der deutschen Aufsichtsbehörden vertretenen Auffassung sollte bei einer Ersetzung von direkten Identifikatoren durch Aliasse innerhalb einer Stelle, die Zugriff auf die Zuordnungsregel hat oder bei der sonst die Möglichkeit einer Re-Identifizierung gegeben ist, innerhalb dieser Stelle nicht von einem Pseudonym im Sinne von § 3 Abs. 6a BDSG a.F. und §§ 13, 15 TMG gesprochen werden. Daraus wurde zum Teil die Konsequenz gezogen, dass eine in einem (First-Party-)Cookie gespeicherte Cookie- oder Session-ID für das eine Website betreibende Unternehmen schon dann kein Pseudonym sei, wenn auf der Website zugleich ein Anmeldeoder Registrierungsformular vorhanden sei, weil die ID dann potentiell mit Identifikationsdaten des Betroffenen zusammengeführt werden könne.46 Entsprechend sollte eine IP-Adresse aufgrund der potentiellen Zuordnung zum Inhaber kein taugliches Pseudonym im Sinne des TMG sein.47 Diese Auffassung vermengte allerdings in unzulässiger Weise die Begriffe des Personenbezugs und des Pseudonyms und gelangte so zu einer „Relativität des Pseudonyms“ analog der Relativität des Personenbezugs (welche ihrerseits umstritten ist, s. Art. 44 Rz. 18 ff.). Tatsächlich kann ein Pseudonym samt der damit verknüpften Angaben sehr wohl zugleich ein personenbezogenes Datum sein und ist dies auch zumindest in den Händen jeder Stelle, die realistischerweise von der Zuordnungsregel Gebrauch machen kann. Das Pseudonym verliert dabei nicht seine Eigenschaft als Pseudonym. Dies galt nach richtiger Auffassung auch schon unter BDSG a.F. und TMG,48 so dass die Aufsichtsbehörden zu Recht – an anderer Stelle – geäußert haben, dass Cookie-IDs bewährtermaßen allgemein als Pseudonym nach § 15 Abs. 3 TMG angesehen werden.49 Gleiches muss nach hiesiger Auffassung für die IP-Adresse gelten,50 welche zwanglos die Definition eines Pseudonyms erfüllt.51 Die DSGVO bietet keinen Anlass, den dargestellten Streit fortleben zu lassen, da Art. 4 Nr. 5 keine Anhaltspunkte dahingehend bietet, dass die Abschottung zwischen Pseudonym und Zuordnungsregel nicht auch innerhalb derselben Stelle erfolgen kann.52 Folglich verpflichtet Art. 32 Abs. 1 Buchst. a dazu, auch innerhalb des Verantwortlichen Pseudonymisierungs- und Trennungsmöglichkeiten im Sinne des technisch-organisatorischen Datenschutzes zu identifizieren und ggf. zu implementieren. 45 Vgl. dazu ausf. Hornung/Wagner, CR 2019, 565 ff. 46 ULD Schleswig-Holstein, FAQ zu IP-Adressen und anderen Nutzungsdaten v. 28.1.2011, II.8.; Spindler/Schuster/Spindler/Nink, § 15 TMG Rz. 9. 47 Düsseldorfer Kreis, Datenschutzkonforme Ausgestaltung von Analyseverfahren zur Reichweitenmessung bei Internet-Angeboten, Beschluss v. 26./27.11.2009, S. 1; offen gelassen bei Ott, MMR 2009, 448, 453. 48 Vgl. Schmidt/Babilon, K&R 2016, 86, 88 m.w.N. zum Meinungsstand. 49 Düsseldorfer Kreis, Umsetzung der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikationsdienste, Beschluss v. 24./25.11.2010; dazu Maisch, ITRB 2011, 13, 16. 50 So zu Recht Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Hausen, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 36 Rz. 108; zum Gleichlauf der Problematik auch Knopp, DuD 2010, 783, 785. 51 Vgl. OLG Köln v. 14.12.2015 – I-12 U 16/13, CR 2016, 369, 371. 52 Vgl. zur DSRL die Definition der Pseudonymisierung durch die Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 148(de), S. 21.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 39 Art. 32 DSGVO

Ist die Pseudonymisierung umkehrbar, so entspricht sie einer Verschlüsselung der in den Daten ent- 34 haltenen Identifizierungsmerkmale. Solange der Verantwortliche – oder eine sonstige Stelle – die Zuordnungsregel kennt, also den „Schlüssel“ besitzt, besteht die Möglichkeit der De-Pseudonymisierung (d.h. Re-Identifizierung). Jedenfalls für alle Stellen, denen eine solche De-Pseudonymisierung möglich ist, bleiben die pseudonymisierten Daten damit personenbezogene Daten, da sie sich auf „identifizierbare“ Personen beziehen (vgl. ErwGr. 26 Abs. 2). Bei Referenz-Pseudonymen kann der Personenbezug über Referenzlisten bzw. Zuordnungstabellen 35 wiederhergestellt werden. Referenz-Pseudonyme eignen sich für Anwendungen, bei denen die betroffene Person nur in bestimmten Ausnahmefällen ermittelt werden muss, beispielsweise bei fehlerhaften Zahlungsvorgängen.53 So genügen vielfach bei der Compliance-Prüfung von Buchungsvorgängen, Transaktionen etc. durch interne oder externe Stellen in einem ersten Schritt pseudonymisierte Daten; im Trefferfall können dann die verdächtigen Vorgänge in einem zweiten Schritt de-pseudonymisiert werden. Selbstgenerierte Pseudonyme werden vom Betroffenen selbst gewählt. Beispielsweise bedienen sich 36 viele Nutzer von Internetforen und sozialen Netzwerken dieser Form des Selbstdatenschutzes, indem sie unter Phantasie- oder Decknamen auftreten; in Deutschland müssen Anbieter entsprechender Dienste dies nach § 13 Abs. 6 TMG grundsätzlich ermöglichen.54 Selbstgenerierte Pseudonyme können im Rahmen von Umfragen und Studien sinnvoll sein, bei denen es nur auf die Unterscheidung der Teilnehmer, nicht aber auf deren Identität ankommt.55 Sind selbstgenerierte Pseudonyme nur für die betroffene Person reidentifizierbar und kann diese sie für jeden Vorgang neu vergeben, spricht man von benutzerkontrollierten Pseudonymen; darauf beruhende Verfahren sind besonders datenschutzfreundlich.56 Neben den vorgenannten, umkehrbaren Pseudonymen haben Einweg-Pseudonyme eine große praktische Bedeutung. Dabei werden die Identifizierungsdaten durch Nutzung einer sog. Einweg-Funktion in ein Pseudonym umgerechnet. In der Praxis werden hierfür Hashfunktionen eingesetzt, welche beliebige Zeichenfolgen auf eine endliche, aber sehr große Menge von (Hash-)Werten abbilden. Das besondere an Hashfunktionen ist, dass sie leicht zu berechnen sind, aber keine entsprechende Umkehrfunktion zum Zurückrechnen der Hashwerte in die Ausgangsfolge bekannt ist.

37

Einweg-Pseudonyme haben ggü. umkehrbaren Pseudonymen eine zusätzliche, sehr datenschutzfreundliche Einsatzmöglichkeit. Dabei werden die ursprünglichen Identifizierungsmerkmale gelöscht und so der Personenbezug weiter abgeschwächt, da selbst der Verantwortliche – mangels Referenzliste und mangels Umkehrbarkeit der Einweg-Funktion – die pseudonymisierten Daten zunächst nicht mehr umkehren kann. Der entscheidende Vorteil ggü. anonymisierten Daten liegt darin, dass nachträglich erhobene Daten nach Behandlung mit derselben Einweg-Funktion gegen die pseudonymisierten Daten abgeglichen werden können.

38

Die Anwendungsszenarien sind vielfältig. Möchte beispielsweise ein Verantwortlicher Werbewidersprüche beachten, so genügt es, wenn er die E-Mail-Adressen (oder sonstigen Kontaktdaten) der Widersprechenden in Form von Hashwerten als Blacklist speichert. Erlangt der Verantwortliche neue E-Mail-Adressbestände, kann er deren Hashwerte gegen die Blacklist abgleichen und so eine Missachtung der Werbewidersprüche verhindern; ein Speichern der Klardaten der Widersprechenden ist somit nicht erforderlich. Weitere Anwendungsfälle sind Längsschnittstudien sowie Auskunftssysteme, die ohne Speicherung der Identitätsdaten lediglich Auskunft über die Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Gruppe geben.57 Schließlich können – analog der Situation von Längsschnittuntersuchungen – beim Web-Tracking, das der Wiedererkennung von Internetnutzern über verschiedene Webseiten und Zeitpunkte hinweg dient, IP-Adressen und andere Identifizierungsmerkmale datensparsam in Form von Hashwerten gespeichert werden.

39

53 54 55 56 57

S. Arbeitspapier DfTT der Arbeitsgruppe für datenschutzfreundliche Technologien, Ziff. 4.2. Dazu Schnabel/Freund, CR 2010, 718 ff. S. Arbeitspapier DfTT der Arbeitsgruppe für datenschutzfreundliche Technologien, Ziff. 4.2. S. Arbeitspapier DfTT der Arbeitsgruppe für datenschutzfreundliche Technologien, S. 6 f. S. Arbeitspapier DfTT der Arbeitsgruppe für datenschutzfreundliche Technologien, Ziff. 4.3.

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DSGVO Art. 32 Rz. 40 Sicherheit der Verarbeitung (2) Verschlüsselung 40

Wie schon das BDSG a.F. hebt die DSGVO die Bedeutung von Verschlüsselungsverfahren besonders hervor.58 Tatsächlich lässt sich Verschlüsselung mittlerweile auf vielen Ebenen mit geringem Aufwand und ohne nennenswerte Einschränkung für die Nutzbarkeit der IT-Systeme einsetzen und so ein erheblicher Sicherheitsgewinn erzielen. Verschlüsselung ist daher weithin nicht nur geeignet, sondern zur Gewährleistung eines angemessenes Schutzniveaus i.S.v. Art. 32 Abs. 1 auch erforderlich. Sie sollte daher möglichst breit eingesetzt werden. Dies gilt zum einen für ruhende Daten, also Daten auf Massenspeichern in Serverhardware, Desktop- und Mobilrechnern sowie mobilen Datenträgern. Zum anderen ist jegliche Übertragung personenbezogener Daten über öffentliche Netze zu verschlüsseln. Schließlich ist auch für die Übertragung im Unternehmensnetzwerk eine Verschlüsselung jedenfalls zu empfehlen, z.B. durch Bereitstellung von Intranet-Webservices per https. (a) Stand der Technik

41

Die eingesetzten Verschlüsselungsverfahren müssen allerdings dem Stand der Technik entsprechen, um eine angemessene Sicherheit bieten zu können. Eine verlässliche Orientierung hierfür bieten die diesbezüglichen technischen Richtlinien des BSI.59 Ein wesentlicher Faktor bei der Beurteilung kryptografischer Verfahren ist auch deren Robustheit gegen zukünftige Angriffe angesichts exponentiell wachsender IT-Ressourcen und fortschreitender Erkenntnisse in der Kryptografie. Neben der Auswahl ausreichender Schlüssellängen gehört es mithin zum Stand der Technik, dass Verbindungsprotokolle Perfect Forward Secrecy unterstützen, um durch Verwendung wechselnder Sitzungsschlüssel die nachträgliche Entschlüsselung abgehörter Kommunikation maßgeblich zu erschweren.

42

Für Daten mit sehr hohem Schutzbedarf, die auch längerfristig gegen Entschlüsselung gesichert werden müssen, sind die gegenwärtig dem Stand der Technik entsprechenden Maßnahmen unter Umständen nicht ausreichend. So ist seit langem bekannt, dass mit praxistauglichen Quantencomputern – deren Verfügbarkeit nur eine Frage der Zeit, aber schwer prognostizierbar ist – die gängigen asymmetrischen Verschlüsselungsverfahren angreifbar werden. Ggf. muss daher bei Daten, für die auch in mittlerer Zukunft noch ein hoher Schutzbedarf besteht, auf Spezialverfahren zurückgegriffen werden.60 Praktisch wird dies aber eher für den Schutz von Geschäftsgeheimnissen relevant als für personenbezogene Daten. Im Übrigen müssen bestehende Verschlüsselungskonzepte mit der Verfügbarkeit von Quantencomputern überprüft und, soweit möglich und erforderlich, angepasst werden. (b) Anwendungsfälle

43

Zu den wichtigen Anwendungsfällen zählt die Vollverschlüsselung auf Systemebene bei stationären Clients sowie die Vollverschlüsselung mobiler Datenträger. Beides wird von den gängigen Betriebssystemen standardmäßig unterstützt61 und ist mit keinem praktisch relevanten Geschwindigkeitsverlust verbunden. Dasselbe gilt für die Verschlüsselung mobiler Clients, die aufgrund der höheren Verlustgefahr erst recht geboten ist.62

44

Immer mehr zum Standard wird ferner der Einsatz von SSL/TLS-Verschlüsselung für Zugriffe auf Websites. Diese Maßnahme kann auch nach § 13 Abs. 7 Nr. 2a TMG geboten sein. Angesichts des geringen Umsetzungsaufwands und der geringen Zertifikatskosten für eine SSL-Verschlüsselung ist insofern von einer gesetzlichen Pflicht jedenfalls beim Betrieb von E-Commerce-Websites, aber wohl auch für sonstige Websites, die personenbezogene Daten z.B. über Formulare erheben, auszugehen. 58 S. Satz 3 der Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG a.F.; kritisierend Gierschmann/Schlender/Stenzel/Veil/Jergl, Art. 32 DSGVO Rz. 29, der dieses für „ambivalent“ hält. 59 S. insb. BSI TR-02102-1 „Kryptographische Verfahren: Empfehlungen und Schlüssellängen“, Version 2018-01, Stand 22.1.2018. 60 Vgl. BSI TR-02102-1, Ziff. 3.1.2. 61 Insb. von Windows (Bitlocker), MacOS (File Vault) und Linux (LUKS); außerdem sind diverse plattformübergreifende Lösungen als freie Software (z.B. VeraCrypt) und kommerzielle Software verfügbar. Auch aktuelle mobile Betriebssysteme erlauben die weitgehende Verschlüsselung der mobilen Endgeräte. 62 Vgl. LfD Niedersachsen, Orientierungshilfe „Datenschutzgerechter Einsatz von Notebooks und mobilen Endgeräten“, S. 2 f.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 49 Art. 32 DSGVO

Für die automatische Ende-zu-Ende-Verschlüsselung von E-Mails existieren zwar schon lange standardisierte Verfahren,63 diese setzen aber einmalige koordinierte Maßnahmen auf Sender- und Empfängerseite voraus. Es ist zu bezweifeln, dass dieser Aufwand im Verhältnis zum erreichten Schutz zumutbar ist, solange keine Daten mit erhöhtem Schutzbedarf vorliegen und es sich – wie bei der Nutzung von E-Mails als Alltags-Kommunikationsmittel üblich – um eine Vielzahl von wechselnden Empfängern handelt.64 Eher zumutbar ist dies hingegen bei regelmäßigem Austausch personenbezogener Daten mit demselben Empfänger. Zumutbar im Einzelfall erscheint ferner die manuelle Verschlüsselung von schützenswerten Anlagen unter Nutzung des in gängige Office- und Komprimierungssoftware bereits integrierten Passwortschutzes; das Passwort ist dann gesondert, z.B. telefonisch, zu übermitteln. Schließlich gehört es zum Stand der Technik, die Verbindung zum vom Unternehmen verwendeten E-Mail-Server zu verschlüsseln (SSL mit PFS), so dass zumindest der firmeninterne E-Mail-Verkehr während der Übertragung geschützt ist (wobei dies keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung darstellt, der Mail-Server also ein möglicher Angriffspunkt bleibt).

45

Im Bereich der Telefonie entfernen sich die TK-Netze immer mehr von der traditionellen, leitungsgebundenen Übertragung, zugunsten von VoIP, also IP-basierter Telefonie. Hinsichtlich der Verbreitung von Verschlüsselung ist die Situation allerdings ähnlich unbefriedigend wie beim E-Mail-Verkehr. Die Verschlüsselung von Inhalten und Metadaten ist technisch möglich, wird aber nur von wenigen Netzbetreibern und Endgeräten unterstützt.65 Die Einführung von VoIP bedeutet damit in der Praxis häufig eine zusätzliche Gefahr für die Vertraulichkeit der Kommunikation. Für Telefonie und Messaging in der einheitlichen Infrastruktur eines Unternehmens stehen hingegen eine Vielzahl von Lösungen zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mit hoher langfristiger Abhörsicherheit bereit (z.B. Offthe-Record-Messaging), die auch für mobile Geräte verfügbar sind; ihr Einsatz ist bei entsprechendem Schutzbedarf zumutbar bis erforderlich.

46

bb) Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Belastbarkeit (Art. 32 Abs. 1 Buchst. b) Die eigentlich als Maßnahmenkatalog angelegte Aufzählung in Art. 32 Abs. 1 findet bereits in Buchst. b) einen überraschenden Abbruch. Die dort genannte „Fähigkeit, die Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Belastbarkeit der Systeme und Dienste im Zusammenhang mit der Verarbeitung auf Dauer sicherzustellen“, ist ersichtlich keine konkrete technische oder organisatorische Maßnahme, sondern beschreibt das vage Ziel solcher Maßnahmen.66 Dies unterstreicht den Ansatz der DSGVO, nicht nur technologieneutral zu bleiben, sondern auf konkrete Anleitungen zum technisch-organisatorischen Datenschutz fast vollständig zu verzichten und sich auf abstrakte Zielvorgaben zurückzuziehen.

47

Die Liste der Ziele umfasst zunächst die klassischen Ziele der IT-Sicherheit, nämlich Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit. In Anlehnung an die ISO 2700x-Nomenklatur67 lassen sich diese wie folgt definieren: Vertraulichkeit ist gegeben, wenn Informationen nicht unbefugten Personen, Stellen oder Prozessen zugänglich oder offengelegt werden. Integrität bedeutet Richtigkeit und Vollständigkeit. Verfügbarkeit ist gewährleistet, wenn Zugriff und Nutzung durch die zugriffsberechtigten Stellen im Bedarfsfall möglich sind. Diese drei Eigenschaften sind die Grundwerte aller gängigen IT- und Informationssicherheits-Frameworks wie ISO 2700x, IT-Grundschutz und COBIT; ggf. werden sie um weitere Schutzziele ergänzt (dazu Rz. 3 ff.).

48

Gemäß Buchst. b sind diese Eigenschaften für die Systeme und Dienste im Zusammenhang mit der Verarbeitung sicherzustellen. Ansatzpunkt für die Sicherheitsmaßnahmen sind also die technischen Systeme. Schutzgut der Datensicherheit bleiben allerdings die darin verarbeiteten personenbezogenen Daten – im Ergebnis sind also deren Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit zu gewährleisten.

49

63 Insb. S/MIME und PGP. 64 Vgl. auch VG Berlin v. 24.5.2011 – 1 K 133.10, CR 2012, 191 = ITRB 2012, 58; a.A. Voßhoff/Büttge, ZRP 2014, 232, 233, die sich für eine zukünftige „Gurtpflicht“ der E-Mail Dienstanbieter aussprechen. 65 BfDI, Datenschutz bei der Internet-Telefonie, Stand August 2017, S. 8. 66 So auch Gierschmann/Schlender/Stenzel/Veil/Jergl, Art. 32 DSGVO Rz. 30; kritisierend Ehmann/Selmayr/ Hladjk, Art. 32 DSGVO Rz. 8, da damit ohnehin nur die „klassischen Schutzziele der IT-Sicherheit“ benannt werden. 67 Vgl. ISO/IEC 270000:2016, Ziff. 2.12, 2.40 und 2.9.

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DSGVO Art. 32 Rz. 50 Sicherheit der Verarbeitung 50

Als weiteres Schutzziel postuliert Buchst. b die Belastbarkeit von Systemen und Diensten. Diese auch als Resilienz bekannte Eigenschaft von technischen Systemen beschreibt ihre Fähigkeit, bei Störungen und Teilausfällen nicht vollständig zu versagen, sondern wesentliche Systemfunktionen und -dienste aufrechtzuerhalten. Die abzuwehrenden Störungen müssen dabei nicht aus der technischen Sphäre stammen (z.B. bei vernetzten, abhängigen Systemen), sondern können auch durch den Menschen bedingt sein. Insofern sind technische und organisatorische Resilienz und Fehlertoleranz/-management wichtige Bausteine für die Informationssicherheit in den „sozio-technischen“ Systemen einer Unternehmens-IT.68

51

Die Forderung nach Belastbarkeit greift über das datenschutzrechtliche Kernanliegen – Persönlichkeitsschutz (s. Art. 1 Abs. 1) – hinaus und berührt betriebsökonomische Fragen der Effizienz und des Risikomanagements. So dürften etwa kurze Antwortzeiten, die teilweise hierunter gefasst werden,69 für den Datenschutz kaum von Bedeutung sein. Ebenso ist fraglich, ob Art. 32 Abs. 1 Buchst. b für jede automatisierte Datenverarbeitung einen umfassenden IT-Notfall-Plan mit Anschluss an das übergreifende Betriebskontinuitätsmanagement (Business Continuity Management) verlangt. Unabhängig davon ergibt sich diese Anforderung für Unternehmen allerdings aus gesellschaftsrechtlichen Organisationspflichten und ist damit ohnehin Teil der IT-Compliance.70

52

Das IT-Sicherheitsrecht hat Belastbarkeit bisher insb. bei kritischen Systemen gefordert, deren durchgängiger Betrieb gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat (im Rahmen von § 8a Abs. 2 BSIG)71. Hingegen kannte das BDSG (a.F.) die Anforderung der Belastbarkeit als solche nicht. Insofern müssen Sicherheitskonzepte und Dokumentationen, die sich streng an den Vorgaben des BDSG orientieren, für die DSGVO um Maßnahmen zur Herstellung von Fehlertoleranz und Resilienz ggf. ergänzt werden. Es gibt allerdings eine nicht unerhebliche Überschneidung zu den Maßnahmen der Verfügbarkeitskontrolle (z.B. Verwendung redundanter Komponenten und Systeme).

53

Das Erreichen der in Buchst. b genannten Schutzziele ist „auf Dauer“ sicherzustellen. Gemeint ist damit kein unbestimmter Zeitraum, sondern vielmehr die kontinuierliche Gewährleistung der genannten Eigenschaften für die gesamte Dauer der Verarbeitung. Die übrigen Sprachfassungen sind insofern präziser (englisch: „ongoing“, französisch: „constantes“). cc) Wiederherstellung der Verfügbarkeit bei Zwischenfällen (Art. 32 Abs. 1 Buchst. c)

54

Buchst. c betrifft die Vorsorge für physische oder technische Zwischenfälle und fordert, dass personenbezogene Daten „rasch“ wieder zugänglich und verfügbar sind. Auf Systemebene gehört hierzu die Analyse der wesentlichen Ausfallszenarien und die Aufstellung entsprechender Reparatur- und Wiederanlaufpläne mit angemessenen Wiederherstellungszeiten. Üblicherweise wird hierzu festgelegt, innerhalb welchen Zeitraums nach einem Ereignis ein Prozess vollständig wiederhergestellt sein muss (Recovery Time Objective).72 Für den stets zu bedenkenden Fall des Datenverlustes ist festzulegen, wie viel Zeit zwischen Datensicherungen liegen darf, das heißt, wie viele Daten zwischen der letzten Sicherung und dem Ausfall höchstens verloren gehen (Recovery Time Objective).73

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Irritierend unklar ist der Rechtsbegriff „rasch“. Nach wörtlichem Verständnis werden damit ohne Rücksicht auf die Umstände der Verarbeitung kurze Wiederherstellungszeiten verlangt. Die anderen Sprachfassungen zeigen jedoch, dass nicht mehr oder weniger zu gewährleisten ist als angemessene Wiederherstellungszeiten (englisch: „in a timely manner“, französisch: „dans des délais appropriés“).74

68 Vgl. BSI, Pressemitteilung vom 21.4.2016, Sieben Thesen für eine sichere Informationsgesellschaft, These 5. 69 So bspw. Gierschmann/Schlender/Stenzel/Veil/Jergl, Art. 32 DSGVO Rz. 32, der zugleich in der Belastbarkeit nur „ein Teilaspekt der Verfügbarkeit“ erkennen will. 70 von Holleben/Menz, CR 2010, 63, 67. 71 S. BSI, Orientierungshilfe zu Inhalten und Anforderung an branchenspezifische Sicherheitsstandards (B3S) gem. § 8a (2) BSIG, Version 0.9.2001, Stand 5.10.2016, Ziff. 5.4. 72 Vgl. Korte/Romeike, MaRisk VA erfolgreich umsetzen, S. 218. 73 Vgl. Korte/Romeike, MaRisk VA erfolgreich umsetzen, S. 218. 74 Ebenso Ehmann/Selmayr/Hladjk, Art. 32 DSGVO Rz. 9; ähnlich wohl Sydow/Mantz, Art. 32 DSGVO Rz. 19, der zudem auf die sprachlichen Widersprüche innerhalb der ErwGr. hinweist; Gola/Piltz, Art. 32 DSGVO Rz. 33; a.A. Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 28, „so schnell wie möglich“; ebenso Schaffland/Wilt-

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 60 Art. 32 DSGVO

dd) Regelmäßige Überprüfung, Bewertung und Evaluierung der Maßnahmen (Art. 32 Abs. 1 Buchst. d) Die Wirksamkeit der technischen und organisatorischen Maßnahmen muss regelmäßig überprüft, bewertet und evaluiert werden. Die Pflicht zur Gewährleistung eines angemessenen Sicherheitsniveaus erschöpft sich also nicht im Entwurf und der Implementierung eines Sicherheitskonzepts. Die DSGVO verlangt vielmehr eine regelmäßige, sach- und fachgerechte Untersuchung und Bewertung der Sicherheitsmaßnahmen. Diese ist als wiederkehrende Routine in das Sicherheitskonzept aufzunehmen und jeweils zu dokumentieren (vgl. Art. 5 Abs. 1 Buchst. f und Abs. 2).

56

Die im Gesetz verwendeten Begriffe „Überprüfung, Bewertung und Evaluierung“ überschneiden sich in ihrer Bedeutung stark,75 die letzten beiden sind quasi Synonyme. Somit ist aus dem Wortlaut nicht unmittelbar abzuleiten, welche Vorgehensweise dem Gesetzgeber für die vorzunehmende Kontrolle vorschwebt. Sinnvoll erscheint allerdings ein dreischrittiges Vorgehen mit einer Bestandsaufnahme der Maßnahmen (einschließlich eines Soll-/Istabgleichs unter Zugrundelegung des Sicherheitskonzepts), der Durchführung von Wirksamkeitstests sowie einer aktualisierten Bewertung der Angemessenheit der Maßnahmen in Bezug auf die bestehenden Risiken.76

57

Da Gegenstand der von Buchst. d verlangten Kontrolle ausdrücklich die (tatsächliche) Wirksamkeit 58 der Maßnahmen ist, wird eine ausschließlich „auf dem Papier“ durchgeführte Kontrolle in den wenigsten Fällen genügen. Zwar kann z.B. die Bestandsaufnahme mit Hilfe von Fragebögen erfolgen,77 sie sollte aber auf einer fachlichen Sichtung der Maßnahmen „im Einsatz“ basieren. Bei den anschließenden Wirksamkeitstests können je nach den Umständen praktische Tests wie Vulnerability Scans,78 Penetration Tests79 oder die Simulation von Angriffen oder Störereignissen80 angemessen sein. Aus der nach der Bestandsaufnahme und den Wirksamkeitstests durchgeführten Bewertung der getroffenen Maßnahmen sind die notwendigen Anpassungen des Sicherheitskonzepts an den Stand der Technik oder an geänderte fachliche Anforderungen abzuleiten. Zum Nachweis der regelmäßigen Wirksamkeitskontrolle nach Buchst. d ist eine sorgfältige Dokumentation zu empfehlen.81 Diese sollte auch für Außenstehende nachvollziehbar sein.82 Die Funktion der Wirksamkeitskontrolle kann ganz oder teilweise auf Dritte ausgelagert werden, insofern sind interne und externe Prüfberichte gleichermaßen taugliche Belege eines angemessenen Prüfkonzepts.

59

Schließlich muss die Wirksamkeitskontrolle regelmäßig erfolgen. Eine bestimmte Frequenz ist nicht vorgegeben; die DSGVO belässt dem Verantwortlichen bzw. Auftragsverarbeiter einen Spielraum, um je nach Risiko und Bedeutung der verarbeiteten Daten einen angemessenen Turnus auszuwählen.83 Insofern spricht auch nichts gegen einen differenzierenden Ansatz, bei dem das Sicherheitskonzept für unterschiedliche Organisationsbereiche oder Maßnahmengruppen in jeweils dafür passenden Zeitabständen kontrolliert wird.

60

75 76 77 78 79 80 81 82 83

fang/Schaffland/Holthaus, Art. 32 DSGVO Rz. 72; Bergmann/Möhrle/Herb, Art. 32 DSGVO Rz. 62, „unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern“. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 44. Ähnlich Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 30. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 44. Vgl. Djeffal, MMR 2015, 716, 720 zu Vulnerability-Scannern für Webserver. Zu dynamischen Sicherheitstests Auer-Reinsdorff/Conrad/Schmidt, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 1 Rz. 343. Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 30. Sydow/Mantz, Art. 32 DSGVO Rz. 21; Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hansen, Art. 32 DSGVO Rz. 56; Auer-Reinsdorff/Conrad, § 33 Rz. 209. Einschränkend Gola/Piltz, Art. 32 DSGVO Rz. 36 f. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 45; im Anschluss an Martini, Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 32 DSGVO Rz. 80; ähnlich Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 30 („risikoorientiert“); Sydow/ Mantz, Art. 32 DSGVO Rz. 21 („hängt von […] der Bedeutung der verarbeiteten Daten und den ermittelten Risiken ab […] Abstände von wenigen Monaten bis zu ein bis zwei Jahren“); Taeger/Gabel/Schultze-Menning, Art. 32 DSGVO Rz. 22 („einzelfallabhängig“); Plath/Grages, Art. 32 DSGVO Rz. 7 („muss mit der initialen Risikobewertung in Einklang stehen“).

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DSGVO Art. 32 Rz. 61 Sicherheit der Verarbeitung 2. Verhaltensregeln und Zertifizierungsverfahren (Art. 32 Abs. 3) 61

Die Angemessenheit des Sicherheitskonzepts muss nachgewiesen werden, und zwar sowohl von Verantwortlichen (vgl. Art. 5 Abs. 1 Buchst. f und Abs. 2) als auch von Auftragsverarbeitern (Art. 28 Abs. 3 Buchst. h).

62

Die DSGVO setzt im Wesentlichen auf zwei Instrumente, um diese Beweisführung zu erleichtern. So kann ein Unternehmen seine Maßnahmen gemäß den von einer Aufsichtsbehörde nach Art. 40 genehmigten Verhaltensregeln eines Unternehmensverbands einrichten. Die Einhaltung wird dann durch eine externe Stelle nach Art. 41 überwacht.

63

Ferner ist, soweit auf Grundlage von Art. 42 entsprechende Zertifizierungsverfahren eingeführt sind, der Erwerb von Datenschutzsiegeln und -prüfzeichen möglich, die von Aufsichtsbehörden und akkreditierten Zertifizierungsstellen verliehen werden (s. auch Art. 24 Rz. 11, Art. 28 Rz. 126 f.). Eine Zertifizierung mindert allerdings nicht die Verantwortlichkeit der zertifizierten Stelle (Art. 42 Abs. 4).

64

Beide Instrumente sind allerdings kein Vollnachweis für die Konformität mit Art. 32, sondern ein – praktisch aber wohl wesentlicher – Faktor. 3. Maßnahmen betreffend Personen mit Zugang zu Daten (Art. 32 Abs. 4)

65

Zu den obligatorischen organisatorischen Maßnahmen gehören umfassende Weisungen an die mit der Datenverarbeitung betrauten Mitarbeiter. Es bietet sich an, allgemeingültige Weisungen in Form einer Datenschutz- und/oder IT-Richtlinie zu erteilen und darin auch über die wesentlichen gesetzlichen Anforderungen zu informieren. Im erforderlichen Umfang ist die Einhaltung der Weisungen zu kontrollieren; Verstöße sind zu verfolgen. Weitere Maßnahmen wären eine sorgfältige Auswahl des an der Datenverarbeitung beteiligten Personals nach Zuverlässigkeitsgesichtspunkten. Schließlich gehört eine regelmäßige Schulung der Mitarbeiter zu Datenschutz und -sicherheit, etwa durch den Datenschutzbeauftragten, zur Organisationspflicht des Unternehmens.

66

Da Abs. 4 keine konkreten Maßnahmen benennt,84 verlangt er auch nicht zwingend eine Verpflichtung auf das Datengeheimnis i.S.d. § 5 BDSG a.F. Eine entsprechende Belehrung bezüglich der – gesetzlich und arbeitsrechtlich ohnehin bestehenden – Vertraulichkeitspflicht ist aber eine anerkannte organisatorische Sicherheitsmaßnahme85 und damit einer der möglichen „Schritte“ nach Abs. 4.86 Daher sollten auch schriftliche Anstellungsverträge weiterhin entsprechende Hinweise enthalten.87

67

Die Erfüllung der Organisationspflicht nach Abs. 4 senkt das Risiko unrechtmäßiger Verarbeitung und reduziert so die Haftungsrisiken des Verantwortlichen bzw. Auftragsverarbeiters. Zu bezweifeln ist allerdings, dass sich der Verantwortliche bzw. Auftragsverarbeiter bei Datenschutzverstößen in Form von Exzessen von Mitarbeitern durch den Nachweis ordnungsgemäßer Weisungen und organisatorischer Maßnahmen nach Art. 82 Abs. 3 exkulpieren kann.88 Denn das Verschulden der Mitarbeiter wird dem Verantwortlichen bzw. Auftragsverarbeiter nach herrschender Auffassung zugerechnet.89 Darüber hinaus können Verstöße gegen Abs. 4 nach Art. 83 Abs. 4 Buchst. a mit einer Geldbuße geahndet werden.

84 Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 38; Taeger/Gabel/Schultze-Melling, Art. 32 DSGVO Rz. 25. 85 S. etwa BSI, Sicherheitsempfehlungen für Cloud Computing Anbieter, S. 65. 86 Gola/Piltz, Art. 32 DSGVO Rz. 49; a.A. wohl Sydow/Mantz, Art. 32 DSGVO Rz. 24, der die Verpflichtung auf das Datengeheimnis als vorgeschrieben ansieht; in diese Richtung auch Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann/Hansen, Art. 32 DSGVO Rz. 68. 87 So auch Schaffland/Wiltfang/Schaffland/Holthaus, Art. 32 DSGVO Rz. 95. 88 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 72. 89 Vgl. Taeger/Gabel/Moos/Schefzig, Art. 82 DSGVO Rz. 78; Kühling/Buchner/Bergt, Art. 82 DSGVO m.w.N. auch mit Verweis auf die fehlende Exkulpationsmöglichkeit, wenn ein Auftragsverarbeiter eine Weisung missachtet; BeckOK DatenSR/Quaas, Art. 82 DSGVO Rz. 20; zu dem Problem der Haftung des Verantwortlichen für den weisungsmissachtenden Auftragsverarbeiter und im Ergebnis ebenso die Haftung bejahend: Simitis/Hornung/ Spiecker gen. Döhmann/Boehm, Art. 82 DSGVO Rz. 24; zweifelnd: Plath/Becker, Art. 82 DSGVO Rz. 5b.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 71 Art. 32 DSGVO

4. Sanktionen Anders als unter dem BDSG a.F. ist die Nichteinhaltung der nach Art. 32 vorgeschriebenen technischorganisatorischen Maßnahmen eine selbständig normierte Ordnungswidrigkeit. Denn regelmäßig wird darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der „Integrität und Vertraulichkeit“ der Verarbeitung liegen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. f DSVGO). Dieser zählt nach Art. 83 Abs. 5 Buchst. a zu den materiellen Verstößen, die mit einem Bußgeld von bis zu 20.000.000 Euro oder bis zu 4 % des gesamten weltweiten Konzernumsatzes90 des vorangegangenen Geschäftsjahres bewehrt sind. Damit stellt die DSGVO klar, dass das Unterlassen gebotener Sicherheitsmaßnahmen auf die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung selbst durchschlägt.91

68

Zudem kann die Aufsichtsbehörde die Gewährleistung der Datensicherheit im Wege der Anordnung nach Art. 58 Abs. 2 durchsetzen. Ferner kann das gesetzwidrige Unterlassen der gebotenen Sicherheitsmaßnahmen im Falle eines Schadenseintritts deliktische Ansprüche der Betroffenen begründen (Art. 82 Abs. 1).92

69

III. Abdingbarkeit Unter DSRL/BDSG war umstritten, ob die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz personenbezogener Daten durch Vereinbarung mit den Betroffenen abdingbar sind.93 Richtig ist, dass das Datensicherheitsniveau nach Art. 32 objektiv zu bestimmen ist. Hieraus wird zum Teil gefolgert, dass unter der DSGVO keine Vereinbarung über ein abgesenktes Schutzniveau oder über den Verzicht auf einzelne Maßnahmen wie die E-Mail-Verschlüsselung mehr möglich sei.94 Allerdings ist wie unter § 9 BDSG a.F. auch bei Art. 32 zu beachten, dass die Vorschrift sowohl eine objektivrechtliche Dimension (Gemeinwohlschutz), als auch eine subjektivrechtliche Dimension hat (Schutz des subjektiven Rechts auf informationelle Selbstbestimmung einschließlich der damit verbundenen Dispositionsbefugnis). Aufgrund der objektivrechtlichen Komponente kann der technisch-organisatorische Datenschutz damit jedenfalls nicht gänzlich abbedungen werden.95 Andererseits sollte die subjektivrechtliche Komponente im Rahmen der Erforderlichkeit berücksichtigt werden, so dass einzelne Maßnahmen bei einem erklärten Verzicht des Betroffenen ggf. als nicht erforderlich bewertet werden können (z.B. bei Verzicht auf die Verschlüsselung von E-Mails)96.

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IV. Einzelfälle und -fragen – Praktische Umsetzung 1. Konkretisierung der Anforderungen des Art. 32 Die in Art. 32 formulierten Anforderungen haben eine hohes Abstraktionsniveau. Insb. gibt Art. 32 allgemeine Schutzziele vor, die für die praktische Handhabung auf Kontrollziele und weiter auf Maßnahmen heruntergebrochen werden. Insofern fügt sich Art. 32 nahtlos in die gesetzlichen Generalnor90 S. zur Auslegung des Begriffes Unternehmen im Rahmen des Art. 83 DSGVO den ErwGr. 150, Abs. 3 mit Verweis auf Art. 101 f. AEUV und den dazu in der Rspr. des EuGH herausgebildeten kartellrechtlichen Unternehmensbegriff (der grundsätzlich den gesamten Konzern erfasst). Dazu Kehr, CB 2016, 420, 422; Kritisierend Cornelius, NZWiSt 2016, 421 ff., der auf die sprachlichen Unterschiede der ErwGr. aufmerksam macht und im Ergebnis ein kartellrechtliches Verständnis ablehnt; ähnlich Faust/Spittka/Wybitul, ZD 2016, 120, 121 und 124. 91 Vgl. zu dieser unter dem BDSG a.F. umstrittenen Frage Plath/Plath, 1. Aufl. 2013, § 9 BDSG Rz. 19 (für Berücksichtigung der Datensicherheitsmaßnahmen bei offenen Rechtfertigungstatbeständen) und Wolff/Brink/ Karg, § 9 BDSG Rz. 119. 92 Vgl. zum BDSG a.F. Roßnagel/Schnabel, NJW 2008, 3534, 3535. 93 Dafür wohl VG Berlin v. 24.5.2011 – 1 K 133.10, CR 2012, 191 = ITRB 2012, 58, dagegen Wolff/Brink/Karg, § 9 BDSG Rz. 65. 94 Franck, RDV 2016, 111, 112. 95 Noch weitergehend gegen jede Abdingbarkeit Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 40. 96 Vgl. zu DSRL und BDSG a.F. VG Berlin v. 24.5.2011 – 1 K 133.10, CR 2012, 191 = ITRB 2012, 58, wobei im dort entschiedenen Fall die Freiwilligkeit der Einwilligung bezweifelt werden kann, da es sich um Bewerberdaten handelte.

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71

DSGVO Art. 32 Rz. 71 Sicherheit der Verarbeitung men des deutschen IT-Sicherheitsrechts ein, die mit im Einzelnen unterschiedlichen Formulierungen ein „angemessenes Sicherheitsniveau“ oder ähnliches fordern (Aufzählung). Für die praktische Umsetzung von Art. 32 in ein Sicherheitskonzept bieten sich Unternehmen insb. drei Ansätze. 72

Zunächst liegt es nahe, die in der DSGVO vorgesehen Instrumente der Verhaltensregeln und Zertifizierungen zu nutzen (s. Abs. 3 und dazu Rz. 86, Art. 24 Rz. 11 und Art. 28 Rz. 126 f.). Diese müssen allerdings erst noch entwickelt und genehmigt werden, so dass diese Möglichkeit vorerst ausscheidet.

73

Als zweites besteht die Möglichkeit, sich an anerkannten Standards zu orientieren und z.B. ein Sicherheitskonzept auf Basis von IT-Grundschutz oder COBIT zu implementieren (s. Rz. 48). Der damit verbundene Aufwand wird sich insb. für hinreichend große Unternehmen lohnen und für solche, die in größere Konzern-Infrastrukturen eingebunden oder aber als Auftragsverarbeiter tätig sind. Kleinere Unternehmen können die IT-Grundschutz-Kataloge zumindest als Ausgangspunkt für eine strukturierte Herangehensweise an die IT-Sicherheit heranziehen und sich bei der Umsetzung auf die für sie relevanten Risiken und Maßnahmen beschränken.

74

Schließlich kommt in Betracht, bestehende Sicherheitskonzepte, die unabhängig von Standards auf Basis der Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG a.F. entwickelt worden sind, an die Vorgaben der DSGVO anzupassen. Dieses Vorgehen kann mehrere Vorteile bieten. So geht die Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG a.F. durch die Formulierung von acht Kontrollzielen im Detaillierungsgrad deutlich über Art. 32 hinaus und schafft damit eine verlässliche Struktur, überlässt aber doch den Unternehmen die Auswahl der Maßnahmen im Einzelnen und schafft damit die notwendige Flexibilität in der Umsetzung. Darüber haben die zuständigen deutschen Aufsichtsbehörden mit dem Sicherheitskonzept des BDSG langjährige Erfahrung, die auch in Zukunft die behördliche Sichtweise auf die Datensicherheit und das Vorgehen bei diesbezüglichen Prüfungen prägen wird. Da auch das neue BDSG das Sicherheitskonzept des BDSG a.F. aufgreift und weiterentwickelt, wird sich an dieser Tradition voraussichtlich wenig ändern. 2. Abdeckung wesentlicher Anforderungen der DSGVO durch Implementierung der Kontrollziele nach BDSG a.F.

75

Die Kontrollziele aus der Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG a.F. decken auch unter der DSGVO die Anforderungen an die Datensicherheit grundsätzlich ab. Insofern leben diese Kontrollziele in Art. 32 fort, auch wenn dessen Vorgaben weniger konkret und umfangreich sind.97 Zudem ist die in der Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG a.F. vorgegebene Herangehensweise an die Datensicherheit in der Praxis von Unternehmen und Aufsichtsbehörden bekannt und bewährt. Ferner bleiben die Kontrollziele im neuen BDSG zumindest als Vorgabe für öffentliche Stellen des Bundes erhalten,98 was als Bestätigung des Kontrollziel-Ansatzes durch den deutschen Gesetzgeber verstanden werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es auch unter der DSGVO für Unternehmen ein mögliches und sinnvolles Vorgehen, ihr Datensicherheitskonzept nach den bewährten Kontrollzielen des BSDG auszurichten.99 Daher werden im Folgenden gängige Maßnahmen zur Implementierung dieser Kontrollziele beschrieben. Im Anschluss wird erörtert, wie die durch Art. 32 eingeführten zusätzlichen Anforderungen der DSGVO umgesetzt werden können (s. Rz. 78 ff.).

76

Die in der Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG a.F. genannten Kontrollziele sind in der Praxis nicht immer trennscharf gegeneinander abzugrenzen. Jedenfalls dienen konkrete Sicherheitsmaßnahmen häufig mehr als einem Kontrollziel. Dies bestätigt auch Satz 3 der Anlage, wonach die Verschlüsselung personenbezogener Daten der Zugangs-, Zugriffs- und Weitergabekontrolle dient. Zur Vermeidung von Wiederholungen werden solche Maßnahmen in der folgenden Übersicht jeweils einem Kontrollziel zugeordnet.

77

Wie von Art. 32 Abs. 1 Buchst. b verlangt, richten sich die Kontrollziele des BDSG a.F. auf die Sicherung von Datenverarbeitungsanlagen, mit denen personenbezogene Daten verarbeitet werden. Vor der Aufstellung eines Konzeptes von Maßnahmen ist daher im Rahmen der Risiko- und Schutzbedarfsanalyse (s. Rz. 22 ff.) auch zu bestimmen und zu dokumentieren, welche IT-Systeme im Anwendungsbereich des Konzeptes liegen. 97 Gola/Piltz, Art. 32 DSGVO Rz. 4; BeckOK DatenSR/Paulus, Art. 32 DSGVO Rz. 6. 98 Vgl. Kühling/Buchner/Jandt, Art. 32 DSGVO Rz. 41. 99 Vgl. Wybitul/Wybitul/Ströbel/Sigel, DSGVO, Teil 1 Rz. 531.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 79 Art. 32 DSGVO

a) Zutrittskontrolle Die Zutrittskontrolle richtet sich auf die Verhinderung des physischen Zutritts zu Datenverarbeitungsanlagen. Beispiele sind:

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aa) Technische Maßnahmen – Perimetersicherung: Zäune, Flutlicht, Videoüberwachung (analog, IP-basiert oder mit Smartcams), Bewegungsmelder – Außenhautsicherung: Alarmanlage (z.B. mit Glasbruchsensoren, Lichtschranken, IR-Bewegungsmeldern oder Smartcams) – Innenraumsicherung: Absicherung von Gebäudeschächten, Einteilung in Sicherheitszonen/Sperrbereiche – Schließsysteme: manuelles Schließsystem, Sicherheitsschlösser, Automatisches Zugangskontrollsystem (Codesperren, Chipkarten, RDIF/Bluetooth/NFC-Transponder, biometrische Erfassung z.B. von Fingerabdruck/Handgeometrie/Iris/Gesicht) bb) Besondere technische Maßnahmen für Rechenzentren – Fensterlose Räume; Schutzgräben – Closed-Shop-Betrieb – Vereinzelungsanlage cc) Organisatorische Maßnahmen – – – – – –

Schlüsselregelung; Schlüsselbuch offen getragene ID-Karten Personenkontrolle beim Empfang Besucherregelung (Protokollierung; Besucherausweise; Begleitung) sorgfältige Auswahl von Dienstleistern (Reinigung, Wartung etc.) Wachschutz

b) Zugangskontrolle Die Zugangskontrolle soll verhindern, dass IT-Systeme von Unbefugten genutzt werden können. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – zentrale Steuerung der Berechtigungen für IT-Ressourcen (z.B. per Verzeichnisdienst und Identitätsmanagement) – Benutzeranmeldung an Clients (mit Passwort; bei höherem Schutzbedarf mittels Mehr-FaktorAuthentifizierung durch Besitz/Wissen/Biometrie) – Single-Sign-On (gesteuert über Identitätsmanagementsoftware, z.B. auf Basis des Kerberos-Protokolls; bei richtiger Umsetzung überwiegt der Sicherheitsgewinn, da weniger Anmeldevorgänge, komplexere Passwörter, einfachere Benutzerkontenpflege) – starke Authentisierung (Zwei-Faktor-Authentisierung) für Administratoren – automatischer Sperrbildschirm/Passwortabfrage nach definiertem Zeitraum der Inaktivität – physische Sicherung stationärer IT-Systeme (Gehäuseverriegelungen, Anketten über KensingtonLocks) – Verschlüsselung von Massenspeichern (in mobilen Endgeräten, Desktops und Servern)

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DSGVO Art. 32 Rz. 79 Sicherheit der Verarbeitung – Kontrolle und Sicherung von mobilen Endgeräten (Verschlüsselung, Mobile Device Management, Container-Lösungen, Remote-Wipe im Verlustfall) – Härten der IT-Systeme (Entfernen nicht genutzter Applikationen und Services, Sperren ungenutzter Ports, Deaktivieren des Bootens von externen Medien, keine Administrator-Konten für normale Nutzer) – Sperren physischer Schnittstellen (USB, Firewire etc.) – Sicherung der Endgeräte gegen Ausspähen (Host-basierte Intrusion-Detection-Systeme, Anti-Viren-Software, Malwareschutz, Spamfilter und Softwarefirewalls) – geeignete Netzsegmentierung (VLAN, Layer-3-Switche) – Sicherung der Netze gegen Angriffe (Einrichten einer DMZ, Hardwarefirewalls, Netzwerk-basierte Intrusion-Detection-Systeme) – Sicherung von Webservern und anderen extern zugänglichen Servern gegen Angriffe (Firewall mit Deep Packet Inspection, Reverse Proxy, Application Layer Gateway) – regelmäßiges Einspielen sicherheitsrelevanter Patches, Updates und Service Packs bb) Organisatorische Maßnahmen – zentrale Auswahl und Beschaffung von Hard- und Software (zwecks Kompatibilität, Gewährleistung von Mindeststandards) – IT-Richtlinie (z.B. zur Installation von Fremdsoftware, zum Umgang mit Mails mit unbekanntem Absender), – Passwortrichtlinie (zu Komplexität, Änderung und Geheimhaltung) – Richtlinie zum Umgang mit mobilen Endgeräten (zentrale Einrichtung, Ausgabe und Kontrolle; verschlossene Aufbewahrung bei Nichtbenutzung; keine Weitergabe an Dritte/Angehörige etc.) – Patch- und Änderungsmanagement für Software; Sicherstellung der Patchverträglichkeit auf Testsystemen vor dem Produktivbetrieb – Sensibilisierung der Mitarbeiter durch Schulungen zur IT-Sicherheit – Warnung der Mitarbeiter vor akuten Bedrohungen (z.B. Phishing-Mails) – Penetrationstests c) Zugriffskontrolle 80

Im Rahmen der Zugriffskontrolle ist zu gewährleisten, dass IT-Nutzer ausschließlich auf die ihrer Zugriffsberechtigung unterliegenden personenbezogenen Daten zugreifen können, und dass diese Daten bei und nach der Verarbeitung nicht unbefugt gelesen, kopiert, verändert oder entfernt werden können. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – Protokollierung von Zugriffen auf Anwendungen, insb. bei der Eingabe, Änderung und Löschung von Daten – Verschlüsselung von Datenträgern – bei pseudonymisierten Daten: getrennte Aufbewahrung des Zuordnungsschlüssels – sichere Aufbewahrung von Datenträgern – protokollierte Vernichtung obsoleter Datenträger (DIN 66399) – Vernichtung von Papierdokumenten und -akten (Aktenvernichter, Dienstleister) bb) Organisatorische Maßnahmen – Berechtigungskonzept für alle Benutzer und IT-Ressourcen (auf Basis von Rollen oder Benutzergruppen) 140

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 82 Art. 32 DSGVO

– Rechteverwaltung durch eine minimale Gruppe von Administratoren – Vier-Augen-Prinzip für kritische Administrationstätigkeiten – regelmäßige Überprüfung der vergebenen Rollen und Rechte (Soll/Ist-Vergleich) d) Weitergabekontrolle Im Rahmen der Weitergabekontrolle ist zu gewährleisten, dass personenbezogene Daten bei der elektronischen Übertragung oder während ihres Transports oder ihrer Speicherung auf Datenträger nicht unbefugt gelesen, kopiert, verändert oder entfernt werden können, und dass überprüft und festgestellt werden kann, an welche Stellen eine Übermittlung personenbezogener Daten durch Einrichtungen zur Datenübertragung vorgesehen ist. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind:

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aa) Technische Maßnahmen – Remote-Zugriff auf das Unternehmensnetzwerk über VPN-Tunnel – dedizierte Verbindungen zwischen Standorten (z.B. MPLS mit Layer-2-VPN) – E-Mail-Verschlüsselung; ersatzweise Nutzung spezieller Dienste zur vertraulichen Übermittlung von Dateien – Verschlüsselung von VoIP-Telefonie – SSL/TLS-Verschlüsselung von Webseiten – Verschlüsselung von mobilen Datenträgern – bei Übermittlung von Daten mit hohem Schutzbedarf über öffentliche Netze: Sicherung gegen Verkehrsflussanalyse (Traffic Flow Confidentiality) – bei physischem Transport: sichere Behälter – sichere Löschung von Datenträgern vor Wiederverwendung bb) Organisatorische Maßnahmen – Dokumentation regelmäßiger Abruf- und Übermittlungsvorgänge – Dokumentation der Empfänger von Daten und der Zeitspannen der geplanten Überlassung bzw. vereinbarter Löschfristen – bei physischem Transport: sorgfältige Auswahl von Transportpersonal und -fahrzeugen – Richtlinie zur Aufbewahrung, Löschung und Sperrung personenbezogener Daten e) Eingabekontrolle Im Rahmen der Eingabekontrolle ist zu gewährleisten, dass nachträglich überprüft und festgestellt werden kann, ob und von wem personenbezogene Daten in Datenverarbeitungssysteme eingegeben, verändert oder entfernt worden sind. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – Protokollierung der Eingabe, Änderung und Löschung von Daten – personenscharfe Nutzerkonten bb) Organisatorische Maßnahmen – Dokumentation der Verarbeitungsprozesse einschließlich der eingesetzten Software und der damit jeweils verarbeiteten Daten (Verarbeitungsübersicht)

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DSGVO Art. 32 Rz. 83 Sicherheit der Verarbeitung f) Auftragskontrolle 83

Im Rahmen der Auftragskontrolle ist zu gewährleisten, dass personenbezogene Daten, die im Auftrag verarbeitet werden, nur entsprechend den Weisungen des Auftraggebers verarbeitet werden können. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – ggf. automatisierte Meldungen zum Status der Verarbeitung bb) Organisatorische Maßnahmen – sorgfältige Auswahl des Auftragnehmers – Prüfung des Sicherheitskonzeptes des Auftragnehmers – laufende Kontrolle der Umsetzung des Sicherheitskonzeptes (z.B. durch Vor-Ort-Kontrolle oder Vorlage aussagekräftiger Zertifikate) – Vereinbarung gem. § 11 Abs. 2 BDSG (einschließlich Verpflichtung auf interne Kontrolle gem. § 11 Abs. 4 BDSG, Sicherstellung der Vernichtung von Daten nach Beendigung des Auftrags) – Dokumentation von individuellen Weisungen – Vereinbarung von Vertragsstrafen bei Verstößen g) Verfügbarkeitskontrolle

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Im Rahmen der Verfügbarkeitskontrolle ist zu gewährleisten, dass personenbezogene Daten gegen zufällige Zerstörung oder Verlust geschützt sind. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – – – – – –

unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV) Überspannungsschutz Feuer- und Rauchmeldeanlagen mit direkter Aufschaltung zur Feuerwehr sichere Aufbewahrung von Datensicherungen an anderem Standort Dateisysteme mit Integritätsprüfung und Fehlerkorrektur (z.B. ZFS, Btrfs, ReFS) Monitoring relevanter Datenquellen (Systemstatus, fehlgeschlagene Authentisierungsversuche)

bb) Besondere technische Maßnahmen für Serverräume/Rechenzentren – – – – – – – – –

Notstromaggregate Klimaanlage mit redundanten Komponenten (Pumpen, Kühlkreislauf, Wärmetauscher) Überwachung der Klimaanlage (z.B. Fühler im Kühlmittelstrom) Überwachung von Temperatur und Feuchtigkeit bauliche Abschirmung gegen Wassereinbruch baulicher Brandschutz Brandfrüherkennung Brandvermeidung durch Sauerstoffreduzierung geeignete Löschtechnik (z.B. Handlöschgeräte; Löschsystem mit Wasser, Löschgas oder Inertgas; Stufenkonzept von Rack-, Mehrbereichs- bis zur Raumlöschung) – redundante Systemkomponenten (z.B. RAID, Hot Spare, doppelte Netzteile, Verkabelung) – redundante Systeme in unterschiedlichen Brandabschnitten – redundante Netzanbindung

142

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 87 Art. 32 DSGVO

cc) Organisatorische Maßnahmen – Backup- & Recoverykonzept – Notfallmanagement (mit entsprechender Dokumentation, z.B. Notfallvorsorgekonzept, -plan und -handbuch) – Testen der Datenwiederherstellung und Wiederanlaufpläne – Auswahl von Dienstleistern mit zertifiziertem Notfallmanagement (z.B. BS 25999, BSI-Standard 100-4) h) Trennungsgebot Aufgrund des Trennungsgebots ist zu gewährleisten, dass zu unterschiedlichen Zwecken erhobene Daten getrennt verarbeitet werden können. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind:

85

aa) Technische Maßnahmen – physische Trennung von Datenbeständen, die unterschiedlichen Zwecken dienen (Verarbeitung auf verschiedenen physischen Systemen, Speicherung auf verschiedenen Datenträgern) – logische Trennung (z.B. Verarbeitung auf verschiedenen virtuellen Systemen, Nutzung mandantenfähiger Software) – Trennung von Produktiv- und Testsystemen – Trennung von Netzwerksegmenten (z.B. Ausgliederung von Funktionsgruppen wie SIP-Telefonen oder IP-Kameras in VLANs oder physisch getrennten Netzen) – bei virtualisierten Umgebungen: Einsatz zertifizierter Hypervisoren100 bb) Organisatorische Maßnahmen – Rechtevergabe nach Need-To-Know-Prinzip (Least Privilege Model) – Tagging, d.h. Kennzeichnen von Datensätzen mit Zweckattributen (z.B. Datenfelder für Herkunft, allgemeine Zweckbeschreibung und – bei Website-Nutzungsprofilen – ein ggf. bestehendes Zusammenführungsverbot nach § 15 Abs. 3 TMG) – Richtlinie für Softwaretests (Reviews, Automatisierte Tests, Nutzung von Echtdaten nur bei Erforderlichkeit, Sicherheitsvorgaben für Testumgebungen) 3. Anpassungsbedarf von Sicherheitskonzepten nach BDSG an die DSGVO Zusätzlich zur Einhaltung der Kontrollziele nach dem BDSG a.F. sind nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. b insb. in den folgenden Bereichen Maßnahmen zu treffen und zu dokumentieren.

86

a) Belastbarkeit der Systeme und Dienste Technische Systeme und Dienste müssen fehlertolerant sein und bei Störungen und Teilausfällen we- 87 sentliche Systemfunktionen und -dienste aufrechterhalten sein (s. Rz. 50 ff.). Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – – – –

Server-Cluster für Datenbanken, Webservices und sonstige Dienste Load-Balancing Redundanz von Systemen und Komponenten Vorbereitung auf netzbasierte Angriffe (DDoS-Mitigation)

100 BSI, Sicherheitsempfehlungen für Cloud Computing Anbieter, S. 31.

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DSGVO Art. 32 Rz. 87 Sicherheit der Verarbeitung bb) Organisatorische Maßnahmen – Monitoring der Systemverfügbarkeit – Vereinbarung angemessener Service Level, Reaktions- und Wiederherstellungszeiten mit Dienstleistern – Überwachung von Service-Leveln b) Wiederherstellung der Verfügbarkeit von Daten nach Störfällen in angemessener Zeit 88

Personenbezogene Daten müssen nach physischen oder technischen Zwischenfällen „rasch“ – d.h. in angemessener Zeit – wieder zugänglich und verfügbar sein (s. Rz. 54 f.). Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – Backup-Verfahren – Spiegelung produktiver Systeme (mit Hot Standby) bb) Organisatorische Maßnahmen – – – –

Festlegung angemessener Recovery Point Objektives (s. Rz. 54) 24/7-erreichbares, handlungsfähiges Team für Sicherheitsvorfälle Verpflichtung von Dienstleistern auf sofortige Benachrichtigung bei Vorfällen Planung für Exit/Remigration/Second Level Outsourcing (z.B. Einsatz portabler virtueller Maschinen und standardisierter/dokumentierter APIs)

c) Verfahren zur regelmäßigen Überprüfung und Bewertung der Maßnahmen 89

Die Wirksamkeit der technischen und organisatorischen Maßnahmen muss regelmäßig überprüft, bewertet und evaluiert werden. Beispiele für entsprechende Maßnahmen sind: aa) Technische Maßnahmen – Einsatz von Vulnerability-Scannern – Penetrationstests – Simulation von Angriffen, Störereignissen oder Datenverlust bb) Organisatorische Maßnahmen – regelmäßige interne Audits – regelmäßige externe Audits – regelmäßige Brandschutz- und Notfallübungen 4. Outsourcing

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Angemessene technisch-organisatorische Maßnahmen sind erst recht zu gewährleisten, wenn die verantwortliche Stelle im Rahmen des Outsourcings personenbezogene Daten auf den IT-Systemen eines Dienstleisters verarbeiten lässt und damit die unmittelbare Kontrolle über die Verarbeitung aus der Hand gibt. Sicherzustellen – nämlich vertraglich und im Wege der Auftragskontrolle – ist die Einhaltung des vollständigen Programms des Art. 32 wie vorstehend ausgeführt (s. Rz. 13 ff.). Ein besonderes Augenmerk sollte neben dem obligatorischen Zutritts- und Zugangsschutz und der Weitergabekontrolle auf der Eingabe- und Trennungskontrolle liegen. Das vom Dienstleister vorzulegende Sicherheitskonzept sollte umfassend zumindest auf Plausibilität geprüft werden, ohne sich allein auf einschlägige Zertifizierungen zu verlassen (dazu Rz. 19). 144

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 96 Art. 32 DSGVO

Allerdings darf nicht übersehen werden, dass das Outsourcing bei richtiger Ausführung durchaus auch einen Sicherheitsgewinn darstellen kann. Denn gerade große Anbieter mit professionellen Rechenzentren warten häufig mit IT-Sicherheitskonzepten auf, die in normalen Unternehmen betriebswirtschaftlich nur schwer abzubilden wären.

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5. Cloud-Computing Der durch Outsourcing grundsätzlich erreichbare Sicherheitsgewinn wird allerdings durch die besonderen Gefahren des Cloud-Computing wieder infrage gestellt. Da in diesem Fall die Diensterbringung auf Basis virtualisierter und verteilter Infrastrukturen erfolgt, ergibt sich durch die damit zwangsläufig verbundene Intransparenz eine zusätzliche Herausforderung für IT-Sicherheit und Datenschutz.101 Um angesichts dieser Intransparenz überhaupt eine sorgfältige Auswahl des Anbieters unter dem Gesichtspunkt der IT-Sicherheit zu ermöglichen, sind verlässliche Cloud-Zertifizierungen von überragender Bedeutung (zum gegenwärtig Stand der Cloud-Zertifizierungen s. Rz. 122 ff.). Insofern ist zu begrüßen, dass die DSGVO in allen Bereichen in hohem Maße auf ein staatlich beaufsichtigtes Zertifizierungssystem setzt.

92

Technisch betrachtet fehlt es beim Cloud Computing – verglichen mit internen IT-Services – auf der 93 Netzwerkebene an dem Übergangspunkt vom internen zum externen Netz als Ansatzpunkt für ein Firewallsystem. Die korrespondierende Stelle liegt vielmehr, ausgehend vom Einsatz von Web-Services, an der Grenze des Service-Containers, z.B. der angemieteten Webserver-Instanz.102 Die Absicherung dieses Containers ist daher besonders wichtig. Unabhängig von der Art des erbrachten Cloud-Dienstes – Platform-as-a-Service (PaaS), Infrastruc- 94 ture-as-a-Service (IaaS) oder Software-as-a-Service (SaaS) – hat der Anbieter meist über die Systemebene zu Wartungszwecken Administrator-Berechtigungen, die die Möglichkeit des Zugriffs auf die verarbeiteten Daten auf der Anwendungsebene eröffnen. Schwierig wird der Einsatz von Cloud Computing daher, wenn die Rechtsgrundlage der Datenverarbeitung eine solche Zugriffsmöglichkeit des Anbieters auf Daten im Klartext nicht zulässt und der Zugriff daher technisch ausgeschlossen werden muss. Ein vollständiger Ausschluss des Zugriffs des Anbieters durch Verschlüsselung ist regelmäßig nur dann 95 sicher zu gewährleisten, wenn in der Cloud selbst keine Verarbeitung, sondern nur eine Speicherung stattfindet. In diesem Fall können die Daten anwenderseitig verschlüsselt werden, sofern das Schlüsselmanagement vollständig in der Hand des Anwenders liegt. Die Mehrzahl der Cloud-Dienste ist allerdings nicht nur mit der bloßen Speicherung, sondern auch mit einer Verarbeitung in der Cloud verbunden. Die Verarbeitung von Daten in verschlüsselter Form hat Grenzen, die in der Theorie nur ansatzweise erforscht sind (Stichwort: homomorphe Verschlüsselung) und in der Praxis bisher nur für enge Anwendungsszenarien zu einsatzfähigen Lösungen geführt haben.103 6. Datensicherheit beim Einsatz mobiler Endgeräte Der Einsatz mobiler Endgeräte erfordert ebenfalls erhöhte Sicherheitsmaßnahmen. Für Daten der höchsten Schutzstufe sind sie nach Ansicht der Aufsichtsbehörden grundsätzlich ungeeignet.104 Spezielle Empfehlungen zu technischen-organisatorischen Maßnahmen gibt es u.a. von den Aufsichtsbehörden105 und von Branchenverbänden.106 In jedem Fall ist zu einer Vollverschlüsselung zu raten bzw. zur Speicherung personenbezogener Daten in technisch abgeschotteten, verschlüsselten Containern, ergänzt durch eine zentrale Geräteverwaltung und Richtlinien zur Nutzung der mobilen Geräte.

101 102 103 104

Vgl. Datenschutzkonferenz und Düsseldorfer Kreis, Orientierungshilfe Cloud Computing, V2.0, S. 27. Heidrich/Wegener, MMR 2010, 803, 804. Vgl. Heidrich/Wegener, MMR 2010, 802, 806 f. Vgl. LfD Niedersachsen, Orientierungshilfe „Datenschutzgerechter Einsatz von Notebooks und mobilen Endgeräten“, S. 3. 105 LfD Niedersachsen, Orientierungshilfe „Datenschutzgerechter Einsatz von Notebooks und mobilen Endgeräten“. 106 BITKOM, Bring Your Own Device (2013), S. 6 ff.

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DSGVO Art. 32 Rz. 97 Sicherheit der Verarbeitung 97

Eigene Geräte der Mitarbeiter im Unternehmen zuzulassen (Bring Your Own Device, BYOD) erschwert die Kontrolle der Mobilgeräte sowohl technisch als auch rechtlich zusätzlich und birgt die Gefahr der Vermischung von Unternehmens- und Privatinhalten. Eine besondere Herausforderung ist demnach die Weitergabe- und Trennungskontrolle. Je nach geplanter technischer Lösung (Webdienst, Container, virtueller Desktop) besteht bei BYOD – wie auch bei Telearbeit – die Gefahr, dass Daten aus der Unternehmenssoftware in die private Umgebung kopiert werden. Dies sollte soweit wie möglich technisch unterbunden, im Übrigen organisatorisch verbindlich untersagt werden. Eine Möglichkeit zur Fernlöschung und -sperrung der Unternehmensdaten ist anzustreben.107 Schließlich erscheint die zentrale Verwaltung der vorhandenen mobilen Geräte (Mobile Device Management) unentbehrlich. Auch wenn hierzu mittlerweile Software zur Verfügung steht, die zugleich mit verschiedenen mobilen Plattformen verwendet werden kann, ist weiter zu bedenken, dass mit jeder Erhöhung der Heterogenität der Infrastruktur das Risiko von Sicherheitslücken steigt – dies legt eine Einschränkung auf von der Unternehmens-IT geprüfte und spezifizierte Betriebssysteme oder gar Gerätemodelle nahe. 7. Softwaretests

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Die oben angesprochene Problematik, ob die sich aus Art. 32 ergebenden Pflichten die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtfertigen können (s. Rz. 7), wird praktisch virulent bei der Frage der Zulässigkeit von Softwaretests mit Echtdaten.

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Grundsätzlich dienen Softwaretests der Fehlerbeseitigung und damit der Erfüllung der Pflicht aus Art. 32 Abs. 1 Buchst. b, eine belastbare und damit gegen Störungen gesicherte Datenverarbeitung zu gewährleisten. Im Ausgangspunkt war schon unter dem BDSG a.F. unstreitig, dass, wer Software vor dem Einsatz nicht sorgfältig testet, in Bezug auf die technisch-organisatorischen Sicherungspflichten (grob) fahrlässig handelt.108

100

Echtdaten können dabei allerdings nur dann genutzt werden, wenn dies nicht nur wünschenswert, sondern technisch erforderlich ist. Soweit anonymisierte oder synthetische Daten genutzt werden können, ist dies vorrangig. Insoweit sollte auch der Einsatz der am Markt erhältlichen Tools geprüft werden, mit denen die Echtdaten unter weitgehendem Erhalt der natürlichen Besonderheiten per Anonymisierung in fiktive Datenbestände überführt werden können. Ergibt die technische Prüfung, dass ein Test mit Echtdaten nicht verzichtbar ist, so sprechen gute Gründe dafür, dass dieser durch Art. 32 in Verbindung mit der Rechtsgrundlage der (Primär-)Verarbeitung gedeckt ist. Dies gilt allerdings nur für Integrations- und Abnahmetests im Rahmen der Softwareeinführung, während die Nutzung von Echtdaten für Funktionstests im Rahmen der Software-Entwicklung grundsätzlich mit einer Zweckänderung verbunden ist, die gesondert gerechtfertigt werden muss.

101

Unter dem BDSG a.F. war umstritten, ob die vorgenannte Rechtfertigung auch für Tests mit sensiblen Daten, insb. Gesundheitsdaten, eingreifen kann. Nach einer Ansicht waren solche Tests vollständig ausgeschlossen, da sie in § 28 Abs. 6-9 BDSG a.F. nicht vorgesehen seien.109 Danach wäre für Integrations- und Abnahmetests mit sensiblen Daten stets die Einwilligung der Betroffenen einzuholen. Entsprechend könnte unter der DSGVO argumentiert werden, dass Art. 9 keine Erlaubnis für Softwaretests enthält. Nach hier vertretener Ansicht können hingegen auch insofern technisch unerlässliche Integrations- und Abnahmetests auf die jeweilige Rechtsgrundlage (z.B. Art. 9 Abs. 2 Buchst. h) i.V.m. Art. 32 Abs. 1 gestützt werden. Auch einzelne Äußerungen der Aufsichtsbehörden zum BDSG a.F. deuten darauf hin, dass Tests mit Gesundheitsdaten nicht per se ausgeschlossen sind.110 Mit Blick auf die Beteiligung externer Dienstleister sind allerdings die Beschränkungen des § 203 StGB zu beachten; insofern bewegt sich die Beauftragung von IT-Dienstleistern bei Patientendaten in einer rechtlichen Grauzone und sollte zur Vermeidung von Strafbarkeitsrisiken von einer Einwilligung gedeckt sein und Testsysteme sollten nach Möglichkeit unter Aufsicht im eigenen Haus betrieben werden.

107 BITKOM, Bring Your Own Device (2013), S. 7. 108 ULD Schleswig-Holstein, 19. TB Ziff. 6.3.; vgl. Arbeitskreis Technik der Datenschutzkonferenz, Orientierungshilfe „Datenschutz und Datensicherheit in Projekten“, 2. November 2009, Ziff. 2.2. 109 Lensdorf/Züllich, CR 2015, 2, 5. 110 Vgl. ULD Schleswig-Holstein, 33. TB Ziff. 6.4, wo ausdrücklich auch Gesundheits- und Sozialdaten behandelt werden.

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Rz. 106 Art. 32 DSGVO

In jedem Fall sind bei allen Softwaretests mit Echtdaten die Grundsätze der Datenminimierung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) und der Erforderlichkeit zu beachten. Danach kann nur ein planvolles und ordentlich dokumentiertes Testverfahren zulässig sein. Die Aufsichtsbehörden haben hierzu umfangreiche Anforderungen definiert.111

102

V. Verweise/Kontext – Verhältnis zwischen Datenschutz- und Informationssicherheitsrecht Die Anforderungen des Art. 32 laufen teils mit Organisations- und IT-Sicherheitsanforderungen aus anderen Gesetzen parallel. Soweit bekannt, ergänzen sich die Gesetze aber insoweit in der Praxis harmonisch, ohne dass es zu Pflichtenkollisionen kommt.

103

1. IT-Sicherheitsanforderungen in anderen Gesetzen Art. 32 ist die wichtigste Vorschrift zur IT-Sicherheit mit (fast) allgemeiner Geltung. Ähnlich allgemeingültige und weitreichende Vorgaben finden sich sonst nur in den GOBD, die sich an alle in Deutschland Steuerpflichtigen richten. Je nach Organisationsform und Tätigkeitsfeld unterliegen Unternehmen ferner spezialgesetzlichen Anforderungen zum Risikomanagement oder zur Betriebs- und IT-Sicherheit.

104

a) GOBD Die GOBD (Grundsätze zur ordnungsgemäßen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff)112 gestalten die Anwendung von § 146 Abgabenordnung aus. Sie sehen vor, dass Steuerpflichtige im Rahmen der ordnungsgemäßen Buchführung ein Internes Kontrollsystem (IKS) unterhalten, welches teils ähnliche Kontrollen beinhaltet, wie sie im Bereich der Datensicherheit bewährt und empfehlenswert sind.113 Letztlich umfasst ein IKS zudem ein vollwertiges Informationssicherheitsmanagement-System (ISMS).114 So verstanden, wird bei ordnungsgemäßer Umsetzung en passant auch ein erheblicher Teil der Pflichten aus Art. 32 erfüllt. Allerdings richten sich die GOBD in erster Linie auf die elektronische Buchführung, während Art. 32 die Verarbeitung personenbezogener Daten in allen Bereichen des Unternehmens betrifft und damit ein deutlich umfassenderes Informationsmanagement verlangt.

105

b) Risikomanagement und Compliance Doch findet sich auch eine Reihe von Spezialgesetzen, die Organisationen direkt oder indirekt zu technisch-organisatorischen Schutzmaßnahmen verpflichten. Entsprechende Anforderungen ergeben sich etwa aus gesetzlichen Erfordernissen zur Einrichtung von Risikomanagementsystemen,115 die wiederum Gegenstand gesetzlich vorgesehener externer Prüfungen seien können.116 Hintergrund ist die allgemeine Pflicht der Geschäftsleitung zum Risikomanagement, welche aus ihrer Leitungsverantwortung und der dafür erforderlichen Sorgfalt folgt.117 Insoweit ergeben sich Überschneidungen zur allgemeinen Compliance-Pflicht der Unternehmensleitung,118 welche aus der Legalitätspflicht abge-

111 S. zu den Anforderungen an die Dokumentation (nach dem BDSG a.F.) ULD Schleswig-Holstein, 31. TB, Ziff. 6.1. 112 S. Bundesministerium für Finanzen, Rundschreiben v. 14.11.2014 – IV A 4 - S 0316/13/10003. 113 S. Bundesministerium für Finanzen, Rundschreiben v. 14.11.2014 – IV A 4 - S 0316/13/10003, Rz. 100 und vgl. dazu die Ausführungen zu den aus dem BDSG bekannten Kontrollzielen, Rz. 76 ff. 114 Kersten/Reuter/Schröder, IT-Sicherheitsmanagement nach ISO 27001 und Grundschutz, S. 2. 115 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 33 Rz. 41; von Holleben/Menz, CR 2010, 63, 65. 116 Vgl. Baumbach/Hopt/Merkt, § 289 HGB Rz. 4 m.w.N.; Link/Steßl, CB 2016, 238 ff. 117 Schmidt, Compliance in Kapitalgesellschaften, S. 21. 118 Zur Abgrenzung Schmidt, Compliance in Kapitalgesellschaften, S. 21 f.

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DSGVO Art. 32 Rz. 106 Sicherheit der Verarbeitung leitet ist und auch die Sicherstellung der Rechtskonformität der IT umfasst.119 Gesetzliche Grundlagen hierfür bilden u.a. – §§ 91 Abs. 2, 93 Abs. 1, 107 Abs. 3 AktG (Risikoüberwachung,120 Compliance-Pflicht); – § 289 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 5 HGB (Risikomanagement); – § 25a Kreditwesengesetz und § 26 VAG (Risikomanagement); – § 80 Abs. 13 WpHG (Compliance-Funktion). c) Betriebs- und IT-Sicherheit 107

Daneben gibt es bereichsspezifische Pflichten zur Anlagen- und Betriebssicherheit, die IT-Sicherheitsvorkehrungen beinhalten, z.B. in – §§ 7 ff. und 44b AtG (Betriebssicherheit, Meldesystem für IT-Vorfälle); – § 11 Abs. 1b EnWG (IT-Sicherheit von Energieanlagen) – §§ 109, 109a TKG (IT-Sicherheit von TK-Diensten) – §§ 3 f. und 7 ff. BSIG (dazu Rz. 52 u. 109)

108

Schließlich ergeben sich einzelne konkrete Pflichten aus dem Bereich der IT-Sicherheit u.a. aus – § 13 Abs. 4 und Abs. 7 TMG (technisch-organisatorische Vorkehrungen bei der Bereitstellung von Telemedien); – Art. 2 Abs. 4 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/347 zu Art. 18 Abs. 9 Marktmissbrauchsverordnung (Sicherheit der elektronischen Insiderliste).

109

Hervorzuheben sind dabei die Änderungen durch das IT-Sicherheitsgesetz, welches die Sicherheit kritischer Infrastrukturen aus den Sektoren Informationstechnik und Telekommunikation, Finanzen, Transport, Verkehr, Energie, Wasser, Ernährung sowie Gesundheit regelt. Betreiber von Infrastrukturen aus diesen Sektoren, die aufgrund ihrer Größe und Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung als kritisch eingestuft sind – Einzelheiten hierzu regelt die BSI-KritisV – wird dadurch die Einhaltung eines angemessenen IT-Sicherheitsniveaus auferlegt (s. § 8a Abs. 1 Satz 1 BSIG). Als Leitlinien sollen branchenspezifische Sicherheitsstandards (B3S) entwickelt werden (s. § 8a Abs. 2 Satz 1 BSIG). Zudem unterliegen sie Meldepflichten im Fall von Störungen, die eine national und EU-weit koordinierte Cyberabwehr ermöglichen. 2. Standards

110

Art. 32 verlangt geeignete Maßnahmen, die ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten, und eröffnet damit ein Auswahlermessen der datenverarbeitenden Stelle. Ob die Maßnahmen angemessen sind, richtet sich nach den bestehenden Sicherheitsrisiken und nach dem – nur im Einzelfall zu beurteilenden – Verhältnis von Aufwand und Nutzen. Zum anderen spielt aber auch der Stand der Technik eine entscheidende Rolle (Art. 32 Abs. 1 Satz 1, ErwGr. 83 Satz 2).121 Insofern sind gängige IT-Sicherheitsstandards wesentliche Orientierungspunkte für die nach Art. 32 einzuhaltenden Maßnahmen.122

111

Standards der IT-Sicherheit und daran anknüpfende Zertifizierungen schaffen nicht nur ggü. den Betroffenen Vertrauen. Bei der Auftragsdatenverarbeitung sind sie eine entscheidende Voraussetzung, um die Erfüllung der gesetzlichen Prüfpflichten der verantwortlichen Stelle hinsichtlich der ordnungsgemäßen Verarbeitung durch den Auftragnehmer effizient und praktikabel zu gestalten (vgl. Art. 28 Abs. 1, ErwGr. 81). Im Idealfall können Einzelprüfungen durch eine Vielzahl von Auftraggebern durch die Vorlage verlässlicher Zertifizierungen seitens des Auftragnehmers ersetzt werden. Dies setzt jedoch 119 So für Aktiengesellschaften Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 33 Rz. 46. 120 Schon aus § 91 Abs. 2 AktG ergibt sich nach weiter Auslegung die Pflicht zur Einrichtung eines allgemeinen Risikoüberwachungssystems, vgl. Heidel/Oltmanns, Aktien- und Kapitalmarktrecht, § 91 AktG Rz. 8. 121 Dazu mit Verweis auf die Definition in EN 45020 Müthlein, RDV 2016, 74, 80. 122 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 56 ff.; ausführlich zur Auslegung des Stands der Technik Bartels/ Backer, DuD 2018, 214, 215 ff.; abstrakt zur Begrifflichkeit unabhängig von der DSGVO, sondern im Rahmen der IT Weidenhammer/Gundlach, DuD 2018, 106.

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Rz. 116 Art. 32 DSGVO

voraus, dass die entsprechenden Standards über die erforderliche Aussagekraft für die Einhaltung von Art. 32 verfügen, was sorgfältig zu prüfen ist. a) ISO/IEC 27001 und ISO/IEC 27002 Die bekannteste internationale Norm im Bereich der IT-Sicherheit ist die ISO/IEC 27001:2013. Sie 112 enthält Vorgaben für ein „Informationssicherheits-Managementsystem“ (ISMS). Ein ISMS besteht aus aufeinander abgestimmten Richtlinien, Verfahrensweisen und Ressourcen, die ein Unternehmen zu dem Zweck einsetzt, die Informationssicherheit zu kontrollieren und fortlaufend zu verbessern. Für deutsche Unternehmen besteht grundsätzlich keine unmittelbare gesetzliche Pflicht zur Beachtung von ISO/IEC 27001. Die Einführung eines ISMS nach den darin beschriebenen Vorgaben unterstreicht und dokumentiert jedoch das Bemühen, im Bereich der Datensicherheit dem Stand der Technik zu folgen. Dies ist insb. solchen Unternehmen zu empfehlen, die in größerem Umfang personenbezogene Daten verarbeiten. Vorläufer des ISO-Standards 27001 gehen bis in die 1980er Jahre zurück. Der Standard ist Teil einer 113 Normreihe (ISO/IEC 2700x), deren praktisch wichtigste Dokumente zum einen ISO/IEC 27001 (abstrakte Beschreibung eines ISMS) und zum anderen ISO/IEC 27002 (Empfehlungen für eine konkrete Implementierung) sind. ISO/IEC 27002 enthält eine (nicht verbindliche) Liste von 35 Maßnahmenzielen (control objectives) mit dem übergeordneten Zweck des Schutzes der Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit der Informationen im Unternehmen. Zum Erreichen der Maßnahmenziele werden dann auf einer konkreteren Ebene mehr als hundert Maßnahmen (controls) vorgeschlagen. Ob der Stand der Technik durch die Implementierung eines ISMS nach ISO/IEC 27001 bzw. 27002 114 im Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird, hängt von der konkreten Umsetzung ab.123 Das in ISO/ IEC 27001 beschriebene ISMS kann prinzipiell in jeder Art von Organisation eingesetzt werden, unabhängig von Größe und Sektor.124 Da das ISMS somit für sehr verschiedene Einsatzszenarien passen muss, schreibt der normative Teil nicht im Einzelnen bestimmte Sicherheitsmaßnahmen vor, sondern beschränkt sich eher auf generelle Anforderungen an die Organisationsstruktur. Da der Standard somit erhebliche Freiheiten in der Bewertung und dem Umgang mit Risiken lässt und erhebliche Abweichungen von den „Soll-Vorgaben“ des Standards ermöglicht, ist eine Zertifizierung nach ISO/ IEC 27001 für sich genommen noch kein Nachweis, dass angemessene Datensicherheitsmaßnahmen getroffen sind.125 Um die Aussagekraft einer ISO-Zertifizierung nachzuvollziehen, müssen daher sowohl der Gegenstand 115 (Scope) der Zertifizierung, als auch das konkrete ISMS – insb. die vom Unternehmen getroffene Risikobewertung – geklärt werden. Bei der Prüfung von Zertifikaten nach ISO/IEC 27001 von Auftragsverarbeitern müssen Auftraggeber daher insb. darauf achten, ob das zertifizierte ISMS die relevanten Datenverarbeitungsvorgänge umfasst („ISMS Scope“) und welche grundsätzlichen Festlegungen das zertifizierte Unternehmen im Hinblick auf das Risikomanagement getroffen hat („Statement of Applicability“). b) BSI IT-Grundschutz Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) gibt die IT-Grundschutzkataloge he- 116 raus, mit denen Standard-Sicherheitsmaßnahmen für typische Geschäftsprozesse, Anwendungen und IT-Systeme empfohlen werden. Die IT-Grundschutzkataloge sind als Konkretisierung des Standes der Technik im Bereich der Datensicherheit anerkannt und werden auch von den Aufsichtsbehörden als geeignet angesehen, um datenschutzrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden.126 Der Standard ist strukturell und inhaltlich an die Norm ISO/IEC 27001 angepasst worden, so dass eine Implementierung der in den Grundschutzkatalogen genannten Maßnahmen zugleich ein ISMS nach der ISO-Norm 123 Dies anmerkend auch Weidenhammer/Gundlach, DuD 2018, 106, 108. 124 Eine ausführliche Darstellung ihrer seit 2013 andauernden besonders umfassenden Implementierung gibt bspw. die Frauenhofer-Gesellschaft in Pordesch, DuD 2017, 667. 125 Kraska, ZD 2016, 153. 126 Vgl. Paal/Pauly/Martini, Art. 32 DSGVO Rz. 57; die mangelnde Aktualität aufgrund der Komplexität und des Umfangs kritisieren Greveler/Reinermann, CCZ 2015, 274, 276 f.

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DSGVO Art. 32 Rz. 116 Sicherheit der Verarbeitung umsetzt. Daher können Zertifizierungen nach ISO/IEC 27001 auch „auf Basis von IT-Grundschutz“ (also durch Implementierung der IT-Grundschutz-Empfehlungen des BSI) erlangt werden. Allerdings gehen die Anforderungen des BSI in ihrem Detaillierungsgrad vielfach über die ISO-Vorgaben hinaus.127 c) PCI-DSS 117

Die Kreditkartenbranche hat mit dem Payment Card Industry Data Security Standard (PCI-DSS)128 eine Norm zur IT-Sicherheit geschaffen, die über die Verpflichtungen in den Teilnahmeverträgen von allen Handelsunternehmen und Dienstleistern zu erfüllen ist, die Kreditkarten-Transaktionen verarbeiten.

118

Die Anforderungen von PCI-DSS gelten nicht für das gesamte Unternehmen, sondern für die Systemumgebung, in der Kreditkartendaten verarbeitet werden, sowie für daran angeschlossene Systemkomponenten.129 Insofern verringert eine Separierung dieser Umgebung vom übrigen Unternehmensnetzwerk den Geltungsbereich und die Zertifizierungskosten,130 aber auch die Aussagekraft über das IT-Sicherheitsniveau des Unternehmens insgesamt.

119

Inhaltlich sind die Vorgaben von PCI-DSS in zwölf „Anforderungen“ gegliedert, die jeweils durch eine Reihe von Maßnahmen konkretisiert werden. Insgesamt wird damit ein erheblicher Teil der von § 9 Satz 1 BDSG a.F. geforderten Kontrollziele abgedeckt; neben technischen werden auch organisatorische Maßnahmen gefordert (z.B. eine strenge und regelmäßig aktualisierte Datensicherheitsrichtlinie). Die Zertifizierung einer Systemumgebung nach PCI-DSS ist damit zwar nicht unbedingt hinreichend für Konformität mit Art. 32, aber doch ein starkes Indiz für dem Art. 32 entsprechende technisch-organisatorische Maßnahmen. d) SOX

120

Für an der US-Börse orientierte Gesellschaften und deren Tochterunternehmen ergeben sich aus dem 2002 erlassenen Sarbanes-Oxley-Act (SOX) Anforderungen, die eine korrekte Finanzberichterstattung sicherstellen sollen. Art. 404 SOX verlangt die Offenlegung von Informationen über ein internes Kontrollsystem, wie es in ähnlicher Weise auch von den GOBD gefordert wird (s. Rz. 105). Dies betrifft auch die Organisation der IT, soweit sie für die Finanzbuchhaltung relevant ist. Insofern steht fest, dass Konformität mit SOX ohne systematische Absicherung der IT nicht möglich ist.131 Hieraus ergeben sich aber weder besonders konkrete noch umfassende Anforderungen an die IT-Sicherheit, so dass eine Auditierung nach SOX als solche kaum Schlüsse auf angemessene Datensicherheitsmaßnahmen nach Art. 32 zulässt. e) VdS 3473

121

Die Gewährleistung von IT-Sicherheit über die bereits benannten Sicherheitsstandards, ist für kleine und mittlere Unternehmen („KMU“) aufgrund der Komplexität und des Umsetzungsumfangs oftmals kaum praktikabel beziehungsweise verhältnismäßig.132 Die VdS 3473 – Cyber-Security Richtlinie für KMU von 2015 versucht diese bestehende Lücke zu schließen.133 Durch einen geringeren Implementierungsumfang sollen Kosten und Aufwand mit dem übereinstimmen, was für die KMU möglich ist –

127 Kersten/Reuter/Schröder, IT-Sicherheitsmanagement nach ISO 27001 und Grundschutz, S. 8. 128 S. PCI Security Standards Council, PCI-DSS, Anforderungen und Sicherheitsbeurteilungen, Version 3.0, November 2013. 129 PCI-DSS 3.0, S. 10. 130 Vgl. PCI-DSS 3.0, S. 10 f. 131 Kersten/Reuter/Schröder, IT-Sicherheitsmanagement nach ISO 27001 und Grundschutz, S. 3. 132 So auch Taeger/Kipker/Harner/Müller, Tagungsband Herbstakademie 2017, S. 651, 659; Kipker/Harner/Müller, InTeR 2018, 24, 28. 133 Greveler/Reinermann, CCZ 2015, 274, 274.

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Sicherheit der Verarbeitung

Rz. 123 Art. 32 DSGVO

so umfasst die Dokumentation bspw. nur 38 Seiten und 100 Maßnahmen.134 Der Ansatz ist ebenfalls branchenneutral aufgebaut und kann nach Meinung einiger auch von Behörden und Kommunalverwaltungen als adäquater Ansatz genutzt werden.135 Die Umsetzung der VdS 3473 erfolgt in einem Drei-Schritt, der mit einem „Vds-Quick-Check“ beginnt, indem über ein kostenloses online Webtool anhand von 39 Selbstauskunftsfragen mehrere Handlungsfelder innerhalb des Unternehmens evaluiert werden. Auf der Basis des Ergebnisses kann im Anschluss eine detaillierte Implementierung von Sicherheitsmechanismen, zur Erreichung der Richtlinienanforderungen, vorgenommen werden. Durch einen unabhängigen Auditor erfolgt daraufhin ein „Quick-Audit“,136 bei dem ein Abgleich zwischen dem erforderlichen und bestehenden Sicherheitsstandard und so der Stand der Informationssicherheit zertifiziert werden kann. Die Richtlinie selbst untergliedert die Implementierung der Maßnahmen in sechs Phasen, wobei strukturiert von einem breit und allen Komponenten zukommenden Schutz, hin zu einer speziell für kritische Ressourcen erforderlichen Implementierung gearbeitet wird.137 Der besondere Vorteil der VdS-Richtlinie ergibt sich für die KMU durch zwei Punkte: Zum einen ist die Umsetzung vollständig mit den ISO/IEC und BSI Standards kompatibel, so dass sie als eine Vorstufe in Form eines Zwischenakts benutzt werden kann.138 Zum anderen wird ermöglicht, ein zertifiziertes Sicherheitsniveau zu erreichen, dass bei Bedarf noch gesteigert werden kann.139 Im Ergebnis geht der geringere Anforderungsumfang selbstverständlich zu Lasten der IT-Sicherheit,140 mit Hinblick auf die Angemessenheit und Kosteneffizienz, stellt die VdS-Richtline jedoch einen für die KMU zumindest realistischeren Ansatz zur Erreichung eines anerkannten IT-Sicherheitsstandards dar. Seit Ende 2017 ist zudem eine neue VdS Richlinie 10010 veröffentlicht worden, die bei der Umsetzung der Anforderungen der gesamten DSGVO genutzt werden kann, die VdS Richtlinie 3473 versucht zu integrieren und so konzipiert ist, dass sie bei Genehmigung zu einem Zertifizierungsstandart i.S.d. Art. 42 werden kann.141 3. Im Besonderen: Standards für Cloud Computing Cloud-Computing ist aus Sicht der Anwender in besonderem Maße intransparent und birgt spezifische Herausforderungen für IT-Sicherheit und Datenschutz.142 Für die Auswahl von Cloud-Anbietern ist der Einsatz zertifizierter Verfahren daher ein wesentliches Kriterium. Mittlerweile sind daher eine Reihe von Zertifizierungen für den Cloud-Bereich geschaffen worden.

122

So wurde die ISO/IEC 2700x-Reihe im August 2014 mit der ISO/IEC 27018 um einen eigenen Stan- 123 dard für Cloud-Lösungen erweitert, der insb. Anleitungen für datenschutzspezifische Kontrollmaßnahmen enthält. Allerdings orientiert sich ISO/IEC 27001 nicht an einem bestimmten Datenschutzrecht, sondern an dem in ISO/IEC 29100:2011 beschriebenen Standard zum Schutz personenbezogener Daten bei automatischer Verarbeitung.143 Davon ausgehend enthält ISO/IEC 27018 Empfehlungen zur Implementierung eines ISMS nach ISO/IEC 27001 und 27002, welches über die Kontrollziele der IT-Sicherheit hinaus die datenschutzspezifischen Anforderungen an Auftragsverarbeiter abbildet.144 Eine eigenständige Zertifizierung nach ISO/IEC 27018 ist wegen des Charakters des Dokuments als bloße Empfehlung nicht vorgesehen. Ersatzweise bescheinigen einige Zertifizierungsstellen, dass innerhalb

134 Im Vergleich 440 Seiten ISO/EIC 2700 und über 5000 Seiten beim BSIIT-Grundschutz, vgl. Denkhaus/Geiger, Praxishandbuch bay. E-Government-Gesetz, S. 154 ff. für eine Gegenüberstellung. 135 Greveler/Reinermann, CCZ 2015, 274, 277; Denkhaus/Geiger, Praxishandbuch bay. E-Government-Gesetz, S. 34; stark zweifelnd Stoklas, ZD-Aktuell 2016, 05146. 136 Ausführlich dazu Reinermann, ,kes.-Special IT-Sicherheit in Kommunen und Behörden 2015, S. 12. 137 Näher zu den einzelnen Phasen Greveler/Reinermann, CCZ 2015, 274, 278. 138 Taeger/Falker, Tagungsband Herbstakademie 2017, S. 29, 31 („Schnittmenge“). 139 Taeger/Falker, Tagungsband Herbstakademie 2017, S. 29, 31 („Continious Improvement“). 140 Stoklas, ZD-Aktuell 2016, 05146. 141 VdS Richtlinie zur Umsetzung der DSGVO – VdS 10010, Stand Dezember 2017. 142 Dazu Borges, DuD 2014, 165 ff.; BSI, Sicherheitsempfehlungen für Cloud Computing Anbieter, Februar 2012, S. 67 ff. 143 ISO/IEC 27018:2014(en), Section 1. 144 ISO/IEC 27018:2014(en), Section 0.

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DSGVO Art. 32 Rz. 123 Sicherheit der Verarbeitung eines ISO/IEC 27001-konformen ISMS auch die Empfehlungen nach ISO/IEC 27018 umgesetzt wurden. 124

ISO/IEC 27018 ist ausdrücklich darauf angelegt, als Grundlage für darüberhinausgehende Standards zu dienen, die die „Soll-Vorgaben“ in verbindlichere „Pflicht-Vorgaben“ überführen.145 So basiert der im Rahmen der Trusted-Cloud-Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie entwickelte Standard TCDP (Trusted Cloud-Datenschutzprofil) auf ISO/IEC 27002 und 27018, richtet sich aber anders als dieser nicht auf die Einhaltung abstrakter Datenschutzprinzipien, sondern auf die konkreten Vorgaben von §§ 9, 11 BDSG a.F.146 TCDP versteht sich zugleich als Beitrag zur Etablierung des in der DSGVO vorgesehenen europäischen Datenschutz-Zertifizierungssystems.

125

Auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat mit dem Anforderungskatalog Cloud Computing (C5)147 einen speziellen Prüfstandard geschaffen, der Anforderungen an die ITSicherheit bei Cloud-Umgebungen definiert. Dieser Katalog enthält im Gegensatz zu den IT-Grundschutz-Katalogen keine konkreten Maßnahmen, sondern legt nur die zu erfüllenden Anforderungen fest. Einen Einstieg in die Sicherheitsempfehlungen des BSI für Cloud-Anbieter gibt zudem das Eckpunktepapier von 2012.148

Art. 44 Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung Jedwede Übermittlung personenbezogener Daten, die bereits verarbeitet werden oder nach ihrer Übermittlung an ein Drittland oder eine internationale Organisation verarbeitet werden sollen, ist nur zulässig, wenn der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter die in diesem Kapitel niedergelegten Bedingungen einhalten und auch die sonstigen Bestimmungen dieser Verordnung eingehalten werden; dies gilt auch für die etwaige Weiterübermittlung personenbezogener Daten aus dem betreffenden Drittland oder der betreffenden internationalen Organisation an ein anderes Drittland oder eine andere internationale Organisation. Alle Bestimmungen dieses Kapitels sind anzuwenden, um sicherzustellen, dass das durch diese Verordnung gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen nicht untergraben wird. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . a) Zweck . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematik und Regelungsgehalt 2. Verhältnis zum nationalen Recht . .

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1 1 1 5 8

II. Norminhalt – Besondere Anforderungen an Übermittlungen in Drittländer (Art. 44) . .

9

1. Drittland als Gegenbegriff zu EU/EWR; geografische Reichweite . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich: Datentransfer an Empfänger in Drittländer . . . . . . . . . . 3. Personenbezogene Daten . . . . . . . . . . a) Anonymisierung, Pseudonymisierung . b) Verschlüsselung . . . . . . . . . . . . . . III. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 15 16 23 26

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Literatur: Bergt, Die Bestimmbarkeit als Grundproblem des Datenschutzrechts, ZD 2015, 365; Brink/Eckhardt, Wann ist ein Datum ein personenbezogenes Datum?, ZD 2015, 205; Determann/Weigl, EU-US-Datenschutzschild und Alternativen für internationale Datentransfers, EuZW 2016, 811; Forst, Verarbeitung personenbezogener Daten in der internationalen Unternehmensgruppe, Der Konzern 2012, 170; Gackenholz, Datenübermittlung ins Ausland, DuD 2000, 727; Heidrich/Wegener, Sichere Datenwolken, MMR 2010, 803; Hoeren/Sieber/Holznagel, Handbuch Multimedia-Recht, 38. Ergänzungsliefertung 2014; Hofmann/Johannes, DS-GVO: Anleitung zur autonomen Auslegung des Personenbezugs, ZD 2017, 221; Kroschwald, Verschlüsseltes Cloud Computing, ZD 2014, 75; Kühling/Klar, Unsicherheitsfaktor Datenschutzrecht – Das Beispiel des Personenbezugs und der Anonymität, NJW 2013, 3611; Lang, EuGH: Speicherung dynamischer IP-Adressen durch Webseitenbetreiber zulässig, CB 2016, 480; 145 Dazu Kraska, ZD 2016, 153. 146 Vgl. Kompetenzzentrum Trusted Cloud, TCDP 0.9 Stand November 2016, S. 4 f. 147 BSI, Anforderungskatalog Cloud Computing, Version 1.0, September 2017; überarbeitete Fassung angekündigt für Januar 2020. 148 BSI, Sicherheitsempfehlungen für Cloud Computing Anbieter, Februar 2012.

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Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung

Rz. 6 Art. 44 DSGVO

Lejeune, Datentransfer in das außereuropäische Ausland, ITRB 2005, 94; Pahlen-Brandt, Datenschutz braucht scharfe Instrumente Beitrag zur Diskussion um „personenbezogene Daten“, DuD 2008, 34; Räther/Seitz, Übermittlung personenbezogener Daten in Drittstaaten, MMR 2002, 425; Roßnagel/Scholz, Datenschutz durch Anonymität und Pseudonymität, MMR 2000, 721; Rost, Bußgeld im digitalen Zeitalter – was bringt die DS-GVO?, RDV 2017, 13; Schantz, Die Datenschutz-Grundverordnung – Beginn einer neuen Zeitrechnung im Datenschutzrecht, NJW 2016, 1841; Schwarz, Schulgesundheitspflege, Anonymisierung und Datenschutz, LKV 2005, 440; Selzer, Datenschutz bei internationalen Cloud Computing Services, DuD 2014, 470.

I. Allgemeines 1. Einführung a) Zweck Art. 44 bis 50 regeln – über die allgemeinen Verarbeitungsvorschriften hinaus – besondere Anforderungen an die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer. Schon durch die harmonisierende Wirkung der DSRL wollte der EU-Gesetzgeber in den EU/EWR-Staaten ein vergleichbares Datenschutzniveau schaffen, welches außerhalb dieses Gebietes nicht vorausgesetzt werden könne.1 Um die Betroffenen umfassend und effektiv zu schützen, müssen daher gerade bei Transfers, bei denen Daten den Geltungsbereich der DSGVO verlassen, zusätzliche Maßnahmen getroffen werden.

1

Die Art. 44 ff. gelten sowohl für Übermittlungen durch öffentliche als auch nicht-öffentliche Stellen. Sie sind von überragender Bedeutung für IT-Verfahren mit Auslandsbezug wie das Cloud Computing sowie für die Datenverarbeitung in internationalen Konzernen. Die DSGVO geht dabei davon aus, dass durch die technische Entwicklung die Datenübermittlung an Drittländer noch weiter zunehmen wird.2

2

Der eingehende Teil des grenzüberschreitenden Datenverkehrs, d.h. die Erhebung von Daten aus Drittländern, ist nicht Gegenstand der Regelung. Sie wird wie eine Erhebung innerhalb von EU/EWR nach den allgemeinen Vorschriften behandelt (etwa nach Art. 6 und 9).

3

Kapitel V der DSGVO übernimmt weitgehend das Regime des Kapitels IV der DSRL, d.h. deren 4 Art. 25 und 26, welche in Deutschland durch die §§ 4b und 4c BDSG 2001 umgesetzt wurden.3 b) Systematik und Regelungsgehalt Art. 44 bis 50 sind keine eigene Rechtsgrundlage für die Übermittlung von personenbezogenen Daten in Drittländer. Sie normieren hierfür lediglich besondere, zusätzliche Anforderungen. Insofern ergänzen sie die allgemeinen Regeln zur Zulässigkeit von Datenübermittlungen, vgl. Art. 6 und 9.

5

Insofern wird die Rechtmäßigkeit von internationalen Übermittlungen in einer Zwei-Stufen-Prüfung ermittelt.4 Auf der ersten Stufe werden die allgemeinen Voraussetzungen an (in- und ausländische) Datenübermittlungen gem. Art. 5 und 6 (bzw. 9) geprüft. Dabei kann sich eine Rechtfertigung z.B. aus der Durchführung eines Vertrags mit dem Betroffenen oder aus einer Einwilligung ergeben. Auf der zweiten Stufe ist – bei Übermittlungen in Drittländer außerhalb von EU/EWR – zu prüfen, ob auch die besonderen Anforderungen der Art. 44 bis 50 erfüllt sind. Wie auf der ersten Stufe handelt es sich auch bei der zweiten Stufe regelungstechnisch um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt.5 Denn den Art. 44 bis 50 liegt das grundsätzliche Verbot der Übermittlung in Drittstaaten ohne angemessenes Datenschutzniveau zugrunde (Art. 44 Satz 1).

6

1 Die DSRL wurde über das EWR-Abkommen auch in das nationale Recht Islands, Norwegens und Liechtensteins transformiert; s. Beschl. des Gemeinsamen EWR-Ausschusses (JCD) Nr. 083/1999 vom 25.6.1999. 2 ErwGr. 6 und 101. 3 Vgl. §§ 4b, 4c BDSG 2001; mit denen der deutsche Gesetzgeber allerdings zum Teil unnötig von der Richtlinie abgewichen ist. S. ferner für den öffentlichen Bereich die Vorgängerregelung des § 17 BDSG 1990. 4 Plath/von dem Bussche, Art. 44 DSGVO Rz. 4; vgl. zu §§ 4b, 4c BDSG Lejeune, ITRB 2005, 94; Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 426; Gackenholz, DuD 2000, 727, 728; Forst, Der Konzern 2012, 170, 176; Selzer, DuD 2014, 470 ff. 5 Vgl. zu §§ 4b, 4c BDSG Forst, Der Konzern 2012, 170, 174 m.w.N.

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DSGVO Art. 44 Rz. 7 Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung 7

Nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 unterliegt auch die Weiterübermittlung den Bestimmungen der DSGVO, so dass auch dabei das durch Kapitel V vorgeschriebene Datenschutzniveau sicherzustellen ist. Dies gilt auch für den in Art. 44 nicht ausdrücklich genannten Fall, dass Daten innerhalb des Drittlands weitergegeben werden (s. ErwGr. 101 Abs. 3). Inwieweit die Vorschriften der DSGVO auf eine solche Weiterübermittlung anwendbar sind, ist jeweils nach Sinn und Zweck zu bestimmen. Die Anforderungen von Kapitel V werden etwa relevant, wenn ein Datenimporteur, der einem sektorspezifischen Angemessenheitsbeschluss unterfällt, empfangene Daten an ein Unternehmen oder eine Behörde weiterübermittelt, für die dieser Beschluss nicht gilt.6 2. Verhältnis zum nationalen Recht

8

Art. 44 bis 50 lassen nur wenig Raum für abweichende nationale Regelungen zum internationalen Datentransfer.7 Abweichungen sind etwa für die Datenverarbeitung zu journalistischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder literatischen Zwecken möglich (Art. 85 Abs. 2). Außerdem eröffnen Art. 49 Abs. 1 Buchst. d i.V.m. Art. 49 Abs. 4 die Möglichkeit, öffentliche Interessen zu definieren, die eine Übermittlung rechtfertigen können. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten die Übermittlung bestimmter Kategorien von Daten, z.B. sensibler Daten, in Drittstaaten ohne angemessenes Datenschutzniveau untersagen (Art. 49 Abs. 5). Im deutschen Recht finden sich bisher Spezialregelungen zum internationalen Datentransfer in § 77 SGB X für Sozialdaten sowie in § 37 StVG für die Straßenverkehrsbehörden.8

II. Norminhalt – Besondere Anforderungen an Übermittlungen in Drittländer (Art. 44) 9

Art. 44 Satz 1 unterwirft jegliche Übermittlung personenbezogener Daten an Empfänger in Drittländern den Bedingungen von Kapitel V der DSGVO. Verlassen personenbezogene Daten das Territorium von EU/EWR, so sind danach zusätzlich zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit gem. Art. 6 und Art. 9 die besonderen Anforderungen der Art. 44 ff. zu erfüllen (Zwei-Stufen-Prüfung).9 1. Drittland als Gegenbegriff zu EU/EWR; geografische Reichweite

10

Der Begriff Drittland entstammt dem Völkerrecht und bezeichnet im Ausgangspunkt alle Staaten, die nicht Vertragsparteien der EU-Verträge sind. Entsprechend operiert die DSGVO durchgängig mit dem Begriffspaar „Drittländer/Union“. Der geografische Umfang der Union ergibt sich im Einzelnen aus der Festlegung des Geltungsbereichs des EU-Vertrags in Art. 52 i.V.m. Art. 355 AEUV. Danach sind die französischen Übersee-Departements ebenso erfasst wie die portugiesischen Azoren und Madeira und die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln. Nicht erfasst sind hingegen die Färöer-Inseln sowie die meisten der mit dem Vereinigten Königreich verbundenen Gebiete wie die Kanalinseln Guernsey und Jersey und die Isle of Man.

11

Im Ergebnis nicht zu den Drittländern zählen allerdings neben den EU-Mitgliedstaaten auch Island, Liechtenstein und Norwegen, die mit der EU ein Assoziierungsabkommen (vgl. Art. 217 AEUV) geschlossen haben zur Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Teil des EWR-Abkommens ist die Verpflichtung der genannten Staaten, Verordnungen der EU in innerstaatliches Recht umzusetzen (Art. 7 Buchst. a EWR-Abkommen). Damit gilt die DSGVO einschließlich Kapitel V effektiv im gesamten EU/EWR-Gebiet, so dass unter dem Begriff „Drittland“ nur die außerhalb dieses Raumes liegenden Länder zu verstehen sind.10 6 7 8 9

Kühling/Buchner/Schröder, Art. 44 DSGVO Rz. 21. Dazu Kühling/Buchner/Schröder, Art. 44 DSGVO Rz. 25. S. ferner § 92 TKG a.F. für Telekommunikationsanbieter (aufgehoben). Vgl. Plath/von dem Bussche, Art. 44 DSGVO Rz. 4. S. auch Determann/Weigl, EuZW 2016, 811, 812 f., die ohne erkennbaren Mehrwert eine dreistufige Prüfung vornehmen. 10 Kühling/Buchner/Schröder, Art. 44 DSGVO Rz. 17.

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Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung

Rz. 19 Art. 44 DSGVO

2. Anwendungsbereich: Datentransfer an Empfänger in Drittländer Übermittlung ist gem. Art. 4 Nr. 2 ein Verarbeitungsvorgang, genauer ein Unterfall der „Offenle- 12 gung“. Als weitere Unterfälle der Offenlegung werden die „Verbreitung“ und „andere Formen der Bereitstellung“ genannt. Auch wenn die Definition dies nahelegt, handelt es sich dabei allerdings nicht um sich gegenseitig ausschließende Begriffe. Denn eine allzu formalistische Gesetzesanwendung, wonach Art. 44 ff. etwa nur bei Übermittlung, nicht aber bei „sonstiger Bereitstellung“ einschlägig wären, würde den Schutzzweck der Art. 44 ff. verfehlen. Vielmehr sind diese bei jeder Art von Offenlegung ggü. Empfängern in Drittstaaten anzuwenden. Als Argument hierfür kann auch die Definition des Empfängers nach Art. 4 Nr. 9 herangezogen werden, der eben dadurch bestimmt ist, dass ihm personenbezogene Daten „offengelegt“ werden (und nicht bloß „übermittelt“). Als Empfänger kommt jegliche datenverarbeitende Stelle in Betracht. Sprachlich verunglückt ist inso- 13 fern die Gleichsetzung des Drittlandes mit den dortigen datenverarbeitenden Stellen in Art. 44. So ist etwa in Satz 1 mit „Übermittlung an ein Drittland“ nicht (nur) die Übermittlung personenbezogener Daten an den Drittstaat als solchen – also an dessen Organe und Behörden – gemeint, sondern selbstverständlich auch die Übermittlung an dort ansässige Unternehmen oder Privatpersonen. Entsprechendes gilt für die „Weiterübermittlung … durch das betreffende Drittland … an ein anderes Drittland“ nach Satz 2. Eine Übermittlung in Drittstaaten liegt auch vor, wenn der Empfänger die Daten als Auftragsverarbeiter erhält (Art. 28 Rz. 51 ff.). Bei der Nutzung von IT-Dienstleistungen wie Hosting oder Cloud Computing, die regelmäßig als Auftragsverarbeitung erbracht werden (s. Art. 28 Rz. 18), sind daher bei Dienstleistern außerhalb von EU/EWR die besonderen Anforderungen der Art. 44 zu erfüllen (auf der zweiten Prüfungsstufe).

14

3. Personenbezogene Daten Ferner setzen Art. 44 ff. – wie die gesamte DSGVO – das Operieren mit personenbezogenen Daten voraus. Die Anforderungen an die internationale Übermittlung können daher durch eine Aufhebung bzw. Lockerung des Personenbezugs ggf. umgangen bzw. erfüllt werden.

15

a) Anonymisierung, Pseudonymisierung Anonyme Daten fallen nicht unter die DSGVO und können damit – auch in Drittstaaten – frei von 16 datenschutzrechtlichen Anforderungen übermittelt werden. Demgegenüber sind pseudonyme Daten, sofern sie durch Heranziehung zusätzlicher Informationen einer natürlichen Person zugeordnet werden könnten, als personenbezogene Daten zu behandeln (vgl. ErwGr. 26). Ihre Übermittlung in Drittstaaten richtet sich dann nach Kapitel V der DSGVO.

17

Von enormer praktischer Bedeutung ist die Frage, ob das eben Gesagte für sämtliche pseudonymen Daten gilt oder ob „faktisch anonyme“ Daten dem Anwendungsbereich der DSGVO (einschließlich Art. 44 ff.) entzogen sind. Von faktisch anonymen Daten spricht man, wenn ein Empfänger – etwa ein Auftragsverarbeiter – die Daten in der Weise pseudonymisiert erhält, dass er keine realistische Möglichkeit hat, einen Personenbezug herzustellen, d.h. insb. keine Kenntnis der Zuordnungsregel hat und die Daten auch sonst nicht mit verhältnismäßigem Aufwand re-identifizieren kann.

18

Für diese Konstellation ging vor der DSGVO die ganz herrschende Ansicht in der Literatur davon aus, dass es beim Empfänger an einer Personenbeziehbarkeit der Daten fehle und konsequent das Datenschutzrecht insgesamt unanwendbar sei.11 Voraussetzung hierfür ist, den Personenbezug relativ zu verstehen, nämlich jeweils aus der Sicht dessen, der die Daten verarbeitet. Nach dieser Ansicht können also dieselben Daten für den einen Akteur personenbezogen sein, für den anderen aber nicht (z.B. weil

19

11 So für das BDSG (und damit die EU-Datenschutzrichtlinie) Simitis/Scholz, § 3 BDSG Rz. 217a ff.; Taeger/Gabel/Zscherpe, 2. Aufl. 2013, § 3a BDSG Rz. 52; Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 11 BDSG Rz. 16a; Hoeren/ Sieber/Holznagel/Schmitz, Teil 16.2 Rz. 175; Plath/Plath/Schreiber, 1. Aufl. 2013, § 3 BDSG Rz. 64; Kühling/ Klar, NJW 2013, 3611, 3613; Schwarz, LKV 2005, 440, 442; Roßnagel/Scholz, MMR 2000, 721, 726; SH LT-Drucks. 14/2258, 29. Zu den Spielarten des relativen Personenbezugs Bergt, ZD 2015, 365, 371.

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DSGVO Art. 44 Rz. 19 Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung ihm ein bestimmtes Zusatzwissen zur Herstellung des Personenbezugs fehlt, wie etwa bei chiffrierten Daten der Schlüssel). Diese Aufassung klingt auch in Stellungnahmen der Art.-29-Datenschutzgruppe12 an und wurde in einzelnen Gerichtsentscheidungen13 übernommen. 20

Die Gegenauffassung kommt auch bei faktisch anonymen Daten zur Geltung des Datenschutzrechts, und zwar unter Anwendung der Theorie vom „absoluten Personenbezug“. Nach dieser objektiven Betrachtung sind Daten unabhängig davon, wer sie konkret verarbeitet, bereits dann personenbezogen, wenn ein beliebiger Akteur sie re-identifizieren kann.14 Als Argument für diese Ansicht kann ErwGr. 26 der DSGVO herangezogen werden. Danach sollen bei der Feststellung, ob Daten einen Personenbezug aufweisen, „alle Mittel berücksichtigt werden, die von dem Verantwortlichen oder einer anderen Person“ wahrscheinlich für eine Identifizierung genutzt werden.15

21

Zur DSRL hat der EuGH zuletzt in der Rechtssache Breyer16 eine vermittelnde Position eingenommen. Er ist dabei davon ausgegangen, dass die Einstufung eines Datums als personenbezogen nicht schon dadurch ausgeschlossen wird, dass die zur Identifizierung erforderlichen Zusatzinformationen nicht alle in den Händen einer einzigen Person liegen.17 Diese Zusatzinformationen unterliegen also zunächst einer absoluten Betrachtung unter Berücksichtigung sämtlicher Dritter. Allerdings hat der EuGH die Frage des Personenbezugs dann doch insofern relativ beurteilt, als er im konkreten Fall – dynamisch vergebene IP-Adressen in der Hand eines Webseitenbetreibers – darauf abgestellt hat, ob der der Verantwortliche die bei Dritten (nämlich dem Internetzugangsanbieter) vorhandenen Identifizierungsinformationen vernünftigerweise erlangen und einsetzen kann.18 Dies war nach deutschem Recht der Fall, da in bestimmten Situationen Auskunftsansprüche der Webseitenbetreiber gegen die Internetzugangsanbieter auf Herausgabe der Informationen über den zu einer IP-Adresse gehörenden Anschlussinhaber bestehen. Diese Rspr. ist wegen der weitgehenden gleichen Definitionen auch unter der DSGVO zu beachten.19

22

Im Ergebnis sprechen trotz des genannten Wortlautarguments auch unter Geltung der DSGVO die gewichtigeren Gründe für einen relativen Personenbezug und dafür, Daten, die für die verarbeitende Stelle faktisch anonym sind, vom Anwendungsbereich des Datenschutzrechts auszunehmen.20 In der Realität gibt es ein breites Kontinuum unterschiedlich stark personenbezogener Daten. Die scharfe Einteilung in „personenbezogen/nicht personenbezogen“ als Anwendungsvoraussetzung für das Recht muss insofern behutsam und risikoorientiert angewendet werden, um einerseits eine uferlose Geltung des Datenschutzrechts zu vermeiden und andererseits Gefahren für die informationelle Selbstbestimmung effektiv entgegenzuwirken. Dem wird nur der relative Personenbezug gerecht; der absolute Personenbezug führt hingegen zu einer deutlich überschießenden Geltung der datenschutzrechtlichen Anforderungen. Die Ziele des Datenschutzrechts, nämlich der Schutz natürlicher Personen vor der Bedrohung ihrer grundrechtlich geschützten Freiheiten durch die Verarbeitung auf sie bezogener Daten (s. ErwGr. 1 und Art. 1 Abs. 1) gebieten es gerade nicht, das Recht auch dort anzuwenden, wo durch sichere Pseudonymisierung jedes realistische Risiko einer Re-Identifizierung ausgeschlossen ist. Dieser fehlende Schutzbedarf bei wirksamer Pseudonymisierung ist in anderen Bereichen, wie dem strafrechtlichen Geheimnisschutz, unbestritten.21 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 136, S. 23. LG Berlin v. 31.1.2013 – 57 S 87/08, ZD 2013, 618, 619. Pahlen-Brandt, DuD 2008, 34, 38. Dazu Schantz, NJW 2016, 1841, 1843; zum ähnlichen ErwGr. 26 der DSRL Brink/Eckhardt, ZD 2015, 205, 208 f. EuGH v. 19.10.2016 – C-582/14, CB 2016, 480 m. Anm. Lang = CR 2016, 791 m. Anm. Nink = ITRB 2016, 267 – Breyer. EuGH v. 19.10.2016 – C-582/14, CB 2016, 480, 482 Rz. 43 = CR 2016, 791 m. Anm. Nink = ITRB 2016, 267 – Breyer. EuGH v. 19.10.2016 – C-582/14, CB 2016, 480, 482 Rz. 45 ff. = CR 2016, 791 m. Anm. Nink = ITRB 2016, 267 – Breyer. So zu Recht Lang, CB 2016, 484. Plath/Schreiber, Art. 4 DSGVO Rz. 6 ff. und 20; Gola/Gola, Art. 4 DSGVO Rz. 17 ff.; tendenziell auch Kühling/ Buchner/Klar/Kühling, Art. 4 Nr. 1 DSGVO Rz. 26; Hofmann/Johannes, ZD 2017, 221, 222 ff. So liegt bei Veröffentlichung anonymisierter oder wirksam pseudonymisierter Gesundheitsdaten kein Verstoß gegen die Schweigepflicht vor, s. LG Köln v. 8.1.1982 – 28 O 441/81, MedR 1984, 110; MünchKomm/Cierniak/ Pohlit, § 203 StGB Rz. 51; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 203 StGB Rz. 19.

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Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses

Art. 45 DSGVO

b) Verschlüsselung Der Übertragung pseudonymisierter Daten gleich steht auch der Transfer mittels starker Kryptogra- 23 phie verschlüsselter Daten. Nach der hier vertretenen Auffassung, basierend auf dem relativen Verständnis des Personenbezugs, liegt z.B. bei der Ablage von verschlüsselten Daten in einer Cloud keine Offenlegung personenbezogener Daten ggü. dem Cloud-Anbieter vor, wenn dieser nicht über die erforderlichen Schlüssel verfügt und sich diese auch nicht verschaffen kann.22 Das europäische und deutsche Datenschutzrecht gilt dann für die Einbringung der Daten in die Cloud des Anbieters nicht (wohl aber für die Zulässigkeit sämtlicher vom Verantwortlichen mit den Daten vorgenommener Verarbeitungsschritte).23 Die Absicherung gegen Zugriffe des Cloud-Anbieters auf die Klardaten muss dafür allerdings lückenlos sichergestellt sein, was eine technische Herausforderung ist. Stellt der Cloud-Anbieter etwa eine Plattform für virtualisierte Maschinen des Kunden zur Verfügung, so ist zu gewährleisten, dass ein Zugriff auf den Inhalt der Container weder im gespeicherten Zustand, noch bei der Ausführung, noch bei der Ein- und Ausgabe stattfinden kann. Unter den eben genannten Voraussetzungen können auch Daten, die einem Berufsgeheimnis unterliegen, durch Cloud-Anbieter oder sonstige Auftragsverarbeiter verarbeitet werden. Der Straftatbestand des § 203 StGB (Verletzung von Privatgeheimnissen) stellt zwar grundsätzlich ein besonderes Risiko beim Outsourcing durch die darin genannten Geheimnisträger dar. Die Tathandlung des „Offenbarens“ setzt jedoch eine Mitteilung voraus, die dem Empfänger den Schluss auf die betroffene Person ermöglicht.24 Soweit durch Verschlüsselung (oder Pseudonymisierung) der Zugriff des Empfängers und sonstiger Dritter zu jeder Zeit sicher ausgeschlossen ist, liegt daher kein Offenbaren vor.25

24

In einigen Anwendungsszenarien soll der Auftragsverarbeiter unmittelbar auf den verschlüsselten Da- 25 ten selbst Rechenoperationen ausführen. Die technischen Möglichkeiten sind insofern allerdings noch begrenzt und Gegenstand des Forschungsfeldes der sog. homomorphen Verschlüsselung.26

III. Sanktionen Die Übermittlung entgegen Art. 44 ff. ist als materieller Datenschutzverstoß nach Art. 83 Abs. 5 Buchst. c mit Bußgeld bis zu 20 Mio. Euro oder – sofern höher – 4 % des weltweiten Unternehmensumsatzes bewehrt. Bei der Bestimmung des umsatzabhängigen Bußgeldrahmens ist der Begriff des Unternehmens, anders als sonst in der DSGVO, nach ErwGr. 150 im kartellrechtlichen Sinne der Art. 101 und 102 AEUV auszulegen, umfasst also grundsätzlich den gesamten Konzern.27

Art. 45 Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses (1) Eine Übermittlung personenbezogener Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation darf vorgenommen werden, wenn die Kommission beschlossen hat, dass das betreffende Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Drittland oder die betreffende internationale Organisation ein angemessenes Schutzniveau bietet. Eine solche Datenübermittlung bedarf keiner besonderen Genehmigung. (2) Bei der Prüfung der Angemessenheit des gebotenen Schutzniveaus berücksichtigt die Kommission insbesondere das Folgende: 22 23 24 25 26 27

So zum alten Recht auch Kroschwald, ZD 2014, 75, 77. So zum alten Recht statt vieler Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 11 BDSG Rz. 16a. MünchKomm/Cierniak/Pohlit, § 203 StGB Rz. 51 m.w.N. Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, § 203 StGB Rz. 19b; Kroschwald, ZD 2014, 75, 80. Vgl. Heidrich/Wegener, MMR 2010, 803, 806 f. Vgl. Rost, RDV 2017, 13, 17.

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26

DSGVO Art. 45 Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses a) die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in dem betreffenden Land bzw. bei der betreffenden internationalen Organisation geltenden einschlägigen Rechtsvorschriften sowohl allgemeiner als auch sektoraler Art – auch in Bezug auf öffentliche Sicherheit, Verteidigung, nationale Sicherheit und Strafrecht sowie Zugang der Behörden zu personenbezogenen Daten – sowie die Anwendung dieser Rechtsvorschriften, Datenschutzvorschriften, Berufsregeln und Sicherheitsvorschriften einschließlich der Vorschriften für die Weiterübermittlung personenbezogener Daten an ein anderes Drittland bzw. eine andere internationale Organisation, die Rechtsprechung sowie wirksame und durchsetzbare Rechte der betroffenen Person und wirksame verwaltungsrechtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe für betroffene Personen, deren personenbezogene Daten übermittelt werden, b) die Existenz und die wirksame Funktionsweise einer oder mehrerer unabhängiger Aufsichtsbehörden in dem betreffenden Drittland oder denen eine internationale Organisation untersteht und die für die Einhaltung und Durchsetzung der Datenschutzvorschriften, einschließlich angemessener Durchsetzungsbefugnisse, für die Unterstützung und Beratung der betroffenen Personen bei der Ausübung ihrer Rechte und für die Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten zuständig sind, und c) die von dem betreffenden Drittland bzw. der betreffenden internationalen Organisation eingegangenen internationalen Verpflichtungen oder andere Verpflichtungen, die sich aus rechtsverbindlichen Übereinkünften oder Instrumenten sowie aus der Teilnahme des Drittlands oder der internationalen Organisation an multilateralen oder regionalen Systemen insbesondere in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten ergeben. (3) Nach der Beurteilung der Angemessenheit des Schutzniveaus kann die Kommission im Wege eines Durchführungsrechtsaktes beschließen, dass ein Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in einem Drittland oder eine internationale Organisation ein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels bieten. In dem Durchführungsrechtsakt ist ein Mechanismus für eine regelmäßige Überprüfung, die mindestens alle vier Jahre erfolgt, vorzusehen, bei der allen maßgeblichen Entwicklungen in dem Drittland oder bei der internationalen Organisation Rechnung getragen wird. Im Durchführungsrechtsakt werden der territoriale und der sektorale Anwendungsbereich sowie gegebenenfalls die in Absatz 2 Buchstabe b des vorliegenden Artikels genannte Aufsichtsbehörde bzw. genannten Aufsichtsbehörden angegeben. Der Durchführungsrechtsakt wird gemäß dem in Artikel 93 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen. (4) Die Kommission überwacht fortlaufend die Entwicklungen in Drittländern und bei internationalen Organisationen, die die Wirkungsweise der nach Absatz 3 des vorliegenden Artikels erlassenen Beschlüsse und der nach Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie 95/46/EG erlassenen Feststellungen beeinträchtigen könnten. (5) Die Kommission widerruft, ändert oder setzt die in Absatz 3 des vorliegenden Artikels genannten Beschlüsse im Wege von Durchführungsrechtsakten aus, soweit dies nötig ist und ohne rückwirkende Kraft, soweit entsprechende Informationen – insbesondere im Anschluss an die in Absatz 3 des vorliegenden Artikels genannte Überprüfung – dahingehend vorliegen, dass ein Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifischer Sektor in einem Drittland oder eine internationale Organisation kein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels mehr gewährleistet. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem Prüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 erlassen. In hinreichend begründeten Fällen äußerster Dringlichkeit erlässt die Kommission gemäß dem in Artikel 93 Absatz 3 genannten Verfahren sofort geltende Durchführungsrechtsakte. (6) Die Kommission nimmt Beratungen mit dem betreffenden Drittland bzw. der betreffenden internationalen Organisation auf, um Abhilfe für die Situation zu schaffen, die zu dem gemäß Absatz 5 erlassenen Beschluss geführt hat. (7) Übermittlungen personenbezogener Daten an das betreffende Drittland, das Gebiet oder einen oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Drittland oder an die betreffende internationale Organisation gemäß den Artikeln 46 bis 49 werden durch einen Beschluss nach Absatz 5 des vorliegenden Artikels nicht berührt.

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Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses

Rz. 2 Art. 45 DSGVO

(8) Die Kommission veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union und auf ihrer Website eine Liste aller Drittländer beziehungsweise Gebiete und spezifischen Sektoren in einem Drittland und aller internationalen Organisationen, für die sie durch Beschluss festgestellt hat, dass sie ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten bzw. nicht mehr gewährleisten. (9) Von der Kommission auf der Grundlage von Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie 95/46/EG erlassene Feststellungen bleiben so lange in Kraft, bis sie durch einen nach dem Prüfverfahren gemäß den Absätzen 3 oder 5 des vorliegenden Artikels erlassenen Beschluss der Kommission geändert, ersetzt oder aufgehoben werden. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Angemessenheitsentscheidungen in der Praxis der EU-Kommission . . . . . . . . . . .

1 1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommissionsbeschluss (Art. 45 Abs. 1) . . . 2. Prüfung des Schutzniveaus (Art. 45 Abs. 2) . a) Rechtsstaatlichkeit, Datenschutzrecht und Rechtsschutz (Art. 45 Abs. 2 Buchst. a) . . b) Aufsichtsbehörden (Art. 45 Abs. 2 Buchst. b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

6 6 8

.

9

2

. 12

3. 4. 5. 6. 7.

c) Datenschutzverpflichtungen des Drittlands oder der internationalen Organisation (Art. 45 Abs. 2 Buchst. c) . . . . . . . . . . . Form und Inhalt des Beschlusses (Art. 45 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überprüfung und Überwachung durch die Kommission (Art. 45 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4) . . Widerruf und Änderung von Beschlüssen (Art. 45 Abs. 5–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . Veröffentlichung auf der Website (Art. 45 Abs. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortgeltung von Angemessenheitsbeschlüssen aus der Zeit der DSRL (Art. 45 Abs. 9) . . . . .

13 14 16 17 20 21

Literatur: Molnár-Gábor/Kaffenberger, EU-US-Privacy-Shield – ein Schutzschild mit Löchern?, ZD 2017, 18; Moos/Schefzig, „Safe Harbor“ hat Schiffbruch erlitten, CR 2015, 625; Piltz, Datentransfers nach Safe Harbor: Analyse der Stellungnahmen und mögliche Lösungsansätze, K&R 2016, 1; Schreiber/Kohm, Rechtssicherer Datentransfer unter dem EU-US-Privacy-Shield?, ZD 2016, 255; Tinnefeld, Aktuelle Fragen des Arbeitnehmerdatenschutzes, DuD 2002, 231; Weiss, Nach dem Ende von Safe Harbour: Das EU-U.S.-Privacy Shield, RDV 2016, 135.

I. Allgemeines 1. Zweck Nach Kapitel V der DSGVO ist vor Datentransfers in Drittstaaten grundsätzlich sicherzustellen, dass der Empfangsstaat ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleistet. Andererseits verlangt die globale Verflechtung der IT-Infrastruktur und der stetig wachsende internationale Datenverkehr pragmatische Lösungen für solche Transfers. Der Aufwand zur Prüfung des Datenschutzniveaus im jeweiligen Empfängerstaat kann daher nicht einseitig auf die Datenexporteure abgewälzt werden, da er in den seltensten Fällen in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen der beabsichtigten Übermittlung steht.1 Auch die Art.-29-Datenschutzgruppe, die für die Angemessenheitsprüfung schon früh Hilfestellungen entwickelt hat, geht nicht davon aus, dass dieser Prüfungsaufwand sinnvoll für jeden Einzelfall geleistet werden kann.2 Daher sieht Art. 45 – wie bereits Art. 25 Abs. 6 DSRL – vor, dass die EU-Kommission die Angemessenheit des Datenschutzniveaus für Drittstaaten allgemein feststellen kann.

1

2. Angemessenheitsentscheidungen in der Praxis der EU-Kommission Die bisherigen Angemessenheitsentscheidungen sind überschaubar. Sie betreffen Andorra, Argentinien, Australien (beschränkt auf Verarbeitungen und Übermittlungen von Fluggastdatensätzen an die Zollbehörde), Färöer Inseln, Guernsey, Israel, die Isle of Man, Japan, Jersey, Kanada (für den durch den PIPED Act geregelten nicht-öffentlichen Bereich), Neuseeland, die Schweiz und Uruguay (zu den USA s. Rz. 3). So sehr sie den Datenverkehr mit den betroffenen Ländern erleichtern, ist doch nach den Aussagen der Kommission nicht zu erwarten, dass sich ihre Zahl in mittlerer Zukunft so signifi1 Skeptisch schon Tinnefeld, DuD 2002, 231, 233. 2 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 4, XV D/5020/97-EN, S. 2 f.

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DSGVO Art. 45 Rz. 2 Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses kant erhöhen wird, dass andere Instrumente zur Rechtfertigung internationaler Datentransfers, wie die EU-Standardvertragsklauseln, in den Hintergrund treten.3 Abgesehen von dem zuletzt abgeschlossenen Verfahren zur Anerkennung von Japan (unter Berücksichtigung der neuen Voraussetzungen des Art. 45) werden aktuell dahingehende Gespräche mit Südkorea geführt.4 3

Um den Datenverkehr mit den USA trotz des dort herrschenden geringeren Datenschutzniveaus zu erleichtern, hatte die EU-Kommission im Jahr 2000 mit dem US-Handelsministerium das sog. SafeHarbor-Abkommen geschlossen. Dieses sah die freiwillige Selbstzertifizierung und -Verpflichung von US-Unternehmen auf eine Reihe von Datenschutzprinzipien (Safe Harbor Principles) vor. Die EUKommission erließ begleitend zum Abkommen eine Angemessenheitsentscheidung für die jeweils teilnehmenden US-Unternehmen,5 so dass Daten an diese grundsätzlich wie an in der EU ansässige Unternehmen übermittelt werden konnten. Unter anderem wegen der mangelhaften Beaufsichtigung und Durchsetzung der Safe-Harbor-Principles durch die zuständige Federal Trade Commission (FTC) stand das Safe-Harbor-Abkommen schon früh in der Kritik, die sich nach der Veröffentlichung von Dokumenten durch Edward Snowden zum umfassenden Datenzugriff durch US-Geheimdienste nochmals verstärkte. Schließlich erklärte der EuGH am 15.10.2015 im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens das Safe-Harbor-Abkommen für unwirksam,6 weil die Kommission den tatsächlichen Schutz personenbezogener Daten auch vor staatlichen Zugriffen unzureichend geprüft und garantiert und keine effektiven Rechtsschutzmechanismen sichergestellt hatte.

4

Mittlerweile hat die EU-Kommission mit der US-Regierung das EU-U.S. Privacy Shield als Nachfolgeregelung zur Safe-Harbor ausgehandelt. Das neue Abkommen verfolgt eine hohe Transparenz und enthält besser durchsetzbare Betroffenenrechte, eine verschärfte Zweckbindung beim Weitertransfer und strengere Regelungen für staatliche Datenzugriffe mit Überwachung durch einen Ombudsmann.7 Zudem hat die Kommission eine neue Angemessenheitsentscheidung für unter dem EU-U.S. Privacy Shield zertifizierten Unternehmen getroffen.8 Formal ist damit nach Art. 45 ein Datentransfer an dies Unternehmen bis auf Weiteres zulässig. Dabei sollte der Datenexporteur die Zertifizierung des Datenimporteurs anhand der offiziellen Website9 prüfen und dies dokumentieren. Zu beachten ist allerdings, dass auch das EU-U.S. Privacy Shield kritisiert und seine Vereinbarkeit mit den vom EuGH im SafeHarbor-Urteil aufgestellten Grundsätzen zum Teil bezweifelt wird.10 Daher muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass auch dieser Beschluss vom EuGH verworfen werden könnte. Gerade bei einem längerfristig angelegten Datenaustausch mit US-Dienstleistern ist Verantwortlichen daher zu empfehlen, sich nicht allein auf das EU-U.S. Privacy Shield zu verlassen, sondern zur Risikoverringung zusätzlich präsumtiv robustere Instrumente wie die Standarddatenschutzklauseln (dazu Art. 46 Rz. 10) zu nutzen.

5

Die DSRL regelte in Art. 25 Abs. 4 DSRL auch die einem Angemessenheitsentschluss entgegengesetzte Möglichkeit, das Schutzniveau eines Drittlandes für unangemessen zu erklären. Hiervon hat die EUKommission – wohl aus politischen Gründen – keinen Gebrauch gemacht.11 Die DSGVO sieht „Unangemessenheitsentscheidungen“ nunmehr nur noch im Rahmen des Widerrufs von Angemessenheitsbeschlüssen vor (Art. 45 Abs. 5).

3 Vgl. Kommissionsentscheidung 2001/497/EG, ErwGr. 4. 4 https://ec.europa.eu/info/law/law-topic/data-protection/data-transfers-outside-eu/adequacy-protection-perso nal-data-non-eu-countries_de (zuletzt abgerufen am 1.12.2019). 5 Entscheidung der Kommission 2000/520/EG v. 26.7.2000, ABl. Nr. L 215 v. 25.8.2000, 7. 6 EuGH v. 6.10.2015 – C-362/14 – Schrems, CR 2015, 633 m. Anm. Härting; zur Frage der ex-tunc oder ex-nunc Wirkung der Entscheidung s. Piltz, K&R 2016, 1, der ersteres annimmt; a.A. Moos/Schefzig, CR 2015, 625, 631; Schreiber/Kohm, ZD 2016, 255, 260. 7 Weiss, RDV 2016, 135, 136 f. 8 Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 der Kommission vom 12.6.2016 gemäß der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Angemessenheit des vom EU-US-Datenschutzschild gebotenen Schutzes, Az. C(2016) 4176. 9 ,https://www.privacyshield.gov/list.. 10 S. etwa Molnár-Gábor/Kaffenberger, ZD 2017, 18, 24. 11 Vgl. schon Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 4, XV D/5020/97-EN, S. 3.

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Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses

Rz. 12 Art. 45 DSGVO

II. Norminhalt 1. Kommissionsbeschluss (Art. 45 Abs. 1) Abs. 1 ist vor dem Hintergrund der zweistufigen Zulässigkeitsprüfung für Datenübermittlungen in Drittländer zu sehen. Ein Kommissionsbeschluss über die Angemessenheit des Datenschutzniveaus im Empfängerstaat wirkt als Rechtfertigung (nur) auf der zweiten Stufe. Insofern ist Art. 45 Abs. 1 Satz 1 missverständlich, wenn er allgemein von der Zulässigkeit solcher Übermittlungen spricht. Denn dies gilt nur vorbehaltlich der Prüfung auf der ersten Stufe, ob die Übermittlung auch nach den allgemeinen Vorschriften (etwa Art. 6 und 9) erfolgen darf.

6

Diese noch unter der DSRL ergangenen Angemessenheitsbeschlüsse der EU-Kommission (s. Rz. 2; neu ist nur der Beschluss für Japan) bleiben bis auf Weiteres in Kraft (Abs. 9). Bei Exporten in diese sog. sicheren Drittländer muss daher auf der zweiten Stufe keine weitere Prüfung vorgenommen werden.

7

2. Prüfung des Schutzniveaus (Art. 45 Abs. 2) Voraussetzung einer Entscheidung nach Abs. 1 ist, dass das Rechtsschutzniveau im Drittstaat angemes- 8 sen, d.h. dem durch die DSGVO und die Charta der Grundrechte garantierten Niveau „der Sache nach gleichwertig“ ist.12 Während die DSRL keine näheren Vorgaben zur Beurteilung der Angemessenheit des Datenschutzniveaus in einem Drittland gemacht hatte, schafft Abs. 2 eine verbindliche Grundlage für die von der Kommission vorzunehmende Prüfung. Im Wesentlichen werden damit die Kriterien, die von den Datenschutz-Aufsichtsbehörden13 und der Kommission schon vor Geltung der DSGVO erarbeitet und angewendet wurden, im Gesetz verankert. Nach ErwGr. 105 soll die Kommission im Beschlussverfahren nach Art. 45 die Aufsichtsbehörden in Form des Europäischen Datenschutzausschusses zu Rate ziehen. a) Rechtsstaatlichkeit, Datenschutzrecht und Rechtsschutz (Art. 45 Abs. 2 Buchst. a) Buchst. a) gibt der Kommission ein extensives Prüfprogramm auf. Die Betrachtung muss sich auf die gesamte Rechtsordnung des Drittlandes erstrecken. Dabei ist ohne Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung grundlegender Menschenrechte ein angemessener Schutz der Privatsphäre schwerlich vorstellbar.

9

Über diese grundlegenden Garantien hinaus sind die einschlägigen Vorschriften zum Umgang mit personenbezogenen Daten zu betrachten, einschließlich von Berufsregeln (wie etwa dem anwaltlichen oder ärztlichen Standesrecht). Besonders zu beachten sind staatliche Zugriffsbefugnisse, etwa zum Schutz öffentlicher Interessen wie Verteidigung, Sicherheit und Strafrechtspflege. Die Beurteilung muss zudem die tatsächliche Anwendung der Gesetze mit einbeziehen und schließlich die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen.

10

Schließlich spielt eine wichtige Rolle, inwieweit das Drittland Weiterübermittlungen in andere Drittländer zulässt. Durch eine Angemessenheitsentscheidung wird ein Drittland faktisch Teil des durch die DSGVO geschaffenen EU/EWR-Binnenraums mit freiem Datenaustausch bei angemessenem Schutzniveau. Um die Wirksamkeit dieses Konzepts zu erhalten, dürfen Weiterübermittlungen grundsätzlich nur unter Bedingungen erfolgen, die ein angemessenes Schutzniveau auch im Drittland oder zumindest beim Empfänger sicherstellen.14

11

b) Aufsichtsbehörden (Art. 45 Abs. 2 Buchst. b) Neben der gesetzlichen Verankerung der Datenschutzgrundsätze gilt ein System „externer Über- 12 wachung“, insb. in Form unabhängiger Aufsichtsbehörden, als Voraussetzung für effektiven Daten12 Vgl. zur DSRL EuGH v. 6.10.2015 – C-362/14 – Schrems, Rz. 73 f., CR 2015, 633 m. Anm. Härting; Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 der Kommission (EU-U.S. Privacy Shield), EG 10. 13 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 4. 14 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 4, S. 7.

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DSGVO Art. 45 Rz. 12 Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses schutz.15 Ziele einer solchen Aufsicht sind eine gute Befolgungsrate der Bestimmungen sowie Unterstützung und Hilfe für betroffene Personen.16 Das jeweilige Kontrollsystem und die Aufsichtspraxis des Drittlands sind daher von der Kommission zu berücksichtigen. Das Vorhandensein einer Aufsichtsbehörde ist allerdings keine conditio sine qua non für einen Angemessenheitsbeschluss, wie sich aus Abs. 3 Satz 3 ergibt, wonach die Aufsichtsbehörde im Beschluss „gegebenenfalls“ zu nennen ist. c) Datenschutzverpflichtungen des Drittlands oder der internationalen Organisation (Art. 45 Abs. 2 Buchst. c) 13

Schließlich zählen die vom Drittland eingegangenen einschlägigen inter- oder supranationalen Verpflichtungen zur Beurteilungsgrundlage sowie die Teilnahme an entsprechenden gegenseitigen Schutzsystemen. Nach ErwGr. 105 ist hierbei insb. zu berücksichtigen, ob das Drittland der Europäischen Datenschutzkonvention beigetreten ist, welche die Mitgliedstaaten des Europarats 1981 vereinbart haben. 3. Form und Inhalt des Beschlusses (Art. 45 Abs. 3)

14

Angemessenheitsbeschlüsse der Kommission ergehen als Durchführungsrechtsakt gem. Art. 291 Abs. 2 AEUV. Das Verfahren ist durch die Verordnung 182/2011/EU geregelt, wobei wegen der allgemeinen Bedeutung solcher Beschlüsse das aufwendigere Prüfverfahren anzuwenden ist. Dabei benötigt die Kommission die Zustimmung eines Ausschusses aus Vertretern der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit und muss anderenfalls einen Berufungsausschuss anrufen; über diese Ausschüsse kontrolliert letztlich der Rat den Erlass der Beschlüsse.

15

Der Beschluss kann sich auf das gesamte Drittland beziehen, aber auch territorial oder sektoral beschränkt werden (Satz 2). Damit wird die schon vor Erlass der DSGVO gelebte Praxis bestätigt. So hatte die Kommission ihren Angemessenheitsbeschluss für Kanada17 auf Empfänger beschränkt, die unter den sog. PIPED Act fallen, und für die Vereinigten Staaten18 auf Organisationen unter dem EUU.S. Privacy Shield.19 4. Überprüfung und Überwachung durch die Kommission (Art. 45 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4)

16

Mindestens alle vier Jahre sind Angemessenheitsentscheidungen durch die Kommission zu überprüfen (Abs. 3 Satz 3). In der jüngsten Entscheidung zum EU-U.S. Privacy Shield hat die Kommission sogar eine jährliche Überprüfung vorgesehen.20 Zusätzlich ordnet Abs. 4 eine fortlaufende Überwachung relevanter Entwicklungen in den sicheren Drittländern an. 5. Widerruf und Änderung von Beschlüssen (Art. 45 Abs. 5–7)

17

Fällt das Schutzniveau eines sicheren Drittstaats unter die Schwelle des Angemessenen, so widerruft die Kommission den Angemessenheitsbeschluss. Dieser geschieht wiederum per Durchführungsrechtsakt (s. Rz. 14), bei äußerster Dringlichkeit im Eilverfahren.

18

Für ein Mindestmaß an Rechtssicherheit für Datenexporteure sorgt, dass der Widerruf keine Rückwirkung entfaltet (Satz 1). Auf einen Angemessenheitsbeschluss gestützte Datenübertragungen werden also in keinem Fall allein durch einen Widerruf nachträglich (ex tunc) rechtswidrig. Der Widerruf wirkt allerdings in die Zukunft (ex nunc). Für den Eintritt dieser Wirkung gibt es keine verbindlichen Übergangsregelungen oder -fristen, so dass ein Widerruf durch die Kommission mit sofortiger Wirkung erfolgen kann. Verantwortliche, die laufende Datenexporte auf den widerrufenen Beschluss stützen, 15 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 4, S. 7. 16 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 4, S. 7 f. 17 2002/2/EG, Art. 1. Der Personal Information Protection and Electronic Documents Act (PIPED Act oder PIPEDA) regelt den Datenschutz im nicht-öffentlichen Bereich. 18 Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 der Kommission, Art. 1 Ziff. 1. 19 Zum EU-U.S. Privacy Shield Weiss, RDV 2016, 135 ff. 20 Durchführungsbeschluss (EU) 2016/1250 der Kommission, Art. 4.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Art. 46 DSGVO

müssen daher ggf. unmittelbar reagieren. Die dadurch entstehenden Härten wurden im Falle des für unwirksam erklärten Safe-Harbor-Beschlusses durch eine umsichtige Reaktion der Aufsichtsbehörden gemildert, welche die neue Rechtslage erst nach angemessener Frist zwangsweise durchsetzten.21 Abs. 7 stellt klar, dass ein Widerruf die Rechtmäßigkeit von Datentransfers auf anderer Grundlage – z.B. nach den Standardvertragsklauseln – nicht berührt.

19

6. Veröffentlichung auf der Website (Art. 45 Abs. 8) Die aktuelle Liste der sicheren Drittstaaten, Gebiete und Sektoren kann zusätzlich zum Amtsblatt der EU auch auf der Website der EU-Kommission eingesehen werden. Dort finden sich neben dem Wortlaut der Beschlüsse auch weiterführende Informationen wie FAQs und Stellungnahmen der Aufsichtsbehörden.

20

7. Fortgeltung von Angemessenheitsbeschlüssen aus der Zeit der DSRL (Art. 45 Abs. 9) Die noch unter der Datenschutzrichtlinie ergangenen Angemessenheitsbeschlüsse bleiben nach Inkrafttreten der DSGVO bis auf Weiteres in Kraft. Sie stehen Beschlüssen nach Abs. 3 gleich. Abs. 9 enthält aber keine materielle Bewertung dieser Entscheidungen und führt nicht zu einer Heilung von ggf. bestehenden Mängeln. So muss die Kommission die alten Beschlüsse in Folge der EuGH-Rspr. zu Safe Harbor anpassen, u.a. weil sie die Rechte der Aufsichtsbehörden rechtswidrig verkürzen.22

Art. 46 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien (1) Falls kein Beschluss nach Artikel 45 Absatz 3 vorliegt, darf ein Verantwortlicher oder ein Auftragsverarbeiter personenbezogene Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation nur übermitteln, sofern der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter geeignete Garantien vorgesehen hat und sofern den betroffenen Personen durchsetzbare Rechte und wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen. (2) Die in Absatz 1 genannten geeigneten Garantien können, ohne dass hierzu eine besondere Genehmigung einer Aufsichtsbehörde erforderlich wäre, bestehen in a) einem rechtlich bindenden und durchsetzbaren Dokument zwischen den Behörden oder öffentlichen Stellen, b) verbindlichen internen Datenschutzvorschriften gemäß Artikel 47, c) Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission gemäß dem Prüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 erlassen werden, d) von einer Aufsichtsbehörde angenommenen Standarddatenschutzklauseln, die von der Kommission gemäß dem Prüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 genehmigt wurden, e) genehmigten Verhaltensregeln gemäß Artikel 40 zusammen mit rechtsverbindlichen und durchsetzbaren Verpflichtungen des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters in dem Drittland zur Anwendung der geeigneten Garantien, einschließlich in Bezug auf die Rechte der betroffenen Personen, oder f) einem genehmigten Zertifizierungsmechanismus gemäß Artikel 42 zusammen mit rechtsverbindlichen und durchsetzbaren Verpflichtungen des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters in dem Drittland zur Anwendung der geeigneten Garantien, einschließlich in Bezug auf die Rechte der betroffenen Personen.

21 S. Pressemitteilung des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten vom 6.6.2016 (Unzulässige Datenübermittlungen in die USA) zur Umsetzung des EuGH-Urteils C-362/14 vom 6.10.2015. 22 S. hierzu die Stellungnahme der Art.-29-Datenschutzgruppe zu den Entwürfen der Änderungsbeschlüsse, WP 241.

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DSGVO Art. 46 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien (3) Vorbehaltlich der Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde können die geeigneten Garantien gemäß Absatz 1 auch insbesondere bestehen in a) Vertragsklauseln, die zwischen dem Verantwortlichen oder dem Auftragsverarbeiter und dem Verantwortlichen, dem Auftragsverarbeiter oder dem Empfänger der personenbezogenen Daten im Drittland oder der internationalen Organisation vereinbart wurden, oder b) Bestimmungen, die in Verwaltungsvereinbarungen zwischen Behörden oder öffentlichen Stellen aufzunehmen sind und durchsetzbare und wirksame Rechte für die betroffenen Personen einschließen. (4) Die Aufsichtsbehörde wendet das Kohärenzverfahren nach Artikel 63 an, wenn ein Fall gemäß Absatz 3 des vorliegenden Artikels vorliegt. (5) Von einem Mitgliedstaat oder einer Aufsichtsbehörde auf der Grundlage von Artikel 26 Absatz 2 der Richtlinie 95/46/EG erteilte Genehmigungen bleiben so lange gültig, bis sie erforderlichenfalls von dieser Aufsichtsbehörde geändert, ersetzt oder aufgehoben werden. Von der Kommission auf der Grundlage von Artikel 26 Absatz 4 der Richtlinie 95/46/EG erlassene Feststellungen bleiben so lange in Kraft, bis sie erforderlichenfalls mit einem nach Absatz 2 des vorliegenden Artikels erlassenen Beschluss der Kommission geändert, ersetzt oder aufgehoben werden. I. 1. 2. II. 1.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfordernis geeigneter Garantien (Art. 46 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Genehmigungsfreie Garantien (Art. 46 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelung zwischen öffentlichen Stellen (Art. 46 Abs. 2 Buchst. a) . . . . . . . . . . b) Verbindliche interne Datenschutzvorschriften (Art. 46 Abs. 2 Buchst. b) . . . . aa) Definition (Art. 4 Nr. 20) . . . . . . . bb) BCR für Verantwortliche/Controller . cc) BCR für Auftragsverarbeiter/ Processor . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Genehmigung (Art. 47) . . . . . . . . c) Standarddatenschutzklauseln der Kommission (Art. 46 Abs. 2 Buchst. c) . . . . . aa) Gegenstand und rechtliche Wirkung . bb) Übermittlung an Verantwortliche (C2C) . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Übermittlung an Auftragsverarbeiter (C2P) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unterauftragsverarbeiter als Datenimporteur . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 2 3 3 5 5 6 7 8 9 11 12 12 16 18 20

(2) Unterauftragsvergabe durch den Datenimporteur . . . . . . . . . . . . (3) Mehrere Auftragsverarbeiter auf gleicher Stufe . . . . . . . . . . . . . . (4) Ausfertigen der Formulare . . . . . . . dd) Keine Veränderungen . . . . . . . . . ee) Unselbständige Stellen . . . . . . . . . ff) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Altverträge . . . . . . . . . . . . . . . . d) Standarddatenschutzklauseln der Aufsichtsbehörde (Art. 46 Abs. 2 Buchst. d) . e) Genehmigte Verhaltensregeln (Art. 46 Abs. 2 Buchst. e) . . . . . . . . . . f) Genehmigter Zertifizierungsmechanismus (Art. 46 Abs. 2 Buchst. f) . . . . . . . 3. Genehmigungsbedürftige Garantien (Art. 46 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ad-hoc-Verträge (Art. 46 Abs. 3 Buchst. a) b) Bestimmungen für Verwaltungsvereinbarungen (Art. 46 Abs. 3 Buchst. b) . . . . c) Kohärenzverfahren (Art. 46 Abs. 4) . . . . d) Fortgeltung von Genehmigungen aus der Zeit der DSRL (Art. 46 Abs. 5 Satz 1) . . . 4. Fortgeltung von Standarddatenschutzklauseln aus der Zeit der DSRL (Art. 46 Abs. 9 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . .

25 28 29 31 39 40 43 44 45 46 47 48 53 54 55

58

Literatur: Eckhardt, Auftragsdatenverarbeitung, DuD 2013, 585; Forst, Verarbeitung personenbezogener Daten in der internationalen Unternehmensgruppe, Der Konzern 2012, 170; Götz, Grenzüberschreitende Datenübermittlung im Konzern, DuD 2013, 631; Jensen, Vorabentscheidungsverfahren zur Prüfung von Standardvertragsklauseln angestrebt, ZD-Aktuell 2016, 05204; Müthlein, ADV 5.0 – Neugestaltung der Auftragsdatenverarbeitung in Deutschland, RDV 2016, 74; Rittweger/Schmidl, Einwirkung von Standardvertragsklauseln auf § 28 BDSG, DuD 2004, 617; Schmidl, Datenschutz für Whistleblowing-Hotlines, DuD 2006, 353; Tinnefeld/Rauhofer, Whistleblower: Verantwortungsbewußte Mitarbeiter oder Denunzianten?, DuD 2008, 717; Wedde, Datenschutz in Arbeitsverhältnissen, AiB 2003, 285; Wedde, Die Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes, AiB 2001, 373; Wisskirchen/Goebel, Arbeitsrechtliche Aspekte der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland (Off-Shoring), DB 2004, 1937; Wolber, Datenübermittlung in Drittländer, DSB 2001, 12.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Rz. 6 Art. 46 DSGVO

I. Einführung 1. Zweck Art. 46 erlaubt die Übermittlung personenbezogener Daten an ein Drittland oder an eine internationa- 1 le Organisation, wenn kein Angemessenheitsbeschluss der Kommission nach Art. 45 vorliegt. Voraussetzung ist, dass der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter sog. geeignete Garantien bietet und den betroffenen Personen durchsetzbare Rechte und wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung gestellt werden. Die Norm gewährleistet als Teil von Kapitel V die wirtschaftliche notwendige Übermittlung von Daten in Drittländer, ohne dafür auf das durch die DSGVO geschaffene Schutzniveau ganz zu verzichten. 2. Bedeutung Die in Art. 46 geregelten geeigneten Garantien haben für die Schaffung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für Drittlandstransfers in der Praxis große Bedeutung.

2

II. Norminhalt 1. Erfordernis geeigneter Garantien (Art. 46 Abs. 1) Auf der zweiten Stufe der Rechtmäßigkeitsprüfung erfordert der Transfer personenbezogener Daten an Empfänger in ein Drittland, für das kein Angemessenheitsbeschluss der EU-Kommission vorliegt, sog. geeignete Garantien. Dies sind Instrumente zum Schutz der Betroffenen, die in den Abs. 2 und 3 abschließend aufgeführt sind.

3

Im Falle von Abs. 3 – namentlich bei Verwendung von ad-hoc-Klauseln – bedarf der Datentransfer zusätzlich einer Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde. Vor dem Hintergrund der deutschen Rechtssprache kann die Verwendung des Begriffs „Genehmigung“ irritieren, wenn man darunter die nachträgliche Zustimmung versteht.1 Dies passt im Rahmen von Art. 46 nur insoweit, als die geeigneten Garantien – z.B. die Individualverträge nach Abs. 3 Buchst. a – zunächst vom Verantwortlichen erarbeitet und dann zur Genehmigung vorgelegt werden. Die darauf gestützte Übermittlung kann allerdings erst im Anschluss an den Genehmigungsakt erfolgen, sie wird also gerade nicht erst im Nachhinein von der Behörde erlaubt.

4

2. Genehmigungsfreie Garantien (Art. 46 Abs. 2) a) Regelung zwischen öffentlichen Stellen (Art. 46 Abs. 2 Buchst. a) Abs. 2 Buchst. a führt für Übermittlungen an Behörden in Drittstaaten als geeignete Garantie Verwaltungsabkommen ein. Dies sind völkerrechtliche Verträge, deren Gegenstand innerstaatlich ohne formelles Gesetz geregelt werden kann, also keine Mitwirkung des Gesetzgebers erfordert. Die darauf gestützte Datenübermittlung ist nur genehmigungsfrei, wenn die Vereinbarung rechtsverbindlich ist, anderenfalls liegt ein Fall von Abs. 3 Buchst. b vor.

5

b) Verbindliche interne Datenschutzvorschriften (Art. 46 Abs. 2 Buchst. b) Die DSGVO nimmt das Instrument der verbindlichen internen Datenschutzvorschriften (früher auch „verbindliche Unternehmensregelungen“, englisch Binding Corporate Rules, kurz BCR) als weitere Form geeigneter Garantien in das Gesetz auf. BCR sind bereits vor der DSGVO in der Praxis der Aufsichtsbehörden entwickelt worden, obwohl sie in der DSRL nicht vorgesehen waren. Die inhaltlichen Anforderungen von BCR und das Genehmigungsverfahren regelt nun Art. 47.

1 S. die Legaldefinition in § 184 Abs. 1 BGB.

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6

DSGVO Art. 46 Rz. 7 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien aa) Definition (Art. 4 Nr. 20) 7

Nach der unglücklichen Definition in Art. 4 Nr. 20 sind BCR Maßnahmen zum Schutz personenbezogener Daten, zu deren Einhaltung sich ein in der EU niedergelassenes Unternehmen verpflichtet für den Fall von Datenübermittlungen an ein Unternehmen derselben Gruppe in einem Drittland. Tatsächlich handelt es sich regelmäßig um interne Regelwerke multinationaler Konzerne, die sämtliche Unternehmen, welche an der Übermittlung von personenbezogenen Daten aus der EU heraus beteiligt sind, zu angemessenen Datenschutzmaßnahmen verpflichten, insb. auch die Empfänger in Drittstaaten. bb) BCR für Verantwortliche/Controller

8

Die klassischen BCR (auch: BCR für Verantwortliche) sind als rein konzerninterne Regelung nur für konzerninterne Datentransfers relevant. Ihre Einführung kommt für Konzerne in Betracht, die über Gesellschaften sowohl innerhalb von EU/EWR als auch in unsicheren Drittstaaten verfügen. Hat ein solcher Konzern BCR eingeführt und das Genehmigungsverfahren erfolgreich durchlaufen, kann er – soweit die BCR eingreifen – auf den Abschluss von Standardvertragsklauseln bei der Datenübertragung zwischen den Konzerngesellschaften verzichten. Dies kann gerade bei Konzernen mit vielen internen, grenzüberschreitenden Datentransfers die einmalige, relativ hohe Investition in die Erstellung und Genehmigung von BCR rechtfertigen. Nicht ersetzt wird durch die BCR die Rechtfertigung der Datenübertragung auf der ersten Stufe, allerdings können die BCR – je nach Inhalt – auch bei der dort vorzunehmenden Prüfung zu berücksichtigen sein. cc) BCR für Auftragsverarbeiter/Processor

9

Die Definition in Art. 4 Nr. 20 zeigt, dass durch BCR auch solche gruppeninternen Datentransfers geregelt werden können, bei denen die Gruppenunternehmen Auftragsverarbeiter für Dritte sind. Diese BCR für Auftragsverarbeiter, welche erst 2012 eingeführt wurden, sind insb. für multinationale (IT-)Dienstleistungskonzerne wichtig.2 Zwar handelt es sich auch dabei um konzerninterne Regelungen, jedoch behandeln sie die Verarbeitung von Daten Dritter und zielen damit (über Abs. 2 Buchst. b) auch auf eine Wirkung im Verhältnis zu den Kunden des Konzerns. Denn verfügt ein Dienstleistungskonzern über genehmigte BCR für Auftragsverarbeiter, so können seine Kunden grundsätzlich auf den Abschluss von Standardvertragsklauseln mit den in Drittstaaten befindlichen Konzerngesellschaften und auf sonstige Garantien verzichten.

10

In der Praxis werfen die relativ neuen BCR für Auftragsverarbeiter hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den Standardvertragsklauseln Fragen auf. So setzen Cloud-Anbieter nicht selten neben Konzerngesellschaften auch Drittunternehmen als Drittstaaten-Subdienstleister ein. Dann liegt es nahe, zur Herstellung eines angemessenen Datenschutzniveaus für die konzernangehörigen Dienstleister auf BCR für Auftragsverarbeiter zu setzen und den Transfer an die übrigen Subdienstleister durch Standardvertragsklauseln zu rechtfertigen. Tatsächlich gibt es große Cloud-Anbieter, die über BCR für Auftragsverarbeiter verfügen und gleichwohl in ihren Vertragsklauseln den Abschluss der Standardvertragsklauseln mit der US-Konzernmutter vorsehen, welche dann nach Ziff. 11 der Klauseln Unteraufträge an Drittunternehmen vergeben kann. Da die Konzernmutter dann aber nach dem Wortlaut der Standardvertragsklauseln auch mit den konzerneigenen Subdienstleistern solche Verträge abschließen müsste, obwohl sie doch gerade dies durch die BCR für Auftragsverarbeiter vermeiden will, definieren die Anbieter vereinzelt den Begriff der „Unterauftragsverarbeiter“ (s. Art. 3 d) der Standardvertragsklauseln für Processor) kurzerhand so um, dass er nur externe Unterauftragsverarbeiter erfasst. So verständlich dieses Vorgehen in der Sache ist,3 ist nicht auszuschließen, dass diese Änderung der Standardvertragsklauseln (dazu Rz. 34) bei strenger Betrachtung eine Genehmigungspflicht auslöst.

2 S. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 195. 3 Für die Kombinierbarkeit von BCR mit anderen Instrumenten (auch innerhalb einer Unternehmensgruppe) etwa Forst, Der Konzern 2012, 170, 176.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Rz. 15 Art. 46 DSGVO

dd) Genehmigung (Art. 47) Als geeignete Garantie nach Abs. 2 führt das Vorhandensein von BCR dazu, dass „eine besondere Genehmigung“ für den Datentransfer auf der zweiten Prüfungsstufe nicht mehr erforderlich ist. Allerdings gilt dies nach Abs. 2 Buchst. b nur für „verbindliche interne Datenschutzvorschriften gem. Art. 47“, also nur für BCR, die zuvor die Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde erhalten haben. Während unter Geltung des BDSG 2001 die deutschen Aufsichtsbehörden – vor dem Hintergrund einer unglücklichen Formulierung in § 4c Abs. 2 BDSG – noch über die Genehmigungsbedürftigkeit von BCR stritten,4 steht diese nach der DSGVO also außer Zweifel. Zum Genehmigungsverfahren s. Art. 47.

11

c) Standarddatenschutzklauseln der Kommission (Art. 46 Abs. 2 Buchst. c) aa) Gegenstand und rechtliche Wirkung Die Standarddatenschutzklauseln der EU-Kommission bleiben auch unter der DSGVO ein für die Praxis eminent wichtiges Instrument zur Rechtfertigung internationaler Datentransfers. Während Datentransfers auf Basis selbst entworfener Verträge – sog. ad-hoc-Verträge – der Genehmigung bedürfen, lassen sich durch Verwendung der Musterverträge der Kommission IT-Verfahren mit Drittlandsbezug schnell und rechtssicher verwirklichen. Die Standarddatenschutzklauseln schaffen damit Rechtssicherheit, vermeiden aufwendige Einzelfallprüfungen und befördern darüber hinaus eine einheitliche Genehmigungspraxis im Rahmen von Abs. 3.

12

Bei Nutzung der vollständigen, unveränderten Standarddatenschutzklauseln besteht weder eine Pflicht zur Genehmigung noch zur Vorlage ggü. den deutschen Behörden.5 Unter der Geltung der – weniger eindeutigen – Vorgängerregelung des Art. 26 Abs. 4 bestanden einzelne Mitgliedstaaten auf einem Genehmigungsverfahren, was den mit den Klauseln angestrebten Effizienzgewinn konterkarierte.6 Angesichts der klaren Fassung von Art. 46 Abs. 2 („ohne dass hierzu eine besondere Genehmigung … erforderlich wäre“) müsste diese Praxis im Anwendungsbereich der DSGVO ihr Ende finden.

13

Die unter der DSRL erlassenen Standarddatenschutzklauseln bleiben unter der DSGVO gültig (Abs. 5 14 Satz 2). Es gibt gegenwärtig zwei alternative Muster für die Übermittlung an verantwortliche Stellen (von 2001 und 2004) sowie ein Muster für die Übermittlung an Auftragsverarbeiter (in der überarbeiteten Fassung von 2010). Vor dem Einsatz ist daher zu prüfen, ob ein Fall der Auftragsdatenverarbeitung vorliegt, was nicht immer leicht zu beurteilen ist. Werden z.B. Kundendaten konzernzentral auf einem Server in den USA gespeichert, so kann – je nachdem, ob das speichernde Konzernunternehmen über Entscheidungsspielräume im Umgang mit den Daten verfügt – eine Auftragsverarbeitung, aber auch eine eigenverantwortliche Tätigkeit vorliegen.7 Entsprechend der Vorgabe von Art. 4 VO 1/1958, wonach Schriftstücke von allgemeiner Geltung in 15 den Amtssprachen verfasst werden, liegen die Klauseln in sämtlichen Amtssprachen der EU vor (mit Ausnahme des Irischen). Praktisch dominiert ganz klar die englische Fassung. Dazu trägt entscheidend bei, dass sie als einzige auf der Website der EU-Kommission leicht auffindbar in bearbeitbarer Form

4 Nach Hanssen/Tinnefeld, Beitrag v. 1.7.2016 auf www.hldatenschutz.de, bejahten folgende Aufsichtsbehörden eine Genehmigungspflicht: Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen, und die Bundesbeauftragte. Jedenfalls eine Anzeigepflicht mit ggf. anschließendem Genehmigungsverfahren sahen Bremen und Rheinland-Pfalz vor. Genehmigungsfreiheit bestand nach Ansicht der Aufsichtsbehörden von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen. 5 15. Tätigkeitsbericht der Aufsichtsbehörde Hessen, LT-Drucks. 15/4659, 15, Ziff. 7.2. Die in Klausel 8 Abs. 1 der C2P-Standardvertragsklauseln vorgesehene Pflicht zur Hinterlegung bei der zuständigen Aufsichtsbehörde besteht nach deutschem Recht nicht. 6 So offenbar das Vorgehen der spanischen Aufsichtsbehörde, vgl. ,https://www.agpd.es/portalwebAGPD/canalre sponsable/transferencias_internacionales/index-iden-idphp.php.. 7 Vgl. zur DSRL 15. Tätigkeitsbericht der Aufsichtsbehörde Hessen, LT-Drucks. 15/4659, 15, Ziff. 7.2.

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DSGVO Art. 46 Rz. 15 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien zum Download bereitgestellt wird.8 Diese Diskriminierung der anderen Sprachfassungen dürfte mit dem Sinn und Zweck der Amtssprachenregelung unvereinbar sein. bb) Übermittlung an Verantwortliche (C2C) 16

Liegt eine Übermittlung an verantwortliche Stellen vor – im Englischen „Controller to Controller“ (C2C) –, besteht die Wahl zwischen dem Muster aus 2001 (sog. Set I)9 und dem Muster aus 2004 (sog. Set II oder „alternativer Standardvertrag“).10 Letzteres wurde maßgeblich von Wirtschaftsverbänden11 unter Berücksichtigung von erheblicher Kritik ihrer Mitglieder an Set I ausgearbeitet und gilt gemeinhin als wirtschaftsfreundlicher.12 Ein Hauptunterschied besteht in der Haftung ggü. dem Betroffenen im Fall von Datenschutzverletzungen: Während Set I sich durch eine gesamtschuldnerische Haftung von Datenexporteur und Datenimporteur auszeichnet, sieht Set II nur eine Haftung nach dem Verursacherprinzip vor und schließt zudem die Haftung für punitive damages aus.13 Die Aufsichtsbehörden vertreten die Auffassung, dass Set II insgesamt schwächere Garantien biete und für Arbeitnehmerdaten nicht geeignet bzw. ergänzungsbedürftig sei.14

17

Über die Leistung der Unterschrift hinaus müssen in Anhang 1 zu Set I bzw. in Anlage B zu Set II Angaben zum Zweck der Übermittlung, den Betroffenen, der Art der Daten und der Empfänger individuell eingefügt werden. In Set II, Klausel II h) muss der Datenimporteur zudem angeben, nach welchem der dort aufgeführten drei Datenschutzregime er die Daten verarbeiten will: (1) nach dem Datenschutzrecht des Datenexporteurs, (2) nach den Regeln einer auf das Importland, aber nicht auf die konkrete Verarbeitung anwendbaren Angemessenheitsentscheidung oder (3) nach den in Anhang A aufgeführten Datenschutzprinzipien. cc) Übermittlung an Auftragsverarbeiter (C2P)

18

Für die Übermittlung an Auftragsverarbeiter – im Englischen „Controller to Processor“ (C2P) – sind die entsprechenden Standarddatenschutzklauseln von 2010 zu verwenden.15 Im IT-Outsourcing, das häufig eine Auftragsverarbeitung darstellt, ist dieses Muster von enormer praktischer Bedeutung.

19

Die Standarddatenschutzklauseln sind zwischen dem Datenexporteur, also der verantwortlichen Stelle, und dem Datenimporteur abzuschließen. Datenimporteur ist derjenige, der die aus der EU heraus übermittelten Daten im Drittland empfängt bzw. auf die in der EU belegenen Daten vom Drittland aus (Wartungs-)Zugriff hat. Im einfachsten Fall ist dies der Auftragnehmer selbst. (1) Unterauftragsverarbeiter als Datenimporteur

20

Gerade bei globalen Clouddiensten tritt der Datenimporteur oft auch als Subdienstleister eines in der EU ansässigen Dienstleisters auf.16 So kontrahieren viele Cloud-Anbieter aus den USA u.a. aus steuerlichen Erwägungen mit europäischen Kunden durch in der EU – besonders häufig in Irland – belegene Niederlassungen.17 Die Rechenzentren befinden sich gleichwohl nicht selten in den USA und anderen unsicheren Drittländern. Sofern Rechenzentrumsstandorte innerhalb von EU/EWR angeboten werden, finden in der Praxis oft Support- oder Wartungszugriffe aus Drittländern statt (z.B. nach dem „Follow-the-Sun“-Prinzip zur Gewährleistung einer Unterstützung rund um die Uhr). Auch dies ist 8 https://ec.europa.eu/info/law/law-topic/data-protection/data-transfers-outside-eu/model-contracts-transferpersonal-data-third-countries_en, nach Auswahl der entsprechenden Klausel ist hierüber jede Sprachfassung in bearbeitbarer Form herunterladbar. 9 Entscheidung 2001/497/EG v. 15.6.2001, ABl. L 181 v. 4.7.2001, 19 ff. 10 Entscheidung 2004/915/EG v. 27.12.2004, ABl. L 385 v. 29.12.2004, 74 ff. 11 Unter anderem der ICC, s. Rittweger/Schmidl, DuD 2004, 617, 618. 12 Paal/Pauly/Pauly, Art. 46 DSGVO Rz. 26; BeckOK DatenSR/Lange/Filip, Art. 46 DSGVO Rz. 37. 13 Vgl. Forst, Der Konzern 2012, 170, 177. 14 Abgestimmte Position der Aufsichtsbehörden vom 12./13.2.2007 – 22421.18.2014, Ziff. II.2. 15 Entscheidung 2010/87/EU v. 5.2.2010, ABl. L 39 v. 12.2.2010, 5 ff. 16 Hierzu auch Eckhardt, DuD 2013, 585, 591. 17 Namhafte Beispiele sind Amazon Web Services, Microsoft oder Rackspace.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Rz. 24 Art. 46 DSGVO

als Datenexport zu behandeln, wenn ein (auch nur zufälliger) Zugriff auf personenbezogene Daten nicht ausgeschlossen werden kann.18 Aus Effizienzgründen setzen allerdings auch viele originär europäische Cloud-Anbieter auf Subdienstleister in unsicheren Drittstaaten. Die EU-Standarddatenschutzklauseln (C2P) sind ausdrücklich nicht dafür gemacht, in der im vorstehenden Absatz genannten Konstellation zwischen dem EU-Auftragnehmer und seinem DrittlandsSubdienstleister abgeschlossen zu werden.19 Zwar steht es den nationalen Aufsichtsbehörden frei, einen an die C2P-Klauseln angelehnten Unterauftrag als ausreichenden ad-hoc-Vertrag anzuerkennen, jedoch unterliegt dieser dem Genehmigungserfordernis.20 Die europäischen Aufsichtsbehörden haben für diese Situation einen weiteren Standardvertrag vorgeschlagen, der allerdings von der EU-Kommission bisher nicht bestätigt wurde und damit bisher nur als ad-hoc-Vertrag (für den Unterauftrag) verwendet werden kann.21

21

Bis auf weiteres sind daher in der beschriebenen Situation (EU-Auftragsverarbeiter mit DrittlandsSubdienstleister) Direktverträge des Auftraggebers nach den Standarddatenschutzklauseln mit allen als Datenimporteur auftretenden Subdienstleistern angezeigt, wenn ein Genehmigungserfordernis vermieden werden soll. Ein EU-Standardvertrag zwischen Auftraggeber und (EU-)Hauptdienstleister wäre in dieser Konstellation weder ausreichend noch sinnvoll. Die deutschen Aufsichtsbehörden empfehlen stattdessen einen Beitritt des EU-Auftragnehmers zum Standardvertrag.22 Dieser Beitritt soll auch bei direkter Aufnahme in das Vertragsmuster keine Genehmigungspflicht auslösen, die Aufsichtsbehörden haben hierzu eine Musterformulierung vorgeschlagen, die insb. darauf abzielt, die Kontrollrechte des Aufraggebers ggü. dem Subdienstleister durch den EU-Auftragnehmer wahrnehmen zu lassen – eine evident praxisorientierte Lösung.23

22

In der Praxis besteht ein Interesse, im Verhältnis vom Auftraggeber zum Subdienstleister nicht nur eine direkte (faktische) Kontrolle der Datenverarbeitung, sondern auch das Erfordernis von Vertragsverhandlungen weitgehend zu vermeiden. Insofern besteht die von den Aufsichtsbehörden ausdrücklich anerkannte Möglichkeit, den EU-Auftragnehmer als Stellvertreter zum Abschluss der Standarddatenschutzklauseln mit den Subdienstleistern im Namen des Auftraggebers zu ermächtigen.24

23

Fragwürdig ist hingegen das von einzelnen Cloud-Anbietern gewählte umgekehrte Vorgehen, bei welchem der EU-Auftragnehmer zunächst quasi auf Vorrat selbst mit seinen Drittlands-Subdienstleistern die Standarddatenschutzklauseln abschließt und dann – über eine Formulierung in seinen AGB – diese Klauseln in Vertretung der Subdienstleister auf den Auftraggeber erstrecken will. Gegen die datenschutzrechtliche Zulässigkeit dieses Konstruktes spricht jedenfalls, dass hiermit aus Sicht des Auftraggebers Standardverträge ohne jegliche Kontrolle des Inhaltes (namentlich von Anhang 1 und 2)25 und der Vertragspartner zustande kommen; schon deshalb dürfte eine entsprechende AGB-Klausel überraschend und damit unwirksam sein. Auch geht der Vertragsschluss auf Vorrat zwischen EU-Auftragnehmer und Subdienstleister jedenfalls zunächst ins Leere und stellt überdies eine Nutzung der Standardvertragsklauseln in einem Fall dar, für den sie explizit nicht bestimmt sind.26

24

18 19 20 21 22 23 24 25 26

Vgl. Müthlein, RDV 2016, 74, 83. S. EU-Standardvertragsklauseln (C2P), ErwGr. 23. S. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, S. 3. S. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 214. Düsseldorfer Kreis, Handreichung zur internationalen Auftragsdatenverarbeitung, 28.3.2007, S. 4 (noch zur Rechtslage nach den alten Standardvertragsklauseln von 2001). Düsseldorfer Kreis, Handreichung zur internationalen Auftragsdatenverarbeitung, 28.3.2007, S. 5; soweit ersichtlich wird diese Empfehlung dürfte durch die zwischenzeitliche Revision der Standardvertragsklauseln nicht grundsätzlich berührt. Düsseldorfer Kreis, Handreichung zur internationalen Auftragsdatenverarbeitung, 28.3.2007, S. 5; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, I Nr. 3 b. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, I Nr. 3 b, wonach der Verantwortliche auch dem Inhalt der Anhänge 1 und 2 zustimmen soll. Vgl. ErwGr. 23 der Entscheidung 2010/87/EU.

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DSGVO Art. 46 Rz. 25 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien (2) Unterauftragsvergabe durch den Datenimporteur 25

Die Einschaltung von Unterauftragsverarbeitern durch den Datenimporteur ist in den Standardvertragsklauseln vorgesehen, sie bedarf jeweils der schriftlichen Einwilligung des Datenexporteurs (Klausel 5 h). Cloud-Anbieter, die sich angesichts dessen die Freiheit zum Wechsel von Subdienstleistern auch für den Fall erhalten möchten, dass ein Kunde widerspricht, bleibt insofern nur, sich hierfür ein Sonderkündigungsrecht auszubedingen;27 dies dürfte eine zulässige Ergänzung der Standarddatenschutzklauseln sein. Nach Klausel 11 muss der Datenimporteur dem Unterauftragsverarbeiter dieselben Pflichten auferlegen, denen er nach den Standarddatenschutzklauseln unterliegt.28 Die Datenschutzregelungen des Unterauftrags sollen darüber hinaus dem Recht des Mitgliedstaats unterliegen, in dem der Datenexporteur niedergelassen ist.29 Die Klauseln stellen damit konsequent sicher, dass das Datenschutzniveau durch Unterauftragsvergabe nicht abgesenkt wird.

26

Der Datenexporteur ist Garant für die ordnungsgemäße Unterauftragsvergabe (Klausel 2 i). Im Rahmen seiner Überwachungspflichten muss er ein jährlich zu aktualisierendes Verzeichnis der Unteraufträge führen und zur Einsicht für die Aufsichtsbehörde bereithalten (Klausel 11 Abs. 4). Dies korrespondiert mit dem Einwilligungserfordernis für die Vergabe neuer Unteraufträge und der Pflicht des Datenimporteurs, dem Datenexporteur unverzüglich eine Kopie des Unterauftrags zukommen lassen (Klausel 5 j).

27

Aus dem Wortlaut der Klauseln geht nicht eindeutig hervor, wie mit Unteraufträgen zu verfahren ist, die bereits bei Abschluss des Hauptauftrages bestehen. Die Vorlagepflicht nach Klausel 5 j) und das nach Klausel 11 Abs. 4 zu führende Verzeichnis gelten nur für die „nach den Klauseln geschlossenen Vereinbarungen“, was sprachlich gesehen die bereits bestehenden Vereinbarungen nicht zwingend umfasst. Viele Cloudanbieter legen deshalb die bereits bestehenden Unteraufträge nicht vor. Nach dem Sinn und Zweck von Klausel 5 j), zum Schutz der Betroffenenrechte die Kontrolle der Unterauftragsvergabe zu ermöglichen, sind jedoch auch diese notwendig vorzulegen. Es ist kein Grund erkennbar, nach dem Zeitpunkt der Unterauftragsvergabe zu differenzieren. Dass die bestehenden Unteraufträge keinen besonderen Schutz genießen, zeigt sich schon daran, dass sie nach Klausel 5 g) sogar jeder von der Verarbeitung betroffenen Person auf Verlangen vorzulegen sind.30 Im Übrigen gehen die europäischen Aufsichtsbehörden sogar davon aus, dass für jeden hinzukommenden Datenexporteur ein neuer Unterauftrag erteilt werden müsse, weil sich der Gegenstand der Verarbeitung ändere (durch einen neuen Datenexporteur und ggf. andere Kategorien von Daten und Betroffenen);31 nach dieser Auffassung wäre also eine vorherige Unterauftragsvergabe gar nicht möglich. (3) Mehrere Auftragsverarbeiter auf gleicher Stufe

28

Abzugrenzen von Unterauftragsverarbeitern, die der Datenimporteur einschaltet, sind weitere Datenimporteure – also weitere Drittlands-Auftragnehmer –, welche der Datenexporteur beauftragt. Während Erstere nach Klausel 11 mit dem Datenimporteur kontrahieren, sind für Letztere (weitere) Direktverträge mit der verantwortlichen Stelle erforderlich.32 Praktisch häufiger ist freilich die Unterauftragsverarbeitung. (4) Ausfertigen der Formulare

29

Beim Ausfertigen der Standarddatenschutzklauseln werden die ausfüllungsbedürftigen Rechtswahlklauseln gelegentlich übersehen; in Klauseln 9 und 11 Abs. 3 ist das Recht des Datenexporteurs, d.h. bei deutschen Auftraggebern deutsches Recht, einzusetzen. Zudem ist in Anhang 1 eine Beschreibung 27 Eckhardt, DuD 2013, 585, 587. 28 In den Klauseln selbst wird als mögliche Lösung für einen entsprechenden Vertragsschluss vorgeschlagen, dass der Unterauftragsverarbeiter den Standardvertrag mitunterzeichnet. Zur Gestaltung dieses Beitritts s. Art.-29Datenschutzgruppe, WP 176, II 6. 29 Standardvertragsklauseln C2P, Klausel 11 Abs. 3. 30 Dieses Auskunftsrecht ist insofern eindeutig formuliert und umfasst auch „einen bestehenden Vertrag über die Vergabe eines Verarbeitungsauftrags an einen Unterauftragsverarbeiter“. 31 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, II 5. 32 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, II 4.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Rz. 32 Art. 46 DSGVO

der auftragsrelevanten Aktivitäten der Parteien, der Kategorien der verarbeiteten Daten und der Verarbeitungsverfahren einzufügen. In Anhang 2 sind die technisch-organisatorischen Maßnahmen des Anbieters zu beschreiben (vgl. die Anlage zu § 9 Satz 1 BDSG). Beide Anhänge sollen separat unterzeichnet werden. Unter der Geltung der DSRL haben die deutschen Aufsichtsbehörden die Auffassung vertreten, dass 30 auch bei Verwendung der Standarddatenschutzklauseln sämtliche Anforderungen aus dem Katalog des § 11 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. abzudecken, die Klauseln also ergänzungsbedürftig seien.33 Entsprechende Ergänzungen wurden daher häufig in den Anhängen vorgenommen. Ob die weitergehenden Anforderungen der deutschen Aufsichtsbehörden EU-rechtlich haltbar waren, war allerdings fraglich.34 Sinn der Standarddatenschutzklauseln war und ist, dass sie die Vermutung der Angemessenheit in sich tragen und von den nationalen Aufsichtsbehörden akzeptiert werden müssen.35 Nach dem Wortlaut von Anhang 1 können die Mitgliedstaaten dort „Zusatzangaben“ entsprechend den nationalen Verfahren verlangen; auch sind sie für die Prüfung der technisch-organisatorischen Maßnahmen in Anhang 2 nach nationalem Recht zuständig. Im Übrigen sind ihnen inhaltliche Vorgaben aber verwehrt, um den Zweck der Standarddatenschutzklauseln nicht zu unterlaufen. Seit Inkrafttreten der DSGVO können über den Inhalt der Standarddatenschutzklauseln hinausgehende Anforderungen jedenfalls nur dort gestellt werden, wo aufgrund von Öffnungsklauseln der DSGVO nationales Datenschutzrecht gilt. dd) Keine Veränderungen Wählt ein Datenexporteur als geeignete Garantie das Mittel des Vertrags mit dem Datenschutzimporteur, so ist er nur dann von der nach Abs. 3 erforderlichen Genehmigung befreit, wenn er die Standarddatenschutzklauseln vollständig und unverändert übernimmt (Abs. 2 Buchst. c). Auch die bisherigen Beschlüsse der EU-Kommission zum Erlass der Standarddatenschutzklauseln erklären jeweils nur die „Standardvertragsklauseln im Anhang“ zu angemessenen Garantien,36 nicht aber Variationen davon. Konsequent werden Veränderungen oder Modifikationen der Standarddatenschutzklauseln durch die Klauseln selbst ausdrücklich ausgeschlossen.37 Jede inhaltliche Veränderung führt dazu, dass die Genehmigungsfiktion für auf die Klauseln gestützte Datenübermittlungen entfällt und die Übermittlung damit rechtswidrig wird, sofern keine ausdrückliche Genehmigung der zuständigen Behörde vorliegt. Grundsätzlich besteht nur Genehmigungsfreiheit, wenn die Klauseln wörtlich verwendet werden.38

31

Unschädlich ist allerdings das Hinzufügen kommerzieller Regelungen, weiterer Anhänge oder die 32 Einbettung der Klauseln in ein größeres Vertragswerk, soweit der Gehalt der Standarddatenschutzklauseln nicht berührt wird (Ziff. 10 Satz 2 der C2P-Klauseln).39 Das Gleiche muss für reine Förmlichkeiten wie die redaktionelle Korrektur von in den Klauseln vorhandenen Grammatikfehlern gelten.40 Nichts einzuwenden ist schließlich auch gegen die gängige Praxis von Auftragsverarbeitern, die ihr Dienstleistungsangebot an Verantwortliche in mehr als einem EU-Mitgliedstaat richten, die Formularfelder der Rechtswahlklauseln,41 in denen das Recht des Datenexporteurs anzugeben ist, statt mit dem konkreten Namen des Mitgliedstaats mit einer im Ergebnis identischen, abstrakten Formulierung auszufüllen (z.B. „das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Datenexporteur niedergelassen ist“). Hierin eine Modifikation zu sehen wäre reine Förmelei, zumal auch das C2C-Klausel-Set II diesen Weg geht.42 33 Datenschutzkonferenz und Düsseldorfer Kreis, Orientierungshilfe Cloud-Computing, Version 2.0, Stand 9.10.2014, S. 16; 23. TB NÖB Hessen (2010), LT-Drucks. 18/2942, 18; s. auch die Synopse der Klauseln und des BDSG a.F. der Aufsichtsbehörde Bayern unter https://www.lda.bayern.de/media/abgleich_standardvertrags klauseln.pdf. 34 Zweifelnd auch Eckhardt, DuD 2013, 585, 590. 35 S. ErwGr. 5 der Entscheidung 2010/87/EU. 36 S. für die C2P-Klauseln Beschl. der Kommission 2010/87/EU, Art. 1. 37 Vgl. EU-Standardvertragsklauseln C2C Set II, Klausel VII und C2P, Klausel 10. 38 Aufsichtsbehörde Hessen, 23. TB (2010), LT-Drucks. 18/2942, 18. 39 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, II 7. 40 S. etwa C2P, Klausel 6 Abs. 2 am Ende (englische Fassung). 41 S. C2C Set I, Klausel 10 sowie C2P, Klausel 9 und Klausel 11 Abs. 3. 42 S. C2C Set II, Klausel VI.

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DSGVO Art. 46 Rz. 33 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien 33

Darüber hinaus akzeptieren die Aufsichtsbehörden „geringfügige Änderungen“ der Standarddatenschutzklauseln mit dem Ziel der Rechtfertigung auf der ersten Stufe.43 Hier ist aber zur Zurückhaltung zu raten. Ergänzungen sollten nach Möglichkeit nicht durch Änderungen an den Klauseln selbst, sondern durch Ausgestaltung der Anhänge 1 und 2 erfolgen. Auf diesem Weg konnte z.B. die von den deutschen Aufsichtsbehörden bei der Auftragsverarbeitng nach BDSG a.F. geforderte Abdeckung des Katalogs des § 11 Abs. 2 Nr. 2 BDSG a.F., die das Datenschutzniveau ausschließlich erhöhte, „gefahrlos“ erreicht werden.

34

Werden die Standarddatenschutzklauseln in ein größeres Vertragswerk eingebettet oder durch Anhänge ergänzt, so ist zu empfehlen, in den ergänzenden Teilen den Willen der Parteien klarzustellen, inhaltlich nicht von den Standardvertragsklauseln abzuweichen (auch wenn dies bereits in den Klauseln selbst enthalten ist, s. Ziff. 10 der C2P-Klauseln). Üblich ist hierzu die ausdrückliche Vereinbarung eines Rangverhältnisses zwischen den verschiedenen Vertragsteilen, wonach die Standarddatenschutzklauseln den höchsten Rang haben, oder alternativ die Klarstellung, dass die außerhalb der Standarddatenschutzklauseln getroffenen Vereinbarungen die Klauseln nicht modifizieren sollen.

35

Die im vorstehenden Absatz behandelte Rangvereinbarung bzw. Klarstellung des Willens, keine Modifikationen vorzunehmen, ist aber kein Blankocheck, um außerhalb der Klauseln beliebige inhaltliche Modifikationen zu vereinbaren im Vertrauen darauf, dass diese, soweit im Widerspruch zu den Klauseln, unwirksam sind. Für geringfügige Modifikationen ist eine solche „Heilung“ durch das Rangverhältnis bzw. die Klarstellung des Willens zur Rechtskonformität zwar noch anzunehmen. Spätestens bei erheblichen und systematischen Abweichungen vom Inhalt der Klauseln kann dies aber nicht mehr gelten, da in der Gesamtschau aus Standarddatenschutzklauseln und übrigem Vertragswerk dann eine perplexe Vereinbarung vorliegt, die keine angemessene bzw. geeignete Garantie für die Rechte der Betroffenen darstellt. Denn auch wenn man den Vertragsparteien den Willen zum rechtskonformen Verhalten unterstellt, so wird man für „geeignete Garantien“ nach Art. 46 verlangen müssen, dass diese nicht lediglich rechtskonform gelebt werden, sondern den Schutz der Betroffenen bereits im Vertragswortlaut weitestgehend unmissverständlich und widerspruchsfrei zum Ausdruck bringen. Auftraggeber, die sich auf modifizierende Klauseln oder Interpretationen einlassen, laufen daher Gefahr, dass der Datentransfer genehmigungspflichtig ist (und damit bei fehlender Genehmigung rechtswidrig).

36

So bettet mancher findige Cloud-Anbieter die Standarddatenschutzklauseln nicht nur als Anlage in sein Vertragswerk ein, sondern versucht einzelne in den Klauseln enthaltene Verpflichtungen durch Hinzufügen von Auslegungsregeln auszugestalten. Dies sind, jedenfalls soweit die Auslegung von der mit den Standarddatenschutzklauseln intendierten Regelung erheblich abweicht, unzulässige Modifikationen. Die Standarddatenschutzklauseln sind Teil des EU-Rechts und autonom zu interpretieren; ein darüberhinausgehender Auslegungsspielraum steht den Parteien nicht zu, wenn sie sich auf die Wirkung als Standarddatenschutzklauseln berufen wollen. Dass die Auslegungsregeln unter Verwerfung der darin enthaltenden modifizierenden Klauseln „geltungserhaltend“ als reine Standardverträge ausgelegt werden können, scheint bei erheblichen und systematischen Abweichungen schwer vertretbar.44 Daher sollte der Auftraggeber sorgfältig prüfen, inwieweit die Auslegungsregeln inhaltliche Modifikationen enthalten und damit das Risiko einer Genehmigungspflicht besteht.

37

Auf keinen Fall sollte ein Vorrang anderer Vertragsteile vor den Standarddatenschutzklauseln vereinbart werden – die mit Priorität ausgestatteten anderen Vertragsteile dürfen den Klauseln dann in keinem Punkt widersprechen. Eine Prüfung, ob geeignete Garantien in Form der Klauseln vereinbart sind, ist dann folglich nur bei Kenntnis der vollständigen Vereinbarungen zwischen Datenexporteur und Datenimporteur möglich.45

38

Internationale Konzerne schließen vielfach – als Alternative zu verbindlichen Unternehmensregelungen – einen gruppeninternen Vertrag auf Basis der Standarddatenschutzklauseln und Beteiligung einer Vielzahl von Gesellschaften („Ringvertrag“, „Mehrparteienvertrag“ oder „multilateraler Standardvertrag“). Auch hier hängt die Genehmigungspflicht davon ab, dass die EU-Standarddaten-

43 Aufsichtsbehörde Hessen, 23. TB (2010), LT-Drucks. 18/2942, 18. 44 Dies gilt unabhängig davon, ob die Klauseln einer Inhaltskontrolle nach AGB-Recht unterliegen oder nicht. 45 So zu Recht Schrems, Update zur Beschwerde gegen Facebook Ireland Ltd., 1.12.2015, S. 9 Ziffer B.5.a.(1), ,http://www.europe-v-facebook.org/comp_fb_ie.pdf.. Dazu Jensen, ZD-Aktuell 2016, 05204.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Rz. 42 Art. 46 DSGVO

schutzklauseln im Wesentlichen unverändert implementiert werden.46 Minimale redaktionelle Änderungen, um der Mehrzahl der Datenimporteure und/oder -exporteure Rechnung zu tragen, sind unschädlich.47 Es muss aber bestimmt sein, welche Gesellschaften als Datenexporteur bzw. -importeur auftreten und wer wann verantwortliche Stelle oder Auftragsverarbeiter ist; auch sind die Anhänge für jedes relevante Importeur-Exporteur-Verhältnis auszufüllen.48 Unternehmen, die einen Dienstleistungskonzern einschalten, der sich für konzerninterne Datentransfers auf solche multilateralen Standardverträge beruft, werden im Rahmen ihrer Prüfpflicht nicht umhin kommen, sich diese vorlegen zu lassen. ee) Unselbständige Stellen Auf die Übermittlung an unselbständige ausländische Stellen haben die Aufsichtsbehörden unter der DSRL die Vorschriften über internationale Datentransfers angewendet; dies erscheint auch unter der DSGVO konsequent. Dabei stellt sich die Frage, ob Standarddatenschutzklauseln angesichts der fehlenden rechtlichen Selbständigkeit überhaupt sinnvoll vereinbart werden können oder ein unzulässiges In-Sich-Geschäft vorliegt.49 Die hessische Aufsichtsbehörde akzeptiert insoweit einseitig zugangs-, aber nicht annahmebedürftige Garantieerklärungen des Unternehmens, die einen Garantievertrag mit den Betroffenen zustande bringen sollen. Sofern zu diesem Zweck die Standarddatenschutzklauseln nebst einer Erklärung, sich an diese zu halten, in das Intra- oder Internet (je nach Betroffenenkreis) eingestellt werden, soll nach Auffassung dieser Aufsichtsbehörde – zur Rechtslage nach der DSRL – keine Genehmigungs- oder Vorlagepflicht bestehen.50 Prinzipiell spricht nichts dagegen, dies unter der DSGVO genauso zu handhaben.

39

ff) Form Es ist davon auszugehen, dass die DSGVO für die Standarddatenschutzklauseln Schriftform verlangt. 40 Dies ergibt sich zum einen aus Art. 28 Abs. 9, der für Vereinbarungen mit einem Auftragsverarbeiter die Schriftform vorschreibt (dazu Art. 28 Rz. 139); die Standarddatenschutzklauseln sind ein Unterfall einer solchen Vereinbarung (nämlich für den Fall Auftragsverarbeitung in einem Drittland). Zum anderen ergibt sich das Schriftformerfordernis auch aus den Beschlüssen, mit denen die EU-Kommission die Klauseln erlassen hat. Zwar enthalten die noch vor der DSGVO herausgegebenen Standarddatenschutzklauseln kein ausdrückliches Schriftformerfordernis. Wortlaut und Gestaltung dieser Klauseln – autonom aus Sicht des EU-Rechts ausgelegt – sprechen aber dafür, dass ein Schriftformzwang besteht.51 So sehen sämtliche Muster Unterschriftenfelder vor; der C2P-Vertrag enthält zudem Felder für den Abdruck von Firmenstempeln. Zudem findet sich in Anhang 1 zum C2C-Vertrag (Set-I) sowie in den Anhängen 1 und 2 zum C2P-Vertrag der Hinweis, dass diese Anhänge Bestandteil der Klauseln sind und von den Parteien ausgefüllt und unterzeichnet werden müssen. Art. 28 Abs. 9 lässt allerdings für die Schriftform ausdrücklich auch Vereinbarungen „in einem elektronischen Format“ genügen. Bereits vor Geltung der DSGVO haben mehrere große Cloud-Anbieter ihren europäischen Kunden die Standarddatenschutzklauseln mit eingescannter Blankounterschrift zum Download angeboten. Unter der DSGVO sprechen gute Gründe dafür, dies als formwirksam anzusehen (im Einzelnen Art. 28 Rz. 141 ff.; dort auch zur Frage der Verwendung getrennter Urkunden mit der Unterschrift jeweils einer Partei).

41

Nach dem BDSG a.F. war aber zu beachten, dass ein Abschluss in einem elektronischen Format grundsätzlich nicht die erforderliche gesetzliche Schriftform nach deutschem Recht erfüllt, die § 11 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. für die Vereinbarung über die Auftragsdatenverarbeitung verlangt (ausreichend war

42

46 Aufsichtsbehörde Hessen, 23. TB (2010), LT-Drucks. 18/2942, 19; Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 4c BDSG Rz. 14. 47 Aufsichtsbehörde Hessen, 23. TB (2010), LT-Drucks. 18/2942, 19. 48 Aufsichtsbehörde Hessen, 23. TB (2010), LT-Drucks. 18/2942, 19. 49 Skeptisch Aufsichtsbehörde Hessen, 15. TB, LT-Drucks. 15/4659, 16, Ziff. 7.3.; ebenso Aufsichtsbehörde Hessen, 19. TB, LT-Drucks. 16/5892, 26, Ziff. 11.2. 50 Aufsichtsbehörde Hessen, 19. TB, LT-Drucks. 16/5892, 26 f., Ziff. 11.2. 51 S. auch Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, II 6.

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DSGVO Art. 46 Rz. 42 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien nur eine qualifizierte elektronische Signatur gem. § 126a BGB). Ebenfalls nicht der deutschen gesetzlichen Schriftform genügte der Abschluss per E-Mail oder per Website-Formular.52 Umstritten war, ob die Nichteinhaltung der von nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. verlangten gesetzlichen Schriftform „lediglich“ mit einem Bußgeld geahndet werden konnte oder auch zur Unwirksamkeit der Vereinbarung führte.53 Damit war unter dem BDSG a.F. die strenge Schriftform (d.h. gerade nicht die einfache elektronische Form) jedenfalls zu empfehlen, und zwar nicht nur für Verträge mit Auftragsverarbeitern in der EU/EWR, sondern auch für die Standarddatenschutzklauseln.54 gg) Altverträge 43

Anders als bei den C2C-Standarddatenschutzklauseln ist die Fassung der C2P-Muster von 2010 keine Alternative zu der Fassung aus 2002,55 sondern hat diese ersetzt. Bestehende Auftragsverhältnisse auf Basis der alten Fassung können genehmigungsfrei weiter betrieben werden, bis sich der Gegenstand der Auftragsverarbeitung ändert, so dass Anhang 1 angepasst werden müsste. In diesem Fall muss auf die neuen Standarddatenschutzklauseln gewechselt werden, wenn eine Genehmigung vermieden werden soll – bei Fortsetzung auf Basis der alten C2P-Standarddatenschutzklauseln würden diese als adhoc-Verträge gewertet.56 d) Standarddatenschutzklauseln der Aufsichtsbehörde (Art. 46 Abs. 2 Buchst. d)

44

Auch Aufsichtsbehörden können neue Standarddatenschutzklauseln „annehmen“, was im Zweifel bedeutet, dass sie erklären, bei Verwendung dieser Klauseln auf eine Einzelfallprüfung nach Abs. 3 Buchst. a zu verzichten. Zur Anerkennung solcher Klauseln als geeignete Garantie nach Abs. 2, also zur Genehmigungsfreiheit im gesamten Geltungsbereich der DSGVO, bedarf es jedoch auch hier eines Beschlusses der Kommission. e) Genehmigte Verhaltensregeln (Art. 46 Abs. 2 Buchst. e)

45

Zur Bedeutung von genehmigten Verhaltensregeln als Instrument gesteuerter Selbstregulierung im Rahmen der DSGVO s. Art. 24 Rz. 11. Nach Art. 40 Abs. 2 Buchst. j kann in genehmigten Verhaltensregeln auch die Anwendung der Verordnung in Bezug auf internationale Übermittlungen präzisiert werden. Auf diesem Wege können die Anforderungen von Kapitel V – also die zweite Prüfungsstufe – erfüllt werden. Hierzu müssen die Verhaltensregeln von einer Aufsichtsbehörde genehmigt worden sein und die Kommission muss ihnen allgemeine Gültigkeit für den Geltungsbereich der DSGVO verliehen haben. Schließlich muss sich der Datenimporteur auf die Einhaltung der Verhaltensregeln rechtsverbindlich verpflichten, was durch Vertrag mit dem Datenexporteur geschehen kann (s. Art. 40 Abs. 3). Diese Verpflichtung stellt dann eine geeignete Garantie nach Art. 46 Abs. 2 Buchst. e dar. Die Verpflichtung muss allerdings ggü. dem Datenimporteur wirksam und durchsetzbar sein, auch in Bezug auf die Betroffenenrechte. f) Genehmigter Zertifizierungsmechanismus (Art. 46 Abs. 2 Buchst. f)

46

Als weiteres neues Instrument führt die DSGVO Zertifizierungen für Datenimporteure ein, die als geeignete Garantien wirken. Art. 42 schafft hierzu die Grundlage für ein hoheitlich überwachtes Verfahren zur Vergabe von Zertifikaten, Datenschutzsiegeln und -prüfzeichen. In diesem Rahmen müssen die Datenimporteure rechtsverbindlich verpflichtet sein, die Bedingungen der Zertifizierung einzuhalten, einschließlich der Wahrung von Betroffenenrechten. Für den Datenexporteur genügt es dann, sich 52 Plath/Plath, 1. Aufl. 2013, § 11 BDSG Rz. 95. 53 Für ein konstitutives Schriftformerfordernis Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 11 BDSG Rz. 17; dagegen Plath/Plath, 1. Aufl. 2013, § 11 BDSG Rz. 96. 54 Zu beachten ist, dass § 11 BDSG a.F. auch für Auftragsverarbeiter in Drittländern galt. Die in § 3 Abs. 8 Satz 3 BDSG a.F. enthaltene Differenzierung zwischen der Auftragsverarbeitern innerhalb und außerhalb von EU/ EWR betraf nur die Einordnung als „Dritte“, nicht die Anwendbarkeit von § 11 BDSG a.F. 55 S. Kommissionsentscheidung 2002/16/EC. 56 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 176, II 3.

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Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien

Rz. 52 Art. 46 DSGVO

das entsprechende Zertifikat nachweisen zu lassen, um die Anforderungen der zweiten Prüfungsstufe zu erfüllen. Da Zertifikate für eine Höchstdauer von drei Jahren erteilt werden (Art. 42 Abs. 7), kann eine regelmäßige Überprüfung des Zertifizierungsstatus erforderlich sein. 3. Genehmigungsbedürftige Garantien (Art. 46 Abs. 3) Liegt keine geeignete Garantie nach Abs. 2 vor, so kann der Datenexporteur die Voraussetzungen für eine Übermittlung auf der zweiten Prüfungsstufe durch eine Vereinbarung herbeiführen. Die Vereinbarung bedarf allerdings der Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde.

47

a) Ad-hoc-Verträge (Art. 46 Abs. 3 Buchst. a) Aus Sicht des Datenexporteurs ist der Abschluss von Standarddatenschutzklauseln regelmäßig die einfachste Möglichkeit, die Anforderungen von Kapitel V der DSGVO zu erfüllen. Jedoch kann auch ein sog. ad-hoc-Vertrag geschlossen werden. Gemeint ist eine individuelle Vereinbarung mit dem Empfänger, durch die dieser wirksam verpflichtet wird, beim Umgang mit den empfangenen Daten die Rechte der Betroffenen gem. dem EU-Datenschutzrecht zu wahren. Die Vereinbarung muss also die Schutzlücken im Verhältnis zum EU-Datenschutzrecht durch entsprechende Verpflichtungen des Empfängers schließen.57 Vereinbarungen individuell zu gestalten, die diesen Anforderungen gerecht werden, und anschließend den Datentransfer behördlich genehmigen zu lassen, erfordert allerdings einigen Aufwand seitens der verantwortlichen Stelle.58

48

Vor der Übermittlung ist die Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde erforderlich (Abs. 3 Buchst. a), wobei sich die Genehmigung auf die verwendeten ad-hoc-Vertragsklauseln bezieht (Art. 64 Abs. 1 Buchst. e). Nach den Erfahrungen unter der DSRL kann die Dauer des Genehmigungsverfahrens variieren, wenn etwa die Aufsichtsbehörde Nachbesserungen am Vertrag fordert. Hinzu kommen Wartezeiten, falls es sich um neue Klauseln handelt und damit eine Beteiligung des Datenschutz-Ausschusses im Wege des Kohärenzverfahrens erforderlich ist (s. Rz. 54).

49

Schließlich besteht – abgesehen von den wohl seltenen Fällen einer Ermessensreduzierung auf Null – grundsätzlich kein Anspruch auf Genehmigung. Speziell für US-Transfers hatten die Aufsichtsbehörden im Zuge der NSA-Affäre sogar angekündigt, keine Genehmigungen mehr zu erteilen;59 es bleibt abzuwarten, ob diese restriktive Verwaltungspraxis angesichts der zwischenzeitlichen informellen Zusagen der US-Regierung zur Beschränkung geheimdienstlicher Zugriffe gelockert wird. Wegen dieser Unwägbarkeiten des Genehmigungsverfahrens werden individuelle Vertragsklauseln jedenfalls vergleichsweise selten verwendet, seitdem die EU-Kommission erstmals Standarddatenschutzklauseln veröffentlicht hat, deren Verwendung das Genehmigungserfordernis entfallen lässt (s. Rz. 12).

50

Soll trotz der genannten Nachteile eine individuelle Vereinbarung geschlossen werden – etwa weil Teile der Standarddatenschutzklauseln nicht passen oder vom Anbieter nicht akzeptiert werden –, ist gleichwohl zu raten, sich soweit wie möglich am Inhalt der Standarddatenschutzklauseln zu orientieren, um das Prüfungsverfahren zu erleichtern und die Aussichten auf Genehmigung zu erhöhen. Bei der Auftragsdatenverarbeitung sind zudem die Vorgaben des Art. 28 zu beachten.

51

Nicht selten ist die Einführung neuer IT-Verfahren, bei denen Mitarbeiterdaten verarbeitet werden, 52 mitbestimmungspflichtig.60 Da Betriebsvereinbarungen aber nicht den Datenimporteur binden, können sie als solche keine geeigneten Garantien dafür sein, dass die Daten beim Importeur angemessen geschützt sind.61 Die erforderliche Bindungswirkung für ausländische Empfänger fehlt Betriebsver-

57 58 59 60

Gola/Schomerus/Gola/Klug/Schörffer, § 4c BDSG Rz. 11. Forst, Der Konzern 2012, 170, 175. Vgl. Aufsichtsbehörde Hessen, 19. TB, LT-Drucks. 16/5892, Ziff. 11); Gola/Gola, § 4c BDSG Rz. 11. Die §§ 4b, 4c BDSG berühren die Mitbestimmungspflicht nicht, vgl. Wedde, AiB 2001, 373, 374; Wedde, AiB 2003, 285, 288; Wisskirchen/Goebel, DB 2004, 1937, 1942. 61 BlnDSB, Jahresbericht 2002, S. 138. Auch führt die Tatsache, dass Betriebsvereinbarungen als „andere Rechtsvorschriften“ i.S.v. § 4 Abs. 1 BDSG gelten können, nicht zu einer Rechtfertigung auf der zweiten Stufe, vgl. Schmidl, DuD 2006, 353, 357; Tinnefeld/Rauhofer, DuD 2008, 717, 721.

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DSGVO Art. 46 Rz. 52 Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien einbarungen schon mangels exterritorialer Wirkung.62 Sie allein genügen daher auch bei konzerninternen Datentransfers nicht zur Anwendung des Art. 46 Abs. 3 Buchst. a. Betriebsvereinbarungen können aber konzerninterne Vereinbarungen ergänzen, indem sie durch vertragliche Regelungen auf den Datenimporteur erstreckt oder Gegenstand einer Verpflichtungserklärung des Datenempfängers werden.63 In diesem Fall handelt es sich um genehmigungspflichtige ad-hoc-Klauseln (wenn nicht zusätzlich die EU-Standarddatenschutzklauseln abgeschlossen werden). b) Bestimmungen für Verwaltungsvereinbarungen (Art. 46 Abs. 3 Buchst. b) 53

Neben den in Abs. 2 Buchst. a genannten verbindlichen Verwaltungsabkommen lässt Abs. 3 Buchst. b auch sonstige Verwaltungsvereinbarungen als geeignete Garantien gelten, sofern sie wirksame Betroffenenrechte einschließen. Laut ErwGr. 108 sollen sogar gemeinsame Absichtserklärungen genügen, um den betroffenen Personen durchsetzbare und wirksame Rechte einzuräumen. Angesichts der fehlenden Bindungswirkung solcher Erklärungen ist aber zweifelhaft, ob damit „durchsetzbare“ Rechte und ein angemessener Schutz erreicht werden können. Daher ist es sinnvoll, dass die Zulässigkeit der Übermittlung von der Genehmigung der zuständigen Aufsichtsbehörde abhängt. c) Kohärenzverfahren (Art. 46 Abs. 4)

54

Um eine EU-weit einheitliche Verwaltungspraxis zu erreichen, findet bei Genehmigungen nach Abs. 3 das Kohärenzverfahren nach Art. 63 ff. Anwendung. Dazu legt die zuständige Aufsichtsbehörde Beschlüsse über die Genehmigung von ad-hoc-Klauseln im Entwurf dem Datenschutz-Ausschuss vor (Art. 64 Abs. 1 Buchst. e). Für Beschlüsse über die Genehmigung von Verwaltungsvereinbarungen ist die Prüfung durch den Ausschuss fakultativ (Art. 64 Abs. 2). Hat der Ausschuss zu der Sache nicht bereits Stellung genommen, erfolgt eine Stellungnahme binnen acht Wochen; diese Frist kann um sechs Wochen verlängert werden. Das Genehmigungsverfahren verzögert sich dann entsprechend. d) Fortgeltung von Genehmigungen aus der Zeit der DSRL (Art. 46 Abs. 5 Satz 1)

55

Die noch unter der Datenschutzrichtlinie erteilten Genehmigungen bleiben nach Inkrafttreten der DSGVO bis auf Weiteres in Kraft. Sie stehen Genehmigungen nach Abs. 3 gleich.

56

Im Ergebnis ohne Auswirkungen ist, dass Gegenstand der Genehmigungen nach dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 2 DSRL bzw. § 4c Abs. 2 BDSG nicht die jeweiligen ad-hoc-Klauseln, sondern die darauf basierenden Übermittlungen waren.64 Demgegenüber bezieht sich nach der DSGVO die Genehmigung explizit auf die ad-hoc-Klauseln (s. Art. 64 Abs. 1 Buchst. e).

57

Aufgrund der formalen Beschränkung der Genehmigung auf die Übermittlung wurde unter der DSRL teilweise die Ansicht vertreten, dass die Verwendung derselben Klauseln für weitere Übermittlungen eine erneute Genehmigungspflicht auslösen würde. Die Mehrheit der Aufsichtsbehörden war dem zu Recht nicht gefolgt.65 Zwar würde für einen erneuten Genehmigungszwang sprechen, dass Übermittlungen je nach den Umständen verschiedene Risiken für die Betroffenen mit sich bringen können. Doch überwiegt demgegenüber das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und effizienten Verfahren: Hat der Datenexporteur das Genehmigungsverfahren durchlaufen und die zuständige Aufsichtsbehörde die ad-hoc-Vereinbarung mit dem Datenexporteur als geeignete Garantie akzeptiert, so muss diese Entscheidung auch gelten, wenn dieselbe Vereinbarung in der Folge noch als Grundlage für weitere Übermittlungen verwendet wird, jedenfalls für Übermittlungen zwischen denselben Stellen. Diesem Gedanken folgt die DSGVO, indem sie explizit von einer Genehmigung der Vertragsklauseln spricht, nicht mehr wie die DSRL von einer Genehmigung von Übermittlungen. Unabhängig davon sollten Datenexporteure die Reichweite von Genehmigungen der zuständigen Aufsichtsbehörde sorgfältig prüfen und diesbezügliche Zweifel mit der Behörde klären. 62 63 64 65

Forst, Der Konzern 2012, 170, 171; Götz, DuD 2013, 631, 634. Vgl. BlnBDI, Jahresbericht 2002, S. 138. BlnBDI, Jahresbericht 2002, S. 37; vgl. Wolber, DSB 2001, 12. Vgl. zu der parallelen Fragestellung genehmigter Binding Corporate Rules Forst, Der Konzern 2012, 170, 183.

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Verbindliche interne Datenschutzvorschriften

Art. 47 DSGVO

4. Fortgeltung von Standarddatenschutzklauseln aus der Zeit der DSRL (Art. 46 Abs. 9 Satz 2) Die noch unter der Datenschutzrichtlinie verabschiedeten Standarddatenschutzklauseln bleiben nach Inkrafttreten der DSGVO bis auf Weiteres in Kraft. Sie stehen den nach Abs. 2 Buchst. b und c genehmigten Klauseln gleich. Zur erforderlichen Anpassung der bestehenden Standarddatenschutzklauseln aufgrund der Anforderungen des Safe-Harbor-Urteils und der DSGVO s. Art. 45 Rz. 3 und die Stellungnahme der Art.-29-Datenschutzgruppe.66

Art. 47 Verbindliche interne Datenschutzvorschriften (1) Die zuständige Aufsichtsbehörde genehmigt gemäß dem Kohärenzverfahren nach Artikel 63 verbindliche interne Datenschutzvorschriften, sofern diese a) rechtlich bindend sind, für alle betreffenden Mitglieder der Unternehmensgruppe oder einer Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, gelten und von diesen Mitgliedern durchgesetzt werden, und dies auch für ihre Beschäftigten gilt, b) den betroffenen Personen ausdrücklich durchsetzbare Rechte in Bezug auf die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten übertragen und c) die in Absatz 2 festgelegten Anforderungen erfüllen. (2) Die verbindlichen internen Datenschutzvorschriften nach Absatz 1 enthalten mindestens folgende Angaben: a) Struktur und Kontaktdaten der Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, und jedes ihrer Mitglieder; b) die betreffenden Datenübermittlungen oder Reihen von Datenübermittlungen einschließlich der betreffenden Arten personenbezogener Daten, Art und Zweck der Datenverarbeitung, Art der betroffenen Personen und das betreffende Drittland beziehungsweise die betreffenden Drittländer; c) interne und externe Rechtsverbindlichkeit der betreffenden internen Datenschutzvorschriften; d) die Anwendung der allgemeinen Datenschutzgrundsätze, insbesondere Zweckbindung, Datenminimierung, begrenzte Speicherfristen, Datenqualität, Datenschutz durch Technikgestaltung und durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen, Rechtsgrundlage für die Verarbeitung, Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten, Maßnahmen zur Sicherstellung der Datensicherheit und Anforderungen für die Weiterübermittlung an nicht an diese internen Datenschutzvorschriften gebundene Stellen; e) die Rechte der betroffenen Personen in Bezug auf die Verarbeitung und die diesen offenstehenden Mittel zur Wahrnehmung dieser Rechte einschließlich des Rechts, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – beruhenden Entscheidung nach Artikel 22 unterworfen zu werden sowie des in Artikel 79 niedergelegten Rechts auf Beschwerde bei der zuständigen Aufsichtsbehörde beziehungsweise auf Einlegung eines Rechtsbehelfs bei den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten und im Falle einer Verletzung der verbindlichen internen Datenschutzvorschriften Wiedergutmachung und gegebenenfalls Schadenersatz zu erhalten; f) die von dem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter übernommene Haftung für etwaige Verstöße eines nicht in der Union niedergelassenen betreffenden Mitglieds der Unternehmensgruppe gegen die verbindlichen internen Datenschutzvorschriften; der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter ist nur dann teilweise oder vollständig von dieser Haftung befreit, wenn er nachweist, dass der Umstand, durch den der Schaden eingetreten ist, dem betreffenden Mitglied nicht zur Last gelegt werden kann;

66 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 241.

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DSGVO Art. 47 Verbindliche interne Datenschutzvorschriften g) die Art und Weise, wie die betroffenen Personen über die Bestimmungen der Artikel 13 und 14 hinaus über die verbindlichen internen Datenschutzvorschriften und insbesondere über die unter den Buchstaben d, e und f dieses Absatzes genannten Aspekte informiert werden; h) die Aufgaben jedes gemäß Artikel 37 benannten Datenschutzbeauftragten oder jeder anderen Person oder Einrichtung, die mit der Überwachung der Einhaltung der verbindlichen internen Datenschutzvorschriften in der Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, sowie mit der Überwachung der Schulungsmaßnahmen und dem Umgang mit Beschwerden befasst ist; i) die Beschwerdeverfahren; j) die innerhalb der Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, bestehenden Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung der verbindlichen internen Datenschutzvorschriften. Derartige Verfahren beinhalten Datenschutzüberprüfungen und Verfahren zur Gewährleistung von Abhilfemaßnahmen zum Schutz der Rechte der betroffenen Person. Die Ergebnisse derartiger Überprüfungen sollten der in Buchstabe h genannten Person oder Einrichtung sowie dem Verwaltungsrat des herrschenden Unternehmens einer Unternehmensgruppe oder der Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, mitgeteilt werden und sollten der zuständigen Aufsichtsbehörde auf Anfrage zur Verfügung gestellt werden; k) die Verfahren für die Meldung und Erfassung von Änderungen der Vorschriften und ihre Meldung an die Aufsichtsbehörde; l) die Verfahren für die Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde, die die Befolgung der Vorschriften durch sämtliche Mitglieder der Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, gewährleisten, insbesondere durch Offenlegung der Ergebnisse von Überprüfungen der unter Buchstabe j genannten Maßnahmen gegenüber der Aufsichtsbehörde; m) die Meldeverfahren zur Unterrichtung der zuständigen Aufsichtsbehörde über jegliche für ein Mitglied der Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben, in einem Drittland geltenden rechtlichen Bestimmungen, die sich nachteilig auf die Garantien auswirken könnten, die die verbindlichen internen Datenschutzvorschriften bieten, und n) geeignete Datenschutzschulungen für Personal mit ständigem oder regelmäßigem Zugang zu personenbezogenen Daten. (3) Die Kommission kann das Format und die Verfahren für den Informationsaustausch über verbindliche interne Datenschutzvorschriften im Sinne des vorliegenden Artikels zwischen Verantwortlichen, Auftragsverarbeitern und Aufsichtsbehörden festlegen. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem Prüfverfahren nach Artikel 93 Absatz 2 erlassen. I. Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1. Genehmigungsvoraussetzungen (Art. 47 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 a) Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen (Art. 47 Abs. 1 Buchst. a) . 3 b) Verbindlichkeit (Art. 47 Abs. 1 Buchst. a) . 6 c) Durchsetzbare Betroffenenrechte (Art. 47 Abs. 1 Buchst. b) . . . . . . . . . . 8 2. Obligatorischer Inhalt (Art. 47 Abs. 2) . . . . 9 a) Gruppenstruktur und Kontaktdaten (Art. 47 Abs. 2 Buchst. a) . . . . . . . . . 9 b) Beschreibung der Datenübermittlungen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. b) . . . . . . . . . 10 c) Interne und externe Rechtsverbindlichkeit (Art. 47 Abs. 2 Buchst. c) . . . . . . . . . . 11

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d) Anwendung der allgemeinen Datenschutzgrundsätze (Art. 47 Abs. 2 Buchst. d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Betroffenenrechte (Art. 47 Abs. 2 Buchst. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Haftungsübernahme für Verstöße von Konzernunternehmen in Drittstaaten (Art. 47 Abs. 2 Buchst. f) . . . . . . . . . . g) Information der Betroffenen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. g) . . . . . . . . . h) Aufgaben der internen Aufsicht (Art. 47 Abs. 2 Buchst. h) . . . . . . . . . i) Beschwerdeverfahren (Art. 47 Abs. 2 Buchst. i) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung (Art. 47 Abs. 2 Buchst. j) . . . . . . . . . . k) Meldung und Erfassung von Änderungen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. k) . . . . . . . . .

15 17 19 24 25 26 27 28

Verbindliche interne Datenschutzvorschriften l)

Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde (Art. 47 Abs. 2 Buchst. l) . . . . . 29 m) Meldung nachteiliger Bestimmungen an die Aufsichtsbehörde (Art. 47 Abs. 2 Buchst. m) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Rz. 5 Art. 47 DSGVO

n) Datenschutzschulungen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Informationsaustausch (Art. 47 Abs. 3) . . . . 34

Literatur: Behling/Abel, Praxishandbuch Datenschutz im Unternehmen, 2015; Forst, Verarbeitung personenbezogener Daten in der internationalen Unternehmensgruppe, Der Konzern 2012, 170; Franck, Das System der Betroffenenrechte nach der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), RDV 2016, 111; Grapentin, Haftung und anwendbares Recht im internationalen Datenverkehr, CR 2011, 102; Heil, Privacy Policies, Binding Corporate Rules (BCR) und verbindliche Unternehmensregelungen, DuD 2009, 228; Schröder, Verbindliche Unternehmensregelungen, DuD 2004, 462.

I. Zweck Art. 47 regelt die inhaltlichen Anforderungen an verbindliche interne Datenschutzvorschriften (BCR) sowie das Genehmigungsverfahren. BCR zählen nach Art. 46 Abs. 2 Buchst. b zu den geeigneten Garantien zur Herstellung eines angemessenen Datenschutzniveaus bei internationalen Datenübermittlungen (s. Art. 46 Rz. 6 ff.). Dieses Instrument war der 1995 erlassenen EU-Datenschutzrichtlinie noch fremd,1 es ist später auf Drängen der Wirtschaft von den europäischen Aufsichtsbehörden als alternative Möglichkeit zur Rechtfertigung von Drittstaatentransfers anerkannt worden.

1

Die inhaltlichen Anforderungen an BCR und die Grundsätze des Genehmigungs- und Anerkennungsverfahrens hat die Art.-29-Datenschutzgruppe in zahlreichen Working Papers entwickelt;2 Art. 47 übernimmt sie in wesentlichen Teilen, ohne in Inhalt und Tiefe darüber hinauszugehen. Die Working Papers sollten daher bei der Ausarbeitung von BCR stets herangezogen werden, zumal sie auch Anforderungen an die Unterfälle der BCR für Verantwortliche und der BCR für Auftragsverarbeiter definieren und insofern als Spezifizierung zu Art. 47 dienen. Da der Datenschutzausschuss nach Art. 70 Abs. 1 Buchst. i nun den offiziellen Auftrag hat, Leitlinien, Empfehlungen und bewährte Verfahren zur Konkretisierung der Kriterien des Art. 47 zu entwickeln, ist allerdings auch mit einer Überarbeitung und Weiterentwicklung der genannten Working Papers zu rechnen.

2

II. Norminhalt 1. Genehmigungsvoraussetzungen (Art. 47 Abs. 1) a) Unternehmensgruppe oder Gruppe von Unternehmen (Art. 47 Abs. 1 Buchst. a) Vorgesehen sind BCR zum einen für Unternehmensgruppen, d.h. eine Konzernmutter samt ihrer abhängigen Gesellschaften (Art. 4 Nr. 19), zum anderen für Gruppen von Unternehmen, die eine gemeinsame Wirtschaftstätigkeit ausüben.

3

Warum die DSGVO den Begriff „Unternehmensgruppen“ überhaupt definiert, um die BCR dann doch auch für andere „Gruppen von Unternehmen“ zu öffnen, erschließt sich nicht. Denn abgesehen von der Möglichkeit zur Bestellung eines gemeinsamen Datenschutzbeauftragten (Art. 37 Abs. 2) haben Unternehmensgruppen keine besonderen Rechte. Insb. verzichtet die DSGVO auf das von der Wirtschaft erhoffte „Konzernprivileg“.3

4

Unklar ist die vom Europäischen Rat eingefügte Erweiterung auf Gruppen von Unternehmen mit gemeinsamer Wirtschaftstätigkeit. Offenbar wird damit für BCR nicht vorausgesetzt, dass die beteiligten Unternehmen in einem gesellschaftlichen Beherrschungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnis stehen. Fraglich ist aber, ob auch lose Kooperation genügen. Da insb. für branchengleiche Unternehmen be-

5

1 Vgl. Forst, Der Konzern 2012, 170, 175. 2 S. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, 102, 107, 108, 133, 154, 155, 195, 204 und 212. 3 Zu den zwischenzeitlichen Erwägungen des deutschen Gesetzgebers, ein solches einzuführen, vgl. Forst, Der Konzern 2012, 170, 171 Fn. 15.

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DSGVO Art. 47 Rz. 5 Verbindliche interne Datenschutzvorschriften reits die Möglichkeit besteht, Verhaltensregeln nach Art. 40 einzuführen, die ebenfalls eine Übermittlung in Drittländer ermöglichen (Art. 46 Abs. 2 Buchst. e), sind die Anforderungen an die „gemeinsame Wirtschaftstätigkeit“ nicht zu niedrig anzusetzen.4 b) Verbindlichkeit (Art. 47 Abs. 1 Buchst. a) 6

Die BCR müssen nach Abs. 1 Buchst. a für die an den Datentransfers beteiligten Unternehmen verbindlich sein (s. auch Abs. 2 Buchst. c und dazu Rz. 11).5

7

Art. 47 enthält allerdings kein ausdrückliches Formerfordernis für BCR. Daher wird vertreten, dass grundsätzlich auch ein konkludenter Beitritt der Gruppenunternehmen erlaubt ist.6 Anders als im Fall der Standarddatenschutzklauseln (s. Art. 46 Rz. 40 ff.) wäre danach eine schriftliche Vereinbarung durch die beteiligten Unternehmen nicht erforderlich. Eine Genehmigung wird jedoch nur erfolgen, wenn die Verbindlichkeit für alle beteiligten Unternehmen(-steile) überzeugend dargelegt werden kann. Der klarste Nachweis hierfür ist ein mehrseitiger schriftlicher Vertrag.7 Auch mit Blick auf die Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 2) ist eine schriftliche Fixierung des Vertrags bzw. der Beitrittserklärungen unbedingt zu empfehlen. c) Durchsetzbare Betroffenenrechte (Art. 47 Abs. 1 Buchst. b)

8

Über die interne Verbindlichkeit hinaus müssen BCR Wirkung zugunsten der Betroffenen als Drittbegünstigte entfalten („externe Rechtsverbindlichkeit“).8 Die DSGVO lässt offen, wie dies zu gewährleisten ist, es muss jedoch im Ergebnis für die Betroffenen die Möglichkeit bestehen, ihre Rechte klageweise oder zumindest durch Beschwerde ggü. der Aufsichtsbehörde geltend zu machen (vgl. Abs. 2 Buchst. e).9 2. Obligatorischer Inhalt (Art. 47 Abs. 2) a) Gruppenstruktur und Kontaktdaten (Art. 47 Abs. 2 Buchst. a)

9

Die BCR müssen die Struktur der Gruppe beschreiben. Zudem sind sämtliche ihrer Mitglieder zu nennen, wobei diese Aufzählung dem Wortlaut nach nicht beschränkt ist auf die „betreffenden“ Mitglieder, also die am Datenaustausch und den BCR teilnehmenden Unternehmen, sondern ausdrücklich jedes Mitglied der Gruppe umfassen soll (vgl. dagegen Abs. 1 Buchst. a). b) Beschreibung der Datenübermittlungen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. b)

10

Der Anwendungsbereich der BCR muss auch hinsichtlich der betroffenen Datenübermittlungen klar beschrieben sein. Buchst. b nennt als jedenfalls anzugebende Details die Art der Daten, Art und Zweck der Verarbeitung, Kategorien betroffener Personen und die Drittstaaten, in welche übermittelt wird. Die Angaben müssen hinreichend ausführlich sein, um den Datenschutzbehörden die Beurteilung zu ermöglichen, ob die in Drittländern durchgeführten Verarbeitungen angemessen sind.10 Früher haben die Mitgliedstaaten eine Orientierung an den im Rahmen der Meldepflicht nach Art. 18 Abs. 2 DSRL zu machenden Angaben empfohlen. Unter der DSGVO ist zu empfehlen, die im Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten nach Art. 30 Abs. 1 ohnehin vorzuhaltenden Informationen als Leitlinie zu nehmen.

4 5 6 7 8 9 10

Ähnlich Kühling/Buchner/Schröder, Art. 47 DSGVO Rz. 13. Hierzu im Einzelnen Schröder, DuD 2004, 462 ff. Näher Forst, Der Konzern 2012, 170, 180; skeptisch Heil, DuD 2009, 228, 230. Behling/Abel/Filip, Kap. 5 Rz. 141; Grapentin, CR 2011, 102, 104 m.w.N.; Schröder, DuD 2004, 462, 467. Dazu Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 11 f. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 204, Ziff. 2.3.3, S. 10 f. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 15.

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Verbindliche interne Datenschutzvorschriften

Rz. 16 Art. 47 DSGVO

c) Interne und externe Rechtsverbindlichkeit (Art. 47 Abs. 2 Buchst. c) Die Merkmale der internen und externen Rechtsverbindlichkeit werden schon in Abs. 1 Buchst. a und b vorausgesetzt (s. Rz. 6 und 8).

11

Die interne Rechtsverbindlichkeit kann durch alle nach dem jeweils anwendbaren Recht gültigen Mechanismen des Vertragsschlusses erreicht werden. Neben einer mehrseitigen Vereinbarung kommt hierzu auch die einseitige Vorgabe einer Konzernrichtlinie nebst Beitrittserklärungen der Konzerngesellschaften in Betracht. Voraussetzung ist die Wirksamkeit solcher einseitiger Erklärungen nach dem jeweiligen Recht, insb. auch extern (dazu Rz. 14). Diese ist nicht in allen Rechtsordnungen des EWR gegeben;11 das anwendbare Recht sollte daher in den BCR explizit benannt werden.12 Zur Form der BCR s. Rz. 7.

12

Die Aufsichtsbehörden fordern, bei der Beurteilung der internen Verbindlichkeit neben der rechtlichen auch die praktische Verbindlichkeit zu berücksichtigen.13 Danach ist zu gewährleisten, dass sich sämtliche Unternehmensteile und alle Mitarbeiter gezwungen fühlen, die BCR einzuhalten. Ggü. den Mitarbeitern kann dies durch Schulungen und durch Disziplinarmaßnahmen bei Verstößen befördert werden. Im Verhältnis der teilnehmenden Unternehmen(-steile) bietet es sich an, sofern die Konzernzentrale nicht in der EU ansässig ist, die Aufsicht über die Einhaltung der BCR an die EUZentrale oder einen sonstigen dort ansässigen Unternehmensteil zu delegieren.14 Nach der Erwartung der Aufsichtsbehörden können BCR dann gegen die anderen Unternehmensteile ggf. nach dem internationalen Gesellschaftsrecht durchgesetzt werden.15

13

Die BCR müssen ferner eine verbindliche Haftungs- und Verantwortungsübernahme ggü. den betroffenen Personen beinhalten (externe Rechtsverbindlichkeit). S. hierzu auch Buchst. e (Rz. 17).

14

d) Anwendung der allgemeinen Datenschutzgrundsätze (Art. 47 Abs. 2 Buchst. d) BCR müssen ein verbindliches Bekenntnis zur Befolgung der allgemeinen Grundsätze der DSGVO enthalten. Abs. 2 Buchst. d greift einige dieser Grundsätze besonders heraus, so dass zumindest diese ausdrücklich in den BCR genannt und soweit möglich auch konkretisiert werden sollten. Dies sind die Grundsätze aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, c, d (hierauf bezieht sich offenbar der sonst nicht in der Verordnung verwendete Begriff „Datenqualität“),16 Art. 25, Art. 6, Art. 9, Art. 32 sowie die Anforderungen an die Weiterübermittlung, die sich in Art. 6 und Art. 9 sowie – ergänzend bei Transfers in Drittstaaten – in Kapitel V der DSGVO finden. Die Aufzählung ist indes nicht abschließend. Es ist ratsam, sich daneben weiter an den einschlägigen Arbeitspapieren der Art.-29-Gruppe zu orientieren. Danach sollten u.a. auch die Grundsätze der Transparenz und der Kontrolle von Auftragsverarbeitern geregelt werden.17

15

Im Genehmigungsverfahren ist eine bloße Wiederholung der Grundsätze oder ein Verweis auf die Vorschriften der DSGVO allerdings nicht ausreichend. Die Aufsichtsbehörden verlangen vielmehr eine Darlegung, wie die Grundsätze in der Praxis umgesetzt werden. Soweit die BCR nicht selbst eine entsprechende Konkretisierung enthalten, kann diese unter Umständen auch durch begleitende Richtlinien, Vertragsmuster und Betroffeneninformationen dargelegt werden.18

16

11 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 12; WP 108, S. 3; WP 153, S. 6. 12 Dazu Behling/Abel/Filip, Kap. 5 Rz. 146 (skeptisch mit Blick auf die externe Rechtsverbindlichkeit einseitiger Erklärungen). 13 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 10. 14 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 11. 15 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 11, Fn. 10; dazu Behling/Abel/Filip, Kap. 5 Rz. 137. 16 Vgl. andererseits die Überschrift zu Kapitel II Abschnitt I der DSRL, wonach sämtliche dort genannten Grundsätze die „Qualität der Daten“ betreffen. 17 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 108, Nr. 8, 153, Nr. 6.1, WP 154, Nr. 3-12. 18 Dazu Behling/Abel/Filip, Kap. 5 Rz. 172 ff.

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DSGVO Art. 47 Rz. 17 Verbindliche interne Datenschutzvorschriften e) Betroffenenrechte (Art. 47 Abs. 2 Buchst. e) 17

Wesentlicher Bestandteil der BCR ist die Einräumung wirksamer Betroffenenrechte, wie sie in Kapitel III der Verordnung geregelt sind.19 Die gesonderte Hervorhebung des Rechts, nicht Entscheidungen unterworfen zu werden, die auf automatisierter Verarbeitung einschließlich Profiling beruhen (vgl. Art. 22), zeigt die erhebliche Gefährdung der individuellen Freiheit durch diese im Zuge von Ubiquitous Computing und Big Data weiter zunehmenden Verarbeitungsformen (s. dazu ErwGr. 71 und 72).

18

Die Betroffenenrechten sollen für die Rechtsinhaber durch Anrufung der zuständigen Datenschutzbehörde oder des zuständigen Gerichts im EWR durchsetzbar sein.20 Der Verweis auf Art. 79 ist in Bezug auf das Recht zur Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde ein Redaktionsversehen; dieses findet sich in Art. 77. f) Haftungsübernahme für Verstöße von Konzernunternehmen in Drittstaaten (Art. 47 Abs. 2 Buchst. f)

19

In den BCR muss ein in der EU ansässiges Unternehmen die Haftung für Verstöße gegen die BCR durch sämtliche außerhalb der EU belegenen Konzerngesellschaften übernehmen. Gemeint ist die zivilrechtliche Haftung ggü. den Betroffenen. Soweit eine solche Haftung für Fremdverschulden sich nicht bereits aus dem Gesetz ergibt (vgl. Art. 83 Abs. 2 und Abs. 3), muss sie durch die BCR erst begründet werden, im Sinne eines echten Vertrags zugunsten Dritter.21

20

Nach einer Ansicht lässt Art. 47 eine Haftungskonzentration bei einer beliebigen in der EU ansässigen Konzerngesellschaft zu. Danach gelten die vor der DSGVO von den Aufsichtsbehörden entwickelten Grundsätze für die Gestaltung von BCR auch insoweit weiter. Eine Haftungskonzentration wäre danach zulässig, bei dem Antrag auf Genehmigung der BCR wäre die finanzielle Leistungsfähigkeit der betreffenden Gesellschaft nachzuweisen.22

21

Gegen diese Auffassung spricht jedoch der Wortlaut von Art. 47 Abs. 2 Buchst. f. Danach steht es der Unternehmensgruppe nicht frei, zu bestimmen, welche EU-Gesellschaft die Haftung übernimmt. Vielmehr verlangt Buchst. f die Haftungsübernahme durch den in einem Mitgliedstaat niedergelassenen „Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter“. Gemeint sein kann damit nur der (jeweilige) Datenexporteur.23 Denn die Eigenschaft als Verantwortlicher oder Auftragsverarbeiter setzt per definitionem die Beteiligung an einem bestimmten Verarbeitungsvorgang voraus (Art. 4 Nr. 7 und 8). Nach Sinn und Zweck kommt dabei im Kontext von Art. 46 und 47 nur die Beteiligung an der Datenübermittlung in ein Drittland infrage. Bis auf Weiteres ist also davon auszugehen, dass der jeweilige Datenexporteur in den BCR die Haftung übernehmen muss. Eine Klärung, ob auch andere Haftungsmodelle von den Aufsichtsbehörden akzeptiert werden, ist von den künftigen Stellungnahmen des Datenschutzausschusses zu erwarten (Art. 70 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i).

22

Es wird vertreten, dass die Haftungsübernahme nach Art. 47 auf den Transfer von Daten aus der EU beschränkt werden kann.24 Dem ist zuzustimmen, soweit die Haftung jedes Datenexporteurs auf die Exportvorgänge beschränkt wird, an denen er beteiligt ist. Da Art. 47 aber explizit von Verstößen durch die Unternehmen in den Drittländern spricht, müssen die Datenexporteure nach Sinn und Zweck der Regelung zumindest auch die Haftung für den an den Transfer anschließenden Datenumgang durch die Datenimporteure und weitere beteiligte Gruppenunternehmen übernehmen.

23

Die Pflicht zur Haftungsübernahme wird zum Teil kritisiert;25 je nach den Größenverhältnissen der Gesellschaften kann es naturgemäß zu Schieflagen kommen, die ggf. durch konzerninterne Regress-

19 20 21 22

Näher zu den Betroffenenrechten Franck, RDV 2016, 111 ff. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 11 ff. und WP 204, Ziff. 2.3.3, S. 10 f. Vgl. Kühling/Buchner/Schröder, Art. 47 DSGVO Rz. 42. Kühling/Buchner/Schröder, Art. 47 DSGVO Rz. 43; Paal/Pauly/Pauly, Art. 47 DSGVO Rz. 24; BeckOK DatenSR/Lange/Filip, Art. 47 DSGVO Rz. 44, jeweils unter Berufung auf Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, Nr. 5.5.2. 23 Gola/Klug, Art. 47 DSGVO Rz. 5. 24 Paal/Pauly/Pauly, Art. 47 DSGVO (1. Aufl.) Rz. 24. 25 Vgl. zur Rechtslage vor der DSGVO Götz, DuD 2013, 631, 635.

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Verbindliche interne Datenschutzvorschriften

Rz. 29 Art. 47 DSGVO

regelungen abgefangen werden müssen. Buchst. f lässt aber eine Exkulpation in Form des Nachweises zu, dass die handelnde im Drittland den Verstoß nicht verschuldet hat. g) Information der Betroffenen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. g) Zur Sicherstellung angemessener Transparenz müssen BCR zudem regeln, dass und wie die betroffenen Personen über die allgemeinen Informationspflichten (Art. 13 und 14) hinaus über die BCR und ihren Inhalt informiert werden. Hierzu sollte den Betroffenen neben Hinweisen auf die Betroffenenrechte ein einfacher Zugang zu den BCR und der jeweils aktuellen Liste der daran gebundenen Gesellschaften eingeräumt werden.26

24

h) Aufgaben der internen Aufsicht (Art. 47 Abs. 2 Buchst. h) BCR müssen eine interne Kontrollinstanz etablieren (s. Buchst. j) und deren Aufgaben regeln. Dazu zählt auch die Überwachung von Schulungen und die Bearbeitung von Beschwerden (s. Buchst. i).

25

i) Beschwerdeverfahren (Art. 47 Abs. 2 Buchst. i) Die zu regelnde Handhabung von Beschwerden setzt eine entsprechende Unabhängigkeit der damit befassten Stelle – z.B. des Datenschutzbeauftragten oder der Beschwerdeabteilung – voraus. Dabei können auch alternative Streitbeilegungsmethoden wie Mediation, Schlichtung und Schiedsverfahren einbezogen werden, soweit das jeweilige Recht diese vorsieht.27

26

j) Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung (Art. 47 Abs. 2 Buchst. j) Zur Gewährleistung der Effektivität der BCR sind regelmäßige Audits vorzusehen. Diese können als Eigenaudit oder durch externe Auditoren durchgeführt werden.28 Die Ergebnisse sind der Kontrollinstanz gem. Buchst. h, der Konzernleitung sowie auf Anfrage der zuständigen Aufsichtsbehörde zugänglich zu machen.

27

k) Meldung und Erfassung von Änderungen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. k) Angesichts möglicher Wechsel in der Zusammensetzung der Gruppe und erforderlicher Anpassungen an geänderte Arbeitsverfahren sind Änderungen von BCR in der Praxis über kurz oder lang unvermeidbar. Signifikante inhaltliche Änderungen können allerdings eine erneute Genehmigungspflicht auslösen.29 Daher gehört zum obligatorischen Inhalt der BCR ein Verfahren zur Erfassung der Änderungen und zur Meldung an die zuständige Aufsichtsbehörde. Nach den Vorgaben der Aufsichtsbehörden kann für nicht signifikante Änderungen eine jährliche Meldung angemessen sein.30

28

l) Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde (Art. 47 Abs. 2 Buchst. l) Die Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde ist eines der wichtigsten Merkmale von 29 BCR. Als ein auf Selbstkontrolle basierendes System können sie nur dann wirksam sein, wenn eine nachgelagerte Überwachung durch die Behörden gewährleistet ist, die wiederum als Anlaufstelle der Betroffenen dienen.31 Eine Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden empfiehlt sich auch, weil mangelnde Kooperation und das Abweichen von Stellungnahmen der Aufsichtsbehörden ggf. die Grundlage der Genehmigung der BCR infrage stellen und im äußersten Fall deren Widerruf begründen kann. Die in Buchst. l genannte Offenlegung von Auditergebnissen ggü. Behörden darf allerdings ausweislich von Buchst. j auf eine Offenlegung auf Anfrage beschränkt werden. 26 27 28 29 30 31

Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 20. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 17. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 16 f. Im Einzelnen Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 16. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 16. Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, 17 f.

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DSGVO Art. 47 Rz. 30 Verbindliche interne Datenschutzvorschriften m) Meldung nachteiliger Bestimmungen an die Aufsichtsbehörde (Art. 47 Abs. 2 Buchst. m) 30

Das Recht der Drittländer kann Bestimmungen enthalten, die die dort ansässigen Gesellschaften an der Einhaltung der BCR hindern oder deren Schutzwirkung beeinträchtigen. Da die Aufsichtsbehörde dies bei der Beurteilung der Angemessenheit der BCR im Genehmigungsverfahren und im Rahmen der anschließenden Überwachung berücksichtigen muss, ist gem. Buchst. m ein Meldeverfahren für solche nachteiligen Bestimmungen zu etablieren. Dieses kann etwa die Meldung an die in der EU belegenen Unternehmensteile und die Weiterleitung an die Aufsichtsbehörden vorsehen.32

31

Problematisch sind die Fälle, in denen eine solche Meldung den im Drittland ansässigen Gesellschaften nach dem dortigen Recht untersagt ist, z.B. durch eine im common law geläufige „gag order“ (d.h. eine Anordnung, einen Sachverhalt geheimzuhalten; typischerweise werden Informationsanforderungen von Sicherheitsbehörden von gag orders begleitet).33 In Stellungnahmen vor dem Inkrafttreten der DSGVO haben die Aufsichtsbehörden es genügen lassen, wenn diese Fälle von dem in den BCR vorgesehenen Meldeverfahren ausgenommen waren.34 Damit wurde die für die Unternehmen in den Drittstaaten kaum auflösbare Pflichtenkollision zwischen dem Recht des Drittstaats und dem EU-Datenschutzrecht zugunsten der Rechtssicherheit, aber zulasten der betroffenen Personen hingenommen. Angesichts der in Art. 48 enthaltenen Abwehrklausel gegen Urteile und Verwaltungsentscheidungen von Drittstaaten, die mit der DSGVO unvereinbar sind, ist aber zweifelhaft, ob diese pragmatische Position von den Aufsichtsbehörden auch unter der DSGVO fortgesetzt wird.

32

DieAufsichtsbehörden müssen bei der Beurteilung, ob die nachteiligen Bestimmungen des Drittlandes die Schutzwirkung der BCR maßgeblich beeinträchtigen, u.a. berücksichtigen, ob die Bestimmungen auf einer in demokratischen Gesellschaften notwendigen und verhältnismäßigen Beschränkung der Grundrechte der Betroffenen beruhen, die eines der in Art. 23 Abs. 1 genannten Ziele verfolgt (s. auch Art. 6 Abs. 4 und ErwGr. 19, 50, 56 und 73). In diesem Fall ist davon auszugehen, dass die Bestimmungen einer Genehmigung der BCR und der Übermittlung in das betreffende Drittland nicht entgegenstehen.35 n) Datenschutzschulungen (Art. 47 Abs. 2 Buchst. n)

33

Schließlich müssen BCR sicherstellen, dass die danach einzuhaltenden Grundsätze bekannt sind, verstanden werden und von sämtlichen am Umgang mit personenbezogenen Daten beteiligten Mitarbeitern eingehalten werden. Hierzu sind diese zu schulen und ihnen sind die notwendigen Informationen jederzeit zur Verfügung zu stellen, z.B. im Intranet.36 3. Informationsaustausch (Art. 47 Abs. 3)

34

Im Sinne der Rechtssicherheit kann die Kommission Vorgaben zum Informationsaustausch zwischen den Unternehmen und den Aufsichtsbehörden machen. Dies betrifft u.a. die Meldeverfahren nach Abs. 2 Buchst. k und Buchst. m sowie die Zusammenarbeit nach Buchst. l.

32 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 13 f. 33 S. etwa Sec. 215 US Patriot Act und dazu Spies, ZD Aktuell 2012, 03062. Zu einer gag order ggü. Facebook Inc. s. Schrems, Update zur Beschwerde gegen Facebook Ireland Ltd., 1.12.2015, S. 9 Ziffer B.5.a.(1), ,http:// www.europe-v-facebook.org/comp_fb_ie.pdf.. 34 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 13 f. 35 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 14. 36 Vgl. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 74, S. 16.

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Nach dem Unionsrecht nicht zulässige Übermittlung oder Offenlegung

Rz. 5 Art. 48 DSGVO

Art. 48 Nach dem Unionsrecht nicht zulässige Übermittlung oder Offenlegung Jegliches Urteil eines Gerichts eines Drittlands und jegliche Entscheidung einer Verwaltungsbehörde eines Drittlands, mit denen von einem Verantwortlichen oder einem Auftragsverarbeiter die Übermittlung oder Offenlegung personenbezogener Daten verlangt wird, dürfen unbeschadet anderer Gründe für die Übermittlung gemäß diesem Kapitel jedenfalls nur dann anerkannt oder vollstreckbar werden, wenn sie auf eine in Kraft befindliche internationale Übereinkunft wie etwa ein Rechtshilfeabkommen zwischen dem ersuchenden Drittland und der Union oder einem Mitgliedstaat gestützt sind. I. Allgemeines – Zweck . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ersuchen um Offenlegung oder Übermittlung von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

2. Urteil oder Entscheidung eines Drittlands . . . 3. Anerkennung oder Vollstreckung . . . . . . . . 4. Internationale Übereinkunft . . . . . . . . . . .

4 5 8

3

I. Allgemeines – Zweck Art. 48 besagt im Grunde Selbstverständliches, nämlich dass Entscheidungen aus Drittländern vor- 1 behaltlich einer besonderen Umsetzung oder Anerkennung durch die Staaten des EWR dort keine Wirkung haben. Die Regelung ist allerdings von politischer Brisanz, da sie erkennbar eine Folge der NSA-Spionageaffäre darstellt und ein Zeichen gegen die Zugriffsbefugnisse von US-amerikanischen Behörden auf Daten über Personen im EWR setzt. Diese sog. Anti-FISA-Klausel hatte die EU-Kommission infolge US-amerikanischer Lobbyarbeit vor der Veröffentlichung des ersten DSGVO-Entwurfs gestrichen, was jedoch später enthüllt wurde. Das EU-Parlament hat die Klausel wieder eingefügt und ihren Verbleib in der DSGVO im Trilog durchgesetzt.1 Systematisch ergänzt wird die Vorschrift durch Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 Buchst. a, wonach 2 Auftragsverarbeiter von den Weisungen des Verantwortlichen nur abweichen dürfen, sofern sie durch das Recht der Union oder eines Mitgliedstaats – nicht aber durch das Recht eines Drittlands – hierzu verpflichtet sind.

II. Norminhalt 1. Ersuchen um Offenlegung oder Übermittlung von Daten Art. 48 zielt auf die Anforderung von Daten, die bei Auftragsverarbeitern oder Verantwortlichen vorhanden sind.

3

2. Urteil oder Entscheidung eines Drittlands Der Begriff „Urteil“ ist autonom auszulegen und umfasst auch solche hoheitlichen Handlungsformen eines Gerichts, die nach deutschem Recht z.B. als Beschluss bezeichnet werden. Art. 48 behandelt Gerichtsurteile und Verwaltungsentscheidungen unterschiedslos, erfasst sind damit sämtliche Hoheitsakte eines Drittlandes.2

4

3. Anerkennung oder Vollstreckung Die nach Art. 48 nicht zulässige Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung des Drittlands bezeichnet zunächst die im innerstaatlichen Verfahrensrecht geregelte Anerkennung und – als Voraus1 Dazu auch Paal/Pauly/Pauly, Art. 48 DSGVO Rz. 2. 2 Kühling/Buchner/Schröder, Art. 48 DSGVO Rz. 13.

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DSGVO Art. 48 Rz. 5 Nach dem Unionsrecht nicht zulässige Übermittlung oder Offenlegung setzung der Vollstreckung – die Vollstreckbarerklärung (s. etwa für Zivilurteile und funktionsgleiche Behördenentscheidungen § 328 ZPO und §§ 722 f. ZPO); insofern verbietet Art. 48 die formelle Erstreckung der Wirkungen des Drittlandsakts in das innerstaatliche Recht. 6

Darüber hinaus wird man Art. 48 aber eine weitergehende Wirkung beilegen müssen, im Sinne einer Klarstellung, dass die nicht formell anerkannten Gerichts- und Behördenentscheidungen aus Drittstaaten im Regelfall auch nicht indirekt – etwa durch Berücksichtigung bei der Auslegung offener Rechtsbegriffe – die Rechtmäßigkeit der Übermittlung personenbezogener Daten nach der DSGVO beeinflussen sollen.

7

Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Frage, inwieweit die Herausgabe von Daten an den Verfahrensgegner im Rahmen der im US-amerikanischen Zivilprozessrecht vorgesehenen sog. Pre-Trial Discovery – bei elektronischen Dokumenten auch eDiscovery – zulässig ist.3 Nach Ansicht der Aufsichtsbehörden stellt die Informationsanforderung durch die (private) Partei eines US-Zivilprozesses kein Rechtshilfeersuchen gem. den zwischenstaatlichen Vereinbarungen mit den USA dar und ist damit keine Grundlage zur Übermittlung personenbezogener Daten.4 Demzufolge scheidet auch eine Anerkennung gem. Art. 48 aus, solange das Herausgabeverlangen der privaten Prozesspartei nicht durch eine Anordnung des US-Gerichts bekräftigt wird.5 Die Zulässigkeit der Übermittlung richtet sich bei dem bloß privaten Herausgabeanspruch nach Art. 49 Abs. 1 Buchst. e (s. Art. 49 Rz. 17). 4. Internationale Übereinkunft

8

Die Anerkennung oder Vollstreckung des fremden Hoheitsakts setzt zwingend eine internationale Übereinkunft voraus, insb. ein Rechtshilfeabkommen. Ein wichtiger Fall ist das Haager Übereinkommen über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Handelssachen.6

Art. 49 Ausnahmen für bestimmte Fälle (1) Falls weder ein Angemessenheitsbeschluss nach Artikel 45 Absatz 3 vorliegt noch geeignete Garantien nach Artikel 46, einschließlich verbindlicher interner Datenschutzvorschriften, bestehen, ist eine Übermittlung oder eine Reihe von Übermittlungen personenbezogener Daten an ein Drittland oder an eine internationale Organisation nur unter einer der folgenden Bedingungen zulässig: a) die betroffene Person hat in die vorgeschlagene Datenübermittlung ausdrücklich eingewilligt, nachdem sie über die für sie bestehenden möglichen Risiken derartiger Datenübermittlungen ohne Vorliegen eines Angemessenheitsbeschlusses und ohne geeignete Garantien unterrichtet wurde, b) die Übermittlung ist für die Erfüllung eines Vertrags zwischen der betroffenen Person und dem Verantwortlichen oder zur Durchführung von vorvertraglichen Maßnahmen auf Antrag der betroffenen Person erforderlich, c) die Übermittlung ist zum Abschluss oder zur Erfüllung eines im Interesse der betroffenen Person von dem Verantwortlichen mit einer anderen natürlichen oder juristischen Person geschlossenen Vertrags erforderlich, d) die Übermittlung ist aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses notwendig, e) die Übermittlung ist zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen erforderlich, 3 S. hierzu Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 158. 4 BlnBDI, Jahresbericht 2007, S. 190 f. unter Berufung auf eine entsprechende Auskunft des BMJ; im Ergebnis wohl zustimmend Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 158, S. 15 aufgrund des deutschen Vorbehalts nach Art. 23 Haager Beweisübereinkommen. 5 So auch Kühling/Buchner/Schröder, Art. 48 DSGVO Rz. 13. 6 Übereinkommen vom 18.3.1970, s. BGBl. II 1977 Nr. 54, 1472 ff.

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Ausnahmen für bestimmte Fälle

Art. 49 DSGVO

f) die Übermittlung ist zum Schutz lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder anderer Personen erforderlich, sofern die betroffene Person aus physischen oder rechtlichen Gründen außerstande ist, ihre Einwilligung zu geben, g) die Übermittlung erfolgt aus einem Register, das gemäß dem Recht der Union oder der Mitgliedstaaten zur Information der Öffentlichkeit bestimmt ist und entweder der gesamten Öffentlichkeit oder allen Personen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen können, zur Einsichtnahme offensteht, aber nur soweit die im Recht der Union oder der Mitgliedstaaten festgelegten Voraussetzungen für die Einsichtnahme im Einzelfall gegeben sind. Falls die Übermittlung nicht auf eine Bestimmung der Artikel 45 oder 46 – einschließlich der verbindlichen internen Datenschutzvorschriften – gestützt werden könnte und keine der Ausnahmen für einen bestimmten Fall gemäß dem ersten Unterabsatz anwendbar ist, darf eine Übermittlung an ein Drittland oder eine internationale Organisation nur dann erfolgen, wenn die Übermittlung nicht wiederholt erfolgt, nur eine begrenzte Zahl von betroffenen Personen betrifft, für die Wahrung der zwingenden berechtigten Interessen des Verantwortlichen erforderlich ist, sofern die Interessen oder die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person nicht überwiegen, und der Verantwortliche alle Umstände der Datenübermittlung beurteilt und auf der Grundlage dieser Beurteilung geeignete Garantien in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten vorgesehen hat. Der Verantwortliche setzt die Aufsichtsbehörde von der Übermittlung in Kenntnis. Der Verantwortliche unterrichtet die betroffene Person über die Übermittlung und seine zwingenden berechtigten Interessen; dies erfolgt zusätzlich zu den der betroffenen Person nach den Artikeln 13 und 14 mitgeteilten Informationen. (2) Datenübermittlungen gemäß Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe g dürfen nicht die Gesamtheit oder ganze Kategorien der im Register enthaltenen personenbezogenen Daten umfassen. Wenn das Register der Einsichtnahme durch Personen mit berechtigtem Interesse dient, darf die Übermittlung nur auf Anfrage dieser Personen oder nur dann erfolgen, wenn diese Personen die Adressaten der Übermittlung sind. (3) Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstaben a, b und c und sowie Absatz 1 Unterabsatz 2 gelten nicht für Tätigkeiten, die Behörden in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse durchführen. (4) Das öffentliche Interesse im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe d muss im Unionsrecht oder im Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, anerkannt sein. (5) Liegt kein Angemessenheitsbeschluss vor, so können im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses ausdrücklich Beschränkungen der Übermittlung bestimmter Kategorien von personenbezogenen Daten an Drittländer oder internationale Organisationen vorgesehen werden. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission derartige Bestimmungen mit. (6) Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter erfasst die von ihm vorgenommene Beurteilung sowie die angemessenen Garantien im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 2 des vorliegenden Artikels in der Dokumentation gemäß Artikel 30. I. Allgemeines – Zweck . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausnahmetatbestände (Art. 49 Abs. 1) . . a) Einwilligung (Art. 49 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertrag mit der betroffenen Person (Art. 49 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3) . . . c) Vertrag im Interesse des Betroffenen (Art. 49 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 3) . . . d) Wichtiges öffentliches Interesse (Art. 49 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 4) . . .

. . . . . . . . .

1 3 3

. . .

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. . .

9

. . . 12 . . . 14

e) Ausübung und Verteidigung von Ansprüchen (Art. 49 Abs. 1 Buchst. e) . . . . . . . f) Lebenswichtige Interessen (Art. 49 Abs. 1 Buchst. f) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Übermittlung aus öffentlich zugänglichem Register (Art. 49 Abs. 1 Buchst. g, Abs. 2) . h) Zwingende Interessen des Verantwortlichen im Einzelfall (Art. 49 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 3 und Abs. 6) . . . . . . . . . . . 2. Gesetzliche Beschränkung internationaler Übermittlungen (Art. 49 Abs. 5) . . . . . . . .

15 18 19 21 25

Literatur: Becker/Nikolaeva, Das Dilemma der Cloud-Anbieter zwischen US Patriot Act und BDSG, CR 2012, 170; de Terwangne/Louveaux, Data Protection and Online Networks, MMR 1998, 451; Forst, Verarbeitung personenbezogener Daten in der internationalen Unternehmensgruppe, Der Konzern 2012, 170; Räther/Seitz, Übermittlung

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DSGVO Art. 49 Rz. 1 Ausnahmen für bestimmte Fälle personenbezogener Daten in Drittstaaten, MMR 2002, 425; Spies, Anmerkung zur Entscheidung des United States District Court Southern District of California vom 11.03.2013 (Civil No. 10-cv-1345-L (DHB)) – Zur Datenübermittlung in die USA zu Beweiszwecken (Discovery), ZD 2013, 272; Spies/Schröder, Auswirkungen der elektronischen Beweiserhebung (eDiscovery) in den USA auf deutsche Unternehmen, MMR 2008, 275; Voigt/Klein, Deutsches Datenschutzrecht als „blocking statute“?, ZD 2013, 16.

I. Allgemeines – Zweck 1

Art. 49 statuiert Ausnahmen, in denen eine Übermittlung in Drittstaaten auch ohne geeignete Garantien zulässig ist. In den in Abs. 1 aufgezählten Fällen haben die Betroffenen entweder über ihre personenbezogenen Daten freiwillig disponiert oder ihr Interesse an einem angemessenen Schutz dieser Daten muss wegen höherrangiger Interessen zurückstehen.

2

Wie das gesamte Kapitel V trifft auch Art. 49 nur eine Regelung für die zweite Prüfungsstufe, so dass die Übermittlung weiterhin auf der ersten Stufe an den allgemeinen Regeln zu messen ist (insb. Art. 6 bzw. 9). Da in allen Fällen des Art. 49 aber ein besonderes Interesse an der Übermittlung besteht, ist diese im Ergebnis jeweils auch auf der ersten Stufe zulässig.

II. Norminhalt 1. Ausnahmetatbestände (Art. 49 Abs. 1) 3

Der Katalog der Ausnahmeregelungen ist Art. 26 Abs. 1 der EU-Datenschutzrichtlinie entlehnt. Da die Ausnahmen eine Übermittlung in Drittstaaten ermöglichen, in denen die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ggf. nur eingeschränkt oder gar nicht geschützt sind, sind die Ausnahmen nach Ansicht der Aufsichtsbehörden eng auszulegen.1 Sie empfehlen verantwortlichen Stellen, nach Möglichkeit vorrangig ein angemessenes Datenschutzniveau beim Empfänger zu gewährleisten, z.B. durch vertragliche Garantien.2 Auch für Übermittlungen in internationalen Unternehmensgruppen sind die Tatbestände nur von begrenztem praktischen Nutzen, weil sie eine Einzelfallabwägung voraussetzen und insofern kaum Rechtssicherheit bieten.3 a) Einwilligung (Art. 49 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3)

4

Die Einwilligung des Betroffenen in die Drittlandsübermittlung folgt denselben Grundsätzen wie die allgemeine Einwilligung in die Datenverarbeitung gem. Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und Art. 7. Danach muss die Einwilligung freiwillig, in informierter Weise, für den konkreten Fall und unmissverständlich erfolgen (dazu Art. 6 Rz. 9 ff.).

5

Im Rahmen von Art. 49 Abs. 1 Buchst. a ist besonders das Kriterium der informierten Einwilligung zu beachten. Zunächst sind den Betroffenen die allgemeinen Angaben zur verantwortlichen Stelle, dem Übermittlungszweck, den betroffenen Daten, dem Empfänger und den dortigen Verarbeitungsvorgängen zur Verfügung zu stellen (dazu Art. 6 Rz. 15). Darüber hinaus ist auf den Empfangsort, die dort geltenden Verarbeitungsvoraussetzungen und das Risiko hinzuweisen, das aus dem Fehlen eines Angemessenheitsbeschlusses und geeigneter Garantien erwächst.4 Nach Ansicht der hessischen Aufsichtsbehörde sollte die verantwortliche Stelle den Hinweis erteilen, dass das Empfängerland kein der EU vergleichbares Datenschutzniveau gewährleistet; allerdings soll es zulässig sein, dies – soweit zutreffend – durch konkrete Angaben zur Verarbeitungssituation beim Empfänger zu relativieren.5 Ferner sollten – jedenfalls auf Verlangen des Betroffenen – die Folgen der Verweigerung einer Einwilligung benannt werden, soweit diese nicht offensichtlich sind (s. auch § 4a Abs. 1 Satz 2 BDSG 2009). 1 2 3 4

Vgl. zu Art. 26 DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 9; WP 12, S. 26. Vgl. zu Art. 26 DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 11. So zu Art. 26 DSRL zu Recht Forst, Der Konzern 2012, 170, 175. Vgl. zu DSRL und BDSG a.F. Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 14; Aufsichtsbehörde Hessen, 14. TB, LTDrucks. 15/2950, 25; de Terwangne/Louveaux, MMR 1998, 451, 457. 5 Aufsichtsbehörde Hessen, 14. TB, LT-Drucks. 15/2950, 25.

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Ausnahmen für bestimmte Fälle

Rz. 12 Art. 49 DSGVO

Sollen die übermittelten Daten nachträglich über die angegebenen Zwecke hinaus für andere Zwecke 6 verarbeitet werden, ist – soweit die Zweckänderung nicht nach Art. 6 Abs. 4 zulässig ist – eine erneute Einwilligung erforderlich. Daher sollten bei der Formulierung von Einwilligungen mögliche zukünftige Verarbeitungszwecke mitbedacht werden;6 allerdings darf die Grenze zur unzulässigen Vorratseinwilligung nicht überschritten werden. Um hinreichend bestimmt zu sein, muss sich die Einwilligung auf ein konkretes Verarbeitungsverfah- 7 ren beziehen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob einwilligungsbasierte Übermittlungen auch hinsichtlich des betroffenen Personenkreises und überhaupt hinsichtlich des Umfangs beschränkt sind. So hat die Konferenz der deutschen Datenschutzbeauftragten als Reaktion auf das Safe-Harbor-Urteil des EuGH in einem Positionspaper die Auffassung vertreten, dass Einwilligungen nur unter engen Bedingungen eine tragfähige Grundlage für einen Transfer seien und grundsätzlich keinen „wiederholten, massenhaften oder routinemäßigen“ Datentransfer rechtfertigen könnten.7 Diese Ansicht würde das Instrument der Einwilligung allerdings völlig entwerten. Sie fand weder damals noch heute eine Stütze im Gesetz, noch entspricht sie dem Gedanken der informationellen Selbstbestimmung, die gerade keine reine Abwehrposition beschreibt, sondern dem Individuum positiv auch das Recht auf eine selbstbestimmte Disposition über die auf sich bezogenen Daten zuschreibt. Vorzugswürdig ist daher die Auffassung, dass lediglich Pauschaleinwilligungen mangels Bestimmtheit ausgeschlossen sind, im Übrigen aber auch wiederholte, routinemäßige und massenhafte Transfers auf die Einwilligung der Betroffenen gestützt werden können. Dafür spricht nun auch Art. 49 Abs. 1 Satz 2, wonach die Kriterien der Wiederholung der Transfers und der Anzahl der Betroffenen erst dann relevant werden, wenn keine Einwilligung oder sonstige Ausnahme zur Rechtfertigung der Drittlandsübermittlung vorliegt. Nach Abs. 3 steht Behörden im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit das Mittel der Einwilligung zur Rechtfertigung von Transfers in Drittstaaten nicht zur Verfügung.

8

b) Vertrag mit der betroffenen Person (Art. 49 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3) Nach Buchst. b ist die Übermittlung zulässig, wenn ein Vertrag zwischen der betroffenen Person und 9 dem Verantwortlichen – also dem Datenexporteur – diese erfordert. Dasselbe gilt bei der Durchführung von vorvertraglichen Maßnahmen auf Veranlassung des Betroffenen (vgl. insoweit Art. 6 Abs. 1 Buchst. b). Typische Fälle sind die Buchung von Reiseleistungen8 und der Versendungskauf aus Drittstaaten.9 Entscheidend ist, dass gerade auch die Übermittlung in einen Drittstaat zur Vertragserfüllung erforderlich ist, d.h. keine Alternative besteht, den konkreten Vertrag ohne die Drittlandsübermittlung zu erfüllen bzw. vorzubereiten.10 Nach Ansicht der Aufsichtsbehörden besteht hinsichtlich dieser Erforderlichkeit innerhalb von Konzernverbünden kein organisatorischer Einschätzungsspielraum, so dass etwa die Übermittlung von Beschäftigtendaten in unsichere Drittstaaten im Rahmen der Zentralisierung von Konzernfunktionen nicht erforderlich i.S.v. Buchst. b ist.11

10

Nach Abs. 3 können sich Behörden im Rahmen öffentlich-rechtlicher Vertragsverhältnisse nicht auf 11 Buchst. b stützen. Als Ausgleich steht ihnen der Einsatz geeigneter Garantien gem. Art. 46 offen (insb. Abs. 2 Buchst. a oder Abs. 3 Buchst. b). c) Vertrag im Interesse des Betroffenen (Art. 49 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 3) Die Ausnahme ähnelt der in Buchst. b, jedoch ist die Grundlage hier ein Vertrag, der nicht mit der betroffenen Person selbst geschlossen wurde. Dies kann etwa ein Vertrag zugunsten der betroffenen 6 Vgl. zu DSRL und BDSG a.F. Räther/Seitz, MMR 2002, 425, 431. 7 Datenschutzkonferenz, Positionspapier zu Safe Harbor, Fassung vom 26.10.2015, Ziff. 9. Vgl. die ähnliche, aber deutlich zurückhaltendere Empfehlung der Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 11 und S. 13. 8 Vgl. zur DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 15; Kühling/Buchner/Schröder, Art. 49 DSGVO Rz. 18. 9 Gola/Klug, Art. 49 DSGVO Rz. 6. 10 Ähnlich Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Klein/Pieper, Art. 49 DSGVO Rz. 8 „das mildeste von mehreren gleich effektiven Mitteln“. 11 Vgl. zur DSRL Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 15.

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DSGVO Art. 49 Rz. 12 Ausnahmen für bestimmte Fälle Person als Drittem sein (§ 328 Abs. 1 BGB). Bezugspunkt für die Erforderlichkeit der Drittlandsübermittlung – und damit ggf. des Vertrages – ist hier das Interesse der betroffenen Person.12 Im Arbeitsverhältnis ist nach Ansicht der Art.-29-Datenschutzgruppe die Auslagerung von Funktionen wie Gehaltszahlung auf Dienstleister in Drittstaaten i.d.R. nicht erforderlich im Sinne dieser Regelung.13 13

Nach Abs. 3können sich Behörden im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit nicht auf Buchst. c berufen. Sie können dafür geeignete Garantien nach Art. 46 nutzen (insb. Abs. 2 Buchst. a oder Abs. 3 Buchst. b). d) Wichtiges öffentliches Interesse (Art. 49 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 4)

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Im Fall von Buchst. d besteht ein wichtiges öffentliches Interesse an der Datenübermittlung. Beispiele sind der Datenaustausch zwischen Wettbewerbs-, Steuer-, Zoll- oder Finanzbehörden, im Rahmen der Sozialsysteme, zur Förderung der öffentlichen Gesundheit und zur Dopingbekämpfung (s. ErwGr. 112 DSGVO und zuvor ErwGr. 58 DSRL). Zu berücksichtigen ist ein öffentliches Interesse jedoch nur, wenn es im EU-Recht oder in dem für den Verantwortlichen geltenden mitgliedstaatlichen Recht anerkannt ist (s. Abs. 4, der die Linie von Art. 48 konsequent fortführt). Auch deshalb wird der Tatbestand für Übermittlungen durch die Privatwirtschaft kaum eingreifen.14 e) Ausübung und Verteidigung von Ansprüchen (Art. 49 Abs. 1 Buchst. e)

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Buchst. e gestattet eine Übermittlung, die zur Ausübung, Geltendmachung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen erforderlich ist.

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Die Vorgängerregelung in DSRL und BDSG enthielt noch die Einschränkung auf Handlungen „vor Gericht“ (s. Art. 28 Abs. 1 Buchst. c DSRL und § 4c Abs. 1 Nr. 4 BDSG a.F.). Dass diese Worte in der DSGVO bewusst gestrichen wurden, erweitert den Tatbestand erheblich, da nunmehr kein Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren bestehen muss. Zudem gebietet der Wortlaut nicht, dass es um Ausübung, Geltendmachung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen des Verantwortlichen gehen muss. So hatte etwa schon unter der DSRL die bayerische Aufsichtsbehörde die enge Verbindung eines deutschen Unternehmens zu einer beklagten konzernangehörigen Gesellschaft im Drittland genügen lassen.15

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Bei der Pre-Trial Discovery (bei elektronischen Dokumenten eDiscovery) sind die Anordnungen der US-Gerichte auf Herausgabe von Unterlagen zwar grundsätzlich in Deutschland nicht wirksam (vgl. Art. 48 und dort Art. 48 Rz. 7), die Voraussetzungen von Buchst. e können aber durchaus erfüllt sein,16 wobei der Grundsatz der Erforderlichkeit zu beachten ist. Nach Ansicht der Aufsichtsbehörden soll ein zweistufiges Vorgehen zulässig sein, indem zunächst nur pseudonymisierte Daten übermittelt werden und erst im Bedarfsfalle eine personalisierte Übermittlung erfolgt;17 darüber hinaus können die Interessen der Betroffenen ggf. durch ein Treuhandverfahren geschützt werden.18 Auch bei dem zweistufigen Verfahren verbleibt allerdings ein Risiko für die übermittelnde Stelle, aufgrund der verzögerten Herausgabe der vollständigen Dokumente prozessuale Nachteile im US-Zivilprozess bis hin zum Prozessverlust zu erleiden.19 Denn die US-Gerichte wägen im Einzelfall ab, ob ausländische Gesetze, die einer Übermittlung von Daten im Rahmen der Discovery entgegenstehen (blocking statutes), zu ei12 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 16. 13 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 16; ähnlich Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Klein/Pieper, Art. 49 DSGVO Rz. 8 die grundsätzlich ein „Weniger“ des Erlaubten im Verhältnis zu Buchst. b aufgrund der nicht unmittelbaren Vertragsbeziehung erkennen. 14 Gola/Klug, Art. 49 DSGVO Rz. 8. 15 BayLDSA, TB 2009/2010, S. 70. 16 Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann/Klein/Pieper, Art. 49 DSGVO Rz. 15; ausführlich dazu Kühling/ Buchner/Schröder, Art. 49 DSGVO Rz. 27 ff. 17 BlnBDI, Jahresbericht 2006, S. 170 f.; BlnBDI, Jahresbericht 2007, S. 187 und 191 mit Verweis auf die Billigung durch den Düsseldorfer Kreis; BayLDA, TB 2009/2010, S. 70 f. 18 BlnBDI, Jahresbericht 2006, S. 171. Zu weiteren Schutzmaßnahmen auf Basis des US-Prozessrechts s. Spies/ Schröder, MMR 2008, 275, 280. 19 BlnBDI, Jahresbericht 2007, S. 187.

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Ausnahmen für bestimmte Fälle

Rz. 22 Art. 49 DSGVO

ner Einschränkung der prozessualen Herausgabepflicht führen;20 bei Datenschutzgesetzen stellen sie grundsätzlich infrage, ob diese als „blocking statutes“ anzusehen sind oder nicht vielmehr der Partei ein Datenschutzverstoß im Rahmen der Discovery per se zumutbar sei.21 f) Lebenswichtige Interessen (Art. 49 Abs. 1 Buchst. f) Buchst. f rechtfertigt die Übermittlung von Daten in medizinischen Notfällen und betrifft in aller Regel 18 das Zurverfügungstellen von Patientendaten für lebenswichtige Diagnosen.22 Gemeint sind akute Notfälle, bei denen eine Einwilligung vom Patienten nicht eingeholt werden kann,23 nicht hingegen die Überlassung zu Forschungszwecken, die ggf. in der Zukunft der Behandlung von Notfällen dienen.24 g) Übermittlung aus öffentlich zugänglichem Register (Art. 49 Abs. 1 Buchst. g, Abs. 2) Buchst. g erlaubt die Übermittlung von personenbezogenen Daten aus öffentlichen Registern wie 19 dem Handels- oder Vereinsregister, da die darin enthaltenen Angaben aufgrund ihrer allgemeinen Zugänglichkeit weniger schutzwürdig sind. Setzt die Einsicht in das Register ein berechtigtes Interesse voraus, wie dies beim Grundbuch der Fall ist, so muss die empfangende Stelle allerdings ein entsprechendes Interesse haben (Abs. 2 Satz 2). Die Übermittlung ist zudem auf die für den jeweiligen Zweck erforderlichen Registerabschnitte zu beschränken und dürfen nicht das gesamte Register oder ganze Kategorien daraus umfassen (Abs. 2 Satz 1; Art. 5 Abs. 1 Buchst. c).25 Die Vorschrift soll auch auf Register Anwendung finden, die nicht von Behörden geführt werden.26 20 Zum Teil wird sogar eine Erweiterung auf sämtliche allgemein zugängliche Quellen vertreten; eine hinreichende Interessenabwägung könne auf der Primärebene stattfinden.27 Für diese über den klaren Wortlaut hinausgehende Auslegung ist jedoch kein hinreichendes Bedürfnis ersichtlich. h) Zwingende Interessen des Verantwortlichen im Einzelfall (Art. 49 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 3 und Abs. 6) Während Abs. 1 Unterabs. 1 den schon aus der DSRL bekannten Ausnahmenkatalog fast unverändert übernimmt, führt Unterabs. 2 ergänzend einen Auffangtatbestand ein für den Fall, dass keine der Katalogausnahmen erfüllt ist. Dem Verantwortlichen bleibt dann noch, ein zwingendes berechtigtes Interesse an der Übermittlung nachzuweisen, welches die Interessen der betroffenen Personen überwiegt.

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Die Anforderungen sind allerdings sehr hoch.28 Zunächst wird ein zwingendes, also gleichsam unabweisbares Interesse verlangt. Des Weiteren muss ein Einzelfall vorliegen, d.h. keine wiederholte Übermittlung und nur eine solche, die lediglich „eine begrenzte Zahl“ von Personen betrifft. Ferner muss der Verantwortliche unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine Abwägung mit den Betroffeneninteressen vornehmen und bei positivem Ausgang gleichwohl noch geeignete Garantien zum Schutz der Betroffenen vorsehen. Gemeint sind damit nicht die Garantien nach Art. 46 Abs. 1 – da diese die Übermittlung auf der zweiten Prüfungsstufe rechtfertigen und damit Art. 49 nicht mehr zur Anwendung gelangt –, sondern Garantien nach Art. 46 Abs. 2. Während diese Garantien grundsätzlich nach Art. 46 Abs. 2 „vorbehaltlich einer Genehmigung“ eingesetzt werden, bedarf es im Fall von Art. 49 Abs. 1 Unterabs. 2 angesichts der zwingenden Interessen des Verantwortlichen keiner behördlichen Genehmigung; die Aufsichtsbehörde muss allerdings noch über die Übermittlung in

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20 Vgl. Spies/Schröder, MMR 2008, 275, 277; Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 158, S. 6.; Voigt/Klein, ZD 2013, 16, 20; Spies, ZD 2013, 272 f. 21 Becker/Nikolaeva, CR 2012, 170, 172 m.w.N.; vgl. aber BayLDSA, TB 2009/2010, S. 70. 22 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 18. 23 Taeger/Gabel/Gabel, 2. Aufl. 2013, § 4c BDSG Rz. 10. 24 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 114, S. 18. 25 S. auch ErwGr. 111 DSGVO und zuvor ErwGr. 58 DSRL. 26 Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, § 4c BDSG Rz. 8. 27 Plath/von dem Bussche, 1. Aufl. 2013, § 4c BDSG Rz. 17. 28 So auch Kühling/Buchner/Schröder, Art. 49 DSGVO Rz. 43.

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DSGVO Art. 49 Rz. 22 Ausnahmen für bestimmte Fälle Kenntnis gesetzt werden (Art. 49 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2). Schließlich muss der Verantwortliche die betroffenen Personen umfassend informieren und damit die Ausübung der Betroffenenrechte ermöglichen. 23

In konsequenter Umsetzung der Rechenschaftspflicht (Art. 5 Abs. 2) verpflichtet Abs. 6 den Verantwortlichen, die vorgenommene Beurteilung sämtlicher Umstände sowie die getroffenen geeigneten Garantien zu dokumentieren (s. auch Art. 30). Zugleich ist Abs. 6 ein frappantes Beispiel für die sprachlichen Ungenauigkeiten, die sich durch den Verordnungstext ziehen. Zum einen werden aus den geeigneten Garantien (Abs. 1 Unterabs. 2) ohne ersichtlichen Grund „angemessene“ Garantien (Abs. 6). Zum anderen – und wesentlich gravierender – führt Abs. 6 anders als Abs. 1 Unterabs. 2 gleichwertig neben dem Verantwortlichen auch den Auftragsverarbeiter auf. Zumindest die deutsche Formulierung („die von ihm vorgenommene Beurteilung“) legt dabei nahe, dass nicht bloß die Dokumentation, sondern auch die Abwägung nach Abs. 1 Unterabs. 2 auch durch den Auftragsverarbeiter vorgenommen werden kann und dieser damit quasi selbst verantwortlich übermittelt oder zumindest die Übermittlung auslöst. Das kann allerdings kaum richtig sein. Vielmehr wird man Abs. 6 korrigierend so auslegen müssen, dass der Auftragsverarbeiter die Erfüllung der Dokumentationspflicht übernehmen, aber nicht die Abwägungsentscheidung vornehmen kann. Dafür sprechen auch die anderen Sprachfassungen von Abs. 6.29

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Angesichts der hohen Anforderungen scheidet Abs. 1 Unterabs. 2 nicht nur als Grundlage für regelmäßige Übermittlungen, sondern überhaupt als rechtssichere Übermittlungsgrundlage aus. Verantwortliche sollten sich nur in extremen Ausnahmefällen darauf stützen, in denen sich die Zulässigkeit der Übermittlung aufgrund einer akuten Notsituation geradezu aufdrängt und/oder angesichts besonderer Dringlichkeit die Einholung einer vorherigen behördlichen Zustimmung nach Art. 46 Abs. 2 von vornherein ausscheidet. 2. Gesetzliche Beschränkung internationaler Übermittlungen (Art. 49 Abs. 5)

25

Die Mitgliedstaaten können Übermittlungen in Drittstaaten, für die kein Angemessenheitsbeschluss vorliegt, für bestimmte Kategorien von Daten – etwa sensible Daten gem. Art. 9 Abs. 1 – beschränken. Dies ist eines der zahlreichen Beispiele für die Öffnungsklauseln der DSGVO, welche das eigentlich mit der Verordnung angestrebte Ziel der Rechtsvereinheitlichung erheblich untergraben.

Art. 50 Internationale Zusammenarbeit zum Schutz personenbezogener Daten In Bezug auf Drittländer und internationale Organisationen treffen die Kommission und die Aufsichtsbehörden geeignete Maßnahmen zur a) Entwicklung von Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit, durch die die wirksame Durchsetzung von Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten erleichtert wird, b) gegenseitigen Leistung internationaler Amtshilfe bei der Durchsetzung von Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten, unter anderem durch Meldungen, Beschwerdeverweisungen, Amtshilfe bei Untersuchungen und Informationsaustausch, sofern geeignete Garantien für den Schutz personenbezogener Daten und anderer Grundrechte und Grundfreiheiten bestehen, c) Einbindung maßgeblicher Interessenträger in Diskussionen und Tätigkeiten, die zum Ausbau der internationalen Zusammenarbeit bei der Durchsetzung von Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten dienen,

29 So verweist etwa die englische Fassung von Art. 49 Abs. 6 schlicht auf „the assessment […] referred to in the second subparagraph of paragraph 1 of this Article“, also auf die Beurteilung durch den Verantwortlichen.

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Internationale Zusammenarbeit zum Schutz personenbezogener Daten

Rz. 5 Art. 50 DSGVO

d) Förderung des Austauschs und der Dokumentation von Rechtsvorschriften und Praktiken zum Schutz personenbezogener Daten einschließlich Zuständigkeitskonflikten mit Drittländern. I. Allgemeines – Zweck . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mechanismen internationaler Zusammenarbeit (Art. 50 Buchst. a) . . . . . . . . . . . . . 2. Internationale Amtshilfe (Art. 50 Buchst. b) .

3 3 5

3. Einbindung von Interessenträgern (Art. 50 Buchst. c) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Austausch und Dokumentation von Vorschriften und Praktiken (Art. 50 Buchst. d) . .

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I. Allgemeines – Zweck Art. 50 betraut die EU-Kommission und die nationalen Aufsichtsbehörden mit der Weiterentwicklung der internationalen Zusammenarbeit im Bereich des Datenschutzes. Dies ist für die Effektivität der DSGVO von großer Bedeutung, da die Verordnung in erheblichem Maße Geltung auch für außerhalb der EU/EWR belegene Verarbeiter und dort stattfindende Verarbeitungsvorgänge beansprucht (s. Art. 3 Abs. 2). Dieser weite Geltungs- und Schutzanspruch kann angesichts der völkerrechtlichen Souveränität der Drittstaaten nur im Wege der internationalen Kooperation tatsächlich durchgesetzt werden.

1

Die Inhalte des Art. 50 gehen im Einzelnen zurück auf eine Empfehlung der OECD zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bei der Durchsetzung des Datenschutzrechts aus dem Jahr 2007.1

2

II. Norminhalt 1. Mechanismen internationaler Zusammenarbeit (Art. 50 Buchst. a) Zu den Mechanismen internationaler Zusammenarbeit zur Durchsetzung des Datenschutzrechts i.S.v. Buchst. a zählen z.B. die Aktivitäten von GPEN (Global Privacy Enforcement Network). Diese 2010 auf Anregung der OECD ins Leben gerufene Kooperation der Aufsichtsbehörden zahlreicher Staaten verfolgt einen umfassenden Aktionsplan zur Stärkung des Datenschutzes, der u.a. den Informationsaustausch, Schulungen und regelmäßige, international koordinierte Prüfaktionen („Privacy Sweep“) umfasst.

3

Ferner fallen unter Buchst. a Bestrebungen, die Betroffenenrechte bei Datenschutzverstößen inter- 4 national durchsetzbar zu machen, wie etwa durch den zwischen der Kommission und der US-Regierung im Zuge der Verhandlungen über den EU-U.S.-Privacy-Shield- ausgehandelten US Judicial Redress Act of 2015,2 der die Rechtsbehelfe des US Privacy Act auch Bürgern ausgewählter anderer Staaten zugänglich macht. 2. Internationale Amtshilfe (Art. 50 Buchst. b) Buchst. b fordert zu umfassender internationaler Amtshilfe im Bereich des Datenschutzes auf. Dabei 5 ist das ausdrücklich in Bezug genommene Prinzip der Gegenseitigkeit als Grundsatz und Leitmotiv des Völkergewohnheitsrechts insb. dort von Bedeutung, wo formelle Regelungen zur Amtshilfe fehlen. Die Aufforderung zu gegenseitiger Amtshilfe geht also nicht so weit, eine einseitige Vorleistung zu verlangen ggü. Staaten, die in vergleichbaren Situationen nicht kooperieren. Sie befördert aber die Zusammenarbeit im Rahmen von Abkommen und Absichtserklärungen (vgl. die OECD-Empfehlung, Ziff. 14-18). Zu beachten bleibt aber die Grenze des Art. 48, so dass nicht über den Umweg von Art. 50 eine ansonsten unzulässige Übermittlung personenbezogener Daten an ausländische Behörden legitimiert werden kann. 1 OECD-Empfehlung, beschlossen vom Rat der OECD am 12.6.2007. 2 US Public Law No. 114-126 v. 24.2.2016.

Freund

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DSGVO Art. 50 Rz. 6 Internationale Zusammenarbeit zum Schutz personenbezogener Daten 6

Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich Drittstaaten zukünftig bereit erklären, insb. bei aufsichtsbehördlichen Untersuchungen Amtshilfe zu leisten. Entsprechende Kooperationen bieten beiden Seiten Chancen. So könnten die Gefahren des Cloud Computing erheblich reduziert werden, die u.a. darin liegen, dass es an wirksamen Kontrollmöglichkeiten über die Verarbeiter in Drittstaaten weithin fehlt. Im Gegenzug wäre der Einsatz von Anbietern in den solchermaßen kooperierenden Drittländern leichter nach Kapitel V der DSGVO zu rechtfertigen (Wettbewerbsvorteil durch Datenschutz). 3. Einbindung von Interessenträgern (Art. 50 Buchst. c)

7

Durch eine breite Beteiligung von Interessenträgern soll eine Kooperation zum Vorteil aller Beteiligten ermöglicht werden. Die OECD nennt als mögliche Interessenträger die Strafverfolgungsbehörden, Datenschutzbeauftragten in öffentlichen und privaten Organisationen, an der Datenschutzkontrolle in der Privatwirtschaft beteiligte Verbände sowie Gruppierungen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft.3 4. Austausch und Dokumentation von Vorschriften und Praktiken (Art. 50 Buchst. d)

8

Der internationale Austausch soll schließlich auch den Zugang zu Rechtsvorschriften erleichtern und einen Erfahrungsaustausch über Best Practices umfassen.

3 OECD-Empfehlung, beschlossen vom Rat der OECD am 12.6.2007, Ziff. 22.

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Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-Use VO) ABl. EU Nr. L 134 vom 29.5.2009, 1, zuletzt geändert durch Verordnung vom 16. April 2014 (ABl. EU Nr. L 173 vom 12.6.2014, 79) (Auszug)

Art. 1 Mit dieser Verordnung wird eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck festgelegt. Nicht kommentiert.

Art. 2 Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Begriff 1. „Güter mit doppeltem Verwendungszweck“ Güter, einschließlich Datenverarbeitungsprogramme und Technologien, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können; darin eingeschlossen sind alle Waren, die sowohl für nichtexplosive Zwecke als auch für jedwede Form der Unterstützung bei der Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern verwendet werden können; 2. „Ausfuhr“ i)–ii) […] iii) die Übertragung von Software oder Technologie mittels elektronischer Medien wie Telefax, Telefon, elektronischer Post oder sonstiger elektronischer Träger nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Europäischen Gemeinschaft; dies beinhaltet auch das Bereitstellen solcher Software oder Technologie in elektronischer Form für juristische oder natürliche Personen oder Personenvereinigungen außerhalb der Gemeinschaft. Als Ausfuhr gilt auch die mündliche Weitergabe von Technologie, wenn die Technologie am Telefon beschrieben wird; 3. „Ausführer“ jede natürliche oder juristische Person oder Personenvereinigung, i) […] ii) die entscheidet, Software oder Technologie mittels elektronischer Medien wie Telefax, Telefon, elektronischer Post oder sonstiger elektronischer Träger nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft zu übertragen oder für ein solches Bestimmungsziel bereitzustellen. […] A. EG Dual-Use VO . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Art. 2 Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Güter mit doppeltem Verwendungszweck . .

1 3 3

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Software und Technologie . . . . . . . . . . . . 2. Doppelter Verwendungszweck . . . . . . . . . .

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4 4 7

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Dual-Use VO Art. 2 Begriffsbestimmungen a) In Anhang I der EG Dual-Use VO gelistete Software und Technologie . . . . . . . . . . b) Nicht in Anhang I der EG Dual-Use VO gelistete Software und Technologie . . . . . aa) Zivile Zwecke . . . . . . . . . . . . . . bb) Militärische Zwecke . . . . . . . . . . . C. I. II. 1.

Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii . . . . . . . . . . . . . Elektronische Ausfuhr . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragung nach einem Bestimmungsziel außerhalb der EU (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bereitstellen an einen bestimmten Personenkreis außerhalb der EU (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 2) . . . . . . . . . . . . . 3. Beschreibung von Technologie am Telefon (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 2) . . . . . . . . .

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III. Exportkontrolle bei Cloud Computing . . 1. Infrastructure as a Service (IaaS)/Plattform as a Service (PaaS) . . . . . . . . . . . . . . . a) IaaS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung der Technologie in eine Cloud außerhalb der EU . . . . . . . . . . c) Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten d) PaaS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Software as a Service (SaaS) . . . . . . . . . . a) Upload der Software . . . . . . . . . . . . b) Nutzung der Software . . . . . . . . . . . D. I. II. III. 1. 2.

Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii . . . . . . . . . . . Ausführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Exportkontrolle bei Cloud Computing IaaS/PaaS . . . . . . . . . . . . . . . . . . SaaS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Ahmad, Neue Medien und Exportkontrolle, AW-Prax 2012, 230; Ahmed/Haellmigk, Cloud computing and EU export controls compliance, WorldECR 2012, Band 18, 16; Bermbach, Die gemeinschaftliche Ausfuhrkontrolle für Dual-Use-Güter, 1997; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Exportkontrolle in Forschung & Wissenschaft, 2019; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Handbuch Exportkontrolle und Academia, 2019; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Praxis der Exportkontrolle, 3. Aufl. 2015; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Technologietransfer und Non-Proliferation, 2016; Burkhard-Basler/Nawrotzki, Technische Unterstützung und sonstiger Technologietransfer: Aktuelle Entwicklungen und praktische Beispielsfälle, AW-Prax 2015, 311; Dorsch, Zollrecht – Kommentar zum Recht des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, Stand November 2019 (zitiert: Dorsch/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 40. Aufl. 2009 (zitiert: Grabitz/Hilf/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Haellmigk, Exportkontrolle, in Paul/Niemann (Hrsg.), Rechtsfragen des Cloud Computing, 2014 (zitiert: Paul/Niemann/Haellmigk); Haellmigk, Export control and (cloud) data transfer: new challenges for companies, WorldECR 2015, Band 46, 18; Haellmigk, Technologietransfer und Exportkontrolle in Zeiten neuartiger Formen des Datentransfers, in Ehlers/ Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015 (zitiert: Ehlers/Wolffgang/Haellmigk); Haellmigk, (Cloud-)Datentransfer und Exportkontrolle – Neue Compliance-Herausforderungen für Unternehmen, CCZ 2016, 29; Haellmigk, Der „human security“-Ansatz in der neuen Dual-Use-Verordnung: Neue Prüfpflichten für Unternehmen, AW-Prax 2017, 51; Haellmigk, Exportkontrolle und (Cloud-)Datentransfer: Spiel mit dem Feuer? – Neue Compliance-Herausforderungen für Unternehmen?!, in Täger (Hrsg.), Internet der Dinge – Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, 2015 (zitiert: Täger/Haellmigk); Haellmigk/Vulin, Vorsicht beim Datentransfer: Exportrecht gilt für alle Unternehmen, CR 2013, 350; Hocke/Friedrich, Kommentar zum Außenwirtschaftsrecht, Stand November 2016 (zitiert: Hocke/Friedrich/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Hohmann/John, Kommentar zum Ausfuhrrecht, 2002 (zitiert: Hohmann/John/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Holthausen, Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz – Tatbestandsmerkmal „besonders konstruiert“ – Anmerkung zu BGH, Urteil vom 23.11.1995 – 1 StR 296/95, NStZ 1996, 284; Holthausen/Hucko, Das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Außenwirtschaftsrecht in der Rechtsprechung – 2. Teil: Außenwirtschaftsrecht, NStZ-RR 1998, 225; Kochendörfer/Pietsch, Exportkontrolle und Wissenschaft, AW-Prax 2018, 97; Krenzler/Hermann/Niestedt, Kommentar zum EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, Stand Mai 2019 (zitiert: Krenzler/Hermann/Niestedt/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Kreutzer, Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz – Tatbestandsmerkmal „besonders konstruiert“ – Anmerkung zu BGH, Urteil vom 23.11.1995 – 1 StR 296/95, NStZ 1996, 555; Nawrotzki, Technologietransfer im Außenwirtschaftsrecht, in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015 (zitiert: Ehlers/Wolffgang/Nawrotzki); Nawrotzki, Technologietransfer und die Freiheit der Forschung bei Publikationen, AWPrax 2019, 70; Pietsch, Leitgedanken zur Exportkontrolle im Zusammenhang mit Cloud Computing und Fragen zu Cyberwar, in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015 (zitiert: Ehlers/Wolffgang/Pietsch); Teetzmann, Mit Missbrauchsrisiken begründete rechtliche Beschränkungen der Forschung in den Biowissenschaften, OdW 2015, 89; Tervooren, Der Ausführerbegriff in der Exportkontrolle, 2007; Wolffgang/Simonsen/Rogmann, Kommentar für das gesamte Außenwirtschaftsrecht, Stand November 2019 (zitiert: Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Bearbeiter, § … Rz. …); Zirkel/Kachel, Technologiekontrolle und ACADEMIA, AW-Prax 2019, 282.

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Haellmigk

Begriffsbestimmungen

Rz. 4 Art. 2 Dual-Use VO

A. EG Dual-Use VO Die EG Dual-Use VO ist die zentrale Vorschrift des europäischen Exportkontrollrechts, die für alle 1 EU-Mitgliedstaaten unmittelbar gilt. Sie regelt primär, welchen Beschränkungen die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck von einem EU-Staat in Drittstaaten unterliegt. Dazu zählen insb. Genehmigungspflichten. Ergänzend regelt die EG Dual-Use VO zwar auch innergemeinschaftliche Verbringungen von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck; jedoch sind diese Vorgaben nur flankierende Kontrollmaßnahmen des europäischen Exportkontrollrechts. Art. 2 enthält eine Reihe von gesetzlichen Definitionen, die den Anwendungsbereich der EG Dual- 2 Use VO bestimmen und die dort verwendeten Begrifflichkeiten verbindlich auslegen. Dazu zählen vor allem die Begriffe „Güter mit doppeltem Verwendungszweck“, „Ausfuhr“ sowie „Ausführer“. An diese begrifflichen Bestimmungen knüpfen die nachfolgenden Vorschriften der EG Dual-Use VO an, die die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck einer Genehmigungspflicht oder behördlichen Unterrichtungspflicht unterwerfen, wobei diese Pflichten den Ausführer treffen.

B. Art. 2 Nr. 1 I. Güter mit doppeltem Verwendungszweck Der Begriff „Güter mit doppeltem Verwendungszweck“ umfasst gemäß Art. 2 Nr. 1 Güter, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können.1 Dies sind zunächst Güter, die bewegliche körperliche Gegenstände – das Zollrecht spricht von „Waren“ – sind. Darüber hinaus nennt Art. 2 Nr. 1 aber auch nichtkörperliche Gegenstände: Datenverarbeitungsprogramme und Technologie.

3

II. Norminhalt 1. Software und Technologie Der in Art. 2 Nr. 1 verwendete Begriff „Datenverarbeitungsprogramme“ bezieht sich – wie sich aus den englischen und französischen Sprachfassungen der EG Dual-Use VO ergibt – auf die Software der Computertechnologie (EDV).2 In Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii und Nr. 3 Buchst. ii wird sie auch ausdrücklich als „Software“ bezeichnet. Software wird in den Begriffsbestimmungen in Anhang I der EG DualUse VO als „eine Sammlung eines oder mehrerer Programme oder Mikroprogramme, die auf einem beliebigen greifbaren (Ausdrucks-)Medium fixiert sind“, definiert.3 Die Begriffe „Programm“ oder „Mikroprogramm“ werden ebenfalls definiert. Als Programm wird „eine Folge von Befehlen zur Ausführung eines Prozesses in einer Form oder umsetzbar in eine Form, die von einem elektronischen Rechner ausführbar ist“, bezeichnet. Der Begriff „Mikroprogramm“ ist „eine in einem speziellen Speicherbereich dauerhaft gespeicherte Folge von elementaren Befehlen, deren Ausführung durch das Einbringen des Referenzbefehls in ein Befehlsregister eingeleitet wird.“ 1 Nach umfangreichen Konsultationen mit Verbänden und den nationalen Verwaltungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren hat die Europäische Kommission am 28.9.2016 einen Vorschlag zur Reform der EG Dual-Use VO vorgelegt: Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council setting up a Union regime for the control of exports, transfer, brokering, technical assistance and transit of dual-use items (recast) (2016/0295 (COD)). Der Verordnungsentwurf enthält u.a. eine Neudefinition von DualUse Gütern: Danach sollen neben Gütern, die für zivile und militärische Zwecke verwendet werden können, auch Cybertechnologien, die zu Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden können, unter diesen Begriff fallen. Art. 2 Abs. 21 des Verordnungsentwurfs enthält eine Definition von „Cyber-Technologie“ und enthält eine nicht abschließende Liste von Cyber-Technologie. Wie die endgültige Fassung der neuen EG Dual-Use VO aussehen wird, ist derzeit nicht absehbar. Der Gesetzgebungsprozess, der ursprünglich in 2019 abgeschlossen sein sollte, wird wohl – auch aufgrund des Brexit – noch einige Zeit in Anspruch nehmen, so dass es zu Änderungen des Kommissionsvorschlags kommen kann; vgl. hierzu Haellmigk, AW-Prax 2017, 51 ff. 2 Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 5; Krenzler/Hermann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 3. 3 Die Begriffsbestimmungen zu Anhang I der EG Dual-Use VO sind auf die Begriffe in Nr. 1 zu übertragen, vgl. Krenzler/Herrmann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 3.

Haellmigk

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 5 Begriffsbestimmungen 5

Der Begriff „Technologie“ ist nach den Begriffsbestimmungen in Anhang I der EG Dual-Use VO „spezifisches technisches Wissen, das für die Entwicklung, Herstellung oder Verwendung eines Produkts nötig ist“. Diese Begriffsbestimmung wird weiter präzisiert, indem die auch einzelnen Begriffsbestandteile definiert werden. „Technisches Wissen“ wird „in der Form von technischen Unterlagen oder technischer Unterstützung verkörpert“. Technische Unterlagen können verschiedenster Ausprägung sein. Darunter fallen z.B. Blaupausen, Pläne, Formeln, Tabellen, Konstruktionspläne und -spezifikationen, Beschreibungen und Anweisungen in Schriftform oder auf anderen Medien aufgezeichnet, wie Magnetplatten, Bändern oder Lesespeichern. Auch die technische Unterstützung kann verschiedenartig sein, z.B. Unterweisung, Vermittlung von Fertigkeiten, Schulung, Arbeitshilfe, Beratungsdienste, und kann auch die (schriftliche oder elektronische) Weitergabe von technischen Unterlagen einbeziehen.4

6

Unerheblich ist, ob die Software oder Technologie auf einem Datenträger oder auf sonstigen gegenständlichen Unterlagen fixiert ist oder nicht. Ist die Software oder Technologie gegenständlich fixiert, handelt es sich aufgrund des Trägermaterials um einen gegenständlichen Gegenstand, andernfalls um nichtgegenständliche Software oder Technologie. Der Geltungsbereich der EG Dual-Use VO erfasst somit nicht nur die gegenständliche Informationsübermittlung (z.B. in Form von Diskette, Laptop, USB-Stick), sondern auch die elektronische Informationsübermittlung (z.B. durch Internet, Telefax, E-Mail, Telefon).5 2. Doppelter Verwendungszweck

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Art. 2 Nr. 1 selbst enthält nur wenige Hinweise, unter welchen Voraussetzungen zivile Software und Technologie auch militärisch verwendbar sind. Der zweite Halbsatz in Art. 2 Nr. 1 stellt nur klar, dass hierzu auch Güter (und damit auch Software und Technologie) gehören, die für nichtexplosive Zwecke und für jedwede Form der Unterstützung bei der Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern verwendet werden können.

8

Systematisch lassen sich Software und Technologie mit doppeltem Verwendungszweck in 2 Gruppen unterteilen: a) In Anhang I der EG Dual-Use VO gelistete Software und Technologie

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Bei den in Anhang I der EG Dual-Use VO aufgezählten Gütern wird durch den europäischen Gesetzgeber unwiderleglich vermutet und damit einheitlich festgelegt, dass es sich um Güter mit doppeltem Verwendungszweck handelt. Der Anhang I ist dabei in Güterkategorien unterteilt, die auch die entsprechende Software und Technologie für die Entwicklung, Herstellung und Verwendung der jeweils gelisteten gegenständlichen Güter enthalten.6 Für diese Kategorien von Software und Technologie (wie auch der gegenständlichen Güter) hat die Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 1 nur deklaratorische Bedeutung.

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Die Güterkategorien, die auf internationalen Exportkontrollregimen beruhen (Wassenaar Arrangement, Australia Group, Missile Technology Control Regime, Nuclear Suppliers Group) umfassen dabei folgende Bereiche: – Kerntechnische Materialien, Anlagen und Ausrüstung – Besondere Werkstoffe und Materialien und zugehörige Ausrüstung – Werkstoffbearbeitung – Allgemeine Elektronik – Rechner – Telekommunikation und „Informationssicherheit“ – Sensoren und Laser – Luftfahrtelektronik und Navigation 4 Zu den Begriffen Entwicklung, Herstellung und Verwendung s. Rz. 11. 5 Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 8. 6 Mit der Delegierten Verordnung vom 17. Oktober 2019 hat die EU-Kommission u.a. den Anhang I der EG Dual-Use VO aktualisiert. Diese Delegierte Verordnung ist am 31. Dezember 2019 in Kraft getreten.

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Haellmigk

Begriffsbestimmungen

Rz. 15 Art. 2 Dual-Use VO

– Meeres- und Schiffstechnik – Luftfahrt, Raumfahrt und Antriebe.7 Software und Technologie, die für die Herstellung, Entwicklung und Verwendung der gelisteten Güter entwickelt wird, werden am Ende der jeweiligen Güterkategorie aufgeführt: Gattung D „Datenverarbeitungsprogramme (Software)“ und Gattung E „Technologie“. Der Begriff „Entwicklung“ schließt alle Stufen vor der Serienfertigung ein, z.B. Konstruktion, Forschung, Analyse, Konzepte, Zusammenbau und Test von Prototypen. Der Begriff „Herstellung“ umfasst alle Fabrikationsstufen, z.B. Fertigungsvorbereitung, Fertigung, Integration, Zusammenbau, Kontrolle, Prüfung (Test) und Qualitätssicherung. Unter den Begriff „Verwendung“ fallen der Betrieb, Aufbau (einschließlich Vor-Ort-Aufbau), die Wartung (Test), Reparatur, Überholung oder Wiederaufarbeitung.

11

Zu beachten ist, dass die jeweiligen Güterkategorien nicht ausnahmslos jede Software und Technologie im Zusammenhang mit den gelisteten Gütern erfassen, sondern sich zum Teil nur auf einzelne Güter innerhalb der Kategorie beziehen bzw. diese mit Ausnahmen versehen.

12

Darüber hinaus gelten für die in Gattung D gelistete Software weitere Ausnahmen von der Genehmigungspflicht. Ihr Transfer ins Ausland erfordert nach der Allgemeinen Software-Anmerkung der EG Dual-Use VO keine Ausfuhrgenehmigung, soweit eine der drei folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: a) Die Software ist frei erhältlich und wird im Einzelhandel ohne Einschränkungen mittels Barverkauf, Versandverkauf, Verkauf über elektronische Medien oder Telefonverkauf verkauft und wurde dazu entwickelt, dass der Benutzer sie ohne umfangreiche Unterstützung durch den Anbieter installieren kann; oder b) sie ist allgemein zugänglich; oder c) der Objektcode stellt das unbedingt notwendige Minimum für Aufbau, Betrieb, Wartung oder Reparatur derjenigen Güter dar, für die bereits eine Ausfuhrgenehmigung erteilt wurde.

13

Ob die Voraussetzungen der Allgemeinen Software-Anmerkung vorliegen, muss in jedem Fall gesondert geprüft werden. Wann eine Software „frei erhältlich“ im Sinne der ersten Voraussetzung ist, wird in der EG Dual-Use VO zwar nicht weiter definiert. Der Wortlaut macht allerdings klar, dass es sich um Massenprodukte handelt, die von jedem Einzelnen kostenpflichtig mittels der genannten Vertriebssysteme bezogen und ohne Hilfe Dritter (Anbieter) installiert werden können (kommerzielle Standardsoftware). Dies ist dann der Fall, wenn die Software von potenziellem Interesse für ein breites Spektrum an Einzelpersonen und Unternehmen ist und der Preis und die Informationen zur Hauptfunktion Software vor ihrem Erwerb verfügbar sind, ohne dass hierfür eine Anfrage an den Verkäufer oder Lieferanten erforderlich ist.8 Aufgrund der hohen technischen Anforderungen an die in den jeweiligen Güterkategorien gelisteten Güter und der spezifischen Kundenbedürfnisse bzw. -anforderungen dürfte es sich bei der in den einzelnen Güterkategorien gelisteten Software aber selten um derartige kommerzielle Standardsoftware handeln.9

14

Allgemein zugängliche Software wird in der Dual-Use VO als Software definiert, die ohne Beschrän- 15 kung ihrer weiteren Verbreitung erhältlich ist, wobei Copyright-Beschränkungen die allgemeine Zugänglichkeit nicht aufheben.10 Es geht hier also um (kostenfreie) Public Domain Software.11 Ob und wie häufig auf die Software tatsächlich zugegriffen und sie verwendet wird, ist dabei nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist, dass die uneingeschränkte Möglichkeit der Verwendung als solche besteht.12 In der Praxis ist die Voraussetzung ebenfalls von untergeordneter Bedeutung, da die Hersteller 7 Um ihre Anwendung zu erleichtern, sind die Güterkategorien dabei jeweils unterteilt in sogenannte Gattungen „Systeme und Ausrüstung“, „Prüf-, Test- und Herstellungseinrichtungen“ sowie Abschnitt „Werkstoffe“ (Gattungen A-C) unterteilt. 8 Vgl. die Anmerkung zur Kryptotechnik-Anmerkung in der Güterkategorie 5 (Telekommunikation und Informationssicherheit, Teil 2, Anmerkung 3). 9 Diese Ausnahmeregelung gilt jedoch nicht für Software, die in Teil 2 der Güterkategorie 5 (Informationssicherheit) gelistet ist; vgl. die Anmerkung zu Buchst. a der Allgemeinen Software-Anmerkung. 10 Vgl. die Definition in den Begriffsbestimmungen in der EG Dual-Use VO. 11 S. die englische Fassung der Allgemeinen Software-Anmerkung, die von „Public Domain“ spricht. 12 Vgl. Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Pietsch, § 45 AWV (a.F.) Rz. 26 zur Weitergabe von Informationen im Rahmen der technischen Unterstützung, die „allgemein zugänglich“ gem. § 45 Abs. 3 Nr. 2 AWV (a.F.) sind.

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 15 Begriffsbestimmungen die in der EG Dual-Use VO gelisteten Software i.d.R. entwickeln, um sie zu verkaufen und somit Profit zu erwirtschaften. 16

Der Begriff „Objektcode“ wird in der EG Dual-Use VO als die maschinenlauffähige Form einer geeigneten Beschreibung eines oder mehrerer Prozesse, die durch ein Programmiersystem übersetzt wurde, verstanden.13 Ist der Objektcode der gelisteten Software erforderlich, um ein ein gelistetes Gut, für dessen Export bereits eine Ausfuhrgenehmigung erteilt wurde, überhaupt zu betreiben, zu warten oder nach erfolgter Nutzung zu reparieren, gilt die Software als von der Ausfuhrgenehmigung erfasst. Hierdurch soll eine Doppelbewertung durch die nationale Genehmigungsbehörde vermieden werden: Sofern die Genehmigungsbehörde über die Ausfuhr des Guts bereits positiv entschieden hat, hat es damit auch (inzident) positiv geprüft, dass die für die Inbetriebnahme, Wartung und Reparatur des genehmigten Guts erforderliche Software ausgeführt werden kann.14 Diese Ausnahmeregelung ist für die Praxis sinnvoll, da für alle Beteiligten – den Exporteur und die Genehmigungsbehörde – unnötiger administrativer (Prüfungs)-Aufwand vermieden wird, ohne dass der Zweck der Exportkontrolle unterlaufen wird.15

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Hinsichtlich der Ausfuhr der in der Gattung E (Technologie) der jeweiligen Güterkategorien erfassten Technologien enthält die EG Dual-Use VO ebenfalls Ausnahmeregelungen, die in der Allgemeinen Technologie-Anmerkung zusammengefasst sind.16

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Danach ist eine Technologie zunächst nicht genehmigungspflichtig, wenn sie das unbedingt notwendige Minimum für Aufbau, Betrieb, Wartung oder Reparatur derjenigen Güter darstellt, die nicht erfasst sind oder für die eine Ausfuhrgenehmigung erteilt wurde. Der erste Ausnahmetatbestand (Technologien für nicht erfasste Güter) hat im Grunde nur klarstellende Bedeutung: In Gattung E der jeweiligen Güterkategorien sind nur die Technologien erfasst, die für die Entwicklung, Herstellung, Wartung oder Reparatur der gelisteten Güter relevant sind. Technologien, die sich ausschließlich auf nicht gelistete Güter beziehen, sind daher nicht von Gattung E der jeweiligen Güterkategorie erfasst. Der zweite Ausnahmetatbestand bezieht sich auf Technologien für die Inbetriebnahme, Wartung oder Reparatur gelisteter Güter, deren Ausfuhr bereits geprüft und genehmigt wurde. Daher wird – analog zur Ausfuhr entsprechender Software – auf eine Doppelbewertung durch die Genehmigungsbehörde verzichtet (s. Rz. 16).17

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Zum Anderen gelten für die Ausfuhr von gelisteter Technologie keine Genehmigungspflichten, wenn sie allgemein zugängliche Informationen, wissenschaftliche Grundlagenforschung oder für die für Patentanmeldungen erforderlichen Informationen enthält. Die Definition des Begriffs „allgemein zugänglich“ entspricht der Terminologie der allgemein zugänglichen Software (vgl. Rz. 15) in den Begriffsbestimmungen der EG Dual-Use VO, d.h. es geht um Informationen, die ohne Beschränkung ihrer weiteren Verbreitung erhältlich ist. Dies ist der Fall, wenn sie bereits in Medien wie Büchern, Publikums- und Fachzeitschriften veröffentlicht sind.18 Dies gilt auch für die Veröffentlichung im 13 Vgl. die Definition in den Begriffsbestimmungen der EG Dual-Use VO. 14 Vgl. Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Pietsch, § 45e AWV Nr. 4 (a.F.) Rz. 26 zur genehmigungsfreien technischen Unterstützung im Rahmen der Herstellung der Betriebsbereitschaft von Gütern, deren Ausfuhr bereits genehmigt wurde. 15 Diese Ausnahmeregelung gilt jedoch nicht für Software, die in Teil 2 der Güterkategorie 5 (Informationssicherheit) gelistet ist; vgl. die Anmerkung zu Buchst. c der Allgemeinen Software-Anmerkung. 16 Für Nukleartechnologie gibt es eine separate Nukleartechnologie-Anmerkung, die aber inhaltlich im Wesentlichen mit der Allgemeinen Technologie-Anmerkung vergleichbar ist. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die Nukleartechnologie-Anmerkung sämtliche Technologie für die Entwicklung, Herstellung und Verwendung der gelisteten Nukleargüter erfasst, wohingegen nach der Allgemeinen Technologie-Anmerkung nur die Technologie erfasst, die für die Entwicklung, Herstellung und Verwendung der gelisteten Güter unverzichtbar ist. Unverzichtbar ist der Teil der Technologie, der besonders dafür verantwortlich ist, dass die erfassten Leistungsmerkmale, Charakteristiken oder Funktionen erreicht oder überschritten werden, vgl. die Definition von „unverzichtbar“ in den Begriffsbestimmungen der EG Dual-Use VO. 17 Von dieser Ausnahme werden bestimmte Reparatur-Technologien jedoch nicht erfasst; s. die Anmerkung zur Allgemeinen Technologie-Anmerkung. 18 Auch durch die Publikation von Patenten (Offenlegungsschrift) werden Kenntnisse allgemein zugänglich gemacht, s. BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 28; BAFA, Technologietransfer und Non-Proliferation, S. 12.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 22 Art. 2 Dual-Use VO

Internet, sofern die Informationen ohne Zugangsbeschränkung für jedermann zeitlich unbegrenzt frei auffindbar und verfügbar sind.19 Was wissenschaftliche Grundlagenforschung ist, wird ebenfalls in den Begriffsbestimmungen der EG Dual-Use VO definiert. Hierunter fallen experimentelle oder theoretische Arbeiten hauptsächlich zur Erlangung von neuen Erkenntnissen über grundlegende Prinzipien von Phänomenen oder Tatsachen, die nicht in erster Linie auf ein spezifisches praktisches Ziel oder einen spezifischen praktischen Zweck gerichtet sind. Nach dem allgemeinen Verständnis der Wissenschaft ist Grundlagenforschung eine rein erkenntnisorientierte oder erkenntnisgetriebene Forschung und steht in Zusammenhang mit fundamentalen Fragen und Problemstellungen in einer Disziplin.20 Die angewandte Forschung ist von dieser Ausnahmeregelung grundsätzlich nicht erfasst.21 Schließlich gelten auch keine Exportkontrollen für die für eine Patentanmeldung erforderlichen Informationen. Wird gelistete Technologie zu diesem Zweck ins nicht-europäische Ausland transferiert, unterliegt sie also keinen Exportkontrollbeschränkungen.22 b) Nicht in Anhang I der EG Dual-Use VO gelistete Software und Technologie Für die nicht in Anhang I der EG Dual-Use VO aufgelistete Software und Technologie gilt ein anderer Bewertungsmaßstab. Hier ist maßgeblich, ob sie tatsächlich sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können.23

20

aa) Zivile Zwecke Durch das Merkmal der Verwendungsmöglichkeit für zivile Zwecke wird die Software und Technologie ausgeklammert, die für die Entwicklung, Herstellung und Verwendung spezifischer Rüstungsgüter konzipiert ist. Auf diese Software und Technologie findet die EG Dual-Use VO keine Anwendung.24 Umstritten ist, ob es in diesem Zusammenhang auf die subjektive Bestimmung oder vielmehr auf die objektive Eignung zu zivilen Zwecken ankommt.

21

Für die deutsche Rspr. ist dabei tendenziell die vom Hersteller beabsichtigte Verwendung der Software und Technologie maßgeblich. So sollen beispielsweise Anlagen, die nachweislich allein zu militärischen Zwecken geplant wurden und hierfür vom Hersteller entsprechend konstruiert und dimensioniert sind, auch dann keine Güter mit doppeltem Verwendungszweck sein, wenn sie auch zivil genutzt werden könnten.25

22

19 BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 28; BAFA, Technologie-Transfer und Proliferation, S. 12; Kochendörfer/Pietsch, AW-Prax 2018, 100. Zu beachten ist aber, dass das die Veröffentlichung im nicht-europäischen Ausland bzw. das Einstellen in das Internet genehmigungspflichtig sein kann, vgl. hierzu Teetzmann, OdW 2015, 91; BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 28; BAFA, Technologie-Transfer und Proliferation, S. 12. 20 Insofern ist auch nicht alles, was sich selbst als Grundlagenforschung bezeichnet, tatsächlich Grundlagenforschung, sondern vielmehr Anwendungsforschung. Zur Schwierigkeit bei der Abgrenzung der anwendungsbezogenen Forschung von der Grundlagenforschung und einem Lösungsansatz im Sinne eines sog. Technologie-Reifegrads (Technology Readiness Level) vgl. Zirkel/Kachel, AW-Prax 2019, 282 f.; BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 68 f.; BAFA, Exportkontrolle in Forschung & Wissenschaft, S. 14; vgl. auch Nawrotzki, AW-Prax 2019, 12. 21 Zur Frage, ob die bestehenden nationalen und europäischen Exportkontrollbeschränkungen für die Forschung und wissenschaftliche Publikationen die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 13 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh)) verletzen, zu Recht kritisch Teetzmann, OdW 2015, 91 ff. 22 Dies gilt jedoch nicht für Nukleartechnologie; vgl. die Nukleartechnologie-Anmerkung. Ob die Ungleichbehandlung von Publikationen und Patentanmeldungen gerechtfertigt ist, ist zu hinterfragen, vgl. hierzu auch Teetzmann, OdW 2015, 91 f. 23 Die Ausführungen der Rspr. und Literatur zu dieser Frage beziehen sich allgemein auf Güter mit doppeltem Verwendungszweck, gelten also sowohl für gegenständliche Güter als auch für die entsprechende Software und Technologie. 24 S. Nr. 1 der Allgemeinen Anmerkungen zu Anhang I der EG Dual-Use VO. 25 BGH v. 23.11.1995 – 1 StR 296/95; LG Bochum v. 21.9.1992 – KLs 35 Js, 365/90. In die Richtung gehend auch Generalanwalt Mázak, SchlA. C-337/05, Kommission/talien, Slg. 2008, I-2137 Rz. 59. Kritisch zur deutschen Rspr. Kreuzer, NStZ 1996, 555; befürwortend hingegen Hucko/Holthausen, NStZ 1998, 228.

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 23 Begriffsbestimmungen 23

Diese Ansicht begegnet Bedenken. Bereits der Wortlaut spricht dafür, dass maßgebliches Kriterium für die Einordnung von Software und Technologie ihre objektive Eignung ist.26 Zudem kann die Anwendbarkeit der EG Dual-Use VO nicht allein von der subjektiven Zweckbestimmung der Software und Technologie durch den Hersteller abhängen.27 Richtig ist daher, nicht nur auf den Herstellungszweck abzustellen. Vielmehr sollten Software und Technologie vorrangig nach ihrer objektiven Beschaffenheit definiert werden, so dass die tatsächliche Anwendung dieser oder vergleichbarer Software und Technologie in der Praxis maßgeblich ist.28 Die Zweckbestimmung des Herstellers oder die Verwendungsabsicht des Verwenders können dabei im Einzelfall ergänzend als weitere Kriterien für die Klassifizierung der Software und Technologie hinzugezogen werden.29 bb) Militärische Zwecke

24

Ebenfalls umstritten ist, unter welchen Voraussetzungen von einer Verwendungsmöglichkeit für militärische Zwecke auszugehen ist. Einig ist man sich zwar darin, dass eine einschränkende Auslegung erforderlich ist, da im Prinzip jede Software und Technologie militärisch verwendet werden kann, was zu einer uferlosen Anwendung der EG Dual-Use VO führen würde. Hinsichtlich der konkreten anzuwendenden Kriterien besteht jedoch Uneinigkeit. So wird zum Teil gefordert, den Begriff „Güter (Software und Technologie) mit doppeltem Verwendungszweck“ nur auf Güter von strategischer Bedeutung, die eine fortgeschrittene technische Entwicklung widerspiegeln, anzuwenden.30 Andere Stimmen fordern, unter diesen Begriff nur die Güter (Software und Technologie) zu subsumieren, die sich besonders für die Kriegsführung, einschließlich Bürgerkrieg, paramilitärische Tätigkeiten sowie Terrorismus eignen.31 Wiederum andere stellen darauf ab, ob die Güter (Software und Technologie) entweder Kampfmittel oder Radar-, Verschlüsselungs- und Telekommunikationsgeräte sind.32 Letztlich führen diese Lösungsansätze nicht weiter, da die vorgeschlagenen Kriterien willkürlich erscheinen und zudem nicht mit dem Wortlaut und der Zielsetzung von Nr. 1 vereinbar sind, der auf generische Definitions- und Abgrenzungsmerkmale verzichtet.33 Eine allgemeingültige Definition des Begriffs „militärischer Zweck“ lässt Art. 2 Nr. 1 daher nicht zu.

25

Die Lösung liegt daher darin, den Begriff „militärische Zwecke“ aus den jeweiligen Vorschriften der EG Dual-Use VO zu erschließen und damit hinsichtlich der betreffenden Software und Technologie eine Auslegung im Einzelfall vorzunehmen.34 Dadurch wird die mit der EG Dual-Use VO verfolgte Zielsetzung – eine flexible und damit effektive Kontrolle des Exports von Gütern und ihrer Software und Technologie, die für militärische Zwecke verwendet werden können – gewährleistet.35 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass dieses Bestimmtheitsdefizit zu einem bedenklichen Verlust an Rechtssicherheit für den Anwender führt. Denn letztlich bestimmen dadurch die nationalen Behörden und Gerichten im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums, ob ein ziviles Gut bzw. eine zivile Software und Technologie mit militärischem und damit doppeltem Verwendungszweck vorliegt.36

26 Vgl. Krenzler/Herrmann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 5. 27 Zutreffend Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 15. 28 VGH Kassel v. 14.10.2009 – 6 A 2112/08; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 15, die aber offenbar ausschließlich die objektive Eignung als Beurteilungskriterium heranziehen wollen. 29 So auch Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Nr. 13; Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 5. 30 Kreutzer, AW-Prax 1997, 309; Bermbach, Gemeinschaftliche Ausfuhrkontrolle, S. 104. 31 Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 12 f. 32 Hohmann/John/Sack/Hohmann, Art. 2 Rz. 3. 33 Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 17. 34 Krenzler/Herrmann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 5; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/ Mrozek, Art. 2 Rz. 18 schlagen vor, bei der Auslegung den Verhaltenskode über Rüstungsexporte, d.h. der Gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP, ergänzend heranzuziehen; s. auch Grabitz/Hilf/Karpenstein, Art. 2 Rz. 6. 35 Vgl. ErwGr. 2 und 3. 36 So auch Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 5; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 20.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 30 Art. 2 Dual-Use VO

C. Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii I. Elektronische Ausfuhr Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii regelt die Ausfuhr von Software oder Technologie mittels elektronischer Medien, also ihre nicht-gegenständliche Übertragung. Der Inhalt und Umfang dieser Ausfuhr-Modalität erschließt sich nicht ohne weiteres. Zum einen ist der in der EG Dual-Use VO verwendete Begriff „Ausfuhr“ stark vom Zollrecht geprägt, das vorrangig auf die Übertragung von gegenständlichen Gütern (Waren) abstellt.37 Zum anderen ist ein – jedenfalls im Vergleich zum gegenständlichen Grenzverkehr – größeres technisches Verständnis des jeweiligen Übermittlungsprozesses erforderlich.38

26

II. Norminhalt Die Vorschrift erfasst drei Varianten der elektronischen Informationsweitergabe: Die Übertragung nach einem Bestimmungsziel außerhalb der EU (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 1), das Bereitstellen an einen bestimmten Personenkreis außerhalb der EU (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 2) und die Beschreibung von Technologie am Telefon (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 2).

27

1. Übertragung nach einem Bestimmungsziel außerhalb der EU (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 1) Maßgeblich sind hier die Merkmale „Übertragung“ und „Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft“.

28

a) Übertragung Eine „Übertragung“ mittels elektronischer Medien i.S.d. Alt. 1 liegt dann vor, wenn eine oder mehrere 29 Informationen über eine bestimmte Entfernung unter Verwendung elektromagnetischer Wellen transportiert wird.39 Gegenstand der Übertragung kann also nur eine Information sein. Wird Software oder Technologie mittels eines körperlichen Trägers, auf dem sich die Software oder Technologie befindet (auf einer CD, DVD oder einem USB-Stick) ausgeführt, ist nicht die Software oder Technologie, sondern der Träger Ausfuhrgut, so dass es sich dann um eine gegenständliche Ausfuhr handelt. Daher stellt Alt. 1 auch auf die Übertragung mittels „elektronischer“ Medien bzw. Träger ab. Übertragung i.S.d. Alt. 1 darf nicht mit dem im IT-Recht herkömmlichen Verständnis von Datenübertragung als „Telekommunikation“ (vgl. § 3 Nr. 22 TKG) gleichgesetzt werden.40 Für die Exportkontrolle geht es darum, den unkontrollierten Transfer von sensiblen Gütern wie auch sensibler Software und Technologie zu verhindern. Daher interessiert sich die Exportkontrolle vorrangig dafür, wie und damit auf welchem Weg die sensible Materie in das Ausland gelangen kann. Der Fokus der Exportkontrolle liegt also auf den Modalitäten des Transports (Übertragung), aber nicht auf die damit einhergehende (Tele-)Kommunikation zwischen Übertragendem und Empfänger. Daher enthält Alt. 1 einen eigenständigen exportkontrollrechtlichen Begriff der „Übertragung“. Eine Übertragung mittels elektronischer Medien liegt zunächst in Form der Weitergabe von Informa- 30 tionen durch die ausdrücklich genannten Übertragungstechniken Telefax, Telefon und E-Mail vor. Darüber hinaus ist auch die Übertragung mittels „sonstiger elektronischer Träger“ erfasst. Dazu zählt insb. auch jede Übertragung per Internet. Die aufgezählten Beispiele in Alt. 1 sind also nicht abschließend. Mit Hilfe dieses Auffangtatbestands wird der weiteren technologischen Entwicklung auf dem Gebiet des elektronischen Informationsaustausches Rechnung getragen. Jede neu geschaffene Variante 37 Vgl. Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 20. 38 Dies wird bei der exportkontrollrechtlichen Einordnung und Bewertung des Cloud Computing deutlich; vgl. hierzu Rz. 49 ff. 39 Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 26. 40 Zum Begriff „Telekommunikation“ gem. § 3 Nr. 22 TKG vgl. Spindler/Schuster/Ricke, § 3 TKG Rz. 41; Geppert/ Schütz/Cornils, BeckTKG, § 3 Rz. 74.

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 30 Begriffsbestimmungen einer elektronischen Übertragung von Informationen unterfällt damit der „Übertragung“ gem. Alt. 1.41 31

Erforderlich ist dabei, dass der technische Ausgangspunkt der Übertragung (Computer, Telefonanlage, Faxgerät) innerhalb der EU liegt.42 Voraussetzung ist dabei aber stets, dass der von der EU aus veranlasste Übertragungsvorgang auch tatsächlich den Transfer von sensibler Software oder Technologie ins Ausland beinhaltet. Veranlasst also eine Person von der EU aus beispielsweise die Übertragung einer Datei mit sensibler Software ins außereuropäische Ausland, wobei die Datei mit der Software physisch bereits auf einem Server liegt, der sich außerhalb der EU befindet, dann liegt zwar der technische Ausgangspunkt der Übertragung in der EU. Gleichwohl liegt aber keine Übertragung i.S.d. Alt. 1 vor, da sich die Software bereits im Ausland befindet und es bei der veranlassten Übertragung somit zu keinem für die Exportkontrolle relevanten Transfer von sensibler Software aus der EU ins nicht-europäische Ausland gekommen ist. b) Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft

32

Die Übertragung der Informationen (Software und Technologie) muss „nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft“ erfolgen. Ob diese Voraussetzung im Einzelfall vorliegt, bereitet in der Praxis Schwierigkeiten. Dies gilt insb. in den Fällen, in denen es sich um eine Übertragung per Internet handelt. Das Internet ist dezentral konzipiert, d.h., die für die Übertragung und -speicherung verwendeten Rechnereinheiten (Server) sind räumlich und örtlich verteilt, was die Lokalisierung der Informationen erschwert.

33

In der Literatur wird verschiedentlich die Auffassung vertreten, das Bestimmungsziel liege immer dann außerhalb der EU vor, wenn sich der technische Endpunkt des Übertragungswegs (Bsp.: der Computer) außerhalb der EU befinde.43

34

Diese Definition ist zwar richtig, aber unzureichend. Sie stellt zwar zunächst zutreffend auf den geographischen Standort des Übertragungsempfängers zum Zeitpunkt der Übertragung ab. Davon sollen die Fälle erfasst werden, in denen die Informationen zwar auf einen in der EU gelegenen Server übertragen werden, der Übertragungsempfänger sich aber außerhalb der EU befindet und dort (Bsp.: Computer) die übertragenen Informationen abruft. Jedoch bleibt dabei die Situation unberücksichtigt, in der die Informationen auf einen außerhalb der EU gelegenen Server übertragen werden, sich aber der Übertragungsempfänger in der EU befindet und dort (Bsp.: am Computer) die Informationen abruft. Denn hier liegt zwar der technische Endpunkt des Übertragungswegs in der EU. Gleichwohl ist mit der Übertragung der Informationen auf den Server außerhalb der EU eine Übertragung nach einem Bestimmungsziel außerhalb der EU erfolgt.44

35

Unerheblich ist also, ob der Versender die Informationen nur einem Adressaten in der EU zukommen lassen will, wenn die Informationen ohne seine Kenntnis ins nicht-europäische Ausland gelangen, entweder durch Übertragung auf einen außerhalb der EU gelegenen Server oder durch Abrufen der Informationen, die auf einem Server außerhalb der EU liegen. Der Begriff Bestimmungs‚ziel‘ ist nicht subjektiv konnotiert.45

36

Ebenso ist unerheblich, ob die Informationen innerhalb eines Unternehmens verbleiben und „nur“ zwischen den nationalen und ausländischen Büros oder Niederlassungen ein und desselben Unter-

41 Haellmigk/Vulin, CR 2013, 354; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 31. 42 A.A. Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 17, die fordern, dass die Übertragung vom EU-Zollgebiet ausgehen muss. Jedoch steht dieser Auffassung der Wortlaut der Vorschrift entgegen; zudem ist eine Beschränkung auf das EU-Zollgebiet nicht geboten, da die zollrechtlichen Vorschriften, die auf den gegenständlichen Güterverkehr abstellen, auf den elektronischen Transfer keine Anwendung finden, zutreffend Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 20; vgl. auch Hohmann/John/Hohmann/Sack, Art. 2 Rz. 4 a.E. 43 Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 26; Krenzler/Herrmann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 12. 44 Vgl. auch Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 22, der jedoch nicht zwischen den Übertragungsvarianten „Übertragung“ und dem „Bereitstellen“ von Informationen differenziert. 45 A.A. Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 17 und Rz. 57, die auf das Ziel der Übertragung abstellen.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 41 Art. 2 Dual-Use VO

nehmens transferiert werden. Der unternehmensinterne Informationsaustausch unterliegt gleichermaßen der Exportkontrolle.46 Vor diesem Hintergrund sind also zwei Übertragungs-Modalitäten nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft zu unterscheiden: – wenn Informationen auf einen außerhalb der EU gelegenen Server übertragen werden, unabhängig davon, wo sich der Adressat der Übertragung aufhält; – wenn Informationen auf einen in der EU gelegenen Server übertragen und die Informationen vom Adressaten außerhalb der EU abgerufen werden.

37

Im letzteren Fall ist eine dauerhafte Speicherung nicht erforderlich; eine auch nur zeitweilige Visualisierung der abgerufenen Informationen reicht aus.47 Ob der Abrufende der eigentliche Empfänger der Information ist oder die Informationen an den eigentlichen Empfänger weiterleitet, ist dabei unerheblich.48

38

Dies gilt auch für die Frage, von welchem bzw. auf welches technische Gerät die Informationen im 39 nicht-europäischen Ausland abgerufen werden. Wenn der Adressat seinen Sitz in der EU hat, sich aber auf einer Geschäftsreise im nicht-europäischen Ausland befindet, ist ohne Belang, ob er die Informationen dort auf seinem eigenem Computer (Blackberry, Smartphone etc.) oder auf einem fremden Computer (Bsp.: Hotel-Computer) abruft. Zweck und Ziel der Exportkontrolle ist es, zu verhindern, dass sensible Güter wie Informationen unkontrolliert ins Ausland gelangen. Für sie macht es daher keinen Unterschied, auf welchem technischen Gerät sich die Informationen im Ausland befinden. Maßgeblich ist allein, dass die Informationen ins Ausland gelangen und daher jeder weiteren Kontrolle ihrer (missbräuchlichen) Verwendung entzogen sind. Genau aus diesem Grund ist – wie in Rz. 36) ausgeführt – auch unerheblich, wer der Empfänger im nicht-europäischen Ausland ist: Wenn ein Unternehmen in der EU auch Büros oder Niederlassungen im nicht-europäischen Ausland unterhält und die Informationen von den dortigen Mitarbeitern empfangen und abgerufen werden, ist dies eine Übertragung. Der unternehmensinterne Informationsaustausch unterfällt ebenfalls der Exportkontrolle.49 Aus Sicht der europäischen Exportkontrolle ist für das Vorliegen einer „Ausfuhr“ somit allein entscheidend, dass exportkontrollrechtlich relevante Informationen – auf welche Art auch immer – ins nichteuropäische Ausland gelangen.50 Daraus folgt, dass es für eine Ausfuhr i.S.d. Alt. 1 unerheblich ist, ob diejenige Person zum Zeitpunkt der Ausfuhr darüber Kenntnis hat (oder Kenntnis hätte haben können), dass sie tatsächlich sensible Software oder Technologie ins nicht-europäische Ausland transferiert. Ein subjektives Tatbestandsmerkmal enthält Alt.1 nicht. Erst für die Frage der subjektiven Vorwerfbarkeit (Schuld) einer widerrechtlichen Übertragung und damit der Sanktionierbarkeit dieses Handelns als Straftat oder Ordnungswidrigkeit spielt die Kenntnis bzw. Unkenntnis des Übertragenden eine Rolle.51

40

2. Bereitstellen an einen bestimmten Personenkreis außerhalb der EU (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 2) Die Vorgängerregelung des Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii enthielt diese Übertragungs-Variante nicht. Dies hatte zur Folge, dass die bloße Eröffnung einer Seite im Internet („Homepage“), die sensible (gelistete) Software oder Technologie enthielt, keine Ausfuhr war.52 Denn es fehlte an dem für eine „Über46 47 48 49 50 51

Ehlers/Wolffgang/Haellmigk, S. 514; Haellmigk, CZZ 2016, 31. Zutreffend Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 17. Krenzler/Herrmann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 12. Ehlers/Wolffgang/Haellmigk, S. 514; Ahmad, AW-Prax 2012, 230; Haellmigk/Vulin, CR 2013, 354; s. Rz. 36. Ehlers/Wolffgang/Haellmigk, S. 514. Vgl. Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 26, missverständlich insoweit BAFA, Technologietransfer und NonProliferation, S. 12. Der vorsätzliche ungenehmigte Export von Dual-Use Gütern ist eine Straftat, die mit Geldstrafe oder mit einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren geahndet werden kann, der fahrlässige ungenehmigte Export eine Ordnungswidrigkeit, deren Bußgeldrahmen bis zu 500.000 Euro beträgt, vgl. § 18 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und § 19 Abs. 1, 6 AWG. 52 Vgl. Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 26.

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 41 Begriffsbestimmungen tragung“ erforderlichen Transport der Software oder Technologie, obgleich das mit dem Einstellen verbundene Risiko ihrer missbräuchlichen Verwendung durch Dritte größer war als eine Übertragung an einen spezifischen Adressaten, da die Software und Technologie für jeden frei verfügbar waren. Diese Lücke hat der europäische Gesetzgeber durch die Einfügung der Übertragungs-Variante „Bereitstellen“ von Software oder Technologie in elektronischer Form geschlossen. 42

Für das Vorliegen einer „Ausfuhr“ i.S.d. Bereitstellens reicht also bereits aus, wenn eine elektronische Zugriffsmöglichkeit auf die sensible Software oder Technologie für juristische oder natürliche Personen oder Personenvereinigungen außerhalb der EU geschaffen wird. Dabei ist nicht erforderlich, dass die sensible Software oder Technologie vom außereuropäischen Ausland heruntergeladen werden kann. Ausreichend ist vielmehr, wenn sie bereits für eine (Online-)Nutzung zur Verfügung stehen. Für die Exportkontrolle geht es immer darum, die unkontrollierte Verwendung von „europäischer“ sensibler Software oder Technologie im Ausland zu kontrollieren. Daher spielt es keine Rolle, ob die Verwendung im Ausland das Herunterladen umfasst oder „nur“ die elektronische Nutzung der bereitgestellten Software bzw. Technologie.53 Ob tatsächlich vom Ausland auf die Software oder Technologie zugegriffen wird, ist unerheblich.54 Denn mit dem Einräumen von Zugriffsmöglichkeiten ist das Risiko geschaffen worden, dass sensible Software oder Technologie unkontrolliert und ungehindert ins Ausland gelangt. Daraus ergibt sich der Sinn und Zweck dieser Übertragungs-Variante: Es geht um die Vorverlagerung des Zeitpunkts, ab dem eine Exportkontrolle erforderlich ist: nicht mehr (nur) beim Grenzübertritt, sondern bereits bei der Zurverfügungstellung von sensibler Software bzw. Technologie für Personen im nicht-europäischen Ausland.55

43

In diesem Zusammenhang wird vereinzelt die Auffassung vertreten, dass ein Bereitstellen nur ein Unterfall der Übertragung sei mit der Folge, dass ein Bereitstellen nur dann bejaht werden könne, wenn die Software oder Technologie – nach ihrer Zurverfügungstellung – tatsächlich übertragen würden. Daher erkennt diese Ansicht dann ein Bereitstellen, wenn die Software oder Technologie innerhalb der EU zur Verfügung gestellt wird, Personen mit (Wohn-)Sitz außerhalb der EU sich zeitweilig in der EU befinden, dort an die Software oder Technologie gelangen und diese dann außerhalb der EU verbringen.56 Diese Ansicht geht fehl. Die skizzierte Situation unterfällt entweder der Tatmodalität der elektronischen „Übertragung“, da die Software bzw. Technologie vom europäischen ins nicht-europäische Ausland transportiert wird, oder sie ist – wenn sie sich auf einem körperlichen Medium befindet (Diskette, USB-Stick) – eine gegenständliche Ausfuhr. Der Grund für ein derartiges Fehlverständnis liegt in der unzutreffenden Prämisse dieser Ansicht, dass eine Ausfuhr von Software oder Technologie im Sinne der Exportkontrolle stets eine tatsächliche Übertragung voraussetze.57 Genau diese einschränkende und im Zeitalter des Internets überholte Voraussetzung soll aber durch die Modalität „Bereitstellen“ aufgehoben werden. Dadurch erfährt diese Übertragungs-Variante ihre eigenständige und in der Praxis wichtige Bedeutung.

44

Daher genügt für ein „Bereitstellen“ die technische Einräumung einer Zugriffsmöglichkeit auf die Software oder Technologie von außerhalb der EU. Dies entspricht auch der ständigen Verwaltungspraxis des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), der zentralen Exportgenehmigungsbehörde in Deutschland.58 Einschränkend ist aber mit dem BAFA zu fordern, dass die Schaffung einer Zugriffsmöglichkeit von Personen außerhalb der EU auch vom Betreffenden bezweckt ist.59 Andernfalls würde jedes Einstellen von Informationen ins Internet per se ein Bereitstellen begründen, was zu einer uferlosen Ausdehnung des Begriffs „Bereitstellen“ führen würde. Ob ein Zugriff aus dem nichteuropäischen Ausland bezweckt ist, kann nicht allgemein beantwortet werden, sondern ist vielmehr anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung der vom jeweiligen Bereitstellenden verfolgten Ziele und der ergriffenen Maßnahmen zu berücksichtigen. Sofern bei der 53 BAFA, Technologietransfer und Non-Proliferation, S. 12; BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 28. 54 Paul/Niemann/Haellmigk, S. 372; Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 22. 55 Täger/Haellmigk, S. 778; s. auch Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 528. 56 Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 33. 57 S. Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 33. 58 Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 529; Haellmigk, CZZ 2016, 31. 59 Täger/Haellmigk, S. 779; Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 529.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 47 Art. 2 Dual-Use VO

Bereitstellung beabsichtigt ist, dass nur Personen innerhalb, aber nicht außerhalb der EU Zugriff erhalten sollen, müssen hierfür entsprechende Sicherungsmaßnahmen getroffen werden, die den Zugriff von Personen außerhalb der EU verhindern. Einen allgemein gültigen Maßstab für geeignete Sicherungsmaßnahmen gibt es nicht. Es entscheidet der Einzelfall. Maßgeblich ist, dass sichergestellt ist, dass ein Zugriff von außerhalb der EU nicht möglich ist.60 Aus diesem Grund ist beispielsweise das Einstellen von Software oder Technologie durch ein Unternehmen auf einen Server in der EU dann kein Bereitstellen, wenn das Unternehmen nur in der EU tätig ist und der Zugriff für seine Mitarbeiter zugangsgeschützt ist. Es gibt keine externen Mitarbeiter, die von außerhalb der EU auf den Server zugreifen sollen und externe Dritte können nicht zugreifen.61 Fraglich ist, ob sich die bereitgestellte Software und Technologie in der EU befinden muss. Nach An- 45 sicht des BAFA bezieht sich das Tatbestandsmerkmal „außerhalb der Gemeinschaft“ nicht auf das Objekt, auf das zugegriffen werden soll, sondern lediglich auf den Zugriff aus dem nicht-europäischen Ausland.62 In der Tat weist der Wortlaut der Alt. 2 in diese Richtung. Dies bedeutet, dass ein Bereitstellen auch dann vorliegt, wenn Zugriff auf Software und Technologie gewährt wird, die sich im nicht-europäischen Ausland befindet, sofern diese zuvor von der bereitstellenden Person aus der EU dorthin übertragen worden ist. Mit der Erfassung der nachträglichen Einräumung von Zugriffsrechten auf zuvor bereits ins nicht-europäische Ausland übertragene Software oder Technologie soll verhindert werden, dass durch eine Übertragung ins nicht-europäische Ausland die Ausfuhrbeschränkungen für das Bereitstellen umgangen wird, wodurch zugleich die eigenständige Bedeutung der Modalität „Bereitstellen“ betont wird.63 Wie bei Alt. 1 ist auch hier für die Tatbestandsverwirklichung ein subjektives Element nicht erforderlich: Der Bereitstellende muss nicht wissen, dass er sensible Software oder Technologie zur möglichen Nutzung durch eine Person im Nicht-EU-Ausland zur Verfügung stellt (vgl. Rz. 40). 3. Beschreibung von Technologie am Telefon (Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 2) Die Beschreibung von sensibler Technologie (nicht aber Software) am Telefon ist ebenfalls eine Ausfuhr. Die Vorgängerregelung enthielt noch die Einschränkung, dass die Technologie in einem Dokument enthalten sein und dieses Dokument telefonisch verlesen oder mit gleichem Effekt beschrieben worden musste.64 War die Technologie nicht in einem Dokument enthalten, waren telefonische Angaben und Erläuterungen zur betreffenden Technologie mangels Verlesens eines Dokuments keine Ausfuhr. Nach dem jetzigen Wortlaut reicht jegliche Technologie-Beschreibung am Telefon aus.

46

Bei der telefonischen Beschreibung von Technologie muss sich die beschreibende Person innerhalb der EU und der Gesprächspartner außerhalb der EU aufhalten. Innereuropäische Telefonate sind also keine Ausfuhr.65 Der deutsche Wortlaut von Satz 2 lässt hierbei offen, ob der Gesprächspartner seinen (Geschäfts-/Wohn-)Sitz im nicht-europäischen Ausland haben muss oder ob Gesprächspartner jede Person sein kann, die sich außerhalb der EU aufhält. Im Einklang mit dem Begriff der elektronischen Übertragung und seiner Reichweite, wonach nur relevant ist, dass die Empfänger-Person sich zum Zeitpunkt der Übertragung außerhalb der EU befindet, ist Gesprächspartner auch hier jede Person außerhalb der EU.66 Damit ist beispielsweise auch ein Telefonat über sensible Software oder Technologie mit einem in der EU ansässigen Arbeitskollegen, der sich zum Zeitpunkt des Anrufs (auf sein Handy) wegen einer Geschäftsreise außerhalb der EU aufhält, eine Ausfuhr, wobei auch hier unerheblich ist, ob der Anrufende dessen aktuellen Aufenthaltsort kennt (vgl. Rz. 40, 45).67

47

60 61 62 63 64 65 66 67

Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 529; Ehlers/Wolffgang/Nawrotzki, S. 521. S. Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 530, der dieses instruktive Beispiel anführt. Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 530. Infolge der Anknüpfung an das Veranlassen der Einräumung der Zugriffsmöglichkeit soll das Souveränitätsund Territorialprinzip des nicht-europäischen Staates, in dem sich die Software/Technologie befindet, nicht verletzt werden, vgl. Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 530. Art. 2 Buchst. b) iii der damaligen Verordnung Nr. 1334/2000 vom 20.6.2000. Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 22. Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 25; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 35. Zutreffend Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 25.

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 48 Begriffsbestimmungen 48

Gedanken hingegen sind frei. Der Grenzübertritt natürlicher Personen, die sensible Software oder Technologie „im Kopf“ haben, ist somit keine Ausfuhr (vgl. Art. 7).68

III. Exportkontrolle bei Cloud Computing 49

Die oben dargelegten exportkontrollrechtlichen Grundsätze beim Transfer sensibler Software oder Technologie müssen bei Cloud Computing entsprechende Anwendung finden.69 Im Rahmen von Cloud Computing können bei der Verlagerung von Software oder Technologie auf einen Server in einem Drittland, aber auch bei der Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten (unabhängig vom Standort des Servers) aus einem Drittland heraus exportkontrollrechtliche Beschränkungen (Genehmigungspflichten) bestehen.70 1. Infrastructure as a Service (IaaS)/Plattform as a Service (PaaS) a) IaaS

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Bei IaaS bietet ein IT-Dienstleister, der Cloud-Provider, virtuelle Infrastruktur-Komponenten bedarfsgerecht an. Zu den angebotenen IT-Ressourcen zählen z.B. Server, Rechenleistung, Netzkapazitäten, Kommunikationsgeräte und Speicher, die der der Cloud-Nutzer kaufen oder anmieten kann. Über Netze greift der Nutzer darauf zu und baut darauf eigene Services zum internen oder externen Gebrauch auf.71 Technologie kann dabei auf zwei Arten ausgeführt werden: Auslagerung der Technologie in eine Cloud außerhalb der EU (b) und Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten von außerhalb der EU auf die Technologie in der in der EU gelegenen Cloud bzw. Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten von innerhalb der EU auf die zuvor außerhalb der EU verlagerten Technologie in der Cloud (c). b) Übertragung der Technologie in eine Cloud außerhalb der EU

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Die Auslagerung von sensibler (i.e. gelisteter) Technologie in eine Cloud, die sich im Ausland befindet, ist eine Ausfuhr i.S.d. elektronischen Übertragung nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft (Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 1).72 Anknüpfungspunkt ist hier der Ort des Servers nach der Auslagerung. Dies bedeutet für die Unternehmenspraxis, dass jedes weitere Speichern von Dokumenten mit gelisteter Technologie eine Ausfuhr ist, die (weitere) Genehmigungspflichten auslöst.73

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Fraglich ist, ob eine Ausfuhr dann nicht vorliegt, wenn nach der Übertragung der Technologie auf einen Server im nicht-europäischen Ausland nur Personen aus der EU auf die ausgelagerte Technologie zugreifen können. Diese Sichtweise vertreten beispielsweise die englischen Exportkontrollbehörden, 68 Krenzler/Herrmann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 12. Gleichwohl kann die Weitergabe dieser Gedanken an ausländische Dritte als sogenannte technische Unterstützung der nationalen Exportkontrolle unterfallen (für das deutsche Recht vgl. §§ 45 ff. AWV). 69 Es gibt bislang nur wenige Abhandlungen zum Thema „Exportkontrolle bei Cloud Computing“: (englischsprachig) Ahmed/Haellmigk, WorldECR 2012, Ausgabe 18, S. 16 ff.; (englischsprachig) Haellmigk, WorldECR 2015, Ausgabe 46, 18 ff.; Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 529 ff.; Paul/Niemann/Haellmigk, S. 369 ff.; Täger/Haellmigk, S. 771 ff.; Ehlers/Wolffgang/Haellmigk, S. 507 ff.; Haellmigk, CZZ 2016, 27 ff. 70 Die sich ständig verändernde Informationstechnologie-Welt erfordert dabei ein neues Verständnis der Exportkontrolle, das bisher dem traditionellen Konzept der Kontrolle des gegenständlichen Exports verhaftet ist. So formulierte die EU-Kommission bereits in 2012 (zu)treffend: „Cloud computing is, from a trade control perspective, one of many examples of how the notion of ‚export‘ is evolving and forcing us to constantly re-think our approach“; vgl. Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions, Promoting cultural and creative sectors for growth and jobs in the EU, September 2012. Diese Notwendigkeit wird auch im aktuellen Vorschlag der EU Kommission zur Reform der EG Dual-Use VO (2016/0295 (COD)) diskutiert, vgl. hierzu die Kommentierung zu Art. 2 Nr. 1, Fn. 1. 71 Vgl. Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 8 m.w.N. 72 Sofern der Server mit der gelisteten Software oder Technologie ins außereuropäische Ausland verlagert wird, handelt es sich um eine gegenständliche Ausfuhr (Nr. 2 Buchst. i). 73 BAFA, Technologietransfer und Non-Proliferation, S. 17.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 57 Art. 2 Dual-Use VO

die darauf abstellen, dass eine Exportkontrolle mangels Zugriffsmöglichkeit von außerhalb der EU entbehrlich sei.74 Dabei wird jedoch die Ausfuhrvariante „Übertragung“ mit der Ausfuhrvariante „Bereitstellen“ unzulässig vermengt, die jeweils einen eigenständigen Regelungsgehalt haben (s. Rz. 43). Im Ergebnis führt die englische Sichtweise dazu, dass das „Bereitstellen“ der „Übertragung“ vorgeht (lex specialis) und diese letztlich ausschließt. Hierfür liefert der Wortlaut der Nr. 2 Buchst. iii Satz 1 aber keinerlei Anhaltspunkte. Zudem ist auch in diesem Fall eine Exportkontrolle erforderlich, da das Risiko besteht, dass der Server im nicht-europäischen Ausland nicht hinreichend vor widerrechtlichen Zugriffen Dritter geschützt ist. Folgte man der englischen Sichtweise, wäre eine solche exportkontrollrechtlich notwendige Kontroll-Prüfung aber nicht mehr möglich. c) Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten Bei der Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten von außerhalb der EU auf einen Server in der EU liegt zwar keine Ausfuhr im Sinne der Übertragung von Technologie vor, wohl aber eine Ausfuhr in Form des Bereitstellens (Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 2). Denn ein Zugriff von außerhalb der EU ist technisch möglich und auch bezweckt. In dem Zeitpunkt, in dem die Technologie auf den Server gelangt und zugänglich gemacht wird, ist der spätere tatsächliche Zugriff nicht mehr kontrollierbar, so dass die Exportkontrolle an den Moment der Zurverfügungstellung anknüpfen muss.75

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In technischer Hinsicht ist die bloße Zugriffsmöglichkeit auf die Technologie weniger als das tatsächliche Herunterladen der Technologie. Jedoch macht es faktisch keinen Unterschied, ob die Technologie durch das erfolgte Herunterladen für den Nutzer bereits in dessen Besitz ist oder ob die Technologie zwar noch nicht in dessen Besitz ist, aber unmittelbar und jederzeit durch das Herunterladen in dessen Besitz gebracht werden kann.76

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Für das Vorliegen einer Ausfuhr durch Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten ist dabei unerheblich, 55 wo der Standort des Servers ist. Maßgeblich ist vielmehr der Standort desjenigen, der über die Einräumung der Zugriffsmöglichkeit entscheidet und den Zugriff dann auch gewährt. Denn der die Zugriffsmöglichkeiten Einräumende trägt die exportkontrollrechtliche Verantwortlichkeit für den späteren (möglichen oder tatsächlichen) Technologietransfer, nicht aber derjenige, bei dem der Server bloß physisch steht, der aber den tatsächlichen Zugriff auf den Server nicht beeinflussen und kontrollieren kann.77 Dieses (moderne) Verständnis der Exportkontrolle und der Verantwortlichkeit für die Ausfuhr von 56 Technologie führt zwangsläufig zu einer extensiven Anwendung der Exportkontrolle: Eine Ausfuhr bei IaaS ist nicht nur das Einräumen von Zugriffsrechten auf die Technologie auf einem in der EU gelegenen Server für Personen außerhalb der EU, sondern auch die Einräumung von Zugriffsrechten auf die Technologie auf einem Server, der sich außerhalb der EU befindet, sofern die den Zugriff einräumende Person die Technologie zuvor aus der EU auf diesen Server ausgelagert hat.78 d) PaaS Bei PaaS bietet der Service-Provider dem Nutzer Zugang zu einer Plattform (Infrastruktur) innerhalb oder außerhalb der EU, die der Nutzer nutzen kann, in dem dieser auf der Plattform eigene Anwendungen laufen lassen und eigene Systeme entwickeln kann. Hierzu bietet der Serviceprovider Werkzeuge an. Da PaaS – aus dem Blickwinkel der Exportkontrolle – mit IaaS vergleichbar ist, kann auf die Ausführungen zu IaaS verwiesen werden (vgl. Rz. 50–56).

74 Vgl. Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 532. 75 Haellmigk, CCZ 2016, 33. 76 Zutreffend Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 532 f.; BAFA, Technologietransfer und Non-Proliferation, S. 18; BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 28. 77 Haellmigk, CCZ 2016, 33. 78 Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 533; Haellmigk, CCZ 2016, 33.

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 58 Begriffsbestimmungen 2. Software as a Service (SaaS) 58

Bei SaaS wird Software auf einem Server inner- oder außerhalb der EU angeboten, die genutzt werden kann, um bestimmte Ergebnisse in einem EU-Mitgliedstaat oder im nicht-europäischen Ausland zu erzielen. Beispiele der Nutzung sind Finanzbuchhaltung, Textverarbeitung, Kollaborationsanwendungen, Kontaktdatenmanagement. a) Upload der Software

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Wenn Software auf einen Server, der sich außerhalb der EU befindet, hochgeladen wird, ist dies als eine elektronische Übertragung i.S.d. Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 1 zu bewerten.79

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Wenn Zugriffsmöglichkeiten von außerhalb der EU auf die hochgeladene Software eingeräumt werden, liegt ein Bereitstellen i.S.d. Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 2 vor. Unerheblich ist, wenn die bereitgestellte Software vom Nutzer nicht heruntergeladen werden kann, der Nutzer die Software also nicht selbst unmittelbar besitzen kann. Die Einräumung der Nutzungsmöglichkeit ist inhaltlich mit der Einräumung der Möglichkeit, unmittelbaren Besitz an der Software zu erlangen, vergleichbar. Die Software jederzeit nutzen zu können, ist im Ergebnis nichts anderes als die Software in seinem (unmittelbaren) Besitz zu haben.80

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Ein Sonderfall liegt dann vor, wenn die bereitgestellte Software lediglich den Zweck hat, die Übertragung bzw. den Übertragungsweg der Ergebnisse der Software zu verschlüsseln. Denn dann soll die Verschlüsselungssoftware gerade nicht beliebig häufig genutzt werden, so dass sich hier eine Gleichstellung der Nutzungsmöglichkeit mit der Möglichkeit der Erlangung des unmittelbaren Besitzes verbietet. In diesem Fall ist eine Ausfuhr in Form des Bereitstellens zu verneinen.81 b) Nutzung der Software

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Wenn die bereitgestellte Software in der Weise genutzt wird, dass (gelistete) Technologie in diese Software eingespeist wird, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen (Beispiel: Software zur aerodynamischen Optimierung von Flugzeugbauteilen, Einspeisung von gelisteten Messwerten in diese Software), ist die Einspeisung der Technologie eine elektronische Übertragung i.S.d. Nr. 2 Buchst. iii Satz 1, Alt. 1.82 Unter Berücksichtigung des Tatbestandsmerkmals l „nach einem Bestimmungsziel außerhalb der Gemeinschaft“ ist aber erforderlich, dass der Server, auf dem sich die zu nutzende Software befindet, im nicht-europäischen Ausland steht.83

D. Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii I. Ausführer 63

Art. 2 Nr. 3 regelt, wer „Ausführer“ ist. Die Bestimmung des Ausführers ist von großer Relevanz im Exportkontrollrecht, da ihn die exportkontrollrechtlichen Rechte und Pflichten hinsichtlich einer Ausfuhr treffen. Der Ausführer ist dafür verantwortlich, dass die bestehenden Exportkontrollvorgaben (wie Genehmigungspflichten) bei der Ausfuhr eingehalten werden. Im Falle von Verfehlungen in diesem Bereich ist er daher auch Adressat behördlicher bzw. gerichtlicher Sanktionen.84 Während Art. 2 Nr. 3 Buchst. i den Ausführer bei gegenständlichen Ausfuhren bestimmt, definiert Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii den Ausführerbegriff im Bereich der elektronischen Übertragung von Software und Technologie ins nicht-europäische Ausland.

79 Haellmigk, CCZ 2016, 33. 80 BAFA, Technologietransfer und Non-Proliferation, S. 19; BAFA, Handbuch Exportkontrolle und Academia, S. 28. 81 BAFA, Technologietransfer und Non-Proliferation, S. 19. 82 Haellmigk, CCZ 2016, 34. 83 Ehlers/Wolffgang/Pietsch, S. 535; Haellmigk, CCZ 2016, 34. 84 Die Sanktionen für exportkontrollrechtliche Verfehlungen sind nationalrechtlich geregelt, s. §§ 17 ff. AWG.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 68 Art. 2 Dual-Use VO

II. Norminhalt Gem. Nr. 3 Buchst. ii ist Ausführer derjenige, der über die elektronische Übertragung der Informationen entscheidet. Das kann, muss aber nicht unbedingt derjenige sein, der die Information überträgt. Bei natürlichen Personen dürfte dies aufgrund der regelmäßig anzutreffenden Personenidentität zwischen Übertragendem und Entscheidendem unproblematisch sein.

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Schwieriger ist die Feststellung bei juristischen Personen, da der Übertragende nur auf Anweisung eines Entscheidungsträgers handelt. Hier ist also danach zu fragen, wer die Entscheidungsmacht zur Übertragung der Software und Technologie hat.85 Wenn Mitarbeiter einer juristischen Person Software/oder Technologie übertragen haben, ist die juristische Person für die Übertragung verantwortlich und damit Ausführer, wenn die Übertragung von weisungsbefugten Vertretern der juristischen Person veranlasst worden ist. Ob die Übertragung auf Anweisung erfolgt ist, ist unter Berücksichtigung der jeweiligen Unternehmens- und Hierarchiestrukturen sowie des konkreten Arbeitsverhältnisses zwischen dem Mitarbeiter und seinem Arbeitgeber zu prüfen. Die Art und Weise der Anweisung bzw. Veranlassung kann also unterschiedlich ausgestaltet sein; sie wird regelmäßig generischer Natur sein und sich nicht auf eine spezifische Übertragung beziehen. Im Regelfall ist also bei einer Übertragung durch einen Mitarbeiter bei seiner Arbeit an seinem Arbeitsplatz von einer durch die juristische Person veranlassten Übertragung auszugehen. Indizien für eine (allgemeine) Veranlassung können beispielsweise bei einer Übertragung per E-Mail die E-Mail-Adresse, das Firmenlogo, die E-Mail-Signatur etc. sein. Nur in den Fällen, in denen der die Software und Technologie Übertragende nicht mehr als Mitarbeiter, sondern nur noch als Privatperson handelt („bei Gelegenheit“), ist nicht sein Arbeitgeber, sondern er selbst als Ausführer anzusehen.86 Die gleichen Grundsätze gelten für die Nutzung eines firmeneigenen Intranets.

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Ob und inwieweit der Übertragende zur Übertragung der Informationen berechtigt ist, spielt für die Ausführereigenschaft keine Rolle. Zivilrechtlicher oder sonstiger Berechtigungen (Lizenzen, Patente etc.) bedarf es also nicht: Auch derjenige ist Ausführer, der ohne Befugnis überträgt.87

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Wenn die Ausfuhr von Software oder Technologie in Form des Bereitstellens erfolgt, ist derjenige Ausführer, der die Software oder Technologie von der EU aus für Personen im nicht-europäischen Ausland zugänglich macht, gleich, ob für eine einzelne Person oder für die Allgemeinheit.88 Auch der Anbieter einer Homepage im Internet ist somit ein Ausführer, wenn er sie von der EU aus in das Netz stellt. Die vorstehenden Ausführungen zum Ausführer bei einer juristischen Person sowie bei der Bereitstellung von Software oder Technologie durch ein firmeneigenes Intranet gelten entsprechend.

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Bei der Beurteilung, ob eine natürliche oder juristische Person Ausführer von Software oder Techno- 68 logie i.S.d. Nr. 3 Buchst. ii ist, sind sowohl der Ort der Person, die über die Bereitstellung entscheidet und die Zugriffsmöglichkeit veranlasst, als auch der Ort, an dem sich die Software oder Technologie (Server) physisch befindet, maßgeblich.89 Befindet sich die über die Bereitstellung entscheidende Person außerhalb der EU, ist er kein Ausführer, auch wenn sich die bereitgestellte Software oder Technologie in der EU befindet, da sich der Anwendungsbereich der EG Dual-Use VO auf das Territorium der einzelnen Mitgliedstaaten erstreckt (s. Art. 38). Eine extraterritoriale Anwendung der EG Dual-Use VO findet nicht statt.90 In der Praxis wird diese Konstellation aber eher selten vorliegen, gerade wenn es sich bei der die Bereitstellung veranlassende Person im Ausland um ein Unternehmen mit Tochtergesellschaften mit Sitz in der EU handelt. In diesem Fall können auch die jeweilige Tochtergesellschaft oder die verantwortlichen Mitarbeiter der Tochtergesellschaft, die an der Bereitstellung bzw. an der Umsetzung der veranlassten Bereitstellung organisatorisch-technisch beteiligt sind, als Ausführer qualifiziert werden. Befindet sich die die Bereitstellung veranlassende Person in der EU, ist jedoch die be85 86 87 88 89 90

Krenzler/Hermann/Niestedt/Karpenstein/Kottmann, Art. 2 Rz. 20. Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 55; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 54. Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 56. Dorsch/Lux, Art. 2 Rz. 31. Zutreffend Hocke/Friedrich/Friedrich, Art. 2 Rz. 59. Hingegen enthalten die EU-Embargo-Verordnungen Bestimmungen zu ihrer extraterritorialen Anwendung, vgl. beispielsweise Art. 49 der Iran-Embargo-Verordnung (VO (EU) Nr. 267/2012, letztmalig geändert durch DVO (EU) 2019/855).

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Dual-Use VO Art. 2 Rz. 68 Begriffsbestimmungen reitzustellende Software oder Technologie physisch bereits im außereuropäischen Ausland, liegt begrifflich bereits keine Ausfuhr i.S.d. Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Alt. 2 vor, so dass es auch keinen Ausführer gibt.91 69

Ob der Internet-Provider als Ausführer zu qualifizieren ist, hängt davon, welche Dienstleistungen er für den Anwender erbringt. Überträgt er selbst fremde Software oder Technologie (Service-Provider), kann auch für ihn eine Ausführereigenschaft in Betracht kommen. Gewährt er jedoch lediglich Zugang zum Internet (Zugangs-Provider), ist er kein Ausführer.92

III. Exportkontrolle bei Cloud Computing 70

Auch hinsichtlich Cloud Computing ist für die Bestimmung des Ausführers maßgeblich, wer über die Übertragung der Software oder Technologie bzw. über die Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten hierauf entscheidet und diese veranlasst. 1. IaaS/PaaS

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Bei IaaS ist Ausgangspunkt, dass der Eigentümer (Besitzer) der Technologie über die Art und Weise der Verlagerung bestimmt. Dazu zählt auch das Ziel der Übertragung. Er wird also im Regelfall darüber entscheiden (wollen) oder zumindest in Erfahrung bringen können, wohin die Technologie übertragen wird. Daher ist der Technologieeigentümer grundsätzlich der Ausführer.93 Für den (seltenen) Fall, dass der Technologieeigentümer tatsächlich keine Kenntnis über die Auslagerung bzw. den Standort des Servers hat und haben konnte, auf den der Provider Technologie überträgt, kommt nach Ansicht des BAFA der Provider als Ausführer in Betracht, da er dann über die Verlagerung entscheidet.94 Hinsichtlich der Einräumung von Zugriffsmöglichkeiten gilt Entsprechendes: Ausführer ist derjenige, der über die Einräumung der Zugriffsmöglichkeiten tatsächlich entscheidet und veranlasst. Dies ist im Regelfall der Nutzer.

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Bei PaaS gilt Folgendes: Sofern der Service-Provider bei der Schaffung einer Plattform im nicht-europäischen Ausland Technologie einstellt bzw. dann die Plattform mit dieser Technologie bereithält, ist der Service-Provider der Ausführer. Wenn der Anwender auf der Plattform eigene Anwendungen, die Technologie enthalten, laufen lässt, ist mit Blick auf das Einstellen dieser Technologie der Anwender der Ausführer. 2. SaaS

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Wenn bei SaaS Software hochgeladen wird, ist diejenige Person Ausführer, die über diese Übertragung entscheidet und bestimmt. Dies ist der Service-Provider, da er die Software zur Verfügung stellt. Wenn der Anwender Technologie in die Software zwecks Erzielung von Ergebnissen einspeist, veranlasst er wiederum diese Technologieübertragung, so dass er als Ausführer anzusehen ist. Sofern die erzielten Ergebnisse übertragen oder zur Verfügung gestellt werden, ist zu prüfen, wer wiederum über diese Übertragung bzw. Bereitstellung entscheidet. Dies kann im Einzelfall der Anwender oder der ServiceProvider sein.

91 Es sei denn, die bereitstellende Person hat die Software oder Technologie zuvor ins außereuropäische Ausland transferiert, vgl. die Kommentierung zu Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Rz. 45. 92 Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Tervooren/Mrozek, Art. 2 Rz. 58. 93 Zur vertraglichen Ausgestaltung von Nutzungsvereinbarungen in diesem Zusammenhang vgl. Paul/Niemann/ Haellmigk, S. 378 f. 94 A.A. Dorsch/Lux, der im Falle der Unkenntnis des Nutzers über den Standort des Servers bei der Übertragung ein Bereitstellen erkennt, da zumindest der Provider mit der Übertragung Zugriffsmöglichkeiten die Technologie habe, Art. 2 Rz. 31. Diese Ansicht entspricht dem Verständnis, dass die Ausfuhr kein subjektives Element (Wissen) voraussetzt, s. die Kommentierung zu Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Rz. 40.

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Art. 4 Dual-Use VO

Art. 3 (1) Die Ausfuhr der in Anhang I aufgeführten Güter mit doppeltem Verwendungszweck ist genehmigungspflichtig. (2) Gemäß Artikel 4 oder Artikel 8 kann auch für die Ausfuhr von bestimmten, nicht in Anhang I aufgeführten Gütern mit doppeltem Verwendungszweck nach allen oder bestimmten Bestimmungszielen eine Genehmigung vorgeschrieben werden. Nicht kommentiert.

Art. 4 (1) Die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt sind, ist genehmigungspflichtig, wenn der Ausführer von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er niedergelassen ist, davon unterrichtet worden ist, dass diese Güter ganz oder teilweise bestimmt sind oder bestimmt sein können zur Verwendung im Zusammenhang mit der Entwicklung, der Herstellung, der Handhabung, dem Betrieb, der Wartung, der Lagerung, der Ortung, der Identifizierung oder der Verbreitung von chemischen, biologischen oder Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern oder zur Entwicklung, Herstellung, Wartung oder Lagerung von Flugkörpern für derartige Waffen. (2) Die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt sind, ist auch genehmigungspflichtig, wenn gegen das Käuferland oder das Bestimmungsland ein Waffenembargo aufgrund eines vom Rat festgelegten Gemeinsamen Standpunkts oder einer vom Rat verabschiedeten Gemeinsamen Aktion oder einer Entscheidung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder ein Waffenembargo aufgrund einer verbindlichen Resolution des VN-Sicherheitsrates verhängt wurde und wenn der Ausführer von den in Absatz 1 genannten Behörden davon unterrichtet worden ist, dass diese Güter ganz oder teilweise für eine militärische Endverwendung bestimmt sind oder bestimmt sein können. Als „militärische Endverwendung“ im Sinne dieses Absatzes gilt a) der Einbau in militärische Güter, die in der Militärliste der Mitgliedstaaten aufgeführt sind; b) die Verwendung von Herstellungs-, Test- oder Analyseausrüstung sowie Bestandteilen hierfür für die Entwicklung, die Herstellung oder die Wartung von militärischen Gütern, die in der oben genannten Liste aufgeführt sind; c) die Verwendung von unfertigen Erzeugnissen in einer Anlage für die Herstellung von militärischen Gütern, die in der oben genannten Liste aufgeführt sind. (3) Die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt sind, ist auch genehmigungspflichtig, wenn der Ausführer von den in Absatz 1 genannten Behörden davon unterrichtet worden ist, dass diese Güter ganz oder teilweise für die Verwendung als Bestandteile von militärischen Gütern bestimmt sind oder bestimmt sein können, die in der nationalen Militärliste aufgeführt sind und aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ohne Genehmigung oder unter Verstoß gegen eine aufgrund innerstaatlicher Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erteilte Genehmigung ausgeführt wurden. (4) Ist einem Ausführer bekannt, dass Güter mit doppeltem Verwendungszweck, die er ausführen möchte und die nicht in Anhang I aufgeführt sind, ganz oder teilweise für eine der Verwendungen im Sinne der Absätze 1, 2 und 3 bestimmt sind, so hat er die in Absatz 1 genannten Behörden davon zu unterrichten; diese entscheiden, ob die Ausfuhr dieser Güter genehmigungspflichtig sein soll. (5) Ein Mitgliedstaat kann einzelstaatliche Rechtsvorschriften erlassen oder beibehalten, in denen für die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt Haellmigk

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Dual-Use VO Art. 4 sind, eine Genehmigungspflicht vorgeschrieben wird, wenn der Ausführer Grund zu der Annahme hat, dass diese Güter ganz oder teilweise für einen der in Absatz 1 genannten Verwendungszwecke bestimmt sind oder bestimmt sein können. (6) Ein Mitgliedstaat, der gemäß den Absätzen 1 bis 5 für die Ausfuhr eines Gutes mit doppeltem Verwendungszweck, das nicht in Anhang I aufgeführt ist, eine Genehmigungspflicht vorschreibt, teilt dies, soweit angebracht, den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission mit. Die anderen Mitgliedstaaten berücksichtigen diese Information gebührend und unterrichten ihre Zollbehörden und anderen zuständigen nationalen Behörden. (7) Artikel 13 Absätze 1, 2 und 5 bis 7 gelten für Fälle im Zusammenhang mit Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt sind. (8) Diese Verordnung lässt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, einzelstaatliche Maßnahmen gemäß Artikel 11 der Verordnung (EWG) Nr. 2603/69 zu ergreifen. Nicht kommentiert.

Art. 8 (1) Ein Mitgliedstaat kann die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I aufgeführt sind, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder aus Menschenrechtserwägungen untersagen oder hierfür eine Genehmigungspflicht vorschreiben. (2) Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission unverzüglich nach deren Erlass über die gemäß Absatz 1 erlassenen Maßnahmen und geben dabei die genauen Gründe für diese Maßnahmen an. (3) Die Mitgliedstaaten unterrichten ferner die Kommission unverzüglich über alle Änderungen der gemäß Absatz 1 erlassenen Maßnahmen. (4) Die Kommission veröffentlicht die ihr gemäß den Absätzen 2 und 3 mitgeteilten Maßnahmen im Amtsblatt der Europäischen Union, Reihe C. Nicht kommentiert.

Art. 12 (1) Bei der Entscheidung, ob eine Einzel- oder Globalausfuhrgenehmigung oder eine Genehmigung für die Erbringung von Vermittlungstätigkeiten gemäß dieser Verordnung erteilt wird, berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle sachdienlichen Erwägungen, und zwar unter anderem folgende Punkte: a) die Verpflichtungen und Bindungen, die jeder Mitgliedstaat als Mitglied der jeweiligen internationalen Nichtverbreitungsregime und Ausfuhrkontrollvereinbarungen oder durch die Ratifizierung einschlägiger internationaler Verträge übernommen hat; b) ihre Verpflichtungen im Rahmen von Sanktionen, die aufgrund eines vom Rat festgelegten Gemeinsamen Standpunkts oder einer vom Rat verabschiedeten Gemeinsamen Aktion oder aufgrund einer Entscheidung der OSZE oder aufgrund einer verbindlichen Resolution des VN-Sicherheitsrats verhängt wurden; c) Überlegungen der nationalen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Aspekte, die vom Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. Dezember 2008 betreffend

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Art. 12 Dual-Use VO gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern erfasst werden; d) Überlegungen über die beabsichtigte Endverwendung und die Gefahr einer Umlenkung. (2) Neben den in Absatz 1 genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Bewertung eines Antrags auf eine Globalgenehmigung auch, ob der Ausführer angemessene und verhältnismäßige Mittel und Verfahren anwendet, um die Einhaltung der Bestimmungen und Ziele dieser Verordnung und der Genehmigungsauflagen zu gewährleisten. Nicht kommentiert.

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Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14. Dezember 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung (F&E-GVO) ABl. EU Nr. L 335 vom 18.12.2010, 36 (Auszug)

Art. 1 Begriffsbestimmungen (1) Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck a) „Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung“ eine Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Parteien, die die Bedingungen für die Verfolgung der nachstehenden Ziele durch diese Parteien betreffen: i) gemeinsame Forschung und Entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien und gemeinsame Verwertung der erzielten Ergebnisse, ii) gemeinsame Verwertung der Ergebnisse der gemeinsamen Forschung und Entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien, die nach einer zuvor geschlossenen Vereinbarung zwischen denselben Parteien durchgeführt worden ist, iii) gemeinsame Forschung und Entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien ohne gemeinsame Verwertung der Ergebnisse, iv) Auftragsforschung und -entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien und gemeinsame Verwertung der erzielten Ergebnisse, v) gemeinsame Verwertung der Ergebnisse der Auftragsforschung und -entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien, die nach einer zuvor geschlossenen Vereinbarung zwischen denselben Parteien durchgeführt worden ist, oder vi) Auftragsforschung und -entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien ohne gemeinsame Verwertung der Ergebnisse; b) „Vereinbarung“ eine Vereinbarung, einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung oder eine abgestimmte Verhaltensweise; c) „Forschung und Entwicklung“ den Erwerb von Know-how über Produkte, Technologien oder Verfahren und die Durchführung von theoretischen Analysen, systematischen Studien oder Versuchen, einschließlich der versuchsweisen Herstellung und der technischen Prüfung von Produkten oder Verfahren, die Errichtung der dafür erforderlichen Anlagen und die Erlangung von Rechten des geistigen Eigentums an den Ergebnissen; d) „Produkt“ eine Ware oder eine Dienstleistung in Form einer Zwischen- oder Endware oder einer Zwischen- oder Enddienstleistung; e) „Vertragstechnologie“ eine Technologie oder ein Verfahren, die bzw. das aus den gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten hervorgeht; f) „Vertragsprodukt“ ein Produkt, das aus den gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten hervorgeht oder unter Anwendung der Vertragstechnologien hergestellt bzw. bereitgestellt wird; g) „Verwertung der Ergebnisse“ die Herstellung oder den Vertrieb der Vertragsprodukte, die Anwendung der Vertragstechnologien, die Abtretung von Rechten des geistigen Eigentums oder die Erteilung diesbezüglicher Lizenzen oder die Weitergabe von Know-how, das für die Herstellung oder Anwendung erforderlich ist;

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Begriffsbestimmungen

Art. 1 F&E-GVO

h) „Rechte des geistigen Eigentums“ unter anderem gewerbliche Schutzrechte, Urheberrechte und verwandte Schutzrechte; i) „Know-how“ eine Gesamtheit nicht patentgeschützter praktischer Kenntnisse, die durch Erfahrung und Erprobung gewonnen wurden und die geheim, wesentlich und identifiziert sind; j) „geheim“ im Zusammenhang mit Know-how, dass das Know-how nicht allgemein bekannt und nicht leicht zugänglich ist; k) „wesentlich“ im Zusammenhang mit Know-how, dass das Know-how bei der Herstellung der Vertragsprodukte oder der Anwendung der Vertragstechnologien bedeutsam und nützlich ist; l) „identifiziert“ im Zusammenhang mit Know-how, dass das Know-how so umfassend beschrieben ist, dass überprüft werden kann, ob es die Merkmale „geheim“ und „wesentlich“ erfüllt; m) „gemeinsam“ im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die unter einer Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung ausgeübt werden, die Ausübung der betreffenden Tätigkeiten i) in einem gemeinsamen Team, einer gemeinsamen Organisation oder einem gemeinsamen Unternehmen, ii) durch einen gemeinsam bestimmten Dritten oder iii) durch die Parteien im Wege der Spezialisierung im Rahmen der Forschung und Entwicklung oder der Verwertung; n) „Spezialisierung im Rahmen der Forschung und Entwicklung“ die Beteiligung aller Parteien an der unter die Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung fallenden Forschung und Entwicklung und die Aufteilung der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten untereinander so, wie es ihres Erachtens am zweckmäßigsten ist; dies umfasst nicht Auftragsforschung und -entwicklung; o) „Spezialisierung im Rahmen der Verwertung“ die Verteilung einzelner Aufgaben wie Produktion oder Vertrieb unter den Parteien oder die Auferlegung von Beschränkungen hinsichtlich der Verwertung der Ergebnisse unter den Parteien wie in Bezug auf bestimmte Gebiete, Kunden oder Anwendungsbereiche; dies umfasst den Fall, dass nur eine Partei die Vertragsprodukte auf der Grundlage einer von den anderen Parteien erteilten ausschließlichen Lizenz herstellt und vertreibt; p) „Auftragsforschung und -entwicklung“ die Ausführung von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durch eine Partei und deren Finanzierung durch eine finanzierende Partei; q) „finanzierende Partei“ eine Partei, die Auftragsforschung und -entwicklung finanziert und selbst keine der Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten ausübt; r) „Wettbewerber“ einen tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerber; s) „tatsächlicher Wettbewerber“ ein Unternehmen, das Produkte, Technologien oder Verfahren anbietet, die auf dem räumlich relevanten Markt durch das Vertragsprodukt oder die Vertragstechnologie verbessert, substituiert oder ersetzt werden können; t) „potenzieller Wettbewerber“ ein Unternehmen, bei dem realistisch und nicht nur hypothetisch davon ausgegangen werden kann, dass es ohne die Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung als Reaktion auf einen geringen, aber anhaltenden Anstieg der relativen Preise wahrscheinlich innerhalb von höchstens drei Jahren die zusätzlichen Investitionen tätigen oder sonstigen Umstellungskosten auf sich nehmen würde, die erforderlich wären, um Produkte, Technologien oder Verfahren anbieten zu können, die auf dem räumlich relevanten Markt durch das Vertragsprodukt oder die Vertragstechnologie verbessert, ausgetauscht oder ersetzt werden können; u) „relevanter Produktmarkt“ den relevanten Markt für die Produkte, die durch die Vertragsprodukte verbessert, ausgetauscht oder ersetzt werden können; v) „relevanter Technologiemarkt“ den relevanten Markt für die Technologien oder Verfahren, die durch die Vertragstechnologien verbessert, ausgetauscht oder ersetzt werden können.

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F&E-GVO Art. 1 Begriffsbestimmungen (2) Für die Zwecke dieser Verordnung umfassen die Ausdrücke „Unternehmen“ und „Parteien“ die jeweils mit diesen verbundenen Unternehmen. Der Ausdruck „verbundene Unternehmen“ bezeichnet a) Unternehmen, in denen eine Partei der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung unmittelbar oder mittelbar i) die Befugnis hat, mehr als die Hälfte der Stimmrechte auszuüben, ii) die Befugnis hat, mehr als die Hälfte der Mitglieder des Aufsichts- oder Leitungsorgans oder der zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organe zu bestellen, oder iii) das Recht hat, die Geschäfte des Unternehmens zu führen; b) Unternehmen, die in einem an der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung beteiligten Unternehmen unmittelbar oder mittelbar die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse haben; c) Unternehmen, in denen ein unter Buchstabe b genanntes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat; d) Unternehmen, in denen ein an der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung beteiligtes Unternehmen zusammen mit einem oder mehreren der unter den Buchstaben a, b und c genannten Unternehmen oder in denen zwei oder mehr der zuletzt genannten Unternehmen zusammen die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse haben; e) Unternehmen, in denen die folgenden Parteien zusammen die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse haben: i) an der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung beteiligte Parteien oder jeweils mit diesen verbundene Unternehmen im Sinne der Buchstaben a bis d oder ii) eine oder mehrere der an der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung beteiligten Parteien oder eines oder mehrere der mit ihnen verbundenen Unternehmen im Sinne der Buchstaben a bis d und eine oder mehrere dritte Parteien.

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Freistellung

Rz. 1 Art. 2 F&E-GVO

Art. 2 Freistellung (1) Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV und nach Maßgabe dieser Verordnung gilt Artikel 101 Absatz 1 AEUV nicht für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen. Diese Freistellung gilt, soweit diese Vereinbarungen Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen. (2) Die Freistellung nach Absatz 1 gilt für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, deren Bestimmungen sich auf die Übertragung von Rechten des geistigen Eigentums oder die Erteilung diesbezüglicher Lizenzen an eine oder mehrere der Parteien oder an eine von den Parteien für die Durchführung der gemeinsamen Forschung und Entwicklung, der Auftragsforschung und -entwicklung oder der gemeinsamen Verwertung gegründete Einheit beziehen, sofern diese Bestimmungen nicht Hauptgegenstand solcher Vereinbarungen sind, sich aber unmittelbar auf deren Umsetzung beziehen und dafür erforderlich sind. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 2

II. Freistellung (Art. 2 Abs. 1, Unterabs. 1) . . . III. Wettbewerbsbeschränkung (Art. 2 Abs. 1, Unterabs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

1. 2. 3. 4.

8

V. Abgrenzung zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen . . . . . . . . . . . . . 17

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenabrede im Innenverhältnis . . . . . . . . Hauptgegenstand (Abgrenzung zur TT-GVO) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 14 15 16

IV. Nebenabreden über geistige Eigentumsrechte (Art. 2 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . 13 Literatur: Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Aufl. 2014; Bornkamm/Montag/Säcker, Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Band 1 Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2015; Busche/Röhling, Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Band 3, 2016; Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Band 1: EU/Teil 1, 6. Aufl. 2019; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016; OECD, Frascati-Handbuch 2015 – Leitlinien für die Erhebung und Meldung von Daten über Forschung und experimentelle Entwicklung, 2018; Pautke/Schultze, Zugangserfordernis zu Forschungsergebnissen nach der VO Nr. 1217/2010 – besteht die Gruppenfreistellung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen im Praxistest?, ZWeR 2014, 417; Rosenberger/Wündisch, Verträge über Forschung und Entwicklung, 3. Aufl. 2018; Rosenberger, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen im Vergleich zu ihrer Vorgängerin, GRUR Int. 2012, 721; Schulte/Just, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016; Slobodenjuk, Die F&E-Gruppenfreistellungsverordnung – Praxistipps, BB 2016, 1670; Wandtke/Bullinger, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019; Winzer, Forschungs- und Entwicklungsverträge, 2. Aufl. 2011; Wolf, Exklusivitätsregelungen in F&E-Verträgen, WRP 2013, 885.

I. Allgemeines 1. Einführung Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB verbieten Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse 1 von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken. Vereinbarungen, die gegen dieses Kartellverbot verstoßen, sind nach Art. 101 Abs. 2 AEUV oder § 134 BGB nichtig. Auch eine Teilnichtigkeit kann nach § 139 BGB zur Nichtigkeit der gesamten Vereinbarung führen. Verstöße gegen das Kartellverbot können Ansprüche auf Unterlassung oder Schadenersatz gem. § 33 GWB nach sich ziehen. Zuletzt besteht auch das Risiko einer kartellbehördlichen Verfolgung, entweder in einem verwaltungsrechtlichen oder einem bußgeldrechtlichen Verfahren (Art. 101 AEUV Rz. 74 ff.). Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB können wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen vom Kartellverbot freigestellt sein, wenn sie bestimmte abstrakt formulierte Voraus-

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F&E-GVO Art. 2 Rz. 1 Freistellung setzungen erfüllen. Die F&E-GVO1 ist eine der Gruppenfreistellungsverordnungen, die diese Freistellungsvoraussetzungen konkretisiert. Die Freistellungsvoraussetzungen der Gruppenfreistellungsverordnungen gelten nach Art. 1 VO 1/20032 direkt, ohne dass es einer Behördenentscheidung bedarf (System der Selbstveranlagung bzw. Legalausnahme). Die EU-Kommission oder die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten können allerdings den Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung nach Art. 29 VO 1/2003 entziehen. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich 2

Abs. 1 ist die zentrale Norm der F&E-GVO. Sie ordnet die Freistellungswirkung an. Nach ihr gilt Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht für F&E-Vereinbarungen. Damit ist zugleich der Anwendungsbereich der F&E-GVO bestimmt. Die weiteren Voraussetzungen für die Freistellung finden sich in Art. 3, Art. 4, Art. 5 und Art. 6. Dabei folgt die F&E-GVO weitgehend der allgemeinen Struktur der Gruppenfreistellungsverordnungen. In Art. 3 finden sich positive Freistellungsvoraussetzungen, die in den Vereinbarungen festgehalten sein müssen, Art. 4 enthält Regelungen über Marktanteile und die Freistellungsdauer, Art. 5 enthält Kernbeschränkungen, die die Freistellung im Ganzen entfallen lassen, Art. 6 enthält nicht von der Freistellungswirkung erfasste Beschränkungen und Art. 7 Regeln über die Anwendung der Marktanteilsschwelle.

3

Die Freistellung nach der F&E-GVO ist überhaupt nur notwendig, wenn eine Vereinbarung eine Wettbewerbsbeschränkung enthält, die in den Anwendungsbereich des Kartellverbots fällt. Für diese Bewertung relevant ist insb. das Kapitel zu „Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung“ in den „Horizontalleitlinien“ der EU-Kommission.3 Die Kommission führt darin aus, unter welchen Voraussetzungen F&E-Vereinbarungen nach ihrer Auffassung Wettbewerbsbeschränkungen enthalten (s. dazu im Detail Rz. 4 ff.).

II. Freistellung (Art. 2 Abs. 1, Unterabs. 1) 4

Der Begriff F&E-Vereinbarung wird in Art. 1 Abs. 1 lit. a legaldefiniert. Nach Art. 1 Abs. 1 lit. a fallen in den Anwendungsbereich verschiedene Arten von F&E-Vereinbarungen. Die Varianten unterscheiden sich danach, ob es um gemeinsame F&E (Forschung und Entwicklung) oder Auftrags-F&E geht, ob eine gemeinsame Verwertung vereinbart wird und ob die Vereinbarung über gemeinsame Verwertung zu Beginn der F&E oder erst danach geschlossen wird.

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Zentraler Begriff ist die „Forschung und Entwicklung“, die in Art. 1 Abs. 1 lit. c legaldefiniert wird. Die Definition beschreibt den chronologischen Ablauf eines Innovationsprozesses vom Erwerb von Kenntnissen über Analysen, Studien und Versuchen samt Erwerb geistigen Eigentums bis zur Produktionsreife.4 Die Definition ist grundsätzlich weit auszulegen.5 Es muss nicht zwischen Forschung und Entwicklung unterschieden werden.6 Irrelevant ist, welche Elemente der Definition Forschung und welche Entwicklung betreffen.7 Eine Tätigkeit muss nicht alle Tatbestandsmerkmale der Definition er1 Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14.12.2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, ABl. EU Nr. L 335/36 v. 18.12.2010. 2 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. EU Nr. L 1/1 v. 4.1.2003. 3 EU-Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit („Horizontalleitlinien“), ABl. EU Nr. C 11/1 v. 14.1.2011, Rz. 111 ff. und 127 ff. 4 Vgl. ErwGr. 6; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 1 FuE-GVO Rz. 13; MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 1 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 12; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Schütze, Art. 1 FuE-GVO Rz. 4. 5 EU-Kommission v. 12.12.1990 – IV/32.363, ABl. EU 1991 L 19/25, Rz. 20 – KSB/Goulds/Lowara/ITT; MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 1 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 12; Schulte/Just/Leupold, Art. 1 F&E-GVO Rz. 5. 6 Schulte/Just/Leupold, Art. 1 F&E-GVO Rz. 5; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 1 VO 1217/2010 Rz. 10. 7 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 1 VO 1217/2010 Rz. 10.

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Freistellung

Rz. 9 Art. 2 F&E-GVO

füllen, um Forschung und Entwicklung darzustellen.8 Eine reine Forschungskooperation dürfte in der Regel aber schon nicht in den Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV fallen und damit zumindest nicht freistellungsbedürftig sein.9 Im Ergebnis kann eine Vielzahl von mehr oder weniger marktnahen Kooperationen unter die Definition fallen. Einstweilen frei.

6

Die gängigen Tätigkeiten bei der Entwicklung eines Computerprogramms (vgl. § 69a UrhG Rz. 3 ff.) 7 lassen sich grundsätzlich unter den Begriff der Forschung und Entwicklung subsumieren. Die Entwicklung eines Computerprogramms kann in die Anforderungs-, die Konzeptions-, die Implementierungsund die Testphase unterteilt werden.10 In der Anforderungsphase werden u.a. „theoretische Analysen“ im Sinne der Legaldefinition durchgeführt. Die Konzeptionsphase beinhaltet den Übergang von theoretischen Analysen zur versuchsweisen Herstellung des Produkts. Die Implementierungs- oder Kodierungsphase entspricht der „versuchsweisen Herstellung“ des Produkts. Die Testphase findet sich in der „technischen Prüfung von Produkten oder Verfahren“ wieder. An den Ergebnissen der F&E können Rechte des geistigen Eigentums, insb. in Form von Urheberrechten oder Patentrechten erlangt werden.

III. Wettbewerbsbeschränkung (Art. 2 Abs. 1, Unterabs. 2) Nach Abs. 1 Unterabs. 2 gilt die Freistellung, soweit die F&E-Vereinbarung Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUVerfüllen. Die EU-Kommission führt in ihren „Horizontalleitlinien“ aus, unter welchen Voraussetzungen F&E-Vereinbarungen nach ihrer Auffassung Wettbewerbsbeschränkungen enthalten. F&E-Vereinbarungen können nach Auffassung der EU-Kommission den Wettbewerb auf bestehenden Produktmärkten, auf bestehenden Technologiemärkten aber auch den Innovationswettbewerb um neue Märkte beeinträchtigen (Horizontalleitlinien, Rz. 112 ff.). Das kann zu einer Verringerung der Anzahl oder der Qualität neuer Produkte aber auch zu einer Erhöhung von Preisen führen (Horizontalleitlinien, Rz. 127). Unter Beteiligung von Unternehmen mit erheblicher Marktmacht bei einer Schlüsseltechnologie kann es auch zu Marktverschließungen kommen (Horizontalleitlinien, Rz. 127). Eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung kann insb. dann vorliegen, wenn die F&E-Vereinbarung nur eine klassische Kartellabsprache über Preise, Mengen, Gebiete oder Kunden verdecken soll (Horizontalleitlinien, Rz. 128).

8

Ob eine bewirkte Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, kann anhand verschiedener Parameter im Ein- 9 zelfall geprüft werden (Horizontalleitlinien, Rz. 129 ff.). Die EU-Kommission nennt mehrere Arten von Vereinbarungen, in denen keine Wettbewerbsbeschränkung vorliegen kann. Dazu gehört die Grundlagenforschung, also die F&E-Zusammenarbeit „in einem eher frühen Stadium, weit entfernt von der Verwertung möglicher Ergebnisse“ (Horizontalleitlinien, Rz. 129). Auch Vereinbarungen zwischen nicht-konkurrierenden Unternehmen haben oft keine wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen (Horizontalleitlinien, Rz. 130). Dasselbe gilt i.d.R., wenn die Parteien die F&E jeweils alleine nicht durchführen könnten oder wenn keine gemeinsame Verwertung vorgesehen ist (Horizontalleitlinien, Rz. 130 und Rz. 132). In Fällen des Outsourcings vorher selbst durchgeführter F&E kann es an einer Wettbewerbsbeschränkung fehlen, wenn das die F&E durchführende Spezialunternehmen nicht an der Verwertung der Ergebnisse beteiligt ist. Die EU-Kommission geht davon aus, dass die zusammenarbeitenden Parteien in derartigen Fällen komplementär sind (Horizontalleitlinien, Rz. 131). Eine Wettbewerbsbeschränkung liegt nach Auffassung der EU-Kommission auch dann selten vor, wenn keine gemeinsame Verwertung vereinbart wird (Horizontalleitlinien, Rz. 132). Wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen sind zudem nur dann wahrscheinlich, wenn die Beteiligten Marktmacht auf bestehenden Märkten haben oder der Innovationswettbewerb spürbar verringert wird (Horizontalleitlinien, Rz. 133). Immer wieder fallen aber auch Vereinbarungen dieser Art dennoch in den Anwendungs-

8 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 1 VO 1217/2010 Rz. 10; vgl. auch Slobodenjuk, BB 2016, 1670, 1672. 9 EU-Kommission, Horizontalleitlinien, Rz. 129; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 1 VO 1217/2010 Rz. 9; differenzierend Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 1 FuE-GVO Rz. 13. 10 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69a UrhG Rz. 5 f.

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F&E-GVO Art. 2 Rz. 9 Freistellung bereich der F&E-GVO, wenn Regelungen über Exklusivität aufgenommen werden. Die Praxis zeigt aber, dass wenige Konstellationen von vornherein unproblematisch sind.11 10

In Softwareentwicklungsfällen erteilen sich die F&E-Partner regelmäßig gegenseitig Lizenzen. Nicht jede im Rahmen einer Lizenz vereinbarte Ausschließlichkeit stellt zugleich eine Wettbewerbsbeschränkung dar. Z.B. stellt eine „offene ausschließliche Lizenz“, d.h. der Lizenzgeber verpflichtet sich, keine weitere Lizenz für dieses Gebiet zu gewähren und dem Lizenznehmer keine Konkurrenz zu machen, keine Wettbewerbsbeschränkung dar, wenn nicht zusätzlich ein Gebietsschutz vereinbart wird.12

11

Eine Wettbewerbsbeschränkung liegt auch dann nicht vor, wenn die Voraussetzungen der Zulieferbekanntmachung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 1978 erfüllt sind.13 Die Zulieferbekanntmachung ist auf Konstellationen der „verlängerten Werkbank“ zugeschnitten. Sie erfasst Patente und technische Schutzrechte. Urheberrecht wird nicht erfasst. Allerdings fällt Know-how unter die Bekanntmachung. Die Zulieferbekanntmachung schützt Vereinbarungen, in denen der Auftraggeber dem Auftragnehmer sein Know-how zur Durchführung eines Auftrags zur Verfügung stellt. Er darf dem Zulieferer dabei z.B. vorgeben, das Know-how nur für die Vertragserfüllung zu nutzen, nicht an Dritte weiterzugeben und nicht zu verwerten, solange es nicht Allgemeingut geworden ist. Darin liegt nach der EU-Kommission keine Wettbewerbsbeschränkung. Allerdings ist die Zulieferbekanntmachung nicht anwendbar, wenn der Zulieferer schon über die „erforderlichen Kenntnisse und Betriebsmittel verfügt, um die gewünschten Erzeugnisse herzustellen, Dienstleistungen zu erbringen oder Arbeiten zu verrichten, oder wenn er sie sich unter angemessenen Bedingungen verschaffen kann.“14 Die EU-Kommission möchte den Zulieferer davor schützen, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, im Vertragsbereich eine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit zu entfalten. Die Zulieferbekanntmachung wird deshalb umso weniger anwendbar sein, umso „erfahrener“ der Auftragnehmer ist und umso mehr eine Entwicklung auf seinem eigenen Know-how in diesem Bereich beruht.

12

Enthält die F&E-Vereinbarung keine Wettbewerbsbeschränkung, ist keine Freistellung notwendig. Die F&E-GVO ist in der Praxis aber auch in diesen Fällen von Bedeutung, weil die Prüfung der Freistellung nach der F&E-GVO oft leichter fallen dürfte als die abschließende Prüfung, ob eine Vereinbarung eine Wettbewerbsbeschränkung gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV enthält.15

IV. Nebenabreden über geistige Eigentumsrechte (Art. 2 Abs. 2) 1. Überblick 13

F&E-Kooperationen sind i.d.R. u.a. auf die Nutzung und Schaffung von geistigen Eigentumsrechten gerichtet. Sie enthalten aus diesem Grund Bestimmungen über die Zuordnung und Nutzung von geistigen Eigentumsrechten. Abs. 2 erweitert den Anwendungsbereich der F&E-GVO auf Regelungen mit Bezug zu geistigen Eigentumsrechten, die für die F&E-Vereinbarung notwendig sind, und grenzt damit die Anwendungsbereiche von F&E-GVO und TT-GVO voneinander ab.16 Die Regelung hat Bedeutung, soweit die Nebenabrede eine Wettbewerbsbeschränkung enthält. Ungeklärt ist die Frage, ob Abs. 2 in erweiternder Auslegung17 auch für Nebenabreden über Know-how (vgl. Art. 1 lit. i) gilt, obwohl die Norm nur geistige Eigentumsrechte erwähnt, die Nicht-Einbeziehung von Know-how aber sachlich nicht nachvollziehbar erscheint.18 Vertreten wird zudem eine analoge Anwendung von Abs. 2 11 Wolf, WRP 2013, 885, 886; Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 421 ff. 12 EuGH v. 8.6.1982 – 258/78, Slg. 1982, 2069, Rz. 58 – Nungesser. 13 EU-Kommission, Bekanntmachung der Kommission vom 18.12.1978 über die Beurteilung von Zulieferverträgen nach Art. 85 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. EG Nr. C 1/2 v. 3.1.1979. 14 Zulieferbekanntmachung, Rz. 2. 15 Vgl. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 2 FuE-GVO Rz. 2; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 2 F&E GVO Rz. 5. 16 Schulte/Just/Leupold, Art. 2 F&E-GVO Rz. 3; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 2 FuE-GVO Rz. 11. 17 Für eine erweiternde Auslegung insoweit Rosenberger, GRUR Int. 2012, 721, 724 f. 18 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 2 VO 1217/2010 Rz. 6. Vgl. allerdings auch MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 2 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 8, die darauf hinweisen, dass in Bezug auf Know-how getroffene Vereinbarungen in vielen Fällen ohnehin nicht wettbewerbsbeschränkend sein dürften.

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Rz. 16 Art. 2 F&E-GVO

auf jede Bestimmung, die nicht Hauptgegenstand der F&E-Vereinbarung ist, z.B. Wettbewerbsverbote unter den Beteiligten der F&E-Kooperation.19 2. Nebenabrede im Innenverhältnis Die Nebenabrede ist von der Freistellungswirkung mit umfasst, wenn sie die Übertragung von geistigen Eigentumsrechten oder die Lizenzierung zwischen den Parteien oder an eine für die F&E-Vereinbarung gegründete Einheit, z.B. ein Gemeinschaftsunternehmen, zum Gegenstand hat. Die Übertragung von geistigen Eigentumsrechten oder deren Lizenzierung an Dritte kann dagegen nicht durch die F&E-GVO, sondern durch die TT-GVO freigestellt sein.20

14

3. Hauptgegenstand (Abgrenzung zur TT-GVO) Die Nebenabrede darf nicht Hauptgegenstand der F&E-Vereinbarung sein. Der Hauptgegenstand der 15 F&E-Vereinbarung wird durch die Legaldefinition in Art. 1 Abs. 1 lit. a bestimmt. Anwendung findet Abs. 2 z.B. in dem in Art. 1 Abs. 1 lit. o Halbs. 2 beschriebenen Fall ausschließlicher Lizenzierung an eine F&E-Partei.21 Nicht Hauptgegenstand sind die Bestimmungen über geistige Eigentumsrechte, z.B. auch in F&E-Zulieferverträgen, „in denen sich der Lizenznehmer verpflichtet, Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Bereich der lizenzierten Technologie durchzuführen und dem Lizenzgeber die Verbesserungen zu überlassen“ (Technologietransferleitlinien, Rz. 65). In diesen Fällen ist die F&EGVO anwendbar. Wenn die Übertragung oder Lizenzierung von geistigen Eigentumsrechten dagegen Hauptgegenstand der Vereinbarung ist, kann der Anwendungsbereich der Technologietransfer-GVO (TT-GVO) eröffnet sein22 (vgl. Art. 1 TT-GVO Rz. 16 ff.). Die TT-GVO setzt voraus, dass die Lizenzvereinbarung geschlossen wird „mit dem Ziel der Produktion von Vertragsprodukten durch den Lizenznehmer.“ (Art. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 lit. c Ziff. i TT-GVO) Das gilt auch „für die Lizenzierung von Software-Urheberrechten, bei der der Lizenznehmer das Recht hat, die Software durch Integration in ein Gerät zu vervielfältigen, mit dem die Software interagiert.“ (Technologietransferleitlinien, Rz. 63) Anwendbar ist die TT-GVO aber vor allem auch, wenn der Lizenznehmer Entwicklungsarbeiten durchführen muss, um zur Marktreife zu gelangen (Technologietransferleitlinien, Rz. 66). Nach Auffassung der EU-Kommission ist das Hauptziel entscheidend: Hauptziel von F&E-Vereinbarungen ist die Erbringung von F&E-Leistungen zur Verbesserung der Technologie, Hauptziel von TT-Vereinbarungen ist die Produktion auf der Grundlage der lizenzierten Technologie (Technologietransferleitlinien, Rz. 66). 4. Erforderlichkeit Die auf Übertragung oder Lizenzierung von geistigen Eigentumsrechten gerichtete Nebenabrede muss sich unmittelbar auf die Umsetzung der F&E-Vereinbarung beziehen und dafür erforderlich sein. Damit wird das Tatbestandsmerkmal der „Unerlässlichkeit“ in Art. 101 Abs. 3 AEUV konkretisiert.23 Voraussetzung ist nicht, dass die F&E-Vereinbarung ohne die Nebenabrede nicht geschlossen worden wäre (Art. 81 Abs. 3-Leitlinien, Rz. 74). Es reicht aus, dass mit der Nebenabrede mehr Effizienzgewinne i.S.d. Art. 101 Abs. 3 AEUV erzielt werden als ohne die Nebenabrede und die Wettbewerbsbeschränkungen der Nebenabrede für die Erzielung der Effizienzgewinne vernünftigerweise erforderlich sind.24

19 20 21 22 23

Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 2 FuE-GVO Rz. 11. Technologietransferleitlinien, Rz. 74; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 2 FuE-GVO Rz. 8. Schulte/Just/Leupold, Art. 2 F&E-GVO Rz. 4. Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 2 F&E GVO Rz. 8. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 2 FuE-GVO Rz. 12; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 2 VO 1217/2010 Rz. 6; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 321. 24 Art. 81 Abs. 3-Leitlinien, Rz. 74; vgl. auch Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 2 FuE-GVO Rz. 12; MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 2 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 8.

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F&E-GVO Art. 2 Rz. 17 Freistellung

V. Abgrenzung zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen 17

Die Gruppenfreistellungsverordnungen regeln die Abgrenzung der einzelnen Verordnungen voneinander nur rudimentär. Die einzige ausdrückliche Regelung besagt, dass die Vertikal-GVO ggü. den anderen Verordnungen im Zweifel subsidiär anwendbar ist (Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO). Darüber hinaus gilt grundsätzlich, dass die Voraussetzungen einer Verordnung anwendbar sind, wenn ihre Anwendungsvoraussetzungen erfüllt sind.25 Einige weitere Hinweise zu den Anwendungsbereichen finden sich in den Leitlinien der EU-Kommission (s. Rz. 8 f.). Zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs der F&E-GVO von dem der TT-GVO im Speziellen s. Rz. 15.

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Umstritten ist die Anwendung der F&E-GVO vor allem im Bereich „vertikaler“ F&E-Vereinbarungen und im Bereich von Auftragsentwicklungen. Teilweise wird vertreten, es sei nach horizontalen F&E-Kooperationen und vertikalen F&E-Aufträgen zu unterscheiden. Vertikale F&E-Aufträge sollen sich dadurch auszeichnen, dass der Auftragnehmer den Auftraggeber nach Entwicklung mit den entwickelten Produkten beliefert.26 Darauf soll die Vertikal-GVO anwendbar sein.27 Das ist insofern plausibel, als die Vertikal-GVO gerade auf derartige Abnehmer-/Lieferantenverhältnisse zugeschnitten ist. Die Vertikal-GVO ist aber nur subsidiär anzuwenden, wenn Vereinbarungen nicht in den Geltungsbereich einer anderen Gruppenfreistellungsverordnung fallen (Art. 5 Vertikal-GVO). Nach ihrem Wortlaut nimmt die F&E-GVO Vertikalverhältnisse gerade nicht aus. Vielmehr regelt sie insb. auch Konstellationen zwischen Nicht-Wettbewerbern. Das zeigt Art. 4, in dem Freistellungsdauer und Marktanteilsschwellen ausdrücklich auch für „Nicht-Wettbewerber“ geregelt werden. Eine Abgrenzung nach der Struktur der Vereinbarung (z.B. horizontal oder vertikal) kommt deshalb nicht infrage.28 Die Unterscheidung horizontaler und vertikaler Kooperationen ist allerdings relevant für die Frage, ob eine Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 AEUV bzw. § 1 GWB vorliegt.29

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Auch eine qualitative Bewertung nach dem „Schwerpunkt“ der Vereinbarung kommt nicht infrage. Die „Horizontalleitlinien“ sehen das für die Prüfung von Vereinbarungen im Rahmen der Einzelfreistellung vor (Horizontalleitlinien, Rz. 13 und 14). Die EU-Kommission weist allerdings ausdrücklich darauf hin, dass diese Prüfung nicht für die Abgrenzung der Gruppenfreistellungsverordnungen gelten soll (Horizontalleitlinien, Rz. 4).

25 26 27 28

Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 2 F&E GVO Rz. 86. Winzer, Rz. 795. Winzer, Rz. 861. Vgl. Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 436 f.; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Einl. FuE-GVO Rz. 28; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 330. 29 Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 437.

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Freistellungsvoraussetzungen

Art. 3 F&E-GVO

Art. 3 Freistellungsvoraussetzungen (1) Die Freistellung nach Artikel 2 gilt unter den Voraussetzungen der Absätze 2 bis 5. (2) In der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung muss festgelegt sein, dass alle Parteien für die Zwecke weiterer Forschung und Entwicklung und Verwertung uneingeschränkten Zugang zu den Endergebnissen der gemeinsamen Forschung und Entwicklung oder der Auftragsforschung und -entwicklung einschließlich daraus erwachsender Rechte des geistigen Eigentums und daraus erwachsenden Know-hows haben, sobald sie vorliegen. Beschränken die Parteien ihre Verwertungsrechte im Einklang mit dieser Verordnung, insbesondere wenn sie sich im Rahmen der Verwertung spezialisieren, so kann der Zugang zu den Ergebnissen für die Zwecke der Verwertung entsprechend beschränkt werden. Ferner können Forschungsinstitute, Hochschulen oder Unternehmen, die Forschungs- und Entwicklungsleistungen in Form gewerblicher Dienste erbringen und sich üblicherweise nicht mit der Verwertung von Ergebnissen befassen, vereinbaren, die Ergebnisse ausschließlich für die Zwecke weiterer Forschung zu nutzen. Die Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung kann vorsehen, dass die Parteien einander für den Zugang zu den Ergebnissen für die Zwecke weiterer Forschung oder Verwertung eine Vergütung zahlen, die jedoch nicht so hoch sein darf, dass sie diesen Zugang praktisch verhindern würde. (3) Sind in der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung nur gemeinsame Forschung und Entwicklung oder Auftragsforschung und -entwicklung vorgesehen, so muss in dieser Vereinbarung unbeschadet des Absatzes 2 festgelegt sein, dass jeder Partei Zugang zum vorhandenen Know-how der anderen Parteien gewährt wird, sofern dieses Know-how für die Verwertung der Ergebnisse durch die Partei unerlässlich ist. Die Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung kann vorsehen, dass die Parteien einander für den Zugang zu ihrem vorhandenen Know-how eine Vergütung zahlen, die jedoch nicht so hoch sein darf, dass sie diesen Zugang praktisch verhindern würde. (4) Die gemeinsame Verwertung darf nur Ergebnisse betreffen, die durch Rechte des geistigen Eigentums geschützt sind oder Know-how darstellen und die für die Herstellung der Vertragsprodukte oder die Anwendung der Vertragstechnologien unerlässlich sind. (5) Die im Wege der Spezialisierung im Rahmen der Verwertung mit der Herstellung der Vertragsprodukte betrauten Parteien müssen verpflichtet sein, Aufträge der anderen Parteien über die Belieferung mit Vertragsprodukten zu erfüllen, es sei denn, die Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung sieht auch einen gemeinsamen Vertrieb im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe m Ziffer i oder ii vor oder die Parteien haben vereinbart, dass nur die Partei, die die Vertragsprodukte herstellt, diese auch vertreiben darf. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . . II. Zugang bei gemeinsamer Verwertung (Art. 3 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährung von Zugang (Art. 3 Abs. 2 Satz 1) 2. Beschränkung des Zugangs entsprechend der Verwertungsrechte, insb. Spezialisierung (Art. 3 Abs. 2 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Beschränkung zugunsten von Forschungsinstituten, Hochschulen oder „Forschungsund Entwicklungsunternehmen“ (Art. 3 Abs. 2 Satz 3) . . . . . . . . . . . . . . . 13 4. Zugang gegen Vergütung (Art. 3 Abs. 2 Satz 4) . . . . . . . . . . . . . . . 14 III. Zugang bei selbständiger Verwertung (Art. 3 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 IV. Geistiges Eigentum oder Know-how (Art. 3 Abs. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 V. Lieferpflicht (Art. 3 Abs. 5) . . . . . . . . . . . 20

Literatur: Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Aufl. 2014; Bornkamm/Montag/Säcker, Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Band 1 Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2015; Busche/Röhling, Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Band 3, 2016; Gutermuth, Der neue Kartellrechtsrahmen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, WuW 2012, 237; Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Band 1: EU/Teil 1, 6. Aufl. 2019; Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 3. Aufl. 2016; Pautke/Schultze, Zugangserfordernis zu Forschungsergebnissen nach der VO Nr. 1217/2010 – besteht die Gruppenfreistellung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen im Praxistest?, ZWeR 2014, 417; Rosenberger/Wün-

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F&E-GVO Art. 3 Rz. 1 Freistellungsvoraussetzungen disch, Verträge über Forschung und Entwicklung, 3. Aufl. 2018; Rosenberger, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen im Vergleich zu ihrer Vorgängerin, GRUR Int. 2012, 721; Schulte/Just, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016; Winzer, Forschungs- und Entwicklungsverträge, 2. Aufl. 2011; Wolf, Exklusivitätsregelungen in F&E-Verträgen, WRP 2013, 885.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Art. 3 enthält eine Besonderheit der F&E-GVO ggü. anderen Gruppenfreistellungsverordnungen. Andere Verordnungen definieren einen Anwendungsbereich und regeln dann, welche Regelungen nicht in der Vereinbarung enthalten sein dürfen. In Art. 3 allerdings legt die EU-Kommission einen weiteren „Preis“ für die Freistellung fest: Die F&E-Vereinbarung muss als Voraussetzung für die Freistellung bestimmte Regelungen enthalten.1 Relevant sind insb. Regelungen über den „Zugang“ zu F&E-Ergebnissen. Die EU-Kommission möchte die Freistellung nur gewähren, wenn sichergestellt ist, dass sich das daraus generierte Wissen auch weiterverbreitet. Man kann von „positiven“ Freistellungsvoraussetzungen sprechen, weil Art. 3 dazu zwingt, bestimmte Regelungen in die Vereinbarung aufzunehmen, während vor allem Art. 5 und Art. 6 hauptsächlich Regelungen nennen, die nicht in der Vereinbarung enthalten sein dürfen. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

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Art. 3 stellt i.d.R. die größte Herausforderung bei der Gestaltung von Vereinbarungen im Einklang mit der F&E-GVO dar. Zumindest gilt das für das Erfordernis des Zugangs in Abs. 2. Dieses Tatbestandsmerkmal erfordert nicht nur, bestimmte Klauseln nicht zu vereinbaren, sondern auch, bestimmte Klauseln in den Vertrag mit aufzunehmen. Dabei entstehen oft Konflikte unter den Parteien über die Aufteilung der F&E-Ergebnisse.

II. Zugang bei gemeinsamer Verwertung (Art. 3 Abs. 2) 3

Zugang ist der zentrale Begriff in Abs. 2 und Abs. 3. Der Zugang zu den F&E-Ergebnissen soll der Weiterverbreitung von Wissen über die an der F&E-Vereinbarung beteiligten Unternehmen dienen.2 Diese Anforderung an F&E-Vereinbarungen kann aus dem Tatbestandsmerkmal „technischer Fortschritt“ in Art. 101 Abs. 3 AEUVabgeleitet werden. Die Förderung des technischen Fortschritts ist eine Voraussetzung der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. Insoweit konkretisiert die F&E-GVO die Voraussetzungen der Einzelfreistellung.3 1. Gewährung von Zugang (Art. 3 Abs. 2 Satz 1)

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Der Begriff Zugang hat eine tatsächliche und eine rechtliche Dimension. Zugang bedeutet, die Parteien müssen die Möglichkeit haben, die F&E-Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Zugang bedeutet aber auch, dass sich die Parteien gegenseitig Lizenzen an den F&E-Ergebnissen erteilen.4 Nicht-exklusive Nutzungsrechte sind zu diesem Zweck ausreichend.5 Das ergibt sich daraus, dass Zugang zu den Ergebnissen „einschließlich daraus erwachsender Rechte des geistigen Eigentums und daraus erwachsenden Know-hows“ zu gewähren ist.

5

Zugang muss zu Endergebnissen der F&E gewährt werden, sobald sie vorliegen. In der Vorgängerverordnung (VO Nr. 2659/2000 der Kommission vom 29.11.2000) waren Gegenstand des Zugangsrechts

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Vgl. auch Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 419. Vgl. Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 2. Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 3 F&E GVO Rz. 6. Vgl. Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 3; Gutermuth, WuW 2012, 237, 242; Winzer, Rz. 620 ff. Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 429.

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Freistellungsvoraussetzungen

Rz. 10 Art. 3 F&E-GVO

noch die „Ergebnisse“. Durch den neuen Wortlaut wird klargestellt, dass kein Zugang zu Zwischenergebnissen der F&E zu gewähren ist.6 Zugang muss gewährt werden „für die Zwecke weiterer Forschung und Entwicklung und Verwertung“. 6 Damit wird der Zweck des Zugangsrechtes konkretisiert. Ein Ausschluss anderer Zwecksetzungen scheint damit nicht verbunden, da nicht erkennbar ist, zu welchen wettbewerblich relevanten Zwecken darüber hinaus ein Zugangsrecht vereinbart werden sollte.7 Zugang muss nach Abs. 2 gewährt werden „einschließlich daraus erwachsender Rechte des geistigen 7 Eigentums und daraus erwachsenden Know-hows“. Im Umkehrschluss bedeutet das, der Zugang erstreckt sich nicht auf schon vor der Kooperation bestehende geistige Eigentumsrechte oder Know-how (Background). Für Background-Know-how ist die Zugangspflicht nach Abs. 2 umstritten. In der Literatur wird teilweise angenommen, dass Abs. 2 für F&E-Vereinbarungen mit gemeinsamer Verwertung wie Abs. 3 für F&E-Vereinbarungen ohne gemeinsame Verwertung ein Zugangsrecht zu BackgroundKnow-how fordert, soweit das Know-how für die Nutzung der Ergebnisse notwendig ist.8 Aufgrund des Umkehrschlusses zu Abs. 3 ist das aber nicht überzeugend.9 Abs. 2 ist insb. relevant für Source Code/Quellcode, soweit dieser durch Urheberrecht, gewerbliche Schutzrechte oder als Know-how geschützt ist. In F&E-Vereinbarungen mit gemeinsamer Verwertung besteht demnach nach Abs. 2 keine Verpflichtung zur gegenseitigen Offenlegung des schon vor der Kooperation vorhandenen Source Codes/Quellcodes. Die Zugangsregelung muss in der F&E-Vereinbarung festgelegt sein. Der Zugang muss deshalb positiv in der Vereinbarung geregelt sein.10 Die Festlegung muss sich zumindest durch Auslegung ergeben.11

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2. Beschränkung des Zugangs entsprechend der Verwertungsrechte, insb. Spezialisierung (Art. 3 Abs. 2 Satz 2) Das Zugangsrecht muss nach Satz 1 grundsätzlich auch zu Zwecken der Verwertung der F&E-Ergebnisse gewährt werden. Das Zugangsrecht kann aber entsprechend der im Übrigen vereinbarten Verwertungsrechte eingeschränkt werden, weil das Zugangsrecht nicht weiter reichen muss als die nach der F&E-GVO zulässige Aufteilung von Verwertungsrechten unter den Parteien.12 Dazu gehört auch, dass Beschränkungen des Zugangsrechts zu Zwecken der Verwertung keine Kernbeschränkungen nach Art. 5 darstellen dürfen. Nach Satz 2 nicht beschränkt werden darf das Recht auf Zugang zu den Ergebnissen der F&E zu Zwecken weiterer F&E.

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Der Zugang kann „entsprechend“ der Spezialisierung in der Verwertung beschränkt werden. Speziali- 10 sierung in der Verwertung ist in Art. 1 Abs. 1 lit. o definiert und bedeutet die Verteilung von Aufgaben wie Produktion oder Vertrieb untereinander oder Verwertungsbeschränkungen für Gebiete, Kunden und Anwendungsbereiche („field of use“). Zulasten der Partei, die den Vertrieb übernimmt, kann deshalb in der Verwertungsphase der Zugang zu Ergebnissen beschränkt werden, die beim Vertrieb nicht benötigt werden, z.B. zu Know-how aus dem Produktionsprozess oder anderen Ergebnissen, die nur für die Herstellung relevant sind. Die herstellende Partei benötigt dagegen nur für die Herstellung relevante Ergebnisse und Lizenzen. Auch die Herstellungsrechte können entsprechend weiter eingeschränkt werden. Denkbar ist z.B., dass jede Partei nur bestimmte Komponenten des Vertragsproduktes herstellt. In diesem Fall braucht jede Partei nur die Fertigungslizenzen für ihre Komponenten.13 Dementsprechend kann der Zugang zu den Ergebnissen auf bestimmte Länder oder Kundengruppen beschränkt werden. Die Parteien können sich Lizenzen für die Nutzung der Ergebnisse gegenseitig be6 Vgl. Gutermuth, WuW 2012, 237, 241; Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 2; a.A. Rosenberger, GRUR Int. 2012, 721, 726 f., der im Wortlaut „Endergebnisse“ nur eine Aussage über den Zeitpunkt des Zugangs sieht. 7 Vgl. dazu auch MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 3 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 4; Winzer, Rz. 626 ff. 8 Winzer, Rz. 635; MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 3 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 3. 9 Vgl. ausf. Wolf, WRP 2013, 885, 887; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 366; Busche/Röhling/Wagner/ Bechtold, Art. 3 F&E GVO Rz. 9. 10 Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 419. 11 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 4. 12 Vgl. Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 3. 13 Vgl. Winzer, Rz. 315.

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F&E-GVO Art. 3 Rz. 10 Freistellungsvoraussetzungen schränkt auf bestimmte Länder, Kunden oder Anwendungsbereiche erteilen.14 Die Spezialisierung in der Verwertung nach Art. 1 Abs. 1 lit. o umfasst auch den Fall, dass nur eine Partei die Vertragsprodukte auf der Grundlage einer von den anderen Parteien erteilten ausschließlichen Lizenz herstellt und vertreibt. Damit kann der Zugang i.E. auch so beschränkt werden, dass eine Partei die Vertragsprodukte ausschließlich herstellt und vertreibt. Das hat insb. Bedeutung für die Auftrags-F&E, bei der deshalb die Möglichkeiten für den Zugang zu den Endergebnissen für den Auftragnehmer der F&E, z.B. den Zulieferer, für die Dauer der Vereinbarung weitgehend ausgeschlossen werden können.15 Zugangsbeschränkungen, die Satz 2 entsprechen, stellen keine Kernbeschränkung gem. Art. 5 lit. b dar, da Verhaltensweisen, die eine Spezialisierung im Rahmen der Verwertung darstellen, durch Art. 5 lit. b Ziff. iii ausdrücklich von der Vorschrift ausgenommen sind. Allerdings sind die auf den Vertrieb abzielenden Kernbeschränkungen in Art. 5 lit. d und lit. e zu beachten. 11

Beim Zugang als tatsächliche Kenntnis der F&E-Ergebnisse besteht ein eingeschränkter Spielraum für Beschränkungen. I.d.R. dürften die Parteien trotz Aufteilung der Herstellungs- oder Vertriebsgebiete auf dieselben Kenntnisse über das Produkt aus dem F&E-Prozess angewiesen sein. Eine Beschränkung des Zugangsrechtes ist insoweit aus tatsächlichen Gründen nicht möglich. Möglich ist eine entsprechende Beschränkung nur, wenn es für verschiedene Gebiete oder verschiedene Kundengruppen verschiedene Produktversionen gibt, für die jeweils unterschiedliche tatsächliche Kenntnisse aus der F&E-Kooperation erforderlich sind.

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Zum Grundverständnis des Zugangserfordernisses gehört es, dass die Parteien einer F&E-Vereinbarung nach Beendigung der gemeinsamen F&E auf der Grundlage der Ergebnisse ihrer Zusammenarbeit weiterforschen können.16 Deshalb muss das Zugangsrecht grundsätzlich zeitlich unbegrenzt ausgestaltet sein. Die Möglichkeit des Zugangs muss deshalb bis zum Ablauf der Schutzrechte bzw. bis zum Bekanntwerden des Know-hows bestehen.17 Es darf nur zu Verwertungszwecken in der Zeit gemeinsamer Verwertung beschränkt werden.18 Spätestens nach Beendigung der Zusammenarbeit müssen alle F&EParteien Zugang zu allen Ergebnissen der F&E haben.19 Vertragstechnisch ist es deshalb sinnvoll, im ersten Schritt unbeschränkte Nutzungsrechte an den Ergebnissen der F&E zu gewähren und diese im zweiten Schritt entsprechend der Vorgaben für das Zugangsrecht sachlich und zeitlich einzuschränken.20 3. Beschränkung zugunsten von Forschungsinstituten, Hochschulen oder „Forschungs- und Entwicklungsunternehmen“ (Art. 3 Abs. 2 Satz 3)

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Forschungsinstitute, Hochschulen oder Unternehmen, die Forschungs- und Entwicklungsleistungen in Form gewerblicher Dienste erbringen und sich üblicherweise nicht mit der Verwertung von Ergebnissen befassen, können vereinbaren, die Ergebnisse ausschließlich für die Zwecke weiterer Forschung zu nutzen. Derartige Organisationen müssen deshalb keinen Zugang zu Ergebnissen zum Zwecke der Verwertung erhalten.21 Diese Regelung ist aber nur in seltenen Fällen anwendbar, weil gem. Art. 1 lit. g auch die Lizenzierung von Vertragstechnologien eine „Verwertung der Ergebnisse“ darstellt.22 14 S. dazu Winzer, Rz. 308 ff. 15 Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 425. Unklar ist aber, wie die Einschränkung der weiteren Nutzung der Ergebnisse durch den Auftragnehmer zu bewerten ist. Hier kann sich insb. die Frage einer Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV stellen, vgl. Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 425. 16 S. z.B. Kommission v. 13.7.1983 – IV/30.437, GRUR Int, 1984, 427, 432 – Rockwell/Iveco; Kommission v. 5.12.1983 – IV/29.329, ABl. L 376 v. 31.12.1983, S. 11, Rz. 33 – VW-MAN; Kommission v. 16.12.1994 – IV/33.863, ABl. L 354 v. 31.12.1994, S. 87, Rz. 20 – Asahi/Saint-Gobain; Gutermuth, WuW 2012, 237, 242; Winzer, Rz. 630 (Fn. 9); Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 372. 17 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 3; Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 431; Winzer, Rz. 632; Gutermuth, WuW 2012, 237, 242; Wolf, WRP 2013, 885, 887. 18 Vgl. ausf. Wolf, WRP 2013, 885, 888 f. 19 Vgl. hierzu auch Gutermuth, WuW 2012, 237, 242, der insb. auf die Notwendigkeit entsprechender Lizenzen hinweist und Winzer, Rz. 630 (Fn. 9). 20 Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 435. 21 Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 3. 22 Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 3; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 3 FuE-GVO Rz. 7; Bechtold/ Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 7; Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 432; Rosenberger/Wündisch/ Badtke, Kap. 6 Rz. 378.

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Freistellungsvoraussetzungen

Rz. 18 Art. 3 F&E-GVO

4. Zugang gegen Vergütung (Art. 3 Abs. 2 Satz 4) Das Zugangsrecht kann eine Vergütung für den Zugang zu den Ergebnissen vorsehen. Die Vergütung darf nicht so hoch sein, dass sie den Zugang praktisch verhindern würde. Zumindest begrifflich kann die Vergütung damit höher sein als eine marktübliche Lizenz.23 Den Partien ist bei der Bemessung der Vergütung ein großer Ermessenspielraum einzuräumen.24 Zu beachten ist allerdings auch die verwertungsfreundliche Tendenz der F&E-GVO.25

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III. Zugang bei selbständiger Verwertung (Art. 3 Abs. 3) Abs. 3 trifft eine zusätzliche Regelung über den Zugang zu vorhandenem Know-how in F&E-Vereinbarungen ohne gemeinsame Verwertung i.S.d. Art. 1 Abs. 1 lit. a Ziff. iii und Ziff. vi. Abs. 3 gilt nicht für schon vorhandene geistige Eigentumsrechte. Abs. 3 gilt zudem „unbeschadet“ des Abs. 2. Auf F&EVereinbarungen ohne gemeinsame Verwertung sind deshalb beide Vorschriften anzuwenden. Der praktische Anwendungsbereich der Vorschrift ist gering, weil die Schwelle für eine gemeinsame Verwertung niedrig ist und gemeinsame Verwertung meist von den Parteien gewollt ist.26

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Abs. 3 betrifft nur „vorhandenes Know-how“, das bedeutet vor Beginn der Kooperation erlangte 16 Kenntnisse (Background-Know-how).27 Der Zugang muss für den Fall gewährt werden, dass das Know-how für die (nicht gemeinsame) Verwertung der Ergebnisse unerlässlich ist. Daraus ergibt sich, dass der Zugang erst nach Abschluss der F&E-Arbeiten, aber vor Beginn der Verwertung gewährt werden muss. Das Know-how muss für die Verwertung unerlässlich, und darf nicht allein hilfreich oder nützlich 17 sein.28 Zugang muss deshalb nur gewährt werden, wenn andernfalls die selbständige Verwertung der F&E-Kooperation durch den F&E-Partner vereitelt würde. Insb. muss nach Abs. 3 kein Zugang zum Zwecke „weiterer“ F&E und Verwertung wie nach Abs. 2 gewährt werden. Unerlässlich sein muss auch der Umfang des Zugangs. Es ist deshalb nicht zwingend, dass vorhandenes Know-how zu Zwecken des Abs. 3 offengelegt oder aus der Hand gegeben wird. Ein nach Abs. 3 ausreichender Zugang kann im Einzelfall auch durch Unterstützungspflichten realisiert werden. Das kann vor allem in Bezug auf Source Code/Quellcode Bedeutung haben, soweit dieser Know-how darstellt. Anstatt einen Zugangsanspruch zum Source Code zu vereinbaren, kann sich der Inhaber des Source Codes auch verpflichten, die andere Partei durch geeignete Supportmaßnahmen oder andere Dienstleistungen bei der Verwertung zu unterstützen. Das steht in Einklang mit dem weiten Verständnis des Begriffs „Zugang“ und mit Sinn und Zweck der Regelung. Im Mittelpunkt steht die Verwertung der Ergebnisse der Kooperation, nicht das vorhandene Know-how der anderen Partei. Abs. 3 soll verhindern, dass Beteiligte den Wettbewerb beschränken, indem sie mittels ihrer Vorkenntnisse die Verwertung der Ergebnisse blockieren.29 Ausreichend Zugang wird deshalb gewährt, wenn die Verwertung i.E. sichergestellt ist. Zu beachten ist allerdings, dass die Unterstützung für alle Formen der Verwertung der Ergebnisse nach Art. 1 lit. g vereinbart sein muss, d.h. auch für die Erteilung von Lizenzen durch den F&E-Partner.30 Zur möglichen Vergütung des Zugangs nach Abs. 3 vgl. Rz. 14 und Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 8.

23 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 5; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 379. 24 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 5. 25 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 3 FuE-GVO Rz. 8. Vgl. aber zu praktischen Problemen der Festlegung der Lizenzgebühren, Pautke/Schultze, ZWeR 2014, 417, 429 f. 26 Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 7; MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 3 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 10. 27 Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 6; Winzer, Rz. 647; Wolf, WRP 2013, 885, 887. 28 Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 6. 29 Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Schütze, Art. 3 FuE-GVO Rz. 41; Busche/ Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 20. 30 Vgl. Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann/Schütze, Art. 3 FuE-GVO Rz. 41.

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F&E-GVO Art. 3 Rz. 19 Freistellungsvoraussetzungen

IV. Geistiges Eigentum oder Know-how (Art. 3 Abs. 4) 19

Abs. 4 stellt klar, welche Anforderungen die Ergebnisse der F&E erfüllen müssen, die Gegenstand gemeinsamer Verwertung sein sollen. Die Regelung soll sicherstellen, dass die Parteien unter Bezugnahme auf die F&E-GVO keine Beschränkungen treffen, die mit der F&E-Kooperation nichts zu tun haben.31 Eine gemeinsame Verwertung ist immer dann zulässig, wenn die Ergebnisse der F&E zumindest ein urheberrechtlich geschütztes oder von Patentschutz profitierendes Computerprogramm oder eine urheberrechtlich oder leistungsschutzrechtlich geschützte Datenbank betreffen (Rz. 7). Umstritten ist, ob neben der gemeinsamen Verwertung geschützter F&E-Ergebnisse auch eine gemeinsame Verwertung nicht geschützter Ergebnisse erfolgen darf.32

V. Lieferpflicht (Art. 3 Abs. 5) 20

Abs. 5 stellt sicher, dass die mit der Produktion der Vertragsprodukte beauftragte Partei die anderen Parteien, denen innerhalb der Kooperation ein Vertriebsrecht eingeräumt wurde, beliefern muss. Diese Verpflichtung kann es naturgemäß nicht geben, wenn der Vertrieb gemeinsam nach Art. 1 Abs. 1 lit. m Ziff. i oder Ziff. ii erfolgt, oder die herstellende Partei auch das ausschließliche Recht zum Vertrieb hat.

Art. 4 Marktanteile und Freistellungsdauer (1) Sind die Parteien keine Wettbewerber, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 für die Dauer der Forschung und Entwicklung. Werden die Ergebnisse gemeinsam verwertet, so gilt die Freistellung weiter sieben Jahre ab dem Tag des ersten Inverkehrbringens der Vertragsprodukte oder Vertragstechnologien im Binnenmarkt. (2) Sind zwei oder mehr Parteien Wettbewerber, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 nur dann für den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraum, wenn zum Zeitpunkt des Abschlusses der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung a) im Falle einer Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer i, ii oder iii der gemeinsame Anteil der Parteien an den relevanten Produktund Technologiemärkten höchstens 25 % beträgt oder b) im Falle einer Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer iv, v oder vi der gemeinsame Anteil der finanzierenden Partei und aller Parteien, mit denen die finanzierende Partei Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen über dieselben Vertragsprodukte oder Vertragstechnologien geschlossen hat, an den relevanten Produkt- und Technologiemärkten höchstens 25 % beträgt. (3) Nach Ablauf des in Absatz 1 genannten Zeitraums gilt die Freistellung solange weiter, wie der gemeinsame Anteil der Parteien an den relevanten Produkt- und Technologiemärkten 25 % nicht überschreitet. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Nicht-Wettbewerber (Art. 4 Abs. 1) . . . . .

3

III. Wettbewerber (Art. 4 Abs. 2) . . . . . . . . . IV. Einheitliche Weitergeltung (Art. 4 Abs. 3) .

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Literatur: Bezüglich der Literatur wird auf das Literaturverzeichnis der Kommentierung zu Art. 2 verwiesen. 31 Schulte/Just/Leupold, Art. 3 F&E-GVO Rz. 8; vgl. auch Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 3 FuE-GVO Rz. 12. 32 Dafür: Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 3 VO 1217/2010 Rz. 10. Dagegen: Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 3 FuE-GVO Rz. 12.

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Marktanteile und Freistellungsdauer

Rz. 6 Art. 4 F&E-GVO

I. Allgemeines 1. Einführung Art. 4 enthält die für alle Gruppenfreistellungsverordnungen charakteristische Marktanteilsschwelle. 1 Die Marktanteilsschwellen sind Ausdruck dessen, dass eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV nur zulässig ist, wenn den an der Beschränkung beteiligten Unternehmen keine „Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.“ 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Das Überschreiten der Marktanteilsschwelle führt zum Entfallen der Freistellungswirkung nach Art. 2. Einzelheiten zur Anwendung der Marktanteilsschwelle werden in Art. 7 geregelt. Wenn die Wirkung der Gruppenfreistellung entfällt, kann die Vereinbarung dennoch zulässig sein, wenn die Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUVerfüllt sind.

2

II. Nicht-Wettbewerber (Art. 4 Abs. 1) Abs. 1 regelt zulässige Marktanteile und Freistellungsdauer für den Fall, dass die Parteien keine Wettbewerber sind. Der Begriff Wettbewerber wird definiert in Art. 1 Abs. 1 lit. r und umfasst tatsächliche (Art. 1 Abs. 1 lit. s) und potenzielle Wettbewerber (Art. 1 Abs. 1 lit. t). Abs. 1 gilt auch dann, wenn die Parteien im Laufe der Zusammenarbeit Wettbewerber werden.1

3

Die Freistellung gilt zunächst ohne Rücksicht auf eine Marktanteilsschwelle für die Phase der F&E, unabhängig von ihrer Dauer.2 Wenn sich an die F&E eine gemeinsame Verwertung anschließt (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. m und lit. o), gilt die Freistellung ohne Rücksicht auf eine Marktanteilsschwelle weiter für sieben Jahre ab Inverkehrbringen der Vertragsprodukte (Art. 1 Abs. 1 lit. f) oder Vertragstechnologien (Art. 1 Abs. 1 lit. e) im Binnenmarkt.

4

Der Begriff des Inverkehrbringens wird in der F&E-GVO nicht definiert. Aus den Erwägungsgründen 5 wird teilweise geschlossen, dass Inverkehrbringen in der F&E-GVO dasselbe bedeutet wie gemeinsame Verwertung.3 Verwertung umfasst nach Art. 1 Abs. 1 lit. g aber auch die Herstellung, die nur schwer unter den Begriff „Inverkehrbringen“ subsumiert werden kann. Die Literatur geht deshalb zurecht davon aus, dass der Begriff des Inverkehrbringens den ersten Vertrieb bzw. die erste Veräußerung auf dem Markt meint.4 Das gilt auch für den Vertrieb durch Dritte mit Zustimmung der F&E-Parteien.5

III. Wettbewerber (Art. 4 Abs. 2) Abs. 2 ist anwendbar, wenn zwei oder mehr der Parteien Wettbewerber i.S.d. Art. 1 Abs. 1 lit. r bis lit. t sind. In diesem Fall gilt dasselbe wie in Abs. 1, also Freistellung für die Dauer der F&E und anschließend sieben Jahre gemeinsame Verwertung,6 wenn die in den lit. a und lit. b definierten Marktanteilsschwellen nicht überschritten werden. Dabei kommt es auf den Zeitpunkt des Abschlusses der

1 Vgl. MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 4 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 4; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 4 F&E GVO Rz. 16. 2 Vgl. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 4 FuE-GVO Rz. 9; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 4 F&E GVO Rz. 21. 3 Vgl. MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 4 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 5; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 4 F&E GVO Rz. 24. 4 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 4 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 5 unter Verweis auf die Rspr. des EuGH zur Erschöpfung gewerblicher Schutzrechte, v.a. EuGH v. 31.10.1974 – 15/74 – Centrafarm; Bechtold/Bosch/ Brinker, Art. 4 VO 1217/2010 Rz. 2. 5 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 4 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 5. 6 Vgl. dazu Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 4 FuE-GVO Rz. 14.

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6

F&E-GVO Art. 4 Rz. 6 Marktanteile und Freistellungsdauer F&E-Vereinbarung an.7 Die Marktanteilsschwelle in lit. a ist anwendbar bei „normalen“ F&E-Vereinbarungen, die Marktanteilsschwelle in lit. b ist anwendbar in Fällen der Auftrags-F&E. 7

Die Marktanteilsschwellen in lit. a und lit. b können sich auf alle relevanten Produkt- (Art. 1 Abs. 1 lit. u) und Technologiemärkte (Art. 1 Abs. 1 lit. v) beziehen. Nach lit. a darf der gemeinsame Anteil der Parteien auf diesen Märkten jeweils 25 % nicht übersteigen. Nach lit. b kommt es auf den gemeinsamen Anteil der finanzierenden Partei (Art. 1 Abs. 1 lit. q) und aller Parteien an, mit denen die finanzierende Partei F&E-Vereinbarungen über dieselben Produkte oder Technologien geschlossen hat, einschließlich der beauftragten Partei.8 Zur Berechnung der Marktanteile vgl. Art. 7. Bei der Entwicklung eines völlig neuen Produkts, kann die Vereinbarung nach Ansicht der EU-Kommission allerdings als Vereinbarung zwischen Nicht-Wettbewerbern mit der Rechtsfolge des Abs. 1 behandelt werden (Horizontalleitlinien, Rz. 126).9

IV. Einheitliche Weitergeltung (Art. 4 Abs. 3) 8

Abs. 3 regelt für Vereinbarungen unter Nicht-Wettbewerbern und für Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern die Weitergeltung der Freistellung, soweit die Schwelle von 25 % gemeinsamem Marktanteil an den relevanten Produkt- und Technologiemärkten nicht überschritten wird. Relevant sein können hier die Regelungen über kurzzeitige Überschreitungen der Schwelle nach Art. 7 lit. d bis lit. f.

Art. 5 Kernbeschränkungen Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nicht für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen, auf die die Parteien Einfluss haben, einen der folgenden Zwecke verfolgen: a) die Beschränkung der Freiheit der Parteien, eigenständig oder in Zusammenarbeit mit Dritten Forschung und Entwicklung in einem Bereich, der mit dem Bereich der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung nicht zusammenhängt, oder aber nach Abschluss der gemeinsamen Forschung und Entwicklung oder der Auftragsforschung und -entwicklung im Bereich der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung oder in einem damit zusammenhängenden Bereich zu betreiben; b) die Beschränkung von Produktion oder Absatz, ausgenommen i) die Festlegung von Produktionszielen, wenn die gemeinsame Verwertung der Ergebnisse die gemeinsame Herstellung der Vertragsprodukte umfasst, ii) die Festlegung von Absatzzielen, wenn die gemeinsame Verwertung der Ergebnisse den gemeinsamen Vertrieb der Vertragsprodukte oder die gemeinsame Erteilung von Lizenzen für die Vertragstechnologien im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe m Ziffer i oder ii umfasst, iii) Verhaltensweisen, die eine Spezialisierung im Rahmen der Verwertung darstellen, und iv) die Beschränkung der Freiheit der Parteien, während des Zeitraums, für den die Parteien die gemeinsame Verwertung der Ergebnisse vereinbart haben, mit den Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien im Wettbewerb stehende Produkte, Technologien oder Verfahren herzustellen, zu verkaufen, abzutreten oder Lizenzen dafür zu erteilen; c) die Festsetzung der Preise für den Verkauf der Vertragsprodukte oder der Gebühren für die Erteilung von Lizenzen für die Vertragstechnologien an Dritte, ausgenommen die Festsetzung der Preise für direkte Abnehmer und die Festsetzung der Lizenzgebühren für direkte Lizenznehmer, wenn die gemeinsame Verwertung der Ergebnisse den gemeinsamen Vertrieb der Ver7 Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 4 F&E GVO Rz. 56. 8 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 4 FuE-GVO Rz. 15. 9 Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 4 F&E GVO Rz. 59 und 63.

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Kernbeschränkungen

d)

e)

f)

g)

Rz. 2 Art. 5 F&E-GVO

tragsprodukte oder die gemeinsame Erteilung von Lizenzen für die Vertragstechnologien im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe m Ziffer i oder ii umfasst; die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in dem oder an die die Parteien passiv die Vertragsprodukte verkaufen oder Lizenzen für die Vertragstechnologien erteilen dürfen, ausgenommen die Verpflichtung, Lizenzen für die Ergebnisse ausschließlich einer anderen Partei zu erteilen; die Verpflichtung, die Vertragsprodukte oder Vertragstechnologien nicht oder nur in beschränktem Umfang aktiv in Gebieten oder an Kunden zu verkaufen, die einer der Parteien nicht im Wege der Spezialisierung im Rahmen der Verwertung ausschließlich zugewiesen sind; die Verpflichtung, Aufträge von Kunden abzulehnen, die in dem Gebiet der jeweiligen Partei ansässig sind, oder von Kunden, die im Wege der Spezialisierung im Rahmen der Verwertung einer anderen Partei zugewiesen sind und die die Vertragsprodukte in anderen Gebieten innerhalb des Binnenmarkts vermarkten würden; die Verpflichtung, Nutzern oder Wiederverkäufern den Bezug der Vertragsprodukte von anderen Wiederverkäufern auf dem Binnenmarkt zu erschweren. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Beschränkung von Forschung und Entwicklung (Art. 5 lit. a) . . . . . . . . . . .

5

III. Produktions- oder Absatzbeschränkung (Art. 5 lit. b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1. Beschränkung von Produktion oder Absatz . 9 2. Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 a) Festlegung von Produktionszielen bei gemeinsamer Herstellung (Art. 5 lit. b Ziff. i) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 b) Festlegung von Absatzzielen bei gemeinsamem Vertrieb oder gemeinsamer Lizenzierung (Art. 5 lit. b Ziff. ii) . . . . . 11

c) Spezialisierung im Rahmen der Verwertung (Art. 5 lit. b Ziff. iii) . . . . . . . . . 12 d) Wettbewerbsverbote während gemeinsamer Verwertung (Art. 5 lit. b Ziff. iv) . . 13 IV. Preisbindung (Art. 5 lit. c) . . . . . . . . . . 14 V. Beschränkung passiver Verkäufe und Lizenzierung (Art. 5 lit. d) . . . . . . . . . . 16 VI. Beschränkung des aktiven Verkaufs (Art. 5 lit. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 VII. Ablehnung von Aufträgen (Art. 5 lit. f) . . . 18 VIII. Erschwerung des Wiederverkaufs (Art. 5 lit. g) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Literatur: Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Aufl. 2014; Bornkamm/Montag/Säcker, Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Band 1 Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2015; Busche/Röhling, Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Band 3, 2016; Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Band 1: EU/Teil 1, 6. Aufl. 2019; Rosenberger/Wündisch, Verträge über Forschung und Entwicklung, 3. Aufl. 2018; Schulte/ Just, Kartellrecht, 2. Aufl. 2016; Slobodenjuk, Die F&E-Gruppenfreistellungsverordnung – Praxistipps, BB 2016, 1670; Wolf, Exklusivitätsregelungen in F&E-Verträgen, WRP 2013, 885.

I. Allgemeines 1. Einführung Art. 5 enthält die allen Gruppenfreistellungsverordnungen eigene Regelung über Kernbeschränkun- 1 gen. Kernbeschränkungen sind letztlich aus den Regelbeispielen von Art. 101 Abs. 1 AEUV (Preise, Mengen, Gebiete, Kunden etc.) abgeleitete Beschränkungen, die für besonders wettbewerbsschädlich gehalten werden. Die in den einzelnen Gruppenfreistellungsverordnungen enthaltenen Kataloge von Kernbeschränkungen sind mittlerweile stark aneinander angeglichen, sodass in einigen Fällen auch die Praxis zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen für Anwendungsfragen relevant sein kann. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Kernbeschränkungen (auch „schwarze Klauseln“) lassen die Freistellungswirkung der Verordnung 2 im Ganzen, also für alle enthaltenen Wettbewerbsbeschränkungen entfallen. Die nicht freigestellten Wolf

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F&E-GVO Art. 5 Rz. 2 Kernbeschränkungen Wettbewerbsbeschränkungen sind in diesem Fall nach Art. 101 Abs. 2 AEUV bzw. nach § 134 BGB nichtig, wenn nicht die Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB vorliegen. Bei Kernbeschränkungen ist es allerdings weniger wahrscheinlich, dass die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllt sind (Horizontalleitlinien, Rz. 142). Das Schicksal der übrigen Teile der Vereinbarung richtet sich nach nationalem Zivilrecht, insb. § 139 BGB. Kernbeschränkungen sind zu unterscheiden von den in Art. 6 genannten Verpflichtungen in F&E-Vereinbarungen, die nicht die Freistellungswirkung für die Vereinbarung insgesamt, sondern nur für die konkrete Verpflichtung entfallen lassen („graue Klauseln“). 3

Die Kernbeschränkung kann sich auch mittelbar oder in Verbindung mit anderen Umständen ergeben. Es kann ausreichen, dass die Kernbeschränkung selbst nicht im Vertrag festgehalten ist, ein Abweichen von einem entsprechenden Verhalten aber durch den Vertrag sanktioniert wird.1 Ausreichend ist auch anderes Verhalten, auf das die Parteien Einfluss haben. Dazu gehören auch andere Vereinbarungen der Parteien.2 Die Umstände, die mittelbar eine Kernbeschränkung begründen, müssen sich allerdings auf alle Parteien beziehen.3

4

Die Kernbeschränkungen erfordern, dass die Parteien einen der in der Vorschrift genannten „Zwecke“ verfolgen. Dieser Begriff entspricht dem Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung in Art. 101 Abs. 1 AEUV (Art. 101 AEUV Rz. 40). Dabei sind die Absichten der Parteien kein notwendiges Element, weil der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung ein objektives Konzept zugrunde liegt.4

II. Beschränkung von Forschung und Entwicklung (Art. 5 lit. a) 5

Lit. a enthält zwei Kernbeschränkungen. Nach der ersten Alternative darf den Parteien nicht untersagt werden, F&E in Bereichen zu betreiben, die nicht mit dem Bereich der F&E-Vereinbarung zusammenhängen. Nach der zweiten Alternative darf den Parteien für die Zeit nach Abschluss der F&E-Phase nicht untersagt werden, im Bereich der F&E-Vereinbarung oder in damit zusammenhängenden Bereichen F&E zu betreiben. Eine exklusive Zusammenarbeit bei F&E-Tätigkeiten und damit eine Konzentration auf die Kooperation5 ist damit i.E. für den Zeitraum der F&E-Phase der Kooperation und auf den konkreten Bereich der Zusammenarbeit und zusammenhängende Bereiche beschränkt möglich.6 Nicht zulässig ist Exklusivität ab dem Beginn der Verwertung und generell in anderen Bereichen.

6

Der Begriff Forschung und Entwicklung wird definiert in Art. 1 Abs. 1 lit. c. Die Begriffe Bereich und Zusammenhang, durch die die Alternativen des lit. a voneinander abgegrenzt werden, werden allerdings nicht definiert. Sie sind weit auszulegen.7 Der Bereich und zusammenhängende Bereiche sind nicht mit dem relevanten Produkt- oder relevanten Technologiemarkt gleichzusetzen.8 Der relevante Markt orientiert sich an der Nachfrage und ist u.U. sehr eng abzugrenzen. Forschung und Entwicklung erzeugt dagegen neue Nachfrage. Sie kann sich auf mehrere (später entstehende) relevante Märkte beziehen. Die Grenze dürfte erst erreicht sein, wenn bei vernünftiger Betrachtung keine sinnvolle Verwendung der Ergebnisse, die Gegenstand der F&E-Vereinbarung sind, denkbar ist.9

7

Die zweite Alternative des lit. a knüpft an den Abschluss der gemeinsamen F&E an. Die gemeinsame F&E ist abgeschlossen, wenn die in Art. 1 Abs. 1 lit. c aufgezählten Tätigkeiten tatsächlich abgeschlossen sind10 und die Parteien mit der Verwertung nach Art. 1 Abs. 1 lit. g, also i.d.R. mit der Herstellung beginnen. Auf den nicht mit der Verwertung deckungsgleichen Begriff des Inverkehrbringens aus Art. 4 und damit auf den Beginn des Vertriebs kann es hier nicht ankommen. Zwischen Abschluss der F&E1 2 3 4 5 6 7

Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 2; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 4. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 4. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 2. EuGH v. 14.3.2013 – C-32/11, Rz. 37 – Allianz und Generali/Ungarische Kartellbehörde. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 3. Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 4; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 397. MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 5 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 3 m.w.N.; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 396. 8 Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 5 F&E GVO Rz. 12. 9 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 5 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 3. 10 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 5; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 6.

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Kernbeschränkungen

Rz. 12 Art. 5 F&E-GVO

Phase und Beginn des Vertriebs kann einige Zeit vergehen. Art. 5 ist aber erkennbar darauf gerichtet, die Freiheit zu eigenständiger oder anderweitiger F&E nicht länger als für die Kooperation notwendig zu beschränken.

III. Produktions- oder Absatzbeschränkung (Art. 5 lit. b) Lit. b enthält eine nach ihrem Wortlaut sehr weitgehende Kernbeschränkung, deren Anwendungsbereich allerdings durch eine Reihe von Rückausnahmen und Überschneidungen mit anderen Kernbeschränkungen begrenzt wird.

8

1. Beschränkung von Produktion oder Absatz Eine Beschränkung der Produktion kann in einer Beschränkung der Menge, aber auch des Gegenstandes oder des Ortes liegen.11 Der Absatz wird beschränkt, wenn die Möglichkeiten der Parteien eingeschränkt werden, die aus der F&E resultierenden Produkte oder Technologien nach den eigenen Vorstellungen zu verwerten.12 Aus ErwGr. 15 der Verordnung ergibt sich zudem, dass Nutzungsbeschränkungen (field of use-Beschränkungen) keine Kernbeschränkungen nach Art. 5 lit. b darstellen.13

9

2. Ausnahmen a) Festlegung von Produktionszielen bei gemeinsamer Herstellung (Art. 5 lit. b Ziff. i) Die Festlegung von Produktionszielen stellt keine Kernbeschränkung dar, wenn die Parteien die gemeinsame (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. m) Herstellung der Vertragsprodukte (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. f) vereinbart haben.14

10

b) Festlegung von Absatzzielen bei gemeinsamem Vertrieb oder gemeinsamer Lizenzierung (Art. 5 lit. b Ziff. ii) Die Festlegung von Absatzzielen stellt keine Kernbeschränkung dar, wenn die Parteien einen gemein- 11 samen Vertrieb der Vertragsprodukte oder eine gemeinsame Erteilung von Lizenzen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 lit. m Ziff. i oder Ziff. ii vereinbart haben.15 Anders als bei der Festlegung von Produktionszielen, wird der gemeinsame Vertrieb durch Spezialisierung nach Art. 1 Abs. 1 lit. m Ziff. iii nicht erfasst. Entsprechende Aufteilungen werden aber durch Ziff. iii erfasst.16 c) Spezialisierung im Rahmen der Verwertung (Art. 5 lit. b Ziff. iii) Die F&E-GVO eröffnet den F&E-Parteien in Art. 1 Abs. 1 lit. o eine Reihe von Möglichkeiten, einzel- 12 ne Aufgaben der Verwertung untereinander aufzuteilen, bis hin zur exklusiven Herstellung und zum exklusiven Vertrieb durch eine Partei. Damit gehen notwendigerweise Produktions- und Absatzbeschränkungen für die Parteien einher. Exklusive Herstellung durch eine Partei ist begrifflich eine Beschränkung der Produktion, exklusiver Vertrieb eine Beschränkung des Absatzes. Ziff. iii stellt klar, dass derartige Beschränkungen keine Kernbeschränkungen nach lit. b darstellen, wenn zugleich eine nach Art. 1 Abs. 1 lit. o zulässige Spezialisierung im Rahmen der Verwertung vorliegt. Ziff. iii stellt damit einen Gleichklang zwischen lit. b und Art. 1 Abs. 1 lit. o her. Lit. b steht deshalb den nach Art. 1 Abs. 1 lit. o zulässigen Formen der Spezialisierung im Rahmen der Verwertung nicht entgegen. Nicht gegen lit. b verstößt deshalb eine Zusammenarbeit, bei der gemeinsame F&E nach Art. 1 Abs. 1 11 12 13 14 15 16

Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 6; Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 8. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 8. Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 8. Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 400; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 5 F&E GVO Rz. 17. Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 400. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 7.

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F&E-GVO Art. 5 Rz. 12 Kernbeschränkungen lit. m erfolgt, und die daraus entstehenden Vertragsprodukte nur von einer Partei auf der Grundlage einer von den anderen Parteien erteilten ausschließlichen Lizenz hergestellt und vertrieben werden. Dasselbe gilt, wenn keine gemeinsame F&E sondern Auftrags-F&E nach Art. 1 Abs. 1 lit. p betrieben wird, und die finanzierende Partei die daraus entstehenden Vertragsprodukte auf der Grundlage einer von der anderen Partei erteilten ausschließlichen Lizenz herstellt und vertreibt. Zu beachten ist, dass die anderen Kernbeschränkungen grundsätzlich anwendbar bleiben.17 Die Kernbeschränkungen, die auf eine ausschließliche Lizenzierung unmittelbar anwendbar sein können, enthalten jedoch entsprechende Einschränkungen. Die ausschließliche Lizenzierung an eine der F&E-Parteien oder die finanzierende Partei bei der Auftrags-F&E kann auch als Beschränkung des passiven Verkaufs in bestimmte Gebiete oder an bestimmte Kundengruppen gem. lit. d verstanden werden. Dort ist die ausschließliche Lizenz an eine andere Partei allerdings per Rückausnahme zulässig (Rz. 16). Sie kann zudem als Beschränkung des aktiven Verkaufs in bestimmte Gebiete oder an bestimmte Kunden nach lit. e verstanden werden. Dort ist aber im Wege der Rückausnahme die Spezialisierung im Rahmen der Verwertung und damit auch die ausschließliche Lizenzierung an eine Partei nach Art. 1 Abs. 1 lit. o zulässig (Rz. 17). Zu beachten sind auch bei der ausschließlichen Lizenzierung der Vertragsprodukte an eine Partei (nach gemeinsamer oder Auftrags-F&E) allerdings insb. lit. a und lit. c. Den durch die ausschließliche Lizenz für die anderen Parteien oder die finanzierende Partei „ausgeschlossenen“ Parteien darf nach lit. a nicht F&E in nicht mit der vertragsgegenständlichen F&E zusammenhängende Bereichen untersagt werden oder F&E in allen Bereichen nach Abschluss der gemeinsamen oder der Auftrags-F&E. Die Parteien dürfen zudem nach lit. c nicht vereinbaren, welche Preise oder Lizenzgebühren die Partei, die auf Grundlage der ausschließlichen Lizenz nach Art. 1 Abs. 1 lit. o herstellt und vertreibt, von Dritten verlangt. d) Wettbewerbsverbote während gemeinsamer Verwertung (Art. 5 lit. b Ziff. iv) 13

Ziff. iv stellt klar, dass Wettbewerbsverbote in bestimmtem Umfang keine Kernbeschränkung nach lit. b darstellen. Soweit Wettbewerbsverbote für die Parteien konkurrierende Herstellung oder konkurrierenden Vertrieb zum Gegenstand haben, würden diese Beschränkungen begrifflich Beschränkungen der Produktion oder des Absatzes darstellen. Ziff. iv sichert im Wege der Rückausnahme ab, dass Wettbewerbsverbote in bestimmtem Umfang dennoch möglich sind. Erfasst sind Wettbewerbsverbote für die Zeit der gemeinsamen Verwertung.18 Vor und nach der gemeinsamen Verwertung stellen Wettbewerbsverbote, die Produktion oder Absatz beschränken, Kernbeschränkungen dar.19 Erfasst sind zudem mehrere unterschiedliche konkurrierende Tätigkeiten. Unter die Regelung fällt die konkurrierende Herstellung von Produkten, der konkurrierende Verkauf von Produkten oder Technologien und der Verkauf (Abtretung) und die Lizenzierung entsprechender Rechte.

IV. Preisbindung (Art. 5 lit. c) 14

Grundsätzlich stellt die Festsetzung von Preisen oder Lizenzgebühren für den Verkauf oder die Lizenzierung an Dritte eine Kernbeschränkung dar. Die Regelung gilt für die Preise selbst und alle preisbildenden Faktoren.20 Die Regelung gilt aber nur für Verkauf oder Lizenzierung an Dritte und erfasst damit nicht Preise und Lizenzgebühren, die im Verhältnis der Parteien zueinander vereinbart werden.21

15

Keine Kernbeschränkung stellt die Festlegung von Preisen für direkte Abnehmer und von Lizenzgebühren für direkte Lizenznehmer dar, wenn ein gemeinsamer Vertrieb oder eine gemeinsame Erteilung von Lizenzen nach Art. 1 Abs. 1 lit. m Ziff. i oder Ziff. ii, d.h. in einer gemeinsamen Einheit oder durch einen Dritten vereinbart ist. Da die Ausnahme auf direkte Abnehmer bzw. Lizenznehmer beschränkt ist, ist es unzulässig, den direkten Abnehmern oder direkten Lizenznehmern Vorgaben für ih17 18 19 20 21

Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 8. Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 5 F&E GVO Rz. 20. Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 9. MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 5 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 5. Vgl. dazu Art. 101 AEUV. Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 9.

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Kernbeschränkungen

Rz. 19 Art. 5 F&E-GVO

re Weiterverkaufspreise bzw. Weiterlizenzierungsgebühren an weitere Abnehmer oder Lizenznehmer zu machen.22 Die Ausnahme für direkte Abnehmer oder Lizenznehmer nennt allerdings nicht die gemeinsame Verwertung durch Spezialisierung i.S.d. Art. 1 Abs. 1 lit. m Ziff. iii. Deshalb stellt die gemeinsame Festsetzung von Preisen für direkte Abnehmer oder Lizenzgebühren für direkte Lizenznehmer bei Verwertung durch Spezialisierung eine Kernbeschränkung dar.23

V. Beschränkung passiver Verkäufe und Lizenzierung (Art. 5 lit. d) Eine Kernbeschränkung liegt vor, wenn die Parteien sich untereinander darin beschränken, passiv in 16 bestimmte Gebiete oder an bestimmte Kundengruppen zu verkaufen oder Lizenzen zu erteilen. Passiv bedeutet, die Initiative für den Verkauf oder die Lizenzierung geht vom Kunden bzw. Lizenznehmer aus (Art. 4 Vertikal-GVO Rz. 12).24 Eine entsprechend wirkende Vereinbarung stellt jedoch keine Kernbeschränkung dar, wenn sie in der Verpflichtung begründet liegt, Lizenzen für die F&E-Ergebnisse nur einer anderen F&E-Partei zu erteilen. Damit wird der in Art. 1 Abs. 1 lit. o Halbs. 2 ausdrücklich vorgesehenen Form der Spezialisierung zur Geltung verholfen.25 Die Regelung steht zudem Verpflichtungen über eine ausschließlich gegenseitige Belieferung nicht entgegen.26

VI. Beschränkung des aktiven Verkaufs (Art. 5 lit. e) Die Kernbeschränkung bezieht sich auf den aktiven Verkauf, d.h. auf die aktive Ansprache von Kunden (Art. 4 Vertikal-GVO Rz. 12).27 Verboten ist die Beschränkung des aktiven Verkaufs in Gebiete oder an Kunden, die nicht einer Partei nach Art. 1 Abs. 1 lit. o ausschließlich zugewiesen sind. Damit gilt die Kernbeschränkung für Gebiete und Kunden, die entweder keiner Partei oder mehreren Parteien zugewiesen sind.28

17

VII. Ablehnung von Aufträgen (Art. 5 lit. f) Die Regelung definiert eine weitere Grenze der nach der F&E-GVO zulässigen Gebiets- und Kundenaufteilungen. Die Parteien dürfen sich nicht dazu verpflichten, Aufträge von Kunden aus ihrem Gebiet oder von im Wege der Spezialisierung im Rahmen der Verwertung anderen Parteien zugewiesenen Kunden abzulehnen, wenn diese Kunden die Vertragsprodukte in anderen Gebieten des Binnenmarktes vermarkten würden.29

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VIII. Erschwerung des Wiederverkaufs (Art. 5 lit. g) Die Regelung dient dem Schutz des Binnenmarktes.30 Ein Anwendungsfall ist die Vereinbarung, geistige Eigentumsrechte geltend zu machen, um Nutzern oder Wiederverkäufern den Bezug der Vertragsprodukte von anderen Wiederverkäufern zu erschweren.31

22 Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 10; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 405. 23 Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 11; kritisch Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 15. 24 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 17. 25 Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 37. 26 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 11; Wolf, WRP 2013, 885, 890 f.; Slobodenjuk, BB 2016, 1670, 1673. 27 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 19. 28 Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 15; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 412. 29 Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 5 FuE-GVO Rz. 21. 30 Schulte/Just/Leupold, Art. 5 F&E-GVO Rz. 17; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 414. 31 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 VO 1217/2010 Rz. 15; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 416 und 417.

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F&E-GVO Art. 6 Rz. 1 Nicht freigestellte Beschränkungen

Art. 6 Nicht freigestellte Beschränkungen Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nicht für die folgenden Verpflichtungen in Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen: a) die Verpflichtung, nach Abschluss der Forschung und Entwicklung die Gültigkeit von Rechten des geistigen Eigentums, die die Parteien im Binnenmarkt innehaben und die für die Forschung und Entwicklung von Bedeutung sind, nicht anzufechten oder nach Ablauf der Forschungsund Entwicklungsvereinbarung die Gültigkeit von Rechten des geistigen Eigentums, die die Parteien im Binnenmarkt innehaben und die die Ergebnisse der Forschung und Entwicklung schützen, nicht anzufechten; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, für den Fall, dass eine der Parteien die Gültigkeit solcher Rechte des geistigen Eigentums anficht, die Kündigung der Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung vorzusehen; b) die Verpflichtung, Dritten keine Lizenzen für die Herstellung der Vertragsprodukte oder für die Anwendung der Vertragstechnologien zu erteilen, sofern nicht die Verwertung der Ergebnisse der gemeinsamen Forschung und Entwicklung oder der Auftragsforschung und -entwicklung durch mindestens eine der Parteien in der Vereinbarung vorgesehen ist und im Binnenmarkt gegenüber Dritten erfolgt. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Nichtangriffsverpflichtung (Art. 6 lit. a) . .

3

III. Keine Lizenzen für Dritte (Art. 6 lit. b) . . .

8

Literatur: Bezüglich der Literatur wird auf das Literaturverzeichnis der Kommentierung von Art. 2 verwiesen.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Art. 6 ordnet an, dass die Freistellungswirkung, wenn sie im Übrigen vorliegt, nicht gegeben ist für bestimmte Klauseln, die für wettbewerbsschädlich gehalten werden. Die Freistellungswirkung für die übrige Vereinbarung entfällt dadurch allerdings nicht. Andere Gruppenfreistellungsverordnungen enthalten ähnliche Regelungen. Die nicht freigestellten Regelungen sind allerdings jeweils stärker auf die konkret erfassten Vereinbarungen zugeschnitten als die jeweiligen Kernbeschränkungen. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

Die Freistellung gilt nicht für die in Art. 6 genannten nicht freigestellten Beschränkungen (auch „graue Klauseln“). Diese nicht freigestellten Wettbewerbsbeschränkungen sind nach Art. 101 Abs. 2 AEUV bzw. nach § 134 BGB nichtig, wenn sie eine Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 AEUV oder § 1 GWB darstellen und nicht die Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB vorliegen.

II. Nichtangriffsverpflichtung (Art. 6 lit. a) 3

Lit. a nennt zwei nicht freigestellte Nichtangriffsverpflichtungen, die sich in ihren zeitlichen und sachlichen Anknüpfungspunkten unterscheiden. Beiden Alternativen gemein ist jedoch, dass sie sich nur auf Nichtangriffsverpflichtungen in Bezug auf geistige Eigentumsrechte beziehen, nicht auf solche in Bezug auf Know-how.1 Die gesamte Vorschrift gilt zudem nur für geistige Eigentumsrechte,

1 Schulte/Just/Leupold, Art. 6 F&E-GVO Rz. 2.

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Nicht freigestellte Beschränkungen

Rz. 7 Art. 6 F&E-GVO

die die Parteien im Binnenmarkt innehaben, und damit nicht für solche, die die Parteien in Drittstaaten innehaben.2 Die erste Alternative gilt für den Zeitraum nach Abschluss der F&E. Der Begriff der F&E wird in Art. 1 Abs. 1 lit. c definiert und ist abzugrenzen von der Verwertung der Ergebnisse der F&E, definiert in Art. 1 Abs. 1 lit. g. Die erste Alternative bezieht sich deshalb auf Nichtangriffsklauseln für den Zeitraum ab Beginn der Verwertung. In sachlicher Hinsicht erfasst die erste Alternative geistige Eigentumsrechte, die für die F&E „von Bedeutung“ sind. Geistige Eigentumsrechte sind für die F&E von Bedeutung, wenn sie für die F&E-Tätigkeiten benutzt werden.3 Damit sind schon zu Beginn der Kooperation bestehende Schutzrechte (Background-IP) gemeint.4 Im Umkehrschluss sind bis zum Abschluss der F&E-Tätigkeiten Nichtangriffsverpflichtungen in Bezug auf zu Beginn der Kooperation schon bestehende Schutzrechte, die für die F&E benutzt werden, zulässig.5 Dafür spricht, dass die F&E-GVO den Begriff F&E sehr bewusst verwendet, und zwar auch im Gegensatz zur F&E-Vereinbarung. Die unterschiedlichen Begriffe deuten deshalb darauf hin, dass unterschiedliche Regelungen für unterschiedliche Zeitabschnitte getroffen werden sollten.

4

Die zweite Alternative gilt für den Zeitraum nach Ablauf der F&E-Vereinbarung. Der Begriff der 5 F&E-Vereinbarung wird in Art. 1 Abs. 1 lit. a definiert. Ggü. der in der ersten Alternative genannten F&E-Tätigkeit kann die F&E-Vereinbarung zusätzlich eine gemeinsame Verwertungsphase mitumfassen. Die Begriffe der F&E-Tätigkeit und der F&E-Vereinbarung fallen nur dann zusammen, wenn die Vereinbarung keine gemeinsame Verwertung vorsieht. Wenn die F&E-Vereinbarung einzelne Regelungen enthält, die auch nach Ende der gemeinsamen Verwertung noch weitergelten, entspricht der Ablauf der F&E-Vereinbarung dem Ende der gemeinsamen Verwertung.6 In sachlicher Hinsicht umfasst die zweite Alternative geistige Eigentumsrechte, die die Ergebnisse der gemeinsam unter der F&E-Vereinbarung durchgeführten F&E-Tätigkeiten schützen.7 Geschützt sein können diese Ergebnisse aber auch durch geistige Eigentumsrechte, die schon vor Beginn der F&E-Vereinbarung bestanden.8 Im Umkehrschluss sind bis zum Ablauf der F&E-Vereinbarung Nichtangriffsverpflichtungen in Bezug auf Schutzrechte, die die Ergebnisse der gemeinsamen F&E schützen, zulässig.9 Die erste Alternative steht dem nicht entgegen, denn sie erfasst den weiteren Bereich der Schutzrechte, die für die F&E „von Bedeutung“ sind. Die zweite Alternative trifft damit für einen Teil der Schutzrechte, die für die F&E von Bedeutung sind, nämlich für die sich konkret auf den Gegenstand der F&E-beziehenden Schutzrechte eine speziellere Regelung. Ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen ist ein Kündigungsrecht in der F&E-Vereinbarung für den Fall, dass eine der Parteien die Gültigkeit der geistigen Eigentumsrechte anficht.10

6

Wenn eine Nichtangriffsklausel die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 6 erfüllt, ist sie nicht nach der F&E-GVO vom Kartellverbot freigestellt. Das bedeutet zwar, die EU-Kommission nimmt an, dass in diesem Fall auch eine Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 AEUV vorliegt. Das muss

7

2 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 6 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 2; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 19. 3 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 6 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 5; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 9–11. 4 Winzer, Rz. 742. 5 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 6 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 2; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 6 VO 1217/2010 Rz. 3; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 7; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 426; a.A. Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 6 FuE-GVO Rz. 4. 6 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 6 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 6. 7 Schulte/Just/Leupold, Art. 6 F&E-GVO Rz. 2. 8 Schulte/Just/Leupold, Art. 6 F&E-GVO Rz. 2. 9 MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 6 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 2; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 7 und 12; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 426. 10 Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 7 und 16; Rosenberger/Wündisch/Badtke, Kap. 6 Rz. 423.

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F&E-GVO Art. 6 Rz. 7 Nicht freigestellte Beschränkungen aber nicht zwingend so sein, weil EU-Kommission, Gerichte und Literatur Nichtangriffsklauseln in der Vergangenheit uneinheitlich behandelt haben.11

III. Keine Lizenzen für Dritte (Art. 6 lit. b) 8

Die F&E-Parteien können im Rahmen der gemeinsamen Verwertung grundsätzlich vereinbaren, keine Lizenzen für die Herstellung der Vertragsprodukte oder die Anwendung der Vertragstechnologien an Dritte zu erteilen. Das ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 lit. o Halbs. 2 und Art. 5 lit. d. Lit. b nimmt derartige Klauseln von der Freistellung aus, wenn in der Vereinbarung gar keine Verwertung, d.h. durch nicht mindestens eine Partei vorgesehen ist, und eine Verwertung auch nicht tatsächlich im Binnenmarkt ggü. Dritten erfolgt.12

Art. 7 Anwendung der Marktanteilsschwelle Für die Anwendung der Marktanteilsschwelle gemäß Artikel 4 gelten die folgenden Vorschriften: a) Der Marktanteil wird anhand des Absatzwerts berechnet; liegen keine Angaben über den Absatzwert vor, so können zur Ermittlung des Marktanteils der Parteien Schätzungen vorgenommen werden, die auf anderen verlässlichen Marktdaten unter Einschluss der Absatzmengen beruhen. b) Der Marktanteil wird anhand der Angaben für das vorangegangene Kalenderjahr ermittelt. c) Der Marktanteil der in Artikel 1 Absatz 2 Unterabsatz 2 Buchstabe e genannten Unternehmen wird zu gleichen Teilen jedem Unternehmen zugerechnet, das die in Buchstabe a des genannten Unterabsatzes aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat. d) Beträgt der in Artikel 4 Absatz 3 genannte Marktanteil ursprünglich nicht mehr als 25 % und überschreitet er anschließend diese Schwelle, jedoch nicht 30 %, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 im Anschluss an das Jahr, in dem die 25 %-Schwelle erstmals überschritten wurde, noch für zwei weitere aufeinander folgende Kalenderjahre. e) Beträgt der in Artikel 4 Absatz 3 genannte Marktanteil ursprünglich nicht mehr als 25 % und überschreitet er anschließend 30 %, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 im Anschluss an das Jahr, in dem die 30 %-Schwelle erstmals überschritten wurde, noch für ein weiteres Kalenderjahr. f) Die in den Buchstaben d und e genannten Rechtsvorteile dürfen nicht in einer Weise miteinander verbunden werden, dass ein Zeitraum von zwei Kalenderjahren überschritten wird.

Art. 8 Übergangszeitraum Das Verbot des Artikels 101 Absatz 1 AEUV gilt in der Zeit vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2012 nicht für bereits am 31. Dezember 2010 in Kraft befindliche Vereinbarungen, die zwar nicht die Freistellungsvoraussetzungen dieser Verordnung, aber die Freistellungsvoraussetzungen der Verordnung (EG) Nr. 2659/2000 erfüllen.

11 Vgl. dazu MünchKomm/Chrocziel/von Merveldt, Art. 6 GVO Nr. 1217/2010 Rz. 3 f.; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 6 VO 1217/2010 Rz. 2; Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 14-15. 12 Busche/Röhling/Wagner/Bechtold, Art. 6 F&E GVO Rz. 24.

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Geltungsdauer

Art. 9 F&E-GVO

Art. 9 Geltungsdauer Diese Verordnung tritt am 1. Januar 2011 in Kraft. Sie gilt bis zum 31. Dezember 2022.

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Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I VO) ABl. EU Nr. L 177 vom 4.7.2008, 6, berichtigt durch ABl. EU Nr. L 309 vom 24.11.2009, 87 (Auszug)

Vorbemerkungen zu Rom I VO und Rom II VO I. Europäisches Gesamtsystem zur Regelung grenzüberschreitender Zivil- und Handelssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zwischen Kollisionsrecht und Internationalem Zivilprozessrecht . . . . . . .

1

III. Ziel und System der Rom I und Rom II Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

IV. IT-rechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . .

6

3

Literatur: Ahrens, Das Schutzlandstatut nach Art. 8 Rom II-VO: Reichweite, Wirkung, Vorfragenanknüpfung, WRP 2011, 945; Buchner, Rom II und das Internationale Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, GRUR-Int. 2005, 1004; Conrad/Grützmacher, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, 2014; Druschel, Die Regelung digitaler Inhalte im Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht (GEKR), GRUR-Int. 2015, 125; Faust, Digitale Wirtschaft – Analoges Recht: Braucht das BGB ein Update?, NJW-Beil. 2016, 29; Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a., Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl. 2018; Geigel, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl. 2015; Giedke, Cloud Computing: Eine wirtschaftsrechtliche Analyse mit besonderer Berücksichtigung des Urheberrechts, 2013; Glöckner/Kur, Geschäftliche Handlungen im Internet – Herausforderungen für das Marken- und Lauterkeitsrecht, GRUR-Beilage 2014, 29; Grünberger, Das Urheberrechtsstatut nach der Rom II-VO, ZVglRWiss 108 (2009), 134; Grützmacher, Insolvenzfeste Softwarelizenz- und Softwarehinterlegungsverträge – Land in Sicht?, CR 2006, 289; Haupt, Territorialitätsprinzip im Patent- und Gebrauchsmusterrecht bei grenzüberschreitenden Fallgestaltungen, GRUR 2007, 187; Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rechtliche Rahmenbedingungen der Freien Software, 4. Aufl. 2016; Kadner Graziano, Das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht nach Inkrafttreten der Rom II-Verordnung, RabelsZ Bd. 73 (2009), 1; Kremer, Datenschutzerklärungen von Social Media Diensten: Anwendbares Recht und AGB-Kontrolle, RDV 2014, 73; Landbrecht, Rechtswahl ex ante und das Deliktsstatut nach dem europäischen Kollisionsrecht (Rom I und Rom II), RIW 2010, 783; Lehmann, Produkt- und Produzentenhaftung für Software, NJW 1992, 1721; Lehmann/Giedke, Cloud Computing – technische Hintergründe für die territorial gebundene rechtliche Analyse, CR 2013, 608; Lehmann/Giedke, Urheberrechtliche Fragen des Cloud Computing, CR 2013, 681; Lejeune, Auswirkungen der Rom I-Verordnung auf internationale IT-Verträge, ITRB 2010, 66; Lejeune, Softwarevertrieb über Distributoren, ITRB 2014, 234; Lindacher, Die internationale Dimension lauterkeitsrechtlicher Unterlassungsansprüche: Marktterritorialität vs. Universalität, GRUR-Int. 2008, 453; Lutzi, Aktuelle Fragen zum Handel mit virtuellen Gegenständen in Computerspielen, NJW 2012, 2070; Mankowski, Rom I-VO und Schiedsverfahren, RIW 2011, 30; McGuire, Grenzen der Rechtswahlfreiheit im Schiedsverfahrensrecht?, SchiedsVZ 2011, 257; Meyer, Miturheberschaft bei freier Software, Diss. 2010; Münchener Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, Band 11, Internationales Privatrecht I, 7. Aufl. 2018 sowie 4. Aufl. 2010; Münchener Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, Band 12, Internationales Privatrecht II, 7. Aufl. 2018; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht, 3. Aufl. 2013; Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019; Nägele/Jacobs, Rechtsfragen des Cloud Computing, ZUM 2010, 281; Nomos Kommentar BGB Bd. 6 bzw. Rom-Verordnungen, hrsg. von Hüßtege/Mansel, 3. Aufl. 2019; Nordmeier, Cloud Computing und Internationales Privatrecht, Anwendbares Recht bei der Schädigung von in Datenwolken gespeicherten Daten, MMR 2010, 151; Nueber, Nochmals: Schiedsgerichtsbarkeit ist vom Anwendungsbereich der Rom I-VO nicht erfasst, SchiedsVZ 2014, 186; Plender/Wilderspin, The European Private International Law of Obligations, 4. Aufl. 2015; Pfeiffer, Erneut: Marktanknüpfung und Herkunftslandprinzip im E-Commerce (zu OGH, 28.11.2012 – 4 Ob 202/12b), IPRax 2014, 360; Pfeiffer, Welches Recht gilt für elektronische Geschäfte? JuS 2004, 282; Piltz, Rechtswahlfreiheit im Datenschutzrecht? K&R 2012, 640; Rauscher, EuZPR/EuIPR, Band 3 zu Rom I und Rom II VO, 4. Aufl. 2016; Rauscher, EuZPR-EuIPR, Band 1 zu Brüssel Ia VO, 4. Aufl. 2015; Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015; Sack, Das IPR des geistigen Eigentums nach der Rom II VO, WRP 2008, 1405; Sack, Internationales Lauterkeitsrecht nach der Rom II-VO, WRP 2008, 845; Schulz/Rosenkranz, Cloud Computing – Bedarfsorientierte Nutzung von IT-Ressourcen, ITRB 2009, 232; Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Aufl. 2015; Schwartmann, Praxishandbuch Medien-, IT- und Urheber-

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Vorbemerkungen

Rz. 3 Vor Rom I VO und Rom II VO

recht, 4. Aufl. 2018; Sesing, Anwendbares Recht auf Internetdelikte nach der Rom-II-Verordnung, MMR 2008, XXIX–XXX; Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, Kommentar, 4. Aufl. 2019; Splittgerber/Rockstroh, Sicher durch die Cloud navigieren – Vertragsgestaltung beim Cloud Computing, BB 2011, 2179; Staudinger, Rechtvereinheitlichung innerhalb Europas: Rom I und Rom II, AnwBl. 2008, 8; Stimmel, Die Beurteilung von Lizenzverträgen unter der Rom I-Verordnung, GRUR-Int. 2010, 783; Sujecki, Internationales Privatrecht und Cloud Computing aus europäischer Perspektive, K&R 2012, 312; Wagner, Änderungsbedarf im autonomen deutschen internationalen Privatrecht aufgrund der Rom II-Verordnung?, IPRax 2008, 314; Weller, Anmerkung zu BGH: Namensstatut und Gesellschaftsstatut – dlg.de, LMK 2013, 344766; Wilhelm, Die Anknüpfung von Treuhandverträgen im Internationalen Privatrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rom I-VO, IPrax 2012, 392; Wurmnest, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei grenzüberschreitenden Kartellklagen, EuZW 2012, 933.

I. Europäisches Gesamtsystem zur Regelung grenzüberschreitender Zivil- und Handelssachen In der Europäischen Union sind für grenzüberschreitende Zivil- und Handelssachen, zu denen die 1 klassischen IT-Verträge1 zählen, die Frage des international zuständigen Gerichts sowie des anwendbaren Rechts durch Verordnung geregelt. Die internationale Gerichtszuständigkeit ist in der Brüssel Ia VO geregelt.2 Ergänzt wird dieses Regelwerk durch die Rom I VO über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht3 sowie die Rom II VO über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht.4 Hiermit steht weitgehend ein Gesamtsystem zur Regelung grenzüberschreitender Zivil- und Handelssachen zur Verfügung.5 Entsprechend sollen die in den Verordnungen verwendeten Begrifflichkeiten einheitlich ausgelegt werden (Erwägungsgrund 7, wonach der „materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen“ der Rom I VO mit der Brüssel I VO und der Rom II VO in Einklang stehen sollen; entsprechend auch Erwägungsgrund 7 Rom II VO).

2

II. Verhältnis zwischen Kollisionsrecht und Internationalem Zivilprozessrecht Die internationale Gerichtszuständigkeit ist insofern von Relevanz für die Bestimmung des anwendbaren Rechts, als nach allgemeinen IPR-Regeln die Rechtsordnung des Gerichtssitzes über das anwendbare Kollisionsrecht entscheidet. Der staatliche Richter ist in das Rechtssystem des Forumstaates eingebunden und kann nur durch die Kollisionsnormen der Rechtsordnung seines Gerichtssitzes (lex fori) angewiesen werden, nach welchem Sachrecht er über die Rechtsfrage zu entscheiden hat.6 Sofern ein Gericht eines Mitgliedstaates7 somit angerufen wird, richtet sich die Bestimmung des anwend-

1 Als klassische IT-Verträge werden hier insbesondere angesehen: Hardware-, Software-, System- und Outsourcing-Verträge sowie entsprechende Support-, Planungs- und Beratungsverträge. Nicht berücksichtigt werden dagegen Verträge, die primär das Recht der elektronischen Medien (insb. TMG, TKG, Fernabsatzrecht) betreffen, wie Mobilfunk- oder Internetzugangsverträge sowie Internet-System- oder Webdesign-Verträge etc. Miterfasst sind dagegen Mischverträge, wie Cloud- oder ASP-Verträge. 2 Auch EuGVVO n.F. = Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 12.12.2012 = VO (EU) Nr. 1215/2012, durch die die Vorgänger-VO (EG) Nr. 44/2001 (Brüssel I oder EuGVVO) aufgehoben wurde, Art. 80 Brüssel Ia. 3 VO (EG) Nr. 593/2008 (Rom I VO). 4 VO (EG) 864/2007 (Rom II VO). 5 Spindler/Schuster/Bach, Vierter Teil (IPR), Lit. B, Vorbem. Rom II VO Rz. 1. 6 S. auch Art. 9 Abs. 2 Rom I VO. Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 682 (dort auch zu Schwierigkeiten der Bestimmung des deliktischen Gerichtsstands bei Cloud Sachverhalten); ausführlich MünchKomm/Sonnenberger, IntPrivatR, Vorauflage (2010), Einl. IPR Rz. 261; s. auch MünchKomm/von Hein, Einl. IPR Rz. 87, Bd. 11, 7. Aufl. 2018; im Zusammenhang mit Art. 8 Rom II VO s. auch Staudinger/Fezer/Koos, 2015, IntWirtschR, Rz. 914 m.w.N. 7 Ausgenommen Dänemark, vgl. Erwägungsgrund 46 Rom I VO und 40 Rom II VO, sowie bzgl. Rom I VO das Vereinigte Königreich, Erwägungsgrund 45 Rom I VO.

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3

Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 3 Vorbemerkungen baren Rechts in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, nach den unmittelbar geltenden Rom I und Rom II Verordnungen (Rom I und Rom II VO).8

III. Ziel und System der Rom I und Rom II Verordnung 4

Rom I und II VO bezwecken die Harmonisierung der Kollisionsnormen der Mitgliedstaaten, um die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug weiterzuentwickeln und hierdurch auch die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zu vereinfachen. Der Ausgang von Rechtsstreitigkeiten soll vorhersehbar gemacht und die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht und der freie Verkehr gerichtlicher Entscheidungen gefördert werden.9

5

Die Rom I und Rom II VO gehen nationalem Kollisionsrecht vor, Art. 288 Abs. 2 AEUV, Art. 3 Nr. 1 lit. a und b EGBGB. Hierbei ist zu beachten, dass die Rom I VO den Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse sehr umfangreich regelt und somit ergänzende nationale Regelungen nahezu vollständig obsolet macht, wohingegen die Rom II VO enger gehalten ist. Letztere erfasst z.B. keine außervertraglichen Schuldverhältnisse aus der Verletzung von Privatsphäre oder Persönlichkeitsrechten (Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II VO), weshalb daneben nationale Kollisionsregeln relevant bleiben, s. Art. 38 ff. EGBGB.10 Aufgrund des Normwiederholungsverbots ist anders als bei völkerrechtlichen Verträgen die Wiedergabe der Bestimmungen von EU-Verordnungen wie der Rom I und II VO im EGBGB grundsätzlich nicht möglich.11

IV. IT-rechtliche Besonderheiten 6

Die für die kollisionsrechtliche Einordnung relevanten Besonderheiten im klassischen IT-Vertragsrecht (hierzu Rz. 1) sind:12 – die häufige Kombination mehrerer Vertragstypen,13 – die technisch ermöglichte Vertragserfüllung aus der Distanz mit der Folge, dass die Vertragsparteien sich in verschiedenen Ländern befinden können (z.B. Fernwartung, oder -nutzung von IT, Fernberatung, Vertragserfüllung durch Download oder die Durchführung von IT-Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in einer Cloud),14 – die Möglichkeit, dass der Erfüllungsort aufgrund technisch bedingter Besonderheiten mehrere Länder tangiert (z.B. bei der Hinterlegung von Software in einer internationalen Cloud),15 und – dass häufig ein doppelter Vertragsgegenstand gegeben ist, einmal der tatsächliche (z.B. die Nutzung oder Vervielfältigung von Software), und ferner der immaterielle (z.B. die Einräumung einer entsprechenden Lizenz für die Softwarenutzung).

7

Ähnlich lauten die IT-spezifischen Besonderheiten im außervertraglichen Bereich: – die technisch ermöglichte Verletzungs- oder Bereicherungshandlung aus der Ferne, d.h. ein Auseinanderfallen von Handlungs- und Erfolgsort (z.B. das Versenden von Viren, das Hacken eines Online-Kontos oder die illegale Nutzung von fremder Hard- oder Software sowie von digitalen Datenbeständen über remote Zugriff oder Download),16

8 S. auch Rauscher/Unberath/Cziupka, Einl. Rom II VO Rz. 10. 9 Erwägungsgründe 1, 4 und 6 sowohl in der Rom I als auch der Rom II VO. 10 Wagner, IPRax 2008, 314, 316; Spindler/Schuster/Bach, Vierter Teil (IPR), Lit. B, Vorbem. Rom II VO Rz. 15 mit Verweis auf Art. 40 ff. EGBGB. 11 Hierzu auch Wagner, IPRax 2008, 314, 315 m.w.N. 12 Eine allgemeine Einführung in das IT-Vertragsrecht findet sich bei Schwartmann/Gennen, S. 923-1018. 13 Vgl. Vor §§ 433 ff. BGB Rz. 3 ff.; § 631 BGB Rz. 7 ff. S. zur AGB-rechtlichen Seite auch § 305 BGB Rz. 7 ff. 14 Vgl. zu ASP- und Cloud-Leistungen § 535 BGB Rz. 18 ff. 15 Vgl. zum Leistungsort bei Cloud Computing § 269 BGB Rz. 23. 16 S. zu den Verletzungshandlungen auch § 823 BGB Rz. 29 ff.

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Anwendungsbereich

Art. 1 Rom I VO

– die Möglichkeit, dass der Schadenseintrittsort aufgrund technisch bedingter Besonderheiten mehrere Länder tangiert (z.B. die illegale Nutzung oder Schädigung eines internationalen Rechnernetzwerkes),17 und – dass ebenfalls ein doppelter Verletzungsgegenstand gegeben ist, der tatsächliche (z.B. die genutzten Daten, wie z.B. Software) sowie der immaterielle (z.B. das für die Software bestehende Urheberrecht). Kollisionsrechtlich besonders umstritten und noch ungeklärt ist vielfach die Bewertung von Fällen, 8 in denen der Anknüpfungssachverhalt das Internet oder eine internationale Cloud tangiert. Der mehrfach relevant werdende Begriff des Cloud Computing18 soll wie folgt verstanden werden: Cloud Computing beschreibt den Verbund mehrerer Server („Cloud“ im engeren Sinn), aus dem die Nutzung von Software und Hardware angeboten und auf den über ein Netzwerk zugegriffen wird. In der Cloud gespeicherte Dateien, die sich aus mehreren Daten zusammensetzen, können nicht notwendigerweise einem bestimmten geografischen Ort zugeordnet werden, da ihre Einzelbestandteile auf mehreren oder sogar allen Servern der Cloud verteilt sein können. Die Durchführung der Cloud Dienste wird zumindest teilweise vom Nutzer entfernt durchgeführt.19 Eine internationale Cloud bezeichnet einen entsprechenden Serververbund, dessen Server in mehreren Ländern lokalisiert sind. Die vorliegende Kommentierung beschränkt sich auf die Herausstellung IT-rechtsspezifischer Fragen bei der Anwendung der Rom I und II VO. Sie hat nicht den Anspruch, allgemeine Kommentierungen20 verzichtbar zu machen und geht auch nicht auf Besonderheiten des Rechts der elektronischen Medien (z.B. Fernabsatzrecht, TMG oder TKG) ein.21

Art. 1 Anwendungsbereich (1) Diese Verordnung gilt für vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten. (2) Vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sind: […] e) Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen; f) Fragen betreffend das Gesellschaftsrecht, das Vereinsrecht und das Recht der juristischen Personen, wie die Errichtung durch Eintragung oder auf andere Weise, die Rechts- und Handlungsfähigkeit, die innere Verfassung und die Auflösung von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen sowie die persönliche Haftung der Gesellschafter und der Organe für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft, eines Vereins oder einer juristischen Person; […]

17 Vgl. zu Eingriffen in Netzwerke auch § 823 BGB Rz. 46. 18 Hierzu auch Lehmann/Giedke, CR 2013, 608 ff. 19 Giedke, Cloud Computing, S. 47. Eine Übersicht über alternative Definitionsvorschläge (z.B. den ausführlichen des National Institute of Standards and Technology (NIST), http://nvlpubs.nist.gov/nistpubs/Legacy/ SP/nistspecialpublication800-145.pdf, zuletzt eingesehen am 1.1.2020, sowie eine ausführliche Stellungnahme zu diesen s. S. 36 ff. und 43 ff. 20 Z.B. von Rauscher, EuZPR/EuIPR; MünchKomm, Bd. 11 IPR I, Bd. 12 IPR II. 21 Eine Kommentierung der Rom I und II VO mit Blick auf das Recht der elektronischen Medien findet sich bei Spindler/Schuster/Bach, Vierter Teil IPR.

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Rom I VO Art. 1 Rz. 1 Anwendungsbereich h) die Gründung von „Trusts“ sowie die dadurch geschaffenen Rechtsbeziehungen zwischen den Verfügenden, den Treuhändern und den Begünstigten; i) Schuldverhältnisse aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrags; […] I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . a) Sachlicher, räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . b) Verhältnis zu anderen Rechtsakten . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragliche Schuldverhältnisse in Zivilund Handelssachen . . . . . . . . . . . . 2. Verbindung zum Recht verschiedener Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

1 1 2

. . . . . . . . .

2 3 5

. . .

5

. . .

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3. Ausnahmen vom Anwendungsbereich (Art. 1 Abs. 2 Rom I VO) . . . . . . . . . . . . a) Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen (Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom I VO) . . . . . b) Fragen betreffend das Gesellschaftsrecht (Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I VO) . . . . . . . c) Die Gründung von Trusts sowie die dadurch geschaffenen Rechtsbeziehungen (Art. 1 Abs. 2 lit. h Rom I VO) . . . . d) Schuldverhältnisse aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrages (Art. 1 Abs. 2 lit. i Rom I VO) . . . . . . .

12 13 16 19 21

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Art. 1 Rom I VO umschreibt als Anwendungsbereich der Rom I VO vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen (unter Ausnahme bestimmter Bereiche), die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Im Gegensatz dazu, regelt die Rom II VO entsprechende außervertragliche Schuldverhältnisse (Art. 1 Rom II VO). Konkurrieren vertragliche und außervertragliche Ansprüche, ist für beide jeweils gesondert anzuknüpfen.1 Im Hinblick auf das deutsche Recht hat der Erlass der Rom I VO zur ersatzlosen Streichung der Artt. 27–29, 30–37 EGBGB a.F. geführt.2 2. Bedeutung und Anwendungsbereich a) Sachlicher, räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich

2

Art. 1 Rom I VO bestimmt als sachlichen Anwendungsbereich der Rom I VO vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen. In räumlicher Hinsicht ist eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten erforderlich (s. auch die ergänzende Regelung zur universellen Anwendbarkeit in Art. 2 Rom I VO). Der zeitliche Anwendungsbereich erstreckt sich nur auf Verträge, die nach dem 17.12.20093 also ab dem 18.12.2009 geschlossen wurden (Art. 28 Rom I VO).4 Der Zeitpunkt des Vertragsschlusses ist danach auch bei Dauerschuldverhältnissen, wie etwa Softwarepflegeverträgen maßgeblich.5 Wenn jedoch alte, vor dem 17.12.2009 geschlossene Verträge nach dem 17.12.2009 in einem Umfang geändert worden sind, der keine bloße Aktualisierung oder Anpassung, sondern die Begründung einer neuen Rechtsbeziehung zwischen den Vertragsparteien darstellt und daher den alten Vertrag ersetzen, ist die Rom I VO anwendbar.6 1 Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 686; MünchKomm/Drexl, Bd. 12, Teil 8, IntImmGR Rz. 171. 2 Rauscher/von Hein, Einl. Rom I VO Rz. 29, Art. 1 Rom I VO Rz. 3. Eine Synopse zum Inkrafttreten der Rom I und II VO findet sich bei Kindler/Klemann, IPRax 2008, 365 f. 3 Zum verunglückten Wortlaut von Art. 28 und Art. 29 Abs. 2 Rom I VO s. Rauscher/Freitag, Art. 28/29 Rom I VO Rz. 3. 4 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 240. Für vor dieser Zeit abgeschlossene Verträge bleibt es bei der Anwendbarkeit der alten Vorschriften des EGBGB, vgl. Palandt/Thorn, Vorbem. Rom I VO Rz. 1, v.a. von Art. 27 und 28 EGBGB, Härting, Internetrecht, Rz. 2766. 5 Lejeune, ITRB 2010, 66. 6 EuGH v. 18.10.2016 – C-135/15, NJW 2017, 141, Ls.1 und Rz. 32 ff.

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Anwendungsbereich

Rz. 5 Art. 1 Rom I VO

b) Verhältnis zu anderen Rechtsakten Vorschriften des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts, die in besonderen Bereichen Kollisionsnormen 3 für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten, werden durch die Rom I VO nicht berührt (Art. 23 Rom I VO).7 Auch die Anwendung internationaler Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme der Rom I VO (17.6.20088) angehören und die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten, werden durch die Rom I VO grundsätzlich nicht berührt. Nur in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten hat die Rom I VO Vorrang vor den ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen, soweit diese Bereiche betreffen, die in der Rom I VO geregelt sind (Art. 25 Rom I VO). Für das Verhältnis zum Übereinkommen von Rom, s. Art. 24 Rom I VO.9 Vorrangige Regelungen finden sich z.B. im Bereich des Rechts der Verbraucherverträge10 sowie in 4 Art. 1 Abs. 1 des UN-Kaufrechts.11 In Bezug auf das hier behandelte klassische IT-Recht sind keine IT-spezifischen Rechtsakte ersichtlich, die der Rom I VO kollisionsrechtlich vorgehen.12

II. Norminhalt 1. Vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen Die Rom I VO soll in Einklang mit der Rom II sowie der Brüssel I (nunmehr Brüssel Ia) VO ausgelegt werden (Erwägungsgrund 7 Rom I und Rom II VO). Entsprechend ist die Rspr. des EuGH zu Brüssel I bzw. Ia heranzuziehen,13 wonach eine autonome Auslegung der Begriffe vorzunehmen ist. Hierbei ist v.a. die Systematik und Zielsetzung der VO zu berücksichtigen, aber auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen ergeben,14 um eine einheitliche Anwendung der Verordnung zu gewährleisten.15

7 Eine Ausnahme gilt für Art. 7 Rom I VO bzgl. Versicherungsverträge, s. Art. 23 Rom I VO. 8 MünchKomm/Martiny, Bd. 12, Art. 25 Rom I VO Rz. 8; mit dem Tag der Annahme ist der Tag der Verabschiedung der Rom I VO durch das Europäische Parlament und den Rat gemeint, s. hierzu auch Entscheidung der Kommission 2009/26/EG v. 22.12.2008 (ABl. 2009 Nr. L 10, 22) Erwägungsgrund 1 und 2 sowie zur Anwendung der VO auf das Vereinigte Königreich. 9 Für Deutschland ist die Rom I VO an die Stelle des Übereinkommens von Rom getreten, s. Art. 3 Nr. 1 lit. b EGBGB; entsprechend wurden die Art. 27 ff. EGBGB a.F. gelöscht. S. hierzu auch Spindler/Schuster/Bach, Art. 24 Rom I VO Rz. 1. 10 Beispielsweise Vorschriften zur Umsetzung der RL über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, RL 93/13, soweit sie im Einklang mit deren Art. 8 Rom I VO ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher gewährleisten, s. EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15 – Verein für Konsumenteninformation, Rz. 59; s. ferner die Auflistung in Art. 46b Abs. 3 EGBGB sowie: Spindler/Schuster/Bach, vor Rom I VO Rz. 19. 11 United Nations Convention on Contracts for the International Sales of Goods („CISG“, „UN-Kaufrecht“). Zum Vorrang des CISG MünchKomm/Spellenberg, Bd. 12, Art. 12 Rom I VO Rz. 110. Es ist umstritten, ob das CISG Kollisionsnormen i.S.d. Art. 25 beinhaltet, wird aber mehrheitlich bejaht, s. hierzu allgemein Spindler/Schuster/Bach, Art. 25 Rom I VO Rz. 2 m.w.N. Für einen Bestandsschutz des UN-Kaufrechts: Rauscher/ von Hein, Art. 25 Rom I VO Rz. 6 und 8; MünchKomm/Martiny, Bd. 12, Art. 25 Rom I VO Rz. 4; Lejeune, ITRB 2010, 66, 67. Vorrangige Regelungen finden sich auch im Haager Übereinkommen betreffend das auf internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen anzuwendende Recht v. 15.6.1955, Palandt/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 7. 12 Zur hier nicht behandelten Frage, ob im E-Commerce-Recht vorrangige Regelungen bestehen, vgl. Spindler/ Schuster/Bach, Vor Rom I VO Rz. 20 sowie EuGH v. 25.10.2011 – C-509/09, C-161/10 (verbundene Rechtssachen), NJW 2012, 137, 140 f. – eDate Advertising GmbH und Oliver Martinez. 13 Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a./Kieninger, Internationales Vertragsrecht, Art. 1 Rom I VO Rz. 3. 14 St. Rspr. zur Brüssel I VO, s. nur EuGH v. 11.9.2014 – C-112/13 (A/B ua) Rz. 50; EuGH v. 15.5.2003 – C-266/01 Rz. 20; EuGH v. 22.2.1979 – 133/78; EuGH v. 14.10.1976 – 29/76. 15 Schlussantrag des Generalanwalts Yves Bot v. 23.4.2015 – C-366/13 Rz. 23; EuGH v. 15.5.2003 – C-266/01 Rz. 20.

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5

Rom I VO Art. 1 Rz. 6 Anwendungsbereich 6

Ein vertragliches – im Gegensatz zu einem außervertraglichen – Rechtsverhältnis liegt vor, wenn eine Partei gegenüber einer anderen freiwillig Verpflichtungen eingegangen ist.16 Es genügt, dass einseitig eine freiwillige, privatautonome Bindung eingegangen wurde.17 Unter Kontrahierungszwang18 geschlossene Verträge fallen daher ebenfalls unter den Anwendungsbereich der Rom I VO.19

7

Die Zivil- und Handelssachen sind inhaltlich von Materien des öffentlichen Rechts abzugrenzen.20 Nach dem EuGH ist entscheidend, ob hoheitliche Befugnisse ausgeübt werden, also solche, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen. Unerheblich ist dagegen, ob eine Behörde oder öffentliche Stelle beteiligt ist.21

8

Klassische IT-Verträge sind danach erfasst – auch wenn eine Vertragspartei zur öffentlichen Hand gehört und/oder dem Vertragsschluss eine hoheitliche Bewilligung voranging, wie im Falle eines Vergabeverfahrens.22 2. Verbindung zum Recht verschiedener Staaten

9

Die vertraglichen Schuldverhältnisse müssen eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, wobei dies Mitgliedstaaten oder auch andere Staaten sein können (vgl. Art. 2 Rom I VO).23

10

Dies ist z.B. bei grenzüberschreitenden Fernwartungs- oder -nutzungsverträgen für Soft- oder Hardware der Fall oder bei entsprechenden Lizenz- oder IT-Vertriebsverträgen. Ebenso gilt dies bei ubiquitären IT-Sachverhalten mit jedenfalls potentiellem Bezug zu sämtlichen Rechten der Welt,24 wie z.B. bei Einsatz von internationalen Clouds bei Vertragserfüllung (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8).

11

Aus Art. 3 Abs. 3 Rom I VO folgt sogar, dass die erforderliche internationale Verbindung allein durch eine Rechtswahlklausel hergestellt werden kann.25 3. Ausnahmen vom Anwendungsbereich (Art. 1 Abs. 2 Rom I VO)

12

Für den IT-Kontext am ehesten relevant erscheinen die Ausnahmen betreffend Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen (lit. e) sowie von Schuldverhältnissen aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrages (lit. i), ggf. auch Fragen betreffend Gesellschaftsrecht (lit. f) und die Gründung von „Trusts“ (lit. h). a) Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen (Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom I VO)

13

Schiedsvereinbarungen (§§ 1029 ff. ZPO) können sinnvoll sein, wenn der IT-Vertrag internationale Bezüge aufweist und/oder komplexe technische Fragestellungen betrifft. Denn durch eine Schiedsklausel können parallele Prozesse in mehreren Jurisdiktionen vermieden und zu gewissem Maße si-

16 EuGH v. 17.6.1992 – C-26/91 Handte/Traitements mécano-chimiques des surfaces Rz. 15; EuGH v. 28.1.2015 – C-375/13 – Harald Kolassa/Barclays Bank plc Rz. 39. 17 EuGH v. 20.1.2005 – C 27/02 Engler/Janus Versand GmbH, Rz. 50 ff. 18 Bei Soft- und Hardwareverträgen wird Kontrahierungszwang beispielsweise diskutiert bei Wartungs- bzw. Pflegeverträgen, z.B. bei einer Alleinstellung des Anbieters und der Notwendigkeit eines Wartungs- bzw. Pflegevertrages gem. § 20 GWB oder aus vertraglicher Nebenpflicht, s. Redeker, IT-Recht, Kap. B. IV Rz. 674 f. Ausführlich zu solchen leistungssichernden Nebenpflichten § 241 BGB Rz. 23 ff. 19 MünchKomm/Martiny, Bd. 12, Art. 1 Rom I VO Rz. 7. 20 Z.B. Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten, Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Rom I VO. 21 EuGH v. 15.5.2003 – C-266/01 Ls. und Rz. 20 und 22. S. auch Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a./Kieninger, Internationales Vertragsrecht, Art. 1 Rom I VO Rz. 3 m.w.N. 22 Zu letzterem Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a./Kieninger, Internationales Vertragsrecht, Art. 1 Rom I VO Rz. 4 m.w.N. 23 So auch Rauscher/von Hein, Art. 1 Rom I VO Rz. 20. 24 Spindler/Schuster/Bach, Art. 1 Rom II VO Rz. 4. Zur einheitlichen Auslegung von Rom I und Rom II s. jeweils Erwägungsgrund 7. 25 Rauscher/von Hein, Art. 1 Rom I VO Rz. 21.

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Anwendungsbereich

Rz. 16 Art. 1 Rom I VO

chergestellt werden, dass in technischer Hinsicht bewanderte Schiedsrichter über den Streit entscheiden. Auch Gerichtsstandsvereinbarungen (hierzu Art. 25 Brüssel Ia VO, §§ 38, 40 ZPO) sind im Interesse von Rechtssicherheit und -klarheit im IT-Vertragsrecht empfehlenswert. Dies gilt v.a. für den Fall, dass als vertraglicher Erfüllungsort Orte in mehreren Ländern in Betracht kommen, z.B. bei Verträgen, die Software-Wartungs- und Pflegeleistungen in mehreren Ländern zum Gegenstand haben oder die online-Zurverfügungstellung von Software, die z.B. auf einer internationalen Cloud installiert sein kann (Software as a Service, SaaS). Denn Art. 7 Brüssel Ia VO geht davon aus, dass sich durch Anknüpfung an den vertraglichen Erfüllungsort ein eindeutiger Gerichtsstand ergibt – was in diesen Konstellationen nicht der Fall ist.26

14

Abs. 2 lit. e nimmt Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen von dem Anwendungsbereich der Rom I VO aus (also Prozessverträge) – nicht aber den jeweiligen Verfahrensgegenstand. Nach richtiger Ansicht ist daher das anwendbare Recht für den Gegenstand des Schiedsverfahrens für in der EU belegene Schiedsgerichte nach der Rom I VO zu bestimmen.27 Das für Schiedsvereinbarungen anwendbare Recht bestimmt sich primär nach dem von den Parteien in Bezug auf die Schiedsklausel explizit oder konkludent gewählte Recht, hilfsweise nach dem Recht des Schiedsorts (lex arbitri).28 Fehlt es sowohl an einer Rechts- als auch einer Schiedsortwahl, kommt eine analoge Anwendung des Art. 4 Abs. 4 Rom I VO in Betracht, was z.B. zur Geltung des Statuts eines zwischen den Parteien bestehenden Hauptvertrages führen kann.29 Gerichtsstandsvereinbarungen unterliegen materiellrechtlich dem Recht des Mitgliedstaates, dessen Gericht(e) von den Parteien für zuständig erklärt wurde(n), Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia VO.30 Sofern Art. 25 Brüssel Ia VO weder direkt noch analog anwendbar ist, kommt eine analoge Anwendung der Rom I VO zur Bestimmung des auf Gerichtsstandsvereinbarungen anwendbaren Rechts in Betracht.31

15

b) Fragen betreffend das Gesellschaftsrecht (Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I VO) Open Source Software wird häufig in kooperativen Entwicklungsmodellen erstellt.32 Im Einzelfall kommen hier (neben einer Miturhebergemeinschaft)33 gesellschaftsrechtliche Bindungen in Betracht, 26 Zum Cloud Computing in diesem Kontext ausführlich Giedke, Cloud Computing, S. 90 ff. Generell zu Cloudspezifischen Fragen des IZPR S. 87 ff. sowie zu urheberrechtsspezifischen IPZR-Besonderheiten bei Cloud Sachverhalten S. 245 ff. 27 Str. Auch explizit für das Schiedsverfahren: Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Staudinger, Europarecht, § 22 Rz. 9; Mankowski, RIW 2011, 30 f.; McGuire, SchiedsVZ 2011, 257, 262 ff. A.A. MünchKomm/Martiny, Bd. 12, Vor Art. 1 Rom I VO Rz. 97 ff.; Nueber, SchiedsVZ 2014, 186 ff. 28 OLG München v. 7.7.2014 – 34 SchH 18/13, BeckRS 2014, 17245 Rz. 28; BGH v. 8.6.2010 – XI ZR 349/08, SchiedsVZ 2011, 46, 48 Rz. 29 ff.; s. auch § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a Alt. 2 ZPO bzw. Art. 5 Abs. 1 lit. a Alt. 2 New York Konvention = UN Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.6.1958. Eine Rechtswahl bzgl. der Schiedsvereinbarung kann auch nachträglich konkludent erfolgen, etwa indem die Parteien sich im Rechtsstreit ausschließlich auf deutsche Rechtsvorschriften berufen, ein diesbezügliches erstinstanzliches Urteil rügelos hinnehmen und einen entsprechenden Gestaltungswillen erkennen lassen. Eine Schiedsvereinbarung kann auch in AGB wirksam getroffen werden und ist bereits dann hinreichend bestimmt, wenn mit ihr die Entscheidung aller oder einzelner Streitigkeiten zwischen den Parteien in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis einem Schiedsgericht übertragen wird, s. OLG Hamm v. 9.7.2013 – I-21 U 16/13, 21 U 16/13, Ls. 2 und 3 sowie Rz. 64 und 76 – juris. 29 OLG Düsseldorf v. 15.11.2017 – VI-U (Kart) 8/17 – Bridge-Weltmeisterschaft, BeckRS 2017, 140328 Ls. 2 und Rz. 36. 30 Zu Form und Zulässigkeit s. Art. 25 Abs. 1 Brüssel Ia VO, §§ 38 und 40 ZPO; die prozessrechtliche Zulässigkeit bestimmt sich ausschließlich nach der lex fori, LG München I v. 11.8.2017 – 33 O 8184/16, BeckRS 2017, 122310 Rz. 27. Palandt/Thorn, Art. 1 Rom I VO Rz. 11. 31 LG München I v. 11.8.2017 – 33 O 8184/16, BeckRS 2017, 122310 Rz. 24; sowie Art. 3 Rom I VO Rz. 19. 32 V.a. bei Projekten, die Copy-left-Lizenzen verwenden, hierzu Jaeger/Metzger, Open Source Software, S. 210 Rz. 191. S. dort auch zu Entwicklungsmodellen, die unter der Herrschaft von Unternehmen ablaufen (Rz. 193), oder für die Vereine oder Stiftungen gegründet werden (Rz. 194) sowie zu Einzel- oder klassischen Community-Projekten (Rz. 195 f.). 33 § 8 UrhG; zur Abgrenzung der gesetzlichen Miturhebergemeinschaft von der vertraglichen Miturhebergesellschaft s. auch Wandtke/Bullinger/Thum, Urheberrecht, § 8 UrhG Rz. 52 und 155 f.

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16

Rom I VO Art. 1 Rz. 16 Anwendungsbereich die – je nach anwendbarem Recht – nur relativ geringe Voraussetzungen erfordern. Nach deutschem Recht genügt z.B. zur Gründung einer GbR, dass die Parteien durch Rechtsgeschäft wechselseitige Leistungspflichten zur Förderung eines gemeinsamen Zwecks vereinbaren. Gemeinsamer Zweck kann in der gemeinsamen Entwicklung einer Software mit der jeweils anvisierten Funktionalität zu sehen sein (an dem allerdings bloße Nutzer und Bearbeiter im Gegensatz zu Entwicklern regelmäßig nicht teilhaben);34 es müssen aber auch Förderungspflichten aller Beteiligten vereinbart werden, was im Einzelfall häufig der Knackpunkt sein wird.35 Bei Kernteams in klassischen Community-Projekten kann von der Vereinbarung gegenseitiger Förderungspflichten regelmäßig ausgegangen werden;36 soweit aber freie Software von Privatleuten auf freiwilliger Basis entwickelt wird, fehlt regelmäßig der Wille, eine Verpflichtung zur Schaffung von Beiträgen zu begründen.37 17

Nicht ausreichend ist die schlichte Bezeichnung der gemeinsamen Beziehung als „Club“ oder „Mitgliedschaft.“38

18

Im EWR und im Verhältnis zu den USA erfolgt die Bestimmung des anwendbaren Gesellschaftsrechts nach der sog. Gründungstheorie, im Verhältnis zu Drittstaaten nach der Sitztheorie.39 c) Die Gründung von Trusts sowie die dadurch geschaffenen Rechtsbeziehungen (Art. 1 Abs. 2 lit. h Rom I VO)

19

Die Ausnahme von Trusts könnte im Zusammenhang mit Software-Escrow40 relevant werden, sofern unter „Trust“ nicht nur echte Trusts sondern generell Treuhandverhältnisse zu verstehen sind. Dies ist umstritten.41 Grundsätzlich sind kontinentaleuropäische Treuhandverhältnisse nicht von dem Ausschluss erfasst, denn es wurde absichtlich das englische Wort „trust“ verwendet, um klarzustellen, dass allein der trust des common law ausgeklammert werden sollte.42 Gegen eine Gleichstellung sprechen ferner Unterschiede der rechtlichen Ausgestaltung bei dem Verkauf des Treuguts durch den Treuhänder im englischen im Gegensatz zum deutschen Recht.43 Es sollte aber im Einzelfall geprüft werden, inwiefern der konkret in Rede stehende Treuhandvertrag dem anglo-amerikanischen Trust gleicht (z.B. anhand der Kriterien, die das Haager Trust-Übereinkommen vom 1.7.1985 in Art. 2 vorsieht).44 Denn es liegt im Ermessen des angerufenen Gerichts, einen Treuhandvertrag im Einzelfall dem trust gleichzustellen, sofern er die gleichen Merkmale aufweist.45

34 Meyer, Miturheberschaft bei freier Software, S. 61 f. 35 Ausführlich Jaeger/Metzger, Open Source Software, S. 212 ff. Rz. 197, 199. 36 Jaeger/Metzger, Open Source Software, S. 213 Rz. 198; ein Indiz hierfür ist z.B. die gemeinsame Erstellung und der Betrieb einer Internet-Entwicklungsplattform. Als vereinbarte Förderungspflichten kommen v.a. Dienstleistungen gem. § 706 Abs. 3 BGB in Betracht, z.B. organisatorische Tätigkeiten der Geschäftsführung (Rz. 199). 37 Meyer, Miturheberschaft bei freier Software, S. 61 f. 38 S. zu Provider-Verträgen: Spindler/Schuster/Bach, Art. 1 Rom I VO Rz. 11, der als Indiz für eine gewollte gesellschaftsrechtliche Bindung z.B. eine Beteiligung des Kunden an der Willensbildung der juristischen Person und an Liquidationserlösen sowie vereinsrechtlichen Beziehungen zu anderen Kunden ansieht. 39 BGH v. 27.10.20018 – II ZR 158/06, NJW 2009, 289 Rz. 13 ff.; BGH v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, NZG 2011, 1114 Rz. 16 ff. mit zahlreichen Nachweisen auch aus der Rspr. des EuGH; Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 368. 40 Zu Software-Hinterlegungsvereinbarungen (Escrow Agreements) s. Grützmacher, CR 2006, 289, 294–296; hier § 675 BGB Rz. 19. 41 MünchKomm/Martiny, Bd. 12, Art. 1 Rom I VO Rz. 75; dafür, dass kontinentaleuropäische Treuhandverhältnisse von dem Begriff „trust“ erfasst und somit vom Anwendungsbereich der Rom I VO ausgeschlossen sein können, sprechen sich z.B. Rauscher/von Hein, Art. 1 Rom I VO Rz. 51 ff. aus, sofern funktionale Äquivalenz zu den „trust“ der Common-Law-Länder besteht (wobei auf die Definition in Art. 2 Haager Trust-Übereinkommen vom 1.7.1985 verwiesen wird); ablehnend eher Wilhelm, IPrax 2012, 392, 393 f. 42 BT-Drucks. 10/503, 45. Hintergrund ist, dass dieser überwiegend als dinglich oder gesellschaftsrechtlich, weniger jedoch als schuldrechtlich qualifiziert wird, Wilhelm, IPrax 2012, 392, 393 f. m.w.N. 43 Plender/Wilderspin, The European Private International Law of Obligations, S. 124 f. Rz. 5-061 ff. insb. Rz. 5-063. S. auch Wilhelm, IPRax 2012, 392, 393 f. 44 Rauscher/von Hein, Art. 1 Rom I VO Rz. 52, wo auch ein Auszug von Art. 2 HTrustÜbk abgedruckt ist. 45 BT-Drucks. 10/503, 45.

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Universelle Anwendung

Rz. 2 Art. 2 Rom I VO

Für trusts wird jedoch inzwischen auch für eine entsprechende Anwendung der Grundsätze der Rom I VO plädiert.46

20

d) Schuldverhältnisse aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrages (Art. 1 Abs. 2 lit. i Rom I VO) Im IT-Vertragsrecht kann es, z.B. bei eklatantem Wissensgefälle zwischen Anbieter und Erwerber, zu besonderen Aufklärungspflichten vor Vertragsschluss kommen.47 Ist diese Pflichtverletzung den Verhandlungen vor Abschluss des Vertrages zuzurechnen, schließt Art. 1 Abs. 2 lit. i Rom I VO die Anwendbarkeit der Rom I VO aus und ordnet derartige Schuldverhältnisse damit der Rom II VO zu, s. Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Rom II VO sowie Erwägungsgrund 10 Rom I VO und Erwägungsgrund 30 Rom II VO. Allerdings sieht Art. 12 Abs. 1 Rom II VO grundsätzlich eine akzessorische Anknüpfung der c.i.c. an das Vertragsstatut vor, das wiederum nach der Rom I VO zu bestimmen ist.48

21

Art. 2 Universelle Anwendung Das nach dieser Verordnung bezeichnete Recht ist auch dann anzuwenden, wenn es nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist. 1. Universelle Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . 2. Geltungsbereich des anwendbaren Rechts (Art. 12 Rom I VO) . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2

3. Ausschluss einer Rück- und Weiterverweisung (Art. 20 Rom I VO) . . . . . . . . . . . . . . . .

4

4. Keine Anwendung aufgrund ordre public (Art. 21 Rom I VO) . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

1. Universelle Anwendbarkeit Art. 2 Rom I VO ergänzt den räumlichen Anwendungsbereich der Rom I VO (hierzu schon Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Rom I VO) um die Regelung einer universellen Anwendbarkeit. Zum sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich s. bereits Art. 1 Rom I VO Rz. 2. Das nach der VO anwendbare Recht muss keinen Bezug zu einem Mitgliedstaat aufweisen. Theoretisch kann jede Rechtsordnung weltweit für anwendbar erklärt werden.1

1

2. Geltungsbereich des anwendbaren Rechts (Art. 12 Rom I VO) Der Geltungsbereich des nach der Rom I VO anwendbaren Rechts wird in Art. 12 Rom I VO spezifiziert. So ist es insb. maßgebend für (i) die Vertragsauslegung, (ii) die Erfüllung der vertraglich begründeten Verpflichtungen, (iii) die Folgen der vollständigen oder teilweisen Nichterfüllung dieser Verpflichtungen (in den Grenzen der dem angerufenen Gericht durch sein Prozessrecht eingeräumten Befugnisse) einschließlich der Schadensbemessung, soweit diese nach Rechtsnormen erfolgt, (iv) die verschiedenen Arten des Erlöschens der Verpflichtungen sowie die Verjährung und die Rechtsverluste, die sich aus dem Ablauf einer Frist ergeben und (v) die Folgen der Nichtigkeit des Vertrags (Art. 12 Abs. 1 Rom I VO). In Bezug auf die Art und Weise der Erfüllung und die vom Gläubiger im Falle man46 Reithmann/Martiny/Martiny, Internationales Vertragsrecht, Teil 1 Rz. 1.110 m.w.N. 47 Beispielhaft für vorvertragliche Beratungs- und Aufklärungspflichten beim Hardwarekauf s. Schwartmann/ Gennen, S. 940. Trotz des Gebots der autonomen Auslegung kann auf die im deutschen Recht entwickelten Fallgruppen zurückgegriffen werden, MünchKomm/Junker, Bd. 12, Teil 6, Art. 12 Rom II VO Rz. 14 ff. Ausführlich § 311 BGB Rz. 8 ff. 48 Lejeune, ITRB 2010, 66, 67; Rauscher/von Hein, Art. 1 Rom I VO Rz. 56. 1 LG Düsseldorf v. 9.11.2018 – 4a O 16/17, BeckRS 2018, 35557 Rz. 126.

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2

Rom I VO Art. 2 Rz. 2 Universelle Anwendung gelhafter Erfüllung zu treffenden Maßnahmen ist das Recht des Staates, in dem die Erfüllung erfolgt, zu berücksichtigen, Art. 12 Abs. 2 Rom I VO. 3

Betreffen die Verträge urheberrechtlich geschützte Werke, bleiben die das Urheberrecht selbst betreffende Fragen dem Recht des jeweiligen Schutzlandes vorbehalten.2 3. Ausschluss einer Rück- und Weiterverweisung (Art. 20 Rom I VO)

4

Das nach der Rom I VO anzuwendende Recht erfasst die in dem betreffenden Staat geltenden Rechtsnormen unter Ausschluss derjenigen des Internationalen Privatrechts, sofern keine entsprechende Ausnahme in der Rom I VO geregelt ist. Eine entsprechende Klarstellung in der Rechtswahlklausel kann sich dennoch empfehlen, v.a. wenn Drittländer involviert sind.3 IT-spezifische Ausnahmeregelungen sind nicht ersichtlich.4 4. Keine Anwendung aufgrund ordre public (Art. 21 Rom I VO)

5

Auch wenn eine Vorschrift nach den Regeln der Rom I VO an sich anwendbar wäre, kann die Anwendung versagt werden, wenn sie mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist, Art. 21 Rom I VO. Dies kann z.B. bei vertraglich vereinbarten Strafschadensersatzansprüchen, sog. „punitive damages“5 der Fall sein, die neben dem Ersatz materieller und immaterieller Schäden erstattet werden sollen.6

Art. 3 Freie Rechtswahl (1) Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen. (2) Die Parteien können jederzeit vereinbaren, dass der Vertrag nach einem anderen Recht zu beurteilen ist als dem, das zuvor entweder aufgrund einer früheren Rechtswahl nach diesem Artikel oder aufgrund anderer Vorschriften dieser Verordnung für ihn maßgebend war. Die Formgültigkeit des Vertrags im Sinne des Artikels 11 und Rechte Dritter werden durch eine nach Vertragsschluss erfolgende Änderung der Bestimmung des anzuwendenden Rechts nicht berührt. (3) Sind alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem anderen als demjenigen Staat belegen, dessen Recht gewählt wurde, so berührt die Rechtswahl der Parteien nicht die Anwendung derjenigen Bestimmungen des Rechts dieses anderen Staates, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. (4) Sind alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen, so berührt die Wahl des Rechts eines Drittstaats durch die Parteien nicht die Anwendung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts – gegebenenfalls in der 2 So z.B. die Entstehung des Urheberrechts, Inhalt und Umfang des Schutzes, die Zulässigkeit seiner (Teil-)Übertragung, Einräumung von Nutzungsrechten auf erster und weiterer Stufe etc., Dreier/Schulze/Dreier, Urheberrecht, Vor § 120 Rz. 30; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 254. 3 An sich beschränkt Art. 20 ROM I VO die Rechtswahlmöglichkeiten auch dahingehend, dass kein ausländisches Kollisionsrecht für beachtlich erklärt werden kann; dies ist jedoch umstritten, s. Art. 3 Rz. 11; Rauscher/Freitag, Art. 20 Rom I VO Rz. 2. Da das IPR eines anderen Staates eine Weiterverweisung zulassen kann, wird sicherheitshalber eine Klarstellung empfohlen, Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 280. 4 Eine Ausnahmeregelung wird für das Versicherungsvertragskollisionsrecht (Art. 7) angenommen, Spindler/ Schuster/Bach, Teil 4 Art. 20 Rom I VO Rz. 1 m.w.N. 5 S. zum Strafschadensersatz auch § 249 BGB Rz. 2. 6 BGH v. 4.6.1992 – IX ZR 149/91 Ls. 8, NJW 1992, 3096, 3102 ff.; hierzu auch Münchener Anwaltshandbuch ITRecht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 255. S. auch die Kommentierung zu Art. 26 Rom II VO Rz. 1.

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Freie Rechtswahl

Rz. 5 Art. 3 Rom I VO

von dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts umgesetzten Form –, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. (5) Auf das Zustandekommen und die Wirksamkeit der Einigung der Parteien über das anzuwendende Recht finden die Artikel 10 [Einigung und materielle Wirksamkeit], 11 [Form] und 13 [Rechts-, Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit] Anwendung. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – Grundsatz der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . 3. Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I VO . . . . . . b) Verbraucherverträge . . . . . . . . . . . . c) Eingriffsnormen gem. Art. 9 Rom I VO d) Rück- oder Weiterverweisungen ausgeschlossen . . . . . . . . . . . . . . .

. .

1

. . . . . .

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. . . . . .

. . 11

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausdrückliche oder eindeutige Rechtswahl (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom I VO) . . . . . . . 2. Wählbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Für den ganzen Vertrag oder nur einen Teil desselben (Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom I VO) . 4. Alle anderen Elemente des Sachverhalts (Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I VO) . . . . . . .

. . 12 . . 12 . . 13 . . 15 . . 16

III. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . . 17

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – Grundsatz der Privatautonomie Art. 3 Rom I VO kodifiziert den Grundsatz der Privatautonomie.1 Die freie Rechtswahl der Parteien soll einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsnormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse sein (Erwägungsgrund 11 Rom I VO).

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Durch die Rechtswahl der Parteien wird im Grundsatz dasjenige Recht, das ansonsten aufgrund objektiver Ermittlung anwendbar wäre, ausgeschaltet und durch das gewählte Recht ersetzt.

2

Ob die Rechtswahl wirksam getroffen wurde (einschließlich der Frage, ob entsprechende AGB wirksam 3 einbezogen wurden2), bestimmt sich jedoch gem. Abs. 5 nach den Art. 10, 11 und 13 Rom I VO.3 Die Rechtswahl ist insofern ein von dem Hauptvertrag zu trennender selbstständiger Vertrag.4 3. Einschränkungen Der Grundsatz der freien Rechtswahl ist in verschiedentlicher Hinsicht eingeschränkt:

4

a) Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I VO In den Ausnahmefällen der Abs. 3 und 4 kann das gewählte Recht nicht die zwingenden Bestimmungen des ansonsten aufgrund objektiver Ermittlung anwendbaren Rechts ersetzen. Die Ausnahmefälle setzen voraus, dass alle anderen Elemente des Sachverhalts (bis auf das gewählte Recht) in einem anderen Staat (Abs. 3) oder in einem oder mehreren Mitgliedstaaten (Abs. 4) belegen sind (hierzu Rz. 16). 1 Palandt/Thorn, Art. 3 Rom I VO Rz. 2 m.w.N. 2 Z.B. sind auch Klauseln zur Abwehr überraschender AGB z.B. nach § 305c BGB über Art. 10 Rom I VO einzubeziehen; hierzu und zu dem Problem kollidierender Rechtswahlklauseln in AGB (objektive Anknüpfung des Hauptvertrags gem. Art. 4 Rom I VO) s. Rauscher/von. Hein, Art. 3 Rom I VO Rz. 43. 3 Für die Frage der Einigung und materiellen Wirksamkeit bestimmt Art. 10 Rom I VO jedoch grundsätzlich das Recht für anwendbar, das anzuwenden wäre, wenn die Rechtswahl wirksam wäre. Ausnahmen gelten für Fälle, in denen die Umstände ergeben, dass dieses Ergebnis nicht gerechtfertigt wäre, Art. 10 Abs. 2 Rom I VO. 4 Rauscher/von Hein, Art. 3 Rom I VO Rz. 39.

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5

Rom I VO Art. 3 Rz. 5 Freie Rechtswahl Dann bleiben die nicht disponiblen Bestimmungen des anderen Staates (Abs. 3) bzw. des Gemeinschaftsrechts, ggf. in ihrer nationalen Ausgestaltung (Abs. 4), trotz der anderweitigen Rechtswahl anwendbar (s. auch Erwägungsgrund 15 Rom I VO). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob einer der Ausnahmefälle greift, ist der Zeitpunkt der Rechtswahl. b) Verbraucherverträge 6

Weitere Einschränkungen bestehen z.B. bei Verbraucherverträgen, im Hinblick auf die Rechtsordnung, die ohne Rechtswahl gem. Art. 6 Abs. 1 Rom I VO anwendbar wäre, s. Art. 6 Abs. 2 Rom I VO.5 So können bei Verbrauchern mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland z.B. die §§ 305 ff. BGB anwendbar bleiben.6 Die Vereinbarung des Rechts eines Drittstaates, in welchem weder der Verbraucher noch der Diensteanbieter ansässig sind, kann als überraschend i.S.d. § 305c BGB gewertet werden.7 Eine Rechtswahlklausel kann zudem missbräuchlich und somit unwirksam sein, wenn sie keinen Hinweis auf ergänzenden Schutz durch die Anwendung zwingender Bestimmungen des Verbraucherstaatrechts enthält.8 c) Eingriffsnormen gem. Art. 9 Rom I VO

7

Ferner kann es bei der Anwendbarkeit von Eingriffsnormen der lex fori sowie eines ausländischen Erfüllungsortes bleiben, Art. 9 Abs. 2 und 3 Rom I VO (Erwägungsgrund 37 Rom I VO). Eingriffsnormen sind zwingende Vorschriften, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ohne Rücksicht auf das nach der Rom I VO anwendbaren Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden sind, die in ihren Anwendungsbereich fallen, Art. 9 Abs. 1 Rom I VO.9 Bei internationalen IT-Verträgen, die Probleme bei der Bestimmung des Erfüllungsortes hervorrufen können, empfiehlt sich die vertragliche Vereinbarung des Erfüllungsorts10 um voraussehbar zu machen, welche Eingriffsnormen diesbzgl. in Betracht kommen.

5 S. auch die Einschränkungen bei Personenbeförderungs- (Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 2 Rom I VO), Versicherungs(Art. 7 Abs. 3 Rom I VO) und Individualarbeitsverträgen (Art. 8 Abs. 1 Rom I VO), hierzu auch Palandt/ Thorn, Art. 3 Rom I VO Rz. 4. 6 BGH v. 19.7.2012 – I ZR 40/11, GRUR 2013, 421 Rz. 33 sowie zur Frage, wann die Vereinbarung des Heimatrechts eines ausländischen Arzneimittelverkäufers gegenüber deutschen Verbrauchern als unangemessene Benachteiligung zu bewerten ist, Rz. 35 ff. KG v. 22.9.2017 – 5 U 155/14, ZD 2018, 118, 122 Rz. 74 zum unabdingbaren Schutzniveau der §§ 307 Abs. 1, 306a BGB; zur Anwendbarkeit der §§ 305 ff. BGB sowie zur Unwirksamkeit einer Klausel in den AGB einer Internetplattform, die den Verwender berechtigt, vom Kunden entgeltlich erworbene digitale Inhalte zu entfernen gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, OLG Köln v. 26.2.2016 – 6 U 90/15, NJOZ 2017, 501 Rz. 35 und 44. 7 LG Hamburg v. 2.9.2014 – 327 O 187/13, NJOZ 2015, 535, 536. 8 OGH Wien v. 14.12.2017 – 2 Ob 155/16g, BeckRS 2017, 153005 Rz. 16 mit Verweis auf Art. 3 Klausel RL 93/13/EWG. 9 Beispiele sind § 185 Abs. 2 GWB n.F. (früher § 130 Abs. 2 GWB a.F.), Normen des Außenwirtschaftsrechts, Embargobestimmungen, Berufs- und Gewerberecht, Vorgaben des Verbraucherschutzrechts, sofern sie auch Gemeinwohlinteressen dienen (wobei die Wertung des Art. 6 zu beachten ist), s. Palandt/Thorn, Art. 9 Rom I VO Rz. 5, 7 f. Ebenso § 661a BGB (Gewinnzusagen eines Unternehmers an einen Verbraucher), hierzu BGH v. 1.12.2005 – III ZR 191/03, NJW 2006, 230, 232 f. Rz. 30. Laut BGH dürfen „zwingende Normen“ (i.S.d. Art. 34 EGBGB a.F.) nicht nur dem Schutz und Ausgleich wiederstreitender Interessen der Vertragsparteien und damit reinen Individualbelangen dienen, sondern müssen daneben zumindest auch öffentliche Gemeinwohlinteressen verfolgen, BGH v. 13.12.2005 – XI ZR 82/05 (KG) Ls. 1 und 2, NJW 2006, 762. 10 Zu den Schwierigkeiten den Erfüllungsort beim Einsatz von IT-Strukturen zu ermitteln, die mehrere Länder betreffen, s. Giedke, Cloud Computing S. 95 f. Zur (eingeschränkten) Möglichkeit der Vereinbarung eines Erfüllungsorts i.R.d. Art. 7 Nr. 1 lit. b Brüssel Ia VO (vormals Art. 5 Brüssel I VO), s. Giedke, S. 100 f.; Rauscher/ Thorn ist skeptisch bei der Übertragung der Methoden zur Ermittlung des Erfüllungsortes zur Bestimmung des Gerichtsstands auf die Rom I VO mit Verweis auf die von Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO bzw. jetzt Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO verfolgten Ziele (enge Auslegung der Wahlgerichtsstände, Aspekt der Beweisnähe), Rauscher/ Thorn, Art. 9 Rom I VO Rz. 63. Doch sofern die Vereinbarung des Erfüllungsorts im Rahmen der Brüssel Ia VO möglich ist, müsste sie erst recht i.R.d. Rom I VO möglich sein.

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Rz. 11 Art. 3 Rom I VO

Sofern der IT-Vertrag urheberrechtliche Werke z.B. Software oder Datenbanken11 betrifft, kann z.B. 8 die Eingriffsnorm des § 32b UrhG12 relevant werden, der für die urheberrechtlichen Bestimmungen einer angemessenen Vergütung und weiteren Beteiligung des Urhebers an den Erlösen seines Lizenznehmers ausdrücklich einen internationalen Geltungsanspruch formuliert. Das Urheberrecht selbst kann als ein vom Staat verliehenes Recht auch nicht im Wege einer Rechtswahl abgewählt werden.13 Die urheberrechtliche Zweckübertragungsregel (§ 31 Abs. 5 UrhG)14 weist dagegen keinen international zwingenden Charakter auf.15 Umstritten ist dies für den Erschöpfungsgrundsatz.16 Inwiefern datenschutzrechtliche Normen des BDSG sowie der DSGVO17 als Eingriffsnormen zu bewerten sind, ist umstritten.18 § 1 Abs. 4 BDSG bzw. Art. 3 DSGVO verlangen zu ihrer Anwendbarkeit jedenfalls einen hinreichenden Inlandsbezug wobei nach zutreffender Auffassung bereits die Nutzung eines inländischen Einwahlknotens eines Internetproviders, eines inländischen Servers oder Computers eines Diensteanbieters oder Online-Dienstes den erforderlichen Inlandsbezug herstellt.19

9

Unmittelbar geltendes Europarecht, wie die kartellrechtlichen Regelungen der Art. 101 ff. AEUV20 können ebenfalls als Eingriffsnormen zu beachten sein.21 Der Charakter einer Norm als Eingriffsnorm kann sich auch aus der ihr zugrunde liegenden europäischen Richtlinie ergeben, wie etwa im Fernabsatz und Verbraucherrecht.22 Normvorgaben zu Spiel und Wette im Internet kommen ebenfalls als Eingriffsnormen in Betracht.23

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d) Rück- oder Weiterverweisungen ausgeschlossen Schließlich ist die Rechtswahl der Parteien insofern eingeschränkt, als sie sich nur auf die Sach- nicht auch auf die Kollisionsnormen des gewählten Rechts bezieht. Kollisionsrechtliche Rück- oder Weiterverweisungen sind ausgeschlossen, Art. 20 Rom I VO.24 11 Zu weiteren unabdingbaren Normen des Urheberrechts, wie §§ 31a und 32a UrhG, bei Datenbanken, die dem sui-generis-Schutz gem. §§ 87a ff. UrhG unterfallen, s. Conrad/Grützmacher/Spindler, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, § 21, S. 285 f. 12 S. dazu auch § 69a UrhG Rz. 53 ff. 13 BGH v. 2.10.1997 – I ZR 88/95, GRUR-Int. 1998, 427, 429 – Spielbankaffaire; dies folgt auch aus Art. 8 Abs. 1 Rom II VO (Schutzlandprinzip), Lejeune, ITRB 2014, 234, 236. 14 S. dazu auch § 69a UrhG Rz. 53 ff. 15 BGH v. 24.9.2014 – I ZR 35/11, NJW 2015, 1690 Ls. 2 und Rz. 45 ff. – Hi Hotel II zu Art. 34 EGBGB a.F., jetzt Art. 9 Abs. 2 (Rz. 44), wobei der BGH hier u.a. mit einem Umkehrschluss zu § 32b UrhG argumentiert (Rz. 52). 16 Hierzu Lejeune, ITRB 2014, 234, 236, der sich entgegen der h.M. für die Einordnung des Erschöpfungsgrundsatzes als Eingriffsnorm ausspricht. 17 Verordnung (EU) 2016/679, Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). 18 Tendenziell dafür Spindler/Schuster/Bach, Art. 9 Rom I VO Rz. 11; VG Schleswig v. 14.2.2013 – 8 B 61/12 Rz. 12 – juris, ZD 2013, 245 = BeckRS 2013, 46930: Öffentlich-rechtliche Datenschutzregelungen des BDSG (und TMG) sind Eingriffsnormen i.S.d. Art. 9 Rom I VO; Piltz, K&R 2012, 640, 643 f.: § 1 V 2 BDSG ist Eingriffsnorm (verfolgt hauptsächlich öffentliche staats- und wirtschaftspolitische Gemeininteressen und deutsches Datenschutzrechts wird mit hoheitlichen Mitteln durchgesetzt). A.A. VG Berlin v. 6.3.2012 – 16 O 551/10, BeckRS 2012, 05714 unter Entscheidungsgründen I 2. a bzgl. Normen des BDSG, die auch zwischen Privaten gelten. KG v. 24.1.2014 – 5 U 42/12, BeckRS 2014, 03648 unter B.III.3.a)c): BDSG kann vertraglich vereinbart werden soweit es privatrechtliche Regelungen enthält (z.B. Rechte des Betroffenen gegen das datenverarbeitende Unternehmen); offengelassen, ob die Wahl des deutschen Datenschutzrechts dazu führt, dass ein etwaig strengeres Datenschutzrecht nicht anwendbar ist. 19 Str. Ausführlich Giedke, Cloud Computing, S. 202 ff. 20 S. Art. 101 AEUV Rz. 1 ff. sowie die GruppenfreistellungsVOen. 21 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Staudinger, Internationales Vertragsrecht, Art. 9 Rom I VO Rz. 13. Laut Kremer, RDV 2014, 73, 78 ist auch Art. 4 Abs. 1 der Datenschutzrichtlinie (neben der Umsetzungsnorm § 1 Abs. 5 BDSG) als unmittelbar anwendbare Eingriffsnorm zu qualifizieren. 22 Ausführlicher Ferrari/Kieninger/Mankowski/Staudinger, Internationales Vertragsrecht, Art. 9 Rom I VO Rz. 14 ff. 23 Spindler/Schuster/Bach, Art. 9 Rom I VO Rz. 11. 24 Überwiegende Auffassung, s. KG v. 30.6.2017 – 7 U 47/16, BeckRS 2017, 123592 Rz. 3; Palandt/Thorn, Art. 3 Rom I VO Rz. 3; Rauscher/Freitag, Art. 20 Rom I VO Rz. 2; MünchKomm/Martiny, IntPrivatR, Art. 20 Rom I VO Rz. 5.

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Rom I VO Art. 3 Rz. 12 Freie Rechtswahl

II. Norminhalt 1. Ausdrückliche oder eindeutige Rechtswahl (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom I VO) 12

Die Rechtswahl sollte am besten explizit vereinbart werden, was auch in AGB25 möglich ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom I VO erkennt zwar auch konkludente Rechtswahlvereinbarungen an, doch nur sofern diese „eindeutig“ sind. Mögliche Indizien hierfür sind: – eine Vereinbarung, dass ausschließlich ein Gericht oder mehrere Gerichte eines Mitgliedstaats für Streitigkeiten aus einem Vertrag zuständig sein sollen26 – die Vereinbarung eines institutionellen Schiedsgerichts mit ständigem Sitz27 – die Vereinbarung eines einheitlichen Erfüllungsorts – v.a. wenn er vom tatsächlichen Leistungsort abweicht28 – eine enge wirtschaftliche Verknüpfung zweier Verträge29 – die ausdrückliche Bezugnahme der Parteien auf Vorschriften einer bestimmten Rechtsordnung30 bzw. die ausschließliche Berufung der Parteien auf ausländisches oder deutsches Recht (z.B. im Rahmen des Prozesses)31 wobei jedoch ein entsprechender beidseitiger Gestaltungswille erforderlich ist32 – eine Rechtswahl zwischen den Vertragsparteien und dem Anbieter eines von ihnen genutzten „Systems“ (z.B. bei Online-Plattformen, die Rechtsgeschäfte unter den Nutzern ermöglichen). Hier kann im Einzelfall darauf zu schließen sein, dass sich die Nutzer untereinander die Rechtswahlvereinbarung des Anbieters (stillschweigend) zu eigen machen).33 2. Wählbares Recht

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Wählbar ist primär staatliches Recht, auch ein „neutrales“, zu dem die Vertragsparteien und der Vertragsgegenstand keinen konkreten Bezug aufweisen.34 Es kann auch ein nichtstaatliches Regelwerk oder ein internationales Übereinkommen für anwendbar erklärt werden.35 Letzteres führt jedoch nur zu einer materiell-rechtlichen Verweisung, d.h. zwingende Normen des nach objektiven Kriterien anwendbaren Rechts bleiben anwendbar.36 Nicht möglich ist, auch bei reinen Internetsachverhalten, 25 S. hierzu auch die oben zu Verbraucherverträgen zitierte Rspr., Rz. 6. 26 Erwägungsgrund 12 Rom I VO. Zur verdeckten Rechtswahl in einer Gerichtsstandsvereinbarung s. auch BGH v. 4.2.1991 – II ZR 52/90, NJW 1991, 1420. 27 Palandt/Thorn, Art. 3 Rom I VO Rz. 7; Schiedsgericht der Handelskammer Hamburg, Teilschiedsspruch v. 21.3.1996, o. Az., NJW 1996, 3229, 3230. 28 OLG Köln v. 26.8.1994 – 19 U 282/93, NJW-RR 1995, 245, 256. 29 BGH v. 7.12.2000 – VII ZR 404/99, NJW 2001, 1936, 1937. 30 BGH v. 19.1.2000 – VIII ZR 275/98, NJW-RR 2000, 1002, 1004; OLG Köln v. 8.1.1993 – 19 U 123/92 Rz. 9, BeckRS 1993, 01407. 31 BGH v. 4.5.2004 – XI ZR 40/03, NJW 2004, 2523, 2524 a.E. und BGH v. 13.9.2004 – II ZR 276/02, NJW 2004, 3706, 3708. 32 BGH v. 19.1.2000 – VIII ZR 275/98, NJW-RR 2000, 1002, 1004. 33 Spindler/Schuster/Bach, Art. 3 Rom I VO Rz. 11. Ausführlich zur Bestimmung des anwendbaren Rechts beim Handel virtueller Gegenstände aus Computerspielen auf einer vom Spieleanbieter bereitgestellten Plattform und zur Relevanz des zwischen Partei und Spielanbieter vereinbarten Rechts, s. Lutzi, NJW 2012, 2070, 2071 f. oder zu „Second Life“ Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 294 ff. Zur Wahl des optionalen Europäischen Vertragsrechts im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 Rom I VO s. Schulte-Nölke, ZEuP 2011, 749–755. 34 In anderen Rechtsordnungen kann die Wahl eines „neutralen“ Rechts Probleme aufweisen; es empfiehlt sich zu prüfen, ob auch das IPR des Vertragspartners eine solche Rechtswahl zulässt, s. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 261. 35 Erwägungsgrund 13 Rom I VO. Beispiele überstaatlicher Regelungswerke sind z.B. die Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts und die UNIDROIT-Grundregeln für internationale Handelsverträge, Kadner Graziano, RabelsZ 73 (2009), 1, 10. 36 Palandt/Thorn, Art. 3 Rom I VO Rz. 4 a.E., der dies wohl aus dem Wortlaut von Erwägungsgrund 13 Rom I VO „Bezug zu nehmen“ ableitet. Für eine kollisionsrechtliche Wählbarkeit der UNIDROIT Principles als Vertragsstatut vor Schiedsgerichten und vor staatlichen Gerichten s. Schilf, IHR 2004, 236-246.

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Rz. 16 Art. 3 Rom I VO

jegliches nationale Recht auszuschließen und ausschließlich private Regelwerke, etwa eine Art von „Cyberlaw“ im Sinne von z.B. Verhaltensstandards privater Organisationen37 für anwendbar zu erklären.38 Größere Flexibilität bzgl. der Rechtswahl ist den Parteien bei der Wahl eines internationalen Schieds- 14 verfahrens gegeben: hier sind die Parteien berechtigt, sich vom nationalen Recht völlig zu lösen und das Schiedsgericht zu verpflichten, den Rechtsstreit allein nach den Grundsätzen und Regeln der „lex mercatoria“ (gewohnheitsrechtlich verfestigte Rechtsgrundsätze) zu entscheiden.39 Um auf diese Weise den privaten Regelwerken im online-Verkehr zur Geltung zu verhelfen, müssen diese jedoch zumindest zu gewohnheitsrechtlich verfestigten Rechtsgrundsätzen des internationalen bzw. Online-Geschäftsverkehrs erstarkt sein.40 3. Für den ganzen Vertrag oder nur einen Teil desselben (Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom I VO) Art. 3 Abs. 1 Satz 3 Rom I VO sieht ausdrücklich vor, dass sich die Rechtswahl auch nur auf einen 15 Vertragsteil beziehen kann. Da IT-Verträge häufig typengemischte Verträge darstellen, ist stets zu prüfen, ob es im Einzelfall sinnvoll erscheint bzgl. verschiedener Vertragsteile verschiedene Rechtswahlen zu treffen.41 Wird die Rechtswahl nur für einen Teilbereich des Vertragsverhältnisses getroffen, z.B. für die Nutzung der Website, über die weitere Vertragsleistungen geordert werden können, wird im Zweifel das anwendbare Recht für die weiteren Leistungen objektiv anhand der Rom I und II VO bestimmt.42 4. Alle anderen Elemente des Sachverhalts (Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I VO) Die Beschränkungen der freien Rechtswahl in Abs. 3 und 4 setzen voraus, dass „alle anderen Elemente des Sachverhalts“ bis auf das gewählte Recht in einem anderen Staat (Abs. 3) bzw. innerhalb der teilnehmenden Mitgliedstaaten belegen sind (Abs. 4). Die genannten „Elemente“ müssen allerdings ein gewisses kollisionsrechtliches Gewicht haben, beispielsweise einen der im Rahmen der Art. 4 ff. Rom I VO zu berücksichtigenden Anknüpfungsmomente betreffen.43 Allein die Nutzung des Internets für den Vertragsabschluss (z.B. ein Vertragsangebot auf einer weltweit abrufbaren Website) soll nach verbreiteter Meinung nicht genügen, um einen internationalen Sachverhalt anzunehmen.44 Bedenklich erscheint dies jedoch in Fällen, in denen die Website erkennbar den Vertragsschluss mit Personen aus verschiedenen Ländern anbietet. Denn hier wird dem Kunden offensichtlich, dass er es mit einem internationalen Anbieter zu tun hat und nicht ohne weiteres auf die Geltung zwingender Normen seines Heimatlandes vertrauen kann. Jedenfalls dürften die Ausnahmetatbestände ausscheiden, 37 Beispiele solcher Verhaltensstandards, denen im Wege der materiellen Verweisung Wirksamkeit verliehen werden kann, finden sich z.B. bei dem Verein Selbstregulierung Informationswirtschaft e.V. (SRIW), der sich u.a. als organisatorisches Dach für unterschiedliche Selbstregulierungsansätze der digitalen Wirtschaft versteht. Mitglieder sind u.a. Google und die Telekom, http://sriw.de/index.php/der-sriw. Z.B. gibt es den EU Cloud Code of Conduct, https://eucoc.cloud/en/about/about-eu-cloud-coc.html, einen Verhaltenskodex für den Wechsel von Cloud-Anbietern und Datenportabilität, https://scope-europe.eu/en/projects/swipo-code-of-con duct/ und Geodatenkodex, www.geodatenkodex.de), alle Links zuletzt eingesehen am 3.1.2020. 38 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 245 f.; Pfeiffer, JuS 2004, 282, 283. 39 Reithmann/Martiny/Hausmann, Internationales Vertragsrecht, Rz. 8.424 a.E. sowie Rz. 8.435 ff., zum Begriff der lex mercatoria Rz. 8.437. 40 Reithmann/Martiny/Hausmann, Internationales Vertragsrecht, Rz. 8.437. 41 Zum Teil wird gefordert, es müsse eine sachgerechte Abspaltbarkeit gegeben sein, da die Parallelnorm in der Rom II VO (Art. 14 Rom II VO) eine teilweise Rechtswahl nicht vorsehe und Erwägungsgrund 7 Rom I VO eine einheitliche Auslegung erstrebe, Rauscher/von Hein, Art. 3 Rom I VO Rz. 75. 42 OLG Frankfurt v. 28.2.2013 – 16 U 86/12 Rz. 19 ff., v.a. 23 – juris, NJW-RR 2013, 829; Spindler/Schuster/Bach, Art. 3 Rom I VO Rz. 5 f. 43 Rauscher/von Hein, Art. 3 Rom I VO Rz. 107. 44 Spindler/Schuster/Bach, Art. 3 Rom I VO Rz. 21 und 23; Rauscher/von Hein, Art. 3 Rom I VO Rz. 113 mit Verweis auf Erwägungsgrund 24 Rom I VO, wonach die Zugänglichkeit einer Website auch nicht genüge, um die Anwendbarkeit von Art. 6 Rom I VO zu begründen – wobei es laut Erwägungsgrund 24 Rom I VO genügen kann, wenn die Website überdies den Vertragsabschluss im Fernabsatz anbietet und dieser auch tatsächlich erfolgt.

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Rom I VO Art. 3 Rz. 16 Freie Rechtswahl wenn die IT-Infrastruktur, die sich über mehrere Länder (Abs. 3) bzw. Drittstaaten (Abs. 4) erstreckt (i) selbst Vertragsgegenstand ist (z.B. Speicherplatz in einem internationalen Serververbund) oder (ii) unmittelbar der Vertragserfüllung dient (Miete von Software, die in einer internationalen Cloud installiert ist; zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8). Denn hier ist die Internationalität der Infrastruktur zum Vertragsgegenstand avanciert.45

III. Einzelfälle und -fragen 17

Bei typengemischten IT-Verträgen (z.B. Softwareentwicklung, -pflege und -support) empfiehlt sich ebenso stark wie bei IT-Verträgen, die „Fern“-Leistungen (wie Fernwartung oder -nutzung) bzw. die Nutzung internationaler IT-Strukturen (z.B. internationale Clouds) zum Gegenstand haben, eine Rechtswahl zu treffen und – gerade mit Blick auf die Weitergeltung von Eingriffsnormen nach Art. 9 Rom I VO auch eine (ggf. korrespondierende) Erfüllungsortvereinbarung.46

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Zur Frage der Rechtswahl in AGB bei Verbraucherverträgen s. Rz. 6; zur Frage, ob Urheberrecht bzw. Datenschutzrecht unabdingbare Eingriffsnormen enthält, s. Rz. 8 und 9.

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Ausnahmsweise kann Art. 3 Rom I VO analog angewendet werden, um das anwendbare Recht für eine Gerichtsstandsvereinbarung zu bestimmen.47

Art. 4 Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht (1) Soweit die Parteien keine Rechtswahl gemäß Artikel 3 getroffen haben, bestimmt sich das auf den Vertrag anzuwendende Recht unbeschadet der Artikel 5 bis 8 [Beförderungs-, Verbraucher-, Versicherungs- und Individualarbeitsverträge] wie folgt: a) Kaufverträge über bewegliche Sachen unterliegen dem Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. b) Dienstleistungsverträge unterliegen dem Recht des Staates, in dem der Dienstleister seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. c) Verträge, die ein dingliches Recht an unbeweglichen Sachen sowie die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen zum Gegenstand haben, unterliegen dem Recht des Staates, in dem die unbewegliche Sache belegen ist. d) [modifiziert lit. c] e) [Franchiseverträge] f) Vertriebsverträge unterliegen dem Recht des Staates, in dem der Vertriebshändler seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. g) Verträge über den Kauf beweglicher Sachen durch Versteigerung unterliegen dem Recht des Staates, in dem die Versteigerung abgehalten wird, sofern der Ort der Versteigerung bestimmt werden kann. h) [Finanzinstrumente] (2) Fällt der Vertrag nicht unter Absatz 1 oder sind die Bestandteile des Vertrags durch mehr als einen der Buchstaben a bis h des Absatzes 1 abgedeckt, so unterliegt der Vertrag dem Recht des 45 Von einem „willkürlichen Zufallsergebnis“ kann in diesen Fällen keine Rede sein. S. Härting, Internetrecht, Rz. 2779, der ohne die hiesige Differenzierung dem Serverstandort im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 und 4 Rom I VO keine Bedeutung beimisst. 46 Zur Erfüllungsortvereinbarung im Rahmen des Art. 9 Rom I VO s. schon unter Rz. 7; zum vereinbarten Erfüllungsort als Indiz für eine konkludente Rechtswahl s. Rz. 12. Auch Sujecki, K&R 2012, 312, 317 empfiehlt im Cloud-Kontext entweder eine Erfüllungsortvereinbarung oder eine Rechtswahl. 47 LG München I v. 11.8.2017 – 33 O 8184/16, BeckRS 2017, 122310 Rz. 24. Zum grundsätzlichen Ausschluss von Gerichtsstandsvereinbarungen vom Anwendungsbereich der Rom I VO s. Art. 1 Rom I VO Rz. 15.

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Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht

Rz. 3 Art. 4 Rom I VO

Staates, in dem die Partei, welche die für den Vertrag charakteristische Leistung zu erbringen hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. (3) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Vertrag eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen als dem nach Absatz 1 oder 2 bestimmten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. (4) Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 1 oder 2 bestimmt werden, so unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, zu dem er die engste Verbindung aufweist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – allgemeine Regelanknüpfung . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 3

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1. Kaufverträge über bewegliche Sachen (Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I VO) . . . . . . . . . 7 2. Dienstleistungen (Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I VO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3. Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen (Art. 4 Abs. 1 lit. c Rom I VO) . . . . . . . . . . 4. Vertriebsverträge (Art. 4 Abs. 1 lit. f Rom I VO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kauf beweglicher Sachen durch Versteigerung (Art. 4 Abs. 1 lit. g Rom I VO) . . . . . . . . . 6. Art. 4 Abs. 2 bis 4 Rom I VO . . . . . . . . . . III. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . .

17 19 22 24 27

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – allgemeine Regelanknüpfung Für den Fall, dass die Parteien kein anwendbares Recht nach Art. 3 Rom I VO vereinbart haben (wie 1 häufig im Bereich der Open Source Softwareentwicklung)1 und keine der speziellen Regelungen für Beförderungs-, Verbraucher-2, Versicherungs- und Individualarbeitsverträge gem. Art. 5 bis 8 Rom I VO gilt, enthält Art. 4 Rom I VO die allgemeine Regelanknüpfung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts. Dies gilt auch für die vorgelagerte Frage, ob der betroffene Vertrag wirksam zustande gekommen ist, Art. 10 Abs. 1 Rom I VO. Telos des Art. 4 Rom I VO ist dabei, diejenige Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen, die die räumlich engste Verbindung zum Vertag aufweist.3 Primär richtet sich die Anknüpfung an dem vorliegenden Vertragstyp aus, Abs. 1. Ist diese Zuord- 2 nung nicht möglich oder enthält der Vertrag Bestandteile von mehreren der spezifizierten Vertragsarten wie häufig bei IT-Verträgen, ist das Recht des Staates maßgeblich, in dem die Partei, die die vertragscharakteristische Leistung zu erbringen hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, Abs. 2. Sollte eine offensichtlich engere Verbindung des Vertrags zu einem anderen als dem in Abs. 1 und 2 ermittelten Staat bestehen (Abs. 3), soll das Recht dieses anderen Staats gelten. Hierbei soll auch berücksichtigt werden, ob der Vertrag in einer sehr engen Verbindung zu einem oder mehreren anderen Verträgen steht (Erwägungsgrund 20 Rom I VO). Ist eine Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Abs. 1 und 2 von vornherein nicht möglich (und daher auch der Anwendungsbereich von Abs. 3 nicht eröffnet), unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, zu dem er aus anderen Gesichtspunkten die engste Verbindung aufweist, Abs. 4 (Erwägungsgründe 19–21 Rom I VO). 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Zu beachten ist auch hier die autonome Auslegung4 der in Abs. 1 genannten Vertragstypen; eine Übereinstimmung mit den Begrifflichkeiten des deutschen Rechts ist nicht immer gegeben.5 1 Vgl. Meyer, Miturheberschaft bei freier Software, S. 175. 2 Auch aus verbraucherschützenden Richtlinien können sich Kollisionsnormen ergeben, die Vorrang vor Art. 4 Rom I VO haben, s. genauer Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 9. 3 Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 1. 4 Palandt/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 4. S. auch zu Art. 1 Rom I VO Rz. 5 ausführlich zur autonomen Auslegung der Brüssel Ia VO sowie des gewünschten Gleichklangs mit der Rom I VO. 5 Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 22.

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3

Rom I VO Art. 4 Rz. 4 Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht 4

Für die im Bereich des IT-Rechts häufig vorkommenden gemischten Vertragstypen ist primär Abs. 2 maßgeblich, der an den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Vertragspartei anknüpft, die die charakteristische Leistung zu erbringen hat; bei einem Bündel von Rechten und Pflichten, die mehr als einer der spezifizierten Vertragsarten zugeordnet werden können, ist der Schwerpunkt des IT-Vertrags zu ermitteln (Erwägungsgrund 19 Satz 3 Rom I VO).

5

Werden zwischen den Parteien mehrere, miteinander in Beziehung stehende IT-Verträge geschlossen, können auch diese weiteren Verträge zur Bestimmung der engsten Verbindung mit einem Staat herangezogen werden (Art. 4 Abs. 4, Erwägungsgrund 21 Rom I VO).

II. Norminhalt 6

Die Abgrenzung zwischen Kauf- und Dienstvertrag ist i.R.d. Art. 4 Abs. 1 Rom I VO nicht erforderlich, da in beiden Fällen das Recht des Staates für anwendbar erklärt wird, in dem der Verkäufer/Dienstleister seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Abs. 1 lit. a und b. Was nach autonomer Auslegung unter diesen Verträgen zu verstehen ist, ist aber wichtig, um Verträge, die nach nationalem Recht anderen Vertragstypen zugeordnet werden, in diese Kategorien einordnen zu können. 1. Kaufverträge über bewegliche Sachen (Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I VO)

7

Kaufverträge über bewegliche Sachen unterliegen dem Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Kaufverträge sind dabei Verträge über die Lieferung und Übereignung beweglicher Sachen gegen Zahlung eines Entgelts und Abnahme der Sache.6 Nicht erfasst ist der Rechtskauf 7 mangels sinnlich wahrnehmbarer Körperlichkeit.8

8

Umstritten ist, ob digitale und virtuelle Güter9 (Software, digitalisierte Bilder, Texte, Grafiken, Datenbanken, Avatare oder Items aus Online-Spielen) Gegenstand eines Kaufvertrages sein können,10 was richtigerweise zu bejahen ist.11 Entscheidend ist allein, dass im Ergebnis eine tatsächliche, dauerhafte Herrschaftsmacht über die sinnlich wahrnehmbaren digitalen Güter erlangt werden soll. Dies setzt eine gewisse körperliche Fixierung (auf irgendeinem Speichermedium – auch einem Server oder einer Cloud, zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8) der Daten voraus. Solange dies gegeben ist, ist jedoch der Erwerb der z.B. auf einer CD fixierten digitalen Güter wirt-

6 Rauscher/Leible, Art. 7 Brüssel Ia VO Rz. 59. 7 Häufig geht z.B. mit dem Kauf von Software ein „Kauf“ oder eine Lizenznahme von Rechten einher. Zum Teil wird vertreten, diese Rechteeinräumung sei in jedem Fall das prägende Element eines Softwarekaufvertrages, so dass Abs. 1 lit. a für Softwarekäufe nie zur Anwendung käme, s. Stimmel, GRUR-Int. 2010, 783, 784 f. Stimmel stellt daher primär auf Abs. 2 ab und bewertet für den Regelfall die Leistung des Lizenzgebers als die prägende Leistung, so dass sich das anwendbare Recht nach dem Sitz des Lizenzgebers bestimmt (S. 786). Dies erscheint jedoch v.a. problematisch in Fällen, in denen Verkäufer und Lizenzgeber auseinanderfallen. Richtig ist daher, Kaufverträge über Standardsoftware, die mit einfachen (nicht ausschließlichen) Lizenzen ohne Ausübungspflichten verbunden sind, unter Abs. 1 lit. a zu subsumieren, a.A., aber über Abs. 2 zum selben Ergebnis kommend auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1032. 8 Stein/Jonas/Wagner, Kommentar zur ZPO Bd. 10, Art. 5 EuGVVO Rz. 53; Musielak/Voit/Stadler, ZPO Art. 7 EuGVVO Rz. 9; s. auch EuGH v. 3.6.2012 – C-128/11 Rz. 40 – in diesem Fall i.S.d. Art. 4 Abs. 2 RL 2009/24/EG (Richtlinie über den Rechtsschutz von Computerprogrammen). 9 Zur Terminologie „digitale“ und „virtuelle“ Güter s. Druschel, GRUR-Int. 2015, 125. 10 S. auch § 433 BGB Rz. 38 f. 11 Giedke, Cloud Computing, S. 92 ff.; Hoeren/Sieber/Holznagel/Banholzer, Multimedia-Recht, Teil 25, Rz. 30. Hierfür sprechen auch die Ausführungen des EuGH in der UsedSoft Entscheidung vom 3.7.2012 – C-128/11 Rz. 40 f., 45–47, 55, 61 sowie der Vorschlag der Europäischen Kommission für ein gemeinsames Europäisches Kaufrecht vom 11.10.2011, KOM (2911) 635 endgültig, bei dem sowohl herkömmliche Kaufverträge wie auch Verträge über die Bereitstellung digitaler Inhalte dem Anwendungsbereich des „Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts“ unterstellt werden sollen (hierzu auch Druschel, GRUR-Int. 2015, 125 ff.); differenzierende Ansicht Rauscher/Leible, Art. 7 Brüssel Ia VO Rz. 64, wonach virtuelle Güter nicht Gegenstand eines Kaufvertrags sein können, Software und andere Daten, die sowohl in verkörperter Form auf einem Datenträger wie auch als Download erworben werden können, jedoch schon.

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Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht

Rz. 13 Art. 4 Rom I VO

schaftlich und funktionell mit dem Erwerb z.B. via Download vergleichbar und daher rechtlich gleich zu behandeln.12 Viele typische IT-Verträge sind danach von Abs. 1 lit. a erfasst, z.B. der reine Hardwarekauf, der Kauf von Software auf beweglichen Datenträgern (CD-ROMs, DVDs) aber auch der entgeltliche Erwerb von digitalen Gütern ohne Übergabe eines entsprechenden Datenträgers z.B. von Software, Bildern, Datenbanken o.Ä. via Download bzw. Upload, solange hierdurch eine unbefristete Nutzungsmöglichkeit eingeräumt wird. Dies gilt auch für einen damit einhergehenden Lizenzvertrag, sofern es sich lediglich um eine einfache Lizenz handelt, wobei jedoch die das Urheberrecht selbst betreffenden Fragen dem Schutzlandrecht vorbehalten bleiben, hierzu schon Art. 2 Rom I VO Rz. 3.13

9

Bei Werklieferungsverträgen wird danach differenziert, von wem der wesentliche Teil des zu verarbeitenden Materials gestellt wird. Wird dieser vom Käufer gestellt, überwiegt der Dienstleistungsanteil (Dienstleistungsvertrag); liefert dagegen der Hersteller auch den zu verarbeitenden Stoff, steht die Lieferpflicht im Vordergrund, auch wenn der Auftraggeber bestimmte Vorgaben zu Beschaffung, Verarbeitung und Lieferung der Ware gemacht hat (Kaufvertrag).14

10

Zu beachten ist, dass bei Kaufverträgen vorrangig das CISG anwendbar ist sowie ggf. das Haager Über- 11 einkommen betreffend das auf internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen anzuwendende Recht.15 Deutschland ist kein Zeichnungsstaat des Haager Übereinkommens dafür aber einige andere EU-Mitgliedstaaten.16 Die Gerichte dieser Staaten bestimmen das auf Warenkaufverträge anwendbare Recht somit abweichend von den übrigen EU-Staaten (dieser Umstand ermöglicht forum shopping).17 Bei Verbraucherverträgen gelten die Sonderregelungen gem. Art. 6 und Art. 46b EGBGB. Der Waren- 12 kauf im Rahmen von online-Versteigerungen ist bei lit. g kommentiert. 2. Dienstleistungen (Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I VO) Bei Dienstleistungsverträgen ist das Recht des Staates anwendbar, in dem der Dienstleister seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Abs. 1 lit. b. Ein Dienstleistungsvertrag setzt voraus, dass eine Partei sich zur Erbringung einer bestimmten Tätigkeit gegen Entgelt verpflichtet.18 Ein Entgelt kann jeder Vorteil von wirtschaftlichem Wert sein;19 es kann auch in Form von Daten geleistet werden.20

12 EuGH v. 3.6.2012 – C-128/11, Rz. 61 – Used Soft. 13 Abweichend offenbar Auer-Reinsdorff/Conrad/Auer-Reinsdorff, IT-Recht, § 23, wonach nicht jede Überlassung einer Standardsoftware auf Dauer als Kauf eingeordnet wird (Rz. 56) und darauf verwiesen wird, dass bzgl. des Verfügungsgeschäfts (Einräumung von Nutzungsrechten) das anwendbare Recht nach dem Territorialitätsbzw. Schutzlandprinzip zu bestimmen sein könnte (Rz. 62 und 71 f.). Dies widerspricht jedoch der gesetzgeberischen Intention hinter Art. 4 Rom I VO, eine objektive Vertragsspaltung nicht mehr zuzulassen, s. Rauscher/ Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 21. Dem im Urheberrecht geltenden Territorialitäts- und Schutzlandprinzip ist ausreichend Rechnung durch eine korrekte Anwendung des Art. 12 Rom I VO getragen, wonach beispielsweise die Frage der Entstehung eines nationalen Urheberrechts sowie dessen Übertragbarkeit nach dem Schutzlandrecht bestimmt wird, s. hierzu schon Art. 2 Rom I VO Rz. 3. 14 EuGH v. 25.2.2010 – C-381/08 – Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl., EuZW 2010, 301, Ls. 1. 15 Hierzu schon zu Art. 1 Rom I VO Rz. 4. 16 Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien und Schweden. 17 Palandt/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 7. 18 EuGH v. 23.4.2009 – C-533/07 Rz. 29 – Falco Privatstiftung. S. auch Erwägungsgrund 17 Rom I VO, wonach Franchise- und Vertriebsverträge zwar Dienstleistungsverträge sind, jedoch besonderen Regeln unterliegen, s. lit. f. Der EuGH stellt in Falco Privatstiftung Rz. 33 f. klar, dass der Begriff „Dienstvertrag“ im Rahmen der Brüssel I(a) VO und somit auch der Rom I und II VO nicht zwingend gleichermaßen auszulegen sind wie in den Europäischen Verträgen im Zusammenhang mit dem freien Dienstleistungsverkehr, Art. 56 f. AEUV. 19 EuGH v. 19.12.2013 – C-9/12 – Corman-Collins SA/La Maison du Whisky SA, EuZW 2014, 181, 183 Rz. 40. 20 Wobei als Entgelt nur solche Daten in Frage kommen, die nicht zwingend für die angefragte Leistung erforderlich sind, Faust, NJW-Beil. 2016, 29. S. auch Kremer, RDV 2014, 73, 76, der Social Media Dienste als Dienstleistung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I VO qualifiziert und das erforderliche Entgelt des Verbrauchers in der „Kommerzialisierung seiner personenbezogenen Daten“ ansieht.

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Rom I VO Art. 4 Rz. 14 Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht 14

Nach deutschem Recht als Werk- oder Werklieferungsvertrag einzuordnende Verträge können somit unter den Begriff des Dienstleistungsvertrags fallen, so z.B. ein Software-Entwicklungsvertrag.21

15

Sämtliche Vermittlungstätigkeiten sind als Dienstleistung anzusehen,22 ebenso wie Software-EscrowAgency-Vereinbarungen oder Pflegeverträge.23 Zum Teil werden „Cloud Computing Verträge“ schlechthin als Dienstleistungsverträge qualifiziert, mit der Begründung, es dominiere aufgrund der Pflege und Wartung von Hard- und Software das Dienstleistungs- gegenüber dem Gebrauchsüberlassungselement.24 Dies trifft in dieser Pauschalität nicht zu. Ein Dienstleistungsvertrag ist anzunehmen, wenn in die Cloud zentrale Unternehmensaufgaben verlagert werden, an denen der Cloud-Anbieter wesentlich mitwirkt (indem er vom Kunden eingegebene Daten verschlüsselt, verwertet, Berechnungen anstellt und die hierfür erforderliche Infrastruktur auf dem aktuellen Stand hält). Ist der Vertragsgegenstand dagegen die Überlassung von Speicherplatz25 oder einer Softwarenutzung auf Zeit, ist von einem Mietvertrag auszugehen26 und daher Abs. 1 lit. c/d oder Abs. 2 anwendbar.

16

Keinen Dienstvertrag stellt der Vertrag über Nutzungsrechte an Rechten des geistigen Eigentums dar.27 Wenn jedoch die Lizenzeinräumung nur einhergeht mit einem als Dienstvertrag i.S.d. Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I VO einzuordnenden Softwareerstellungsvertrag, kann über lit. b und somit am Ort des Software„gebers“ oder „-entwicklers“ angeknüpft werden.28 3. Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen (Art. 4 Abs. 1 lit. c Rom I VO)

17

Bei der Miete29 oder Pacht unbeweglicher Sachen ist das Recht des Staates anwendbar, in dem die unbewegliche Sache belegen ist, Abs. 1 lit. c. Im Gegensatz zum Dienstleistungsvertrag steht bei der Miete oder Pacht die Nutzungsüberlassung im Vordergrund.30

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Wird ein Rechenzentrum oder ein Serverpark gegen Entgelt auf Zeit zur Nutzung überlassen, ist danach das Recht des Staates anwendbar, in dem das Rechenzentrum bzw. der Serverpark belegen ist. Werden Server mittels Virtualisierungstechnik31 zu einem großen virtuellen Speicher verbunden und der hierdurch erzeugte Speicherplatz vermietet, fragt sich, ob dies als „unbewegliche Sache“ i.S.v. Art. 4 Abs. 1 lit. c/d Rom I VO einzuordnen ist.32 Dies ist mit Blick auf den von Art. 4 Rom I VO verfolgten Zweck (die engste Verbindung zu einem Staat zu ermitteln) differenzierend zu beantworten: mietet der Kunde nur Speicherplatz innerhalb eines bestimmten Staates (z.B. aus Datenschutzgründen), d.h. der für ihn maßgebliche Serververbund, der seinen virtuellen Speicher generiert, ist z.B. nur in Deutsch21 OLG München v. 23.12.2009 – 20 U 3515/09, NJW-RR 2010, 789, allerdings mit dem unzutreffenden Hinweis, dass bei Übertragung von Software per Datenfernübertragung nicht von einer beweglichen Sache ausgegangen werden könne, hierzu schon Rz. 8. 22 Rauscher/Leible, Art. 7 Brüssel Ia Rz. 67. 23 Auer-Reinsdorff/Conrad/Auer-Reinsdorff, IT-Recht, § 23 Rz. 56. 24 Rauscher/Leible, Art. 7 Brüssel Ia Rz. 72. 25 Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 281, 284. 26 Zur Softwareüberlassung auf Zeit als ASP-Vertrag s. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, MMR 2007, 243 – ASP; speziell zu Clouds: Giedke, Cloud Computing S. 122 f.; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Kap. F (International-rechtliche Aspekte des Cloud Computing) Rz. 359; Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179. 27 EuGH v. 23.4.2009 – C-533/07 – Falco Privatstiftung, EuZW 2009, 510 Rz. 30 f. In Art. 4 Abs. 1 Rom I VO war als lit. f vorgesehen, das für Verträge über Rechte an geistigem Eigentum oder gewerbliche Schutzrechte maßgebende Recht festzulegen; hierauf wurde mangels Einigkeit darüber, welche Vertragspartei die vertragscharakteristische Verpflichtung erbringt, verzichtet, Rauscher/Leible, Art. 7 Brüssel Ia Rz. 69. 28 Im Ergebnis ebenso Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1031, der jedoch auch bei als Werkvertrag einzuordnenden Softwarevertrag auf Art. 4 Abs. 2 Rom I VO verweist. 29 Zu Mietgegenständen im IT-Bereich s. § 535 BGB Rz. 4 ff. 30 Rauscher/Leible, Art. 7 Brüssel Ia Rz. 70. 31 Ausführlich zur Virtualisierungstechnik Lehmann/Giedke, CR 2013, 608, 611 ff.; Giedke, Cloud Computing, S. 48 ff. sowie zu hieraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Anwendung von Art. 8 Rom II VO S. 301 ff. und S. 103 ff., 117 ff. sowie 253 ff. zu den Herausforderungen bei der Ermittlung des Handlungsortes bei Cloud Sachverhalten. 32 Dagegen wohl Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Kap. F (International-rechtliche Aspekte des Cloud Computing) Rz. 359, der diese Frage nicht aufwirft und schlicht auf Abs. 2 verweist.

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Rz. 24 Art. 4 Rom I VO

land belegen, ist es sachgerecht, diesen Fall demjenigen gleichzustellen, indem der Kunde direkt die Server in Deutschland mietet. Sieht der Mietvertrag jedoch keine territoriale Festlegung der dem virtuellen Speicher zugrunde liegenden Server vor, werden vielmehr (abwechselnd) Server aus diversen Ländern der Welt eingeschaltet, erscheint es sachgerechter, von einer „beweglichen“ Mietsache und daher von der Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 2 Rom I VO auszugehen, wonach der gewöhnliche Aufenthalt des Cloud-Anbieters maßgeblich ist, bei Gesellschaften oder juristischen Personen also der Ort ihrer Hauptverwaltung, Art. 19 Abs. 1 Rom I VO. 4. Vertriebsverträge (Art. 4 Abs. 1 lit. f Rom I VO) Auf Vertriebsverträge ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Vertriebshändler seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Aus deutscher Sicht ist umstritten, ob hierunter nur Vertragshändlerverträge (inkl. Alleinvertriebsverträge und Eigenhändlerverträge) fallen, oder auch Handelsvertreterverträge.33 Franchiseverträge sind parallel in lit. e geregelt.

19

Nach autonomer Auslegung ist ein Vertriebsvertrag ein Rahmenvertrag, der die künftig für die Bezie- 20 hungen zwischen dem Lizenzgeber und dem Vertragshändler geltenden allgemeinen Regeln über ihre Liefer- und/oder Bezugsverpflichtungen aufstellt und die nachfolgenden Kaufverträge vorbereitet. Er bezweckt also, den Vertrieb der Erzeugnisse des Lizenzgebers zu gewährleisten. Zu diesem Zweck verpflichtet sich der Lizenzgeber, dem von ihm ausgewählten Vertragshändler die Waren zu verkaufen, während sich der Vertragshändler verpflichtet, dem Lizenzgeber die in Zukunft von ihm benötigten Waren abzukaufen.34 Vertriebsverträge über Soft- und Hardware enthalten i.d.R. auch Lizenzeinräumungen (z.B. über Marken oder Urheberrechte). Soweit diese als Nebenbestimmungen des Gesamtvertrages anzusehen sind, bleibt es bei der Anknüpfung über lit. f. Anderenfalls ist ein Rückgriff auf Abs. 3 geboten und zu prüfen, ob zum Recht des Lizenzgebers eine engere Verbindung des Vertrages besteht.35

21

5. Kauf beweglicher Sachen durch Versteigerung (Art. 4 Abs. 1 lit. g Rom I VO) Verträge über den Kauf beweglicher Sachen durch Versteigerung unterliegen dem Recht des Staates, in 22 dem die Versteigerung abgehalten wird, sofern der Ort der Versteigerung bestimmt werden kann. Versteigerung bedeutet nach autonomer Auslegung einen öffentlichen, publik gemachten Verkauf durch Zuschlag an den Meistbietenden, d.h. ein Überbieten muss möglich sein.36 Bei online-Versteigerungen (z.B. über eBay) wird die Ermittlung des Orts der Versteigerung zu Recht als problematisch angesehen und daher auf die Grundregel des lit. a zurückgegriffen.37

23

6. Art. 4 Abs. 2 bis 4 Rom I VO Abs. 2 Rom I VO greift ein, sobald der Vertrag keinem oder mehreren der in Abs. 1 genannten Verträge zugeordnet werden kann. Dies ist beispielsweise bei der Miete von Software oder beweglicher Hard-

33 Palandt/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 19 sieht beide Verträge als erfasst an, Ferrari/Keininger/Mankowski u.a./ Ferrari, Internationales Vertragsrecht, Art. 4 Rom I VO Rz. 48 f. sieht den Handelsvertretervertrag nicht als erfasst an, sondern ordnet diesen als Dienstvertrag nach lit. b ein. 34 EuGH v. 19.12.2013 – C-9/12 Rz. 25-28; der EuGH ordnet in dieser Entscheidung den Vertriebsvertrag als Dienstvertrag i.S.d. Art. 5 Nr. 1 lit. b zweiter Gedankenstrich Brüssel I VO ein, Rz. 41 (jetzt Art. 7 Brüssel Ia VO), was Erwägungsgrund 17 entspricht, wonach der Vertriebsvertrag ebenfalls als Dienstvertrag anzusehen ist – allerdings mit besonderer Anknüpfung. 35 Stimmel, GRUR-Int. 2010, 783, 785. 36 Ferrari/Kieninger/Mankowski u.a./Ferrari, Internationales Vertragsrecht, Art. 4 Rom I VO Rz. 51 in Anlehnung an die Auslegung von Versteigerung im Rahmen des CISG (Art. 2 lit. b CISG). 37 OLG Brandenburg v. 8.4.2016 – 11 U 44/14, BeckRS 2016, 7619 Rz. 15; Wagner, IPRax 08, 377, 384; Palandt/ Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 20.

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Rom I VO Art. 4 Rz. 24 Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht ware der Fall.38 Gleiches gilt für reine Lizenzverträge39 oder als Schenkung zu qualifizierende Verträge über die entgeltfreie Einräumung von Nutzungs- und ggf. auch Bearbeitungs- und Verwertungsrechten wie bei Open Source Software.40 Hier soll das Recht des Staates zur Anwendung gelangen, in dem die Partei, die die vertragscharakteristische Leistung zu erbringen hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die reine Geldleistung ist zumeist uncharakteristisch im Gegensatz zu berufstypischen Tätigkeiten/ Leistungen; die vertragliche Übernahme der Risikotragung kann auch für die vertragscharakteristische Leistung sprechen.41 25

Selbst wenn sich eine charakteristische Leistung ermitteln lässt, können weitere Umstände ergeben, dass eine „offensichtlich“ engere Verbindung zu einem anderen Staat gegeben ist, Abs. 3. Hiermit soll eine Korrekturmöglichkeit für den Fall eröffnet werden, dass die typisierende Festlegung des Schwerpunktes des Vertrages unzutreffend ist und im Einzelfall ein anderes „Zentrum des Leistungsaustauschs“ besteht.42 Hierbei können weitere auf den Leistungsaustausch bezogene Kriterien herangezogen werden, z.B. Erfüllungsorte insbesondere sofern für Leistung und Gegenleistung derselbe Ort vereinbart wurde sowie der gewöhnliche Aufenthalt der Vertragsparteien. Auch bei mehreren akzessorischen Verträgen, kann sich das Statut des dominierenden Rechtsverhältnisses auf die übrigen Verträge erstrecken.43 Zu beachten ist, dass hier relativ starke Anhaltspunkte gefordert werden müssen, um das nach Abs. 1 und 2 an sich anwendbare Recht zu verdrängen.44

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Ist eine charakteristische Leistung nicht bestimmbar, wie z.B. beim Tausch, Austausch von Dienstleistungen, Kreuzlizenzen oder einem Kooperationsvertrag (und damit Abs. 1 bis 3 nicht anwendbar), kann auf andere Kriterien zurückgegriffen werden, um zu ermitteln, zu welchem Staat der Vertrag die „engste Verbindung aufweist“, Abs. 4. Hier können die (starken) Kriterien herangezogen werden, die im Rahmen des Abs. 3 geprüft wurden, doch es genügt auch der Rückgriff auf schwächere Kriterien (vereinbarte Währung, Staatsangehörigkeit, Vertragssprache). Denn es geht nicht darum, ein nach Abs. 1 oder 2 an sich bestimmtes Recht zu verdrängen, sondern dieses überhaupt erst zu bestimmen.45

III. Einzelfälle und -fragen 27

Sofern beide Parteien eines internationalen IT-Vertrags gegenseitig umfangreiche Pflichten übernommen haben, beispielsweise im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungskooperationen oder bei Open Source Verträgen (bei denen zwar eine kostenlose Lizenz gewährt wird, der Lizenznehmer aber zur Rück- und Weiterlizenzierung von Verbesserungen verpflichtet ist), lässt sich regelmäßig keine vertragscharakteristische Leistung gem. Abs. 1 oder 2 bestimmen.46 Dann ist auf Abs. 4 zurückzugreifen und anhand weiterer Kriterien zu ermitteln, zu welchem Staat der Vertrag die engste Verbindung

38 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1031 zur mietvertraglichen Softwareüberlassung. 39 Stimmel, GRUR-Int. 2010, 783, 785 f. Grundsätzlich wird die Leistung des Lizenzgebers als charakteristische Leistung bewertet, schwierig wird dies aber bei Kreuzlizenzverträgen sowie der Betroffenheit mehrerer Schutzländer, s. auch LG Mannheim v. 2.3.2015 – 2 O 147/14 Rz. 85 – juris. Auch die Leistung des Cloud-Anbieters ist regelmäßig die vertragstypische, Nordmeier, MMR 2010, 151, 152. 40 Hierzu Auer-Reinsdorff/Conrad/Auer-Reinsdorff, IT-Recht, § 23 Rz. 31 und 67 ff. wobei richtigerweise für die Anknüpfung nicht strikt zwischen Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäft zu unterscheiden ist, sondern zu ermitteln ist, wer (schwerpunktmäßig) die charakteristische Leistung des gesamten Vertrages zu erbringen hat. Die das Urheberrecht selbst betreffenden Fragen bleiben dennoch über Art. 12 Rom I VO dem Schutzlandrecht vorbehalten, hierzu schon Rz. 9 und Art. 2 Rom I VO Rz. 3 (inkl. dortige Fn.). 41 Stimmel, GRUR-Int. 2010, 783, 786; bei Lizenzverträgen wird v.a. darauf abgestellt, ob eine ausschließliche Lizenz sowie Ausübungs- und Verwertungspflichten vereinbart wurden – dann erbringe der Lizenznehmer die charakteristische Leistung. Zum Kriterium der Ausübungspflichten auch BGH v. 29.3.2001 – I ZR 182/98, NJW 2002, 596, 597. 42 Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 136. 43 Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 139, 142, 148 ff. Zum Kriterium der besonderen Nähe zu anderen Verträgen s. auch Erwägungsgrund 20 Rom I VO, der sich seinem Wortlaut nach aber eher auf Abs. 4 bezieht. 44 Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 134 ff., 154 f. 45 Rauscher/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 154 f. 46 Stimmel, GRUR-Int. 2010, 783, 787.

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Verbraucherverträge

Art. 6 Rom I VO

aufweist (z.B. Schutzland, Schwerpunkt der Rechteverwertung, gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt).47 Abs. 4 kann analog zur Bestimmung des Statuts einer Schiedsvereinbarung angewendet werden, wenn weder eine Rechtswahl getroffen noch ein Schiedsort bestimmt wurde, vgl. Art. 1 Rom I VO Rz. 15.48

Art. 6 Verbraucherverträge (1) Unbeschadet der Artikel 5 und 7 unterliegt ein Vertrag, den eine natürliche Person zu einem Zweck, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann („Verbraucher“), mit einer anderen Person geschlossen hat, die in Ausübung ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt („Unternehmer“), dem Recht des Staates, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern der Unternehmer a) seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit in dem Staat ausübt, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder b) eine solche Tätigkeit auf irgendeiner Weise auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt. (2) Ungeachtet des Absatzes 1 können die Parteien das auf einen Vertrag, der die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, anzuwendende Recht nach Artikel 3 wählen. Die Rechtswahl darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Verbraucher der Schutz entzogen wird, der ihm durch diejenigen Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach Absatz 1 mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. (3) Sind die Anforderungen des Absatzes 1 Buchstabe a oder b nicht erfüllt, so gelten für die Bestimmung des auf einen Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer anzuwendenden Rechts die Artikel 3 und 4. (4) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für: a) Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen, wenn die dem Verbraucher geschuldeten Dienstleistungen ausschließlich in einem anderen als dem Staat erbracht werden müssen, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; b) Beförderungsverträge mit Ausnahme von Pauschalreiseverträgen im Sinne der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (1); c) Verträge, die ein dingliches Recht an unbeweglichen Sachen oder die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen zum Gegenstand haben, mit Ausnahme der Verträge über Teilzeitnutzungsrechte an Immobilien im Sinne der Richtlinie 94/47/EG; d) Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit einem Finanzinstrument sowie Rechte und Pflichten, durch die die Bedingungen für die Ausgabe oder das öffentliche Angebot und öffentliche Übernahmeangebote bezüglich übertragbarer Wertpapiere und die Zeichnung oder den Rückkauf von Anteilen an Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren festgelegt werden, sofern es sich dabei nicht um die Erbringung von Finanzdienstleistungen handelt; e) Verträge, die innerhalb der Art von Systemen geschlossen werden, auf die Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h Anwendung findet. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfasste Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis zu anderen Rechtsakten . . . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausschluss nach Art. 6 Abs. 4 lit. a Rom I VO .

3 3 4

47 Stimmel, GRUR-Int. 2010, 783, 788. 48 OLG Düsseldorf v. 15.11.2017 – VI-U (Kart) 8/17 – Bridge-Weltmeisterschaft, BeckRS 2017, 140328 Ls. 2 und Rz. 36.

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Rom I VO Art. 6 Rz. 1 Verbraucherverträge Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Erfasste Verträge 1

Grundsätzlich erfasst Art. 6 ROM I VO alle Vertragstypen zwischen Unternehmer1 und Verbraucher,2 auch Datenbank-, Lizenzverträge sowie Erwerb von Software etc. durch Download;3 unerheblich ist, wer die vertragscharakteristische Leistung erbringt;4 nicht erforderlich ist, dass der Vertrag zwischen Verbraucher und Unternehmer im Fernabsatz geschlossen wurde.5 2. Verhältnis zu anderen Rechtsakten

2

Zu Regelungen, die vorrangig zur Rom I VO auf Verbraucherverträge anwendbar sind, s. Art. 1 Rom I VO Rz. 4; zu Normen, die trotz einer (auch in AGB) zulässigen Rechtswahl6 gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Rom I VO nicht abbedungen werden können, s. Art. 3 ROM I VO Rz. 6; zum Vorrang von Art. 6 Rom I VO vor Art. 4 Rom I VO s. Art. 4 Rom I VO Rz. 1.

II. Norminhalt 1. Ausrichten 3

Zur Frage, ob ein „Ausrichten“ der unternehmerischen Tätigkeit auf den Staat des Verbrauchers (Art. 6 Abs. 1 lit. b Rom I VO) bei online-Angeboten gegeben ist,7 s. die Grundsatzentscheidung des EuGH in

1 Powerseller bei eBay ist regelmäßig als gewerblich einzustufen, OLG Frankfurt v. 21.3.2007 – 6 W 27/07, MMR 2007, 378. 2 Palandt/Thorn, Art. 6 Rom I VO Rz. 4. Ausnahmenkatalog in Abs. 4 beachten. 3 Spindler/Schuster/Bach, 4. Teil IPR Lit. A Art. 6 Rom I VO Rz. 5. 4 Spindler/Schuster/Bach, 4. Teil IPR Lit. AArt. 6 Rom I VO Rz. 6. 5 EuGH v. 6.9.2012 – C-190/11 Rz. 45, NJW 2012, 3225 – Mühlleitner/Yusufi. 6 Hierzu auch EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15 – Verein für Konsumenteninformation Rz. 59 sowie Ls. 2, wonach eine Rechtswahl in AGB missbräuchlich ist, sofern sie dem Verbraucher irrig den Eindruck vermittelt, auf den Vertrag sei nur das vereinbarte Recht anwendbar, ohne darüber zu unterrichten, dass der Verbraucher nach Art. 6 Abs. 2 Rom I VO auch den Schutz der zwingenden Bestimmungen des Rechts genießt, das ohne diese Klausel anzuwenden wäre; LG Hamburg v. 6.1.2011 – 327 O 779/10 Rz. 63 ff. – juris, MMR 2012, 96: zulässige Rechtswahl ggü. Verbrauchern auch in AGB, es bleibt aber in den Fällen des Art. 6 Abs. 1 lit. a oder b Rom I VO gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ROM I VO das zwingende Heimatrecht anwendbar; keine überraschende Rechtswahl gem. § 305c BGB, wenn das Recht gewählt wurde, das mangels Rechtswahl gem. Art. 4 Rom I VO anwendbar wäre (Rz. 73); Vorschriften der Rom I VO bezwecken keine Regelung des Marktverhaltens i.S.d. § 4 Nr. 11 UWG a.F. (jetzt § 3a UWG n.F.). LG Hamburg v. 2.9.2014 – 327 O 187/14 Rz. 26 – juris, NJOZ 2015, 535: Rechtswahlklausel selbst ist AGB-Kontrolle unterworfen gem. Art. 6 Abs. 2 Rom I VO, denn §§ 305 ff. BGB gehören zu den zwingenden Normen des deutschen Heimatrechts; überraschende Klausel bejaht, in einem Fall, in dem in AGB mit Verbrauchern ein Recht gewählt wurde, das weder dem Sitz einer der Parteien noch dem nach Art. 4 und 6 Rom I VO ohnehin anwendbaren Recht entsprach. LG Oldenburg v. 11.6.2014 – 5 O 908/14 Rz. 31 ff. – juris: eine Rechtswahl des deutschen Rechts in AGB ggü. ausländischen Verbrauchern kann mangels ausreichender Transparenz gegen § 307 Abs. 1 BGB verstoßen, wenn sie nicht erkennen lässt, dass zwingendes Recht aus dem Herkunftsstaat des Verbrauchers gem. Art. 6 Abs. 2 Rom I VO anwendbar bleibt. BGH v. 19.7.2012 – I ZR 40/11 Ls. 2 und Rz. 30 ff. – juris, GRUR 2013, 421 ff. zu der Frage, wann die Wahl des Rechts desjenigen Staates, wo der Unternehmer seinen Sitz hat, ggü. Verbrauchern in AGB unangemessen ist, v.a. in Fällen, in denen der Vertragsgegenstand die Beachtung zwingender öffentlich-rechtlicher Normen bedingt. 7 Hier wurde das Kriterium aus Art. 15 Abs. 1 lit. c Brüssel 1 VO (jetzt Art. 17 Brüssel Ia VO) übernommen, s. Erwägungsgrund 24 Rom I VO.

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Individualarbeitsverträge

Rz. 1 Art. 8 Rom I VO

der Rechtssache Pammer.8 Um ein „Ausrichten“ auf ein bestimmtes Land auszuschließen, empfiehlt sich ein ausdrücklicher Disclaimer („kein Vertrieb in Land XY“), wobei diesem zufolge auch gehandelt werden muss.9 Auch technische Möglichkeiten zum Zugriff auf die Website von den auszuschließenden Ländern sollten ergriffen werden, wie z.B. Geosperren.10 2. Ausschluss nach Art. 6 Abs. 4 lit. a Rom I VO Der Ausschlusstatbestand des Abs. 4 lit. a greift grundsätzlich nicht in Fällen, in denen der Verbraucher die IT-Dienstleistung aus dem Netz abrufen kann. Der tatsächliche Abruf stellt bereits eine ausreichende Verbindung zum Aufenthaltsstaats des Verbrauchers dar. Selbst bei weltweit abrufbaren (Cloud-)Dienstleistungen (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8), ist die geschuldete Leistung jedenfalls nicht ausschließlich außerhalb des gewöhnlichen Aufenthaltsstaats zu erbringen, so dass Abs. 4 lit. a nicht eingreift.11

4

Art. 8 Individualarbeitsverträge (1) Individualarbeitsverträge unterliegen dem von den Parteien nach Artikel 3 gewählten Recht. Die Rechtswahl der Parteien darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Absätzen 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. (2) Soweit das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist, unterliegt der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wechselt nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet. (3) Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 2 bestimmt werden, so unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat. (4) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen als dem in Absatz 2 oder 3 bezeichneten Staat aufweist, ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Für IT-Sachverhalte mag Abs. 4 interessant werden. Auf eine „engere Verbindung“ zu einem anderen 1 Staat können z.B. Steuern, Abgaben, Sozialversicherung oder Renten- und Gesundheitsregelungen hindeuten.1

8 EuGH v. 7.12.2010 – C-585/08, C-144/09 – Pammer; hierzu auch OLG Köln v. 26.2.2016 – 6 U 90/15, NJOZ 2017, 501, 504 Rz. 33; Rauscher/Staudinger, Art. 17 Brüssel Ia VO Rz. 13a ff. S. auch Erwägungsgrund 24 Rom I VO sowie Kriterien-Übersicht bei Giedke, Cloud Computing, S. 109 ff. 9 Im wettbewerbsrechtlichen Kontext s. BGH v. 30.3.2006 – I ZR 24/03, GRUR 2006, 513 Rz. 22 und 25 – Arzneimittelwerbung im Internet; Spindler/Schuster/Weller/Nordmeier, Recht der elektronischen Medien, Art. 6 Rom I VO Rz. 18. 10 Zu Geoidentifikationsverfahren und Geosperren (technische Möglichkeit, Zugriffe auf die eigene Website aus bestimmten Regionen zu unterbinden), s. Svantesson, Geo-identification and the Internet – A New Challenge for Australia’s Internet Regulation, Murdoch University E Law Journal, Vol. 14 No. 2 (2007), http://classic.aust lii.edu.au/au/journals/MurdochUeJlLaw/2007/25.pdf, zuletzt abgerufen am 3.1.2020 sowie Giedke, Cloud Computing, Anhang I. Z.B. setzt Youtube derartige Methoden ein, um unberechtigte Zugriffe auf urheberrechtlich geschützte Werke zu verhindern. 11 Nordmeier, MMR 2010, 151, 152 f. 1 EuGH v. 12.9.2013 – C-64/12 – Anton Schlecker, EuZW 2013, 825 ff. zu Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom, der im Wesentlichen Art. 8 Abs. 4 Rom I VO entspricht.

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Rom I VO Art. 9 Rz. 1 Eingriffsnormen

Art. 9 Eingriffsnormen (1) Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. (2) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts. (3) Den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, kann Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden. 1

Art. 9 Rom I VO sichert die Anwendbarkeit sog. Eingriffsnormen (Abs. 1) und weicht somit den allgemeinen Grundsatz der freien Wahl des anwendbaren Rechts durch die Parteien (Art. 3) auf.1 Zu den im IT-Recht relevanten Eingriffsnormen und der hierdurch begrenzten Rechtswahlfreiheit der Parteien s. Art. 3 Rom I VO Rz. 7 ff. Von welchen Staaten Eingriffsnormen anwendbar bleiben, bestimmt Art. 9 Rom I VO in seinen Absätzen 2 (Staat des angerufenen Gerichts) und 3 (Staat, in dem die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen sind) abschließend. Eingriffsnormen anderer Länder darf das Gericht dagegen nicht „als Rechtsvorschriften“ anwenden, ggf. aber als „tatsächlichen Umstand“ berücksichtigen, sofern dies das anwendbare Recht auf materiell-rechtlicher Ebene vorsieht.2

Art. 10 Einigung und materielle Wirksamkeit (1) Das Zustandekommen und die Wirksamkeit des Vertrags oder einer seiner Bestimmungen beurteilen sich nach dem Recht, das nach dieser Verordnung anzuwenden wäre, wenn der Vertrag oder die Bestimmung wirksam wäre. (2) Ergibt sich jedoch aus den Umständen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, die Wirkung des Verhaltens einer Partei nach dem in Absatz 1 bezeichneten Recht zu bestimmen, so kann sich diese Partei für die Behauptung, sie habe dem Vertrag nicht zugestimmt, auf das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts berufen. 1

Die Anknüpfung nach Art. 10 Rom I VO ist auch für die Vereinbarung einer Rechtswahl gem. Art. 3 Rom I VO relevant, vgl. Art. 3 Rom I VO Rz. 3 sowie Art. 4 Rom I VO Rz. 1. Die Sonderanknüpfung nach Abs. 2 wird erwogen in Fällen besonderen online-Verhaltens, z.B. bei gezieltem Aufsuchen von Websites ausländischer Anbieter.1

1 EuGH v. 18.10.2016 – C-135/15, NZA 2016, 1389 Rz. 42 f. 2 EuGH v. 18.10.2016 – C-135/15, NJW 2017, 141, 143 Rz. 49 ff. 1 Spindler/Schuster/Bach, Art. 10 Rom I VO Rz. 7.

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Gewöhnlicher Aufenthalt

Rz. 1 Art. 19 Rom I VO

Art. 12 Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts (1) Das nach dieser Verordnung auf einen Vertrag anzuwendende Recht ist insbesondere maßgebend für a) seine Auslegung, b) die Erfüllung der durch ihn begründeten Verpflichtungen, c) die Folgen der vollständigen oder teilweisen Nichterfüllung dieser Verpflichtungen, in den Grenzen der dem angerufenen Gericht durch sein Prozessrecht eingeräumten Befugnisse, einschließlich der Schadensbemessung, soweit diese nach Rechtsnormen erfolgt, d) die verschiedenen Arten des Erlöschens der Verpflichtungen sowie die Verjährung und die Rechtsverluste, die sich aus dem Ablauf einer Frist ergeben, e) die Folgen der Nichtigkeit des Vertrags. (2) In Bezug auf die Art und Weise der Erfüllung und die vom Gläubiger im Falle mangelhafter Erfüllung zu treffenden Maßnahmen ist das Recht des Staates, in dem die Erfüllung erfolgt, zu berücksichtigen. Bei IT-Verträgen, die urheberrechtlich geschützte Werke betreffen, ist zu beachten, dass die das Urheberrecht selbst betreffende Fragen dem Recht des jeweiligen Schutzlandes vorbehalten sind.1

1

Art. 19 Gewöhnlicher Aufenthalt (1) Für die Zwecke dieser Verordnung ist der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen der Ort ihrer Hauptverwaltung. Der gewöhnliche Aufenthalt einer natürlichen Person, die im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit handelt, ist der Ort ihrer Hauptniederlassung. (2) Wird der Vertrag im Rahmen des Betriebs einer Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung geschlossen oder ist für die Erfüllung gemäß dem Vertrag eine solche Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung verantwortlich, so steht der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts dem Ort gleich, an dem sich die Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung befindet. (3) Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend. Fraglich ist, ob „Server“ als Niederlassung i.S.d. Abs. 2 qualifiziert werden können. Dies wird in Fällen 1 bejaht, in denen sowohl der Vertragsabschluss als auch die Vertragsabwicklung über diesen Server erfolgen und dieser in die Betriebsorganisation des Anbieters fest eingebunden ist (was nur selten der Fall sein wird).1

1 Hierzu Art. 2 Rom I VO Rz. 3. 1 Auer-Reinsdorff/Conrad/Auer-Reinsdorff, IT-Recht, § 23 Rz. 88. Dazu, dass Server als Niederlassung i.S.d. § 1 Abs. 5 Satz 1 a.F. BDSG, nunmehr § 1 Abs. 4 Satz 2 BDSG (bzw. Art. 3 Abs. 1 DSGVO) anzusehen sind, s. Giedke, Cloud Computing S. 203 ff.

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Rom I VO Art. 20 Rz. 1 Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung

Art. 20 Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung Unter dem nach dieser Verordnung anzuwendenden Recht eines Staates sind die in diesem Staat geltenden Rechtsnormen unter Ausschluss derjenigen des Internationalen Privatrechts zu verstehen, soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist. 1

Art. 20 Rom I VO legt als Grundsatz fest, dass die Anknüpfungsregeln der ROM I VO Sachnormverweisungen sind.1 Da das IPR eines Drittlandes eine Weiterverweisung zulassen kann, empfiehlt sich sicherheitshalber in der Rechtswahlklausel eine Klarstellung, ob die Kollisionsnormen des gewählten Rechts erfasst sein sollen.2

Art. 21 Öffentliche Ordnung im Staat des angerufenen Gerichts Die Anwendung einer Vorschrift des nach dieser Verordnung bezeichneten Rechts kann nur versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung („ordre public“) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist. 1

Mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar sein können beispielsweise vertraglich vereinbarte Strafschadensersatzansprüche („punitive damages“).1

Art. 22 Staaten ohne einheitliche Rechtsordnung (1) Umfasst ein Staat mehrere Gebietseinheiten, von denen jede eigene Rechtsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse hat, so gilt für die Bestimmung des nach dieser Verordnung anzuwendenden Rechts jede Gebietseinheit als Staat. (2) Ein Mitgliedstaat, in dem verschiedene Gebietseinheiten ihre eigenen Rechtsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse haben, ist nicht verpflichtet, diese Verordnung auf Kollisionen zwischen den Rechtsordnungen dieser Gebietseinheiten anzuwenden. 1

Staaten ohne einheitliche Rechtsordnung sind solche mit mehreren Gebietseinheiten, die für vertragliche Rechtsverhältnisse eigene Rechtsnormen haben.1

1 Palandt/Thorn, Art. 20 Rom I VO Rz. 1. 2 S. Art. 2 Rom I VO Rz. 4 sowie Art. 3 Rom I VO Rz. 11 m.w.N.; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 280. 1 BGH v. 4.6.1992 – IX ZR 149/91 Ls., NJW 1992, 3096, 3102 ff.; hierzu auch Münchener Anwaltshandbuch ITRecht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 255. S. auch die Kommentierung zu Art. 26 Rom II VO Rz. 1. S. auch § 249 BGB Rz. 2. 1 Zur fehlenden einheitlichen Rechtsordnung im Rahmen der für außervertragliche Schuldverhältnisse bestehenden Parallelvorschrift des Art. 23 Rom II VO vgl. OGH Wien v. 18.11.2014 – 4 Ob 147/14t – klimaneutral II, GRUR-Int. 2015, 481, 483.

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Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen

Rz. 1 Art. 25 Rom I VO

Art. 23 Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsrechtsakten Mit Ausnahme von Artikel 7 berührt diese Verordnung nicht die Anwendung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die in besonderen Bereichen Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten. S. Hinweis zu Art. 23–25 zusammengefasst in Art. 25 Rom I VO Rz. 1.

Art. 24 Beziehung zum Übereinkommen von Rom (1) Diese Verordnung tritt in den Mitgliedstaaten an die Stelle des Übereinkommens von Rom, außer hinsichtlich der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten, die in den territorialen Anwendungsbereich dieses Übereinkommens fallen und für die aufgrund der Anwendung von Artikel 299 des Vertrags diese Verordnung nicht gilt. (2) Soweit diese Verordnung die Bestimmungen des Übereinkommens von Rom ersetzt, gelten Bezugnahmen auf dieses Übereinkommen als Bezugnahmen auf diese Verordnung. S. Hinweis zu Art. 23–25 zusammengefasst in Art. 25 Rom I VO Rz. 1.

Art. 25 Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen (1) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der internationalen Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören und die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten. (2) Diese Verordnung hat jedoch in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor den ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen, soweit diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind. Vorrangige Regelungen finden sich z.B. im Bereich des Rechts der Verbraucherverträge1 sowie in Art. 1 Abs. 1 des UN-Kaufrechts.2 In Bezug auf das hier behandelte klassische IT-Recht sind keine IT-spezifischen Rechtsakte ersichtlich, die der Rom I VO kollisionsrechtlich vorgehen.3 1 Beispielsweise Vorschriften zur Umsetzung der RL über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, RL 93/13, soweit sie im Einklang mit deren Art. 8 ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher gewährleisten, s. EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15 – Verein für Konsumenteninformation, Rz. 59; s. ferner die Auflistung in Art. 46b Abs. 3 EGBGB sowie: Spindler/Schuster/Bach, vor Rom I VO Rz. 8 und 18 ff. 2 United Nations Convention on Contracts for the International Sales of Goods („CISG“, „UN-Kaufrecht“). Zum Vorrang des CISG MünchKomm/Spellenberg, Bd. 12, Art. 12 Rom I VO Rz. 110. Es ist umstritten, ob das CISG Kollisionsnormen i.S.d. Art. 25 Rom I VO beinhaltet, wird aber mehrheitlich bejaht, s. hierzu allgemein Spindler/Schuster/Bach, Art. 25 Rom I VO Rz. 2 m.w.N. Für einen Bestandsschutz des UN-Kaufrechts: Rauscher/von Hein, Art. 25 Rom I VO Rz. 6 und 8; MünchKomm/Martiny, Bd.12, Art. 25 Rom I VO Rz. 4; Lejeune, ITRB 2010, 66, 67. Vorrangige Regelungen finden sich auch im Haager Übereinkommen betreffend das auf internationale Kaufverträge über bewegliche Sachen anzuwendende Recht v. 15.6.1955, Palandt/Thorn, Art. 4 Rom I VO Rz. 7. 3 Zur hier nicht behandelten Frage, ob im E-Commerce-Recht vorrangige Regelungen bestehen, vgl. Spindler/ Schuster/Bach, Vor Rom I VO Rz. 20 sowie EuGH v. 25.10.2011 – C-509/09, C-161/10 (verbundene Rechtssachen), NJW 2012, 137, 140 f. – eDate Advertising GmbH und Oliver Martinez.

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Rom I VO Art. 28 Rz. 1 Zeitliche Anwendbarkeit

Art. 28 Zeitliche Anwendbarkeit Diese Verordnung wird auf Verträge angewandt, die nach dem 17. Dezember 2009 geschlossen werden. 1

Der zeitliche Anwendungsbereich erstreckt sich nur auf Verträge, die nach dem 17.12.20091 also ab dem 18.12.2009 geschlossen wurden.2 Der Zeitpunkt des Vertragsschlusses ist danach auch bei Dauerschuldverhältnissen, wie etwa Softwarepflegeverträgen maßgeblich.3 Wenn jedoch ein alter, vor dem 17.12.2009 geschlossener Vertrag nach dem 17.12.2009 in einem Umfang geändert worden ist, der keine bloße Aktualisierung oder Anpassung, sondern die Begründung einer neuen Rechtsbeziehung zwischen den Vertragsparteien darstellt und daher den alten Vertrag ersetzt, ist die Rom I VO anwendbar.4

1 Zum verunglückten Wortlaut von Art. 28 und Art. 29 Abs. 2 Rom I VO s. Rauscher/Freitag, Art. 28/29 Rom I Rz. 3. 2 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 240. Für vor dieser Zeit abgeschlossene Verträge bleibt es bei der Anwendbarkeit der alten Vorschriften des EGBGB, vgl. Palandt/Thorn, Vorbem. Rom I VO Rz. 1, v.a. von Art. 27 und 28 EGBGB, Härting, Internetrecht, Rz. 2766. 3 Lejeune, ITRB 2010, 66. 4 EuGH v. 18.10.2016 – C-135/15, NJW 2017, 141 Ls. 1 und Rz. 32 ff.

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Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II VO) ABl. EU Nr. L 199 vom 31.7.2007, 40, berichtigt durch ABl. EU Nr. L 310 vom 9.11.2012, 52 (Auszug)

Vorbemerkungen zu Rom I VO und Rom II VO S. Vor Art. 1 Rom I VO.

Art. 1 Anwendungsbereich (1) Diese Verordnung gilt für außervertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte („acta iure imperii“). (2) Vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sind […] d) Außervertragliche Schuldverhältnisse, die sich aus dem Gesellschaftsrecht […] ergeben, wie die Errichtung […], die Rechts- und Handlungsfähigkeit, die innere Verfassung und die Auflösung […] e) Außergerichtliche Schuldverhältnisse aus den Beziehungen zwischen den Verfügenden, den Treuhändern und den Begünstigten eines durch Rechtsgeschäft errichteten „Trusts“; […] I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – gesonderte Anknüpfung . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . a) Sachlicher, räumlicher und zeitlicher nwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zu anderen Rechtsakten (Art. 27, 28 Rom II VO) . . . . . . . . . . aa) Vorrangige Unionsvorschriften gem. Art. 27 Rom II VO . . . . . . . . . . . bb) Vorrangige internationale Übereinkommen gem. Art. 28 Rom II VO . .

. . .

1 1 2

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2

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4

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5

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9

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Außervertragliche Schuldverhältnisse . . . . 10

2. Zivil- und Handelssache . . . . . . . . . . 3. Verbindung zum Recht verschiedener Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausnahmen vom Anwendungsbereich (Art. 1 Abs. 2 und 3 Rom II VO) . . . . . . a) Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte, Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II VO . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesellschaftsrecht, Art. 1 Abs. 2 lit. d Rom II VO . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Trusts, Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom II VO . . d) Schiedsverfahren? . . . . . . . . . . . . . III. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . .

. . 12 . . 13 . . 15 . . 16 . . . .

. . . .

17 18 19 22

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – gesonderte Anknüpfung Art. 1 Rom II VO umschreibt als Anwendungsbereich der Rom II VO außervertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen (unter Ausnahme bestimmter Bereiche), die eine Verbindung Giedke

273

1

Rom II VO Art. 1 Rz. 1 Anwendungsbereich zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Im Gegensatz dazu regelt die Rom I VO entsprechende vertragliche Schuldverhältnisse (Art. 1 Rom I VO). Konkurrieren vertragliche und außervertragliche Ansprüche, ist für beide jeweils gesondert anzuknüpfen.1 Im Hinblick auf das deutsche Recht verdrängt die Rom II VO die Art. 38–42 EGBGB weitestgehend.2 2. Bedeutung und Anwendungsbereich a) Sachlicher, räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich 2

Art. 1 Rom II VO bestimmt als sachlichen Anwendungsbereich der Rom II VO außervertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen. In räumlicher Hinsicht ist eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten erforderlich (s. auch die ergänzende Regelung zur universellen Anwendbarkeit in Art. 3 Rom II VO). Der zeitliche Anwendungsbereich erstreckt sich auf alle schadensbegründenden Ereignisse, die ab dem 11.1.2009 eintreten (Art. 31, 32 Rom II VO).3

3

Als schadensbegründende Ereignisse i.S.d. Art. 31 Rom II VO sind nicht Rechtsgutsverletzungen oder Folgeschäden, sondern die (deliktischen) Handlungen, die zu Rechtsgutsverletzungen führen, gemeint.4 In Produkthaftungsfällen ist entsprechend der Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts maßgeblich, bei Ansprüchen auf Unterlassung sind jedenfalls die Fälle erfasst, in denen die Handlungspflicht nach dem 11.1.2009 entstand,5 aber auch solche, über die erst ab dem Geltungsbeginn der VO zu entscheiden ist.6 b) Verhältnis zu anderen Rechtsakten (Art. 27, 28 Rom II VO)

4

Vorschriften des Unionsrechts, die für besondere Gegenstände Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten, werden durch die Rom II VO nicht berührt (Art. 27 Rom II VO). Auch die Anwendung internationaler Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme der Rom II VO (11.7.2007)7 angehören und die Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten, werden durch die Rom II VO grundsätzlich nicht berührt. Nur in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten hat die Rom II VO Vorrang vor den ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen, soweit diese Bereiche betreffen, die in der Rom II VO geregelt sind (Art. 28 Rom II VO). aa) Vorrangige Unionsvorschriften gem. Art. 27 Rom II VO

5

Nach Art. 27 Rom II VO sind nur normierte Unionsvorschriften vorrangig, keine ungeschriebenen Prinzipien, wie z.B. das aus den Grundfreiheiten des Europäischen Primärrechts hergeleitete Her-

1 Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 686; MünchKomm/Drexl, Bd. 12, Teil 8, IntImmGR Rz. 171. 2 Rauscher/Unberath/Cziupka, Einl. Rom II VO Rz. 1; sie erfassen nunmehr ausschließlich von der Rom II VO nicht abgedeckte Fallgruppen, z.B. Persönlichkeitsrechtsverletzungen, s. auch Rauscher/von Hein, Einl. Rom I VO Rz. 29. Eine Synopse von Rom I und Rom II VO gegenüber dem EGBGB findet sich bei Kindler/Klemann, IPRax 2008, 365 f. 3 EuGH v. 17.11.2011 – C-412/19 – Deo Antoine Homawoo/GMF Assurances SA; Palandt/Thorn, Art. 31, 32 Rom II VO Rz. 1 f.; zu dem missglückten Wortlaut Rauscher/Unberath/Cziupka, Einl. Rom II VO Rz. 12. Für Altfälle aus der Zeit vor dem 11.1.2009 bleibt es bei Art. 40 EGBGB, der das Tatortprinzip normiert, BGH v. 11.2.2010 – I ZR 85/08 – Ausschreibung in Bulgarien, Rz. 10. 4 S. zur terminologischen Differenzierung zwischen „schadensbegründendes Ereignis“ und Ort, „in dem der Schaden eintritt“ auch Art. 4 Rom II VO. Rauscher/Picht, Art. 31, 32 Rom II VO Rz. 1; MünchKomm/Junker, Art. 32 Rom II VO Rz. 5-7. 5 MünchKomm/Junker, Art. 32 Rom II VO Rz. 5 ff. m.w.N. und Rz. 11 f. 6 OGH Wien v. 12.2.2013 – 4 Ob 190/12p, GRUR-Int. 2013, 668 und 670 (dort auch zur widersprüchlichen deutschen Rspr.); OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k, BeckRS 2012, 81508, Ls. 1 und S. 6 = GRUR-Int. 2012, 468, 471 – HOBAS-Rohre – Rohrprodukte; MünchKomm/Drexl, Bd. 12, Teil 8, IntImmGR, Rz. 169. 7 MünchKomm/Junker, Art. 28 Rom II VO Rz. 13.

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Giedke

Anwendungsbereich

Rz. 9 Art. 1 Rom II VO

kunftslandprinzip.8 Bei Richtlinien mit eindeutigen kollisionsrechtlichen Vorgaben ist in analoger Anwendung von Art. 14 Abs. 3 Rom II VO der nationale Umsetzungsrechtsakt des lex fori maßgeblich.9 Erwägungsgrund 35 Rom II VO stellt klar, dass die Anwendung der Vorschriften des nach der Rom II VO anwendbaren Rechts nicht zu einer Beschränkung der Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs führen sollte. Dies gilt für sämtliche Ausgestaltungen der Waren- und Dienstleistungsverkehrsfreiheit in Rechtsinstrumenten der Gemeinschaft, wie z.B. der E-Commerce Richtlinie.10

6

Umstritten ist, ob Art. 3 E-Commerce-Richtlinie ein kollisionsrechtliches Herkunftslandprinzip vor- 7 sieht und wegen der Erwähnung der E-Commerce-Richtlinie in Erwägungsgrund 35 Rom II VO als vorrangiger Unionsrechtsakt i.S.d. Art. 27 Rom II VO anzusehen ist.11 Hiergegen spricht, dass Art. 3 der E-Commerce Richtlinie keine explizite Kollisionsregel enthält (s. nur Art. 1 Abs. 4 E-CommerceRichtlinie) und auch der EuGH auf entsprechende Vorlage des BGH ihn nicht als unionsrechtliche Kollisionsregel einordnet.12 Vielmehr adressiert Erwägungsgrund 35 Rom II VO die E-CommerceRichtlinie nur als zu beachtende Ausgestaltung des nach der Rom II VO anwendbaren Sachrechts, das die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs ausgestaltet.13 Hieraus folgt, dass es zwar vor Erlass der Rom II VO den Mitgliedstaaten möglich war, das in Art. 3 E-Commerce Richtlinie geregelte Herkunftslandprinzip sowohl mit Hilfe nationalen Kollisionsrechts14 als auch lediglich auf sachrechtlicher Ebene15 umzusetzen; nach Erlass der Rom II VO tritt entsprechendes nationales Kollisionsrecht aber hinter den Regelungen der Rom II VO zurück.16

8

bb) Vorrangige internationale Übereinkommen gem. Art. 28 Rom II VO Vorrangige internationale Übereinkommen gem. Art. 28 Rom II VO (hierzu auch Erwägungs- 9 gründe 36 f.) stellen z.B. das Haager Übereinkommen über das auf die Produkthaftpflicht anzuwen-

8 Hierfür spricht, dass die Rom II VO gerade ein ausdifferenziertes System an Anknüpfungspunkten vorsieht und gerade nicht pauschal auf das Herkunftsland einer oder beider Parteien abstellt, s. auch Rauscher/Jakob/ Picht, Art. 27 Rom II VO Rz. 3 m.w.N. 9 Rauscher/Jakob/Picht, Art. 27 Rz. 4; MünchKomm/Junker, Art. 27 Rom II VO Rz. 8 m.w.N. 10 Erwägungsgrund 35. Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt. 11 Hierzu Pfeiffer, IPrax 2014, 360 ff.; MünchKomm/Junker, Art. 27 Rom II VO Rz. 4 bis 11 i.V.m. MünchKomm/ von Hein, Art. 3 EGBGB Rz. 80 ff.; Rauscher/Jakob/Picht, Art. 27 Rom II VO Rz. 8. 12 Einerseits verweist der EuGH auf Art. 1 Abs. 4 E-Commerce-RL, wonach die Richtlinie keine zusätzlichen Regeln im Bereich des internationalen Privatrechts hinsichtlich des anwendbaren Rechts schafft (Rz. 60); andererseits führt er aus, Art. 3 Abs. 2 „verlange“ keine Umsetzung in Form einer speziellen Kollisionsregel (Rz. 63). Im Ergebnis lasse es Art. 3 (vorbehaltlich der geregelten Ausnahmen) nicht zu, dass der Anbieter eines Dienstes des elektronischen Geschäftsverkehrs strengeren Anforderungen unterliegt, als sie das im Sitzmitgliedstaat dieses Anbieters geltende Sachrecht vorsieht (Rz. 67), EuGH v. 25.10.2011 – C-509/09 und C-161/10 – eDate Advertising ./. Martinez. Picht folgert aus dieser Entscheidung, dass der EuGH Art. 3 E-Commerce-Richtlinie keinen kollisionsrechtlichen Gehalt zuerkennt, GRUR-Int. 2013, 19, 21; ebenso Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 3 und 15; OLG Hamm v. 17.12.2013 – 4 U 100/13 Rz. 38, GRUR-RS 2014, 01726 – Deutschsprachige Website eines ägyptischen Reiseanbieters; LG Karlsruhe v. 16.12.2011 – 14 O 27/11, Rz. 54. 13 Erwägungsgrund 35 Satz 4 Rom II VO. Ebenso Pfeiffer, IPRax 2014, 360. 14 So auch EuGH in eDate Advertising v. 25.10.2011 – C-509/09, C- 161/10 – eDate Advertising ./. Martinez Rz. 63; § 20 des österreichischen E-Commerce-Gesetzes wurde zunächst kollisionsrechtlicher Gehalt zuerkannt, s. OGH Wien v. 9.5.2012 – 7 Ob 189/11m, BeckRS 2016, 81213 (jetzt ausdrücklich aufgehoben OGH Wien v. 19.3.2013 – 4 Ob 29/13p, GRUR-Int. 2013, 1163, 1166). 15 Wie in Deutschland, § 3 TMG, BGH v. 8.5.2012 – VI ZR 217/08, NJW 2012, 2197. 16 Str. Ebenso: Pfeiffer, IPrax 2014, 360, 362 f. Nationales Kollisionsrecht, das vor Erlass der Rom II VO erlassen wurde, fällt auch nicht unter Art. 27 Rom II VO. Entsprechend bewertet auch der OGH Wien § 20 ECG (österr. E-Commerce-Gesetz) nicht mehr als Kollisionsrecht, OGH Wien v. 19.3.2013 – 4 Ob 29/13p, GRUR-Int. 2013, 1163, 1166 (mit Verweis auf EuGH C-509/09 – eDate Advertising und C-161/10 – Martinez). A.A. MünchKomm/Junker, Art. 27 Rom II VO Rz. 4 bis 11 i.V.m. MünchKomm/von Hein, Art. 3 EGBGB Rz. 80 ff.

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Rom II VO Art. 1 Rz. 9 Anwendungsbereich dende Recht17 (dort Art. 4–6) sowie das Übereinkommen von Rom (EVÜ) dar,18 das in Art. 10 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 3 bis 6 und 12 EVÜ eine Kollisionsregel für Fälle der ungerechtfertigten Bereicherung bei einem nichtigen Vertrag vorsieht. Keinem Vorrang kommt Art. 5 Abs. 2 RBÜ zu.19

II. Norminhalt 1. Außervertragliche Schuldverhältnisse 10

Die Norminhalte der Rom II VO sind autonom auszulegen, insb. kann auf die Rspr. des EuGH zur Brüssel I VO (nunmehr Brüssel Ia VO) zurückgegriffen werden.20

11

Generell setzen außervertragliche Schuldverhältnisse voraus, dass die zwischen den Parteien bestehende Verpflichtung nicht freiwillig begründet wurde.21 In den Anwendungsbereich der Rom II VO fallende außervertragliche Schuldverhältnisse sind insb. solche aus unerlaubter Handlung (inkl. Gefährdungshaftung [Art. 4 Rom II VO, Erwägungsgrund 11] und Sonderdelikte [Arg. e. Art. 5–9 Rom II VO]), ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 10 Rom II VO), Geschäftsführung ohne Auftrag (Art. 11 Rom II VO) und Verschulden bei Vertragsverhandlungen (Art. 12 Rom II VO; s. auch Art. 1 Rom I VO Rz. 21), s. nur Art. 2 Rom II VO.22 Auch Ansprüche auf Abwehr von wahrscheinlich eintretenden außervertraglichen Schuldverhältnissen (insb. Unterlassungsansprüche) sind erfasst, Art. 2 Abs. 2 und 3 Rom II VO.23 2. Zivil- und Handelssache

12

Zivil- und Handelssachen sind insb. von öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen abzugrenzen.24

17 Vom 2.10.1973, abrufbar unter https://www.hcch.net/en/instruments/conventions/full-text/?cid= 84, zuletzt abgerufen am 3.1.2020; Deutschland ist kein Zeichnungsstaat, anders aber z.B. Frankreich. Beachte, dass auch Art. 5 Kollisionsregeln für Produkthaftungsfälle enthält, die denen des Haager Übereinkommens nicht entsprechen. Dies führt zu komplexen unterschiedlichen Anknüpfungen innerhalb der EU, vgl. MünchKomm/ Junker, Art. 28 Rom II VO Rz. 21. Ebenfalls vorrangig anwendbar, ist das Haager Straßenverkehrsunfall-Übereinkommen vom 4.5.1971. 18 Anders als Art. 24 Rom I VO enthält die Rom II VO keine Spezialvorschrift über das Verhältnis zu dem Übereinkommen von Rom, weswegen auf Art. 28 zurückzugreifen ist, vgl. auch MünchKomm/Junker, Art. 28 Rom II VO Rz. 11 und 14 ff. Zu beachten ist, dass Art. 10 Abs. 1 lit. e EVÜ bei Verträgen, die ab dem Anwendungsbeginn der Rom I VO geschlossen wurden (17.12.2009), durch Art. 12 Abs. 1 lit. e Rom I VO abgelöst wird, Art. 24 Abs. 1 i.V.m. Art. 28 Rom I VO; genauer MünchKomm/Junker, Art. 28 Rom II VO Rz. 15 f. 19 Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst, 9.9.1886, zuletzt geändert durch Änderungsbeschluss vom 2.10.1979 (BGBl. II 1985, 81) – Revidierte Berner Übereinkunft. Art. 5 Abs. 2 RBÜ normiert das im Urheberrecht herrschende Territorialitätsprinzip; z. Teil wird aus ihm das Schutzlandprinzip hergeleitet. Er stellt keine vorrangige Regelung i.S.d. Art. 27, 28 Rom II VO dar, ausführlich Giedke, Cloud Computing, S. 292 ff., insb. S. 298 f., hier auch zu der ebenfalls denkbaren Einschlägigkeit von Art. 27 Rom II VO in Folge der erweiterten EU-Außenzuständigkeit nach dem Lissabonner Reformvertrag. 20 EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15, NJW 2016, 2727, 2728 Rz. 36; s. auch Erwägungsgrund 7 Rom II VO, der eine Auslegung im Einklang mit der Rom I und Brüssel I (nunmehr Ia) VO vorsieht; Erwägungsgrund 11 Rom II VO für den Begriff der außervertraglichen Schuldverhältnisse; s. auch zu Art. 1 Rom I VO Rz. 5 ausführlich zur autonomen Auslegung m.w.N. 21 Rauscher/Unberath/Cziupka, Einl. Rom II VO Rz. 7; Art. 1 Rom II VO Rz. 20 und 22, wobei eine einseitige privatautonome Bindung zur Bejahung eines Vertrages genügt, EuGH v. 10.1.2005 – Engler/Janus Versand GmbH, Rz. 51. Unter Kontrahierungszwang geschlossene Verträge fallen daher unter die Rom I VO, MünchKomm/Martiny, Bd. 12, Teil 5, Art. 1 Rom I VO Rz. 7. Nach LG Dortmund v. 14.5.2014 – 8 O 46/13, BeckRS 2014, 19175, S. 15 sind nach autonomer Auslegung sämtliche Ansprüche, die „nicht an einen Vertrag anknüpfen“ erfasst. 22 Wagner, IPRax 2008, 1 f. 23 EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15, NJW 2016, 2727, 2728 Rz. 38 f.; Wagner, IPRax 2008, 1 f. 24 Hierzu bereits zu Art. 1 Rom I VO Rz. 7; zur einheitlichen Auslegung zwischen Rom I und Rom II VO Erwägungsgrund 7.

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Anwendungsbereich

Rz. 17 Art. 1 Rom II VO

3. Verbindung zum Recht verschiedener Staaten Das außervertragliche Schuldverhältnis muss eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen, wobei dies Mitgliedstaaten oder auch andere Staaten sein können (vgl. Art. 3 Rom II VO).25 Die Verbindung zu einem anderen Staat kann auch allein durch die Wahl seines Rechts hergestellt werden, was aus Art. 14 Abs. 2 und 3 Rom II VO folgt (s. auch Art. 1 Rom I VO Rz. 9 ff., Erwägungsgrund 7).

13

Ein klassischer Fall im Bereich des IT-Rechts ist z.B. die Verbreitung von Schadprogrammen (Viren) 14 über das Internet26 oder wenn urheberrechtlich geschützte Werke, wie Software oder Musikdateien, in online-Medien ohne ausreichende Reterritorialisierungsmittel27 eingestellt werden und es daher auch zu sog. spill-overs kommt, also der Abrufbarkeit der Werke an Orten, von denen aus der Anbieter keinen Abruf ermöglichen möchte. 4. Ausnahmen vom Anwendungsbereich (Art. 1 Abs. 2 und 3 Rom II VO) Die in den Abs. 2 und 3 aufgelisteten Ausnahmen vom Anwendungsbereich haben kaum IT-rechtsspezifische Relevanz.

15

a) Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte, Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II VO Außervertragliche Schuldverhältnisse aus der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeits- 16 rechte (Abs. 2 lit. g) sind vom Anwendungsbereich der Rom II VO ausgenommen. Dies kann auch die Verletzung von Datenschutzbestimmungen erfassen,28 insb. wenn es um die Verletzung der Privatsphäre geht.29 Eine Verletzung von Urheberpersönlichkeitsrechten, deren Existenz von einem urheberrechtlich geschützten Werk abhängt und die einen untrennbaren Teil des Urheberrechts darstellen, fällt dagegen in den Anwendungsbereich der Rom II VO.30 b) Gesellschaftsrecht, Art. 1 Abs. 2 lit. d Rom II VO Der Ausschluss von außervertraglichen Schuldverhältnissen, die sich aus dem Gesellschaftsrecht etc. 17 ergeben (Abs. 2 lit. d), kann im Zusammenhang mit z.B. kooperativer Entwicklung von (Open Source) Software relevant werden (s. hierzu zu Art. 1 Rom I VO Rz. 16 ff.). Die ausgeschlossenen Rechtsverhältnisse werden von dem bislang nicht vereinheitlichtem internationalen Gesellschaftsrecht erfasst.31 In Bezug auf die persönliche Haftung der Gesellschafter und Organe sind gem. lit. d Ansprüche „für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft“ ausgeschlossen, also solche, die ihren Rechtsgrund im Gesellschaftsrecht haben. Dagegen sind Ansprüche gegen Gesellschafter und Organe aus allgemeinem Deliktsrecht (z.B. aus § 826 BGB) vom Anwendungsbereich der Rom II VO erfasst.32

25 Ist der Sachverhalt insgesamt nur mit Drittstaaten verknüpft, muss zumindest ein die internationale Zuständigkeit der staatlichen Gerichte eines Mitgliedsstaates begründender Umstand vorliegen, denn nur diese haben den Rechtsakt anzuwenden. S. zum Zusammenspiel von internationalem Prozessrecht und Kollisionsrecht bereits Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 3; s. auch Rauscher/Unberath/Cziupka, Einl. Rom II VO Rz. 10. 26 Spindler/Schuster/Bach, Art. 1 Rom II VO Rz. 4. 27 Z.B. Sicherstellung der Abrufbarkeit des Angebots nur von gewissen Territorien (wie bei Youtube) mittels Geoidentifikations- oder Geolocationsverfahren. Zu diesen Verfahren z.B. Svantesson, Geo-identification and the Internet – A New Challenge for Australia’s Internet Regulation, Murdoch University E Law Journal, Vol. 14 No. 2 (2007), http://classic.austlii.edu.au/au/journals/MurdochUeJlLaw/2007/25.pdf, zuletzt abgerufen am 3.1.2020; Giedke, Cloud Computing, Anhang I. 28 Spindler/Schuster/Bach, Art. 1 Rom II VO Rz. 9 unter Verweis auf Verstöße gegen die Datenschutzrichtlinie, EG 95/46 bzw. die Datenschutzgrundverordnung (VO EU 2016/679). 29 Härting, Internetrecht, Rz. 2820. Dies ergibt sich jedoch nicht aus der dort zitierten Entscheidung des OLG Köln vom 25.3.2011 – 6 U 87/10, da im Fall das Lugano-Abkommen maßgeblich war und lediglich hilfsweise gesagt wurde, dass Verletzungen von Datenschutzrechten nicht von dem Urheberrechtsstatut erfasst sei (Rz. 19). 30 Giedke, Cloud Computing, S. 286 f.; im Ergebnis ebenso Sack, WRP 2008, 1405, 1406. 31 Palandt/Thorn, Art. 1 Rom I VO Rz. 12; Rauscher/Unberath/Cziupka, Art. 1 Rom II VO Rz. 53. 32 Palandt/Thorn, Art. 1 Rom I VO Rz. 12. Tendenziell auch Wagner, IPRax, 2008, 1 f.

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Rom II VO Art. 1 Rz. 18 Anwendungsbereich c) Trusts, Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom II VO 18

Der Ausschluss von außervertraglichen Schuldverhältnissen aus den Beziehungen der Beteiligten an einem sog. „Trust“ (Abs. 2 lit. e) kann im Kontext mit Software-Escrow relevant werden (s. hierzu Art. 1 Rom I VO Rz. 19 ff.). d) Schiedsverfahren?

19

Im Gegensatz zur Rom I und Brüssel Ia VO fehlt in der Rom II VO eine Ausnahme für Schiedsvereinbarungen bzw. für Schiedsverfahren (hierzu Art. 1 Rom I VO Rz. 15). Es ist umstritten, ob die Rom II VO das anwendbare Recht auch in Schiedsverfahren33 (und nicht nur in staatlichen Gerichtsverfahren) bestimmen kann.

20

Gegen eine Anwendbarkeit der Rom II VO in Schiedsverfahren wird der intendierte Gleichklang mit der Rom I und Brüssel Ia VO (Erwägungsgrund 7) angeführt, die Schiedsvereinbarungen bzw. die Schiedsgerichtsbarkeit ausschließen.34 Ferner wird auf den Umstand verwiesen, dass die Rom II VO nur wenig Raum für Parteiautonomie lasse, was mit dem Charakter des Schiedsverfahrens nicht gut vereinbar sei35 und ein Schiedsgericht kein „Gericht eines Mitgliedstaats“ sei.36

21

Für eine Anwendbarkeit der Rom II VO sprechen jedoch die besseren Gründe.37 Im Gegensatz zu Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom I VO ist gerade keine Ausnahme für den Schiedskontext in Rom II enthalten. Laut Erwägungsgrund 8 ist die Rom II VO „unabhängig von der Art des angerufenen Gerichts“ anwendbar, was für eine weite Auslegung und die Erfassung von Schiedsgerichten spricht.38 Im Übrigen bezieht sich die Ausnahmeregelung in der Rom I VO nur auf Schiedsvereinbarungen (und somit Prozessverträge) – nicht auf das Schiedsverfahren schlechthin, so dass auch Erwägungsgrund 7 kein anderes Ergebnis verlangt.39 Schließlich belässt die Rom II VO erheblichen Raum für Parteiautonomie – nicht nur in Art. 14 Rom II VO, aber auch über Regelungen wie Art. 4 Abs. 3 oder Art. 5 Abs. 2 Rom II VO, die mittelbar Rechtswahlvereinbarungen der Parteien zur Geltung verhelfen.40 Das OLG München geht wohl ebenfalls von der Anwendbarkeit der Rom II VO im Schiedsverfahren aus.41

III. Einzelfälle und -fragen 22

Bei Angriffen Dritter auf Daten, die in einer Cloud abgespeichert sind (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8), kommt ggf. eine gespaltene Anknüpfung in Betracht. Sofern eine Persönlichkeitsrechtsverletzung gegeben ist (z.B. gespeicherte Daten mit ehrverletzenden Inhalten ersetzt werden42 oder online-Tagebücher eingesehen werden), greift der Ausschlusstatbestand 33 Dazu, weswegen Schiedsverfahren bei IT-Streitigkeiten sinnvoll sein können, s. Art. 1 Rom I VO Rz. 13. 34 Art. 1 Abs. 2 lit. e Rom I VO, der Schiedsvereinbarungen vom Anwendungsbereich der Rom I VO ausnimmt, sowie zu Art. 1 Abs. 2 lit. d Brüssel Ia VO, der die Schiedsgerichtsbarkeit vom Anwendungsbereich der Brüssel Ia VO ausnimmt. 35 Rauscher/Unberath/Cziupka, Art. 1 Rom II VO Rz. 10, die allerdings die Frage aufwerfen, ob nicht die Parteien des Schiedsverfahrens an die Rom II VO gebunden sind und die Rom II VO somit als zwingendes Recht Gegenstand einer mitgliedstaatlichen Überprüfung bzw. einer Vorlage an den EuGH sein kann, Rz. 11. 36 Nueber, SchiedsVZ 2014, 186, 189 f. 37 I.E. auch Wagner, IPRax 2008, 1, 3; Staudinger, AnwBl. 2008, 8, 13; NK-BGB/Knöfel, Art. 1 Rom II VO Rz. 15; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Staudinger, Europarecht, § 22 Rz. 39, der zu Recht darauf verweist, dass dies insofern zu einer Schieflage führt, als Schiedsgerichte nicht nach Art. 267 AEUV ein Vorlageverfahren zum EuGH anstrengen können, dennoch aber der Rom II VO unterworfen sind. Eine Vorlage zum EuGH kann aber ggf. durch ein staatliches Gericht angestrengt werden, das über die Aufhebung eines Schiedsspruchs zu entscheiden hat (§ 1059 ZPO). 38 So Wagner, IPRax 2008, 1, 3, auch mit Verweis auf die noch deutlichere englische Sprachfassung; Staudinger, AnwBl. 2008, 8, 13; Schulze/Zuleeg/Kadelbach/Staudinger, Europarecht. 39 Mankowski, RIW 2011, 30 f. sowie 38, auch dazu, weswegen eine klarstellende Ausnahmeregel in der Rom I VO erforderlich war und in der Rom II VO nicht. S. auch Art. 1 Rom I VO Rz. 15. 40 Hierzu die Kommentierung zu Art. 14, Art. 4 Abs. 3 sowie Art. 5 Abs. 2 Rom II VO. 41 OLG München v. 7.7.2014 – 34 SchH 18/13, BeckRS 2014, 17245 Rz. 29 und 32. 42 Nordmeier, MMR 2010, 151, 153.

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Außervertragliche Schuldverhältnisse

Rz. 3 Art. 2 Rom II VO

für Persönlichkeitsrechtsverletzungen (Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II VO). Werden zugleich die vorhandenen Daten beschädigt (gelöscht, verändert, ganz oder teilweise unbrauchbar gemacht), kommt diesbezüglich eine Anknüpfung nach z.B. Art. 4 Rom II VO wegen Eigentums- oder Besitzverletzung in Betracht. Denn die Beschädigung/Zerstörung von Daten in der Privatsphäre (z.B. innerhalb eines zugangsgesicherten virtuellen Computers in einer Cloud) wird nicht per se von dem Ausschlusstatbestand für Persönlichkeitsrechtsverletzungen erfasst.43

Art. 2 Außervertragliche Schuldverhältnisse (1) Im Sinne dieser Verordnung umfasst der Begriff des Schadens sämtliche Folgen einer unerlaubten Handlung, einer ungerechtfertigten Bereicherung, einer Geschäftsführung ohne Auftrag („Negotiorum gestio“) oder eines Verschuldens bei Vertragsverhandlungen („Culpa in contrahendo“). (2) Diese Verordnung gilt auch für außervertragliche Schuldverhältnisse, deren Entstehen wahrscheinlich ist. (3) Sämtliche Bezugnahmen in dieser Verordnung auf a) ein schadensbegründendes Ereignis gelten auch für schadensbegründende Ereignisse, deren Eintritt wahrscheinlich ist, und b) einen Schaden gelten auch für Schäden, deren Eintritt wahrscheinlich ist. I. Allgemeines – Präzisierung des sachlichen Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

1. Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahrscheinliches Entstehen, wahrscheinlicher Eintritt (Art. 2 Abs. 2 und 3 Rom II VO) . . .

2 4

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines – Präzisierung des sachlichen Anwendungsbereichs Art. 2 Rom II VO präzisiert den sachlichen Anwendungsbereich der Rom II VO, indem er ihn auch auf außervertragliche Schuldverhältnisse erstreckt, die noch nicht entstanden sind, deren Entstehung aber wahrscheinlich ist, Abs. 2. Insb. werden damit vorbeugende Unterlassungsansprüche erfasst.1 Ferner definiert er den zentralen Begriff des „Schadens“ (Abs. 1 und 3).2

1

II. Norminhalt 1. Schaden Der Begriff des Schadens soll in der Rom II VO sämtliche Folgen einer unerlaubten Handlung, einer ungerechtfertigten Bereicherung, einer Geschäftsführung ohne Auftrag oder eines Verschuldens bei Vertragsverhandlungen erfassen, Art. 2 Abs. 1 Rom II VO. Der Begriff des Schadens wird somit auch für auf den ersten Blick unpassende Folgen verwendet (wie die einer GoA).3

2

Zudem genügt für die Rom II VO bereits ein wahrscheinlich eintretender Schaden, Abs. 3 lit. b.

3

43 1 2 3

Nordmeier, MMR 2010, 151, 153. Wagner, IPRax 2008, 1 f. S. § 249 BGB Rz. 10 ff. zu IT-spezifischen Schäden. So kritisieren Rauscher/Unberath/Cziupka diesen Begriff im Zusammenhang mit einem Herausgabeanspruch des Geschäftsherren gegen den ohne Auftrag handelnden Geschäftsführer, Art. 2 Rom II VO Rz. 3; die ungerechtfertigte Erlangung der herauszugebenden Sache wird hier also als „Schaden“ bewertet.

Giedke

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Rom II VO Art. 2 Rz. 4 Außervertragliche Schuldverhältnisse 2. Wahrscheinliches Entstehen, wahrscheinlicher Eintritt (Art. 2 Abs. 2 und 3 Rom II VO) 4

Auch außervertragliche Schuldverhältnisse, deren Entstehen wahrscheinlich ist, sind vom Anwendungsbereich der ROM II VO erfasst. Konkret bedeutet dies, dass die Rom II VO auch auf Abwehransprüche anwendbar ist,4 wie z.B. den vorbeugenden Unterlassungsanspruch.5

Art. 3 Universelle Anwendung Das nach dieser Verordnung bezeichnete Recht ist auch dann anzuwenden, wenn es nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist. I. Allgemeine Einführung – universelle Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendbarkeit mehrerer Rechtsordnungen? . III. Unanwendbarkeit an sich anwendbar erklärten Rechts (Art. 26 Rom II VO) . . . . .

1 2

IV. Geltungsbereich des anwendbaren Rechts (Art. 15 Rom II VO) . . . . . . . . . . . . . . .

4

V. Ausschluss einer Rück- und Weiterverweisung (Art. 24 Rom II VO) . . . . . . . . . . . . . . .

6

3

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeine Einführung – universelle Anwendbarkeit 1

Art. 3 Rom II VO ergänzt den räumlichen Anwendungsbereich der Rom II VO (hierzu schon Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Rom II VO) um die Regelung einer universellen Anwendbarkeit. Zum sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich s. bereits Art. 1 Rom II VO Rz. 2 f. und Art. 2 Rom II VO Rz. 1. Das nach der VO anwendbare Recht muss keinen Bezug zu einem Mitgliedstaat aufweisen, theoretisch kann jede Rechtsordnung weltweit für anwendbar erklärt werden.

II. Anwendbarkeit mehrerer Rechtsordnungen? 2

Art. 3 Rom II VO verfolgt das Ziel, das außervertragliche Schuldverhältnis einheitlich einem Recht zu unterstellen – ungeachtet dessen, ob dies ein Recht eines Mitgliedstaates oder eines Drittlandes ist – und damit einen wichtigen Beitrag zur Rechtssicherheit und Rechtsvereinheitlichung zu leisten.1 Ausnahmsweise können jedoch mehrere Rechtsordnungen nebeneinander zur Anwendung gelangen, so z.B. bei einer abweichenden (teilweisen) Rechtswahl, wie nach Art. 14 Rom II VO möglich,2 oder wenn sog. Eingriffsnormen (Art. 16 Rom II VO) oder Sicherheits- und Verhaltensregeln (Art. 17 Rom II VO) eines anderen Landes einschlägig sind.

III. Unanwendbarkeit an sich anwendbar erklärten Rechts (Art. 26 Rom II VO) 3

Eine Norm des nach Art. 3 Rom II VO für anwendbar erklärten Rechts kann im Einzelfall unanwendbar sein, wenn sie mit dem ordre public des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist, hierzu auch Art. 26 Rom II VO Rz. 1.

4 5 1 2

Palandt/Thorn, Art. 2 Rom II VO Rz. 3. Wagner, IPRax 2008, 1 f. Rauscher/Jakob/Picht, Art. 15 Rom II VO Rz. 2. Hierzu Art. 14 Rom II VO Rz. 7 a.E.; Rauscher/Jakob/Picht, Art. 15 Rom II VO Rz. 2.

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Allgemeine Kollisionsnorm

Art. 4 Rom II VO

IV. Geltungsbereich des anwendbaren Rechts (Art. 15 Rom II VO) Das nach der Rom II VO auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ist insb. maß- 4 gebend für (i) den Grund und den Umfang der Haftung einschließlich der Bestimmung der Personen, die für ihre Handlungen haftbar gemacht werden können (zu letzterem auch Erwägungsgrund 12 Rom II VO), (ii) Haftungsausschlussgründe sowie jede Beschränkung oder Teilung der Haftung, (iii) das Vorliegen, die Art und die Bemessung des Schadens oder der geforderten Wiedergutmachung, (iv) die Maßnahmen, die ein Gericht innerhalb der Grenzen seiner verfahrensrechtlichen Befugnisse zur Vorbeugung, zur Beendigung oder zum Ersatz des Schadens anordnen kann, (v) die Übertragbarkeit, (einschließlich Vererbbarkeit) des Anspruchs auf Schadenersatz oder Wiedergutmachung, (vi) die Personen, die Anspruch auf Ersatz eines persönlich erlittenen Schadens haben, (vii) die Haftung für die von einem anderen begangenen Handlungen, sowie (viii) die Bedingungen für das Erlöschen von Verpflichtungen und die Vorschriften über die Verjährung und die Rechtsverluste, einschließlich der Vorschriften über den Beginn, die Unterbrechung und die Hemmung der Verjährungsfristen und der Fristen für den Rechtsverlust, Art. 15 Rom II VO. Damit sind insb. die Aspekte, die von den IT-rechtlichen Besonderheiten (Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 7) tangiert werden, erfasst (Verletzungshandlungen aus der Ferne, Verletzungserfolg in mehreren Ländern, doppelter Verletzungsgegenstand und, zum Teil, zweifelhafter Handlungsort sowie zweifelhafte Zurechnung der Handlung zu einer Person), Art. 15 lit. a, c und g Rom II VO.

5

V. Ausschluss einer Rück- und Weiterverweisung (Art. 24 Rom II VO) Das nach der Rom II VO anzuwendende Recht erfasst die in dem betreffenden Staat geltenden Rechtsnormen unter Ausschluss derjenigen des Internationalen Privatrechts. De facto stellen die in der Rom II VO vorgesehenen Verweisungen somit Sachnormverweisungen dar.3

Art. 4 Allgemeine Kollisionsnorm (1) Soweit in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, ist auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind. (2) Haben jedoch die Person, deren Haftung geltend gemacht wird, und die Person, die geschädigt wurde, zum Zeitpunkt des Schadenseintritts ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat, so unterliegt die unerlaubte Handlung dem Recht dieses Staates. (3) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass die unerlaubte Handlung eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen als dem in den Absätzen 1 oder 2 bezeichneten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat könnte sich insbesondere aus einem bereits bestehenden Rechtsverhältnis zwischen den Parteien – wie einem Vertrag – ergeben, das mit der betreffenden unerlaubten Handlung in enger Verbindung steht. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – Erfolgsort maßgeblich . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 3

2. Offensichtlich engere Verbindung (Art. 4 Abs. 3 Rom II VO) . . . . . . . . . . . . 14 III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staat, in dem der Schaden eintritt (Art. 4 Abs. 1 Rom II VO) . . . . . . . . . . . .

6

IV. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . . 22

6

3 Rauscher/Unberath/Cziupka, Einl. Rom II VO Rz. 35.

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281

6

Rom II VO Art. 4 Rz. 1 Allgemeine Kollisionsnorm Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – Erfolgsort maßgeblich 1

Die Rom II VO geht als Grundregel von der Anknüpfung am Schadenseintrittsort (lex loci damni) aus (Art. 4 Rom II VO sowie Erwägungsgrund 18 Rom II VO) – also dem Ort des „Erstschadens“ im Gegensatz zu dem Handlungsort oder dem Ort indirekter Schadensfolgen bzw. Folgeschäden.1 Auch bei grenzüberschreitenden Distanzdelikten, bei denen Handlungs- und Erfolgsort in unterschiedlichen Ländern liegen, ist damit der Handlungsort gem. Art. 4 Abs. 1 Rom II VO irrelevant.2 Bewirkt eine Handlung Rechtsgutsverletzungen in mehreren Staaten (sog. Streudelikt), kommt es zur Anwendung des jeweiligen Erfolgsortrechts für die einzelnen Rechtsgutsverletzungen in den einzelnen Ländern (sog. Mosaikbetrachtung).3 Über Art. 17 Rom II VO kann der Handlungsort jedoch in engen Maßen berücksichtigt werden.4

2

Damit weicht die Rom II VO von der bisherigen Praxis Deutschlands5 sowie der meisten Mitgliedstaaten ab, die bisher von der sog. lex loci delicti commissi (Tatortregel) ausgegangen sind. Hierdurch soll größere Rechtssicherheit erzielt werden (Erwägungsgrund 15 Rom II VO). 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

3

Art. 4 Rom II VO statuiert als Grund- und Auffangregelung für außervertragliche Schuldverhältnisse aus unerlaubter Handlung6 die Anknüpfung am Ort des Schadenseintritts (Erfolgsort, Art. 4 Abs. 1, Erwägungsgründe 16–18 Rom II VO). Wegen zahlreicher normierter Ausnahmen ist seine praktische Bedeutung jedoch überschaubar.7

4

Anknüpfungsschema: Vorrangig gelten eine getroffene Rechtswahl (Art. 14 Rom II VO)8 und im Falle spezieller Deliktstypen die Sonderanknüpfungen in Art. 5 bis 9 Rom II VO.9 Ist beides nicht gegeben, ist zu prüfen, ob beide Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 23 Rom II VO) in demselben Staat haben (Abs. 2),10 bevor auf die Grundregel des Abs. 1 zu rekurrieren ist. Das nach Abs. 2 oder 1 gefundene Ergebnis ist jedoch zu korrigieren, falls sich aus der Gesamtheit der Umstände eine offensichtlich engere Verbindung der unerlaubten Handlung mit einem anderen Staat ergibt (Abs. 3).11

5

Als wichtige Korrektur sowohl von der Erfolgsortanknüpfung gem. Abs. 1 bei Distanzdelikten als auch bei der Anknüpfung gem. Abs. 2, ist Art. 17 Rom II VO zu beachten, wonach die Sicherheits-

1 2 3 4 5

6 7 8 9

10 11

Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 1, 3 f.; Erwägungsgrund 16 f. Rom II VO. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 3. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 3. Erwägungsgrund 34; Sesing, MMR 2008, XXIX. Art. 40 EGBGB knüpft an den Handlungsort an (Abs. 1 Satz 1) mit der Möglichkeit des Geschädigten, für den Erfolgsort zu optieren (Abs. 1 Satz 2). Diese Regelung gilt noch für Bereiche fort, die nicht vom Anwendungsbereich der Rom II VO erfasst sind, z.B. die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, Rauscher/ Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 5. Hierzu Art. 2 Abs. 1 Rom II VO, auch vorbeugende Ansprüche auf Unterlassung sind erfasst, Art. 2 Abs. 2 und 3 Rom II VO. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 7. Außer bei Lauterkeits- und Kartellrechtsverstößen, Art. 6 Abs. 4 Rom II VO, und der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, Art. 8 Abs. 3 Rom II VO. Allerdings verweist z.B. Art. 6 Abs. 2 Rom II VO für den Fall betriebsbezogener Lauterkeitsverstöße, die ausschließlich einen bestimmten Mitbewerber beeinträchtigen, auf Art. 4 Rom II VO. Zur Bestimmung des Erfolgsortes in diesen Fällen s. OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k Orientierungssatz 4 – juris, GRUR-Int. 2012, 468, 472 m.w.N. – HOBAS Rohre – Rohrprodukte; OGH Wien v. 9.8.2011 – 17 Ob 6/11y Orientierungssatz 3 – juris, GRUR-Int. 2012, 464, 466 – alcom-international.at sowie unten Art. 6 Rom II VO Rz. 14. Zur möglichen parallelen Anwendung von Art. 4 und Art. 8 Rom II VO s. Rz. 8. Erwägungsgrund 18 Rom II VO. Hierzu auch Wagner, IPRax 2008, 1, 4.

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Allgemeine Kollisionsnorm

Rz. 10 Art. 4 Rom II VO

und Verhaltensregeln zu berücksichtigen sind, die an dem Ort und zu dem Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses (also dem Handlungsort) in Kraft sind.12

II. Norminhalt 1. Staat, in dem der Schaden eintritt (Art. 4 Abs. 1 Rom II VO) Mit Schadenseintrittsort ist der Ort gemeint, an dem der unmittelbare Schaden eintritt, das heißt, bei Verletzungen einer Person, der Ort, an dem die Verletzung erlitten wurde, bei Sachbeschädigungen, der Ort, an dem die Sache beschädigt wurde (Erwägungsgrund 17 Rom II VO).

6

Abstrakt gesprochen, ist der Erfolgsort der Ort des Primärschadens, also der Ort der unmittelbaren Rechts-, Rechtsguts- oder Interessenverletzung (z.B. der Ort, an dem ein primärer Vermögensschaden eintritt13 oder die Eigentums- oder Besitzposition, ggf. der rechtlichen Zuordnung verletzt wird – wie bei der Einwirkung auf den Zielrechner oder auf dort gespeicherte Daten durch Hacking, Einspeisen von Viren oder zeitweisen Blockaden14). Irrelevant sind dagegen der Handlungsort (Ausnahme: Art. 17 Rom II VO15) sowie Orte, an denen indirekte Schadensfolgen, wie sog. Folgeschäden (mittelbare Vermögensschäden aufgrund der Körperverletzung oder Reparaturkosten der beschädigten Sache) eintreten.16

7

Keine Schwierigkeiten ergeben sich daher bei der Beschädigung von Personen durch defekte Hardware, 8 bei der Beschädigung von eindeutig lokalisierter Hardware (z.B. einem Arbeitsplatzrechner) sowie von dort installierten Daten17 oder Software, § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. §§ 303a, 303b StGB – sofern überhaupt Art. 4 Abs. 1 Rom II VO anwendbar ist18 und nicht die vorrangigen Regelungen, insb. Art. 5, 6 und 8 Rom II VO (letzteres z.B. bei Urheberrechtsverletzungen von Software, wobei hier im Einzelfall auch eine gespaltene Anknüpfung möglich ist).19 Das Ausspähen von Daten sowie Datenhehlerei (§ 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. §§ 202a ff. StGB) dürfte dagegen nicht von Art. 4 Abs. 1 Rom II VO erfasst sein, da das Ausspähen per se hier lediglich die Verletzungshandlung sein und der für Art. 4 Abs. 1 Rom II VO relevante Primärschaden erst nachfolgend eintreten dürfte (unter Verwendung der ausgespähten Daten).20

9

Komplexer wird die Beurteilung, wenn eine Handlung zu Schäden in mehreren Ländern führt (sog. Streu- oder Multi-State-Delikt). Dies ist bei der Nutzung elektronischer Medien relativ leicht mög-

10

12 Erwägungsgrund 34 Rom II VO; Wagner, IPRax 2008, 1, 5, der Art. 17 Rom II VO auch auf das Verhalten des Opfers/Fragen des Mitverschuldens anwenden will, S. 6. 13 Ähnlich Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 35 ff. 1, 3 f. Bei einem reinen Vermögensschaden ist auf den Wohn- oder Geschäftssitz des Geschädigten, also am Ort seiner „Vermögenszentrale“ abzustellen, Rz. 42 f. 14 BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 34. 15 Erwägungsgrund 34 Rom II VO; Sesing, MMR 2008, XXIX. 16 Erwägungsgründe 16 und 17 Rom II VO; OLG Koblenz v. 9.12.2011 – 10 U 108/11 Rz. 8, NJOZ 2012, 1764; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 37. 17 Zum deliktischen Schutz von Daten s. Conrad/Grützmacher/Bartsch, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, § 22; sowie Conrad/Grützmacher/Spindler, § 21 S. 293; Nordmeier, MMR 2010, 151, 153 (auch zur Abgrenzung von Persönlichkeitsverletzungen). 18 S. auch zur geringen praktischen Relevanz von Art. 4 Rom II VO bei sog. Internetdelikten Rauscher/Unberath/ Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 130. 19 Verletzungshandlungen in Bezug auf Software können das urheberrechtliche (unkörperliche) Werk betreffen (z.B. bei der Vervielfältigung oder öffentlichen Zugänglichmachung von Software = Urheberrechtsverletzung) und/oder die Werkverkörperung (z.B. bei der Beeinträchtigung durch Viren oder Hacking = Eigentumsverletzung), zu Letzterem Spindler/Schuster/Bach, Art. 4 Rom II Rz. 14 und Palandt/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 29. Sowohl das Immaterialgüterrecht als auch das Eigentums- bzw. Besitzrecht an der Werkverkörperung können z.B. bei Angriffen verletzt werden, bei denen die Software „entstellt“ oder „bearbeitet“ wird i.S.v. §§ 14 und 23 UrhG, z.B. bei einer virenbedingten Fehlfunktion einer Software. In diesen Fällen kommt für die Eigentums-/Besitzverletzung an der Werkverkörperung (dem Datenbestand) eine Anknüpfung über Art. 4 Rom II VO in Betracht und zudem für die Urheberrechtsverletzung eine Anknüpfung nach Art. 8 Rom II VO. 20 Hierzu OLG Celle v. 22.12.2010 – 7 U 49/09, NJW-RR 2011, 1047, 1048.

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283

Rom II VO Art. 4 Rz. 10 Allgemeine Kollisionsnorm lich.21 So kann z.B. von einem Land aus eine Verletzungshandlung ausgehen, die ein Rechnernetzwerk beschädigt, das sich über mehrere Länder erstreckt,22 oder Daten/Software, deren Speicherort Bezugspunkte zu diversen Ländern aufweist (wie z.B. bei einer Speicherung/Installation/Hinterlegung auf virtuellen Servern einer internationalen Cloud,23 zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8). Der nach Art. 4 Abs. 1 Rom II VO maßgebliche Erfolgsort liegt in diesen Fällen in sämtlichen betroffenen Ländern (Lageorte des beschädigten Netzwerkes; Speicherorte der beschädigten Daten/Software) und führt somit zur Anwendbarkeit der entsprechenden Rechtsordnungen.24 11

Als Beispiele für IT-spezifische Verletzungshandlungen, die zu einem Multi-State-Delikt i.R.d. Art. 4 Rom II VO führen können, sind z.B. die Blockade eines Computernetzwerks (oder einer internationalen Cloud) durch sog. E-Mail Bombing, Computerhacking oder Verseuchung mit Viren zu nennen.25 Der Ort der Vornahme der einzelnen Handlungen (an dem der Handelnde den Befehl zum Absenden der E-Mails bzw. der Einspeisung der Viren gegeben hat bzw. sich in den anderen Rechner gehackt hat) ist dabei für die Anknüpfung nach Abs. 1 irrelevant.26

12

Bei derartigen Streudelikten, kann für jedes Land nur der Schaden geltend gemacht werden, der auf seinem Territorium eingetreten ist (sog. Mosaikbetrachtung).27 Im kollisionsrechtlichen worst case, dass die beschädigte Sache weltweite Bezugspunkte aufweist (weltweites Servernetzwerk, bzw. Belegenheit auf einem solchen), wären danach alle Rechtsordnungen weltweit zur Anwendung berufen.28

13

Zum Teil wird kritisiert, dass dies nicht den erklärten Zielen des Verordnungsgesetzgebers entspreche (das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes, die Vorhersehbarkeit des Ausgangs von Rechtsstreitigkeiten sowie Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht zu erreichen),29 weswegen bei

21 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 48. 22 Hierzu auch Nordmeier, MMR 2010, 151, 154. 23 Mit Hilfe von Virtualisierungstechniken (hierzu ausführlich Lehmann/Giedke, CR 2013, 608, 611 ff.) ist es möglich, virtuelle Computer zu generieren, auf denen Software wie auf einem herkömmlichen Computer installiert werden kann. Diese virtuellen Maschinen müssen auf reale Ressourcen zurückgreifen, die im Falle einer Cloud aus einem Servernetz bestehen können, dessen Server in diversen Staaten der Welt belegen sind. Zur effizienten Ausnutzung der verbundenen Ressourcen, können sich die involvierten realen Computer je nach Auslastung ändern. Sobald ein Server an Kapazitätsgrenzen stößt, werden weniger belastete hinzugeschaltet oder die virtuelle Maschine ganz auf sie verschoben. De facto bleibt der tatsächliche Speicherort somit auch rekonstruierbar/vorhersehbar. Ausführlich zum technisch möglichen Hintergrund von Clouds Giedke, Cloud Computing, S. 48 ff. Zum Begriff der „Cloud“ bzw. des „Cloud Computing“ s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8. 24 Hierzu auch Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 281, 283. Im Ergebnis wohl ebenso Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 133 f., die als maßgeblichen Ort bei Datenmanipulationen oder -zerstörungen den Standort des Zielrechners ansehen und im Falle von Streudelikten, das Mosaikprinzip anwenden. Zum Schadenseintrittsort bei Datenbeschädigung s. auch Spindler/Schuster/Bach, Art. 4 Rom II VO Rz. 10 und 14; BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 34 f.; bzgl. Daten von virtuellen Gegenständen auch Sesing, MMR 2008, XXIX. Generell zu Streudelikten MünchKomm/Junker, Bd. 12, Art. 4 Rom II VO Rz. 32; Palandt/ Thorn, Art. 4 Rom II VO Rz. 29. 25 Palandt/Thorn, Art. 4 Rom II VO Rz. 29; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 131. Zur Verbreitung von Viren auch Spindler/Schuster/Bach, Art. 4 Rom II VO Rz. 10 und 18. Zum E-Mail Bombing s. auch zu Art. 9 Rom II VO Rz. 4. 26 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 132. 27 Kommissionsbegründung, KOM (2003) 427 endg., v. 22.7.2003, S. 12 mit Verweis auf das bisherige deutsche Recht; Palandt/Thorn, Art. 4 Rom II VO Rz. 29; Wagner, IPRax 2008, 1, 4; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 49; BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35. Zur Mosaikbetrachtung im Lauterkeitsrecht s. OGH Wien v. 9.8.2011 – 17 Ob 6/11 – y alcom-international.at (Domain Grabbing), GRUR-Int. 2012, 464 Ls. 2 und S. 466; OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k – Orientierungssatz 3 (Art. 6 Abs. 1 Rom II VO) und Orientierungssatz 2 (Art. 8 Rom II VO) – juris, GRUR-Int. 2012, 468, 474 (Art. 6 Rom II VO) und 472 (Art. 8 Rom II VO) – HOBAS Rohre – Rohrprodukte. Zur Mosaikbetrachtung bei der internationalen Zuständigkeit s. EuGH v. 7.3.1995 – C-68/93 – Shevill v. Press Alliance SA, GRUR-Int. 1998, 298. 28 S. zu den „globalen Haftungsrisiken“ in Fällen von E-Mail-Bombing, Computerhacking oder Verseuchung mit Viren auch Palandt/Thorn, Art. 4 Rom II VO Rz. 29. Zur Verbreitung von Viren auch Spindler/Schuster/ Bach, Art. 4 Rom II VO Rz. 10 und 18. 29 Erwägungsgründe 1 und 6 Rom II VO.

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Allgemeine Kollisionsnorm

Rz. 18 Art. 4 Rom II VO

Streudelikten im Internet bzw. bei einem Schadenseintrittsort in einer Cloud zum Teil die Anwendung von Abs. 3 propagiert wird30 – wogegen jedoch beachtliche Gründe sprechen (s. Rz. 17 ff.). 2. Offensichtlich engere Verbindung (Art. 4 Abs. 3 Rom II VO) Als Korrektiv zu den Rechtssicherheit schaffenden Typisierungen der Regelanknüpfungen sieht Abs. 3 für Sonderfälle eine Ausweichklausel vor, wo dies zur Erzielung kollisionsrechtlicher Einzelfallgerechtigkeit erforderlich ist.31

14

Bzgl. Abs. 3 Satz 1 vgl. die Kommentierung zum nahezu wortlautidentischen Art. 4 Abs. 3 und Abs. 4 Rom I VO (Art. 4 Rom I VO Rz. 25 f.).

15

Als Beispiel für eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat gibt Abs. 3 Satz 2 ein 16 bereits bestehendes Rechtsverhältnis zwischen den Parteien (z.B. einen Vertrag) an. Sofern also das schadensstiftende Ereignis im Zusammenhang mit einem bestehenden Vertrag steht, soll es typischerweise dem Parteiinteresse entsprechen, den Schadensausgleich demselben Regime zu unterstellen.32 Damit kann durch eine Rechtswahl nach Art. 3 Rom I VO eine mittelbare Rechtswahl für außervertragliche Schuldverhältnisse aus unerlaubter Handlung i.S.d. Art. 4 Rom II VO bewirkt werden, die nach Art. 14 Rom II VO nicht möglich wäre.33 Dies gilt jedoch nicht für Rechtsverhältnisse zwischen anderen Parteien.34 Bei Streudelikten (und somit häufig bei Internetdelikten) wird vertreten, in Extremfällen auf Abs. 3 zurückzugreifen, um die ausufernde Anwendung diverser Rechtsordnungen zu vermeiden, etwa durch eine Schwerpunktbildung zugunsten eines „Haupterfolgsortes“ oder des „Handlungsortes“ – zumindest wenn auf diesen Ort noch weitere Umstände verweisen.35 Dies darf keinesfalls generell bei Streudelikten greifen, da dies mit dem Ausnahmecharakter des Abs. 3 nicht vereinbar wäre36 und zudem die akzessorische Anknüpfung aufgrund bloß tatsächlicher Verhältnisse (wie im Kommissionsentwurf noch vorhanden) fallen gelassen wurde.37

17

Ferner ist zu beachten, dass der Schädiger bei einem Streudelikt i.d.R. auch bewusst Nutzen daraus zieht, dass seine Verletzungshandlung mehrere Länder tangiert.38 Dem hieraus i.d.R. folgenden größeren Effekt seiner Verletzungshandlung (sei es im Falle eines Angriffs auf eine internationale Cloud39 oder bei einer Verletzung durch Verwendung einer internationalen Cloud) entspricht damit das größere Haftungsrisiko.40 Auch hat das Opfer ein schutzwürdiges Interesse an der Anwendung des Erfolgsortrechtes.41 Schließlich darf nicht verkannt werden, dass allgemein anerkannte staatliche Interessen daran bestehen, auf dem eigenen Staatsgebiet stattfindende Sachverhalte durch das innerstaatliche

18

30 31 32 33 34

35 36 37 38 39 40 41

Nordmeier, MMR 2010, 151, 154 für Cloud Sachverhalte. Erwägungsgrund 14 Rom II VO; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 79. Palandt/Thorn, Art. 4 Rom II VO Rz. 11. Ausführlich Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 98 ff.; Landbrecht, RIW 2010, 783, 786 f. sowie zu Art. 14 Rom II VO Rz. 9. Die Einschränkungen des Art. 14 Rom II VO sind in diesem Rahmen nicht beachtlich (str). Allein der Umstand, dass z.B. ein Webshop-Anbieter in seinen AGB für von ihm abgeschlossene Verträge das Recht seines Sitzstaats für anwendbar erklärt, kann dies nicht im Verhältnis zu Dritten (z.B. einem Verein für Konsumenteninformation) zu einer „offensichtlich engeren Verbindung“ i.S.d. Art. 4 Abs. 3 Rom II VO führen, da anderenfalls die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 Rom II VO umgangen werden könnten, EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15 Rz. 46 f. MünchKomm/Junker, Bd. 12, Art. 4 Rom II VO Rz. 32. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 51; generell zur möglichst zurückhaltenden Anwendung von Abs. 3 MünchKomm/Junker, Bd. 12, Art. 4 Rom II VO Rz. 46; für den Fall der Internet-Delikte auch BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35. Wagner, IPRax 2008, 1, 6. Ähnlich BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35. Zum Begriff s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8. Ähnlich Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 134 m.w.N. Ähnlich BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35.

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Rom II VO Art. 4 Rz. 18 Allgemeine Kollisionsnorm Recht zu erfassen und zu regeln.42 Es dürfen mithin nicht leichtfertig Rechtsordnungen von Staaten für unanwendbar erklärt werden, deren Territorium von dem zu bewertenden Sachverhalt tangiert wird. 19

Somit kann nur in engen Ausnahmefällen auf kollisionsrechtlicher Ebene über Abs. 3 von der Anwendbarkeit der Rechtsordnungen des (der) Erfolgsorts (Erfolgsorte) abgewichen werden.43

20

Allerdings kann auf materiell-rechtlicher Eben das materielle Recht jeder anwendbaren Rechtsordnung vorsehen, dass bei einer zu geringen Betroffenheit der nach dem jeweiligen Recht geschützten Rechte, Rechtsgüter und Interessen, keine (relevante) unerlaubte Handlung vorliegt (s. hierzu auch Art. 8 Rom II VO Rz. 11 ff. insb. 13 und 15). Ein Kläger wird i.d.R. bei nur unbeachtlichen Effekten in manchen Ländern einen diesbzgl. Schaden gar nicht erst einfordern. Es sollte aber ihm überlassen bleiben, was er als „unbeachtlich“ einstuft und ihm nicht auf kollisionsrechtlicher Ebene die Möglichkeit abgeschnitten werden, seinen Schaden an sämtlichen Erfolgsorten geltend zu machen.44

III. Abdingbarkeit 21

Art. 4 Rom II VO ist durch vorrangige Rechtswahl gem. Art. 14 Rom II VO abdingbar. Ferner kann in Fällen, in denen zwischen Schädiger und Verletzten eine Vertragsbeziehung besteht, mittelbar über eine Rechtswahl nach Art. 3 Rom I VO im Zusammenhang mit der Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 Rom II VO die Regelungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 Rom II VO abbedungen werden.45

IV. Einzelfälle und -fragen 22

Für Cloud46-Kontexte, bzw. für den Fall, dass die Bestimmung des Erfolgsortes durch cloudspezifische Besonderheiten erschwert wird (z.B. weil die beschädigten Daten auf virtuellen Servern gespeichert sind, die auf reale Server weltweit Zugriff nehmen), wird erwogen, das Recht zur Anwendung zu bringen, welchem die vertragliche Beziehung zwischen dem Endnutzer und dem Cloud-Computing-Anbieter unterliegt.47 Zwar handele es sich hierbei nicht um die vertragliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigten i.S.v. Abs. 3 Satz 2, doch der Cloud Anbieter speichere und verwalte aufgrund und nach Maßgabe dieser vertraglichen Beziehung die Daten des Endnutzers bzw. hält hiernach Daten zur Verwendung bereit. Daher habe die „Zufälligkeit“ des „Lageorts“, die überhaupt zum Ausweichen auf Abs. 3 führe, ihren Ursprung in diesem Vertrag.48 Alternativ wird auf den Sitz des Betreibers der Cloud abgestellt, da dieser als Beherrscher einer Gefahrenquelle in den Vordergrund rücke.49 Schließ-

42 Zum international weitgehend anerkannten Territorialitätsprinzip und seinen Hintergründen, insb. die Souveränitätstheorie, im urheberrechtlichen Kontext, s. Giedke, Cloud Computing S. 306 ff. 43 Gegen die prinzipielle Einschränkung des relevanten Erfolgsorts bei Internet-Delikten auch BeckOK BGB/ Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35. 44 A.A. Palandt/Thorn, Art. 4 Rom II VO Rz. 29, der ein Aussondern unbeachtlicher Erfolgsorte über Abs. 3 befürwortet. 45 Ausführlich Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 4 Rom II VO Rz. 90 ff., v.a. 98 ff. sowie unten zu Art. 14 Rom II VO Rz. 9. 46 Zum Begriff s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8. 47 Spindler/Schuster/Weller/Nordmeier, 3. Aufl. 2015, Art. 4 Rom II VO Rz. 15 (Spindler/Schuster/Bach in der aktuellen 4. Aufl. 2019, Art. 4 Rom II Rz. 14 erwägt dagegen, denjenigen Ort als Schadensort zu einzustufen, an dem die Daten üblicherweise verwendet werden, und an dem es dementsprechend durch die Datenmanipulation zu einem Schaden kommt. Hiergegen spricht nicht nur der von Bach selbst genannte dogmatische Einwand, dass am „üblichen Verwendungsort“ nur ein für die Anknüpfung unbeachtlicher Folgeschaden vorliegt, sondern auch, dass diese Anknüpfung der Natur von Cloud-Sachverhalten nicht gerecht wird, die sich gerade von „üblichen“ Verwendungsorten lösen und eine ortsungebundene Verwendung ermöglichen.); Nordmeier, MMR 2010, 151, 156. Ähnlich Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 365. 48 Spindler/Schuster/Weller/Nordmeier, 3. Aufl. 2015, Art. 4 Rom II VO Rz. 15. Ähnlich Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 365. 49 Conrad/Grützmacher/Spindler, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, § 21 S. 282, 294.

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Giedke

Allgemeine Kollisionsnorm

Rz. 26 Art. 4 Rom II VO

lich wird vorgeschlagen, in Fällen, in denen der tatsächliche Lageort der beschädigten Daten sowohl aus Sicht des Schädigers wie auch des Geschädigten als „ganz unverbunden und zufällig“ erscheint, über Abs. 3 auf das Aufenthaltsrecht des Opfers auszuweichen.50 Gegen die prinzipielle Abweichung des Erfolgsortsprinzips bei Cloud-Sachverhalten sprechen gleichfalls die unter Rz. 17 f. angeführten Bedenken. Zudem hilft die Anknüpfung an das Vertragsstatut zwischen Cloud-Anbieter und Nutzer nicht bei Clouds, die Verträge mit Nutzern weltweit haben und die Verträge je nach Nutzer anderen Rechtsordnungen unterstellen. Außerdem könnte das Vertragsstatut leicht zu Lasten potentieller Schädiger vorweg manipuliert werden.51

23

Gegen den Ansatz, auf das Aufenthaltsrecht des Opfers auszuweichen, spricht, dass die aufgestellte 24 Prämisse (dass der Lageort der beschädigten Daten ganz unverbunden und zufällig erscheint) nur höchst selten eingreifen wird. Es ist gerade ein erheblicher ökonomischer Vorteil (für alle Beteiligten) des Cloud-Computings, durch Einsatz weit verstreuter (möglichst in verschiedenen Zeitzonen liegender) Server, Ressourcen zu bündeln und je nach Auslastung effektiv auszunutzen. Wenn gerade eine solche Struktur zur Ablage von Daten verwendet wird, ist es weder aus Sicht des Anbieters, noch des Nutzers, noch des Schädigers „unverbunden“, „unvorhersehbar“ oder „zufällig“, dass in mehreren Ländern der Welt ein Schaden eintritt. Sollte letztlich Geschädigter der Cloud-Kunde sein, ist dieser gegen eine möglicherweise schwierige Prozessführung gegen den Verletzer unter Anwendung möglicherweise exotischer Rechtsordnungen durch seinen Vertrag mit dem Cloud-Anbieter geschützt. Ist aber der Cloud-Anbieter verletzt, wird es i.d.R. in seinem Interesse liegen, für sämtliche Standorte seiner Cloud-Server Schadensersatz geltend machen zu können. Es ist ihm auch zumutbar, sich mit den Rechtsordnungen der Länder auseinanderzusetzen, in denen er seine Server aufgestellt hat und von denen er mithin profitiert. Im Grundsatz muss es daher auch hier bei der Anwendung des Rechts der Erfolgsorte bleiben. Die Verwendung missbräuchlicher AGB stellt eine „unerlaubte Handlung“ i.S.d. Art. 4 Rom II VO dar.52

25

Bei einer Klage eines Verbraucherschutzvereins gegen online verwendete AGB, hat der BGH53 gem. 26 Art. 4 Abs. 1 Rom II VO in Anlehnung an die Rspr. zu Art. 5 Nr. 3 Brüssel I VO (jetzt Art. 7 Nr. 3 Brüssel Ia VO) und mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Rom II VO den Schadenseintrittsort als den Ort bestimmt, an dem die AGB „verwendet worden sind oder wahrscheinlich verwendet werden, an dem also die von der Rechtsordnung geschützten kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind oder zu beeinträchtigt werden drohen.“54 Für die Beurteilung der Wirksamkeit der AGB bedarf es bei grenzüberschreitenden Sachverhalten einer gesonderten kollisionsrechtlichen Anknüpfung nach dem

50 BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35. 51 BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 4 Rom II VO Rz. 35. 52 OLG Köln v. 26.2.2016 – I-6 U 90/15, 6 U 90/15 Rz. 49 – juris; LG Frankfurt v. 29.3.2012 – 2-24 O 177/11 Rz. 17 – juris; BGH v. 9.7.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 Rz. 12 und 18; BGH v. 20.5.2010 – Xa ZR 68/09, NJW 2010, 2719 Rz. 14 und 16. 53 BGH v. 9.7.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 – Anwendbares Recht bei transnationaler AGB-Verwendung, Ls. 2 sowie Rz. 18 f.; BGH v. 20.5.2010 – Xa ZR 68/09, NJW 2010, 2719 Rz. 17; LG Frankfurt v. 29.3.2012 – 2-24 O 177/11 Rz. 19 f. – juris. 54 Ebenso LG Berlin v. 28.11.2014 – 15 O 601/12, BeckRS 2015, 02687 – Schadenseintrittsort bei AGB; LG Frankfurt v. 29.3.2012 – 2-24 O 177/11 Rz. 19 f. – juris. Zum Teil wird hieraus gefolgert, generell komme es bei Rechtsverletzungen, die auf Websites begangen werden, für die Beurteilung eines inländischen Erfolgsortes auf die bestimmungsgemäße Abrufbarkeit der Website im Inland an, so Härting, Internetrecht, Rz. 2815. Hiergegen spricht in dieser Allgemeinheit, dass Art. 4 Rom II VO keine vergleichbare Einschränkung wie Art. 6 enthält und es für den BGH bereits genügt, dass ein entsprechender Erfolg „droht“. Es genügt auf kollisionsrechtlicher Ebene also, dass der Erfolgsort im jeweiligen Inland behauptet wird und nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann – wie auch für die internationale Zuständigkeit gem. Art. 5 Nr. 3 Brüssel I bzw. Art. 7 Nr. 3 Brüssel Ia VO (hierzu BGH v. 9.7.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 Rz. 8 ff. und 18 f.; s. auch EuGH. v. 25.10.2011 – C-509/09, C-161/10 e-Date Advertising Rz. 51, der für die internationale Gerichtszuständigkeit allein auf die Zugänglichkeit des Webinhalts abstellt).

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Rom II VO Art. 4 Rz. 26 Allgemeine Kollisionsnorm Vertragsstatut.55 Der BGH hatte noch offengelassen, ob in diesen Fällen Art. 6 Rom II VO direkt anwendbar ist56 – dies hat der EuGH zwischenzeitlich bejaht.57

Art. 5 Produkthaftung (1) Unbeschadet des Artikels 4 Absatz 2 ist auf ein außervertragliches Schuldverhältnis im Falle eines Schadens durch ein Produkt folgendes Recht anzuwenden: a) das Recht des Staates, in dem die geschädigte Person beim Eintritt des Schadens ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, sofern das Produkt in diesem Staat in Verkehr gebracht wurde, oder anderenfalls b) das Recht des Staates, in dem das Produkt erworben wurde, falls das Produkt in diesem Staat in Verkehr gebracht wurde, oder anderenfalls c) das Recht des Staates, in dem der Schaden eingetreten ist, falls das Produkt in diesem Staat in Verkehr gebracht wurde. Jedoch ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem die Person, deren Haftung geltend gemacht wird, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn sie das Inverkehrbringen des Produkts oder eines gleichartigen Produkts in dem Staat, dessen Recht nach den Buchstaben a, b oder c anzuwenden ist, vernünftigerweise nicht voraussehen konnte. (2) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass die unerlaubte Handlung eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen als dem in Absatz 1 bezeichneten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat könnte sich insbesondere aus einem bereits bestehenden Rechtsverhältnis zwischen den Parteien – wie einem Vertrag – ergeben, das mit der betreffenden unerlaubten Handlung in enger Verbindung steht. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – Risikoverteilung . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . Prüfungsreihenfolge . . . . . . . . . Produkt (Art. 5 Abs. 1 Rom II VO) Inverkehrbringen . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

1 1 3 5 6 7 10

4. Staat, in dem das Produkt erworben wurde (Art. 5 Abs. 1 lit. b Rom II VO) . . . . . . . . 5. Staat, in dem der Schaden eingetreten ist (Art. 5 Abs. 1 lit. c Rom II VO) . . . . . . . . 6. Vernünftigerweise nicht voraussehen konnte (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO) . . . . . . . . 7. Und offensichtlich engere Verbindung (Art. 5 Abs. 2 Rom II VO) . . . . . . . . . . .

13 17 18 23

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

55 BGH v. 9.7.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 – Anwendbares Recht bei transnationaler AGB-Verwendung, Ls. 2 sowie Rz. 18 f. 56 BGH v. 9.7.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 – Anwendbares Recht bei transnationaler AGB-Verwendung Rz. 19; ebenso OLG Köln v. 26.2.2016 – I-6 U 90/15, 6 U 90/15 Rz. 49 – juris. 57 EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15, Rz. 42 ff., v.a. Rz. 48 f. und Ls. 1. Genauer heißt es, dass das auf eine Unterlassungsklage im Sinne der RL über Unterlassungsklagen zum Schutz von Verbraucherinteressen (RL 2009/ 22/EG), die sich gegen die Verwendung vermeintlich unzulässiger Vertragsklauseln durch ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen richtet, das im elektronischen Geschäftsverkehr Verträge mit Verbrauchern abschließt, die in anderen Mitgliedstaaten (insb. im Staat des angerufenen Gerichts) ansässig sind, anzuwendende Recht nach Art. 6 Abs. 1 Rom II VO zu bestimmen ist. Bestätigt hat der EuGH, dass das bei der Beurteilung einer bestimmten Vertragsklausel anwendbare Recht stets nach der Rom I VO zu bestimmen ist – unabhängig davon, ob diese Beurteilung im Rahmen einer Individual- oder Verbandsklage vorgenommen wird, Rz. 48 f. und Ls. 1.

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Produkthaftung

Rz. 6 Art. 5 Rom II VO

I. Allgemeines 1. Einführung – Risikoverteilung Ziel der Kollisionsnorm für Produkthaftung ist, eine gerechte Verteilung der Risiken einer modernen, hochtechnisierten Gesellschaft zu bewirken, die Gesundheit der Verbraucher zu schützen, Innovationsanreize zu geben, einen unverfälschten Wettbewerb zu gewährleisten und den Handel zu erleichtern (Erwägungsgrund 20 Rom II VO). Dies wird durch eine Anknüpfungsleiter und eine Vorhersehbarkeitsklausel angestrebt.

1

Das Haager Übereinkommen über das auf die Produkthaftpflicht anzuwendende Recht bleibt in einigen Konstellationen gem. Art. 28 Rom II VO anwendbar, s. hierzu bereits Art. 1 Rom II VO Rz. 9.1

2

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Art. 5 Rom II VO ist für alle Fälle der Produkt- bzw. Produzentenhaftung anwendbar, unabhängig davon, ob Verschuldens- oder Gefährdungshaftung in Rede steht (Erwägungsgrund Nr. 11 Satz 3 Rom II VO). D.h. er beschränkt sich nicht auf das durch die Produkthaftungsrichtlinie harmonisierte, spezialgesetzliche Produkthaftungsrecht, sondern erfasst auch Produkthaftungsansprüche, die auf das allgemeine materielle Deliktsrecht gestützt werden.2 Trotz Erwähnung des Verbraucherschutzes in Erwägungsgrund 20 Rom II VO, ist Art. 5 Rom II VO nicht auf die Haftung gegenüber Verbrauchern beschränkt.3

3

Zu beachten ist, dass über Art. 17 Rom II VO die Sicherheits- und Verhaltensregeln am Ort des haftungsbegründenden Ereignisses im Rahmen der Haftungstatbestände des anwendbaren Rechts zu berücksichtigen sind.

4

II. Norminhalt Art. 5 Rom II VO enthält eine mehrsprossige Anknüpfungsleiter. Hiermit soll dem Element des Zu- 5 falls Rechnung getragen werden, von dem Produkthaftungsfälle häufig gekennzeichnet sind, z.B. was den Zeitpunkt sowie den Ort anbelangt, an dem ein fehlerhaftes Produkt eine Rechtsgutsverletzung verursacht.4 1. Prüfungsreihenfolge 1. Vorrangige Rechtswahl gem. Art. 14 Rom II VO (bei Verbraucherbeteiligung nur nachträglich möglich, Art. 14 Abs. 1 lit. a Rom II VO); ansonsten 2. das Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsorts von Geschädigtem und Ersatzpflichtigem zum Zeitpunkt des Schadenseintritts, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 Rom II VO; ansonsten Sofern das Produkt dort in Verkehr gebracht wurde (und dies für den Hersteller voraussehbar war, arg. eArt. 5 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO): 3. das Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Geschädigten, Art. 5 Abs. 1 lit. a Rom II VO; ansonsten 4. das Recht des Erwerbsorts, Art. 5 Abs. 1 lit. b Rom II VO; ansonsten 5. das Recht des Schadenseintrittsortes, Art. 5 Abs. 1 lit. c Rom II VO; 6. das Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Ersatzpflichtigen, sofern ein Inverkehrbringen des Produkts in den Staaten, deren Recht nach lit. a, b oder c anwendbar wäre, vernünftigerweise nicht voraussehbar war, Abs. 1 Satz 2; 1 2 3 4

Auch Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 2. KOM (2003) 427 endg., S. 14 f.; MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 12. Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 3. MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 2 ff.; Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 4 ff.

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6

Rom II VO Art. 5 Rz. 6 Produkthaftung 7. ausnahmsweise das Recht des Staates, mit dem die unerlaubte Handlung eine offensichtlich engere Verbindung als mit einem anderen der in Abs. 1 bezeichneten Staaten aufweist, z.B. aus einem bereits bestehenden Vertrag, Art. 5 Abs. 2 Rom II VO. Eine vorrangige Rechtswahl wird durch Art. 5 Abs. 2 Rom II VO nicht berührt.5 2. Produkt (Art. 5 Abs. 1 Rom II VO) 7

Die autonome Auslegung von „Produkt“ i.S.d. Art. 5 Rom II VO orientiert sich an der Legaldefinition in Art. 2 Produkthaftungs-Richtlinie.6

8

Es ist umstritten, ob Software als Produkt in diesem Sinne anzusehen ist.7 Gleichermaßen stellt sich die Frage bei sonstigen digitalen oder virtuellen Gütern wie digitalisierten Bildern, Texten, Grafiken, Avataren oder Items aus online Spielen. Gegen eine Einordnung als Produkt wird angeführt, dass Art. 2 Produkthaftungs-RL „Produkte“ als bewegliche Sachen definiert, es bei Software aber an der erforderlichen Stofflichkeit fehle. Ferner wird zumindest bei werkvertraglich hergestellter Individualsoftware vertreten, dass diese als Werk und nicht als Produkt zu qualifizieren sei. Dennoch sollen Schäden, die den jeweiligen Datenträger oder das auf diesem gespeicherte Programm erfassen, von Art. 5 Rom II VO erfasst sein.8

9

Richtigerweise sind Software und sonstige digitale sowie virtuelle Güter nach der UsedSoft-Rspr. des EuGH sowie den Wertungen aus dem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht und im Einklang mit Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I VO als bewegliche Sachen und somit auch als Produkte i.S.d. Art. 5 Rom II VO einzuordnen.9 Dies wird auch durch den systematischen Zusammenhang mit dem Merkmal des „Inverkehrbringens“ bestätigt, das lediglich verlangt, dass das Produkt zirkulieren kann (im Gegensatz zu unbeweglichen Gegenständen). Weitere Einschränkungen sind weder im Wortlaut des Art. 5 Rom II VO angelegt, noch werden sie vom Zweck der Norm gefordert.10 Schließlich spricht hierfür, dass Art. 5 Rom II VO auch die deliktsrechtlichen Produkthaftungsansprüche nach z.B. § 823 BGB erfasst, wovon Schäden durch Software ohne weiteres erfasst sind. 3. Inverkehrbringen

10

„Inverkehrbringen“ ist im Sinne von „Vermarkten“ zu verstehen,11 d.h. maßgeblich sind die Orte, an die die Produkte (Produktgattung)12 an die bestimmungsgemäßen Endabnehmer vertrieben werden.13 5 MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 9; Wagner, IPRax 2008, 1, 7. 6 RL 85/374/EWG. KOM(2003) 427 endg. S. 14; Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 3 m.w.N.; Spindler/Schuster/Bach, Art. 5 Rom II VO Rz. 3 f. m.w.N. 7 Hierzu Spindler/Schuster/Bach, Art. 5 Rom II VO Rz. 4 ff. m.w.N. 8 So noch Spindler/Schuster/Weller/Nordmeier, 3. Aufl. 2015, Art. 5 Rom II VO Rz. 2. Zum Meinungsstand Spindler/Schuster/Bach, Art. 5 Rom II VO Rz. 4 ff. m.w.N. Restriktiv beispielsweise Spindler, MMR 1998, 119, 120 f. 9 Hierzu bereits oben zu Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I VO (Art. 4 Rom I VO Rz. 8 ff. m.w.N.). Im Ergebnis auch Stellungnahme der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8.5.1989, ABl. EG C 114/76, 42; Rauscher/ Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 40; Kilian/Heussen/Littbarski, Computerrechts-Handbuch, Produkthaftung Rz. 44 ff. m.w.N.; Lehmann, NJW 1992, 1721, 1724; Geigel/Wellner, Haftpflichtprozess, Kap. 14 Rz. 323; Spindler/Schuster/Bach, Art. 5 Rom II VO Rz. 5. Zur Einordnung von Standard- sowie Individualsoftware als bewegliche Sache i.S.d. § 381 Abs. 2 HGB s. bereits BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2437 f. 10 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 40. 11 S. bereits die englische Sprachfassung der Rom II VO; zu Art. 11 Produkthaftungs-RL auch EuGH v. 9.2.2006 – C-127/04 – Declan O’Byrne/Sanofi Pasteur MSD Ltd. u.a., Rz. 27 und 32, wonach die Orte maßgeblich sind, an denen das Produkt den vom Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist, in dem es in ge- oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich angeboten wird. 12 Auf das Inverkehrbringen des individuellen Stücks kommt es nicht an, hierzu MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 27 m.w.N.; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 81 ff.; Wagner, IPRax 2008, 1, 7. 13 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 75. Inverkehrbringen denkbar durch Übergabe an konzerneigene Tochter, allerdings Abgrenzung zur Phase der Herstellung erforderlich, EuGH v. 9.2.2006 –

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Produkthaftung

Rz. 16 Art. 5 Rom II VO

Ein Produkt kann nur dann als „in Verkehr gebracht“ angesehen werden, wenn es die Sphäre des Produzenten aufgrund eines freiwilligen Entschlusses des Haftenden verlassen hat.14 Jedoch kommt es in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 lit. a bis c Rom II VO nicht darauf an, dass das Inverkehrbringen in dem jeweils betroffenen Land selbst durch den Haftenden bewirkt wurde – wie sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO ergibt.15 Aus IT-Sicht fraglich ist insb., ob ein Produktangebot auf einer Website per se zu einem weltweiten Inverkehrbringen führt. Dies ist abzulehnen, da eine solche Auslegung zu Wertungswidersprüchen mit Art. 6 Abs. 1 lit. b Rom I VO (s. auch Erwägungsgrund 24 Rom I VO) bzw. Art. 17 Abs. 1 lit. c Brüssel Ia VO führen würde, die jeweils ein „Ausrichten“ der Tätigkeit auf den jeweiligen Staat erfordern.16 Wer nicht einmal das (online) Angebot seines Produkts auf einen bestimmten Staat ausrichtet, bringt es dort erst recht nicht in Verkehr. Zudem muss neben dem online Angebot, das auf den betreffenden Staat ausgerichtet ist, auch noch der Verkauf bzw. die Lieferung in den betreffenden Staat hinzukommen.17

11

Auch das Verteilen von Gratisware ist als Inverkehrbringen anzusehen, sofern dies zumindest auch zu kommerziellen und nicht zu rein karitativen Zwecken erfolgt.18 Werden Hard- oder Softwareprodukte zu Werbemaßnahmen verschenkt oder ihre Nutzungsmöglichkeit überlassen und im Gegenzug z.B. Daten der Nutzer gesammelt oder mit dem Angebot Marketing oder Werbezwecke verfolgt, ist daher von einem Inverkehrbringen auszugehen.

12

4. Staat, in dem das Produkt erworben wurde (Art. 5 Abs. 1 lit. b Rom II VO) Wörtlich erfasst Abs. 1 lit. b nur den Warenkauf. Richtigerweise wird jedoch als Erwerbsort allgemein der Ort erfasst, an dem das mangelhafte Produkt dem Geschädigten zur Verfügung gestellt wurde.19 Umfasst sind daher neben Kauf auch Werkverträge, Miete und Leasing sowie vergleichbare Erwerbsvorgänge,20 solange diese als kommerzielle Tätigkeit einzustufen sind.21

13

Der kostenlose Erwerb von z.B. Software oder sonstigen digitalen oder virtuellen Produkten kann – ebenso wie ein Inverkehrbringen – als Erwerb im Sinne von Abs. 1 lit. b anzusehen sein, sofern dies zumindest auch zu kommerziellen und nicht zu rein karitativen Zwecken erfolgt.22

14

Der Erwerbsort ist der Ort, an dem der Geschädigte die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Gegenstand erlangt hat; beim Fernabsatz somit grundsätzlich der Empfangsstaat.23

15

Aus IT-rechtlicher Sicht problematisch kann die Bestimmung des Erwerbsorts bei dem Erwerb eines virtuellen Items für eine online-Spielfigur oder einer Software zur Nutzung in einer (gemieteten, internationalen) Cloud sein (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO

16

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

C-127/04 – Declan O’Byrne/Sanofi Pasteur MSD Ltd. u.a., Rz. 29 f.; kein Inverkehrbringen i.S.d. ProdukthaftungsRL bei Verwendung des Produkts gegen den Willen des Herstellers, EuGH v. 10.5.2001 – C-203/99, Rz. 16. EuGH v. 9.2.2006 – C-127/04 – Declan O’Byrne/Sanofi Pasteur MSD Ltd. u.a., Rz. 24 sowie EuGH v. 10.5.2001 – C-203/99 – Veedfald, Rz. 16 = EuZW 2001, 378, 380 für Art. 7 lit. a Produkthaftungs-RL; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 78 ff. MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 29; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 76. Hierzu Kommentierung zu Art. 6 Rom I VO Rz. 3. Im Ergebnis ebenso Spindler/Schuster/Bach, Art. 5 Rom II VO Rz. 13 f., der statt des „Ausrichtens“ den Begriff der „Vermarktung“ in den Vordergrund rückt. Ohne IT-Bezug auch MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 29 m.w.N. Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 9. Hierfür spricht der Normzweck, das Marktortprinzip zu realisieren. Der Vertriebskanal ist hierbei unerheblich, solange er kommerziell betrieben wird, ähnlich Rauscher/Unberath/ Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 64 (analoge Anwendung). MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 35. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 65, die jedoch einen Erwerb durch Schenkung ablehnen. Ohne IT-Bezug auch MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 35 sowie für das Inverkehrbringen auch Rz. 29 m.w.N. A.A. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 5 Rom II VO Rz. 65. Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 9; MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 35.

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291

Rom II VO Art. 5 Rz. 16 Produkthaftung Rz. 8). Sofern das Item nur in dem Online-Spiel verwendet werden kann (und somit nur dort die tatsächliche Gewalt hierüber besteht) bzw. die Software nur innerhalb der Cloud genutzt werden kann, könnte als „Empfangsstaat“ und somit als Erwerbsort i.S.d. Art. 5 Abs. 1 lit. b Rom II VO auch der Ort anzusehen sein, an dem das erworbene digitale oder virtuelle Gut belegen bzw. nutzbar ist. Da bei einem Erwerb letztlich einer natürlichen Person Verfügungsgewalt eingeräumt wird, ist jedoch richtiger Ansicht nach – wie in klassischen Fernabsatzfällen – der Ort maßgeblich, an dem sich der Erwerber zum Zeitpunkt des Erwerbs aufhält. 5. Staat, in dem der Schaden eingetreten ist (Art. 5 Abs. 1 lit. c Rom II VO) 17

S. hierzu die Kommentierung zu Art. 4 Abs. 1 Rom II VO (Art. 4 Rom II VO Rz. 6 ff.). 6. Vernünftigerweise nicht voraussehen konnte (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO)

18

Die Vorhersehbarkeitsklausel ist unmittelbar nur anwendbar, wenn an sich eine der Anknüpfungen des Abs. 1 Satz 1 lit. a bis c gegeben ist. Analog anwendbar ist sie, wenn überhaupt kein Inverkehrbringen des Produkts in einem der in lit. a bis c genannten Staaten gegeben ist.24 Unanwendbar ist sie bei der vorrangigen Anwendung von Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 Rom II VO.25

19

Fraglich ist, ob bei online angebotenen und aus technischer Hinsicht ohne weiteres online weitervertreibbaren Produkten ein weltweiter Vertrieb grundsätzlich als vorhersehbar anzusehen ist. Zum Teil wird aufgrund der heutigen hohen Beweglichkeit vieler Produkte und weit verzweigter internationaler Absatzketten der Relevanz des Vorbehalts nach Abs. 1 Satz 2 eine geringe praktische Rolle beigemessen,26 so dass dies erst recht bei digitalen oder virtuellen Gütern angenommen werden könnte.

20

Hiergegen wird angeführt, dass diese Auslegung das Merkmal der Voraussehbarkeit entwerten27 und somit der intendierten einschränkenden Wirkung der Klausel widersprechen würde. Es müsse eine Entlastung durch den Nachweis fehlender positiver Kenntnis des Inverkehrbringens oder entsprechender Anhaltspunkte möglich bleiben.28

21

In jedem Fall sollte Vorhersehbarkeit dann ausscheiden, wenn der Produzent alle zumutbaren Vorkehrungen gegen den Vertrieb in einem bestimmten Land getroffen hat, etwa durch entsprechende Regelungen in seinen Vertriebsverträgen sowie auf seiner Website samt entsprechender technischer Vorkehrungen bzgl. des eigenen Vertriebs (z.B. durch das Blockieren bestimmter IP Adressen durch sog. Geosperren).29

22

Fraglich ist ferner, ob bei Auslegung der Voraussehbarkeit auf die Rspr. zum Merkmal des „Ausrichtens auf ein Staatsgebiet“ (wie z.B. in Art. 17 lit. c Brüssel Ia VO oder Art. 6 Abs. 1 lit. b Rom I VO)30 zurückgegriffen werden kann. Dies ist insofern zu bejahen, als in allen Ländern, auf die der Ersatzpflichtige sein Produktangebot „ausrichtet“, ein Inverkehrbringen auch vernünftigerweise voraussehbar i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO ist.31 24 Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 11; MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 46; Wagner, IPRax 2008, 1, 7. 25 Vgl. den klaren Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 Rom II VO sowie MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 43 m.w.N. 26 Kadner Graziano, RabelsZ 73 (2009), 1, 43. 27 Im Kontext mit Internetangeboten Spindler/Schuster/Bach, Art. 5 Rom II VO Rz. 18. 28 Palandt/Thorn, Art. 5 Rom II VO Rz. 11; MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 44, der zudem auf den fehlenden Willen des Inverkehrbringens abstellt. 29 Zu technischen Maßnahmen Zugriffe aus bestimmten Ländern zu unterbinden s. auch Giedke, Cloud Computing, Anhang I m.w.N. sowie Svantesson, Geo-identification and the Internet – A New Challenge for Australia’s Internet Regulation, Murdoch University E Law Journal, Vol. 14 No. 2 (2007), http://classic.austlii. edu.au/au/journals/MurdochUeJlLaw/2007/25.pdf, zuletzt abgerufen am 3.1.2020. 30 Hierzu Kommentierung zu Art. 6 Rom I VO Rz. 3. 31 Anderer Ansicht MünchKomm/Junker, Art. 5 Rom II VO Rz. 44, wegen der aus Junkers Sicht geringen Anforderungen, die der EuGH an das Ausrichten einer Tätigkeit im Rahmen des Art. 17 lit. a EuGVVO n.F. stellt. Eine zu großzügige Auslegung des Voraussehbarkeitskriteriums würde dem Abs. 1 Satz 2 seiner einschränkenden Wirkung berauben.

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Unlauterer Wettbewerb/Wettbewerb einschränkendes Verhalten

Rz. 1 Art. 6 Rom II VO

7. Und offensichtlich engere Verbindung (Art. 5 Abs. 2 Rom II VO) S. hierzu die Kommentierung zu Art. 4 Abs. 3 Rom II VO (Art. 4 Rom II VO Rz. 14 ff.).

23

Art. 6 Unlauterer Wettbewerb und den freien Wettbewerb einschränkendes Verhalten (1) Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus unlauterem Wettbewerbsverhalten ist das Recht des Staates anzuwenden, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind oder wahrscheinlich beeinträchtigt werden. (2) Beeinträchtigt ein unlauteres Wettbewerbsverhalten ausschließlich die Interessen eines bestimmten Wettbewerbers, ist Artikel 4 anwendbar. (3) a) Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten ist das Recht des Staates anzuwenden, dessen Markt beeinträchtigt ist oder wahrscheinlich beeinträchtigt wird. b) Wird der Markt in mehr als einem Staat beeinträchtigt oder wahrscheinlich beeinträchtigt, so kann ein Geschädigter, der vor einem Gericht im Mitgliedstaat des Wohnsitzes des Beklagten klagt, seinen Anspruch auf das Recht des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts stützen, sofern der Markt in diesem Mitgliedstaat zu den Märkten gehört, die unmittelbar und wesentlich durch das den Wettbewerb einschränkende Verhalten beeinträchtigt sind, das das außervertragliche Schuldverhältnis begründet, auf welches sich der Anspruch stützt; klagt der Kläger gemäß den geltenden Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit vor diesem Gericht gegen mehr als einen Beklagten, so kann er seinen Anspruch nur dann auf das Recht dieses Gerichts stützen, wenn das den Wettbewerb einschränkende Verhalten, auf das sich der Anspruch gegen jeden dieser Beklagten stützt, auch den Markt im Mitgliedstaat dieses Gerichts unmittelbar und wesentlich beeinträchtigt. (4) Von dem nach diesem Artikel anzuwendenden Recht kann nicht durch eine Vereinbarung gemäß Artikel 14 abgewichen werden. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – präzisierter Erfolgsort . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 4

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staat, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind/ wahrscheinlich beeinträchtigt werden (Art. 6 Abs. 1 Rom II VO) . . . . . . . . . . . .

7

2. Ausschließliche Beeinträchtigung der Interessen eines bestimmten Mitbewerbers (Art. 6 Abs. 2 Rom II VO) . . . . . . . . . . . . 13 3. Marktbeeinträchtigung (Art. 6 Abs. 3 lit. a und b Rom II VO) . . . . . . . . . . . . . . . . 18 III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 IV. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . . 20

7

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – präzisierter Erfolgsort Art. 6 Rom II VO enthält eine Sonderkollisionsregel sowohl für außervertragliche Schuldverhältnisse aus unlauterem Wettbewerbsverhalten (Lauterkeitsrecht, Abs. 1 und 2) als auch aus einem den Wettbewerb einschränkenden Verhalten (Kartellrecht, Abs. 3).1 1 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 1.

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1

Rom II VO Art. 6 Rz. 2 Unlauterer Wettbewerb/Wettbewerb einschränkendes Verhalten 2

Art. 6 Rom II VO präzisiert die allgemeine Regel der Erfolgsortanknüpfung des Art. 4 Abs. 1 Rom II VO für Fälle des marktbezogenen unlauteren Wettbewerbs (Abs. 1) und des den freien Wettbewerb einschränkenden Verhaltens (Abs. 3).2 Maßgeblich ist das Recht des (wahrscheinlich) beeinträchtigten Marktes.3 Eine vorrangige Rechtswahl ist in diesem Bereich nach Abs. 4 ausgeschlossen.

3

Werden nur die Interessen eines bestimmten Wettbewerbers beeinträchtigt (konkurrentenbezogener Verstoß gegen Wettbewerbsrecht), bestimmt sich das anwendbare Recht gem. Art. 4 Abs. 2 Rom II VO nach dem gemeinsamen Aufenthaltsort, Art. 6 Abs. 2 Rom II VO,4 weswegen in diesen Fällen auch eine vorrangige Rechtswahl möglich bleibt.5 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

4

Das in Abs. 1 und 2 geregelte Lauterkeitsrecht erfasst als Marktdeliktsrecht die Regulierung des Verhaltens der Marktakteure auf einem Wettbewerbsmarkt.6 Dagegen dient das von Abs. 3 erfasste (nationale und europäische) Kartellprivatrecht (s. Art. 1 Abs. 1 Rom II VO)7 der Herstellung oder Erhaltung eines derartigen Wettbewerbsmarktes.8

5

Sofern ein Verstoß gegen Lauterkeitsrecht zugleich ein gewerbliches Schutzrecht verletzt, geht Art. 8 Rom II VO als lex specialis vor.9 Fällt das wettbewerbswidrige Verhalten in den Anwendungsbereich der E-Commerce-Richtlinie, ergibt sich hieraus jedoch keine abweichende Anknüpfung (insb. greift nicht das sog. Herkunftslandprinzip). Denn die E-Commerce-Richtlinie hat keinen kollisionsrechtlichen Gehalt.10

6

Mit Blick auf IT-spezifische Besonderheiten scheint v.a. das Lauterkeitsrecht relevant zu sein, insb. der aus dem deutschen Recht bekannte Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen (§ 17 UWG a.F.), die unbefugte Verwertung von anvertrauten Vorlagen oder Vorschriften technischer Art (§ 18 UWG a.F.) – zu beidem nun § 4 GeschGehG – sowie das Anbieten von Nachahmungen von Waren oder Dienstleistungen eines Mitbewerbers (§ 4 Nr. 3 UWG) oder die gezielte Behinderung von Wettbewerbern (§ 4 Nr. 4 UWG).

2 Erwägungsgrund 21 Rom II VO; EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15, NJW 2016, 2727, 2728 Rz. 41; BGH v. 9.7.2009 – Xa ZR 19/08, NJW 2009, 3371 Rz. 19. 3 Erwägungsgrund 21 Rom II VOa.E.; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 1. 4 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 5. 5 Str.; wie hier: Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 49; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 19. 6 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 1. 7 Das behördliche Kartellrecht mit straf- und ordnungswidrigkeitsrechtlichen Elementen ist wegen Art. 1 Abs. 1 Rom II VO nicht erfasst, Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 64; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 7. 8 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 1; Erwägungsgrund 22 Rom II VO; Beispiele betroffener Fallgruppen sind in Erwägungsgrund 23 Rom II VO genannt. 9 Z.B. wenn ein Mitbewerber unter urheberrechtsverletzenden Produktkopien mit dem Geschädigten auf demselben Markt auftritt, s. Spindler/Schuster/Bach, Art. 6 Rom II VO Rz. 3; s. auch Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 4 m.w.N. aus der Lit. 10 EuGH v. 25.10.2011 – C-509/09 und C- 161/10 – eDate Advertising ./. Martinez Rz. 60 ff.; zu § 3 TMG OLG Hamm v. 17.12.2013 – 4 U 100/13 Rz. 38, GRUR-RS 2014, 01726 – Deutschsprachige Website eines ägyptischen Reiseanbieters; LG Karlsruhe v. 16.12.2011 – 14 O 27/11 Rz. 54 – juris. Hierzu auch Art. 1 Rom II VO Rz. 7 ff. sowie Spindler/Schuster/Bach, Art. 6 Rom II VO Rz. 2 sowie Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 16 f. A.A. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 342.

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Unlauterer Wettbewerb/Wettbewerb einschränkendes Verhalten

Rz. 10 Art. 6 Rom II VO

II. Norminhalt 1. Staat, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind/wahrscheinlich beeinträchtigt werden (Art. 6 Abs. 1 Rom II VO) Abs. 1 knüpft an dem Ort der wettbewerblichen Interessenkollision an11 („Marktortprinzip“).12 Bei Streudelikten, bei denen die Handlung an einem Ort mehrere Märkte berührt bzw. sich auf diese auswirkt,13 kann dies zu einer Beurteilung nach mehreren Rechten führen.14 Bei regional nicht beschränkbaren Wettbewerbshandlungen kann es faktisch zu einem weltweiten Verbot des durch das Recht eines Marktorts inkriminierten Verhaltens kommen.15

7

Moderne Informationstechnologien erleichtern die Entkoppelung von Handlungs- und Erfolgsort, so dass im IT-Bereich die Fallgruppe der Streudelikte besondere Relevanz hat (z.B. wettbewerbswidrige online-Werbemaßnahmen,16 die gezielte Behinderung von online-Werbemaßnahmen eines Konkurrenten, das Hacken, Ausspionieren und illegale Nutzen einer international aufgestellten IT-Struktur eines Wettbewerbers oder die Beschädigung oder Lahmlegung der konkurrierenden IT-Struktur durch Einschleusen von Viren o.Ä.).17

8

Die Frage, wie bei wettbewerbswidrigem Handeln online die Anwendung mehrerer Rechtsordnungen 9 vermieden werden kann, ähnelt der entsprechenden Frage im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 lit. b Rom I VO („Ausrichten“ seiner beruflichen Tätigkeit auf einen Staat)18 sowie im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 Rom II VO („Inverkehrbringen“ eines Produkts in einem bestimmten Staat).19 Art. 6 Abs. 1 Rom II VO verlangt den schlüssigen Vortrag, dass eine Beeinträchtigung der Wettbewerbsbeziehungen oder der kollektiven Verbraucherinteressen vorliegt oder zumindest in Zukunft wahrscheinlich ist.20 Auch hier kommt eine Enthaftung bzw. Beschränkung der anwendbaren Rechtsordnungen somit in 10 Betracht, wenn ausreichend Maßnahmen zur Verhinderung entsprechender Auswirkungen auf das jeweilige Inland ergriffen werden und sich hieraus ergibt, dass der Internet-Auftritt sich nicht bestimmungsgemäß auf das betreffende Inland auswirkt.21 Die Gerichte stellen hier eine Gesamtbetrachtung an22 und berücksichtigen als Indizien z.B. Disclaimer, sofern diese klar und eindeutig formuliert

11 Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 9. 12 GmS-OGB v. 22.8.2012 – GmS-OGB 1/10, GRUR 2013, 417 f.; OLG Köln v. 14.3.2014 – 6 U 172/13, GRURRR 2014, 298 – Endpreis einer Hotelübernachtung – Tourismusabgabe. 13 LG Karlsruhe v. 16.12.2011 – 14 O 27/11 KfH III, VuR 2013, 185; BGH v. 30.3.2006 – I ZR 24/03, GRUR 2006, 513 Rz. 25 – Arzneimittelwerbung im Internet: nach dem Marktortprinzip ist das Recht eines Staates anwendbar, auf den sich das online Angebot bestimmungsgemäß auswirkt. 14 OGH Wien v. 28.11.2012 – 4 Ob 202/12b, GRUR-Int. 2013, 580. 15 Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 9; Lindacher, GRUR-Int. 2008, 453, 454 f.; Rauscher/Unberath/Cziupka/ Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 35. 16 Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 10; eindeutige Ausrichtung eines Internetauftritts auf deutsche Kunden: OLG Köln v. 14.3.2014 – 6 U 172/13, GRUR-RR 2014, 298 – Endpreis einer Hotelübernachtung – Tourismusabgabe; im Zweifel weltweite Ausrichtung von Werbemaßnahmen im Internet und Prüfung der bestimmungsgemäßen Auswirkung im Inland nach denselben Maßstäben wir im Rahmen der internationalen Zuständigkeit (Behauptung der inländischen Verletzung, die nicht von vornherein ausgeschlossen ist), LG Karlsruhe v. 16.12.2011 – 14 O 27/11 Rz. 52 f. i.V.m. 45 f. – juris. 17 Zur Versendung von Schadprogrammen an Endnutzer als Fall des Abs. 1 s. auch Spindler/Schuster/Bach, Art. 6 Rom II VO Rz. 13; zu im IT-Recht relevanten unlauteren Wettbewerbshandlungen s. schon Rz. 6. 18 Hierzu bereits zu Art. 6 Rom I VO Rz. 3. 19 Hierzu Art. 5 Rom II VO Rz. 11. 20 Zur Prüfung von Art. 6 Abs. 1 Rom II VO im Falle eines online Wettbewerbsverstoßes OLG Düsseldorf v. 12.9.2019 – 15 U 48/19, BeckRS 2019, 24920 Rz. 48 f. i.V.m. Rz. 3, 8, 18. 21 Zum Kriterium des bestimmungsgemäßen Auswirkens im Inland s. BGH v. 30.3.2006 – I ZR 24/03, GRUR 2006, 513 Rz. 25 – Arzneimittelwerbung im Internet; OLG Düsseldorf v. 12.9.2019 – 15 U 48/19, BeckRS 2019, 24920 Rz. 48 f. i.V.m. Rz. 8; LG Karlsruhe v. 16.12.2011 – 14 O 27/11, IPRspr. 2011, Nr. 166, 398-400, Rz. 52 – juris; Glöckner/Kur, GRUR-Beilage 2014, 29, 33 f.; Sack, WRP 2008, 845, 852. 22 OLG Düsseldorf v. 12.9.2019 – 15 U 48/19, BeckRS 2019, 24920 Rz. 48 f. i.V.m. Rz. 8 ff., 18 zum fehlenden Disclaimer.

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Rom II VO Art. 6 Rz. 10 Unlauterer Wettbewerb/Wettbewerb einschränkendes Verhalten und ernst gemeint sind sowie tatsächlich befolgt werden23 oder regionale Beschränkungen der Ausrichtung einer Website durch z.B. die verwendete Sprache, Währung24 oder Geosperren.25 11

Auf kollisionsrechtlicher Ebene nicht anzuwenden ist dagegen ein (ungeschriebenes) Spürbarkeitskriterium – dies ist der materiell-rechtlichen Ebene vorbehalten.26 Eine Ausweichklausel, die die Anwendung nur eines einzigen Rechts bei Streudelikten ermöglicht, ist in Abs. 1 gerade nicht vorgesehen27 – im Gegensatz zu Abs. 3 lit. b.

12

Bei Schadensersatzansprüchen erfasst das Recht des Marktorts nur den auf dem jeweiligen Markt erlittenen Schaden (Mosaikbetrachtung). Bei Unterlassungsansprüchen kann sich bei unteilbaren Streudelikten das strengste Recht durchsetzen.28 2. Ausschließliche Beeinträchtigung der Interessen eines bestimmten Mitbewerbers (Art. 6 Abs. 2 Rom II VO)

13

Abs. 2 fordert eine „ausschließliche“ Beeinträchtigung der Interessen eines bestimmten Mitbewerbers. Laut EU Kommission soll dies beispielsweise bei der Abwerbung von Angestellten, Bestechung, Industriespionage, der Preisgabe von Geschäftsgeheimnissen sowie dem Verleiten zum Vertragsbruch der Fall sein29 (Letzteres z.B. durch Abwerbung von Arbeitskräften).30 Als weitere Beispielsfälle kommen Sabotageakte an Betriebseinrichtungen31 oder die rechtswidrige Übernahme und Verwertung des „geistigen Eigentums“ eines Mitbewerbers32 in Betracht.

14

In Reinform wird es eine solche „ausschließliche“ Beeinträchtigung der Interessen nur eines bestimmten Mitbewerbers jedoch nie geben, da unlauterer Wettbewerb stets auch Auswirkungen auf den Markt insgesamt hat.33 Daher kann das „Ausschließlichkeitskriterium“ des Abs. 2 auch dann bejaht werden, wenn zwar Marktauswirkungen gegeben sind, aber die unlautere Handlung keine (unmittelbar) marktvermittelte Einwirkung auf die geschäftlichen Entscheidungen der Marktgegenseite (v.a. Verbraucher) hat.34 Nur in diesen Fällen kommt somit auch eine Sonderanknüpfung an Art. 4 Rom II VO in Betracht.35 Der nach Art. 4 Abs. 1 Rom II VO maßgebliche Erfolgsort ist grundsätzlich der Sitz der Hauptniederlassung oder der betroffenen Zweigniederlassung des beeinträchtigten Mitbewerbers.

23 BGH v. 30.3.2006 – I ZR 24/03 (KG), GRUR 2006, 513 Rz. 22 und 25 – Arzneimittelwerbung im Internet. 24 BGH v. 30.3.2006 – I ZR 24/03 (KG), GRUR 2006, 513 Rz. 22 – Arzneimittelwerbung im Internet, berücksichtigt z.B. die Sprache und angegebene Währung; OLG Hamm v. 17.12.2013 – 4 U 100/13, MMR 2014, 175, 176 stellt auf die auf der Website verwendete Sprache sowie darauf ab, dass um weitere Informationen nachsuchende Verbraucher in deutscher Sprache kontaktiert wurden. 25 LG Berlin v. 20.11.2012 – 91 O 102/12, BeckRS 2013, 01948 stellt auf die verwendete Sprache und die Abrufbarkeit von Deutschland aus ab. 26 BGH v. 13.10.2004 – I ZR 163/02 – Hotel Maritime, GRUR 2005, 431, 433 (sub. 3 zum UWG) und sub. 2b zum Kennzeichenrecht); Sack, WRP 2008, 845, 853 f.; a.A. Glöckner/Kur, GRUR-Beilage 2014, 29, 34. 27 OGH Wien v. 28.11.2012 – 4 Ob 202/12b – Orientierungssatz 2 – juris, GRUR-Int. 2013, 580, 582. 28 Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 12; Sack, WRP 2008, 845, 851; OGH Wien v. 28.11.2012 – 4 Ob 202/12b Ls. und OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k Orientierungssatz 4 – juris, GRUR-Int. 2012, 468, 474. 29 KOM (2003) 427 endg. S. 18 zu damals noch Art. 5 Rom II VO. 30 Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 17; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 44. 31 KOM (2003) 427 endg. S. 18; Palandt/Thorn, Art. 6 ROM II VO Rz. 17; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 44. 32 OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k – HOBAS-Rohre – Rohrprodukte, BeckRS 2012, 81508 S. 8 = GRURInt. 2012, 468, 472. 33 BGH v. 11.2.2010 – I ZR 85/08, NJW 2010, 3780 Rz. 19; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 17. 34 BGH v. 12.1.2017 – I ZR 253/14, GRUR 2017, 397 Rz. 43; BGH v. 11.2.2010 – I ZR 85/08, NJW 2010, 3780 Rz. 19; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 17. Eine unmittelbar marktvermittelte Einwirkung ist z.B. dann gegeben, wenn Wettbewerber 1 eine wettbewerbswidrige Nachricht über Wettbewerber 2 an den potentiellen Kunden K sendet. 35 Zu beachten ist, dass der Erfolgsort gem. Art. 4 Abs. 1 Rom II VO nicht ohnehin dem Marktortprinzip i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Rom II VO entspricht, sondern auf die vom beanstandeten Verhalten betroffene Haupt- oder Zweigniederlassung des beeinträchtigten Mitbewerbers verweist, OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k – HOBAS-Rohre – Rohrprodukte, BeckRS 2012, 81508 Ls. 3 und S. 8 f. = GRUR-Int. 2012, 468, 472.

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Unlauterer Wettbewerb/Wettbewerb einschränkendes Verhalten

Rz. 18 Art. 6 Rom II VO

U.U. kann abweichend hiervon auch der Ort maßgeblich sein, an dem der erste Eingriff in die Rechtssphäre des Geschädigten (z.B. in dessen Vermögen) erfolgt ist.36 Im IT-Recht ist hierbei jedoch insofern Vorsicht geboten, als die genannten Handlungen bezogen auf 15 in mehreren Ländern lokalisierte bzw. weltweilt abrufbare IT-Strukturen stärker geeignet sind, auch die Marktgegenseite (Kunden, Verbraucher) zu tangieren. Man denke nur an die Manipulation eines Online-Shops bzw. -Spiels37 oder einer Kunden verfügbar gemachten Cloud-Struktur eines Wettbewerbers durch Hackangriffe (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8). Wird hierdurch die Realisierung eines Kaufentschlusses eines Kunden verhindert/eine Beendigung der Vertragsbeziehung bewirkt und wählt der betreffende Kunde deshalb ein Konkurrenzprodukt, ist die Anwendung von Abs. 2 nicht mehr interessengerecht. Auf eine genaue Einzelfallprüfung kommt es auch in weiteren Fällen an, die zum Teil als Beispielsfälle für Abs. 2 genannt werden: dem Abstürzenlassen des Computersystems des Wettbewerbers oder dem Einschleusen von Viren in sein Computernetzwerk.38 Sofern auch hier der Vertrieb von Produkten bzw. die Dienstleistungserbringung an Kunden in einem Maße gestört wird, das deren geschäftliche Entscheidungen zu beeinflussen geeignet ist (z.B. weil der Zugang zum gemieteten Cloud-Speicher oder gemieteter Software nicht möglich ist oder der Betrieb fehlerhaft ist), scheidet Abs. 2 aus und es bleibt bei Abs. 1. Auch die online veröffentlichte Preisgabe von Geschäftsgeheimnissen wird im Zweifel auch von potentiellen Kunden wahrgenommen und beachtet werden, so dass die Anwendbarkeit von Abs. 2 zweifelhaft erscheint.39

16

Im IT-Recht kommt die Anwendung von Abs. 2 jedoch in Betracht im Falle eines Ausspionierens des Computernetzwerks eines Wettbewerbers sowie dort abgelegter Daten (z.B. zum Vertrieb, Kundenbeziehungen sowie Produkten).

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3. Marktbeeinträchtigung (Art. 6 Abs. 3 lit. a und b Rom II VO) Auch bei Kartellrechtsverstößen40 ist primär das Recht des (wahrscheinlich) beeinträchtigten Marktes maßgeblich, lit. a. Bei Streudelikten räumt lit. b dem Geschädigten unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit ein, seinen Anspruch auf das Recht des Mitgliedstaates des angerufenen Gerichts zu stützen, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat (Ausnahme von der Mosaikbetrachtung).41 36 OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k Orientierungssatz 4 – juris, GRUR-Int. 2012, 468, 472 sub. 5.1.3. (mit Verweis auf die entsprechende Rspr. des EuGH zu Art. 5 Nr. 3 Brüssel I VO a.F., z.B. C-364/93 – Mariani) – HOBAS Rohre – Rohrprodukte; OGH Wien v. 9.8.2011 – 17 Ob 6/11y Orientierungssatz 3 – juris, GRUR-Int. 2012, 464, 466 – alcom-international.at. S. auch Art. 4 Rom II VO Rz. 6 ff. 37 BGH v. 12.1.2017 – I ZR 253/14, GRUR 2017, 397 – World of Warcraft II, Rz. 43 (Anwendbarkeit von Abs. 2 abgelehnt, da das geltend gemachte unlautere Wettbewerbsverhalten, der Einsatz von Automatisierungssoftware, nicht ausschließlich die Interessen der Wettbewerberin beeinträchtige, sondern auch die Interessen ihrer Kunden, die wegen des Einsatzes Automatisierungssoftware [die unliebsame Spielvorgänge automatisiert] verärgert und enttäuscht werden und sich möglicherweise von dem Spiel abwenden. Bei solchen marktvermittelten Einwirkungen auf die Interessen der ausländischen Marktgegenseite bleibt die Marktortregel des Art. 6 Abs. 1 Rom II VO anwendbar. 38 Spindler/Schuster/Bach, Art. 6 Rom II VO Rz. 13 listet diese Fallgruppen als Beispiele für Art. 6 Abs. 2 Rom II VO. 39 Ähnlich argumentiert das OLG Brandenburg, das die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 Rom II VO in einem Fall ablehnte, in dem die wettbewerbswidrige Handlung darin lag, dass eine kritische e-mail nicht nur an den Wettbewerber, sondern auch cc an einen wichtigen Kunden gesandt wurde. Das OLG stellt klar, dass unter Art. 6 Abs. 2 Rom II VO keine betriebsbezogenen Wettbewerbshandlungen zu subsumieren sind, die sich unter Beteiligung von Kunden oder Lieferanten gegen den Mitbewerber richten, wie z.B. Boykottaufforderungen, Anschwärzungen oder sonstige geschäftsschädigende Äußerungen, OLG Brandenburg v. 31.1.2019 – 6 W 9/19, BeckRS 2019, 1382 Rz. 32. 40 Ausführlich zum anwendbaren Recht bei Kartellrechtsverstößen gem. Art. 6 Abs. 3 Rom II VO, Wurmnest, EuZW 2012, 933, 936 ff., auch zur grundsätzlichen Geltung des Mosaikprinzips mit der geregelten Ausnahme nach der Konzentrationsregel in lit. b (S. 938). 41 S. z.B. LG Dortmund v. 14.5.2014 – 8 O 46/13, BeckRS 2014, 19175 S. 15; bestätigt in OLG Düsseldorf v. 15.7.2015 – VI-U (Kart) 13/14, U (Kart) 13/14 Rz. 133 f. – juris. Dies ist der einzige Fall, in dem sich die Rom II VO ausdrücklich zu einer Konsolidierung des anwendbaren Rechts bei Multistate-Verstößen äußert,

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Rom II VO Art. 6 Rz. 19 Unlauterer Wettbewerb/Wettbewerb einschränkendes Verhalten

III. Abdingbarkeit 19

Das nach Art. 6 Rom II VO anwendbare Recht ist nicht disponibel, Abs. 4. Grund hierfür ist der bezweckte Schutz von Interessen Dritter (anderer Marktteilnehmer, der Marktgegenseite sowie der Allgemeinheit).42 Bestimmt sich das anwendbare Recht jedoch über Art. 6 Abs. 2 Rom II VO nach Art. 4 Rom II VO, ist eine vorrangige Rechtswahl möglich.43

IV. Einzelfälle und -fragen 20

Der EuGH hat sich zur Einordnung von Unterlassungsklagen durch z.B. Verbraucherschutzverbände44 in Art. 6 Rom II VO geäußert. Die Klage richtete sich gegen die Verwendung vermeintlich unzulässiger Vertragsklauseln durch ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen, das im elektronischen Geschäftsverkehr Verträge mit Verbrauchern abschließt, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind. Hier ist das anzuwendende Recht nach Art. 6 Abs. 2 Rom II VO zu bestimmen. Dagegen ist das bei der Beurteilung einer bestimmten Vertragsklausel anwendbare Recht stets nach der Rom I VO zu bestimmen, unabhängig davon, ob diese Beurteilung im Rahmen einer Individualklage oder einer Verbandsklage vorgenommen wird.45

21

Bei unstreitig „weltweitem“ Vertrieb ist auch der Heimatmarkt der Streitparteien erfasst. Bei Werbemaßnahmen bestimmt sich das nach Art. 6 Abs. 1 Rom II VO maßgebliche Marktrecht nach dem (tatsächlichen oder wahrscheinlichen) Ort des Einwirkens auf die Marktgegenseite.46

22

Die Frage, ob die Klagebefugnis von Mitbewerbern verfahrens- oder materiell-rechtlich zu qualifizieren ist, also nach dem lex fori oder dem nach Art. 6 Rom II VO anwendbaren Recht, ist noch nicht höchstrichterlich entschieden und nach Ansicht des OGH Wien durch Vorlage zum Europäischen Gerichtshof zu klären.47

23

Bei Klage eines ausländischen Herstellers eines Massen-Mehrspieler-Online-Rollen-Spiels (World of Warcraft) in Prozessstandschaft für seine deutsche Vertriebsgesellschaft aus Wettbewerbsrecht wegen des Vertriebs einer Software, die es ermöglicht, Spielaktionen – entgegen eines in den AGB des Spieleanbieters ausgesprochenen Verbots – zu automatisieren, um eine Interaktion mit einem menschlichen Benutzer zu ersetzen (sog. Bots), ist nach Art. 6 Abs. 1 Rom II VO deutsches Recht anwendbar.48 Denn mit dem Angebot der Automatisierungssoftware wird gezielt den Absatz des Spiels „World of Warcraft“ in Deutschland behindert, so dass die wettbewerblichen Interessen der Mitbewerber auf dem deutschen Markt kollidieren. Da die streitgegenständlichen Buddy-Bots auch die Interessen der Verbraucher in der BRD beeinträchtigen, insb. die Interessen der ehrlichen Online-Rollenspiel-Benutzer, scheidet Art. 6 Abs. 2 Rom II VO aus.49

24

Informationspflichten gem. § 5 TMG (Impressumpflichten) betreffen dem Verbraucherschutz dienende Informationen. Klagt ein Mitbewerber wegen ihrer Verletzung, sind die Informationspflichten daher nicht dem Vertragsstatut zuzurechnen (keine Anwendung der Rom I VO) sondern dem Wett-

42 43 44 45 46 47 48 49

Kur, Wrp 2011, 971, 978. Dies spricht aus systematischen Gesichtspunkten auch dafür, bei anderen Artikeln keine ungeschriebenen Einschränkungen bei Multi-State-Verstößen vorzunehmen. Schutzzwecktrias im Lauterkeitsrecht, s. Erwägungsgrund 21 Rom II VO sowie Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 2; das Kartellrecht dient (vorgreiflich) dazu, einen Wettbewerbsmarkt herzustellen oder zu erhalten, Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 5. Str.; wie hier: Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 6 Rom II VO Rz. 49; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II VO Rz. 19. Genauer: bei Unterlassungsklagen im Sinne der RL über Unterlassungsklagen zum Schutz von Verbraucherinteressen, RL 2009/22/EG. EuGH v. 28.7.2016 – C-191/15 Rz. 42 ff., v.a. Rz. 48 f. und Ls. 1. OGH Wien v. 28.11.2012 – 4 Ob 202/12b, GRUR-Int. 2013, 580, 582 – erster klimaneutraler Stempel. OGH Wien v. 18.11.2014 – 4 Ob 147/14t – klimaneutral II, GRUR-Int. 2015, 481, 483 f. BGH v. 12.1.2017 – I ZR 253/14, GRUR 2017, 397 – World of Warcraft II, Rz. 42 (bestätigt diesbzgl. Vorinstanz OLG Hamburg v. 6.11.2014 – 3 U 86/13 Ls. 1 und Rz. 152 – juris, MMR 2015, 313 – Wettbewerbsverstoß durch Vertrieb von Bot-Software). BGH v. 12.1.2017 – I ZR 253/14, GRUR 2017, 397 – World of Warcraft II, Rz. 43.

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Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums

Rz. 2 Art. 8 Rom II VO

bewerbsrecht, also der außervertraglichen Haftung (Rom II VO). Bei einer auf deutsche Verbraucher zielenden und in Deutschland abrufbaren Werbung ist deutsches Recht anwendbar.50

Art. 8 Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums (1) Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einer Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums ist das Recht des Staates anzuwenden, für den der Schutz beansprucht wird. (2) Bei außervertraglichen Schuldverhältnissen aus einer Verletzung von gemeinschaftsweit einheitlichen Rechten des geistigen Eigentums ist auf Fragen, die nicht unter den einschlägigen Rechtsakt der Gemeinschaft fallen, das Recht des Staates anzuwenden, in dem die Verletzung begangen wurde. (3) Von dem nach diesem Artikel anzuwendenden Recht kann nicht durch eine Vereinbarung nach Artikel 14 abgewichen werden. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – Schutzlandprinzip . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

3. Staat, in dem die Verletzung begangen wurde (Art. 8 Abs. 2 Rom II VO) . . . . . . . . . . . III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechte des geistigen Eigentums (Art. 8 Abs. 1 und 2 Rom II VO) . . . . . . . 2. Recht des Staates, für den der Schutz beansprucht wird (Art. 8 Abs. 1 Rom II VO) . .

6

IV. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . 1. Klage auf Löschung eines Domainnamens . . 2. Angebot von Unions-IP-verletzenden Waren über Website . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

16 20 21 21 22

9

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – Schutzlandprinzip Art. 8 Rom II VO enthält als Sonderanknüpfung für die Verletzung von IP-Rechten1 das Schutzlandprinzip.2 Dieses hängt zusammen mit dem nahezu weltweit anerkannten Territorialitätsprinzip, wonach IP-Rechte in ihrer Wirkung grundsätzlich auf das Gebiet des Staates beschränkt sind, der sie verliehen bzw. gesetzlich anerkannt hat.3 Eine Rechtswahl scheidet gem. Abs. 3 aus.

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Art. 8 Rom II VO ist nicht nur auf die klassischen Ansprüche4 (Schadensersatz, Auskunft, Rechnungslegung etc.) aus der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums (hierzu Rz. 6) anwendbar, sondern auch auf sonstige außervertraglichen Ansprüche (GoA, Bereicherungsrecht, c.i.c.)5 wegen Verlet-

50 OLG Hamm v. 17.12.2013 – 4 U 100/13, Rz. 36 f., GRUR-RS 2014, 01726 – Deutschsprachige Website eines ägyptischen Reiseanbieters. 1 Nicht abschließende Aufzählung in Erwägungsgrund 26 Rom II VO. 2 Lex loci protectionis. Erwägungsgrund 26 Rom II VO. 3 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II VO Rz. 2; ausführlich zu Art. 8 Rom II VO im Urheberrecht sowie zum Verhältnis zwischen Schutzland- und Territorialitätsprinzip, Giedke, Cloud Computing, S. 288 ff. 4 S. auch § 97 UrhG Rz. 67 ff. 5 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II VO Rz. 4.

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2

Rom II VO Art. 8 Rz. 2 Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums zungen von IP-Rechten (Art. 13 Rom II VO).6 Auch diesbezüglich scheidet eine Rechtswahl aus, Art. 13 i.V.m. Art. 8 Abs. 3 Rom II VO.7 3

Stellt eine IP-Rechtsverletzung zugleich eine wettbewerbswidrige Handlung i.S.d. Art. 6 Rom II VO dar, geht Art. 8 Rom II VO als lex specialis vor.8 Ferner sind die an sich vorrangigen Spezialkollisionsnormen zum Schutz von Gemeinschaftsrechten (Art. 129 UMVO, Art. 88 GGVO und Art. 97 SortenschutzVO) zu beachten (Art. 27 Rom II VO),9 führen jedoch i.d.R. nicht zu abweichenden Anknüpfungsergebnissen.10

4

Wird durch eine Verletzung eines geistigen Eigentumsrechts zugleich ein Datenbestand beschädigt (denkbar z.B. bei einer „Entstellung“ oder „Bearbeitung“ urheberrechtlich geschützter Werke, §§ 14 und 23 UrhG), kommt für die zugleich erfolgte Eigentums- oder Besitzverletzung auch eine Anknüpfung nach Art. 4 Rom II VO in Betracht (s. hierzu Art. 4 Rom II VO Rz. 8).

5

Das nach Art. 8 Rom II VO anwendbare Schutzlandrecht ist nicht nur maßgeblich für den immaterialgüterrechtlichen Schutzumfang, die Anspruchsvoraussetzungen und die Ausgestaltung des Anspruchs,11 sondern auch für die (erste) Rechteinhaberschaft sowie den Bestand des Rechts, wie sich schon aus Art. 15 (insb. lit. a und f) Rom II VO ergibt.12

II. Norminhalt 1. Rechte des geistigen Eigentums (Art. 8 Abs. 1 und 2 Rom II VO) 6

Mit Rechten des geistigen Eigentums sind insb. Urheberrechte13 (einschließlich Urheberpersönlichkeitsrechte),14 verwandte Schutzrechte, das Schutzrecht sui generis für Datenbanken,15 das Recht auf flankierenden Schutz technischer Maßnahmen gem. § 95a Abs. 1 UrhG16 und gewerbliche Schutzrechte gemeint,17 wobei Letzteres u.a. Marken, Patente, Gebrauchsmuster und Designs erfasst. Auch Unternehmenskennzeichen jeder Art, also auch der Handelsname (die Firma) des Unternehmens sind nach autonomer Auslegung als „geistiges Eigentum“ anzusehen,18 ebenso wie sonderrechtlich geschützte geografische Herkunftsangaben.19

7

Art. 8 Rom II VO differenziert zwischen rein nationalen IP-Rechten (Abs. 1) und unionsweit einheitlichen (Abs. 2). Bei unionsweiten Schutzrechten, wie z.B. der Unionsmarke und möglicherweise in Zu6 Für gesetzliche Ansprüche aus erlaubter Nutzung von z.B. Urheberrechten bestimmt sich das anwendbare Recht dagegen nach nationalem Kollisionsrecht (str.), MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 171 m.w.N.; Sack, WRP 2008, 1405, 1410, nach dem für diese Fälle jedenfalls das international anerkannte Schutzlandprinzip greift. 7 Palandt/Thorn, Art. 13 Rom II VO Rz. 1. 8 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II VO Rz. 5. S. auch Art. 6 Rom II VO Rz. 5 m.w.N. 9 Hierzu Art. 1 Rom II VO Rz. 4 ff. auch zu der umstrittenen, richtigerweise zu verneinenden Frage, ob Art. 5 Abs. 2 RBÜ eine vorrangige Kollisionsnorm enthält. 10 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II VO Rz. 3. 11 MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8 IntImmGR Rz. 175 ff., 184. 12 Str., s. Giedke, Cloud Computing, S. 349 ff. Im Ergebnis ebenso: BGH v. 24.9.2014 – I ZR 35/11 – Hi Hotel II, GRUR 2015, 264, 265 Rz. 24; Grünberger, ZVGlRWiss, 108 (2009), 134, 157 ff., insb. S. 158 f. und 160 f.; ausführlich auch Sack, WRP 2008, 1405, 1409 f.; Ahrens, WRP 2011, 945, 948 f.; a.A. MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 184. 13 Zu Art. 8 Rom II VO bei Urheberrechtsverletzungen im Cloud-Kontext s. Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 686 ff.; Giedke, Cloud Computing, S. 288 ff. 14 Hierzu Art. 1 Rom II VO Rz. 16. Zu urheberrechtlichen Fragen auf Ebene des internationalen Zivilprozessrechts, des Kollisionsrechts sowie des deutschen materiellen Rechts s. Lehmann/Giedke, CR 2013, 681 ff. 15 Erwägungsgrund 26 Rom II VO. Zur Geltung des Schutzlandprinzips bei Datenbanken gem. §§ 87a ff. UrhG s. auch Conrad/Grützmacher/Spindler, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, S. 282, 288 ff. sowie EuGH v. 18.10.2012 – C-173/11, GRUR-Int. 2012, 1113, 1115 – Football Dataco ./. Sportradar Rz. 27 ff. 16 LG Hamburg v. 19.7.2017 – 308 O 230/17, GRUR-RS 2017, 146120 Rz. 32 – urheberrechtswidriger YouTube Konvertierungsdienst. 17 Erwägungsgrund 26 Rom II VO. 18 OGH Wien v. 9.8.2011 – 17 Ob 6/11y, GRUR-Int. 2012, 464, 465 – alcom-international.at. 19 Ausführlich Sack, WRP 2008, 1405, 1406; Sack, WRP 2008, 845, 860 ff.

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Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums

Rz. 10 Art. 8 Rom II VO

kunft dem Europäischen Einheitspatent,20 präzisiert Abs. 2 die Regel des Abs. 1 dahingehend, dass vorrangig auf das einschlägige EU-Recht abzustellen und nur zur Lückenfüllung auf das nationale Recht des jeweiligen Schutzlandes zurückzugreifen ist (Abs. 2, s. Rz. 16 ff.). Für den IT-Kontext relevante Fallkonstellationen des Art. 8 Rom II VO könnten etwa die Verwendung einer nationalen Marke als Domain-Name,21 die Installation/Speicherung urheberrechtlich geschützter Werke auf einem virtuellen Server in einer weltweiten Cloud (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8), die öffentliche Zugänglichmachung urheberrechtlicher Werke im Internet (z.B. weltweit abrufbare Software as a Service-Angebote) oder die Umsetzung eines Verfahrenspatents durch grenzüberschreitende Anwendungsvorgänge, die die Territorien mehrerer Staaten berühren (z.B. Verfahren der digitalen Daten-Rundfunkübertragung22 oder des Datentransfers in einer Cloud) sein. Beim online-Vertrieb unabhängig entwickelter Software besteht das Risiko einer Patentverletzung, falls dieselbe/eine ähnliche Software, z.B. in den USA oder in Deutschland durch ein Patent geschützt ist.23

8

2. Recht des Staates, für den der Schutz beansprucht wird (Art. 8 Abs. 1 Rom II VO) Art. 8 Abs. 1 Rom II VO erklärt auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums das Recht des Staates für anwendbar, für dessen Gebiet der Schutz des geistigen Eigentums geltend gemacht wird (Schutzlandprinzip).24 Dies entspricht dem Recht des Landes, in dem die Verletzungshandlung – laut Klägervortrag25 – begangen worden ist26 oder stattzufinden droht.27

9

Tangiert eine Verletzungshandlung IP-Rechte in mehreren Staaten, finden entsprechend mehrere 10 Rechtsordnungen Anwendung,28 wozu es leicht bei Rechtsverletzungen im Internet29 sowie bei Verwendung internationaler IT-Strukturen, wie internationale Clouds, kommen kann.30 Beispiele31 hier20 Das bereits existierende „europäische Patent“ im Sinne des EPÜ ist kein gemeinschaftsweit einheitliches Recht i.S.d. Art. 8 Abs. 2 Rom II VO, sondern zerfällt nach seiner Erteilung in ein Bündel nationaler Patente (hierzu auch OLG München v. 7.12.2017 – 6 U 4503/16, BeckRS 2017, 152300 Rz. 120 f.). Das neue Europäische Einheitspatent, das bereits kurz vor der Realisierung stand, ist durch den Brexit sowie der in Deutschland erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen die Ratifizierung des Übereinkommens einer erheblichen Verzögerung ausgesetzt. 21 MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 274. 22 Hierzu sowie zu weiteren grenzüberschreitenden Fallbeispielen im Patent- und Gebrauchsmusterrecht sowie zu deren materiell-rechtlicher Bewertung, s. Haupt, GRUR 2007, 187 ff. 23 MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 274. 24 BGH v. 27.4.2017 – I ZR 247/15, GRUR 2017, 789 Rz. 10; BGH v. 26.2.2014 – I ZR 49/13, NJW-RR 2014, 864 Rz. 12 m.w.N.; LG München v. 17.12.2014 – 37 O 8778/14 Rz. 51 – juris; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II VO Rz. 7. Erwägungsgrund 26 Rom II VO, „lex loci protectionis“. 25 Der Kläger sollte deutlich zum Ausdruck bringen, für welche Länder er Schutz beansprucht. Wenn er nicht deutlich macht, auch für andere Länder als das Inland Schutz zu begehren, kann ein Gericht im Zweifel eine Beschränkung auf das Inland annehmen, OGH Wien v. 12.2.2013 – 4 Ob 190/12p, GRUR-Int. 668, 670; für Sicherungsverfahren: OGH Wien v. 9.8.2011 – 17 Ob 6/11y, GRUR-Int. 2012, 464, 465 – alcom-international.at. 26 KOM (2003) 427 endg S. 23; Giedke, Cloud Computing S. 288 m.w.N. in Fn. 1718. 27 Bei der Verletzung von immateriellen Rechten gibt es keinen Erfolgsort im klassischen Sinne, sondern die Verletzung ist spiegelbildlich zu den IP-rechtlichen Befugnissen handlungs- und nicht erfolgsbezogen definiert (für das Urheberrecht Giedke, Cloud Computing, S. 294 f.; generell zur Maßgeblichkeit des Ortes der Verletzungshandlung, was aus dem Territorialitätsprinzip folgt, dieselbe S. 288–300 m.w.N.); Adolphsen/Mutz, GRUR-Int. 2009, 789, 790 f. 28 OGH Wien v. 12.2.2013 – 4 Ob 190/12p, ZfRV-LS 2013/34, S. 131; OGH Wien v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k – Orientierungssatz 2 – juris, GRUR-Int. 2012, 468, 472 (Art. 8) – HOBAS Rohre – Rohrprodukte; Lehmann/ Giedke, CR 2013, 681, 686; Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 281, 284 f. 29 S. hierzu im Rahmen der internationalen Zuständigkeit BGH v. 8.3.2012 – I ZR 75/10, IPRax 2013, 257; für Cloud Computing: Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 281, 284; Schulz/Rosenkranz, ITRB 2009, 232, 236; generell MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 272. 30 Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 686. 31 S. bereits die Beispiele unter Rz. 8.

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Rom II VO Art. 8 Rz. 10 Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums für sind die Installation urheberrechtlich geschützter Werke, wie Software, auf einer Hardwarestruktur, die in mehreren Ländern belegen ist,32 sowie wenn diese Werke „aus der Ferne“ von mehreren Ländern der Welt aus abgerufen und genutzt werden können.33 Denn in diesen Fällen tangieren die unerlaubten Nutzungshandlungen der Vervielfältigung (Installation),34 der Vermietung (Nutzung auf Zeit als ASP oder SaaS Angebot)35 und der öffentlichen Zugänglichmachung (Download, Streaming oder über remote Zugriff (str.))36 all die Länder, in denen involvierte Speichermedien belegen sind bzw. von denen aus der Zugriff möglich ist. 11

Um die Anwendbarkeit mehrerer Rechtsordnungen zu verhindern, können allenfalls (technische, rechtliche und gestalterische) Maßnahmen ergriffen werden, die die Verletzungshandlungen in bestimmten Ländern ausschließen. Sofern aufgrund derartiger Maßnahmen „von Vornherein ausgeschlossen“ ist, dass ein Bezug zum Inland der betroffenen Länder gegeben ist, fehlt es zumindest bereits an der internationalen Delikts-Zuständigkeit europäischer Gerichte gem. Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia VO (bzw. Art. 5 Nr. 3 Brüssel I VO a.F.).37 Mit Blick auf den erwünschten Auslegungsgleichklang (Erwägungsgrund 7 Rom II VO) könnte man erwägen, diese Formel auf Art. 8 Rom II VO zu übertragen – wobei zu beachten ist, dass bei vielen der vorliegend relevanten technischen Sachverhalte kaum je eine derartig klare Sachlage gegeben sein wird. I.d.R. bleibt es somit dabei, dass es auf kollisionsrechtlicher Ebene für die Anwendbarkeit einer Rechtsordnung genügt, dass der Kläger Schutz für das betreffende Territorium geltend macht.38

12

Als weitergehende einschränkende Merkmale zur Vermeidung der Anwendbarkeit mehrerer Rechtsordnungen werden z.B. diskutiert ein hinreichender Inlandsbezug,39 (z.B. in Form einer spürbaren Betroffenheit der im jeweiligen Staat lokalisierbaren urheberrechtlichen Interessen40 oder der Beeinflussung des relevanten Marktes),41 wohl um Rechtsordnungen auszuschließen, zu deren Territorien nur 32 Dies ist z.B. denkbar durch den Einsatz von Virtualisierungstechniken (hierzu ausführlich Lehmann/Giedke, CR 2013, 608, 611 ff.). Diese können sog. virtuelle Maschinen erzeugen, die wie ein bekannter Computer funktionieren, de facto aber auf ein weltweit verteiltes Rechnernetzwerk zurückgreifen. Das bedeutet, dass auf virtuellen Maschinen installierte Software theoretisch auf allen realen Servern des Netzwerkes gespeichert sein kann (ganz oder teilweise). Ausführlich zur Virtualisierungstechnik Giedke, Cloud Computing S. 48 ff. sowie zu hieraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Anwendung von Art. 8 Rom II VO S. 301 ff. und S. 103 ff., 117 ff. sowie 253 ff. zu den Herausforderungen bei der Ermittlung des Handlungsortes bei Cloud Sachverhalten. 33 Zu einem juristischen Worst-Case-Szenario im Cloud-Kontext s. Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 683. 34 § 69c Nr. 1 UrhG; hierzu auch Giedke, Cloud Computing, S. 379 ff. m.w.N.; Schricker/Loewenheim/Spindler, Urheberrecht, Vor §§ 69a ff. UrhG Rz. 69. 35 § 69c Nr. 3 UrhG; BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, MMR 2007, 243, 244 – ASP Vertrag zur zivilrechtlichen Einordnung eines ASP-Vertrags als Mietvertrag; Giedke, Cloud Computing, S. 393 ff. Hierfür spricht auch die vom EuGH in der UsedSoft Entscheidung geäußerte Einschätzung, dass körperliche und nicht-körperliche Verwertungshandlungen gleich zu behandeln sind, sofern sie wirtschaftlich und funktionell vergleichbar sind, EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11 – UsedSoft, Rz. 59, 61. 36 § 69c Nr. 4 UrhG; OLG München v. 7.2.2008 – 29 U 3520/07, GRUR-RR 2009, 91 – ASP, wonach sich dem Wortlaut des § 69c Nr. 4 UrhG kein darüber hinausgehendes, einschränkendes Merkmal entnehmen lässt. Entsprechend genügt laut BT-Drucks. 15/38, 17 bereits das Zugänglichmachen des Werkes „Computerprogramm“ für den interaktiven Abruf; auf den tatsächlichen Abruf kommt es nicht an, Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 291, 286 m.w.N. Ausführlich Giedke, Cloud Computing, S. 397 ff.; z.T. wird für § 69c Nr. 4 UrhG verlangt, dass die Programmdaten zur Übertragung oder einer anderen zustimmungspflichtigen Handlung angeboten werden, so z.B. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, Urheberrecht, § 69c UrhG Rz. 85 und v.a. 98 f. 37 BGH v. 8.3.2012 – I ZR 75/10, GRUR 2012, 621, 622 Rz. 18 – Oscar, m.w.N.; BGH v. 13.10.2004 – I ZR 163/02, NJW 2005, 1435 Ls. 1, 1436 – Hotel Maritim. 38 BGH v. 21.4.2016 – I ZR 43/14, GRUR 2016, 1048 Rz. 24 f. und 17 f.; Glöckner/Kur, GRUR-Beilage 2014, 29, 34; Sack, WRP 2008, 1405, 1411 ff.; s. auch die entsprechend kurze Behandlung der Anwendbarkeit deutschen Rechts bei LG München v. 17.12.2014 – 37 O 8778/14 Rz. 51 – juris. Allerdings wird dort erstaunlich ausführlich zur Bejahung der internationalen Zuständigkeit ausgeführt (Rz. 45 ff.) – auch hier hätte das bloße Behaupten eines nicht von vornherein ausgeschlossenen Schadenseintritts in Deutschland genügt. 39 Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 281, 285. 40 Buchner, GRUR-Int. 2005, 1004, 1007. 41 Dreier/Schulze/Dreier, Vor §§ 120 ff. UrhG Rz. 42 in Anlehnung an das IPR des Wettbewerbsrechts mit Verweis auf EuGH v. 18.10.2012 – C-173/11 – Football Dataco. Zu weiteren diskutierten einschränkenden Kriterien s. Sack, WRP 2008, 1405, 1417 sowie Giedke, Cloud Computing, S. 289 f. i.V.m. S. 264 ff. und 104 ff. in Anlehnung Entscheidungen zum Kennzeichenrecht, BGH v. 13.10.2004 – I ZR 163/02, MMR 2005, 239, 240

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Rz. 15 Art. 8 Rom II VO

„zufällige“ Berührungspunkte bestehen – ggf. relevant für sog. Spill-over-Fälle.42 Dies ist auf kollisionsrechtlicher Ebene allerdings abzulehnen. Art. 8 Rom II VO sieht eine derartige Einschränkung auf Ebene des Kollisionsrechts nicht vor43 – anders als z.B. Art. 6 Abs. 1 lit. b Rom I VO und Art. 6 Abs. 1 Rom II VO, der zumindest von „Beeinträchtigung“ spricht (hierzu Art. 6 Rom II VO Rz. 9). Auch enthält er keine Ausweichklausel wie Art. 4 Abs. 3 Rom II VO oder Art. 5 Abs. 2 Rom II VO oder eine Ausnahme von der Mosaikbetrachtung wie Art. 6 Abs. 3 lit. b Rom II VO (Art. 6 Rom II VO Rz. 18). Die Frage, was eine „spürbare“, „relevante“ oder „zufällige“ Betroffenheit von IP-Rechten darstellt, ist insb. bei internationalen und komplexen technischen Sachverhalten sehr schwer zu beantworten.44 Hier werden auch kulturelle, wirtschaftliche und politische Erwägungen relevant, über die jedes Schutzland selbst entscheiden können sollte.45 Sachrechtlich begründete Ansprüche dürfen daher nicht vorab kollisionsrechtlich „abgewürgt“ werden.46

13

Schließlich wird bei der Diskussion die praktische Dimension verkannt. Kein Kläger wird unnötig seine Klage auf die Ermittlung mehrerer Schutzlandsrechtsordnungen erstrecken (und damit sein Verfahren verlängern und erschweren), wenn dort nicht auch ein für ihn erheblicher Schaden eingetreten ist bzw. er die geltend gemachten Ansprüche für überwiegend erfolgsversprechend hält.47 Eine entsprechende Risiko-Folgenabschätzung ist umgekehrt auch jedem zumutbar, der im eigenen Interesse und zu eigenem Nutzen fremde IP-Rechte in komplexen internationalen Sachverhalten gebraucht.

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Richtigerweise sind derartige Einschränkungen daher auf materiell-rechtlicher Ebene vorzunehmen,48 also bei der nachgelagerten Frage, ob das betreffende IP-Recht im betreffenden Land wirklich verletzt ist – so auch der BGH.49 Erst auf materiell-rechtlicher Ebene kommt es daher auf solche

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43 44 45

46 47 48

49

– Hotel Maritime, Wettbewerbsrecht; BGH v. 30.3.2006 – I ZR 24/03, GRUR 2006, 513, 515 – Arzneimittelwerbung im Internet, und dem Recht bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten; BGH v. 2.3.2010 – VI ZR 23/09, BeckRS 2010, 07411 – New York Times und EuGH v. 25.10.2011 – C-509/09, C-161/10, GRUR 2012, 300 – eDate Advertising und Martinez. Hierzu auch Conrad/Grützmacher/Spindler, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, S. 282, 292, der in diesem Kontext generell auf den (zutreffenden) Gedanken der Steuerbarkeit der Handlungen abstellt, aber nicht klarstellt, ob dieser Maßstab auf kollisions- oder materiell-rechtlicher Ebene angewendet werden soll. Ebenso MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 344, 346; Sack, WRP 2008, 1405, 1415; Härting, Internetrecht, Rz. 2380 f. S. auch zu den verschiedenen materiell-rechtlichen Ansätzen bei grenzüberschreitenden Patent- und Gebrauchsmusterverletzungen (Gesamtheits-, Einzelheits- und Schwerpunkttheorie): Haupt, GRUR 2007, 187, 189 ff. Zur Begründung dieses Ansatzes anhand des Schutzland- und Territorialitätsprinzips speziell bei Cloud-Sachverhalten, s. Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 687 f.; ausführlich auch Giedke, Cloud Computing, S. 301 ff. Insb. soll das Territorialitätsprinzip die Souveränität der Staaten wahren und sicherstellen, dass diese ihr politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System ohne irgendwelche Einmischung anderer Staaten wählen können. Entsprechend soll auch jede nationale Rechtsordnung selbst darüber entscheiden können, ob eine Handlung auf ihrem Territorium eine IP-Rechtsverletzung darstellt, ohne dass ein ausländisches Kollisionsrecht ihm diese Möglichkeit verwehrt, indem es mangels „Spürbarkeit“ die Anwendung des betreffenden nationalen Rechts verwehrt. Sack, WRP 2008, 1405, 1413 (allgemein), 1414 (speziell zu multi-state Verwertungshandlungen), 1417 (speziell für Internetsachverhalte); Giedke, Cloud Computing, S. 343 ff. Ähnlich im Zusammenhang mit der Frage der Vorfragenabspaltung bei Internetsachverhalten: Ahrens, WRP 2011, 945, 948; s. auch Sack, WRP 2008, 1405, 1411. Lehmann/Giedke, CR 2013, 681, 687 f.; Giedke, Cloud Computing, S. 343 f. und 440 ff. Dies kann z.B. in Anlehnung an Art. 3 der WIPO Joint Recommendation Concerning Provisions on the Protection of Marks, and Other Industrial Property Rights in Signs, on the Internet, 24.9.–3.10.2001 geschehen, auf die wohl auch der BGH in Rz. 22 seiner Maritime-Entscheidung Bezug nimmt; MünchKomm/Drexl, Bd. 12 Teil 8, IntImmGR Rz. 351 und 353; Glöckner/Kur, GRUR-Beilage 2014, 29, 34 f. BGH v. 8.3.2012 – I ZR 75/10, GRUR 2012, 621 – Oscar, Ls. 2 und Rz. 34 ff. in Fortführung des Urt. v. 13.10.2004 – I ZR 163/02, NJW 2005, 1435 Ls. 2 und S. 1436 – Hotel Maritime. Erst auf materiell-rechtlicher Ebene prüft der BGH, ob ein hinreichend wirtschaftlich relevanter Inlandsbezug („commercial effect“) besteht. Er nimmt eine Gesamtabwägung vor, die einerseits berücksichtigt, wie groß die Auswirkungen der IPRechtsnutzung auf die inländischen wirtschaftlichen Interessen des IP-Rechtsinhabers sind und andererseits,

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Rom II VO Art. 8 Rz. 15 Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums Reterritorialisierungsmaßnahmen50 an, die nicht von vornherein die Verletzungshandlung auf dem jeweiligen Territorium verhindern konnten, wie z.B. denkbar bei einer rein inhaltlich auf ein bestimmtes Land ausgerichteten Verletzungshandlung oder bei unterhalb des aktuellen Stands der Technik ergriffenen technischen Maßnahmen zur Beschränkung der Handlung auf bestimmte Territorien etc. In Fällen, in denen eine hundertprozentige Unterbindung der Verletzungshandlung in einem Territorium nur durch ein weltweites Unterlassen einer Handlung möglich ist, die in anderen Ländern zulässig oder gar gewünscht ist, sprechen gute Gründe dafür, dass ergriffene Reterriotorialisierungsmaßnahmen auf materiell-rechtlicher Ebene berücksichtigt werden müssen.51 3. Staat, in dem die Verletzung begangen wurde (Art. 8 Abs. 2 Rom II VO) 16

Steht die Verletzung eines unionsweit einheitlichen IP-Rechts in Frage,52 ist primär Unionsrecht (als Schutzlandrecht gem. Abs. 1) und subsidiär das nationale Recht des Staates anwendbar, in dem die Verletzung begangen wurde (Abs. 2).53

17

„In dem die Verletzung begangen wurde“ verweist nicht auf einen „Erfolgsort“. Die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsort ist bei Verletzungen von IP-Rechten obsolet, da diese Rechte keinen Belegenheitsort aufweisen und nicht im klassischen Sinne beschädigt werden können. Ihre Verletzung liegt in einer unbefugten Nutzungshandlung,54 so dass auch für Abs. 2 der Staat maßgeblich ist, in dem die behauptete Verletzungshandlung begangen wurde.55 Zu IT-spezifischen multi-state Verletzungshandlungen s. zu Abs. 1 Rz. 9 ff.

18

Für unionsinterne multiterritoriale Verletzungshandlungen hat der EuGH den für Abs. 2 maßgeblichen Handlungsort auf den Ort eingegrenzt, an dem die „ursprüngliche Verletzungshandlung“ begangen wurde oder droht.56 Im Falle eines unionsgeschmacksmusterverletzenden online Angebots sei der Ort des schadensbegründenden Ereignisses i.S.v. Art. 8 Abs. 2 Rom II VO danach der Ort, an dem der Prozess der Veröffentlichung des Angebots durch den Wirtschaftsteilnehmer auf seiner Website „in Gang gesetzt“ worden ist (keine Mosaikbetrachtung).57 Begründet wird dies mit der Intention des Verordnungsgebers, die Vorhersehbarkeit des Ausgangs von Rechtsstreitigkeiten, die Sicherheit

50

51 52 53 54 55 56 57

ob und inwieweit die Rechtsverletzung sich als unvermeidbare Begleiterscheinung technischer oder organisatorischer Sachverhalte darstellt, auf die der Inanspruchgenommene keinen Einfluss hat. Ebenso LG Hamburg v. 17.6.2016 – 308 O 161/13, BeckRS 2016, 12262 unter A. II 1. a); OGH Wien v. 10.7.2012 – 4 Ob 82/12 f. – Markenverletzung durch AdWord-Werbung, GRUR-Int. 2013, 59 S. 61 f. und Ls. 2; entsprechend hat auch der EuGH zu Art. 5 Nr. 3 Brüssel I VO entschieden, dass ein „ausrichten“ einer Website für die Bejahung der gerichtlichen Zuständigkeit nicht erforderlich ist, Urt. v. 22.1.2015 – C-441/13 – Pez Hejduk/Energie Agentur, Rz. 32. S. auch Giedke, Cloud Computing, S. 329 f.; Glöckner/Kur, GRUR-Beilage 2014, 29, 31 f. Z.B. Sicherstellung der Abrufbarkeit des Angebots nur von gewissen Territorien (wie bei Youtube) mittels Geoidentifikations- oder Geolocationsverfahren. Zu diesen Verfahren z.B. Svantesson, Geo-identification and the Internet – A New Challenge for Australia’s Internet Regulation, Murdoch University E Law Journal, Vol. 14 No. 2 (2007), http://classic.austlii.edu.au/au/journals/MurdochUeJlLaw/2007/25.pdf, zuletzt abgerufen am 3.1.2020; Giedke, Cloud Computing, Anhang I. Dies folgt aus dem Souveränitätsprinzip. Der verbietende Staat hat auch die souveränen Interessen derjenigen Staaten zu berücksichtigen, die das betreffende Verhalten wünschen. Hierzu Giedke, Cloud Computing, S. 320 f. Z.B. einer Gemeinschaftsmarke, eines Gemeinschaftsgeschmackmusters oder eines gemeinschaftlichen Sortenschutzes. BGH v. 12.1.2017 – I ZR 253/14, GRUR 2017, 397 – World of Warcraft II, Rz. 106; für den Fall der Verletzung von Rechten an geografischen Herkunftsangaben s. OLG Köln v. 18.1.2019 – 6 U 61/18, GRUR-RR 2019, 251 – Culatello do Parma, Rz. 55 ff.; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 8 Rom II VO Rz. 24. Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 8 Rom II VO Rz. 4; Lehmann/Meents/Fritzemeyer/Krone/Splittgerber, FA IT-Recht, Kap. 25 Rz. 138; Schack, MMR 2000, 135, 137; speziell zum Urheberrecht Giedke, Cloud Computing, S. 255 ff. EuGH v. 27.9.2017 – C-24/16, C-25/16, BeckRs 2017, 126271 Rz. 98; OLG Frankfurt v. 15.3.2018 – 6 U 143/16, GRUR-RR 2018, 339 Rz. 34. EuGH v. 27.9.2017 – C-24/16, C-25/16, BeckRs 2017, 126271 Ls. 3 und Rz. 102 ff., 111 – Nintendo vs. Bigben. EuGH v. 27.9.2017 – C-24/16, C-25/16, BeckRs 2017, 126271 Rz. 108 – Nintendo vs. Bigben. OLG Frankfurt v. 15.3.2018 – 6 U 143/16, GRUR-RR 2018, 339 Rz. 34 überträgt diesen Ansatz auf Unionsmarken.

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Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums

Rz. 22 Art. 8 Rom II VO

in Bezug auf das anzuwendende Recht und die einheitliche Anwendung der Verordnung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten (Erwägungsgründe 6, 13, 14 und 16 Rom II VO) sowie einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Personen, deren Haftung geltend gemacht wird, und Geschädigten zu gewährleisten (Erwägungsgründe 16 und 19 Rom II VO).58 Damit wird dem Interesse an einer einheitlichen Natur von Unionsrechten sowie der Vorhersehbarkeit von Rechtsstreitigkeiten der Vorrang gegenüber den jeweiligen nationalen Interessen an der Einhaltung ihrer nur flankierenden Regelungen eingeräumt. Dieser Ansatz ist nicht auf Fälle übertragbar, in denen sich der Verletzungsvorwurf auf einen Mitgliedstaat beschränkt59 oder in denen die für die Unionsrechtsverletzung ursächliche Handlung im EU-Ausland begangen wurde.60 Erst recht kann er nicht auf Fälle des Art. 8 Abs. 1 Rom II VO übertragen werden, in denen mehrere (nationale) Rechte des geistigen Eigentums verletzt werden, da dies unvereinbar wäre mit der Souveränität der jeweils betroffenen Staaten.61 Der EuGH hat ferner klargestellt, dass dieser Ansatz nicht auf die internationale Gerichtszuständigkeit zu übertragen ist.62 Für Mehrrechtsstaaten, wie die USA in puncto Markenrecht, wird eine analoge Anwendung der Vorschrift in Betracht gezogen, sofern ein einheitliches Immaterialgüterrecht auch durch einzelstaatliches Recht geschützt wird.63

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III. Abdingbarkeit Eine vorrangige Rechtswahl ist gem. Abs. 3 (ggf. i.V.m. Art. 13 Rom II VO) ausgeschlossen.

20

IV. Einzelfälle und -fragen 1. Klage auf Löschung eines Domainnamens Wegen der Ausklammerung der Persönlichkeitsrechte aus dem Anwendungsbereich der Rom II-VO 21 (Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II VO)64 ist bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts zu differenzieren. Soweit im Domain-Namen ein Handelsname, eine Firma oder deren Kürzel enthalten sind, handelt es sich um eine geschäftliche Bezeichnung, die nach autonomer Auslegung unter den Begriff des geistigen Eigentums gem. Art. 8 Abs. 1 Rom II VO fällt. Daher findet das Schutzlandprinzip gem. Art. 8 Rom II VO Anwendung. Ist hingegen im Domain-Namen ein privater Name enthalten, so findet ROM-II-VO aufgrund Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II VO keine Anwendung, sondern das autonome Kollisionsrecht.65 2. Angebot von Unions-IP-verletzenden Waren über Website Der EuGH hat sich zur Auslegung des Ortes, in dem die Verletzung begangen wird i.S.v. Art. 8 Abs. 2 Rom II VO in einem Fall geäußert, in dem der Verletzer gemeinschaftsgeschmacksmusterverletzende66 Waren über eine Website anbietet und diese Website – auch – auf andere Mitgliedstaaten als den

58 EuGH v. 27.9.2017 – C-24/16, C-25/16, BeckRs 2017, 126271 Ls. 3 und Rz. 102 ff., 111 – Nintendo vs. Bigben. 59 OLG Köln v. 18.1.2019 – 6 U 61/18, GRUR-RR 2019, 251 – Culatello do Parma, Rz. 62 und 53. 60 Kur, Anmerkung zu EuGH v. 27.9.2017 – C-24/16, C-25/16 – Nintendo vs. Bigben, GRUR 2017, 1120, 1128. 61 Hierzu bereits Rz. 13 ff. m.w.N. 62 EuGH v. 5.9.2019 – C-172/18, Rz. 64 (Verletzung einer Unionsmarke auf einer Website und auf Social-MediaPlattformen). 63 Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II VO Rz. 8. 64 S. auch Erwägungsgrund 26 Rom II VO sowie Art. 1 Rom II VO Rz. 16. 65 In Deutschland nach Art. 40 EGBGB (Ubiquitätsprinzip, d.h. alternative Anknüpfung an Handlungs- oder Erfolgsort), Weller, LMK 2013, 344766. 66 OLG Frankfurt v. 15.3.2018 – 6 U 143/16, GRUR-RR 2018, 339 Rz. 34 überträgt diesen Ansatz auf Unionsmarken.

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Rom II VO Art. 8 Rz. 22 Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums Mitgliedstaat, in dem der Verletzter ansässig ist, ausgerichtet ist.67 Laut EuGH ist bei der Bestimmung des schadensbegründenden Ereignisses in Fällen, in denen demselben Beklagten verschiedene, in mehreren Mitgliedstaaten begangene Verletzungshandlungen in Form der „Benutzung“ eines Gemeinschaftsgeschmackmusters vorgeworfen werden, nicht auf jede einzelne ihm vorgeworfene Verletzungshandlung abzustellen, sondern es ist eine Gesamtwürdigung seines Verhaltens vorzunehmen, um den Ort zu bestimmen, an dem die ursprüngliche Verletzungshandlung, auf die das vorgeworfene Verhalten zurückgeht, begangen worden ist oder droht.68 Besteht die Verletzungshandlung darin, dass ein Wirtschaftsteilnehmer die beanstandeten Waren, insbesondere durch die Veröffentlichung eines Angebots auf seiner Website, zum Kauf anbietet, dann ist der Ort des schadensbegründenden Ereignisses i.S.v. Art. 8 Abs. 2 Rom II VO mithin der Ort, an dem der Prozess der Veröffentlichung des Angebots durch den Wirtschaftsteilnehmer auf seiner Website in Gang gesetzt worden ist.69

Art. 9 Arbeitskampfmaßnahmen Unbeschadet des Artikels 4 Absatz 2 ist auf außervertragliche Schuldverhältnisse in Bezug auf die Haftung einer Person in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber oder der Organisationen, die deren berufliche Interessen vertreten, für Schäden, die aus bevorstehenden oder durchgeführten Arbeitskampfmaßnahmen entstanden sind, das Recht des Staates anzuwenden, in dem die Arbeitskampfmaßnahme erfolgen soll oder erfolgt ist. I. Allgemeines – Schäden durch Arbeitskampf

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arbeitskampfmaßnahme . . . . . . . . . . . .

3 3

2. Recht des Staates, in dem die Arbeitskampfmaßnahme erfolgen soll . . . . . . . . .

5

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines – Schäden durch Arbeitskampf 1

Entstehen aus Arbeitskampfmaßnahmen Schäden, so bestimmt sich das für die Schadenshaftung anwendbare Recht nach der Sonderkollisionsnorm des Art. 9 Rom II VO. Sie gilt auch für entsprechende Unterlassungsansprüche (Art. 2 Abs. 2 und 3 Rom II VO).1

2

Bei einem gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort verweist Art. 9 Rom II VO auf die Anknüpfung nach Art. 4 Abs. 2 Rom II VO; die (gerade im IT-Kontext viel diskutierte)2 Ausweichklausel gem. Art. 4 Abs. 3 Rom II VO greift jedoch nicht. Eine vorrangige Rechtswahl ist möglich (str.).3

67 EuGH v. 27.9.2017 – verbundene Rechtssache C-24/16 und C-25/16 – Nintento vs. Bigben, GRUR 2017, 1120 auf Vorlage des OLG Düsseldorf v. 7.1.2016 – I-20 U 225/13, GRUR 2016, 616. 68 EuGH v. 27.9.2017 – verbundene Rechtssache C-24/16 und C-25/16 – Nintento vs. Bigben, GRUR 2017, 1120 Rz. 113. 69 EuGH v. 27.9.2017 – verbundene Rechtssache C-24/16 und C-25/16 – Nintento vs. Bigben, GRUR 2017, 1120 Rz. 107 f. 1 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II VO Rz. 21 und 22. 2 Hierzu schon Art. 4 Rom II VO Rz. 14 ff. 3 Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 9 Rom II VO Rz. 1, 11 f.; MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II VO Rz. 6 f.

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Arbeitskampfmaßnahmen

Rz. 7 Art. 9 Rom II VO

II. Norminhalt 1. Arbeitskampfmaßnahme Die Rom II VO sieht keine autonome Definition der Arbeitskampfmaßnahme vor, sondern verweist auf das jeweilige nationale Recht (Erwägungsgrund 27 Satz 1 Rom II VO).

3

Als IT-spezifische Arbeitskampfmaßnahmen dürften solche zu werten sein, die IT-Infrastruktur ein- 4 setzen bzw. auf diese unmittelbar abzielen, beispielsweise das sog. E-Mail-Bombing,4 also die Überlastung der Mail-Server des Arbeitgebers durch eine E-Mail-Flut, ein sog. Online-Flashmob, wie z.B. die Überlastung der Internetpräsenz und Servicekräfte des Arbeitgebers durch massenhafte, ggf. sinnfreie Anfragen und Aktionen,5 die Sperrung oder Störung von Cloud-Services (zum Begriff des Cloud Computings s. Vor Rom I VO und Rom II VO Rz. 8) oder das Boykottieren von Online-Spielen durch Avatare der Arbeitnehmer des Spieleanbieters etc. 2. Recht des Staates, in dem die Arbeitskampfmaßnahme erfolgen soll Sofern nicht ein gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthaltsort von Schädiger und Geschädigtem besteht und keine vorrangige Rechtswahl getroffen wurde, erklärt Art. 9 Rom II VO den Handlungsort für die Bestimmung des anwendbaren Rechts für maßgeblich, also den Arbeitskampfort6 – im Gegensatz zum Erfolgs- bzw. Schadenseintrittsort.7

5

Bei digitalen bzw. virtuellen Arbeitskampfmaßnahmen kann dieser zunächst an dem Ort zu lokalisie- 6 ren sein, an dem die menschliche Handlung, z.B. der Mausklick vorgenommen wird, die die digitale/ virtuelle Arbeitskampfmaßnahme auslöst. Bei herkömmlichen (nicht-digitalen/virtuellen) Sachverhalten wurde differenziert zwischen dem Ort, an dem die Maßnahme ausgelöst wurde und demjenigen, an dem sie ergriffen wurde (Erwägungsgrund Nr. 27 Satz 2 Rom II VO). Der Auslösungsort wurde für unmaßgeblich erachtet.8 Dies ist auf digitale/virtuelle Arbeitskampfmaßnahmen zu übertragen. Bei diesen verlagert sich der maßgebliche Arbeitskampfort in den digitalen/virtuellen Raum. Daher sind die digitalen/virtuellen Handlungsorte miterfasst, z.B. der Belegenheitsort der beeinträchtigten Server etc.9

III. Abdingbarkeit Eine Rechtswahl der Parteien nach Art. 14 Rom II VO geht dem nach Art. 9 Rom II VO anwendbaren Recht vor, arg. eArt. 6 Abs. 4 Rom II VO und Art. 8 Abs. 3 Rom II VO (str.).10

4 Zachert, NZA Beilage 2006, 62, 66 m.w.N. 5 Rieble, NZA 2008, 796; Spindler/Schuster/Bach, Art. 9 Rom II VO Rz. 3; unter www.inclusio.org findet sich z.B. eine online-flashmob Organisation. 6 Palandt/Thorn, Art. 9 Rom II VO Rz. 3. 7 S. auch MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II VO Rz. 2 zur Unzumutbarkeit der Berücksichtigung aller potentiellen ausländischen Vermögensauswirkungen der Streikmaßnahme. 8 MünchKomm/Junker, Art. 9 Rom II VO Rz. 27. 9 Giedke, Cloud Computing, S. 138 f.; ähnlich Spindler/Schuster/Bach, Art. 9 Rom II VO Rz. 3, der zwar nicht den Handlungsort entsprechend auslegt aber dafür plädiert, bei virtuellen Arbeitskampfmaßnahmen das Recht des Schadenseintrittsorts für anwendbar zu erklären, hiermit aber u.a. den Standort des geschädigten Servers meint. Ein vergleichbar weites Verständnis vom Handlungsort wurde bereits vom Reichsgericht bei der Bestimmung des deliktischen Handlungsortes einer Schiffskollision angenommen: Der Begehungsort war nicht nur an Bord des Schiffes zu sehen, das die Kollision verschuldete, sondern auch an dem beschädigten Schiff, Urt. v. 12.11.1932 – I 68/32, RGZ 138, 243, 246. 10 Palandt/Thorn, Art. 9 Rom II VO Rz. 3; Rauscher/Unberath/Cziupka/Pabst, Art. 9 Rom II VO Rz. 11 f.

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Rom II VO Art. 10 Ungerechtfertigte Bereicherung

Art. 10 Ungerechtfertigte Bereicherung (1) Knüpft ein außervertragliches Schuldverhältnis aus ungerechtfertigter Bereicherung, einschließlich von Zahlungen auf eine nicht bestehende Schuld, an ein zwischen den Parteien bestehendes Rechtsverhältnis – wie einen Vertrag oder eine unerlaubte Handlung – an, das eine enge Verbindung mit dieser ungerechtfertigten Bereicherung aufweist, so ist das Recht anzuwenden, dem dieses Rechtsverhältnis unterliegt. (2) Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 1 bestimmt werden und haben die Parteien zum Zeitpunkt des Eintritts des Ereignisses, das die ungerechtfertigte Bereicherung zur Folge hat, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat, so ist das Recht dieses Staates anzuwenden. (3) Kann das anzuwendende Recht nicht nach den Absätzen 1 oder 2 bestimmt werden, so ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem die ungerechtfertigte Bereicherung eingetreten ist. (4) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass das außervertragliche Schuldverhältnis aus ungerechtfertigter Bereicherung eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen als dem in den Absätzen 1, 2 und 3 bezeichneten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. S. Hinweis zu Art. 10–13 zusammengefasst in Art. 13 Rom II VO Rz. 1.

Art. 11 Geschäftsführung ohne Auftrag (1) Knüpft ein außervertragliches Schuldverhältnis aus Geschäftsführung ohne Auftrag an ein zwischen den Parteien bestehendes Rechtsverhältnis – wie einen Vertrag oder eine unerlaubte Handlung – an, das eine enge Verbindung mit dieser Geschäftsführung ohne Auftrag aufweist, so ist das Recht anzuwenden, dem dieses Rechtsverhältnis unterliegt. (2) Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 1 bestimmt werden und haben die Parteien zum Zeitpunkt des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat, so ist das Recht dieses Staates anzuwenden. (3) Kann das anzuwendende Recht nicht nach den Absätzen 1 oder 2 bestimmt werden, so ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem die Geschäftsführung erfolgt ist. (4) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass das außervertragliche Schuldverhältnis aus Geschäftsführung ohne Auftrag eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen als dem in den Absätzen 1, 2 und 3 bezeichneten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. S. Hinweis zu Art. 10–13 zusammengefasst in Art. 13 Rom II VO Rz. 1.

Art. 12 Verschulden bei Vertragsverhandlungen (1) Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrags, unabhängig davon, ob der Vertrag tatsächlich geschlossen wurde oder nicht, ist das Recht anzuwenden, das auf den Vertrag anzuwenden ist oder anzuwenden gewesen wäre, wenn er geschlossen worden wäre. (2) Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 1 bestimmt werden, so ist das anzuwendende Recht

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Freie Rechtswahl

Art. 14 Rom II VO

a) das Recht des Staates, in dem der Schaden eingetreten ist, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind, oder, b) wenn die Parteien zum Zeitpunkt des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat haben, das Recht dieses Staates, oder, c) wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass das außervertragliche Schuldverhältnis aus Verhandlungen vor Abschluss eines Vertrags eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen als dem in den Buchstaben a oder b bezeichneten Staat aufweist, das Recht dieses anderen Staates. S. Hinweis zu Art. 10–13 zusammengefasst in Art. 13 Rom II VO Rz. 1.

Art. 13 Anwendbarkeit des Art. 8 Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einer Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums ist für die Zwecke dieses Kapitels Artikel 8 anzuwenden. IT-spezifische Relevanz kommt im Rahmen der Art. 10 bis 13 Rom II VO dem in Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 4 sowie Art. 12 Abs. 2 lit. c Rom II VO enthaltenen Merkmal der „offensichtlich engeren Verbindung“ mit einem anderen Staat zu, s. hierzu bereits Art. 4 Rom II VO Rz. 14 ff. Zur von Art. 12 Rom II VO erfassten c.i.c. im IT-Recht s. auch Art. 1 Rom I VO Rz. 21. Zu Art. 13 ROM II VO und der Anwendbarkeit des Art. 8 Rom II VO auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus der Verletzung von IP-Rechten vgl. die Kommentierung zu Art. 8 Rom II VO Rz. 2 und 18.

Art. 14 Freie Rechtswahl (1) Die Parteien können das Recht wählen, dem das außervertragliche Schuldverhältnis unterliegen soll: a) durch eine Vereinbarung nach Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses; oder b) wenn alle Parteien einer kommerziellen Tätigkeit nachgehen, auch durch eine vor Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses frei ausgehandelte Vereinbarung. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Umständen des Falles ergeben und lässt Rechte Dritter unberührt. (2) Sind alle Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses in einem anderen als demjenigen Staat belegen, dessen Recht gewählt wurde, so berührt die Rechtswahl der Parteien nicht die Anwendung derjenigen Bestimmungen des Rechts dieses anderen Staates, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. (3) Sind alle Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt des Eintritts des schadensbegründenden Ereignisses in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen, so berührt die Wahl des Rechts eines Drittstaats durch die Parteien nicht die Anwendung – gegebenenfalls in der von dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts umgesetzten Form – der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung – Ausweitung der Parteiautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

3

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 III. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

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1

Rom II VO Art. 14 Rz. 1 Freie Rechtswahl Literatur: S. Literatur Vor Rom I VO und Rom II VO.

I. Allgemeines 1. Einführung – Ausweitung der Parteiautonomie 1

Durch Einführung der möglichen Rechtswahl im Bereich der außervertraglichen Rechtsverhältnisse wird die Parteiautonomie ausgeweitet.1 Ausgeschlossen bleibt die Rechtswahl im Bereich des Wettbewerbs- und Immaterialgüterrechts, Art. 6 Abs. 4 und Art. 8 Abs. 3 (i.V.m. Art. 13) Rom II VO. Auch bei rein nationalen (Abs. 2) bzw. EU-Sachverhalten (Abs. 3) ist die Möglichkeit der Rechtswahl beschränkt2 ebenso wie durch Eingriffsnormen (Art. 16), Sicherheits- und Verhaltensregeln (Art. 17 Rom II VO) und die öffentliche Ordnung im Staat des angerufenen Gerichts (Art. 26 Rom II VO). Rechte Dritter bleiben von der Rechtswahl unberührt, Abs. 1 Satz 2 a.E.3

2

Neben der direkten Rechtswahl nach Art. 14 Rom II VO sieht die Rom II VO auch eine indirekte Möglichkeit der Rechtswahl vor – über die akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts an das Vertragsstatut, z.B. in Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2 oder Art. 11 Abs. 1 Rom II VO.4 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

3

Soweit die Rechtswahl zulässig ist, hat sie Vorrang ggü. allen weiteren Anknüpfungen der Rom II VO.5

4

Jede staatliche Rechtsordnung ist wählbar.6 Die Rechtswahl kann jedenfalls nach Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses getroffen werden; unter Parteien, die einer kommerziellen Tätigkeit nachgehen, auch schon vorab (Abs. 1 Satz 1 lit. a und b). Sonstige (nicht-staatliche) Regelwerke können nur insoweit gewählt werden, als sie nur die dispositiven Normen des nach objektiver Anknüpfung anwendbaren Rechts verdrängen können.7

5

Eine vorherige Rechtswahl erscheint im IT-Kontext insb. dann sinnvoll, wenn die IT-Infrastrukturen weltweite Bezugspunkte haben und somit die Anwendbarkeit diverser Rechtsordnungen droht. Um hier das Haftungsrisiko vorhersehbar zu machen bzw. Rechtssicherheit8 bzgl. des anwendbaren Rechts zu erlangen, erscheint eine Rechtswahl bezüglich außervertraglicher Ansprüche sinnvoll.

II. Norminhalt 6

Aus IT-rechtlicher Sicht sind v.a. die Merkmale einer ausdrücklichen bzw. sich mit hinreichender Sicherheit aus den Umständen ergebenden Rechtswahl (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO) relevant sowie die Ausnahmeregelungen für die Fälle, dass alle Elemente des Sachverhalts in einem anderen Staat bzw. in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen sind (Art. 14 Abs. 2 und 3 Rom II VO). Für die Ausnahmeregelungen kann jedoch im Grundsatz auf die Kommentierung von Art. 3 Rom I VO verwiesen werden.9 1 Erwägungsgrund 31 Rom II VO; Palandt/Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 1. 2 Parallele Regelungen zu Abs. 2 und Abs. 3 finden sich in Art. 3 Abs. 3 und Abs. 4 Rom I VO (s. auch dortige Kommentierung Art. 3 Rom I VO Rz. 16); Spindler/Schuster/Bach, Art. 14 Rom II VO Rz. 10. 3 Rauscher/Picht, Art. 14 Rom II VO Rz. 41 ff. 4 Rauscher/Picht, Art. 14 Rom II VO Rz. 23; Landbrecht, RIW 2010, 783, 786 f. 5 Palandt/Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 2. 6 S. Wortlaut Art. 14 Abs. 2 und 3 Rom II VO, die die Wahl eines staatlichen Rechts voraussetzen; MünchKomm/ Junker, Art. 14 Rom II VO Rz. 15. 7 S. auch Kommentierung zu Art. 3 Rom I VO Rz. 13. Ein überstaatliches Regelungswerk sind z.B. die Grundsätze eines Europäischen Deliktsrechts, Kadner Graziano, RabelsZ 73 (2009) 1, 10 f. 8 Zum Aspekt der Rechtssicherheit auch Erwägungsgrund 31 Rom II VO sowie Palandt/Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 7. 9 Oben Art. 3 Rom I VO Rz. 1 ff. Ebenso MünchKomm/Junker, Art. 14 Rom II VO Rz. 8; Spindler/Schuster/Bach, Art. 14 Rom II VO Rz. 3.

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Freie Rechtswahl

Rz. 11 Art. 14 Rom II VO

Nach Erwägungsgrund 7 sind beide Rom Verordnungen einheitlich anzuwenden. Bei vertraglichen 7 Schuldverhältnissen hat die Rechtswahl eine größere Bedeutung als bei außervertraglichen Schuldverhältnissen. Entsprechend ist Art. 3 Rom I VO detaillierter geregelt als Art. 14 Rom II VO. Regelungslücken bei Art. 14 Rom II VO können daher durch analoge Anwendung der Detailregelungen von Art. 3 Rom I VO geschlossen werden, z.B. was die teilweise Rechtswahl anbelangt (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Rom I VO), die danach auch bei außervertraglichen Schuldverhältnissen zulässig ist.10 Bzgl. der konkludenten Rechtswahl11 ist zu beachten, dass diese ein entsprechendes Erklärungsbewusstsein beider Parteien erfordert12 und dass die diesbezüglichen Anforderungen im Rahmen des Art. 14 Rom II VO höher anzusetzen sind als im Rahmen des Art. 3 Rom I VO. Dies gilt z.B. wenn durch bestimmtes Prozessverhalten auf eine konkludente Rechtswahl geschlossen werden soll. Denn es wird den Parteien eines rein außervertraglichen Schuldverhältnisses i.d.R. weniger bekannt sein, dass eine Rechtswahl überhaupt möglich ist.13

8

Zu beachten ist schließlich der Sonderfall, dass zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer eine nach Art. 3 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Rom I VO wirksame Rechtswahl ex ante für ihr vertragliches Schuldverhältnis getroffen wurde. Diese Rechtswahl kann z.B. über Art. 4 Abs. 3 Satz 2 Rom II VO auch für das außervertragliche Schuldverhältnis Geltung erlangen, obwohl eine unmittelbare Rechtswahl allein für das außervertragliche Schuldverhältnis im Interesse des Verbrauchers gem. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 lit. b Rom II VO scheitern würde.14

9

III. AGB Zum Teil wird die Möglichkeit einer Rechtswahl vor Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses gem. Art. 14 Abs. 1 lit. b Rom II VO durch AGB verneint, weil lit. b eine „frei ausgehandelte“ Vereinbarung verlangt, was bei einseitig gestellten AGB nicht der Fall sei.15

10

Hiergegen spricht, dass AGB, nach europäischem Verständnis, nicht dadurch charakterisiert sind, dass 11 sie „unfrei“ aufoktroyiert werden, sondern lediglich dadurch, dass sie „nicht im Einzelnen ausgehandelt“ werden.16 Im Übrigen sieht die Rom II VO an mehreren Stellen eine Anknüpfung an offensichtlich engere Verbindungen zu einem anderen Staat z.B. aufgrund eines Vertrages und somit eine mittelbare Rechtswahl vor, die auch durch AGB erfolgen kann.17 Schließlich würde die andere Ansicht Art. 14 Abs. 1 lit. b Rom II VO seiner praktischen Relevanz berauben, was nicht im Sinne des Verordnungsgebers gewesen sein kann.18 Daher ist eine Rechtswahl durch AGB möglich, auch im Fall des

10 Ebenso: MünchKomm/Junker, Art. 14 Rom II VO Rz. 8 und 37; Palandt/Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 4 zumindest, wenn die Teilrechtswahl auf bestimmte außervertragliche Schuldverhältnisse beschränkt ist. 11 Vgl. OLG Hamm v. 21.5.19 – I-9 U 44/19, NJW 2019, 3527 Rz. 12 ff., das eine konkludente Rechtswahl durch Verjährungsverzichtsvereinbarung abgelehnt hat. 12 Erwägungsgrund 31 Satz 3 Rom II VO sowie Palandt/Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 6. 13 Hierzu Rauscher/Picht, Art. 14 Rom II VO Rz. 30 f. 14 MünchKomm/Junker, Art. 14 Rom II VO Rz. 10. A.A. wohl Kadner Graziano, RabelsZ 73 (2009), 1, 21 ff., der auch im Rahmen des Art. 4 Abs. 3 Rom II VO die Beschränkungen des Art. 14 Rom II VO für die Rechtswahl berücksichtigen möchte. 15 Spindler/Schuster/Weller/Nordmeier, 3. Aufl. 2015, Art. 14 Rom II VO Rz. 3, großzügiger dagegen Spindler/ Schuster/Bach, 4. Aufl. 2019, Art. 14 Rom II VO Rz. 6 (zulässig, wenn frei verhandelt); Palandt/Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 9 m.w.N., der zu Recht auf die Unüblichkeit von Individualvereinbarungen im B2B-Bereich hinweist und sich daher für eine Einzelfallprüfung ausspricht, nach der nur völlig überraschende oder durch Täuschung zustande gekommene Rechtswahlklauseln unwirksam wären; Kadner Graziano, RabelsZ 73 (2009), 1, 8, der jedoch ein freies Aushandeln bei gesonderter Abzeichnung vorformulierter Rechtswahlvereinbarungen annimmt (ebenso Landbrecht, RIW 2010, 783, 785) bzw. im Falle übereinstimmender Rechtswahl der AGB beider Vertragspartner die Rechtswahl anerkennen möchte. 16 S. auch Art. 3 Klauselrichtlinie (RL 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. EG 1993, L 95, 29). 17 Z.B. Art. 4 Abs. 3 Satz 2, Art. 5 Abs. 2 oder Art. 11 Abs. 1 Rom II VO; Rauscher/Picht, Art. 14 Rom II VO Rz. 23; Landbrecht, RIW 2010, 783, 786 f. 18 Zur Entstehungsgeschichte MünchKomm/Junker, Art. 14 Rom II VO Rz. 2 ff.; Wagner, IPRax 2008, 1, 14.

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Rom II VO Art. 14 Rz. 11 Freie Rechtswahl Art. 14 Abs. 1 lit. b Rom II VO.19 Die vorgeschlagenen Kompromisslösungen (z.B. das gesonderte Unterzeichnen der Rechtswahlklausel in AGB)20 überzeugen ferner nicht, da hierdurch allenfalls die tatsächlich erfolgte Kenntnisnahme der Klausel – nicht deren anderweitige „Aushandlung“ – bestätigt wird.

Art. 15 Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts Das nach dieser Verordnung auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ist insbesondere maßgebend für a) den Grund und den Umfang der Haftung einschließlich der Bestimmung der Personen, die für ihre Handlungen haftbar gemacht werden können; b) die Haftungsausschlussgründe sowie jede Beschränkung oder Teilung der Haftung; c) das Vorliegen, die Art und die Bemessung des Schadens oder der geforderten Wiedergutmachung; d) die Maßnahmen, die ein Gericht innerhalb der Grenzen seiner verfahrensrechtlichen Befugnisse zur Vorbeugung, zur Beendigung oder zum Ersatz des Schadens anordnen kann; e) die Übertragbarkeit, einschließlich der Vererbbarkeit, des Anspruchs auf Schadenersatz oder Wiedergutmachung; f) die Personen, die Anspruch auf Ersatz eines persönlich erlittenen Schadens haben; g) die Haftung für die von einem anderen begangenen Handlungen; h) die Bedingungen für das Erlöschen von Verpflichtungen und die Vorschriften über die Verjährung und die Rechtsverluste, einschließlich der Vorschriften über den Beginn, die Unterbrechung und die Hemmung der Verjährungsfristen und der Fristen für den Rechtsverlust. 1

Vgl. die Kommentierung zu Art. 3 Rom II VO Rz. 5 sowie zu Art. 8 Rom II VO Rz. 5.1

Art. 16 Eingriffsnormen Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Vorschriften, die ohne Rücksicht auf das für das außervertragliche Schuldverhältnis maßgebende Recht den Sachverhalt zwingend regeln. 1

Der Begriff der Eingriffsnorm kann aus Art. 9 Abs. 1 Rom I VO auf Art. 16 Rom II VO übertragen werden (zum intendierten Gleichlauf beider Verordnungen s. Erwägungsgrund 7 Rom I und Rom II VO). Zur Frage, inwiefern die freie Rechtswahl durch Eingriffsnormen beschränkt ist, vgl. die Kommentierung zu Art. 3 Rom I VO Rz. 6 ff. 19 Rauscher/Picht, Art. 14 Rom II VO Rz. 23; MünchKomm/Junker, Art. 14 Rom II VO Rz. 34 ff. 20 Hierzu Landbrecht, RIW 2010, 783, 785; Kadner Graziano, RabelsZ 73 (2009), 1, 8, der zudem im Falle übereinstimmender Rechtswahl der AGB beider Vertragspartner die Rechtswahl anerkennen möchte. Palandt/ Thorn, Art. 14 Rom II VO Rz. 9 verlangt eine Einzelfallprüfung, nach der nur völlig überraschende oder durch Täuschung zustande gekommene Rechtswahlklauseln unwirksam wären. 1 Zu der Frage, ob die Klagebefugnis von Mitbewerbern verfahrens- oder materiell-rechtlich zu qualifizieren ist s. OGH Wien v. 18.11.2014 – 4 Ob 147/14t – klimaneutral II, GRUR-Int. 2015, 481, 483; zu Art. 15 lit. a und g Rom II VO und der Frage, ob das so bestimmte Recht auch für Mitwirkungshandlungen anderer Personen anzuwenden ist, s. OLG Düsseldorf v. 7.1.2016 – I-20 U 225/13, GRUR 2016, 616, der EuGH hat die ihm vorgelegte Frage wegen Unzulässigkeit nicht beantwortet, EuGH v. 27.9.2017 – C-24/16 und C-25/16 (verbundene Verfahren), GRUR 2017, 1120 Rz. 110 – Nintendo vs. BigBen.

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Gewöhnlicher Aufenthalt

Art. 23 Rom II VO

Anders als Art. 9 Abs. 3 Rom I VO enthält Art. 16 Rom II VO keine explizite Regelung zur Anwendung forumsfremder Eingriffsnormen.1 Daher ist umstritten, ob Art. 16 Rom II VO nur die Durchsetzung forumseigener Eingriffsnormen gestattet.2 Dafür spricht die systematische Auslegung mit Blick auf Art. 17 Rom II VO zur Berücksichtigungsfähigkeit von Sicherheits- und Verhaltensregeln am Handlungsort, wozu es in der Rom I VO kein Pendant gibt. Es erscheint sachgerecht, im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse Eingriffsnormen des Staates des vereinbarten Erfüllungsortes zur Anwendung zu bringen und im außervertraglichen Bereich, mangels vereinbarten Erfüllungsortes, Sicherheits- und Verhaltensregeln des Handlungsortes. Das nach Art. 16 Rom II VO anwendbare materielle Recht kann jedoch die Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen zulassen, beispielsweise § 823 Abs. 2 oder § 826 BGB.3 Hierfür spricht auch der vom Verordnungsgeber gewünschte internationale Entscheidungseinklang (Erwägungsgrund 6 Rom II VO).4

2

Art. 17 Sicherheits- und Verhaltensregeln Bei der Beurteilung des Verhaltens der Person, deren Haftung geltend gemacht wird, sind faktisch und soweit angemessen die Sicherheits- und Verhaltensregeln zu berücksichtigen, die an dem Ort und zu dem Zeitpunkt des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft sind. Art. 17 Rom II VO enthält eine Sonderanknüpfung für lokale Verhaltensnormen,1 wie sie z.B. für kriti- 1 sche IT Infrastrukturen i.S.d. § 2 Abs. 10 BSIG bestehen, für die angemessene organisatorische und technische Vorkehrungen zur Vermeidung von Störungen der Verfügbarkeit, Integrität, Authentizität und Vertraulichkeit von IT-Systemen, Komponenten oder Prozessen getroffen werden müssen, § 8a Abs. 1 Satz 1 BSIG. Hierbei ist der „Stand der Technik“ einzuhalten, § 8a Abs. 1 BSIG, der sich (wie im Patentrecht) objektiv, nach den weltweiten technischen Entwicklungen bemisst, und damit nicht lokal divergiert.2 Lokale Besonderheiten könnten hier aber ggf. über die Angemessenheitsprüfung und die vor Ort bestehenden Risiken Eingang finden.3

Art. 23 Gewöhnlicher Aufenthalt (1) Für die Zwecke dieser Verordnung ist der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen der Ort ihrer Hauptverwaltung. Wenn jedoch das schadensbegründende Ereignis oder der Schaden aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung herrührt, steht dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts 1 Spindler/Schuster/Bach, Art. 16 Rom II VO Rz. 1. 2 Dafür z.B. BeckOK BGB/Spickhoff, Art. 16 Rom II VO Rz. 4; dagegen Leible/Lehmann, RIW 2007, 721, 726; für eine „maßvolle Anwendung ausländischer Eingriffsnormen“ zur Vermeidung eines Anreizes zum Forum Shopping: Palandt/Thorn, Art. 16 Rom II VO Rz. 3. 3 MünchKomm/Junker, Art. 16 Rom II VO Rz. 23 ff. zum Meinungsstand und Rz. 25 f. zur materiellrechtlichen Berücksichtigung. 4 Palandt/Thorn, Art. 16 Rom II VO Rz. 3. 1 Wagner, IPRax 2008, 1, 5. 2 Ohne Bezug auf das IT-Sicherheitsgesetz werden als Beispiel i.R.d. Art. 17 Rom II VO Standards zum Verschlüsseln einer Verbindung bei externen Zugriffen auf Netzwerke genannt, Spindler/Schuster/Bach, Art. 17 Rom II VO Rz. 1. 3 Nach § 8a Abs. 2 BSIG kann eine Präzisierung durch branchenspezifische Sicherheitsstandards erfolgen. S. in diesem Kontext auch Art. 14 Abs. 1 der Europäischen Richtlinie über Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen gemeinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und Informationssystemen in der Union, RL (EU) 2016, 1148 vom 6.7.2016, die die Berücksichtigung des Stands der Technik zur Gewährleistung eines dem jeweiligen Risiko angemessenen Schutzniveaus verlangt.

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Rom II VO Art. 23 Rz. 1 Gewöhnlicher Aufenthalt der Ort gleich, an dem sich diese Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung befindet. (2) Im Sinne dieser Verordnung ist der gewöhnliche Aufenthalt einer natürlichen Person, die im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit handelt, der Ort ihrer Hauptniederlassung. 1

Zur Frage, ob ein Server eine Niederlassung i.S.d. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 Rom II VO sein kann, vgl. Art. 19 Rom I VO Rz. 1.

Art. 24 Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung Unter dem nach dieser Verordnung anzuwendenden Recht eines Staates sind die in diesem Staat geltenden Rechtsnormen unter Ausschluss derjenigen des Internationalen Privatrechts zu verstehen. 1

S. die Kommentierung zu Art. 3 Rom II VO Rz. 6.

Art. 26 Öffentliche Ordnung im Staat des angerufenen Gerichts Die Anwendung einer Vorschrift des nach dieser Verordnung bezeichneten Rechts kann nur versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung („ordre public“) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist. 1

Für einen ordre public Verstoß gelten hohe Anforderungen. Das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts muss im konkreten Fall zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehen, dass es nach deutscher Vorstellung untragbar erscheint.1 Als Beispiel für einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung nennt Erwägungsgrund 32 Rom II VO den Fall des Strafschadensersatzes, hierzu auch die Kommentierung zu Art. 2 Rom I VO Rz. 5. Als unzureichend angesehen wurden ein nur einjähriges Verjährungsrecht nach dem Tod einer Person2 sowie die Versagung von Schadensersatz bei Leistung von Sicherheit in einem einstweiligen Verfügungsverfahren, obwohl der Antragsteller in der Hauptsache keinen Anspruch hatte.3

Art. 27 Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsrechtsakten Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die für besondere Gegenstände Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten. 1

Zu Art. 27 s. die Kommentierung zu Art. 1 Rom II VO Rz. 4 ff.

1 BGH v. 10.12.2014 – XII ZB 463/13, NJW 2015, 479 Rz. 28, sog. „ordre public international“. 2 OLG Hamm v. 21.5.2019 – I-9 U 44/19, NJW 2019, 3527 Rz. 21 ff. 3 OLG Hamm v. 2.5.2019 – 3 U 182/17, BeckRS 2019, 18529 Rz. 79.

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Zeitpunkt des Beginns der Anwendung

Rz. 1 Art. 32 Rom II VO

Art. 28 Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen (1) Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der internationalen Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören und die Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten. (2) Diese Verordnung hat jedoch in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor den ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen, soweit diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind. Zu Art. 28 Rom II VO s. die Kommentierung zu Art. 1 Rom II VO Rz. 4 ff.

1

Art. 31 Zeitliche Anwendbarkeit Diese Verordnung wird auf schadensbegründende Ereignisse angewandt, die nach ihrem Inkrafttreten eintreten. Zur zeitlichen Anwendbarkeit s. Art. 1 Rom II VO Rz. 2 f.

1

Art. 32 Zeitpunkt des Beginns der Anwendung Diese Verordnung gilt ab dem 11. Januar 2009, mit Ausnahme des Artikels 29, der ab dem 11. Juli 2008 gilt. Zur zeitlichen Anwendbarkeit s. Art. 1 Rom II VO Rz. 2 f.

1

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Verordnung (EU) Nr. 316/2014 der Kommission vom 21. März 2014 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen (TT-GVO) ABl. EU Nr. L 93 vom 28.3.2014, 17 (Auszug)

(Erwägungsgründe) (1) Nach der Verordnung Nr. 19/65/EWG ist die Kommission ermächtigt, Artikel 101 Absatz 3 AEUV durch Verordnung auf bestimmte unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallende Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen und entsprechende aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen für anwendbar zu erklären, an denen nur zwei Unternehmen beteiligt sind. (2) Auf der Grundlage der Verordnung Nr. 19/65/EWG hat die Kommission insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 772/2004 erlassen. In der Verordnung (EG) Nr. 772/2004 sind die Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen festgelegt, die nach Auffassung der Kommission in der Regel die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen. Angesichts der insgesamt positiven Erfahrungen mit der Anwendung dieser Verordnung, die am 30. April 2014 außer Kraft tritt, und der seit ihrem Erlass gesammelten Erfahrungen sollte eine neue Gruppenfreistellungsverordnung erlassen werden. (3) Diese Verordnung sollte sowohl den Wettbewerb wirksam schützen als auch den Unternehmen angemessene Rechtssicherheit bieten. Bei der Verfolgung dieser beiden Ziele ist darauf zu achten, dass die behördliche Kontrolle und der rechtliche Rahmen so weit wie möglich vereinfacht werden. (4) Gegenstand einer Technologietransfer-Vereinbarung ist die Vergabe von Technologierechten in Form einer Lizenz. Solche Vereinbarungen steigern in der Regel die Effizienz in der Wirtschaft und fördern den Wettbewerb, da sie den parallelen Forschungs- und Entwicklungsaufwand reduzieren, den Anreiz zur Aufnahme von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten stärken, Anschlussinnovationen fördern, die Verbreitung der Technologie erleichtern und den Wettbewerb auf den Produktmärkten beleben können. (5) Die Wahrscheinlichkeit, dass die effizienzsteigernden und wettbewerbsfördernden Wirkungen die wettbewerbsschädigenden Wirkungen überwiegen, die von Beschränkungen in Technologietransfer-Vereinbarungen verursacht werden, hängt von der Marktmacht der beteiligten Unternehmen und somit von dem Ausmaß ab, in dem diese Unternehmen dem Wettbewerb anderer Unternehmen ausgesetzt sind, die über Ersatztechnologien verfügen oder Ersatzprodukte herstellen. (6) Diese Verordnung sollte nur für Technologietransfer-Vereinbarungen zwischen einem Lizenzgeber und einem Lizenznehmer gelten. Sie sollte für solche Vereinbarungen auch dann gelten, wenn sie Bedingungen für mehr als eine Handelsstufe enthalten, beispielsweise wenn der Lizenznehmer verpflichtet wird, ein spezielles Vertriebssystem zu errichten, und wenn ihm vorgegeben wird, welche Verpflichtungen er den Wiederverkäufern der in Lizenz hergestellten Produkte auferlegen muss oder kann. Diese Beschränkungen und Verpflichtungen sollten jedoch mit den für Liefer- und Vertriebsvereinbarungen geltenden Wettbewerbsregeln der Verordnung (EU) Nr. 330/ 2010 der Kommission vereinbar sein. Liefer- und Vertriebsvereinbarungen zwischen einem Lizenznehmer und Kunden, die seine Vertragsprodukte kaufen, sollten von dieser Verordnung nicht freigestellt sein. (7) Diese Verordnung sollte nur für Vereinbarungen gelten, mit denen der Lizenzgeber dem Lizenznehmer und/oder einem oder mehreren seiner Zulieferer(n) erlaubt, die lizenzierten Technologierechte – gegebenenfalls nach weiteren Forschungs- und Entwicklungsarbeiten des Lizenznehmers und/oder seines Zulieferers bzw. seiner Zulieferer – zur Produktion von Waren oder 316

Hempel

Erwägungsgründe

Vor TT-GVO

Dienstleistungen zu nutzen. Sie sollte nicht gelten für die Lizenzvergabe im Zusammenhang mit Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, die unter die Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission fallen, und die Lizenzvergabe im Zusammenhang mit Spezialisierungsvereinbarungen, die unter die Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission fallen. Ebenfalls nicht gelten sollte sie für Vereinbarungen zur reinen Vervielfältigung und zum reinen Vertrieb urheberrechtlich geschützter Softwareprodukte, da derartige Vereinbarungen nicht die Vergabe von Technologielizenzen zu Produktionszwecken zum Gegenstand haben, sondern eher mit Vertriebsvereinbarungen vergleichbar sind. Ferner sollte die Verordnung weder für Vereinbarungen zur Errichtung von Technologiepools, das heißt Vereinbarungen über die Zusammenführung von Technologien mit dem Ziel, diese Dritten zur Nutzung anzubieten, noch für Vereinbarungen gelten, in deren Rahmen diesen Dritten Lizenzen für die zusammengeführten Technologien erteilt werden. (8) Für die Anwendung des Artikels 101 Absatz 3 AEUV durch Verordnung ist es nicht erforderlich, diejenigen Technologietransfer-Vereinbarungen zu bestimmen, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen könnten. Bei der individuellen Beurteilung von Vereinbarungen nach Artikel 101 Absatz 1 sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen, insbesondere die Struktur und Dynamik der relevanten Technologie- und Produktmärkte. (9) Die in dieser Verordnung geregelte Gruppenfreistellung sollte nur für Vereinbarungen gelten, von denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass sie die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen. Damit die Vorteile des Technologietransfers genutzt und die damit verbundenen Ziele erreicht werden können, sollte diese Verordnung nicht nur für den Technologietransfer als solchen, sondern auch für andere in Technologietransfer-Vereinbarungen enthaltene Bestimmungen gelten, soweit diese Bestimmungen unmittelbar mit der Produktion oder dem Verkauf von Vertragsprodukten verbunden sind. (10) Bei Technologietransfer-Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern kann davon ausgegangen werden, dass sie im Allgemeinen zu einer Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs und zu einer angemessenen Beteiligung der Verbraucher an den daraus resultierenden Vorteilen führen, wenn der gemeinsame Marktanteil der beteiligten Unternehmen auf den relevanten Märkten 20 % nicht überschreitet und die Vereinbarungen keine stark wettbewerbsschädigenden Beschränkungen enthalten. (11) Bei Technologietransfer-Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerbern kann davon ausgegangen werden, dass sie im Allgemeinen zu einer Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs und zu einer angemessenen Beteiligung der Verbraucher an den daraus resultierenden Vorteilen führen, wenn der individuelle Marktanteil der beteiligten Unternehmen auf den relevanten Märkten 30 % nicht überschreitet und die Vereinbarungen keine stark wettbewerbsschädigenden Beschränkungen enthalten. (12) Wird die anwendbare Marktanteilsschwelle auf einem oder mehreren Produkt- oder Technologiemärkten überschritten, so sollte die Gruppenfreistellung für die Vereinbarung in Bezug auf die betreffenden relevanten Märkte nicht gelten. (13) Bei Technologietransfer-Vereinbarungen oberhalb dieser Marktanteilsschwellen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen. Eine Vereinbarung zwischen nichtkonkurrierenden Unternehmen über die Vergabe einer Exklusivlizenz fällt beispielsweise häufig nicht unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV. Auch bei unter Artikel 101 Absatz 1 fallenden Technologietransfer-Vereinbarungen oberhalb dieser Marktanteilsschwellen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie die Freistellungsvoraussetzungen nicht erfüllen. Ebenso wenig kann jedoch angenommen werden, dass sie in der Regel objektive Vorteile mit sich bringen, die nach Art und Umfang geeignet sind, die durch sie verursachten Wettbewerbsbeeinträchtigungen auszugleichen. (14) Diese Verordnung sollte keine Technologietransfer-Vereinbarungen freistellen, die Beschränkungen enthalten, die für die Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs nicht unerlässlich sind. Insbesondere Technologietransfer-Vereinbarungen, die stark wettbewerbsschädigende Beschränkungen enthalten, wie die Festsetzung von Preisen gegenüber Dritten, sollten ungeachtet des Marktanteils der beteiligten Unternehmen von dem Vorteil der Gruppenfreistellung nach dieser Verordnung ausgenommen werden. Bei diesen sogenannten Kernbeschränkungen sollte die gesamte Vereinbarung vom Vorteil der Gruppenfreistellung ausgeschlossen werden. Hempel

317

TT-GVO Vor Rz. 1 Erwägungsgründe (15) Um Innovationsanreize zu wahren und eine angemessene Anwendung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen, sollten bestimmte Beschränkungen von der Gruppenfreistellung ausgenommen werden. Dies gilt vor allem für bestimmte Rücklizenz-Verpflichtungen und Nichtangriffsklauseln. Sind solche Beschränkungen in einer Lizenzvereinbarung enthalten, so sollte nur die betreffende Beschränkung vom Vorteil der Gruppenfreistellung ausgeschlossen werden. (16) Die Marktanteilsschwellen und der Ausschluss von der Gruppenfreistellung von Technologietransfer-Vereinbarungen welche stark wettbewerbsschädigende Beschränkungen und nichtfreigestellte Beschränkungen, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, enthalten, dürften im Allgemeinen sicherstellen, dass Vereinbarungen, auf die die Gruppenfreistellung Anwendung findet, den beteiligten Unternehmen nicht die Möglichkeit eröffnen, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Produkte den Wettbewerb auszuschalten. (17) Nach Artikel 29 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates kann die Kommission den mit dieser Verordnung verbundenen Rechtsvorteil entziehen, wenn sie in einem bestimmten Fall feststellt, dass eine nach dieser Verordnung freigestellte Vereinbarung gleichwohl Wirkungen hat, die mit Artikel 101 Absatz 3 AEUV unvereinbar sind. Dies kann unter anderem dann der Fall sein, wenn Innovationsanreize eingeschränkt werden oder der Marktzugang erschwert wird. (18) Die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats kann nach Artikel 29 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 den Rechtsvorteil der vorliegenden Verordnung für das Gebiet oder ein Teilgebiet des jeweiligen Mitgliedstaats entziehen, wenn sie in einem bestimmten Fall feststellt, dass eine unter die Freistellung nach dieser Verordnung fallende Vereinbarung im Gebiet oder in einem Teilgebiet des Mitgliedstaats, das alle Merkmale eines gesonderten räumlichen Marktes aufweist, Wirkungen hat, die mit Artikel 101 Absatz 3 AEUV unvereinbar sind. (19) Im Hinblick auf die Verstärkung der Überwachung paralleler Netze von TechnologietransferVereinbarungen, die gleichartige wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen haben und mehr als 50 % eines Marktes abdecken, kann die Kommission durch Verordnung erklären, dass die vorliegende Verordnung auf Technologietransfer-Vereinbarungen, die bestimmte auf den betroffenen Markt bezogene Beschränkungen enthalten, keine Anwendung findet, und dadurch die volle Anwendbarkeit des Artikels 101 AEUV auf diese Vereinbarungen wiederherstellen.

Vorbemerkungen zur TT-GVO I. Vorbemerkung . . . . . . 1. Allgemeines zur TT-GVO a) Funktionsweise . . . . b) Rechtsgrundlage . . .

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1 1 4 5

c) Anwendung der Gruppenfreistellungsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur der Gruppenfreistellungsverordnung

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II. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . . . . .

8

Literatur: Bartsch/Briner, DGRI Jahrbuch 2010, 1. Aufl. 2011; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht Kommentar, 3. Aufl. 2014; Berger, Zur Anwendbarkeit der neuen Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung auf Softwareverträge, K&R 2005, 15; Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, Stellungnahme der DGRI v. 17.5.2013 zum (zweiten) europäischen Entwurf einer Technologietransfer-GVO, CR 2013, 412; Frank, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen und ihre Relevanz für Verträge der Informationstechnologie, CR 2014, 349; Grützmacher, Software-Verträge und die 7. GWB-Novelle, ITRB 2005, 205; Grützmacher, Gebrauchtsoftwarehandel mit erzwungener Zustimmung – eine gangbare Alternative? Zugleich Anmerkung zur Entscheidung des LG Mannheim, Urt. v. 22.12.2009 – 2 O 37/09, zur Zustimmungspflicht des Softwareherstellers bei Lizenzübertragung, CR 2010, 141; Grützmacher, Teilkündigungen bei Softwarepflege- und Softwarelizenzverträgen – Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der AGB- und kartellrechtlichen Aspekte, ITRB 2011, 133; Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band I EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012; Kilian/Heussen (Hrsg.), Computerrechts-Handbuch, Informationstechnologie in der Rechts- und Wirtschaftspraxis, 34. Ergänzungslieferung 2018; Kreutzmann, Neues Kartellrecht und geistiges Eigentum, WRP 2006, 453; Leistner/Königs, Der Kommissionsentwurf neuer Regelungen für Technologietransfer-Vereinbarungen – eine kritische Analyse, WRP 2014, 268; Matthiesen, Die Freistellung von Softwarenutzungsverträgen nach Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2010 (zitiert: Matthiesen, Die Freistellung); Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, hrsg. v. Bornkamm/Montag/Säcker, Band 1 Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2015 (zitiert: MünchKomm/EUWettbR/Bearbeiter, § … Rz. …); Polley, Softwareverträge und

318

Hempel

Vorbemerkungen

Rz. 7 Vor TT-GVO

ihre kartellrechtliche Wirksamkeit, CR 2004, 641; Rehbinder, Urheberrecht, 15. Aufl. 2008; Scholz/Wagener, Kartellrechtliche Bewertung hardwarebezogener Verwendungsbeschränkungen in Software-Überlassungsverträgen, CR 2003, 880; Schumacher/Schmid, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen, GRUR 2006, 1; Timm, Kartellrecht der Softwareverträge, 2005 (zitiert: Timm, Softwareverträge); Wandtke/ Bullinger (Hrsg.), Praxiskommentar zum Urheberrecht, 4. Aufl. 2019; Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016 (zitiert: Wiedemann/Bearbeiter, Hdb. KartellR).

I. Vorbemerkung 1. Allgemeines zur TT-GVO Die TT-GVO regelt die Freistellung wettbewerbsbeschränkender Abreden in Lizenzverträgen. Sie erfasst die Lizenzierung von Patenten, Know-how oder Software für die Produktion von Waren oder Dienstleistungen. Die Kommission bezweckt mit der Gruppenfreistellungsverordnung die Erleichterung der Weitergabe von geistigem Eigentum. Zugleich sollen die Anreize für Forschung und Entwicklung gestärkt werden.1 Es ist anerkannt, dass die Vergabe von Lizenzen die Innovation fördert.2 Gleichzeitig können Lizenzvereinbarungen Wettbewerbsbeschränkungen wie Marktaufteilungen enthalten.3

1

Insgesamt legt die TT-GVO einen eher großzügigen Maßstab an wettbewerbsbeschränkende Abreden in Lizenzvereinbarungen an. Dahinter steht die Vorstellung, dass die meisten Lizenzverträge den Wettbewerb nicht beschränken und wettbewerbsfördernde Effizienzvorteile mit sich bringen und dass selbst Wettbewerbsbeschränkungen in Lizenzverträgen oft effizienzfördernd sind (TT-Leitlinien, Tz. 9; zu den Effizienzvorteilen durch Lizenzvereinbarungen: TT-Leitlinien, Tz. 17).

2

Die aktuell geltende TT-GVO von 2014 ist die dritte ihrer Art.4

3

a) Funktionsweise Insoweit kann auf die Kommentierung zur Vertikal-GVO verwiesen werden.

4

b) Rechtsgrundlage Die TT-GVO ist wie die Vertikal-GVO gestützt auf die Ermächtigungsgrundlage in Verordnung 5 Nr. 19/65/EWG des Rates vom 2. März 1965 über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen.5 Die VO ermächtigt die Kommission zur gruppenweisen Freistellung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen. c) Anwendung der Gruppenfreistellungsverordnung Auch insoweit kann auf die Kommentierung zur Vertikal-GVO verwiesen werden. Die Kommission hat auch zur TT-GVO Leitlinien erlassen. Diese sollen als Orientierungshilfe sowohl für die Anwendung der TT-GVO als auch für die Anwendung von Art. 101 AEUV in Fällen von TechnologietransferVereinbarungen dienen, auf die die TT-GVO nicht anwendbar ist (TT-Leitlinien, Tz. 2).

6

2. Struktur der Gruppenfreistellungsverordnung Die Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission folgen heute weitgehend einem identischen Aufbau. Es kann insoweit auf die Kommentierung zur Vertikal-GVO verwiesen werden. 1 2 3 4

Kommission, Pressemitteilung v. 21.3.2014. ErwGr. 4 TT-GVO; Kommission, Pressemitteilung v. 21.3.2014. Kommission, Pressemitteilung v. 21.3.2014. Vgl. zuvor Verordnung (EG) Nr. 240/1996 der Kommission vom 31.1.1996 zur Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. EG L 31 v. 9.2.1996, 2; Verordnung (EG) Nr. 772/2004 der Kommission vom 7.4.2004 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. EG L 123 v. 27.4.2004, 11. 5 ABl. EG Nr. 36 v. 6.3.1965, 533.

Hempel

319

7

TT-GVO Vor Rz. 8 Vorbemerkungen

II. Bedeutung für IT-Verträge 8

Die TT-GVO nennt das Software-Urheberrecht explizit als Technologierecht, das Gegenstand einer Technologietransfer-Vereinbarung sein kann (Art. 1 Abs. 1 Buchst. b vii TT-GVO). Die TT-GVO erfasst damit die Lizenzierung von Software, um die Herstellung von Produkten oder Dienstleistungen zu ermöglichen. Sie gilt nicht für Lizenzen, die für den Vertrieb von Software erteilt werden. Ob und in welchem Umfang sie für die Software-Überlassung an Endnutzer gilt, ist nicht abschließend geklärt und umstritten.

Art. 1 Begriffsbestimmungen (1) Für diese Verordnung gelten folgende Begriffsbestimmungen: a) „Vereinbarung“: eine Vereinbarung, ein Beschluss einer Unternehmensvereinigung oder eine abgestimmte Verhaltensweise; b) „Technologierechte“: Know-how und die folgenden Rechte oder eine Kombination daraus einschließlich Anträgen auf Gewährung bzw. auf Registrierung dieser Rechte: i) Patente, ii) Gebrauchsmuster, iii) Geschmacksmuster, iv) Topografien von Halbleiterprodukten, v) ergänzende Schutzzertifikate für Arzneimittel oder andere Produkte, für die solche ergänzenden Schutzzertifikate vergeben werden können, vi) Sortenschutzrechte, vii) Software-Urheberrechte; c) „Technologietransfer-Vereinbarung“: i) eine von zwei Unternehmen geschlossene Vereinbarung über die Lizenzierung von Technologierechten mit dem Ziel der Produktion von Vertragsprodukten durch den Lizenznehmer und/oder seine Zulieferer, ii) eine Übertragung von Technologierechten zwischen zwei Unternehmen mit dem Ziel der Produktion von Vertragsprodukten, bei der das mit der Verwertung der Technologierechte verbundene Risiko zum Teil beim Veräußerer verbleibt; d) „wechselseitige Vereinbarung“: eine Technologietransfer-Vereinbarung, bei der zwei Unternehmen einander in demselben oder in getrennten Verträgen eine Technologierechtslizenz erteilen, die konkurrierende Technologien zum Gegenstand hat oder für die Produktion konkurrierender Produkte genutzt werden kann; e) „nicht wechselseitige Vereinbarung“: eine Technologietransfer-Vereinbarung, bei der ein Unternehmen einem anderen Unternehmen eine Technologierechtslizenz erteilt oder mit der zwei Unternehmen einander eine solche Lizenz erteilen, wobei diese Lizenzen jedoch keine konkurrierenden Technologien zum Gegenstand haben und auch nicht für die Produktion konkurrierender Produkte genutzt werden können; f) „Produkt“: eine Ware oder eine Dienstleistung in Form eines Zwischen- oder Endprodukts; g) „Vertragsprodukt“: ein Produkt, das unmittelbar oder mittelbar auf der Grundlage der lizenzierten Technologierechte produziert wird; h) „Rechte des geistigen Eigentums“: gewerbliche Schutzrechte, vor allem Patente und Markenzeichen, sowie Urheberrechte und verwandte Schutzrechte; i) „Know-how“: eine Gesamtheit praktischer Kenntnisse, die durch Erfahrungen und Versuche gewonnen werden und die

320

Hempel

Begriffsbestimmungen

Art. 1 TT-GVO

i) geheim, das heißt nicht allgemein bekannt und nicht leicht zugänglich sind, ii) wesentlich, das heißt für die Produktion der Vertragsprodukte von Bedeutung und nützlich sind, und iii) identifiziert sind, das heißt umfassend genug beschrieben sind, so dass überprüft werden kann, ob die Merkmale „geheim“ und „wesentlich“ erfüllt sind; j) „relevanter Produktmarkt“: der Markt für die Vertragsprodukte und ihre Substitute, das heißt alle Produkte, die aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preise und ihres Verwendungszwecks vom Käufer als austauschbar oder substituierbar angesehen werden; k) „relevanter Technologiemarkt“: der Markt für die lizenzierten Technologierechte und ihre Substitute, das heißt alle Technologierechte, die aufgrund ihrer Eigenschaften, der für sie zu entrichtenden Lizenzgebühren und ihres Verwendungszwecks vom Lizenznehmer als austauschbar oder substituierbar angesehen werden; l) „räumlich relevanter Markt“: das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte anbieten bzw. nachfragen oder Technologierechte lizenzieren, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet; m) „relevanter Markt“: die Kombination des relevanten Produkt- oder Technologiemarktes mit dem räumlich relevanten Markt; n) „konkurrierende Unternehmen“: Unternehmen, die auf dem relevanten Markt miteinander im Wettbewerb stehen, das heißt i) konkurrierende Unternehmen auf dem relevanten Markt, auf dem die Technologierechte lizenziert werden, das heißt Unternehmen, die Lizenzen für konkurrierende Technologierechte vergeben (tatsächliche Wettbewerber auf dem relevanten Markt), ii) konkurrierende Unternehmen auf dem relevanten Markt, auf dem die Vertragsprodukte verkauft werden, das heißt Unternehmen, die ohne die Technologietransfer-Vereinbarung auf dem relevanten Markt bzw. den relevanten Märkten, auf denen die Vertragsprodukte angeboten werden, beide tätig sein würden (tatsächliche Wettbewerber auf dem relevanten Markt), oder die unter realistischen Annahmen und nicht nur rein theoretisch im Falle einer geringfügigen, aber dauerhaften Erhöhung der relevanten Preise auch ohne die Technologietransfer-Vereinbarung wahrscheinlich umgehend die notwendigen zusätzlichen Investitionen oder sonstigen Umstellungskosten auf sich nehmen würden, um in den relevanten Markt bzw. in die relevanten Märkte eintreten zu können (potenzielle Wettbewerber auf dem relevanten Markt); o) „selektive Vertriebssysteme“: Vertriebssysteme, bei denen sich der Lizenzgeber verpflichtet, Lizenzen für die Produktion der Vertragsprodukte unmittelbar oder mittelbar nur Lizenznehmern zu erteilen, die anhand festgelegter Kriterien ausgewählt werden, und bei denen sich diese Lizenznehmer verpflichten, die Vertragsprodukte nicht an Händler zu verkaufen, die in dem vom Lizenzgeber in Bezug auf dieses System vorbehaltenen Gebiet nicht zum Vertrieb zugelassen sind; p) „Exklusivlizenz“: eine Lizenz, bei der der Lizenzgeber selber mit den lizenzierten Technologierechten weder im Allgemeinen noch im Hinblick auf eine bestimmte Nutzung oder in einem bestimmten Gebiet produzieren darf und diese Technologierechte auch nicht an Dritte vergeben darf; q) „Exklusivgebiet“: ein bestimmtes Gebiet, in dem nur ein Unternehmen die Vertragsprodukte produzieren darf, wobei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass es einem anderen Lizenznehmer erlaubt ist, die Vertragsprodukte in diesem Gebiet nur für einen bestimmten Kunden zu produzieren, wenn die zweite Lizenz erteilt worden ist, um diesem Kunden eine alternative Bezugsquelle zu verschaffen; r) „Exklusivkundengruppe“: eine Gruppe von Kunden, an die nur ein an der Technologietransfer-Vereinbarung beteiligtes Unternehmen die mit der lizenzierten Technologie produzierten Vertragsprodukte aktiv verkaufen darf. (2) Für die Zwecke dieser Verordnung schließen die Begriffe „Unternehmen“, „Lizenzgeber“ und „Lizenznehmer“ verbundene Unternehmen ein. Hempel

321

TT-GVO Art. 1 Begriffsbestimmungen „Verbundene Unternehmen“ sind a) Unternehmen, bei denen ein an der Technologietransfer-Vereinbarung beteiligtes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar i) über mehr als die Hälfte der Stimmrechte verfügt oder ii) mehr als die Hälfte der Mitglieder des Leitungs- oder Aufsichtsorgans oder der zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organe bestellen kann oder iii) das Recht hat, die Geschäfte zu führen; b) Unternehmen, die in einem an der Technologietransfer-Vereinbarung beteiligten Unternehmen unmittelbar oder mittelbar die unter Buchstabe a bezeichneten Rechte oder Einflussmöglichkeiten haben; c) Unternehmen, in denen ein unter Buchstabe b genanntes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar die unter Buchstabe a bezeichneten Rechte oder Einflussmöglichkeiten hat; d) Unternehmen, in denen ein an der Technologietransfer-Vereinbarung beteiligtes Unternehmen gemeinsam mit einem oder mehreren der unter den Buchstaben a, b und c genannten Unternehmen oder in denen zwei oder mehr der zuletzt genannten Unternehmen gemeinsam die unter Buchstabe a bezeichneten Rechte oder Einflussmöglichkeiten haben; e) Unternehmen, in denen die unter Buchstabe a bezeichneten Rechte und Einflussmöglichkeiten gemeinsam ausgeübt werden durch i) an der Technologietransfer-Vereinbarung beteiligte Unternehmen oder mit ihnen jeweils verbundene Unternehmen im Sinne der Buchstaben a bis d oder ii) eines oder mehrere der an der Technologietransfer-Vereinbarung beteiligten Unternehmen oder eines oder mehrere der mit ihnen im Sinne der Buchstaben a bis d verbundenen Unternehmen und ein oder mehrere dritte Unternehmen. I. Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Technologierechte . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . . .

2 2 6

III. Technologietransfer-Vereinbarung . . . . 1. Bedeutung des Merkmals . . . . . . . . . 2. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Transfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwischen zwei Parteien . . . . . . . . . c) Über die Produktion von Vertragsprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vereinbarungen zwischen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. IT-bezogene Vertragstypen . . . . . . . . a) Software-Entwicklung . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . bb) Weitere Gestaltungen . . . . . . . . (1) Erstellung von Individualsoftware im Auftrag und zur späteren eigenen Nutzung durch den Auftraggeber . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einräumung des Rechts zur Bearbeitung von Software und zum Vertrieb bzw. zur Integration der Bearbeitungen . . . . . . . . . . . . b) Software as a Service, Infrastructure as a Service, Platform as a Service . . . . . aa) Software as a Service (SaaS) . . . . bb) Infrastructure as a Service (IaaS) . cc) Platform as a Service (PaaS) . . . .

8 8 9 11 12

322

Hempel

14 15 16 16 16 18

18

19 21 22 23 24

c) d) e) f)

Software-Vertrieb . . . . . . . . . . . . Software-Wartung/Software-Pflege . Internetverträge . . . . . . . . . . . . . Lizenzierung zur Integration von Software in ein Vertragsprodukt . . . g) Software-Überlassung an Endnutzer .

. . .

25 26 27

. .

28 29

IV. Wechselseitige Vereinbarung . . . . . . . V. Nicht wechselseitige Vereinbarung . . . .

30 33

VI. Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

VII. Vertragsprodukt . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . a) Reine Vervielfältigung . . . . . . . . b) Ergebnis der Software-Verwendung als Vertragsprodukt? . . . . . . . . . aa) Daten als Vertragsprodukt? . . bb) Mit Software erbrachte Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . cc) Software zur Erreichung von Zwischenprodukten . . . . . . . dd) Software als Vertragsprodukt . VIII. Rechte des geistigen Eigentums . . . .

. . . .

. . . .

35 35 36 36

. . . .

37 38

. .

39

. . . . . .

42 43 44

IX. Know-how . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

X. Relevanter Produktmarkt . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Produktmärkte im IT-Bereich . . . . . . .

46 46 47

XI. Relevanter Technologiemarkt . . . . . . .

48

XII. Räumlich relevanter Markt . . . . . . . .

49

Begriffsbestimmungen XIII. Relevanter Markt . . . . . . . . . . . . . . . 50 XIV. Konkurrierende Unternehmen . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aktuelle oder potentielle Wettbewerber auf dem Produktmarkt . . . . . . . . . . 3. Aktuelle Wettbewerber auf dem Technologiemarkt . . . . . . . . . . . . .

. 51 . 51 . 52

Rz. 8 Art. 1 TT-GVO

XV. Selektive Vertriebssysteme . . . . . . . . . 54 XVI. Exklusivlizenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 XVII. Exklusivgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 XVIII. Exklusivkundengruppe . . . . . . . . . . . 57 XIX. Verbundene Unternehmen . . . . . . . . . 58

. 53

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 TT-GVO vor Rz. 1.

I. Vereinbarung Die Begriffsbestimmung nimmt den Wortlaut von Art. 101 Abs. 1 AEUV auf und macht deutlich, dass das Verbot sowie die TT-GVO den gleichen Anwendungsbereich haben.

1

II. Technologierechte 1. Allgemeines Die Verordnung listet die erfassten Technologierechte auf.

2

Sie erfasst andere als die dort genannten Rechte des geistigen Eigentums nur, soweit sie sich unmittelbar auf die Produktion und den Verkauf der Vertragsprodukte beziehen (TT-Leitlinien, Tz. 47). Die Lizenzierung muss insoweit also den Lizenznehmer in die Lage versetzen, die lizenzierten (von der TTGVO erfassten) Technologierechte besser nutzen zu können. Es geht also um Nebenabreden in Lizenzverträgen über von der GVO erfasste Technologierechte, wie z.B. eine begleitende Markenlizenz.

3

Das Merkmal der Technologie ist in der TT-GVO nicht definiert. Gemeint ist ein Input, der entweder in ein Produkt oder in einen Produktionsprozess eingeht (TT-Leitlinien, Tz. 20).

4

Die TT-GVO kommt im konkreten Einzelfall nur in solchen Mitgliedstaaten der EU zur Anwendung, in denen der Lizenzgeber solche Technologierechte hat. Sieht die Rechtsordnung in einem Mitgliedstaat entsprechende Technologierechte nicht vor, können solche Rechte auch nicht zum Gegenstand eines Lizenzvertrages gemacht werden (TT-Leitlinien, Tz. 44). Eine entsprechende Lizenzierung kann dann auch keine Wettbewerbsbeschränkung rechtfertigen.

5

2. Bedeutung für IT-Verträge Bedeutung für den IT-Bereich haben von den in der TT-GVO genannten Technologierechten zum einen Patente, z.B. im Bereich der Hardware, zum anderen die explizit genannten Software-Urheberrechte. Die deutsche Rechtsordnung sieht ein Urheberrecht für Software vor.1

6

Seit der TT-GVO aus dem Jahre 2004 sind Software-Lizenzen damit ausdrücklich als Technologie- 7 transfer-Vereinbarungen vom Anwendungsbereich der TT-GVO erfasst. In der ersten TT-GVO von 1996 waren nur Patente, Geschmacksmuster oder Know-how erfasst.

III. Technologietransfer-Vereinbarung 1. Bedeutung des Merkmals Bei dem Merkmal der Technologietransfer-Vereinbarung handelt es sich um die entscheidende An- 8 wendungsvoraussetzung der TT-GVO. Das Merkmal dient der Abgrenzung von anderen Typen von Vereinbarungen, auf die die TT-GVO nicht anwendbar ist. 1 Zu den Gründen hierfür Rehbinder, Urheberrecht, Rz. 168–173.

Hempel

323

TT-GVO Art. 1 Rz. 9 Begriffsbestimmungen 2. Inhalt 9

10

Eine Technologietransfer-Vereinbarung ist eine Vereinbarung über die Lizenzierung von solchen Technologierechten zwischen genau zwei Unternehmen, die in einem Mitgliedstaat der EU für den Veräußerer tatsächlich existieren und den Erwerber in die Lage versetzen, die Vertragsprodukte zu produzieren (TT-Leitlinien, Tz. 44). Im Einzelnen: a) Transfer

11

Der Transfer des Technologierechts erfolgt i.d.R. durch Lizenzerteilung. Die Regelung in Art. 1 Abs. 1 Buchst. c ii TT-GVO erweitert den Begriff. Zu beachten ist, dass auch Nichtausübungsverpflichtungen, Verzichtsvereinbarungen und Streitbeilegungsvereinbarungen unter den Begriff der Technologietransfer-Vereinbarung fallen können, wenn sie der anderen Partei die Nutzung der Technologie erlauben (TT-Leitlinien, Tz. 51 ff.). b) Zwischen zwei Parteien

12

Die TT-GVO gilt nur für zweiseitige Vereinbarungen. Mehrseitige Vereinbarungen sind vom Anwendungsbereich der TT-GVO ausgenommen (TT-Leitlinien, Tz. 54).

13

Die Kommission gibt in den TT-Leitlinien aber Hinweise zur Anwendung von Art. 101 AEUV auf Technologie-Pools (TT-Leitlinien, Tz. 244 ff.). c) Über die Produktion von Vertragsprodukten

14

Es handelt sich um das Kernmerkmal für die Anwendbarkeit der TT-GVO. Es dient der Abgrenzung zu anderen Vereinbarungen. Die Anwendbarkeit der TT-GVO setzt danach voraus, dass die Vereinbarung der Herstellung von Produkten dient, die die lizenzierte Technologie enthalten oder mit Hilfe der lizenzierten Technologie produziert werden (TT-Leitlinien, Tz. 58). d) Vereinbarungen zwischen Unternehmen

15

Das Merkmal knüpft an den kartellrechtlichen Unternehmensbegriff an (dazu Art. 101 AEUV Rz. 15 ff.). Hieraus folgt, dass beispielsweise Software-Lizenzverträge mit privaten Endnutzern nicht dem Kartellrecht und mithin auch nicht der TT-GVO unterliegen.2 3. IT-bezogene Vertragstypen a) Software-Entwicklung aa) Allgemeines

16

Software-Entwicklungsverträge stellen dann Technologietransfer-Vereinbarungen dar, wenn sie darauf gerichtet sind, dass mit Hilfe der lizenzierten Software ein neues Produkt entwickelt oder hergestellt oder ein bestehendes Produkt verbessert wird.

17

Allerdings muss wegen Art. 9 TT-GVO der Vorrang der F&E-GVO beachtet werden. In den Fällen, in denen der Software-Entwicklungsvertrag ein F&E-Vertrag ist, richtet sich die Freistellung nach der F&E-GVO und nicht nach der TT-GVO (s. auch ErwGr. 7 TT-GVO). Dies ist beispielsweise bei Auftragsforschung und -entwicklung der Fall, wenn der Lizenznehmer im Auftrag des Lizenzgebers auf dessen Kosten mit der lizenzierten Software für den Lizenzgeber eine neue Software entwickelt. Weiterhin ist dies der Fall, wenn Beteiligte einer Vereinbarung über die gemeinsame Forschung und Entwicklung sich für diese Zwecke Lizenzen erteilen. Dies gilt auch für die Erteilung von Lizenzen unter den

2 Vgl. nur Polley, CR 2004, 641, 642; Timm, Softwareverträge, S. 97, Fn. 228; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 206.

324

Hempel

Begriffsbestimmungen

Rz. 23 Art. 1 TT-GVO

Parteien für die Nutzung der Endergebnisse der Forschung und Entwicklung (TT-Leitlinien, Tz. 66, 73 f.). bb) Weitere Gestaltungen (1) Erstellung von Individualsoftware im Auftrag und zur späteren eigenen Nutzung durch den Auftraggeber In diesem Fall liegt keine Technologietransfer-Vereinbarung vor, da die Lizenz nicht zur Herstellung von Produkten erteilt wird.3 Soweit der Auftragnehmer vom Auftraggeber Lizenzen eingeräumt erhält, die für die Auftragserfüllung benötigt werden, unterliegen solche Vereinbarungen der F&E-GVO und nicht der TT-GVO.

18

(2) Einräumung des Rechts zur Bearbeitung von Software und zum Vertrieb bzw. zur Integration der Bearbeitungen Solche Verträge mit Softwarehäusern und Systemintegratoren stellen Technologietransfer-Vereinbarungen dar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Lizenznehmer die Lizenz und die Software erhält, um diese Software zu bearbeiten, weiterzuentwickeln oder zur Grundlage von neuer Software zu machen.4

19

Die bloße Lizenzierung zur Vervielfältigung und zum Vertrieb der Software stellt allerdings keine 20 Technologietransfer-Vereinbarung dar (vgl. schon Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 16 ff.). b) Software as a Service, Infrastructure as a Service, Platform as a Service Verträge über Software as a Service (SaaS), Instructure as a Service (IaaS) und Platform as a Service (PaaS) zwischen Rechteinhaber und Dienstleister stellen Technologietransfer-Vereinbarungen dar. Der Rechteinhaber lizenziert sein Software-Urheberrecht, damit der Anbieter der genannten Leistungen damit eine Dienstleistung an seine Kunden erbringen kann. Die Lizenzierung erfolgt also mit dem Ziel der Produktion von Vertragsprodukten i.S.d. TT-GVO.5 Die Vereinbarung, die der Anbieter der Dienstleistung mit seinen eigenen Kunden abschließt, kann eine Technologietransfer-Vereinbarung darstellen. Das hängt davon ab, ob sie eine Lizenzerteilung beinhaltet und zu welchem Zweck der Kunde die Dienstleistung einsetzt.

21

aa) Software as a Service (SaaS) SaaS liegt eine Vereinbarung zwischen einem Betreiber einer IT-Infrastruktur und dem Inhaber der Software-Lizenz zugrunde, bei der der Betreiber der Infrastruktur die Software einlizenziert, um die Software an seine Kunden weiterzugeben. Diese Vereinbarung stellt eine Technologietransfer-Vereinbarung dar. Die Kunden des Betreibers der Infrastruktur erhalten, vermittelt über das Internet, Zugriff auf die Software und können damit auf eine kostenintensive eigene IT-Infrastruktur verzichten (vgl. Cloud Computing).6 Die Vereinbarung zwischen dem SaaS-Anbieter und seinen Kunden kann eine Technologie-Transfervereinbarung sein. Bei Standardsoftware ist das eher zu verneinen (vgl. ausführlicher Rz. 29 und Rz. 38).

22

bb) Infrastructure as a Service (IaaS) Bei IaaS stellt ein Betreiber von IT-Infrastruktur (z.B. Server) einen Kunden diese IT-Infrastruktur zur Verfügung. Der IT-Infrastruktur-Betreiber lizenziert seinerseits Rechte des Software-Lizenzgebers ein, um seine Leistung erbringen zu können. Diese Vereinbarung stellt eine Technologietransfer-Ver3 Berger, K&R 2005, 15, 20; Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 415. 4 Vgl. abstrakt: TT-Leitlinien, Tz. 65, im Übrigen: Scholz/Wagener, CR 2003, 880, 885; Berger, K&R 2005, 15, 20; Kilian/Heussen/Klees, Kap. 62, Rz. 25. 5 Vgl. Frank, CR 2014, 349, 351. 6 Vgl. hierzu Frank, CR 2014, 349, 351; Matthiesen, Die Freistellung, S. 133 f. mit genauer Untersuchung der betroffenen Rechtsverhältnisse.

Hempel

325

23

TT-GVO Art. 1 Rz. 23 Begriffsbestimmungen einbarung dar.7 Die Vereinbarung zwischen dem IaaS-Anbieter und seinen Kunden wird häufig keine Technologietransfer-Vereinbarung sein. cc) Platform as a Service (PaaS) 24

PaaS ist eine Dienstleistung, die beispielsweise einem Entwickler von Webanwendungen typischerweise über das Internet zur Verfügung gestellt wird. Der Anbieter dieser Dienstleistung lizenziert erforderlichenfalls Software-Urheberrechte des Rechteinhabers ein, um die Dienstleistung erbringen zu können. Bei dieser Vereinbarung handelt es sich dann um eine Technologietransfer-Vereinbarung.8 Für die Vereinbarung zwischen PaaS-Anbieter und Entwickler ist die Eigenschaft als Technologietransfer-Vereinbarung wieder gesondert zu prüfen. c) Software-Vertrieb

25

Verträge über den Software-Vertrieb stellen regelmäßig keine Technologietransfer-Vereinbarungen dar. Unabhängig von der technischen Gestaltung des Softwarevertriebs (Überlassung einer Stammkopie, Schutzhüllenlizenz, Download im Internet) erfolgt eine ggf. erforderliche Lizenzierung gerade nicht zur Herstellung von Vertragsprodukten, sondern lediglich zur Vervielfältigung und zum Vertrieb (Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 16 ff.). d) Software-Wartung/Software-Pflege

26

Verträge über Software-Wartung und Software-Pflege sind genau daraufhin zu untersuchen, ob ein womöglich vorgesehener Technologie-Transfer gerade der Erbringung von Dienstleistungen dient. Ist dies der Fall, also beispielsweise bei Wartungsverträgen zwischen dem Hersteller einer Software mit einem Software-Dienstleister, handelt es sich um Technologietransfer-Vereinbarungen und die TT-GVO ist anwendbar.9 Verträge zwischen dem von dem Softwarehersteller verschiedenen Anbieter der Dienstleistung und Kunden, die die Software nutzen, setzen keine Lizenz für die Software voraus. Sie können in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen.10 e) Internetverträge

27

Auf Provider-Verträge wie Access-, Content-, Host-Provider-Verträge wie auch Internetsystemverträge, also Verträge über die Erstellung einer Website, das Hosting und die Verfügbarkeit im Internet, ist die TT-GVO mangels Vorliegens einer Technologietransfer-Vereinbarung nicht anwendbar.11 f) Lizenzierung zur Integration von Software in ein Vertragsprodukt

28

Bei solchen Verträgen, die der Ermöglichung der Integration einer Software in ein Gerät dient, das mit der Software interagiert, handelt es sich um Technologietransfer-Vereinbarungen (TT-Leitlinien, Tz. 63). g) Software-Überlassung an Endnutzer

29

Software-Überlassungsverträge mit Endnutzern sollen keine Technologietransfer-Vereinbarungen darstellen, da sie nicht auf die Produktion von Vertragsprodukten gerichtet sind, sondern nur der Ermöglichung der Anwendung des Programms, z.B. von Standardsoftware zur Steuerung betriebsinterner

7 Frank, CR 2014, 349, 351. 8 Frank, CR 2014, 349, 351. 9 Vgl. Frank, CR 2014, 349, 351; Schumacher/Schmid, GRUR 2006, 1, 5; Grützmacher, ITRB 2011, 133, 136; differenzierend: Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 415. 10 Polley, CR 2004, 641, 647; Bartsch/Briner/Polley, DGRI-Jahrbuch 2010, Die neue Vertikal-GVO – die wesentlichen Änderungen und Anwendbarkeit auf Softwareverträge, zu Fn. 43. 11 Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 415.

326

Hempel

Begriffsbestimmungen

Rz. 35 Art. 1 TT-GVO

Abläufe (Textverarbeitung, Rechnungswesen) dienen.12 Ob man in solchen Verträgen über die Software-Überlassung an Endnutzer (Endanwenderlizenzverträgen) Technologietransfer-Vereinbarungen sieht, hängt ganz wesentlich von der Auslegung des Merkmals des Vertragsprodukts ab (Art. 1 Abs. 1 Buchst. g TT-GVO). Stellt man nur geringe Anforderungen an das Vertragsprodukt (z.B. Herstellung von Daten allgemein), muss man konsequenterweise auch Verträge über die Überlassung von Standardsoftware als Technologietransfer-Vereinbarungen ansehen (vgl. hierzu auch Rz. 38 zur Definition des Vertragsprodukts).

IV. Wechselseitige Vereinbarung Die TT-GVO definiert wechselseitige Vereinbarungen als eigenes Merkmal. Die Definition hat Bedeutung für die in der TT-GVO bestimmten Kernbeschränkungen. Es dient einer Differenzierung innerhalb der Kernbeschränkungen. An die Freistellung von Wettbewerbsbeschränkungen in solchen wechselseitigen Vereinbarungen stellt die TT-GVO höhere Anforderungen als bei nicht wechselseitigen Vereinbarungen (TT-Leitlinien, Tz. 98).

30

So gelten z.B. Output-Beschränkungen unter konkurrierenden Unternehmen in nicht wechselseitigen Vereinbarungen nicht als Kernbeschränkung (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b TT-GVO). Output-Beschränkungen in wechselseitigen Vereinbarungen sind hingegen nur ausnahmsweise keine Kernbeschränkung. Hintergrund dieser differenzierten Behandlung ist, dass die Gefahren für den Wettbewerb größer sind, wenn sich Wettbewerber wechselseitige Lizenzen für konkurrierende Technologien erteilen.

31

Auch für die Gebiets- und Kundenbeschränkungen hat das Merkmal Bedeutung. In nicht wechselseitigen Vereinbarungen sind Gebiets- und Kundenbeschränkungen in bestimmtem Umfang zulässig (Art. 4 Abs. 1 Buchst. c i, ii und iv TT-GVO).

32

V. Nicht wechselseitige Vereinbarung Eine nicht wechselseitige Vereinbarung ist gem. der Definition eine solche, in der nur eine Partei der 33 anderen eine Lizenz erteilt. Eine nicht wechselseitige Vereinbarung liegt gem. der Definition auch dann vor, wenn sich die Parteien zwar wechselseitig Lizenzen einräumen, diese aber aus Sicht der Marktgegenseite nicht austauschbar sind und auch nicht zur Herstellung austauschbarer Produkte verwendet werden können. Bei solchen nicht wechselseitigen Vereinbarungen bestehen aus wettbewerblicher Sicht weniger Risiken für den Wettbewerb. Daher kann in einer nicht wechselseitigen Vereinbarung zwischen konkurrierenden Unternehmen dem Lizenznehmer verboten werden, aktiv in Märkte oder Kunden zu verkaufen, die der Lizenzgeber einem anderen Lizenznehmer zugewiesen hat (Art. 4 Abs. 1 Buchst. c ii TT-GVO). Dies ist in wechselseitigen Vereinbarungen nicht möglich.

VI. Produkt Die TT-GVO enthält eine sehr weitgehende Definition, um alle denkbaren Gestaltungen zu erfassen. 34 Die Definition erfasst auch Dienstleistungen. Dadurch wird deutlich, dass auch die Lizenzierung von Software zur Erbringung von Dienstleistungen eine Technologietransfer-Vereinbarung darstellt.

VII. Vertragsprodukt 1. Allgemeines Die TT-GVO sieht eine sehr weite Definition des Begriffs des Vertragsproduktes vor. Gemeint ist mit dem Begriff das Produkt, das die lizenzierte Technologie enthält oder mit der lizenzierten Technologie 12 Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 58 m.w.N.; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 207; Grützmacher, CR 2010, 141, 144; Berger, K&R 2005, 15, 18 f.; Kreutzmann, wrp 2006, 453, 460; Scholz/Wagener, CR 2003, 880, 885; Wiedemann/Klawitter, Hdb. KartellR, § 14 Rz. 52; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/ Stögmüller, Teil 6 Rz. 227; Kilian/Heussen/Klees, Kap. 62, Rz. 25; Polley, CR 2004, 641, 646.

Hempel

327

35

TT-GVO Art. 1 Rz. 35 Begriffsbestimmungen hergestellt wird. Aus Sicht der Kommission muss eine unmittelbare Verbindung zwischen lizenzierter Technologie und Vertragsprodukt bestehen. Die Vereinbarung muss dazu dienen, die Produktion eines Vertragsproduktes zu ermöglichen (TT-Leitlinien, Tz. 61). Vertragsprodukt kann – wie sich aus der Definition des Produkts ergibt – auch ein Zwischenprodukt sein. 2. Bedeutung für IT-Verträge a) Reine Vervielfältigung 36

In der reinen Vervielfältigung ist nach der TT-GVO keine Produktion „auf der Grundlage der lizenzierten Technologierechte“ zu sehen.13 b) Ergebnis der Software-Verwendung als Vertragsprodukt?

37

Aus der Weite der Definitionen des Produkts und Vertragsprodukts ergeben sich gerade bei der Lizenzierung von Software-Urheberrechten Abgrenzungsfragen. Die Definitionen erlauben schon begrifflich eine Vielzahl von Sachverhaltsgestaltungen mit Kombinationen aus Endprodukten, Zwischenprodukten, Dienstleistungen, Waren, unmittelbarer und mittelbarer „Produktion“ auf Grundlage von Software. Im Schrifttum werden, teilweise allerdings bezogen auf die von der später erlassenen TT-GVO abweichende Entwurfsfassung14, unterschiedliche, nicht trennscharf abgrenzbare Fallgruppen behandelt: aa) Daten als Vertragsprodukt?

38

Die Anwendung von Software führt zu Daten. Hierin allein kann keine Produktion von Vertragsprodukten gesehen werden.15 Vor diesem Hintergrund wird man die betriebsinterne Anwendung von Standardsoftware, z.B. von Textverarbeitungs-, Warenwirtschafts-, Zeiterfassungsprogrammen und Betriebssystemen, die allein der Unterstützung betriebsinterner Abläufe dient, noch nicht als Produktion von Vertragsprodukten ansehen können.16 bb) Mit Software erbrachte Dienstleistungen

39

Man könnte die Anwendung von Software zu bestimmten Zwecken auch als Erbringung von Dienstleistungen, z.B. im Bereich der Dokumenten- oder Datenverwaltung ansehen.

40

Eindeutig liegt der Fall, wenn mit der Software Dienstleistungen für Dritte erbracht werden, wie z.B. durch Rechenzentren, IT-Wartungsunternehmen, aber auch im Falle jeder anderen Software-Anwendung, die für die Erbringung von Dienstleistungen ggü. Dritten eingesetzt wird. Hierbei handelt es sich unproblematisch um die Produktion von Vertragsprodukten.17

41

Etwas schwieriger liegt der Fall bei der Anwendung von Software, die mittelbar der Erbringung von Dienstleistungen dient, wie z.B. Software zur Schnittstellenprogrammierung zur Herstellung konkreter Schnittstellen oder Datenmanagementprogrammen zur Steuerung, Auswertung und Analyse von Daten. Es geht um Fälle, in denen ein Datensatz Zwischenprodukt für die Erbringung von Dienstleistungen darstellt. Im Schrifttum wird teilweise darauf abgestellt, ob das Ergebnis der Software-Anwendung mit Anwendungen mit einem körperlichen Ergebnis vergleichbar ist.18 Das greift aber zu kurz, da ein solcher Vergleich mit körperlichen Ergebnissen bei Dienstleistungen gerade ohne Erkenntnisgewinn bleiben mag. Teilweise wird darauf abgestellt, ob die Ergebnisse der bestimmungsgemäßen 13 Vgl. nur ErwGr. 7 TT-GVO, TT-Leitlinien, Tz. 62 und Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 21. 14 Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 413 f.; Leistner/Königs, wrp 2014, 268, 274. 15 Vgl. hierzu Frank, CR 2014, 349, 351 mit Beispielen zur Abgrenzung, sowie Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 413 f. 16 Beispiele nach Schumacher/Schmid, GRUR 2006, 1, 4; a.A. Matthiesen, Die Freistellung, S. 53 ff. für StandardBüro-Software; ebenso aber für Basis-Software und System-Software, S. 55 f.; für eine Anwendung der Vertikal-GVO: Scholz/Wagener, CR 2003, 880, 885 f. 17 Zu letzteren Schumacher/Schmid, GRUR 2006, 1, 4. 18 Vgl. zu den genannten Beispielen: Frank, CR 2014, 349, 351.

328

Hempel

Begriffsbestimmungen

Rz. 47 Art. 1 TT-GVO

Software-Anwendung als Waren oder Dienstleistungen an Dritte abgesetzt werden könnten.19 Eine klare Linie für die Abgrenzung hat sich bisher nicht herauskristallisiert.20 cc) Software zur Erreichung von Zwischenprodukten Außerdem gibt es Fälle, in denen die Software dazu dient, ein unkörperliches Zwischenprodukt, z.B. 42 auch in Form eines Datensatzes, für die Herstellung von körperlichen oder unkörperlichen Produkten zu erreichen. Beispiele sind CAD-Programme, Steuerungssoftware für Maschinen oder DebuggerSoftware zur Beseitigung von Fehlern aus einer herzustellenden Software.21 Auch insoweit hat sich eine trennscharfe Abgrenzung bislang nicht ergeben. dd) Software als Vertragsprodukt Software, zu deren Erstellung sich der Programmierer vom Rechteinhaber die Lizenz für die Nutzung 43 einer Software einräumen lässt, kann recht unproblematisch als Vertragsprodukt angesehen werden. Dies gilt dann auch für Software, die sich als Bearbeitung oder Verbesserung darstellt.22

VIII. Rechte des geistigen Eigentums Die Vorschrift listet die von der Definition erfassten Rechte des geistigen Eigentums auf. Die Definition weicht von der der Technologierechte ab. Sie hat für die Anwendung von Art. 2 Abs. 3 TT-GVO Bedeutung, die Nebenabreden über solche Rechte in Technologietransfer-Vereinbarungen zum Gegenstand hat. Sie wird außerdem in Art. 5 Abs. 1 Buchst. b TT-GVO aufgegriffen.

44

IX. Know-how Die Kommission gibt in ihren Leitlinien Hinweise zur Auslegung der in Art. 1 Abs. 1 Buchst. i verwendeten Begriffe zur Bestimmung, ob Know-how vorliegt (TT-Leitlinien, Tz. 45).

45

X. Relevanter Produktmarkt 1. Allgemeines Eine Abgrenzung des relevanten Produkt- und Technologiemarktes ist i.d.R. erforderlich, um die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen von Vereinbarungen zu untersuchen (TT-Leitlinien, Tz. 16). Die Kommission gibt in ihrer Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts Hinweise für die sachliche und räumliche Marktabgrenzung.23 In den TT-Leitlinien nennt sie weitere Anhaltspunkte für die Marktabgrenzung, die für die Lizenzierung von Technologierechten von besonderer Bedeutung sind (TT-Leitlinien, Tz. 19 bis 23).

46

2. Produktmärkte im IT-Bereich Es kann auf die Kommentierung zu Art. 102 AEUV (Art. 102 AEUV Rz. 5 ff.) verwiesen werden.

47

19 Matthiesen, Die Freistellung, S. 40, für funktionsorientierte Standard-Software. 20 Vgl. in dieser Richtung auch Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 413. 21 Beispiele wieder nach Frank, CR 2014, 349, 351, der sich für eine Anwendung der TT-GVO ausspricht. Ebenso schon Kreutzmann, wrp 2006, 453, 460; zu CAD-Programmen u.Ä. auch Matthiesen, Die Freistellung, S. 30 ff. 22 Vgl. dazu Frank, CR 2014, 349, 351 mit Beispielen zur Abgrenzung, sowie Conrad/Lejeune/Stögmüller/BrandiDohrn, CR 2013, 412, 413 f. 23 Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes i.S.d. Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. EG C 372 v. 9.12.1997, 5.

Hempel

329

TT-GVO Art. 1 Rz. 48 Begriffsbestimmungen

XI. Relevanter Technologiemarkt 48

Beim relevanten Technologiemarkt handelt es sich um den Markt für die lizenzierten Technologierechte sowie für deren Substitute. Dabei müsse ausgehend von der Technologie, die vom Lizenzgeber vermarktet wird, die anderen Technologien ermittelt werden, auf die die Lizenznehmer im Falle einer geringfügigen, aber dauerhaften Erhöhung der relativen Preise, d.h. der Lizenzgebühren, ausweichen würden. Die Kommission weist darauf hin, dass alternativ der Markt für die Produkte heranzuziehen ist, die die lizenzierten Technologierechte enthalten (TT-Leitlinien, Tz. 22). In den TT-Leitlinien gibt die Kommission weitere Hinweise zur Marktabgrenzung und erläutert auch, wieso anders als bei der Betrachtung des Produktmarktes potentieller Wettbewerb auf dem Technologiemarkt unberücksichtigt bleibt (TT-Leitlinien, Tz. 35 f., Tz. 86 bis 90).

XII. Räumlich relevanter Markt 49

Auch insoweit kann auf die Hinweise der Kommission in der Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts verwiesen werden.24

XIII. Relevanter Markt 50

Märkte im Sinne des Kartellrechts haben immer eine sachliche und eine räumliche Dimension. Das stellt die Definition – überflüssigerweise – klar. Auf eine zeitliche Dimension des Markts kommt es im vorliegenden Kontext nicht an.

XIV. Konkurrierende Unternehmen 1. Allgemeines 51

Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern werden als für den Wettbewerb gefährlicher angesehen als Vereinbarungen zwischen Nichtwettbewerbern. Daher ist zu prüfen, ob die Parteien der Technologietransfer-Vereinbarung ohne diese Vereinbarung Wettbewerber auf Produkt- und/oder Technologiemärkten wären (TT-Leitlinien, Tz. 27 f.). Dabei wird bei der Betrachtung von Technologiemärkten nur auf den aktuellen, bei Produktmärkten zusätzlich auch auf den potentiellen Wettbewerb abgestellt. Der Grund dafür liegt darin, dass sich potentieller Wettbewerb auf Technologiemärkten schwieriger feststellen lässt als auf Produktmärkten (TT-Leitlinien, Tz. 36). 2. Aktuelle oder potentielle Wettbewerber auf dem Produktmarkt

52

Aktueller Wettbewerb liegt nicht vor, wenn eine ein- oder zweiseitige Sperrposition vorliegt, d.h. wenn ein Technologierecht nicht ohne die Verletzung eines anderen ausgeübt werden kann (einseitige Sperrposition) oder wenn beide Technologierechte jeweils nicht ohne Verletzung des anderen ausgeübt werden können (zweiseitige Sperrposition). In diesen Fällen sind die Parteien keine Wettbewerber (TTLeitlinien, Tz. 29). Waren beide Parteien schon vor Abschluss der Vereinbarung auf ein und demselben Produktmarkt tätig, kann hieraus geschlossen werden, dass keine Sperrposition vorliegt und die Parteien Wettbewerber sind (vgl. zur Prüfung des potentiellen Wettbewerbs, TT-Leitlinien, Tz. 31 ff.). 3. Aktuelle Wettbewerber auf dem Technologiemarkt

53

Die Parteien der Technologietransfer-Vereinbarung sind Wettbewerber, wenn entweder beide bereits Lizenzen für austauschbare Technologierechte vergeben oder der Lizenznehmer bereits Lizenzen für eigene Technologierechte vergibt und der Lizenzgeber in den betreffenden Technologiemarkt eintritt, 24 Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes i.S.d. Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. EG C 372 v. 9.12.1997, 5; vgl. auch weitere Hinweise in TT-Leitlinien, Tz. 24.

330

Hempel

Freistellung

Art. 2 TT-GVO

indem er dem Lizenznehmer eine Lizenz für konkurrierende Technologierechte erteilt (TT-Leitlinien, Tz. 35 mit Ausnahme für grundlegende Innovationen, Tz. 37, zum potentialen Wettbewerb auf dem Technologiemarkt s. auch Tz. 83).

XV. Selektive Vertriebssysteme Die Definition hat – wie in der Vertikal-GVO – für die in der Gruppenfreistellungsverordnung bestimmten Kernbeschränkungen Bedeutung. Dabei ist der selektive Vertrieb als solcher, sofern er überhaupt unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, von der Schirmwirkung der Freistellung erfasst. Das selektive Vertriebssystem darf aber keine Beschränkungen vorsehen, die Kernbeschränkungen darstellen.

54

XVI. Exklusivlizenz Die TT-GVO enthält in Art. 1 Abs. 1 Buchst. p eine Legaldefinition der Exklusivlizenz. Der Begriff hat Bedeutung für die nicht freigestellten Beschränkungen nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und b TT-GVO.

55

XVII. Exklusivgebiet Die TT-GVO enthält in Art. 1 Abs. 1 Buchst. q eine Legaldefinition des Exklusivgebiets. Die Legaldefinition hat Bedeutung für die von der TT-GVO definierten Kernbeschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. c i, ii und Abs. 2 Buchst. b i TT-GVO).

56

XVIII. Exklusivkundengruppe Die TT-GVO enthält in Art. 1 Abs. 1 Buchst. r eine Legaldefinition der Exklusivkundengruppe. Die Definition hat Bedeutung für die Ausnahmen von Kernbeschränkungen. Es kann auf die Hinweise zur Legaldefinition des Exklusivgebiets verwiesen werden.

57

XIX. Verbundene Unternehmen Die TT-GVO verwendet die in allen Gruppenfreistellungsverordnungen einheitliche Definition des Begriffs der verbundenen Unternehmen (vgl. Art. 1 Vertikal-GVO Rz. 20 f.).

Art. 2 Freistellung (1) Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV und nach Maßgabe dieser Verordnung gilt Artikel 101 Absatz 1 AEUV nicht für Technologietransfer-Vereinbarungen. (2) Die Freistellung nach Absatz 1 gilt, soweit diese Technologietransfer-Vereinbarungen Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen. Die Freistellung gilt, solange die lizenzierten Technologierechte nicht abgelaufen, erloschen oder für ungültig erklärt worden sind oder – im Falle von lizenziertem Know-how – solange das Know-how geheim bleibt. Wenn das Know-how jedoch infolge des Verhaltens des Lizenznehmers offenkundig wird, gilt die Freistellung für die Dauer der Vereinbarung. (3) Die Freistellung nach Absatz 1 gilt auch für Bestimmungen in Technologietransfer-Vereinbarungen, die sich auf den Erwerb von Produkten durch den Lizenznehmer oder aber auf die Lizenzierung oder die Übertragung von Rechten des geistigen Eigentums oder von Know-how auf den Lizenznehmer beziehen, soweit diese Bestimmungen unmittelbar mit der Produktion oder dem Verkauf von Vertragsprodukten verbunden sind. Hempel

331

58

TT-GVO Art. 2 Rz. 1 Freistellung I. Schirmfreistellung (Art. 2 Abs. 1) . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . . . . .

1 1 2

II. Dauer der Freistellung (Art. 2 Abs. 2) . . . .

3

III. Nebenvereinbarungen in Technologietransfer-Vereinbarungen (Art. 2 Abs. 3) . . . . . .

4

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 TT-GVO vor Rz. 1.

I. Schirmfreistellung (Art. 2 Abs. 1) 1. Allgemeines 1

Nach Art. 2 TT-GVO sind grundsätzlich alle gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßenden Technologietransfer-Vereinbarungen i.S.v. Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt. Die beteiligten Unternehmen müssen das Vorliegen der Voraussetzungen der allgemeinen Freistellungsvorschrift nicht im Einzelnen darlegen und beweisen (zur Beweislast, vgl. Art. 101 AEUV Rz. 63). 2. Bedeutung für IT-Verträge

2

Von der Schirmwirkung sind beispielsweise erfasst: – Wechselseitige Alleinlizenzen zwischen Wettbewerbern (TT-Leitlinien, Tz. 192: mit Alleinlizenz ist eine solche gemeint, bei der sich der Lizenzgeber verpflichtet, Dritten in einem bestimmten Gebiet keine Produktionslizenzen zu erteilen, Tz. 191), – Nicht wechselseitige Exklusivlizenzen (TT-Leitlinien, Tz. 193: mit Exklusivlizenz ist eine solche i.S.v. Art. 1 Abs. 1 Buchst. p TT-GVO gemeint), – Field of use-Beschränkungen (s. Art. 4 TT-GVO Rz. 12), – die Beschränkung auf den Eigenbedarf (TT-Leitlinien, Tz. 216 ff.), – Kopplungs- oder Paketvereinbarungen, also die Kopplung von Lizenzen oder einer Lizenz mit einem Produkt (TT-Leitlinien, Tz. 221 ff.) sowie – Wettbewerbsverbote (TT-Leitlinien, Tz. 226 ff.).

II. Dauer der Freistellung (Art. 2 Abs. 2) 3

Die Regelung stellt klar, dass die Freistellung nur für die Zeit der Gültigkeit der lizenzierten Technologierechte gilt (TT-Leitlinien, Tz. 67 f.).

III. Nebenvereinbarungen in Technologietransfer-Vereinbarungen (Art. 2 Abs. 3) 4

Freigestellt sind auch Nebenvereinbarungen in Technologietransfer-Vereinbarungen. Damit sind wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen gemeint, die den Lizenznehmer in die Lage versetzen sollen, die Vertragsprodukte auch tatsächlich zu produzieren. Hierunter kann – wie oben schon ausgeführt – auch die Lizenzierung von Rechten fallen, die selbst keine Technologierechte i.S.d. TT-GVO sind (z.B. Marken).

Art. 3 Marktanteilsschwellen (1) Handelt es sich bei den Vertragsparteien um konkurrierende Unternehmen, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 unter der Voraussetzung, dass der gemeinsame Marktanteil der Parteien auf dem relevanten Markt bzw. den relevanten Märkten 20 % nicht überschreitet.

332

Hempel

Kernbeschränkungen

Art. 4 TT-GVO

(2) Handelt es sich bei den Vertragsparteien nicht um konkurrierende Unternehmen, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 unter der Voraussetzung, dass der individuelle Marktanteil der Parteien auf dem relevanten Markt bzw. den relevanten Märkten 30 % nicht überschreitet. Die Vorschrift sieht unterschiedliche Marktanteilsschwellen für Vereinbarungen zwischen Wettbe- 1 werbern und solche zwischen Nicht-Wettbewerbern vor. Die TT-GVO trägt damit dem Umstand Rechnung, dass wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern im Allgemeinen wettbewerbsschädlicher sind als wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerbern. Mit Markt ist der sachlich relevante und räumliche Produkt- und/oder Technologiemarkt gemeint (vgl. Art. 1 Abs. 1 Buchst. j – m TT-GVO). Art. 8 TT-GVO enthält weitere Regelungen für die Anwendung der Marktanteilsschwellen in Art. 3 TT-GVO. Die Bestimmung von Marktanteilen ist notwendigerweise mit Unsicherheiten verbunden. Das Risiko einer Fehleinschätzung liegt bei den Unternehmen. Werden die Parteien der wettbewerbsbeschränkenden Technologietransfer-Vereinbarung erst nach Abschluss der Vereinbarung zu Wettbewerbern, kommt ab diesem Zeitpunkt die Schwelle für konkurrierende Unternehmen zur Anwendung (TT-Leitlinien, Tz. 85).

Art. 4 Kernbeschränkungen (1) Handelt es sich bei den Vertragsparteien um konkurrierende Unternehmen, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 nicht für Vereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen, die der Kontrolle der Parteien unterliegen, Folgendes bezwecken: a) die Beschränkung der Möglichkeit einer Partei, den Preis, zu dem sie ihre Produkte an Dritte verkauft, selbst estzusetzen; b) die Beschränkung des Outputs mit Ausnahme von Output-Beschränkungen, die dem Lizenznehmer in einer nicht wechselseitigen Vereinbarung oder nur einem Lizenznehmer in einer wechselseitigen Vereinbarung in Bezug auf die Vertragsprodukte auferlegt werden; c) die Zuweisung von Märkten oder Kunden mit Ausnahme i) der dem Lizenzgeber und/oder dem Lizenznehmer in einer nicht wechselseitigen Vereinbarung auferlegten Verpflichtung, mit den lizenzierten Technologierechten in dem Exklusivgebiet, das der anderen Partei vorbehalten ist, nicht zu produzieren und/oder in das Exklusivgebiet oder an die der anderen Partei vorbehaltene Exklusivkundengruppe nicht aktiv und/oder passiv zu verkaufen, ii) der in einer nicht wechselseitigen Vereinbarung dem Lizenznehmer auferlegten Beschränkung des aktiven Verkaufs in das Exklusivgebiet oder an die Exklusivkundengruppe, das bzw. die vom Lizenzgeber einem anderen Lizenznehmer zugewiesen worden ist, sofern es sich bei Letzterem nicht um ein Unternehmen handelt, das zum Zeitpunkt seiner eigenen Lizenzerteilung in Konkurrenz zum Lizenzgeber stand, iii) der dem Lizenznehmer auferlegten Verpflichtung, die Vertragsprodukte nur für den Eigenbedarf zu produzieren, sofern er keiner Beschränkung in Bezug auf den aktiven und passiven Verkauf der Vertragsprodukte als Ersatzteile für seine eigenen Produkte unterliegt, iv) der dem Lizenznehmer in einer nicht wechselseitigen Vereinbarung auferlegten Verpflichtung, die Vertragsprodukte nur für einen bestimmten Kunden zu produzieren, wenn die Lizenz erteilt worden ist, um diesem Kunden eine alternative Bezugsquelle zu verschaffen; d) die Beschränkung der Möglichkeit des Lizenznehmers, seine eigenen Technologierechte zu verwerten, oder die Beschränkung der Möglichkeit der Vertragsparteien, Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchzuführen, es sei denn, letztere Beschränkungen sind unerlässlich, um die Preisgabe des lizenzierten Know-hows an Dritte zu verhindern. Hempel

333

TT-GVO Art. 4 Kernbeschränkungen (2) Handelt es sich bei den Vertragsparteien nicht um konkurrierende Unternehmen, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 nicht für Vereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen, die der Kontrolle der Parteien unterliegen, Folgendes bezwecken: a) die Beschränkung der Möglichkeit einer Partei, den Preis, zu dem sie ihre Produkte an Dritte verkauft, selbst festzusetzen; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, Höchstverkaufspreise festzusetzen oder Preisempfehlungen auszusprechen, sofern sich diese nicht infolge der Ausübung von Druck oder der Gewährung von Anreizen durch eine der Vertragsparteien tatsächlich wie Fest- oder Mindestverkaufspreise auswirken; b) die Beschränkung des Gebiets oder des Kundenkreises, in das bzw. an den der Lizenznehmer Vertragsprodukte passiv verkaufen darf, mit Ausnahme i) der Beschränkung des passiven Verkaufs in ein Exklusivgebiet oder an eine Exklusivkundengruppe, das bzw. die dem Lizenzgeber vorbehalten ist, ii) der dem Lizenznehmer auferlegten Verpflichtung, die Vertragsprodukte nur für den Eigenbedarf zu produzieren, sofern er keiner Beschränkung in Bezug auf den aktiven und passiven Verkauf der Vertragsprodukte als Ersatzteile für seine eigenen Produkte unterliegt, iii) der Verpflichtung, die Vertragsprodukte nur für einen bestimmten Kunden zu produzieren, wenn die Lizenz erteilt worden ist, um diesem Kunden eine alternative Bezugsquelle zu verschaffen, iv) der Beschränkung des Verkaufs an Endverbraucher durch Lizenznehmer, die auf der Großhandelsebene tätig sind, v) der Beschränkung des Verkaufs an nichtzugelassene Händler, die Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems auferlegt wird; c) die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher, sofern diese Beschränkung einem Lizenznehmer auferlegt wird, der einem selektiven Vertriebssystem angehört und auf der Einzelhandelsebene tätig ist; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, Mitgliedern des Systems zu verbieten, Geschäfte von nichtzugelassenen Niederlassungen aus zu betreiben. (3) Sind die Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung keine konkurrierenden Unternehmen, sondern treten sie erst später miteinander in Wettbewerb, so ist Absatz 2 anstelle von Absatz 1 während der gesamten Geltungsdauer der Vereinbarung anwendbar, sofern die Vereinbarung nicht später wesentlich geändert wird. Eine solche Änderung liegt beispielsweise vor, wenn die Parteien eine neue Technologietransfer-Vereinbarung in Bezug auf konkurrierende Technologierechte schließen. I. Bedeutung der Kernbeschränkungen . . . . II. Kernbeschränkungen in Vereinbarungen zwischen konkurrierenden Unternehmen (Art. 4 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verkaufspreisbeschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a) . . . . . . . . . . . . . 2. Output-Beschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gebiets- und Kundenbeschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. c) . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Field of use-Beschränkungen . . . . . . . . 4. Beschränkungen für die Verwertung und die Forschung und Entwicklung (Art. 4 Abs. 1 Buchst. d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

4 4 8 10 10 11 12

III. Kernbeschränkungen in Vereinbarungen zwischen nicht konkurrierenden Unternehmen (Art. 4 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . 1. Verkaufspreisbeschränkungen (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebiets- und Kundenbeschränkungen (Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) . . . . . . . . . . . . . 3. Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher für Lizenznehmer, die einem selektiven Vertriebssystem angehören und auf der Einzelhandelsebene tätig sind (Art. 4 Abs. 2 Buchst. c) . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitpunkt des Wettbewerbsverhältnisses (Art. 4 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 TT-GVO vor Rz. 1.

334

Hempel

15 15 16

19 20

Kernbeschränkungen

Rz. 10 Art. 4 TT-GVO

I. Bedeutung der Kernbeschränkungen Die TT-GVO definiert bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen als Kernbeschränkun- 1 gen. Enthält die Technologietransfer-Vereinbarung solche Kernbeschränkungen, ist sie insgesamt nicht nach der TT-GVO von dem Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt. Weitere ggf. in der fraglichen Vereinbarung enthaltene Wettbewerbsbeschränkungen können dann nicht nach der TT-GVO freigestellt sein (TT-Leitlinien, Tz. 95). Kernbeschränkungen erfüllen nach Auffassung der Kommission in aller Regel die Voraussetzungen für eine Freistellung nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift nicht (TT-Leitlinien, Tz. 95, vgl. aber die in den TT-Leitlinien behandelten Ausnahmefälle).

2

Wie schon in der Regelung zur Marktanteilsschwelle unterscheidet auch Art. 4 TT-GVO zwischen Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern und solchen zwischen Nicht-Wettbewerbern.

3

II. Kernbeschränkungen in Vereinbarungen zwischen konkurrierenden Unternehmen (Art. 4 Abs. 1) 1. Verkaufspreisbeschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a) Die TT-GVO sieht jede Art von Vereinbarungen über den Preis für die Vertragsprodukte als Kernbeschränkung an.

4

Erfasst ist beispielsweise auch eine Anhebung der Lizenzgebühren, wenn der Lizenznehmer den eigenen Verkaufspreis für die vertriebenen Vertragsprodukte unter einem bestimmten Mindestpreis setzt.

5

Eine vereinbarte Mindestlizenzgebühr fällt allerdings nicht unter diese Kernbeschränkung (TT-Leitlinien, Tz. 99–102).

6

Die Kommission sieht Vereinbarungen, nach denen die Lizenzgebühr auf der Grundlage aller Pro- 7 duktverkäufe berechnet wird, unabhängig davon, ob die lizenzierte Technologie genutzt wird, als Kernbeschränkung i.S.v. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und d TT-GVO an (TT-Leitlinien, Tz. 101 mit Ausnahme in Tz. 102). 2. Output-Beschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) Die Vorschrift bestimmt Output-Beschränkungen als Kernbeschränkungen und sieht Ausnahmen hiervon vor. Dabei werden nicht wechselseitige Vereinbarungen günstiger behandelt als wechselseitige Vereinbarungen, da eine einseitige Beschränkung nicht zwangsläufig zu einem niedrigeren Output auf dem Markt führen muss (TT-Leitlinien, Tz. 104, dort auch zu weiteren Gründen). Eine Ausnahme gilt auch für Output-Beschränkungen, die nur einem Lizenznehmer in einer wechselseitigen Vereinbarung in Bezug auf die Vertragsprodukte auferlegt werden. Dies ist damit begründet, dass die Output-Beschränkung in diesem Fall nur Ausdruck des höheren Wertes der Technologie ist (TT-Leitlinien, Tz. 104).

8

Produktionsbeschränkungen auf den Eigenbedarf i.S.v. Art. 4 Abs. 1 Buchst. c iii TT-GVO stellen kei- 9 ne Output-Beschränkungen dar und müssen daher nicht zusätzlich die Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 Buchst. b TT-GVO erfüllen, um keine Kernbeschränkung darzustellen.1 3. Gebiets- und Kundenbeschränkungen (Art. 4 Abs. 1 Buchst. c) a) Inhalt der Vorschrift Eine Aufteilung der Gebiete, in die eine Vertragspartei ihre Produkte liefern darf, oder der Kunden, mit denen eine vertragliche Beziehung eingegangen werden darf, bezweckt eine Beschränkung des Wettbewerbs und stellt daher eine Kernbeschränkung dar (vgl. hierzu TT-Leitlinien, Tz. 105).

1 Vgl. hierzu Immenga/Mestmäcker/Fuchs, Art. 4 TT-GVO Rz. 59.

Hempel

335

10

TT-GVO Art. 4 Rz. 11 Kernbeschränkungen b) Ausnahmen 11

Die TT-GVO sieht vier Ausnahmen hiervon vor. Diese sind damit gerechtfertigt, dass durch die Beschränkungsmöglichkeit ein Anreiz für den Lizenzgeber und/oder den Lizenznehmer gesetzt werden soll, in die lizenzierte Technologie zu investieren und sie weiter zu entwickeln (TT-Leitlinien, Tz. 107 f. für die Beschränkung in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c i TT-GVO; dies gilt aber auch für die anderen Ausnahmen). c) Field of use-Beschränkungen

12

Field of use-Beschränkungen/Nutzungsbeschränkungen stellen keine Kernbeschränkungen dar.2 Unter einer Field of use-Beschränkung versteht man eine Beschränkung auf einen oder mehrere technische Anwendungsbereiche oder auf einen oder mehrere Produktmärkte oder Wirtschaftszweige (TTLeitlinien, Tz. 208). Die Field of use-Beschränkung muss objektiv unter Verweisung auf genaue bezeichnete relevante technische Merkmale des Vertragsprodukts definiert sein (TT-Leitlinien, Tz. 208 a.E.). Sie darf nicht über den Einsatzbereich der lizenzierten Technologie hinausgehen, da dies eine Marktaufteilung darstellen würde (TT-Leitlinien, Tz. 113). Field of use-Beschränkungen unterliegen, wenn sie die vorstehenden Anforderungen erfüllt, der Schirmwirkung der Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 TT-GVO. 4. Beschränkungen für die Verwertung und die Forschung und Entwicklung (Art. 4 Abs. 1 Buchst. d)

13

Vereinbarungen, die eine Einschränkung von Forschung und Entwicklung zur Folge haben, stellen Kernbeschränkungen dar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Forschung und Entwicklung Gegenstand der Vereinbarung ist (TT-Leitlinien, Tz. 115, dort auch zu Ausnahmen).

14

Auch eine Beschränkung des Vertragspartners darin, seine eigene konkurrierende Technologie zu nutzen, stellt eine Kernbeschränkung dar. Erfasst ist jegliche Einschränkung, von Lizenzierungsverboten über Preis- und Mengenvorgaben bis hin zu Gebietsbeschränkungen (TT-Leitlinien, Tz. 116). Solche Beschränkungen sind aber sowieso schon als eigenständige Kernbeschränkungen erfasst.

III. Kernbeschränkungen in Vereinbarungen zwischen nicht konkurrierenden Unternehmen (Art. 4 Abs. 2) 1. Verkaufspreisbeschränkungen (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a) 15

Die Kernbeschränkung entspricht weitgehend der in Art. 4 Buchst. a Vertikal-GVO definierten Kernbeschränkung mit dem Unterschied, dass die entsprechende Vorschrift in der Vertikal-GVO nur die Preisbindung des Abnehmers als Kernbeschränkung erfasst. Die Regelung in der TT-GVO schützt die Preissetzungsfreiheit beider Vertragsparteien. Daher sind auch Meistbegünstigungsklauseln zugunsten der Kunden der Vertragsparteien unzulässig. Die Vertragsparteien dürfen sich also nicht dazu verpflichten, die einem Kunden gewährte Preisvergünstigung allen Kunden anbieten zu müssen (TTLeitlinien, Tz. 118). 2. Gebiets- und Kundenbeschränkungen (Art. 4 Abs. 2 Buchst. b)

16

Die Ausnahmen von der Kernbeschränkung gehen in der TT-GVO weiter als die entsprechenden Ausnahmen in der Vertikal-GVO. Der Lizenzgeber darf sich selbst umfassend vor Wettbewerb schützen. Dadurch soll der Anreiz für die Lizenzvergabe gefördert werden, wo ohne den durch die Ausnahmen ermöglichten Schutz für den Lizenzgeber womöglich überhaupt keine Lizenzvergabe erfolgen würde. Im Unterschied zur Vorläufer-TT-GVO ist ein Schutz von Lizenznehmern, denen Exklusivgebiete oder Exklusivkunden zugewiesen wurden, vor passiven Wettbewerb nicht mehr zulässig (vgl. aber TT-Leitlinien, Tz. 126 zur ausnahmsweisen Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV). 2 TT-Leitlinien, Tz. 113; vgl. hierfür mit IT-Bezug: Matthiesen, Die Freistellung, S. 89 ff.

336

Hempel

Nicht freigestellte Beschränkungen

Art. 5 TT-GVO

Die in der TT-GVO verwendeten Begriffe des aktiven und passiven Verkaufs entsprechen den in der Vertikal-GVO verwendeten Begriffen (vgl. auch Verweisung in TT-Leitlinien, Tz. 108).

17

Ein Verbot der Belieferung bestimmter Endverbraucher stellt keine Kernbeschränkung dar, wenn das Verbot wegen der Gefährlichkeit des betreffenden Produkts aus Gründen der Sicherheit oder der Gesundheit objektiv notwendig ist.3

18

3. Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher für Lizenznehmer, die einem selektiven Vertriebssystem angehören und auf der Einzelhandelsebene tätig sind (Art. 4 Abs. 2 Buchst. c) Vertriebsbeschränkungen im selektiven Vertrieb dürfen nicht mit der Festlegung von Exklusivgebieten oder Exklusivkundengruppen kombiniert werden, da dies eine Kernbeschränkung i.S.v. Art. 4 Abs. 2 Buchst. c TT-GVO darstellen würde (TT-Leitlinien, Tz. 125).

19

4. Zeitpunkt des Wettbewerbsverhältnisses (Art. 4 Abs. 3) Die Regelung stellt klar, dass sich die Beurteilung von Kernbeschränkungen in einer Technologietransfer-Vereinbarung, bei deren Abschluss kein Konkurrenzverhältnis zwischen den Vertragsparteien bestand, ausschließlich nach Art. 4 Abs. 2 TT-GVO richtet. Die Regelung gilt nur für die Anwendung der Vorschrift über die Kernbeschränkungen, nicht hingegen für die Anwendung der Marktanteilsschwellen (vgl. TT-Leitlinien, Tz. 85; vgl. zu Art. 4 Abs. 3 TT-GVO: TT-Leitlinien, Tz. 39).

20

Die Vorschrift behandelt nicht den umgekehrten Fall, wenn also das Wettbewerbsverhältnis zwischen den Vertragsparteien während der Laufzeit des Vertrages entfällt. In diesem Fall würde man ab dem Zeitpunkt des Wegfalls des Wettbewerbsverhältnisses die günstigeren Regeln für Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerbern anwenden.4

21

Art. 5 Nicht freigestellte Beschränkungen (1) Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nicht für die folgenden in Technologietransfer-Vereinbarungen enthaltenen Verpflichtungen: a) alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen des Lizenznehmers, dem Lizenzgeber oder einem vom Lizenzgeber benannten Dritten für eigene Verbesserungen an der lizenzierten Technologie oder eigene neue Anwendungen dieser Technologie eine Exklusivlizenz oder Gesamt- bzw. Teilrechte zu gewähren; b) alle einer Partei auferlegten unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen, die Gültigkeit der Rechte des geistigen Eigentums, über die die andere Partei in der Union verfügt, nicht anzufechten, unbeschadet der Möglichkeit, bei einer Exklusivlizenz die Beendigung der Technologietransfer-Vereinbarung für den Fall vorzusehen, dass der Lizenznehmer die Gültigkeit eines oder mehrerer der lizenzierten Technologierechte anficht. (2) Handelt es sich bei den Vertragsparteien nicht um konkurrierende Unternehmen, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 nicht für unmittelbare oder mittelbare Verpflichtungen, die die Möglichkeit des Lizenznehmers, seine eigenen Technologierechte zu verwerten, oder die Möglichkeit einer der Vertragsparteien, Forschungs- und Entwicklungsarbeiten durchzuführen, beschränken, es sei denn, letztere Beschränkung ist unerlässlich, um die Preisgabe des lizenzierten Know-hows an Dritte zu verhindern.

3 TT-Leitlinien, Tz. 127, und allgemeiner Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag, ABl. EG C 101 v. 27.4.2004, 97, Tz. 18. 4 Vgl. hierzu MünchKomm/EuWettbR/Röhling/Nagel, Art. 4 TT-GVO Rz. 86; Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 5 TTGVO Rz. 6.

Hempel

337

TT-GVO Art. 5 Rz. 1 Nicht freigestellte Beschränkungen I. Bedeutung der nicht freigestellten Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Rücklizenzen und Nichtangriffsklauseln (Art. 5 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausschließliche Rücklizenzen . . . . . . . . . .

2 2

2. Nichtangriffsklauseln . . . . . . . . . . . . . .

4

III. Nicht freigestellte Beschränkungen in Vereinbarungen zwischen nicht konkurrierenden Unternehmen (Art. 5 Abs. 2) . . . . . . .

9

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 TT-GVO vor Rz. 1.

I. Bedeutung der nicht freigestellten Beschränkungen 1

Sinn und Zweck der Bestimmung von nicht freigestellten Beschränkungen liegt darin, die Freistellungswirkung für Vereinbarungen zu verhindern, die die Innovationsanreize verringern könnten (ErwGr. 15 TT-GVO und TT-Leitlinien, Tz. 128). Enthält eine Technologietransfer-Vereinbarung eine solche nicht nach der TT-GVO freigestellte Klausel, steht dies einer Freistellung sonstiger Wettbewerbsbeschränkungen in der Vereinbarung nicht entgegen. Zu prüfen bleibt, ob die von der TT-GVO nicht freigestellte Beschränkung nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift freigestellt ist. Ist das nicht der Fall, ist sie unwirksam (Art. 101 Abs. 2 AEUV, § 134 BGB i.V.m. § 1 GWB). Dies kann zur Gesamtnichtigkeit der Lizenzvereinbarung führen (vgl. Art. 101 AEUV Rz. 71 ff.).

II. Rücklizenzen und Nichtangriffsklauseln (Art. 5 Abs. 1) 1. Ausschließliche Rücklizenzen 2

Die Regelung wurde durch die Neufassung der TT-GVO im Jahr 2014 verschärft. Nunmehr sind alle Verpflichtungen zur exklusiven Rücklizenzierung nicht von der Freistellungswirkung erfasst. Die Vorschrift soll einer Reduzierung des Innovationsanreizes des Lizenznehmers entgegen wirken (TT-Leitlinien, Tz. 129). Solche Verpflichtungen können aber im Einzelfall nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt sein (TT-Leitlinien, Tz. 130, z.B. bei Entgeltlichkeit).

3

Verpflichtungen zur nicht ausschließlichen Rücklizenzierung von Verbesserungen unterliegen der Schirmwirkung der Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 TT-GVO. 2. Nichtangriffsklauseln

4

Nichtangriffsklauseln sind nicht von der TT-GVO freigestellt. Hintergrund dafür ist, dass der Lizenznehmer regelmäßig am besten beurteilen kann, ob ein Technologierecht gültig ist oder nicht. Im Sinne des unbeschränkten Wettbewerbs sollen nicht bestehende Technologierechte aus der Welt geschafft werden können (TT-Leitlinien, Tz. 134).

5

Die Vorschrift erfasst unmittelbare wie mittelbare Nichtangriffsklauseln, also z.B. Kündigungsrechte bei Anfechtung. Etwas anderes gilt nur bei Exklusivlizenzen, die unter die Schirmwirkung der Freistellung fallen (TT-Leitlinien, Tz. 139).

6

Zunächst ist jedoch stets zu prüfen, ob die Nichtangriffsklausel überhaupt wettbewerbsbeschränkend wirkt (vgl. dazu schon Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 5).

7

I.d.R. keine Wettbewerbsbeschränkung bewirken Nichtangriffsklauseln in Streitbeilegungsvereinbarungen (TT-Leitlinien, Tz. 242, auch zu gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßenden Nichtangriffsklauseln).

8

Nicht von der Regelung erfasst sind Nichtangriffsklauseln für Know-how. Hintergrund dafür ist, dass es unmöglich oder zumindest sehr schwierig ist, einmal preisgegebenes lizenziertes Know-how wieder zurückzuerlangen. In diesem Fall fördert eine Nichtangriffsklausel die Verbreitung neuer Technologien, weil – so die Kommission – schwächere Lizenzgeber auf diese Weise stärkeren Lizenznehmern eine Lizenz erteilen können, ohne befürchten zu müssen, dass der stärkere Lizenznehmer ihr Knowhow anpreist (TT-Leitlinien, Tz. 140). 338

Hempel

Nichtanwendung dieser Verordnung

Art. 7 TT-GVO

III. Nicht freigestellte Beschränkungen in Vereinbarungen zwischen nicht konkurrierenden Unternehmen (Art. 5 Abs. 2) Die Vorschrift definiert bestimmte Beschränkungen, die in Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern 9 als Kernbeschränkung eingestuft werden (Art. 4 Abs. 1 Buchst. d TT-GVO), im Falle von Vereinbarungen zwischen nicht konkurrierenden Unternehmen als bloße nicht freigestellte Beschränkungen. Hintergrund dafür ist, dass von einer geringeren Wettbewerbsschädlichkeit von Beschränkungen in Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerben auszugehen ist. Daher soll eine Freistellung nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern nach Art. 101 Abs. 3 AEUV möglich sein (TT-Leitlinien, Tz. 141). Erfasst wird davon der Fall, dass der Lizenznehmer keine Lizenzen für seine eigene Technologie vergibt und daher kein Wettbewerber auf dem Technologie-Markt ist. Der Wettbewerbsdruck, der durch die bei dem Lizenznehmer vorhandene Technologie ausgeht, soll gewahrt bleiben (TT-Leitlinien, Tz. 142).

Art. 6 Entzug des Rechtsvorteils im Einzelfall (1) Nach Artikel 29 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 kann die Kommission den mit dieser Verordnung verbundenen Rechtsvorteil entziehen, wenn sie in einem bestimmten Fall feststellt, dass eine nach Artikel 2 freigestellte Technologietransfer-Vereinbarung gleichwohl Wirkungen hat, die mit Artikel 101 Absatz 3 AEUV unvereinbar sind; dies gilt insbesondere, wenn a) der Zugang von Technologien Dritter zum Markt beschränkt wird, beispielsweise durch die kumulative Wirkung paralleler Netze gleichartiger beschränkender Vereinbarungen, die den Lizenznehmern die Nutzung von Technologien Dritter untersagen; b) der Zugang potenzieller Lizenznehmer zum Markt beschränkt wird, beispielsweise durch die kumulative Wirkung paralleler Netze gleichartiger beschränkender Vereinbarungen, die den Lizenzgebern die Erteilung von Lizenzen an andere Lizenznehmer untersagen, oder weil der einzige Eigentümer einer Technologie, der für relevante Technologierechte eine Lizenz vergibt, einem Lizenznehmer eine Exklusivlizenz erteilt, der bereits mit substituierbaren Technologierechten auf dem betreffenden Produktmarkt tätig ist. (2) Wenn eine unter die Freistellung nach Artikel 2 dieser Verordnung fallende Technologietransfer-Vereinbarung im Gebiet eines Mitgliedstaats oder in einem Teilgebiet desselben, das alle Merkmale eines gesonderten räumlichen Marktes aufweist, im Einzelfall Wirkungen hat, die mit Artikel 101 Absatz 3 AEUV unvereinbar sind, kann die Wettbewerbsbehörde dieses Mitgliedstaats unter den gleichen Umständen wie in Absatz 1 des vorliegenden Artikels den Rechtsvorteil dieser Verordnung gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 in Bezug auf das betroffene Gebiet entziehen. Die Kommission oder eine mitgliedstaatliche Kartellbehörde in der EU können die Freistellungswirkung der TT-GVO im Einzelfall entziehen (vgl. hierzu auch TT-Leitlinien, Tz. 144 bis 148). Die Entziehungsbefugnis trägt dem Gesichtspunkt Rechnung, dass sich übermäßige Beschränkungen des Wettbewerbs auch aus der kumulativen Wirkung gleichartiger Lizenzvereinbarungen ergeben können.

Art. 7 Nichtanwendung dieser Verordnung (1) Gemäß Artikel 1a der Verordnung Nr. 19/65/EWG kann die Kommission durch Verordnung erklären, dass in Fällen, in denen parallele Netze gleichartiger Technologietransfer-Vereinbarungen mehr als 50 % eines relevanten Marktes erfassen, die vorliegende Verordnung auf Technologie-

Hempel

339

1

TT-GVO Art. 7 Rz. 1 Nichtanwendung dieser Verordnung transfer-Vereinbarungen, die bestimmte Beschränkungen des Wettbewerbs auf diesem Markt vorsehen, keine Anwendung findet. (2) Eine Verordnung nach Absatz 1 wird frühestens sechs Monate nach ihrem Erlass anwendbar. 1

Die Vorschrift sieht vor, dass die Kommission den Rechtsvorteil der TT-GVO abstrakt generell, d.h. durch Verordnung, entziehen kann (vgl. hierzu TT-Leitlinien, Tz. 149 bis 155).

Art. 8 Anwendung der Marktanteilsschwellen Für die Anwendung der Marktanteilsschwellen nach Artikel 3 gelten folgende Vorschriften: a) Der Marktanteil wird anhand des Absatzwerts berechnet; liegen keine Angaben über den Absatzwert vor, so können zur Ermittlung des Marktanteils des betreffenden Unternehmens Schätzungen vorgenommen werden, die auf anderen verlässlichen Marktdaten unter Einschluss der Absatzmengen beruhen. b) Der Marktanteil wird anhand der Angaben aus dem vorhergehenden Kalenderjahr ermittelt. c) Der Marktanteil der in Artikel 1 Absatz 2 Unterabsatz 2 Buchstabe e genannten Unternehmen wird zu gleichen Teilen jedem Unternehmen zugerechnet, das die in Artikel 1 Absatz 2 Unterabsatz 2 Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Einflussmöglichkeiten hat. d) Der Anteil eines Lizenzgebers an einem relevanten Markt für die lizenzierten Technologierechte wird auf der Grundlage der Präsenz der lizenzierten Technologierechte auf dem relevanten Markt bzw. den relevanten Märkten (das heißt sowohl für den sachlich relevanten als auch für den räumlich relevanten Markt), auf dem/denen die Vertragsprodukte verkauft werden, berechnet, das heißt auf der Grundlage der Verkaufsdaten betreffend die vom Lizenzgeber und seinen Lizenznehmern insgesamt hergestellten Vertragsprodukte. e) Wird die in Artikel 3 Absatz 1 oder Absatz 2 genannte Marktanteilsschwelle von 20 % bzw. 30 % erst zu einem späteren Zeitpunkt überschritten, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 im Anschluss an das Jahr, in dem die Schwelle von 20 % bzw. 30 % erstmals überschritten wird, noch für zwei aufeinander folgende Kalenderjahre weiter. 1

Die Vorschrift ergänzt die Regelung der Marktanteilsschwellen in Art. 3 TT-GVO. Art. 8 Buchst. d TT-GVO sieht dabei die Berechnung des Marktanteils des Lizenzgebers auf dem betroffenen Technologiemarkt nach dem sog. „Fußabdruck“ auf dem Produktmarkt vor. Diese Vorgehensweise wurde gewählt, da die direkte Ermittlung des Marktanteils auf dem Technologiemarkt anhand von Lizenzeinnahmen, wie sie nach Art. 8 Buchst. a TT-GVO erfolgen müsste, praktisch schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist (zu den Details, TT-Leitlinien, Tz. 87 f.).

Art. 9 Verhältnis zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen Diese Verordnung gilt nicht für Lizenzabsprachen in Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, die unter die Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 fallen oder in Spezialisierungsvereinbarungen, die unter die Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 fallen. 1

Die Vorschrift sieht vor, dass Lizenzvereinbarungen in bestimmten Fällen nicht der TT-GVO, sondern anderen, dann vorrangig geltenden Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission unterliegen. 340

Hempel

Geltungsdauer

Art. 11 TT-GVO

Dies gilt für die Erteilung von Lizenzen im Rahmen von Spezialisierungsvereinbarungen, z.B. an ein gemeinsames Produktions-Gemeinschaftsunternehmen wie für die Erteilung von Lizenzen im Rahmen von gemeinsamer Forschung und Entwicklung und bei der Verwertung der Ergebnisse der gemeinsamen Forschung und Entwicklung. In jedem Fall ist genau zu prüfen, ob die Erteilung der Lizenz noch in den Anwendungsbereich der jeweiligen Gruppenfreistellungsverordnung fällt. So unterliegt beispielsweise eine Lizenzvergabe durch Produktionsgemeinschaftsunternehmen an Dritte nicht der Spezialisierungs-Gruppenfreistellungsverordnung. Sie unterliegt allerdings auch nicht der TT-GVO. Die Kommission behandelt solche Technologie-Pools in ihren Leitlinien. Unter die TTGVO fällt allerdings die Vergabe von Lizenzen für die Endergebnisse der gemeinsamen Forschung und Entwicklung durch die Parteien der gemeinsamen Forschung und Entwicklung an Dritte (vgl. zum Vorstehenden: TT-Leitlinien, Tz. 70 ff.).

Art. 10 Übergangszeit Das Verbot nach Artikel 101 Absatz 1 AEUV gilt vom 1. Mai 2014 bis zum 30. April 2015 nicht für Vereinbarungen, die am 30. April 2014 bereits in Kraft waren und die am 30. April 2014 die Voraussetzungen für eine Freistellung zwar nach der Verordnung (EG) Nr. 772/2004, nicht aber nach dieser Verordnung erfüllen. Die Vorschrift regelt eine Übergangsfrist, die es den Unternehmen ermöglichen sollte, ihre an die alte TT-GVO angepassten Vereinbarungen erforderlichenfalls an die aktuell geltende TT-GVO anzupassen bzw. bei Auslaufen im Übergangszeitraum von einer Anpassung abzusehen.

Art. 11 Geltungsdauer Diese Verordnung tritt am 1. Mai 2014 in Kraft. Sie gilt bis zum 30. April 2026.

Hempel

341

1

Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (Vertikal-GVO) ABl. EU Nr. L 102 vom 23.4.2010, 1 (Auszug)

(Erwägungsgründe) (1) Nach der Verordnung Nr. 19/65/EWG ist die Kommission ermächtigt, Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union durch Verordnung auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und entsprechenden abgestimmten Verhaltensweisen anzuwenden, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen. (2) Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 der Kommission vom 22. Dezember 1999 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen (3) definiert eine Gruppe von vertikalen Vereinbarungen, die nach Auffassung der Kommission in der Regel die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen. Angesichts der insgesamt positiven Erfahrungen mit der Anwendung der genannten Verordnung, die am 31. Mai 2010 außer Kraft tritt und angesichts der seit ihrem Erlass gesammelten Erfahrungen sollte eine neue Gruppenfreistellungsverordnung erlassen werden. (3) Die Gruppe von Vereinbarungen, die in der Regel die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen, umfasst vertikale Vereinbarungen über den Bezug oder Verkauf von Waren oder Dienstleistungen, die zwischen nicht miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen, zwischen bestimmten Wettbewerbern sowie von bestimmten Vereinigungen des Wareneinzelhandels geschlossen werden; diese Gruppe umfasst ferner vertikale Vereinbarungen, die Nebenabreden über die Übertragung oder Nutzung von Rechten des geistigen Eigentums enthalten. Der Begriff „vertikale Vereinbarungen“ sollte entsprechende abgestimmte Verhaltensweisen umfassen. (4) Für die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 AEUV durch Verordnung ist es nicht erforderlich, die vertikalen Vereinbarungen zu definieren, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen können. Bei der Prüfung einzelner Vereinbarungen nach Artikel 101 Absatz 1 AEUV sind mehrere Faktoren, insbesondere die Marktstruktur auf der Angebots- und Nachfrageseite, zu berücksichtigen. (5) Die durch diese Verordnung bewirkte Gruppenfreistellung sollte nur vertikalen Vereinbarungen zugute kommen, von denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass sie die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV erfüllen. (6) Bestimmte Arten von vertikalen Vereinbarungen können die wirtschaftliche Effizienz innerhalb einer Produktions- oder Vertriebskette erhöhen, weil sie eine bessere Koordinierung zwischen den beteiligten Unternehmen ermöglichen. Insbesondere können sie dazu beitragen, die Transaktions- und Vertriebskosten der beteiligten Unternehmen zu verringern und deren Umsätze und Investitionen zu optimieren. (7) Die Wahrscheinlichkeit, dass derartige effizienzsteigernde Auswirkungen stärker ins Gewicht fallen als etwaige von Beschränkungen in vertikalen Vereinbarungen ausgehende wettbewerbswidrige Auswirkungen, hängt von der Marktmacht der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen ab und somit von dem Ausmaß, in dem diese Unternehmen dem Wettbewerb anderer Anbieter von Waren oder Dienstleistungen ausgesetzt sind, die von ihren Kunden aufgrund ihrer Produkteigenschaften, ihrer Preise und ihres Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden. (8) Solange der auf jedes an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen entfallende Anteil am relevanten Markt jeweils 30 % nicht überschreitet, kann davon ausgegangen werden, dass vertikale 342

Hempel

Erwägungsgründe

Vor Vertikal-GVO

Vereinbarungen, die nicht bestimmte Arten schwerwiegender Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, im Allgemeinen zu einer Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs und zu einer angemessenen Beteiligung der Verbraucher an dem daraus entstehenden Gewinn führen. (9) Oberhalb dieser Marktanteilsschwelle von 30 % kann nicht davon ausgegangen werden, dass vertikale Vereinbarungen, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen, immer objektive Vorteile mit sich bringen, die in Art und Umfang ausreichen, um die Nachteile auszugleichen, die sie für den Wettbewerb mit sich bringen. Es kann allerdings auch nicht davon ausgegangen werden, dass diese vertikalen Vereinbarungen entweder unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallen oder die Voraussetzungen des Artikels 101 Absatz 3 AEUV nicht erfüllen. (10) Diese Verordnung sollte keine vertikalen Vereinbarungen freistellen, die Beschränkungen enthalten, die wahrscheinlich den Wettbewerb beschränken und den Verbrauchern schaden oder die für die Herbeiführung der effizienzsteigernden Auswirkungen nicht unerlässlich sind; insbesondere vertikale Vereinbarungen, die bestimmte Arten schwerwiegender Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, wie die Festsetzung von Mindest- oder Festpreisen für den Weiterverkauf oder bestimmte Arten des Gebietsschutzes, sollten daher ohne Rücksicht auf den Marktanteil der beteiligten Unternehmen von dem mit dieser Verordnung gewährten Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung ausgeschlossen werden. (11) Die Gruppenfreistellung sollte an bestimmte Bedingungen geknüpft werden, die den Zugang zum relevanten Markt gewährleisten und Kollusion auf diesem Markt vorbeugen. Zu diesem Zweck sollte die Freistellung von Wettbewerbsverboten auf Verbote mit einer bestimmten Höchstdauer beschränkt werden. Aus demselben Grund sollten alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen, die die Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems veranlassen, die Marken bestimmter konkurrierender Anbieter nicht zu führen, vom Rechtsvorteil dieser Verordnung ausgeschlossen werden. (12) Durch die Begrenzung des Marktanteils, den Ausschluss bestimmter vertikaler Vereinbarungen von der Gruppenfreistellung und die nach dieser Verordnung zu erfüllenden Voraussetzungen ist in der Regel sichergestellt, dass Vereinbarungen, auf die die Gruppenfreistellung Anwendung findet, den beteiligten Unternehmen keine Möglichkeiten eröffnen, den Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der betreffenden Produkte auszuschalten. (13) Nach Artikel 29 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (4) kann die Kommission den Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung entziehen, wenn sie in einem bestimmten Fall feststellt, dass eine Vereinbarung, für die die Gruppenfreistellung nach dieser Verordnung gilt, dennoch Wirkungen hat, die mit Artikel 101 Absatz 3 AEUV unvereinbar sind. (14) Die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden können, nach Artikel 29 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 den aus dieser Verordnung erwachsenden Rechtsvorteil für das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder einen Teil dieses Hoheitsgebiets entziehen, wenn in einem bestimmten Fall eine Vereinbarung, für die die Gruppenfreistellung nach dieser Verordnung gilt, dennoch im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil dieses Hoheitsgebiets, das alle Merkmale eines gesonderten räumlichen Marktes aufweist, Wirkungen hat, die mit Artikel 101 Absatz 3 AEUV unvereinbar sind. (15) Bei der Entscheidung, ob der aus dieser Verordnung erwachsende Rechtsvorteil nach Artikel 29 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 entzogen werden sollte, sind die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen, die sich daraus ergeben, dass der Zugang zu einem relevanten Markt oder der Wettbewerb auf diesem Markt durch gleichartige Auswirkungen paralleler Netze vertikaler Vereinbarungen erheblich eingeschränkt werden, von besonderer Bedeutung. Derartige kumulative Wirkungen können sich etwa aus selektiven Vertriebssystemen oder aus Wettbewerbsverboten ergeben. (16) Um die Überwachung paralleler Netze vertikaler Vereinbarungen zu verstärken, die gleichartige wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen haben und mehr als 50 % eines Marktes abdecken, kann die Kommission durch Verordnung erklären, dass diese Verordnung auf vertikale Vereinbarungen, die bestimmte auf den betroffenen Markt bezogene Beschränkungen enthalten, keine Anwendung findet, und dadurch die volle Anwendbarkeit von Artikel 101 AEUV auf diese Vereinbarungen wiederherstellen. Hempel

343

Vertikal-GVO Vor Rz. 1 Vorbemerkungen

Vorbemerkungen zur Vertikal-GVO I. Vorbemerkung . . . . . . . . . 1. Allgemeines zur Vertikal-GVO a) Funktionsweise . . . . . . . b) Rechtsgrundlage . . . . . .

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1 1 3 5

c) Anwendung der Verordnung . . . . . . . . 2. Struktur der Vertikal-GVO . . . . . . . . . . .

7 9

II. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . . . . .

10

Literatur: Bache/Meyer, Unzulässiger Routerzwang oder legitime Kundenbindung? Eine kartellrechtliche Beurteilung zum Spannungsfeld zwischen unternehmerischer Handlungsfreiheit, Netzneutralität und Wettbewerb, CR 2013, 433; Bartsch/Briner, DGRI Jahrbuch 2010, 1. Aufl. 2011; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht Kommentar, 3. Aufl. 2014; Berger, Zur Anwendbarkeit der neuen Technologietransfer-Gruppenfreistellungsverordnung auf Softwareverträge, K&R 2005, 15; Frank, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen und ihre Relevanz für Verträge der Informationstechnologie, CR 2014, 349; Grützmacher, SoftwareVerträge und die 7. GWB-Novelle, ITRB 2005, 205; Hempel, Formelle Fusionskontrolle und Fusionskontrollverfahrensrecht, in Bien (Hrsg.), Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, 2013 (zitiert: Hempel, Formelle Fusionskontrolle); Kilian/Heussen (Hrsg.), Computerrechts-Handbuch, Informationstechnologie in der Rechtsund Wirtschaftspraxis, 34. Ergänzungslieferung 2018; Kreutzmann, Neues Kartellrecht und geistiges Eigentum, WRP 2006, 453; Matthiesen, Die Freistellung von Softwarenutzungsverträgen nach Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2010 (zitiert: Matthiesen, Die Freistellung); Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, hrsg. von Bornkamm/Montag/Säcker, Band 1 Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2015 (zitiert: MünchKomm/EUWettbR/Bearbeiter, § … Rz. …); Polley, Softwareverträge und ihre kartellrechtliche Wirksamkeit, CR 2004, 641; Scholz/Wagener, Kartellrechtliche Bewertung hardwarebezogener Verwendungsbeschränkungen in Software-Überlassungsverträgen, CR 2003, 880; Schultze/Pautke/Wagener, Die letzte ihrer Art: Die Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen – Reformentwürfe der Kommission, WRP 2004, 175; Schultze/Pautke/Wagener, Die Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2018 (zitiert: Schultze/Pautke/Wagener/Bearbeiter, Vertikal-GVO); Schumacher/Schmid, Die neue Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen, GRUR 2006, 1; Seffer/Beninca, OEM-Klauseln unter dem Gesichtspunkt des europäischen Kartellrechts, ITRB 2004, 210; Timm, Kartellrecht der Softwareverträge, 2005 (zitiert: Timm, Softwareverträge); Wandtke/Bullinger (Hrsg.), Praxiskommentar zum Urheberrecht, 5. Aufl., 2019; Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016 (zitiert: Wiedemann/Bearbeiter, Hdb. KartellR); Wissel/Eickhoff, Die neue EG-Gruppenfreistellungsverordnung für Technologietransfer-Vereinbarungen, WuW 2004, 1244; Zöttl, Das neue EG-Kartellrecht für Technologietransferverträge, WRP 2005, 33.

I. Vorbemerkung 1. Allgemeines zur Vertikal-GVO 1

Art. 101 Abs. 3 AEUV sieht die Freistellung von Gruppen von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen von dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen vor. Seit 1999 gibt es eine einheitliche Gruppenfreistellungsverordnung für Vertriebsverträge.1 Charakteristisch für die Gruppenfreistellungsverordnung ist die dort vorgesehene Marktanteilsschwelle von 30 %. Diese ist durch den sog. „more economic approach“ motiviert. Danach sind Wettbewerbsbeschränkungen in Vertriebsverträgen in vielen Fällen nicht schädlich, sondern sogar wettbewerbsfördernd. Erst bei Vorliegen von Marktmacht sollen von diesen Wettbewerbsbeschränkungen dann Gefahren für den Wettbewerb ausgehen können.

2

Die aktuelle Vertikal-GVO stammt aus dem Jahre 2010 und hat eine bis 2021 beschränkte Geltungsdauer. Der Sinn der Befristung liegt darin, der Kommission eine regelmäßige Überprüfung der Wirkungen der Gruppenfreistellungsverordnung bei gleichzeitiger ausreichender Rechtssicherheit für die Unternehmen zu ermöglichen. Als Korrektiv besteht eine Befugnis der Kartellbehörden, den Vorteil

1 Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 der Kommission vom 22.12.1999 über die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. EG Nr. L 336 v. 29.12.1999, 21.

344

Hempel

Vorbemerkungen

Rz. 9 Vor Vertikal-GVO

der Gruppenfreistellung im Einzelfall oder für eine Vielzahl von Fällen zu entziehen.2 Die praktische Bedeutung dieser Befugnis ist bislang gering geblieben.3 a) Funktionsweise Die Vertikal-GVO sieht eine pauschale Freistellung einer beliebigen Vielzahl von Wettbewerbsbeschränkungen in vertikalen Vereinbarungen vor. Das bedeutet, dass im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO und bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung (Marktanteilsschwellen) alle solche wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen freigestellt sind, die nicht explizit in der VertikalGVO aufgeführt sind (sog. Schirmwirkung).4

3

Greift die Vertikal-GVO nicht ein, bleibt zu prüfen, ob eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung die Voraussetzungen der allgemeinen Freistellungsvorschrift nach Art. 101 Abs. 3 AEUV (§ 2 Abs. 1 GWB) erfüllt. Die Europäische Kommission behandelt solche Fälle in ihren Vertikal-Leitlinien. Dabei gilt, dass Wettbewerbsbeschränkungen, die die Vertikal-GVO als Kernbeschränkungen qualifiziert, in aller Regel nicht nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freistellungsfähig sind (Vertikal-Leitlinien, Tz. 47).

4

b) Rechtsgrundlage Die Vertikal-GVO ist gestützt auf eine Ermächtigungsgrundlage in der Verordnung Nr. 19/65/EWG.5 Diese Ratsverordnung ermächtigt die Kommission, wie in Art. 101 Abs. 3 AEUV vorgesehen, Gruppen von Verträgen durch Verordnung von dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freizustellen.

5

Im System der Legalausnahme (Art. 1 VO 1/2003) dient das Instrument der Gruppenfreistellung der 6 gruppenweisen Konkretisierung der Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV durch abstrakt-generelle Regelung (Vgl. Art. 101 AEUV Rz. 62). c) Anwendung der Verordnung Die Vertikal-GVO ist unmittelbar geltendes Recht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Sie ist von den Gerichten und Behörden anzuwenden.

7

§ 2 Abs. 2 GWB übernimmt Regelungsgehalt der Vertikal-GVO durch dynamische Verweisung in das deutsche Recht. Dies hat für die im IT-Bereich nicht relevanten Fälle Bedeutung, in denen mangels Zwischenstaatlichkeitszusammenhangs nur § 1 GWB und nicht zugleich auch Art. 101 AEUV zur Anwendung kommt.

8

2. Struktur der Vertikal-GVO Die Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission folgen heute weitgehend einem identischen 9 Aufbau. Sie enthalten zunächst Begriffsbestimmungen, in denen die wesentlichen Begriffe legal definiert werden. Dabei sind die Begriffe teilweise in allen Gruppenfreistellungsverordnungen identisch definiert. Sodann folgt die Regelung der Freistellung als Schirmfreistellung. Darauf folgen Regelungen zu den Anwendungsvoraussetzungen, insb. die charakteristischen Marktanteilsschwellen. Sodann werden bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen als Kernbeschränkungen definiert, die einer Freistellung nach der Gruppenfreistellungsverordnung insgesamt entgegenstehen. Danach erfolgt die Regelung nicht freigestellter Vereinbarungen. Dort werden Beschränkungen definiert, die für sich nicht freistellungsfähig sind. Dadurch sollen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen unabhängig von dem Erreichen der Marktanteilsschwelle von der Freistellung ausgenommen werden. Die Freistellung gilt für die gesamte übrige Vereinbarung, wenn sich die nicht freigestellten Beschränkungen von den übrigen Regelungen der Vereinbarung trennen lassen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 65). Sodann folgen 2 Vgl. zur Entziehung im Einzelfall: Art. 29 VO 1/2003 und § 32d GWB; für eine abstrakt-generelle Entziehung: Art. 6 Vertikal-GVO. 3 Wiedemann/Seeliger, Hdb. KartellR, § 11 Rz. 237. 4 ErwGr. 8 Vertikal-GVO. 5 Verordnung Nr. 19/65/EWG des Rates vom 2.3.1965 über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. EG Nr. 36 v. 6.3.1965, 533.

Hempel

345

Vertikal-GVO Vor Rz. 9 Vorbemerkungen Regelungen zur Nichtanwendung der Gruppenfreistellungsverordnung, zur Klarstellung zu den Anwendungsvoraussetzungen und schließlich zur Geltungsdauer.6

II. Bedeutung für IT-Verträge 10

Die Vertikal-GVO ist die maßgebliche Gruppenfreistellungsverordnung für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen in Software-Vertriebsverträgen (Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 16 ff.).

11

Für weitere IT-bezogene Verträgen über Waren und Dienstleistungen stellt sich jeweils die Frage, welche Gruppenfreistellungsverordnung anwendbar ist, insb. ob die ggü. der Vertikal-GVO vorrangige TT-GVO anwendbar ist (vgl. Art. 1 TT-GVO Rz. 16 ff.).

Art. 1 Begriffsbestimmungen (1) Für die Zwecke dieser Verordnung gelten folgende Begriffsbestimmungen: a) „vertikale Vereinbarung“ ist eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise, die zwischen zwei oder mehr Unternehmen, von denen jedes für die Zwecke der Vereinbarung oder der abgestimmten Verhaltensweise auf einer anderen Ebene der Produktions- oder Vertriebskette tätig ist, geschlossen wird und die die Bedingungen betrifft, zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen; b) „vertikale Beschränkung“ ist eine Wettbewerbsbeschränkung in einer vertikalen Vereinbarung, die unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fällt; c) „Wettbewerber“ ist ein tatsächlicher oder potenzieller Wettbewerber; ein „tatsächlicher Wettbewerber“ ist ein Unternehmen, das auf demselben relevanten Markt tätig ist; ein „potenzieller Wettbewerber“ ist ein Unternehmen, bei dem realistisch und nicht nur hypothetisch davon ausgegangen werden kann, dass es ohne die vertikale Vereinbarung als Reaktion auf einen geringen, aber anhaltenden Anstieg der relativen Preise wahrscheinlich innerhalb kurzer Zeit die zusätzlichen Investitionen tätigen oder sonstigen Umstellungskosten auf sich nehmen würde, die erforderlich wären, um in den relevanten Markt einzutreten; d) „Wettbewerbsverbot“ ist eine unmittelbare oder mittelbare Verpflichtung, die den Abnehmer veranlasst, keine Waren oder Dienstleistungen herzustellen, zu beziehen, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen, die mit den Vertragswaren oder -dienstleistungen im Wettbewerb stehen, oder eine unmittelbare oder mittelbare Verpflichtung des Abnehmers, auf dem relevanten Markt mehr als 80 % seines Gesamtbezugs an Vertragswaren oder -dienstleistungen und ihren Substituten, der anhand des Werts des Bezugs oder, falls in der Branche üblich, anhand des bezogenen Volumens im vorangehenden Kalenderjahr berechnet wird, vom Anbieter oder von einem anderen vom Anbieter benannten Unternehmen zu beziehen; e) „selektive Vertriebssysteme“ sind Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind; f) „Rechte des geistigen Eigentums“ umfassen unter anderem gewerbliche Schutzrechte, Knowhow, Urheberrechte und verwandte Schutzrechte; g) „Know-how“ ist eine Gesamtheit nicht patentgeschützter praktischer Kenntnisse, die der Anbieter durch Erfahrung und Erprobung gewonnen hat und die geheim, wesentlich und identifiziert sind; in diesem Zusammenhang bedeutet „geheim“, dass das Know-how nicht all6 Diese dienen der Rechtsklarheit und sollen den Unternehmen eine Orientierungshilfe für die Prüfung und Berechnung des Marktanteils geben; vgl. auch Vertikal-Leitlinien, Tz. 86 bis 95.

346

Hempel

Begriffsbestimmungen

Art. 1 Vertikal-GVO

gemein bekannt oder leicht zugänglich ist; „wesentlich“ bedeutet, dass das Know-how für den Abnehmer bei der Verwendung, dem Verkauf oder dem Weiterverkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen bedeutsam und nützlich ist; „identifiziert“ bedeutet, dass das Know-how so umfassend beschrieben ist, dass überprüft werden kann, ob es die Merkmale „geheim“ und „wesentlich“ erfüllt; h) „Abnehmer“ ist auch ein Unternehmen, das auf der Grundlage einer unter Artikel 101 Absatz 1 AEUV fallenden Vereinbarung Waren oder Dienstleistungen für Rechnung eines anderen Unternehmens verkauft; i) „Kunde des Abnehmers“ ist ein nicht an der Vereinbarung beteiligtes Unternehmen, das die Vertragswaren oder -dienstleistungen von einem an der Vereinbarung beteiligten Abnehmer bezieht. (2) Für die Zwecke dieser Verordnung schließen die Begriffe „Unternehmen“, „Anbieter“ und „Abnehmer“ die jeweils mit diesen verbundenen Unternehmen ein. „Verbundene Unternehmen“ sind: a) Unternehmen, in denen ein an der Vereinbarung beteiligtes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar i) die Befugnis hat, mehr als die Hälfte der Stimmrechte auszuüben, oder ii) die Befugnis hat, mehr als die Hälfte der Mitglieder des Leitungs- oder Aufsichtsorgans oder der zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organe zu bestellen, oder iii) das Recht hat, die Geschäfte des Unternehmens zu führen; b) Unternehmen, die in einem an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen unmittelbar oder mittelbar die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse haben; c) Unternehmen, in denen ein unter Buchstabe b genanntes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat; d) Unternehmen, in denen ein an der Vereinbarung beteiligtes Unternehmen gemeinsam mit einem oder mehreren der unter den Buchstaben a, b und c genannten Unternehmen oder in denen zwei oder mehr der zuletzt genannten Unternehmen gemeinsam die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse haben; e) Unternehmen, in denen die folgenden Unternehmen gemeinsam die unter Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse haben: i) an der Vereinbarung beteiligte Unternehmen oder mit ihnen jeweils verbundene Unternehmen im Sinne der Buchstaben a bis d, oder ii) eines oder mehrere der an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen oder eines oder mehrere der mit ihnen verbundenen Unternehmen im Sinne der Buchstaben a bis d und ein oder mehrere dritte Unternehmen. I. Vertikale Vereinbarungen . . . . . . . . . 1. Allgemeines zu der Begriffsbestimmung . 2. IT-bezogene Vereinbarungen . . . . . . . a) Allgemeines zu IT-bezogenen Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Software-Vertrieb . . . . . . . . . . . . c) Software-Überlassung an Endnutzer .

. . . . . .

1 1 6

. . . . . .

6 7 8

II. Wettbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

IV. Selektive Vertriebssysteme . . . . . . . . . . 13 V. Rechte des geistigen Eigentums . . . . . . . 14 VI. Know-how . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 VII. Abnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 VIII. Kunde des Abnehmers . . . . . . . . . . . . . 19 IX. Verbundene Unternehmen . . . . . . . . . . 20

III. Wettbewerbsverbot . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 Vertikal-GVO vor Rz. 1.

Hempel

347

Vertikal-GVO Art. 1 Rz. 1 Begriffsbestimmungen

I. Vertikale Vereinbarungen 1. Allgemeines zu der Begriffsbestimmung 1

Die Definition ist maßgeblich für die Bestimmung des Geltungsbereichs der Vertikal-GVO. Sie sieht vier Elemente vor:

2

Die Begriffe der Vereinbarung und der abgestimmten Verhaltensweise sind wie im Art. 101 Abs. 1 AEUV zu verstehen. Das Merkmal dient der Abgrenzung zu einseitigen Verhaltensweisen, die unter Art. 102 AEUV fallen können (Vertikal-Leitlinien, Tz. 25).

3

Das Erfordernis der Beteiligung von zwei oder mehr Unternehmen dient der Abgrenzung der erfassten Verträge von solchen mit Endverbrauchern (Vertikal-Leitlinien, Tz. 25).

4

Das Erfordernis der unterschiedlichen Stufen der Leistungskette dient der Abgrenzung der von der Vertikal-GVO erfassten Vereinbarungen von Verträgen zwischen Unternehmen, die auf der gleichen Stufe der Leistungskette stehen und auch diese betreffen, also von horizontalen Vereinbarungen.

5

Die weitgefasste Bezugnahme auf die Bedingungen des Bezugs, Vertriebs oder Weiterverkaufs unterstreicht den Zweck der Vertikal-GVO, Vertriebsverträge zu erfassen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 25). 2. IT-bezogene Vereinbarungen a) Allgemeines zu IT-bezogenen Vereinbarungen

6

Das Merkmal erfasst also Verträge über den Vertrieb von Hardware, auch den Verkauf und Ankauf von Hardware zur Vermietung an Dritte (Vertikal-Leitlinien, Tz. 26). Sie kann weiter den Vertrieb von Dienstleistungen für Hardware erfassen.1 Nicht erfasst sind Miet- oder Leasingvereinbarungen als solche (Vertikal-Leitlinien, Tz. 26). b) Software-Vertrieb

7

S. sogleich zu Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 16 ff. c) Software-Überlassung an Endnutzer

8

Die Software-Überlassung an Endnutzer erfüllt das Merkmal der vertikalen Vereinbarung nicht. Dies ist aber nicht gänzlich unbestritten (vgl. auch Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 12, Art. 1 TT-GVO Rz. 29).

II. Wettbewerber 9

Wettbewerber sind Unternehmen, die entweder bereits auf demselben sachlich oder räumlich relevanten Markt aktiv sind wie die an der vertikalen Vereinbarung Beteiligten (tatsächliche Wettbewerber) oder in absehbarer Zeit durch bereits vorhandener Mittel in den Markt eintreten werden (potentielle Wettbewerber). Die Definition hat für die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO Bedeutung. Diese findet auf vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern grundsätzlich keine Anwendung (Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO).

III. Wettbewerbsverbot 10

Ein Wettbewerbsverbot i.S.d. Vertikal-GVO ist eine Verpflichtung des Abnehmers, die es diesem untersagt, Waren zu vertreiben oder Dienstleistungen anzubieten, die bereits von dem von dem Wettbewerbsverbot begünstigten Unternehmen vertrieben werden.

11

Dabei gilt die Vereinbarung einer Verpflichtung des Abnehmers, mehr als 80 % seines Gesamtbedarfs an den fraglichen Waren auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt bei dem Anbieter zu bezie1 Nicht aber, wenn dafür Software-Lizenzen benötigt werden, vgl. Art. 2 Vertikal-GVO Rz. 33.

348

Hempel

Begriffsbestimmungen

Rz. 18 Art. 1 Vertikal-GVO

hen (Alleinbezugsverpflichtung und Quasi-Alleinbezugsverpflichtung), ebenfalls als Wettbewerbsverbot (Vertikal-Leitlinien, Tz. 66 und 129). Die Vertikal-GVO sieht Wettbewerbsverbote unter bestimmten Voraussetzungen als nicht freigestellte Beschränkungen an (vgl. Art. 5 Vertikal-GVO). Alleinbezugsverpflichtungen können beim Bezug von Hardware eine Rolle spielen.2

12

IV. Selektive Vertriebssysteme Ein selektives Vertriebssystem ist eine Gesamtheit von Vereinbarungen zwischen einem Hersteller oder Lieferanten mit einem Händler (gleich ob Groß- oder Einzelhändler), bei dem die Händler anhand feststehender Selektionskriterien ausgewählt werden und der Hersteller oder Lieferant sich verpflichtet, kein Händler zu beliefern, die die Selektionskriterien nicht erfüllen.3 Die Definition hat für die Regelung von Kernbeschränkungen (hier: Kundenbeschränkungen) und Ausnahmen hiervon Bedeutung (Art. 4 Vertikal-VO).

13

V. Rechte des geistigen Eigentums Die Vertikal-GVO definiert den Begriff der Rechte des geistigen Eigentums. Die Definition hat für ganz unterschiedliche Aspekte der Vertikal-GVO Bedeutung, so z.B. für die Anwendbarkeit auf Lizenzverträge wie auch für die Rechtfertigung von Wettbewerbsverboten.

14

Ganz explizit von der Definition erfasst ist das Urheberrecht. Dazu zählt auch das Software-Urheber- 15 recht (Vertikal-Leitlinien, Tz. 40).

VI. Know-how Die Definition sieht eine weitere Präzisierung des Begriffes des Know-hows vor. Es handelt sich um die Gesamtheit von Kenntnissen einer Person oder eines Unternehmens, welche geheim, wesentlich und identifizierbar sind.4 Die Definition hat wie die Definition des Oberbegriffs der Rechte des geistigen Eigentums für die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO auf Lizenzverträge (Art. 2 Abs. 3 VertikalGVO) und für die Regelung über Wettbewerbsverbote Bedeutung (Art. 5 Vertikal-GVO).

16

VII. Abnehmer Die Definition enthält eine Klarstellung zu dem für die Vertikal-GVO zentralen Begriff des Abnehmers. 17 Die Klarstellung dient der Einbeziehung von Handelsvertreter- und Kommissionärsvereinbarungen.5 Die Klarstellung weist darauf hin, dass Verträge zwischen Prinzipalen und sog. echten Handelsvertretern mit Blick auf die in ihnen enthaltenen Wettbewerbsbeschränkungen nicht Art. 101 Abs. 1 AEUV unterliegen. Voraussetzung dafür ist, dass der Handelsvertreter für die Verträge, die er im Namen des Prinzipals schließt oder verhandelt, keine oder nur unbedeutende finanzielle oder geschäftliche Risiken trägt.6 Liegen diese Voraussetzungen vor, darf der Prinzipal dem Handelsvertreter z.B. Vorgaben für die Preissetzung machen und Kundenbeschränkungen (nur für die fraglichen Waren) oder Gebietsbeschränkungen (nur für die fraglichen Waren) auferlegen (vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 18).

2 Vgl. zu dem Beispiel des Bezugs von Routern: Bache/Meyer, CR 2013, 433, 437, die allerdings entgegen Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO auf den Marktanteil des Abnehmers auf dem Verkaufsmarkt abstellen. 3 Zum selektiven Vertrieb vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 174–188. 4 Vgl. die Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. g Vertikal-GVO sowie die Erläuterungen in Vertikal-Leitlinien, Tz. 43–45. 5 Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 1 Vertikal-GVO Rz. 50. 6 Vgl. im Einzelnen: Vertikal-Leitlinien, Tz. 12 ff., m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH.

Hempel

349

18

Vertikal-GVO Art. 1 Rz. 19 Begriffsbestimmungen

VIII. Kunde des Abnehmers 19

Der Begriff des Kunden des Abnehmers hat für die in der Vertikal-GVO bestimmten Kernbeschränkungen Bedeutung (Art. 4 Buchst. b i Vertikal-GVO).

IX. Verbundene Unternehmen 20

Die Definition erweitert den Unternehmensbegriff des AEUV (vgl. dazu Art. 101 AEUV Rz. 15 ff.) und führt zu einer weitergehenden Zusammenfassung von rechtlichen Einheiten (juristischen Personen und Personengesellschaften). Die Definition ist an der Regelung in der EG-Fusionskontrollverordnung zur Bestimmung des relevanten Umsatzes orientiert.7 Insoweit kann auf die anschaulichen Erläuterungen der Kommission in der Konsolidierten Mitteilung zu Zuständigkeitsfragen verwiesen werden.8 In der Praxis kann man sich auf die Prüfung beschränken, ob verbundene Unternehmen im Sinne der Definition beschränken und eine vorherige Feststellung der Reichweite des Unternehmens nach dem Begriff der wirtschaftlichen Einheit unterlassen.9

21

Die Definition hat Bedeutung für die Bestimmung der Marktanteile (Art. 3, Art. 7 Vertikal-GVO), für die Bestimmung des Bedarfsdeckungsgrads i.S.v. Wettbewerbsverboten (Art. 5 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Buchst. d Vertikal-GVO) sowie für die Bestimmung von Umsätzen (Art. 2 Abs. 2, Art. 8 VertikalGVO). Man kann der Definition auch entnehmen, dass vertikale Vereinbarungen zwischen verbundenen Unternehmen weder Art. 101 Abs. 1 AEUV noch der Vertikal-GVO unterliegen.

Art. 2 Freistellung (1) Nach Artikel 101 Absatz 3 AEUV und nach Maßgabe dieser Verordnung gilt Artikel 101 Absatz 1 AEUV nicht für vertikale Vereinbarungen. Diese Freistellung gilt, soweit solche Vereinbarungen vertikale Beschränkungen enthalten. (2) Die Freistellung nach Absatz 1 gilt nur dann für vertikale Vereinbarungen zwischen einer Unternehmensvereinigung und ihren Mitgliedern oder zwischen einer solchen Vereinigung und ihren Anbietern, wenn alle Mitglieder der Vereinigung Wareneinzelhändler sind und wenn keines ihrer Mitglieder zusammen mit seinen verbundenen Unternehmen einen jährlichen Gesamtumsatz von mehr als 50 Mio. EUR erwirtschaftet. Vertikale Vereinbarungen solcher Vereinigungen werden von dieser Verordnung unbeschadet der Anwendbarkeit von Artikel 101 AEUV auf horizontale Vereinbarungen zwischen den Mitgliedern einer solchen Vereinigung sowie auf Beschlüsse der Vereinigung erfasst. (3) Die Freistellung nach Absatz 1 gilt für vertikale Vereinbarungen, die Bestimmungen enthalten, die die Übertragung von Rechten des geistigen Eigentums auf den Abnehmer oder die Nutzung solcher Rechte durch den Abnehmer betreffen, sofern diese Bestimmungen nicht Hauptgegenstand der Vereinbarung sind und sofern sie sich unmittelbar auf die Nutzung, den Verkauf oder den Weiterverkauf von Waren oder Dienstleistungen durch den Abnehmer oder seine Kunden beziehen. Die Freistellung gilt unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmungen für die Vertragswaren oder -dienstleistungen keine Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die denselben Zweck verfolgen wie vertikale Beschränkungen, die durch diese Verordnung nicht freigestellt sind.

7 Vgl. dort Art. 5 Abs. 4 FKVO (Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. EG L 24 v. 29.1.2004, 1. 8 Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gem. der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU C 43 v. 21.2.2009, 10, Tz. 175 ff. 9 Vgl. m.w.N. für die fusionskontrollrechtliche Vorschrift: Hempel, Formelle Fusionskontrolle, S. 71.

350

Hempel

Freistellung

Rz. 2 Art. 2 Vertikal-GVO

(4) Die Freistellung nach Absatz 1 gilt nicht für vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern. Sie findet jedoch Anwendung, wenn Wettbewerber eine nicht gegenseitige vertikale Vereinbarung treffen und a) der Anbieter zugleich Hersteller und Händler von Waren ist, der Abnehmer dagegen Händler, jedoch kein Wettbewerber auf der Herstellungsebene; oder b) der Anbieter ein auf mehreren Handelsstufen tätiger Dienstleister ist, der Abnehmer dagegen Waren oder Dienstleistungen auf der Einzelhandelsstufe anbietet und auf der Handelsstufe, auf der er die Vertragsdienstleistungen bezieht, kein Wettbewerber ist. (5) Diese Verordnung gilt nicht für vertikale Vereinbarungen, deren Gegenstand in den Geltungsbereich einer anderen Gruppenfreistellungsverordnung fällt, es sei denn, dies ist in einer solchen Verordnung vorgesehen. I. Schirmfreistellung (Art. 2 Abs. 1) . . 1. Allgemeines zur Freistellung . . . . . 2. Beispiele für solche Beschränkungen a) Allgemeine Beispiele . . . . . . . . aa) Abwerbeverbote . . . . . . . . bb) Nichtangriffsabreden . . . . . . b) Beispiele für Beschränkungen in IT-Verträgen . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

1 1 3 3 4 5

. . . . .

6

II. Vertikale Vereinbarungen zwischen einer Unternehmensvereinigung und ihren Mitgliedern (Art. 2 Abs. 2) . . . . . . . . . . .

8

III. Vertikale Vereinbarungen und Schutzrechte (Art. 2 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Geltung der Vertikal-GVO für Lizenzvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Software-Überlassung an Endnutzer . . . . . IV. Vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern (Art. 2 Abs. 4) . . . . . . . . . V. Verhältnis zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen (Art. 4 Abs. 5) . . . . 1. TT-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines zur TT-GVO . . . . . . . . b) Software-Vertrieb . . . . . . . . . . . . . aa) Schutzhüllenverträge/shrink wrapVerträge . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtliche Beurteilung . . . . . . . .

. . . .

. . . .

10 10 12 13 14 15 15 16

. . 17 . . 17 . . 18

(3) Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Lizenzierung an Händler zur Vervielfältigung der Software nach Überlassung einer Stammkopie . . . . . . . (1) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . cc) Lizenzierung an Händler zum Vertrieb durch Bereitstellung zum Herunterladen im Internet . . . . . . . . . . . . . (1) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . dd) Vertrieb von Software als Bestandteil von Hardware . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtliche Beurteilung . . . . . . . . . . (3) Varianten des Vertriebs von Software als Bestandteil von Hardware . . . . . . c) Andere Software-bezogene Verträge . . . . aa) Software-Mietverträge . . . . . . . . . . bb) Software-Entwicklungsverträge . . . . . cc) Software-Wartungs- und SoftwarePflegeverträge . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verträge, die die Integration der lizenzierten Software in Produkte des Lizenznehmers ermöglichen sollen . . . 2. F&E-GVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spezialisierungs-GVO . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 20 20 21 22 22 23 24 24 25 26 30 31 32 33 34 35 40 42

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 Vertikal-GVO vor Rz. 1.

I. Schirmfreistellung (Art. 2 Abs. 1) 1. Allgemeines zur Freistellung Die Freistellungswirkung erfasst alle wettbewerbsbeschränkenden Klauseln in einer vertikalen Ver- 1 einbarung, wenn die weiteren Voraussetzungen der Vertikal-GVO erfüllt sind. Das heißt, dass alle wettbewerbsbeschränkenden Klauseln, die keine Kernbeschränkungen und keine nicht freigestellten Beschränkungen i.S.d. Vertikal-GVO sind, pauschal freigestellt sind. Keiner Freistellung bedarf es bei bestimmten Beschränkungen in sog. Zuliefervereinbarungen, bei denen sich der Auftragnehmer verpflichtet, bestimmte Produkte nach Weisung des Auftraggebers und ausschließlich für den Auftraggeber herzustellen. Beschränkungen des Auftragnehmers bei der NutHempel

351

2

Vertikal-GVO Art. 2 Rz. 2 Freistellung zung der ihm vom Auftraggeber überlassenen Werkzeuge und des Know-hows sowie eine Alleinbelieferungsverpflichtung unterliegen dann schon nicht Art. 101 Abs. 1 AEUV.1 2. Beispiele für solche Beschränkungen a) Allgemeine Beispiele 3

Die Schirmwirkung erfasst damit typische Wettbewerbsbeschränkungen in vertikalen Vereinbarungen wie Alleinvertrieb, selektiven Vertrieb,2 Alleinbelieferungsverpflichtungen und Kopplungsbindungen. aa) Abwerbeverbote

4

Abwerbeverbote (non-solicitation-clauses) finden sich beispielsweise in Vertriebsverträgen mit einer Lizenzvereinbarung als Nebenabrede und dienen dem Schutz des geistigen Eigentums des Herstellers. Die Vertikal-GVO definiert solche Klauseln nicht als Kernbeschränkungen und auch nicht als nicht freigestellte Beschränkungen. Sie unterliegen daher der Schirmfreistellung. Es ist allerdings zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um eine Vereinbarung zwischen Nicht-Wettbewerbern handelt (Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO). Zudem ist zu überprüfen, ob die Regelung den Bezug, Vertrieb oder Weiterverkauf betrifft. Das ist zu bejahen, wenn die Lizenzierung selbst unmittelbar den Bezug, Vertrieb oder Weiterverkauf betrifft (Art. 2 Abs. 3 Vertikal-GVO). bb) Nichtangriffsabreden

5

Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b TT-GVO sind Nichtangriffsabreden nicht von der Schirmfreistellungswirkung der TT-GVO erfasst. Nach der Vertikal-GVO sind Nichtangriffsabreden hingegen von der Schirmfreistellungswirkung erfasst. Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich die Nichtangriffsabrede gerade auf den Vertrieb oder den Bezug von Waren bezieht. Dies kann z.B. bei Franchise-Vereinbarungen der Fall sein, da die Lizenzierung in diesem Fall nicht der Hauptgegenstand der Franchise-Vereinbarung ist.3 Im Übrigen bedürfen Nichtangriffsabreden schon keiner Freistellung, wenn bereits keine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt: So beeinträchtigen Nichtangriffsabreden in kostenfreien Lizenzen den Wettbewerb nicht.4 Das Gleiche gilt für Nichtangriffsabreden in kostenpflichtigen Lizenzen, wenn sich das Schutzrecht auf ein technisch überholtes Verfahren bezieht und der Lizenznehmer von diesem Schutzrecht tatsächlich keinen Gebrauch gemacht hat (Vertikal-Leilinien, Tz. 44 f.). Letzteres dürfte für Nichtangriffsabreden in Vertriebsverträgen keine Bedeutung haben. b) Beispiele für Beschränkungen in IT-Verträgen

6

Die Verpflichtung eines Abnehmers von Hardware, die mit urheberrechtlich geschützter Software geliefert wird, nicht gegen das Urheberrecht zu verstoßen und daher die Software nicht zu kopieren oder weiterzuverkaufen oder in Verbindung mit einer anderen Hardware zu verwenden, stellen nach Auffassung der Kommission schon keine Wettbewerbsbeschränkung dar oder sind jedenfalls von der Schirmfreistellung nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO erfasst (Vertikal-Leitlinien, Tz. 42).

7

Auch Koppelungsbindungen können unter die Schirmfreistellung fallen.

1 Vertikal-Leitlinien, Tz. 22; Bekanntmachung der Kommission vom 18.12.1978 über die Beurteilung von Zulieferverträgen nach Art. 85 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. EG C 1 v. 3.1.1979, 2; vgl. zu Softwarelizenzen im Rahmen von Zuliefervereinbarungen: Heitto, CRi 2017, 134 ff. 2 Sofern überhaupt von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst; vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 175. 3 Vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 44 f. Die Kommission listet Nicht-Angriffsabreden allerdings nicht bei den auf Rechte des geistigen Eigentums bezogenen Beschränkungen in Franchise-Verträgen, Vertikal-Leitlinien, Tz. 45. 4 EuGH v. 27.9.1988 – 65/86, Slg. 1988, 5281, Tz. 17 – Bayer/Süllhofer.

352

Hempel

Freistellung

Rz. 13 Art. 2 Vertikal-GVO

II. Vertikale Vereinbarungen zwischen einer Unternehmensvereinigung und ihren Mitgliedern (Art. 2 Abs. 2) Die Vertikal-GVO findet keine Anwendung auf vertikale Vereinbarungen zwischen einer Unternehmensvereinigung und ihren Mitgliedern. Ausnahmsweise und nur unter eingeschränkten Voraussetzungen kann die Vertikal-GVO auf solche Vereinbarungen angewendet werden. Dies setzt voraus, dass es sich um eine Vereinigung von Einzelhändlern handelt und keines der Mitglieder einen Umsatz von 50 Mio. Euro oder mehr erwirtschaftet (vgl. hierzu auch Vertikal-Leitlinien, Tz. 29 f.).

8

Solchen Vereinbarungen liegt aber oft eine horizontale Vereinbarung zugrunde. Diese ist zuerst als 9 solche an Art. 101 AEUV zu messen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 30).

III. Vertikale Vereinbarungen und Schutzrechte (Art. 2 Abs. 3) 1. Zur Geltung der Vertikal-GVO für Lizenzvereinbarungen Die Vertikal-GVO gilt nur unten engen Bedingungen auch für Beschränkungen in Lizenzverträgen. 10 Dazu müssen fünf Voraussetzungen erfüllt sein (vgl. sehr anschaulich Vertikal-Leitlinien, Tz. 31): – Die Bestimmungen müssen Bestandteil einer vertikalen Vereinbarung sein, die die Bedingungen regelt, zu welchen die beteiligten Unternehmen bestimmte Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen. Die Lizenz muss also Teil einer Vertriebsvereinbarung sein und darf nicht der Herstellung von Waren oder Dienstleistungen dienen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 33). – Die Übertragung oder Lizenzierung von Rechten erfolgt zur Nutzung durch den Abnehmer und nicht umgekehrt (Vertikal-Leitlinien, Tz. 34). – Die Lizenzierung darf nicht Hauptgegenstand der Vereinbarung sein. Reine Lizenzverträge sind also nicht erfasst (Vertikal-Leitlinien, Tz. 35). – Die Vereinbarung muss unmittelbar die Nutzung, den Verkauf oder den Weiterverkauf von Waren unter Dienstleistungen durch den Abnehmer oder dessen Kunden betreffen. Die Lizenz muss also den Vertrieb erleichtern. Die Kommission weist darauf hin, dass solche Regelungen üblicherweise der Vermarktung dienen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 36). – Der Lizenzvertrag darf im Verhältnis zu den Vertragswaren oder –dienstleistungen keine Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die denselben Zweck wie Kernbeschränkungen haben (VertikalLeitlinien, Tz. 37). Die Lizenzierung darf also nur dazu dienen, den Vertrieb effizienter zu gestalten (Vertikal-Leitlinien, Tz. 32). Sie darf nur eine Nebenabrede zu der Vertriebsvereinbarung sein. Die Kommission geht davon aus, dass die Vorschrift hauptsächlich Marken, Urheberrechte und Know-how betreffe (VertikalLeitlinien, Tz. 38).

11

2. Software-Überlassung an Endnutzer Die Software-Überlassung an Endnutzer unterliegt nicht der Vertikal-GVO.5

12

IV. Vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern (Art. 2 Abs. 4) Die Vertikal-GVO gilt grundsätzlich nicht für Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern. Ausnahmen gelten für den dualen Vertrieb durch den Hersteller und für Großhändler-Vereinbarungen (vgl. auch Vertikal-Leitlinien, Tz. 27 f.). 5 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 58 m.w.N.; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 206; Polley, CR 2004, 641, 644; a.A: Scholz/Wagener, CR 2003, 880, 884 für die Überlassung von Applikationssoftware an Unternehmen (z.B. für Buchhaltung); vgl. hierzu auch für den Vertrieb von Hardware mit installierter Software: Matthiesen, Die Freistellung, S. 56 ff.

Hempel

353

13

Vertikal-GVO Art. 2 Rz. 14 Freistellung

V. Verhältnis zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen (Art. 4 Abs. 5) 14

Die Vertikal-GVO sieht selbst einen expliziten Nachrang ggü. anderen Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission vor. Vertikale Vereinbarungen, die schon von anderen Gruppenfreistellungsverordnungen erfasst sind, unterliegen dann nicht mehr der Vertikal-GVO (vgl. auch die Hinweise in Vertikal-Leitlinien, Tz. 46). 1. TT-GVO a) Allgemeines zur TT-GVO

15

Die Vertikal-GVO gilt nicht für vertikale Vereinbarungen, die in den Geltungsbereich der TT-GVO fallen. Die Vertikal-GVO ist dabei anwendbar, wenn die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 3 VertikalGVO erfüllt sind. Bei anderer Auslegung würde die Vertikal-GVO nie Anwendung auf Vereinbarungen finden, die – auch – eine Lizenzierung vorsehen. b) Software-Vertrieb

16

Die Frage der anwendbaren Gruppenfreistellungsverordnung hat für Wettbewerbsbeschränkungen in Software-Vertriebsverträgen Bedeutung. Dabei wird man für die meisten denkbaren Gestaltungen zu dem Ergebnis kommen, dass Wettbewerbsbeschränkungen in Vereinbarungen über den Software-Vertrieb keiner ggü. der Vertikal-GVO vorrangigen Gruppenfreistellungsverordnung (insb. der TT-GVO) unterliegen. Die Verträge fallen in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO, sei es direkt oder durch analoge Anwendung. aa) Schutzhüllenverträge/shrink wrap-Verträge (1) Ausgestaltung

17

Software kann im Wege von sog. Schutzhüllenverträgen vertrieben werden. Dabei kommt zwischen dem Softwarehersteller und Rechteinhaber einerseits und dem Endnutzer andererseits eine Lizenzvereinbarung zustande, obwohl der Endnutzer die Software auf einem physischen Datenträger von einem Dritten, dem Händler, erworben hat (auch shrink wrap-Verträge genannt). Zwischen dem Rechteinhaber und dem Händler liegt eine vertikale Verkäufer-Käufer-Beziehung vor. Dem Händler kommt es allein auf den Vertrieb an und nicht, ob er eine Lizenz für die Software erhält. Der Rechteinhaber/Hersteller beliefert den Händler mit Kopien einer Software auf einem physischen Datenträger zum Zwecke des Weiterverkaufs. (2) Rechtliche Beurteilung

18

Der Vertriebsvertrag für solche Schutzhüllenverträge stellt keine Technologietransfer-Vereinbarung dar. Er unterliegt nicht der TT-GVO, sondern der Vertikal-GVO.6 Für die Lizenzvereinbarung zwischen Rechteinhaber und Endnutzer gilt das nicht (str., vgl. zur Frage der Software-Überlassung an Endnutzer Rz. 12). (3) Varianten

19

Wird dem Händler doch eine Lizenz zur Vervielfältigung der Software eingeräumt, dann bleibt es bei der Anwendung der Vertikal-GVO, sei es direkt oder analog wie in den weiteren noch darzustellenden Fällen. Eine solche Gestaltung unterliegt jedenfalls nicht der TT-GVO.7 6 Vertikal-Leitlinien, Tz. 41, TT-Leitlinien, Tz. 62; vgl. aus der Literatur: Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 100; Berger, K&R 2005, 15, 18; Frank, CR 2014, 349, 350; Wissel/Eickhoff, WuW 2004, 1244, 1246; Polley, CR 2004, 641, 644 und 646; wohl auch: Schumacher/Schmid, GRUR 2006, 1, 6; Wiedemann/Klawitter, Hdb. KartellR, § 14 Rz. 53 f. 7 So zutreffend: Grützmacher, ITRB 2005, 205, 208; a.A. Polley, CR 2004, 641, 646 für TT-GVO; Kilian/Heussen/ Klees, Kap. 62, Rz. 25: weder TT- noch Vertikal-GVO.

354

Hempel

Freistellung

Rz. 23 Art. 2 Vertikal-GVO

bb) Lizenzierung an Händler zur Vervielfältigung der Software nach Überlassung einer Stammkopie (1) Ausgestaltung Bei dieser Gestaltung wird dem Händler vom Softwarehersteller/Rechteinhaber eine Masterkopie, z.B. ein Datenträger ohne Kopierschutz, überlassen, damit der Händler Kopien der Software auf neuen Datenträgern zum Vertrieb derselben erstellen kann.

20

(2) Rechtliche Beurteilung An sich fällt eine Vereinbarung, bei der ein beteiligtes Unternehmen einem anderen eine Mutterkopie 21 überlässt und eine Lizenz zur Herstellung und zum Vertrieb von Kopien erteilt, nicht in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO (Vertikal-Leitlinien, Tz. 33b). In der Lizenzierung von Software-Urheberrechten für die reine Vervielfältigung und den reinen Vertrieb der vervielfältigten Software sieht die Kommission allerdings auch keine Technologietransfer-Vereinbarung, da sie die bloße Vervielfältigung nicht als Produktion i.S.d. TT-GVO ansieht (ErwGr. 7 TT-GVO; TT-Leitlinien, Tz. 62). Vielmehr soll auf diese Gestaltung die Vertikal-GVO analog angewendet werden.8 cc) Lizenzierung an Händler zum Vertrieb durch Bereitstellung zum Herunterladen im Internet (1) Ausgestaltung Abweichend von der im vorangegangenen Absatz dargestellten Gestaltung sieht der Vertriebsvertrag 22 in diesem Fall vor, dass der Software-Händler berechtigt ist, seinen Kunden das Herunterladen der Software im Internet zu ermöglichen. Diese Situation soll auch bei der Zurverfügungstellung einer App im Internet vorliegen.9 (2) Rechtliche Beurteilung Aus Sicht der Kommission unterliegt eine solche Vereinbarung nicht der TT-GVO, da die Lizenz – wie 23 bei der im vorangegangenen Abschnitt behandelten Gestaltung – nur zum Vertrieb bzw. zur Vervielfältigung der Software erteilt wird, nicht aber zur Produktion von Vertragsprodukten. Stattdessen soll die Vertikal-GVO analog anwendbar sein (TT-Leitlinien, Tz. 62). In der Literatur ist die Frage umstritten.10 Die Auffassung der Kommission überzeugt. Die Gleichstellung aller Fälle der Lizenzerteilung zur reinen Vervielfältigung zu Zwecken des Vertriebs unabhängig vom technischen Verfahren dürfte auf die Rspr. des EuGH in der Sache Usedsoft/Oracle zurückgehen.11 Der EuGH hatte im Jahr 2012 geklärt, dass es für die Erschöpfung des Software-Urheberrechts keinen Unterschied macht, ob der Nutzer die Software auf einem materiellen Datenträger erhält oder ob sie ihm über das Internet zur Verfügung ge-

8 TT-Leitlinien, Tz. 62; ebenso aus dem Schrifttum: Schultze/Pautke/Wagener, WRP 2004, 175, 180, Fn. 48; MünchKomm/EuWettbR/Röhling/Nagel, Art. 1 TT-GVO Rz. 48 f.; Wiedemann/Klawitter, Hdb. KartellR, § 14 Rz. 51, 54; anders noch: Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 101 m.w.N.; Grützmacher, ITRB 2005, 205, 208; Berger, K&R 2005, 15, 18; Wissel/Eickhoff, WuW 2004, 1244, 1246; Kreutzmann, WRP 2006, 453, 460; Matthiesen, Die Freistellung, S. 120; Zöttel, WRP 2005, 33, 35; Kilian/Heussen/Klees, Kap. 62, Rz. 26. Offen: Schumacher/Schmid, GRUR 2006, 1, 6; Timm, Softwareverträge, S. 60 ff.; Seffer/Beninca, ITRB 2004, 210, 212; wohl für direkte Anwendung der Vertikal-GVO: Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rz. 454. 9 So wohl: Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rz. 453; gemeint sein dürfte, dass zwischen App-Entwickler und Betreiber der App-Plattform vereinbart ist, dass letzterer die App den Nutzern zum Herunterladen zur Verfügung stellt. 10 Vgl. mit weiteren Nachweisen Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 101; gegen eine Anwendung der TT-GVO: Matthiesen, Die Freistellung, S. 130; für eine Anwendung der TT-GVO: Polley, CR 2004, 641, 646; gegen eine Anwendung der Vertikal-GVO: Grützmacher, ITRB 2005, 205, 208; Zöttel, WRP 2005, 33, 35; wie die Kommission: Frank, CR 2014, 349, 350; Wiedemann/Klawitter, Hdb. KartellR, § 14 Rz. 53. 11 Vgl. in diese Richtung auch: Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rz. 453 Fn. 82.

Hempel

355

Vertikal-GVO Art. 2 Rz. 23 Freistellung stellt wird.12 Dies erklärt jedenfalls den weitergehenden Ansatz in den TT-Leitlinien von 2014 ggü. den Erläuterungen in den Vertikal-Leitlinien 2010. dd) Vertrieb von Software als Bestandteil von Hardware (1) Ausgestaltung 24

Software kann auch als Bestandteil von Hardware vertrieben werden, z.B. im Falle des Betriebssystems und von vorinstallierten Softwareanwendungen auf Computern. (2) Rechtliche Beurteilung

25

Auch in diesem Fall ist in der Vertriebsvereinbarung, die eine Lizenz für den Händler zur Vervielfältigung der Software auf der vertriebenen Hardware vorsieht, keine Technologietransfer-Vereinbarung zu sehen. Wie in den in den vorangegangenen Absätzen behandelten Gestaltungen ist auf eine solche Vereinbarung die Vertikal-GVO analog anzuwenden.13 (3) Varianten des Vertriebs von Software als Bestandteil von Hardware – Lieferung von Hardware mit vorinstallierter Software an Vertriebspersonen zum Weitervertrieb

26

Abweichend von der oben genannten Ausgangsgestaltung installiert nicht der Hardware-Händler die Software, sondern er bezieht Hardware mit vorinstallierter Software vom Hersteller. Ein Beispiel sind Mobiltelefone (Smartphones) mit der darauf installierten Software (Betriebssystem und Anwendungen).

27

Ein solcher Vertriebsvertrag zwischen Hersteller und Händler unterliegt der Vertikal-GVO.14 Es gilt nichts anderes wie für Schutzhüllenverträge. – Systemvertrag für Hardware mit vorinstallierter Software

28

Bei einem Systemvertrag wird Hardware mit Software und zusätzlichen Leistungen wie z.B. Wartung geliefert. Es wird davon ausgegangen, dass ein solcher Vertrag ebenfalls nicht der TT-GVO unterliegt.15 Das steht im Einklang mit der Auffassung der Kommission in den TT-Leitlinien. – OEM-Klausel

29

Eine OEM-Klausel in einem Software-Vertriebsvertrag verpflichtet einen Hardwarehersteller, die Software nicht ohne Hardware zu vertreiben (vgl. schon Art. 101 AEUV Rz. 53). Eine solche Ausgestaltung des Software-Vertriebs unterliegt ebenfalls nicht der TT-GVO. Es kann – entsprechend zu dem in den TT-Leitlinien behandelten Fällen – die Vertikal-GVO analog angewendet werden.16 c) Andere Software-bezogene Verträge

30

Nicht der Vertikal-GVO unterliegen:

12 EuGH v. 3.7.2011 – C-128/11, NJW 2012, 2565, Tz. 47 – Usedsoft/Oracle. 13 Vgl. dazu Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 57 m.w.N.; vgl. auch contra Vertikal-GVO: Berger, K&R 2005, 15, 18; vgl. zur Fallgestaltung des „Value Added Resellers“: Matthiesen, Die Freistellung, S. 115 f., m.w.N., und Bartsch/Briner/Polley, DGRI-Jahrbuch 2010, Die neue Vertikal-GVO – die wesentlichen Änderungen und Anwendbarkeit auf Softwareverträge, dort zu Fn. 68 ff. 14 Vgl. Berger, K&R 2005, 15, 18. 15 Conrad/Lejeune/Stögmüller/Brandi-Dohrn, CR 2013, 412, 414. 16 Anders: Seffer/Beninca, ITRB 2004, 210 ff.: keine GVO anwendbar.

356

Hempel

Freistellung

Rz. 42 Art. 2 Vertikal-GVO

aa) Software-Mietverträge Software-Mietverträge dienen der zeitweisen Überlassung der Software zur Nutzung. Die Lizenzierung von Software zur Vermietung unterliegt nicht der Vertikal-GVO (vgl. allgemein: Vertikal-Leitlinien, Tz. 26).

31

bb) Software-Entwicklungsverträge Software-Entwicklungsverträge unterliegen nicht der Vertikal-GVO (vgl. hierzu Art. 1 TT-GVO Rz. 16 f.).

32

cc) Software-Wartungs- und Software-Pflegeverträge Solche Verträge regeln die auf die Software des Auftragsgebers bezogene Erbringung von Dienstleistungen für eine bestimmte Zeit. Bei solchen Verträgen ist zu prüfen, was der genaue Inhalt des Vertrages ist. Es mag dann zu differenzieren sein zwischen dem Vertrag zwischen dem Rechteinhaber und dem Dienstleister und dem Vertrag zwischen dem Dienstleister und dem Endkunden (vgl. auch Art. 1 TT-GVO Rz. 26).

33

dd) Verträge, die die Integration der lizenzierten Software in Produkte des Lizenznehmers ermöglichen sollen Solche Verträge unterliegen der TT-GVO und nicht der Vertikal-GVO (TT-Leitlinien, Tz. 63).

34

2. F&E-GVO Die Vertikal-GVO gilt nicht für vertikale Vereinbarungen, die in den Anwendungsbereich der F&EGVO fallen.

35

Für Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern folgt das regelmäßig schon aus Art. 2 Abs. 4 VertikalGVO, so dass es auf die Anordnung des Vorrangs in Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO zugunsten der F&EGVO nicht ankommt.

36

Praktische Bedeutung hat die Vorrangregelung aber für Vertriebsabreden in vertikalen F&E-Vereinbarungen. Diese unterliegen dem etwas großzügigeren Maßstab der F&E-GVO.

37

Beschränkungen in Softwarelizenzverträgen mit Dritten über eine gemeinsam entwickelte Software fallen nicht in den Anwendungsbereich der F&E-GVO, sondern ggf. in den Anwendungsbereich der TT-GVO.

38

Im Übrigen wird auf die Kommentierung zur F&E-GVO verwiesen.

39

3. Spezialisierungs-GVO Auch die Anordnung des Vorrangs der Spezialisierungs-GVO vor der Vertikal-GVO in Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO hat wegen Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO keine praktische Bedeutung. Spezialisierungsvereinbarungen sind Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern.

40

Für von der Spezialisierungs-GVO nicht erfasste vertikale Zuliefervereinbarungen bleibt es bei der Anwendbarkeit der Vertikal-GVO (Horizontal-Leitlinien, Tz. 154).

41

4. Sonstiges Es ist zu beachten, dass die Kommission bei Vermarktungsvereinbarungen zwischen Wettbewerbern eine Doppelkontrolle am Maßstab für horizontale Beschränkungen und für vertikale Beschränkungen vornehmen möchte. Da die Vertikal-GVO auf Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern i.d.R. keine Anwendung findet, sind die vertikalen Beschränkungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV zu prüfen. Dabei können die Vertikal-Leitlinien herangezogen werden (Horizontal-Leitlinien, Tz. 227).

Hempel

357

42

Vertikal-GVO Art. 3 Rz. 1 Marktanteilsschwelle

Art. 3 Marktanteilsschwelle (1) Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nur, wenn der Anteil des Anbieters an dem relevanten Markt, auf dem er die Vertragswaren oder -dienstleistungen anbietet, und der Anteil des Abnehmers an dem relevanten Markt, auf dem er die Vertragswaren oder -dienstleistungen bezieht, jeweils nicht mehr als 30 % beträgt. (2) Bezieht ein Unternehmen im Rahmen einer Mehrparteienvereinbarung die Vertragswaren oder -dienstleistungen von einer Vertragspartei und verkauft es sie anschließend an eine andere Vertragspartei, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 nur, wenn es die Voraussetzungen des Absatzes 1 als Abnehmer wie auch als Anbieter erfüllt. I. Marktanteilsschwelle (Art. 3 Abs. 1) . . . . . .

1

II. Mehrparteienvereinbarungen (Art. 3 Abs. 2) .

6

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 Vertikal-GVO vor Rz. 1.

I. Marktanteilsschwelle (Art. 3 Abs. 1) 1

Die Marktanteilsschwelle ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO (vgl. auch Vertikal-Leitlinien, Tz. 86 bis 89; zur Berechnung: Tz. 93 bis 95). Sie spiegelt den Grundansatz der Vertikal-GVO wider, nur solche Beschränkungen von der Freistellung auszunehmen, bei denen die Beteiligten über Marktmacht verfügen.

2

Die Anwendung setzt eine Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes bzw. ggf. mehrerer sachlich und räumlich relevanter Märkte voraus.

3

Aus dem Unternehmensbegriff des EU-Kartellrechts (Art. 101 AEUV Rz. 15 ff.) sowie aus Art. 1 Abs. 2 Vertikal-GVO folgt, dass der Marktanteil des ganzen kartellrechtlichen Konzerns maßgeblich ist.

4

Bei Überschreitung der Marktanteilsschwelle ist eine Freistellung nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift (Art. 101 Abs. 3 AEUV) zu prüfen. Auch für diese Prüfung enthalten die Vertikal-Leitlinien Hinweise (Vertikal-Leitlinien, Tz. 96 ff.).

5

Vgl. auch Art. 7 Vertikal-GVO für die Marktanteilsbestimmung und für Übergangsregelungen bei Marktanteilsveränderungen.

II. Mehrparteienvereinbarungen (Art. 3 Abs. 2) 6

Wird eine Vereinbarung zwischen einem Hersteller, einem Großhändler und einem Einzelhändler geschlossen, muss darauf geachtet werden, dass der Großhändler sowohl als Anbieter als auch als Abnehmer tätig wird. Die Marktanteilsschwelle ist dann viermal anzuwenden, nämlich auf den Absatz des Herstellers, den Bezug durch den Großhändler, den Absatz durch den Großhändler und den Bezug durch den Einzelhändler (Vertikal-Leitlinien, Tz. 90).

Art. 4 Beschränkungen, die zum Ausschluss des Rechtsvorteils der Gruppenfreistellung führen – Kernbeschränkungen Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nicht für vertikale Vereinbarungen, die unmittelbar oder mittelbar, für sich allein oder in Verbindung mit anderen Umständen unter der Kontrolle der Vertragsparteien Folgendes bezwecken:

358

Hempel

Kernbeschränkungen

Rz. 2 Art. 4 Vertikal-GVO

a) Die Beschränkung der Möglichkeit des Abnehmers, seinen Verkaufspreis selbst festzusetzen; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit des Anbieters, Höchstverkaufspreise festzusetzen oder Preisempfehlungen auszusprechen, sofern sich diese nicht infolge der Ausübung von Druck oder der Gewährung von Anreizen durch eines der beteiligten Unternehmen tatsächlich wie Fest- oder Mindestverkaufspreise auswirken; b) die Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe, in das oder an die ein an der Vereinbarung beteiligter Abnehmer, vorbehaltlich einer etwaigen Beschränkung in Bezug auf den Ort seiner Niederlassung, Vertragswaren oder -dienstleistungen verkaufen darf, mit Ausnahme i) der Beschränkung des aktiven Verkaufs in Gebiete oder an Kundengruppen, die der Anbieter sich selbst vorbehalten oder ausschließlich einem anderen Abnehmer zugewiesen hat, sofern dadurch der Verkauf durch die Kunden des Abnehmers nicht beschränkt wird, ii) der Beschränkung des Verkaufs an Endverbraucher durch Abnehmer, die auf der Großhandelsstufe tätig sind, iii) der Beschränkung des Verkaufs an nicht zugelassene Händler durch die Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets, iv) der Beschränkung der Möglichkeit des Abnehmers, Teile, die zur Weiterverwendung geliefert werden, an Kunden zu verkaufen, die diese Teile für die Herstellung derselben Art von Waren verwenden würden, wie sie der Anbieter herstellt; c) die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, Mitgliedern des Systems zu untersagen, Geschäfte von nicht zugelassenen Niederlassungen aus zu betreiben; d) die Beschränkung von Querlieferungen zwischen Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems, auch wenn diese auf verschiedenen Handelsstufen tätig sind; e) die zwischen einem Anbieter von Teilen und einem Abnehmer, der diese Teile weiterverwendet, vereinbarte Beschränkung der Möglichkeit des Anbieters, die Teile als Ersatzteile an Endverbraucher oder an Reparaturbetriebe oder andere Dienstleister zu verkaufen, die der Abnehmer nicht mit der Reparatur oder Wartung seiner Waren betraut hat. I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . . . . . 1. Verkaufspreisbeschränkungen (Art. 4 Buchst. a) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gebiets- und Kundenbeschränkungen (Art. 4 Buchst. b) . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 7 9

3. Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems (Art. 4 Buchst. c) . . 14 4. Beschränkungen von Querlieferungen zwischen Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems (Art. 4 Buchst. d) . . . . . . . 15 5. Verkaufsbeschränkungen für Ersatzteile (Art. 4 Buchst. e) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 Vertikal-GVO vor Rz. 1.

I. Vorbemerkung Die Vorschrift definiert die Kernbeschränkungen. Bei diesen geht die Kommission davon aus, dass sie immer spürbare Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.1

1

Die Kernbeschränkungen stehen einer Freistellung nach der Vertikal-GVO insgesamt entgegen. Enthält der Vertriebsvertrag eine solche Kernbeschränkung, findet die Vertikal-GVO keine Anwendung,

2

1 Kommission Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die i.S.d. Art. 101 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (De-minimisBekanntmachung), ABl. EU C 291 v. 30.8.2014, 1, Tz. 13, s. zu Art. 101 AEUV.

Hempel

359

Vertikal-GVO Art. 4 Rz. 2 Kernbeschränkungen d.h. ggf. weitere in dem Vertrag enthaltene wettbewerbsbeschränkende Klauseln, die ihrerseits keine Kernbeschränkungen darstellen (z.B. Alleinvertrieb) sind nicht nach der Vertikal-GVO freigestellt (Vertikal-Leitlinien, Tz. 70). 3

Die Kommission geht überdies davon aus, dass Kernbeschränkungen nicht nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift (Art. 101 Abs. 3 AEUV) freistellungsfähig sind (Vertikal-Leitlinien, Tz. 47).

II. Bedeutung für IT-Verträge 4

Für Software-Vertriebsverträge werden i.d.R. nur die Vorschriften über Preis-, Kunden und Gebietsbeschränkungen als Kernbeschränkungen relevant werden (Art. 4 Buchst. a bis d Vertikal-GVO).

5

Für Hardware-Vertriebsverträge kann zusätzlich auch die Regelung zum Ersatzteilvertrieb Bedeutung haben (Art. 4 Buchst. e Vertikal-GVO).

6

Sieht man die Standardsoftware-Überlassung entgegen dem oben Ausgeführten als vertikale Vereinbarung an, so wären Upgrade-Klauseln nicht als Kernbeschränkungen/Kundenbeschränkungen anzusehen.2 CPU-Klauseln können hingegen Kernbeschränkungen darstellen.3 1. Verkaufspreisbeschränkungen (Art. 4 Buchst. a)

7

Die Beschränkung des Abnehmers in einer vertikalen Vereinbarung, seine eigenen Preise festzusetzen, ist eine Kernbeschränkung, wenn sie eine Fest- oder Mindestverkaufspreisbindung darstellt oder sich so auswirkt. Ob die Preisbindung unmittelbarer Bestandteil der Vereinbarung ist oder sich aus dem wirtschaftlichen Zusammenhang ergibt, ist unerheblich (Vertikal-Leitlinien, Tz. 48-49). Sie können entgegen des oben genannten Grundsatzes in ganz bestimmten (seltenen) Fällen nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift freigestellt sein (Vertikal-Leitlinien, Tz. 225).

8

Höchstpreisbindungen sind hingegen von der Schirmfreistellung des Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO erfasst. Sie können bei Überschreitung der Marktanteilsschwelle nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift freigestellt sein (Vertikal-Leitlinien, Tz. 226 ff.). 2. Gebiets- und Kundenbeschränkungen (Art. 4 Buchst. b)

9

Das unmittelbare oder mittelbare Verbot für den Abnehmer, mit bestimmten Kunden keine Verträge einzugehen oder Kunden in bestimmten Gebieten nicht zu beliefern, ist eine Kernbeschränkung.

10

Wie bei den verbotenen Preisbeschränkungen sind auch alle mittelbaren Maßnahmen zur Erreichung von Gebiets- und Kundenbeschränkungen ausgeschlossen. Dazu zählen die Verweigerung oder Reduzierung von Prämien oder Nachlässen, der Lieferstopp, die Verringerung der Liefermenge und die Beschränkung auf die Nachfrage in dem zugewiesenen Gebiet oder der zugewiesenen Kundengruppe, die Androhung der Vertragskündigung, Doppelpreissysteme, Ausgleichszahlungen und dergleichen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 50).

11

Die Vertikal-GVO definiert vier Fälle, in denen dies ausnahmsweise nicht gilt (vgl. näher hierzu Vertikal-Leitlinien, Tz. 51-55). Durch die Ausnahmen soll u.a. dem Umstand Rechnung getragen werden, dass mit Alleinvertrieb und selektivem Vertrieb Effizienzvorteile verbunden sein können.

12

Für die Ausnahmen hat die Abgrenzung zwischen aktivem und passivem Verkauf Bedeutung. Ersterer meint die aktive Ansprache einzelner Kunden, letzterer das bloße Reagieren auf Anfragen von Kunden.4

2 So Scholz/Wagener, CR 2003, 880, 884 ff. 3 Vgl. im Einzelnen: Matthiesen, Die Freistellung, S. 75 f. 4 Mit weiteren Beispielen und Abgrenzungen, Vertikal-Leitlinien, Tz. 51, die Frage hat große Bedeutung für den Vertrieb über das Internet, vgl. dazu Tz. 52–54.

360

Hempel

Nicht freigestellte Beschränkungen

Art. 5 Vertikal-GVO

Beim selektiven Vertrieb ist zu beachten, dass dieser – für die gleiche Marktstufe – nicht mit ausschließlichem Vertrieb (Alleinvertrieb) kombiniert werden kann, weil die sich hieraus ergebende Beschränkung des aktiven Vertriebs eine Kernbeschränkung darstellt (Vertikal-Leitlinien, Tz. 57, 169).

13

3. Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems (Art. 4 Buchst. c) Betreibt der Anbieter ein selektives Vertriebssystem, so ist es ihm untersagt, den Abnehmern Vorgaben für den Verkauf an Endverbraucher zu machen. Auch für den selektiven Vertrieb hat daher die Beschränkbarkeit von Verkäufen über das Internet Bedeutung (vgl. nur Vertikal-Leitlinien, Tz. 56, 63).

14

4. Beschränkungen von Querlieferungen zwischen Händlern innerhalb eines selektiven Vertriebssystems (Art. 4 Buchst. d) Die Vertikal-GVO definiert eine solche Beschränkung als Kernbeschränkung, um die Freiheit von Ver- 15 tragshändlern eines selektiven Vertriebssystems zu wahren. Diese können nicht gezwungen werden, die Vertragsware ausschließlich beim Hersteller zu beziehen. Der Bezug von systemfremden Händlern darf aber untersagt werden (vgl. näher Vertikal-Leitlinien, Tz. 58; vgl. zur ausnahmsweisen Beschränkung von Querlieferungen: Tz. 63). 5. Verkaufsbeschränkungen für Ersatzteile (Art. 4 Buchst. e) Dem Abnehmer (meist Zulieferer im Automobilbereich) soll die Möglichkeit abgeschnitten werden, dem Hersteller die Direktlieferung von Ersatzteilen an Endverbraucher, unabhängige Werkstätten oder Dienstleister zu untersagen. Der Abnehmer soll also durch die Regelung an der Abschottung eines Absatzkanals im Ersatzteilgeschäft gehindert werden (vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 59).

Art. 5 Nicht freigestellte Beschränkungen (1) Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nicht für die folgenden, in vertikalen Vereinbarungen enthaltenen Verpflichtungen: a) unmittelbare oder mittelbare Wettbewerbsverbote, die für eine unbestimmte Dauer oder für eine Dauer von mehr als fünf Jahren vereinbart werden; b) unmittelbare oder mittelbare Verpflichtungen, die den Abnehmer veranlassen, Waren oder Dienstleistungen nach Beendigung der Vereinbarung nicht herzustellen, zu beziehen, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen; c) unmittelbare oder mittelbare Verpflichtungen, die die Mitglieder eines selektiven Vertriebsystems veranlassen, Marken bestimmter konkurrierender Anbieter nicht zu verkaufen. Für die Zwecke des Unterabsatz 1 Buchstabe a gelten Wettbewerbsverbote, deren Dauer sich über den Zeitraum von fünf Jahren hinaus stillschweigend verlängert, als für eine unbestimmte Dauer vereinbart. (2) Abweichend von Absatz 1 Buchstabe a gilt die Begrenzung auf fünf Jahre nicht, wenn die Vertragswaren oder -dienstleistungen vom Abnehmer in Räumlichkeiten und auf Grundstücken verkauft werden, die im Eigentum des Anbieters stehen oder von diesem von nicht mit dem Abnehmer verbundenen Dritten gemietet oder gepachtet worden sind und das Wettbewerbsverbot nicht über den Zeitraum hinausreicht, in dem der Abnehmer diese Räumlichkeiten und Grundstücke nutzt. (3) In Abweichung von Absatz 1 Buchstabe b gilt die Freistellung nach Artikel 2 für unmittelbare oder mittelbare Verpflichtungen, die den Abnehmer veranlassen, Waren oder Dienstleistungen nach Beendigung der Vereinbarung nicht herzustellen, zu beziehen, zu verkaufen oder weiterzuverkaufen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Hempel

361

16

Vertikal-GVO Art. 5 Rz. 1 Nicht freigestellte Beschränkungen a) die Verpflichtungen beziehen sich auf Waren oder Dienstleistungen, die mit den Vertragswaren oder -dienstleistungen im Wettbewerb stehen; b) die Verpflichtungen beschränken sich auf Räumlichkeiten und Grundstücke, von denen aus der Abnehmer während der Vertragslaufzeit seine Geschäfte betrieben hat; c) die Verpflichtungen sind unerlässlich, um dem Abnehmer vom Anbieter übertragenes Knowhow zu schützen; d) die Dauer der Verpflichtungen ist auf höchstens ein Jahr nach Beendigung der Vereinbarung begrenzt. Absatz 1 Buchstabe b gilt unbeschadet der Möglichkeit, Nutzung und Offenlegung von nicht allgemein zugänglichem Know-how unbefristeten Beschränkungen zu unterwerfen. I. Allgemeines zu nicht freigestellten Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wettbewerbsverbot und weitere Beschränkungen (Art. 5 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . .

1

III. Sonderregelung für Wettbewerbsverbote mit längerer Dauer als fünf Jahre (Art. 5 Abs. 2) .

8

2

IV. Sonderregelung für nachvertragliche Wettbewerbsverbote (Art. 5 Abs. 3) . . . . . . . . .

9

Literatur: Vgl. das Literaturverzeichnis Vor Art. 1 Vertikal-GVO vor Rz. 1.

I. Allgemeines zu nicht freigestellten Vereinbarungen 1

Die Vorschrift definiert Beschränkungen, die nicht nach der Vertikal-GVO freigestellt sind, aber – anders als Kernbeschränkungen – einer Freistellung von sonstigen Beschränkungen in dem Vertriebsvertrag nicht entgegenstehen sollen (Vertikal-Leitlinien, Tz. 65, 71). Eine Freistellung dieser Beschränkungen nach der allgemeinen Freistellungsvorschrift ist möglich (z.B. Alleinbezugsverpflichtungen mit längerer Laufzeit als fünf Jahre).

II. Wettbewerbsverbot und weitere Beschränkungen (Art. 5 Abs. 1) 2

Abs. 1 betrifft verschiedene Formen von Wettbewerbsverboten. Der in Buchst. a verwendete Begriff des Wettbewerbsverbots ist legaldefiniert (Art. 1 Abs. 1 Buchst. d Vertikal-GVO).

3

Solche Wettbewerbsverbote sind nicht nach der Vertikal-GVO freigestellt, wenn sie für eine Zeit von mehr als fünf Jahren vereinbart werden (Buchst. a) oder nach Beendigung der Vereinbarung gelten sollen (Buchst. b).

4

In der Vertragspraxis wird oft übersehen, dass sich automatisch verlängernde Wettbewerbsverbote solchen gleichstehen, die auf unbestimmte Zeit abgeschlossen werden (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 VertikalGVO). Der ggf. weitere Wettbewerbsbeschränkungen enthaltende Vertriebsvertrag selbst muss nicht auf fünf Jahre befristet werden. Es reicht aus, isoliert die Laufzeit des Wettbewerbsverbots zu befristen.

5

Soll ein Wettbewerbsverbot mit einer längeren Dauer abgeschlossen werden, ist zu prüfen, ob die Freistellung nach der Vertikal-GVO überhaupt benötigt wird oder ob eine solche Vereinbarung wegen niedriger Marktanteile im konkreten Fall nicht spürbar ist (Marktanteil unter 15 %1). Andernfalls bleibt noch die Möglichkeit der Freistellung nach der allgemeinen Vorschrift (Art. 101 Abs. 3 AEUV).2

6

Dem Anbieter, der ein selektives Vertriebssystem betreibt, ist es nicht gestattet, in der Weise auf das Produktsortiment der Mitglieder des selektiven Vertriebssystems einzuwirken, dass der Anbieter dem Abnehmer vorschreibt, welche Marken seiner eigenen Konkurrenten die Mitglieder anbieten dürfen (Buchst. c). Die Regelung soll verhindern, dass Anbieter, die Händler in ihre selektiven Vertriebssys1 Kommission Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die i.S.d. Art. 101 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Wettbewerb nicht spürbar beschränken (De-minimisBekanntmachung), ABl. EU C 291 v. 30.8.2014, 1, Tz. 8. 2 Vertikal-Leitlinien, Tz. 146, zur Sicherstellung der Amortisation vertragsspezifischer Investitionen.

362

Hempel

Anwendung der Marktanteilsschwelle

Art. 7 Vertikal-GVO

teme aufgenommen haben, einen oder mehrere bestimmte Konkurrenten davon abhalten, sich ebenfalls dieser Händler zu bedienen.3 Nicht von der Vertikal-GVO freigestellt sind nachvertragliche Wettbewerbsverbote zulasten des Anbieters. Solche Verbote stellen schon keine vertikale Vereinbarung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Vertikal-GVO dar.4

7

III. Sonderregelung für Wettbewerbsverbote mit längerer Dauer als fünf Jahre (Art. 5 Abs. 2) Die Vorschrift enthält eine Sonderregelung zu Abs. 1 Satz 1 Buchst. a. Die in Abs. 1 enthaltene Be- 8 grenzung auf den Zeitraum von fünf Jahren gilt nicht, wenn die Räumlichkeit oder das Grundstück, von dem aus der Abnehmer die Vertragswaren verkauft, im Eigentum des Anbieters stehen (Vgl. hierzu Vertikal-Leitlinien, Tz. 67).

IV. Sonderregelung für nachvertragliche Wettbewerbsverbote (Art. 5 Abs. 3) Die Vorschrift enthält eine Sonderregelung zu Abs. 1 Satz 1 Buchst. b. Unter bestimmten Voraussetzungen sollen Wettbewerbsverbote selbst nach Beendigung der Vereinbarung gelten dürfen. Die Vorschrift zielt vor allem auf Franchise-Vereinbarungen, bei denen der Franchisenehmer auf das Knowhow des Franchisegebers angewiesen war (vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 68).

9

Art. 6 Nichtanwendung dieser Verordnung Nach Artikel 1a der Verordnung Nr. 19/65/EWG kann die Kommission durch Verordnung erklären, dass in Fällen, in denen mehr als 50 % des relevanten Marktes von parallelen Netzen gleichartiger vertikaler Beschränkungen abgedeckt werden, die vorliegende Verordnung auf vertikale Vereinbarungen, die bestimmte Beschränkungen des Wettbewerbs auf diesem Markt enthalten, keine Anwendung findet. Im Gegensatz zum Entzug des Rechtsvorteils der Vertikal-GVO durch eine Entscheidung der Kommission oder einer mitgliedstaatlichen Kartellbehörde nach Art. 29 VO 1/2003 oder nach mitgliedstaatlichem Kartellrecht (§ 32d GWB) kann die Kommission auf Grundlage dieses Artikels durch Erlass einer Verordnung anordnen, dass die Vertikal-GVO nicht anwendbar ist (zu den Einzelheiten: Vertikal-Leitlinien, Tz. 79–85).

Art. 7 Anwendung der Marktanteilsschwelle Für die Anwendung der Marktanteilsschwellen im Sinne des Artikels 3 gelten folgende Vorschriften: a) Der Marktanteil des Anbieters wird anhand des Absatzwerts und der Marktanteil des Abnehmers anhand des Bezugswerts berechnet. Liegen keine Angaben über den Absatz- bzw. Bezugswert vor, so können zur Ermittlung des Marktanteils des betreffenden Unternehmens

3 Vertikal-Leitlinien, Tz. 69 – Fall des Marktausschlusses eines konkurrierenden Anbieters in Form eines kollektiven Boykotts. 4 Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, Rz. 1021.

Hempel

363

1

Vertikal-GVO Art. 7 Rz. 1 Anwendung der Marktanteilsschwelle

b) c) d)

e)

f) g)

1

Schätzungen vorgenommen werden, die auf anderen verlässlichen Marktdaten unter Einschluss der Absatz- und Bezugsmengen beruhen; Die Marktanteile werden anhand der Angaben für das vorangegangene Kalenderjahr ermittelt; Der Marktanteil des Anbieters schließt Waren oder Dienstleistungen ein, die zum Zweck des Verkaufs an vertikal integrierte Händler geliefert werden; Beträgt ein Marktanteil ursprünglich nicht mehr als 30 % und überschreitet er anschließend diese Schwelle, jedoch nicht 35 %, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 im Anschluss an das Jahr, in dem die Schwelle von 30 % erstmals überschritten wurde, noch für zwei weitere Kalenderjahre; Beträgt ein Marktanteil ursprünglich nicht mehr als 30 % und überschreitet er anschließend 35 %, so gilt die Freistellung nach Artikel 2 im Anschluss an das Jahr, in dem die Schwelle von 35 % erstmals überschritten wurde, noch für ein weiteres Kalenderjahr; Die unter den Buchstaben d und e genannten Rechtsvorteile dürfen nicht in der Weise miteinander verbunden werden, dass ein Zeitraum von zwei Kalenderjahren überschritten wird; Der Marktanteil der in Artikel 1 Absatz 2 Unterabsatz 2 Buchstabe e genannten Unternehmen wird zu gleichen Teilen jedem Unternehmen zugerechnet, das die in Artikel 1 Absatz 2 Unterabsatz 2 Buchstabe a aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat.

Für die Berechnung des Marktanteils sind die Werte der abgesetzten Waren oder Dienstleistungen zugrunde zu legen und nicht die abgesetzten Mengen. Sind keine verlässlichen Daten über den Absatzwert vorhanden, ist auch eine Schätzung zulässig (vgl. Vertikal-Leitlinien, Tz. 93–95).

Art. 8 Anwendung der Umsatzschwelle (1) Für die Berechnung des jährlichen Gesamtumsatzes im Sinne des Artikels 2 Absatz 2 sind die Umsätze zu addieren, die das jeweilige an der vertikalen Vereinbarung beteiligte Unternehmen und die mit ihm verbundenen Unternehmen im letzten Geschäftsjahr mit allen Waren und Dienstleistungen ohne Steuern und sonstige Abgaben erzielt haben. Dabei werden Umsätze zwischen dem an der vertikalen Vereinbarung beteiligten Unternehmen und den mit ihm verbundenen Unternehmen oder zwischen den mit ihm verbundenen Unternehmen nicht mitgerechnet. (2) Die Freistellung nach Artikel 2 bleibt bestehen, wenn der jährliche Gesamtumsatz im Zeitraum von zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren die Schwelle um nicht mehr als 10 % überschreitet. 1

Die Vorschrift regelt Einzelheiten der Umsatzschwelle in Art. 2 Abs. 2 Vertikal-GVO (Vereinbarungen zwischen Unternehmensvereinigungen und ihren Mitgliedern). Nach Abs. 1 bleiben bei der Umsatzberechnung Binnenumsätze zwischen verbundenen Unternehmen außen vor. Da die Umsatzschwelle des Art. 2 Abs. 2 Vertikal-GVO von 50 Mio. Euro für die gesamte Dauer der vertikalen Vereinbarung gilt, müssen die Unternehmen regelmäßig prüfen, ob sie diese Schwelle überschreiten. Art. 8 Abs. 2 Vertikal-GVO regelt eine Übergangsfrist für den Fall der Überschreitung der Umsatzschwelle.

364

Hempel

Geltungsdauer

Art. 10 Vertikal-GVO

Art. 9 Übergangszeitraum Das Verbot nach Artikel 101 Absatz 1 AEUV gilt in der Zeit vom 1. Juni 2010 bis zum 31. Mai 2011 nicht für bereits am 31. Mai 2010 in Kraft befindliche Vereinbarungen, die zwar die Freistellungskriterien dieser Verordnung nicht erfüllen, aber am 31. Mai 2010 die Freistellungskriterien der Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 erfüllt haben. Die Vorschrift regelt eine Übergangsfrist, die es den Unternehmen ermöglichen sollte, ihre an die alte Vertikal-GVO angepassten Vereinbarungen erforderlichenfalls an die aktuell geltende Vertikal-GVO anzupassen bzw. bei Auslaufen im Übergangszeitraum von einer Anpassung abzusehen.

Art. 10 Geltungsdauer Diese Verordnung tritt am 1. Juni 2010 in Kraft. Sie gilt bis zum 31. Mai 2022.

Hempel

365

1

2. Teil Nationales Recht Außenwirtschaftsgesetz (AWG) vom 6. Juni 2013 (BGBl. I S. 1482), zuletzt geändert durch Artikel 17 des Gesetzes vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2602) (Auszug)

§ 1 Grundsatz (1) Der Güter-, Dienstleistungs-, Kapital-, Zahlungs- und sonstige Wirtschaftsverkehr mit dem Ausland sowie der Verkehr mit Auslandswerten und Gold zwischen Inländern (Außenwirtschaftsverkehr) ist grundsätzlich frei. Er unterliegt den Einschränkungen, die dieses Gesetz enthält oder die durch Rechtsverordnung auf Grund dieses Gesetzes vorgeschrieben werden. (2) Unberührt bleiben 1. Vorschriften in anderen Gesetzen und Rechtsverordnungen, 2. zwischenstaatliche Vereinbarungen, denen die gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes zugestimmt haben, und 3. Rechtsvorschriften der Organe zwischenstaatlicher Einrichtungen, denen die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte übertragen hat. Nicht kommentiert.

§ 2 Begriffsbestimmungen (1) […] (2) Ausführer ist jede natürliche oder juristische Person oder Personengesellschaft, die zum Zeitpunkt der Ausfuhr Vertragspartner des Empfängers in einem Drittland ist und 1. […] 2. im Fall von Software oder Technologie über deren Übertragung aus dem Inland in ein Drittland einschließlich ihrer Bereitstellung auf elektronischem Weg in einem Drittland bestimmt. […] (3) Ausfuhr ist 1. […] 2. die Übertragung von Software und Technologie aus dem Inland in ein Drittland einschließlich ihrer Bereitstellung auf elektronischem Weg für natürliche und juristische Personen in Drittländern. (4)–(12) […] (13) Güter sind Waren, Software und Technologie. Technologie umfasst auch Unterlagen zur Fertigung von Waren oder von Teilen dieser Waren. (14)–(19) […] (20) Verbringer ist jede natürliche oder juristische Person oder Personengesellschaft, die über die Verbringung von Gütern bestimmt und im Zeitpunkt der Verbringung Haellmigk

367

AWG § 2 Begriffsbestimmungen 1. im Fall des Absatzes 21 Nummer 1 Vertragspartner des Empfängers im Zollgebiet der Europäischen Union ist … 2. […] (21) Verbringung ist 1. die Lieferung von Waren oder die Übertragung von Software oder Technologie aus dem Inland in das übrige Zollgebiet der Europäischen Union einschließlich ihrer Bereitstellung auf elektronischem Weg für natürliche und juristische Personen in dem übrigen Zollgebiet der Europäischen Union … […] A. B. I. II. III.

Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) . § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 . . . . . . . . . . Ausführer . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Exportkontrolle bei Cloud Computing

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1 3 3 4 8

C. I. II. III.

§ 2 Abs. 3 Nr. 2 . . . . . . . . . . . . . . Ausfuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Exportkontrolle bei Cloud Computing

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9 9 10 14

D. § 2 Abs. 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Exportgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 16

1. Software und Technologie . . . . . . . . . . . . 2. Software und Technologie für Rüstungsgüter und nationale Dual-Use Güter . . . . . . . . .

17 20

E. I. II. III.

§ 2 Abs. 20 Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . Verbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Exportkontrolle bei Cloud Computing

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23 23 24 26

F. I. II. III.

§ 2 Abs. 21 Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . Innereuropäischer Export . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Exportkontrolle bei Cloud Computing

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27 27 28 30

Literatur: Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Exportkontrolle in Forschung & Wissenschaft, 2019; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Handbuch Exportkontrolle und Academia, 2019; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Praxis der Exportkontrolle, 3. Aufl. 2015; Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), Technologietransfer und Non-Proliferation, 2016; Burkhard-Basler/Nawrotzki, Technische Unterstützung und sonstiger Technologietransfer: Aktuelle Entwicklungen und praktische Beispielsfälle, AW-Prax 2015, 311; Dorsch, Zollrecht – Kommentar zum Recht des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, Stand November 2019 (zitiert: Dorsch/Bearbeiter, § … Rz. …); Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 40. Aufl. 2009 (zitiert: Grabitz/Hilf/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Haellmigk, Bestandteillieferungen an Rüstungsunternehmen: Immer ein Rüstungsexport?, AW-Prax 2017, 393; Haellmigk, Der Know-How Transfer in internationalen Unternehmen, AW-Prax 2017, 428; Haellmigk, Exportkontrolle, in Niemann/Paul (Hrsg.), Rechtsfragen des Cloud Computing, 2014 (zitiert: Niemann/Paul/Haellmigk); Haellmigk, Technologietransfer und Exportkontrolle in Zeiten neuartiger Formen des Datentransfers, in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015 (zitiert: Ehlers/Wolffgang/Haellmigk); Haellmigk, (Cloud-)Datentransfer und Exportkontrolle – Neue Compliance-Herausforderungen für Unternehmen, CCZ 2016, 29; Haellmigk, Exportkontrolle und (Cloud-)Datentransfer: Spiel mit dem Feuer? – Neue Compliance-Herausforderungen für Unternehmen?!, in Täger (Hrsg.), Internet der Dinge – Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, 2015 (zitiert: Täger/ Haellmigk); Haellmigk/Vulin, Vorsicht beim Datentransfer: Exportrecht gilt für alle Unternehmen, CR 2013, 350; Hocke/Friedrich, Kommentar zum Außenwirtschaftsrecht, Stand November 2016 (zitiert: Hocke/Friedrich/Bearbeiter, § … Rz. …); Hohmann/John, Kommentar zum Ausfuhrrecht, 2002 (zitiert: Hohmann/John/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Kochendörfer/Pietsch, Exportkontrolle und Wissenschaft, AW-Prax 2018, 97; Krenzler/Hermann/Niestedt, Kommentar zum EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, Stand Mai 2019 (zitiert: Krenzler/Hermann/Niestedt/Bearbeiter, Art. … Rz. …); Nawrotzki, Technologietransfer im Außenwirtschaftsrecht, in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015 (zitiert: Ehlers/Wolffgang/Nawrotzki); Nawrotzki, Technologietransfer und die Freiheit der Forschung bei Publikationen, AW-Prax 2019, 70; Pietsch, Leitgedanken zur Exportkontrolle im Zusammenhang mit Cloud Computing und Fragen zu Cyberwar, in Ehlers/Wolffgang (Hrsg.), Recht der Exportkontrolle – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 2015 (zitiert: Ehlers/Wolffgang/ Pietsch); Tervooren, Der Ausführerbegriff in der Exportkontrolle, 2012 (zitiert: Tervooren, Der Ausführerbegriff); Wolffgang/Simonsen/Rogmann, Kommentar für das gesamte Außenwirtschaftsrecht, Stand November 2019 (zitiert: Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Bearbeiter, § … Rz. …); Zirkel/Kachel, Technologiekontrolle und ACADEMIA, AW-Prax 2019, 282.

368

Haellmigk

Begriffsbestimmungen

Rz. 6 § 2 AWG

A. Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) – ergänzt durch die Außenwirtschaftsverordnung (AWV)1 – 1 sind die zentralen Gesetzeswerke des nationalen Exportkontrollrechts. Das nationale Exportkontrollrecht regelt vorrangig den Export von Rüstungsgütern, wobei die Beschränkungen (Genehmigungs-, Meldepflichten) nicht nur für den außereuropäischen Export gelten. Auch Exporte von Rüstungsgütern innerhalb Europas unterfallen der nationalen Exportkontrolle.2 Ergänzend regeln das AWG und die AWV die Ausfuhr von nationalen Dual-Use Gütern ins nicht-europäische Ausland. Die der Exportkontrolle unterfallenden Rüstungsgüter sowie die nationalen Dual-Use Güter sind in der sog. Ausfuhrliste, dem Anhang zur AWV, enthalten (Abschnitt A und Abschnitt B). § 2 definiert Kernbegriffe des nationalen Exportkontrollrechts. § 2 wurde durch Art. 1 des Gesetzes zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts mit Wirkung zum 1.9.2013 eingeführt, mit dem das AWG a.F. und die AWV a.F. zum ersten Mal seit 50 Jahren umfassend reformiert wurden.3 Dem Gesetzgeber ging es mit Blick auf § 2 dabei vorrangig darum, die über das AWG a.F. und die AWV a.F. verteilten Definitionen an einer zentralen Stelle zusammenzufassen, um so die Arbeit mit den Gesetzeswerken zu erleichtern, sie terminologisch zu modernisieren und an die Begrifflichkeiten der EG Dual-Use VO anzupassen.4

2

B. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 I. Ausführer Der Begriff des Ausführers nach dem AWG gleicht dem des Ausführers in der EG Dual-Use VO (Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii EG Dual-Use VO). § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 befasst sich dabei mit der personellen Verantwortlichkeit für die Übertragung bzw. Bereitstellung von Software und Technologie auf elektronischem Weg und ist somit das nationale Äquivalent zu Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii Satz 1 EG Dual-Use VO.

3

II. Norminhalt Der Personenkreis, der Ausführer sein kann, umfasst zunächst alle natürlichen und juristischen Per- 4 sonen, also Zusammenschlüsse von Personen, denen nach deutschem Recht eine eigene Rechtspersönlichkeit verliehen worden ist. Mit der ausdrücklichen Erwähnung von „Personengesellschaften“ werden neben den Handelsgesellschaften auch die Gesellschaften bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) erfasst.5 Ausführer ist diejenige Person, die zum Zeitpunkt der Ausfuhr Vertragspartei des Empfängers des Aus- 5 fuhrguts „Software“ oder „Technologie“ in einem Drittland ist und über ihre Übertragung bzw. Bereitstellung bestimmt. Erkennbar stellt die Vorschrift darauf ab, wer die Verantwortung für die Ausfuhr trägt. Maßgeblich ist, wer den Ausfuhrvorgang tatsächlich kontrolliert und veranlasst, wer also der Geschäftsherr der Ausfuhr ist.6 Ausführer kann immer nur die inländische Vertragspartei – Personen mit (Wohn-)Sitz im Inland (vgl. 6 § 15 Nrn. 1 und 2 AWV) sein. Dies gilt auch dann, wenn die eigentlichen Verfügungsrechte über die zu übertragende oder bereitzustellende Software oder Technologie beim Empfänger aus dem Drittland liegen (§ 2 Abs. 2 Satz 2). Damit soll verhindert werden, dass ein ausländisches Unternehmen als Aus1 Die AWV enthält die einzelnen Beschränkungen für Verbringungen und Ausfuhren. 2 Innereuropäische Exporte von Rüstungsgütern werden als „Verbringungen“, außereuropäische Exporte als „Ausfuhren“ bezeichnet. 3 Gesetz v. 6.6.2013, BGBl. I 2013, 1482. 4 Z.B. §§ 4 Abs. 1, 4a AWG a.F., § 4 Abs. 1 AWV, §§ 21b, 23 AWV a.F., was u.a. einer der Kritikpunkte der Praxis war; s. auch BT-Drucks. 17/11127, 20. 5 In der früheren Vorschrift (§ 4c Nr. 1 AWV a.F.) wurde noch der Begriff „Personenhandelsgesellschaft“ verwendet; vgl. auch Hocke/Friedrich/Friedrich, § 2 Rz. 4. 6 Tervooren, Der Ausführerbegriff, S. 72.

Haellmigk

369

AWG § 2 Rz. 6 Begriffsbestimmungen führer auftritt, da andernfalls die Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten der deutschen Behörden regelmäßig eingeschränkt sind.7 7

Ergänzend gelten die Ausführungen zu Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii Satz 1 EG Dual-Use VO (Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii Satz 1, Art. 2 Dual-Use VO Rz. 63 ff.).

III. Exportkontrolle bei Cloud Computing 8

Die Ausführereigenschaft bei Auslagerung und Bereitstellung von Rüstungssoftware oder -technologie im Rahmen von Cloud Computing entspricht der, wenn Cloud Computing Dual-Use Software bzw. Technologie betrifft (vgl. die Kommentierung zu Art. 2 Nr. 3 Buchst. ii EG Dual-Use VO, Art. 2 DualUse VO Rz. 70 ff.).

C. § 2 Abs. 3 Nr. 2 I. Ausfuhr 9

Nr. 2 definiert den Begriff „Ausfuhr“ mit Blick auf den gegenständlichen sowie nicht gegenständlichen grenzüberschreitenden Transfer in das nicht-europäische Ausland (Drittland). Ggü. der Vorgängerregelung des § 4 Abs. 2 Nr. 4 AWG a.F. ist diese Vorschrift nun deutlich gestrafft und präziser formuliert. Dabei orientierte sich der Gesetzgeber für Nr. 2 inhaltlich an dem Übertragungstatbestand des Art. 2 Buchst. iii Satz 1 EG Dual-Use VO, verzichtete jedoch auf eine vollständige Übernahme des Wortlauts dieser Vorschrift. Damit hat der deutsche Gesetzgeber sein Verständnis einer Ausfuhr durch nichtgegenständliche Übertragung an das europäische Verständnis der EG Dual-Use VO angeglichen.8

II. Norminhalt 10

Der Inhalt der Nr. 2 ist ggü. Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 1 EG Dual-Use VO identisch. Zum einen ist Ausfuhr die Versendung von (Rüstungs-)Software- oder Technologie mittels elektronischer Medien vom Inland in das nicht-europäische Ausland (Drittland). Zum anderen wird auch das Bereitstellen von (Rüstungs-)Software und Technologie – also die zweckgerichtete Schaffung von Zugriffsmöglichkeiten vom Drittland aus – als Ausfuhr qualifiziert. Es ist also nicht erforderlich, dass tatsächlich ein Zugriff aus dem Drittland erfolgt. Die bloße Zurverfügungstellung der Software oder Technologie ist bereits eine Ausfuhr.9

11

Im Gegensatz zur Definition des Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii Satz 2 EG Dual-Use VO enthält § 2 Abs. 3 keine Regelung zur telefonischen Beschreibung von Technologie am Telefon. Dennoch dürfte auch nach dem Sinn und Zweck des § 2 Abs. 3 bei telefonischer Weitergabe von Technologie eine Ausfuhr vorliegen. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die Technologie vom Empfänger mitgeschrieben werden kann.10

12

Fraglich ist, ob die Adressaten der Übertragung oder Bereitstellung – die natürlichen oder juristischen Personen – ihren (Wohn-)Sitz in einem Drittland haben müssen. Eine Literaturansicht bejaht dies unter Verweis auf den Wortlaut der Vorschrift.11 Diese Auffassung ist unzutreffend. Abgesehen davon, dass der Wortlaut erkennbar nicht darauf abstellt, ob der Empfänger der Software oder Technologie seinen Sitz im In- oder Ausland hat, ist das Ziel der nationalen (wie europäischen) Exportkontrolle, auch die elektronische Ausfuhr zu kontrollieren und ggf. zu verhindern, dass auf diese Weise sensible Software oder Technologie ins Ausland gelangen und dort missbräuchlich verwendet werden. Ob nun 7 Vgl. Dorsch/Stein/Thoms, § 2 Rz. 10. 8 BT-Drucks. 17/1127, 20. 9 Das Bereitstellen ist also gerade kein „Spezialfall“ der Übertragung; so unzutreffend aber Dorsch/Stein/Thoms, § 2 Rz. 16; Wolffgang/Simonsen/Rogmann/Mrozek, § 2 Rz. 14. 10 Zutreffend Burkert-Basler/Nawrotzki, AW-Prax 2015, 313. 11 Dorsch/Stein/Thoms, § 2 Rz. 16.

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Begriffsbestimmungen

Rz. 18 § 2 AWG

der Empfänger im Ausland eine nationale oder ausländische Identität besitzt, ist für die Exportkontrolle und ihr Ziel gleichgültig, da sich die Software oder Technologie ab diesem Zeitpunkt im Ausland befindet und nicht mehr kontrolliert werden kann. Erforderlich ist nur, dass sich der Empfänger zum Zeitpunkt der Übertragung bzw. Bereitstellung im Ausland befindet. Im Übrigen gelten die Ausführungen zu Art. 2 Nr. 2 Buchst. iii EG Dual-Use VO (Art. 2 Dual-Use VO Rz. 26 ff.) entsprechend.

13

III. Exportkontrolle bei Cloud Computing Cloud Computing kann auch die Auslagerung und Bereitstellung von Rüstungssoftware und -technologie betreffen. Auf die Kommentierung zur Exportkontrolle bei Cloud Computing hinsichtlich DualUse Software oder Technologie wird daher verwiesen (Art. 2 Dual-Use VO Rz. 49 ff.).12

14

D. § 2 Abs. 13 I. Exportgüter § 2 Abs. 13 enthält die Legaldefinition des Begriffs „Güter“. Der Güterbegriff entstammt der ehemaligen EG Dual-Use VO.13

15

II. Norminhalt Güter sind gem. Abs. 13 körperliche Waren sowie Software und Technologie. Der Güterbegriff ist da- 16 her ein Obergriff für gegenständliche wie nicht gegenständliche Gegenstände. 1. Software und Technologie Eine nähere Bestimmung des Begriffs „Software“ und „Technologie“ enthält Abs. 13 nicht. Hierzu 17 sind die Begriffsbestimmungen zur Ausfuhrliste hinzuzuziehen, die den Begriffsbestimmungen der EG Dual-Use VO entsprechen (vgl. Art. 2 Dual-Use VO Rz. 4 ff.). Danach ist „Software“ eines oder mehrere „Programme“ oder „Mikroprogramme“, die auf einem beliebigen greifbaren (Ausdrucks-) Medium fixiert sind. Ein Programm ist eine „Folge von Befehlen zur Ausführung eines Prozesses in einer Form oder umsetzbar in eine Form, die von einem elektronischen Rechner ausführbar ist“. Ein Mikroprogramm ist „eine in einem speziellen Speicherbereich dauerhaft gespeicherte Folge von elementaren Befehlen, deren Ausführung durch das Einbringen des Referenzbefehls in ein Befehlsregister eingeleitet wird“.14 Nach den Begriffsbestimmungen der Ausfuhrliste ist Technologie „spezifisches technisches Wissen, das für die Entwicklung, Herstellung oder Verwendung eines Produkts nötig“ ist. „Technisches Wissen“ wird laut Begriffsbestimmungen „in der Form von technischen Unterlagen oder technischer Unterstützung verkörpert“. Technische Unterlagen können verschiedenster Ausprägung sein. Darunter fallen z.B. Blaupausen, Pläne, Diagramme, Modelle, Formeln, Tabellen, Konstruktionspläne und -spezifikationen, Beschreibungen und Anweisungen in Schriftform oder auf anderen Medien aufgezeichnet, wie Magnetplatten, Bändern oder Lesespeichern. Auch technische Unterstützung kann verschiedenartig sein, z.B. Unterweisung, Vermittlung von Fertigkeiten, Schulung, Arbeitshilfe, Beratungsdienste, und kann auch die schriftliche oder elektronische Weitergabe von technischen Unterla12 Im Einzelfall kann neben den Ausfuhrtatbeständen der (genehmigungspflichtigen) Übertragung bzw. Bereitstellung auch noch ein genehmigungspflichtiges Handels- und Vermittlungsgeschäft (§§ 47 f. AWV) und eine genehmigungspflichtige technische Unterstützung (§§ 49 ff. AWV) vorliegen, vgl. Wolffgang/Ehlers/Pietsch, S. 533 und 535. 13 Die damalige VO Nr. 1334/2000 vom 22.6.2000. 14 Vgl. die Begriffsbestimmungen zur Ausfuhrliste.

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AWG § 2 Rz. 18 Begriffsbestimmungen gen einbeziehen.15 Abs. 13 stellt dabei klar, dass auch Fertigungsunterlagen erfasst sind, die lediglich eine Fertigung von Teilen von körperlichen Gegenständen (Waren) ermöglichen. 19

Für den Güterbegriff gem. Abs. 13 ist dabei ohne Belang, ob die Software oder Technologie auf einem Datenträger (beispielsweise Computer-Festplatte, USB-Stick, Diskette) oder sonstigen gegenständlichen Unterlagen (beispielsweise Papierskizze) fixiert ist. Ist die Software oder Technologie gegenständlich fixiert, handelt es sich aufgrund des Trägermaterials um ein gegenständliches, andernfalls um nichtgegenständliches Gut. Die Unterscheidung ist für den Güterbegriff gleichgültig. Sie spielt hingegen bei der Bestimmung der Ausfuhrmodalität eine Rolle (s. Rz. 10 ff.). 2. Software und Technologie für Rüstungsgüter und nationale Dual-Use Güter

20

Der Gesetzgeber hat in der Ausfuhrliste (Anhang zur AWV, Abschnitt A) abschließend festgelegt, welche Güter als Rüstungsgüter zu qualifizieren sind mit der Folge, dass sie den Beschränkungen des AWG und der AWV (Genehmigungspflichten, Verbote) unterfallen. Abschnitt A der Ausfuhrliste enthält dabei auch die Software und Technologie, die für die Entwicklung, Herstellung, den Betrieb, Aufbau oder die Wartung der in der Ausfuhrliste genannten Rüstungsgütern bzw. Ausrüstung einschließlich einzelner Werkstoffe und Materialien besonders entwickelt oder geändert wurde.16

21

Entsprechendes gilt für die in Abschnitt B der Ausfuhrliste aufgeführten nationalen Dual-Use Güter und deren Software und Technologie.

22

Für die in der Ausfuhrliste aufgeführte Software und Technologie gelten allerdings bestimmte Ausnahmen von den exportkontrollrechtlichen Beschränkungen (vgl. die Allgemeine Software-Anmerkung, Allgemeine Technologie-Anmerkung sowie die Anmerkung 2 zur Nr. 0022 der Ausfuhrliste). Diese Beschränkungen entsprechen inhaltlich den Ausnahmetatbeständen für die in der EG Dual-Use VO gelistete Software und Technologie. Auf die Kommentierung zu Art. 2 Nr. 1 EG Dual-Use VO (Art. 2 DualUse VO Rz. 13 ff.) wird daher verwiesen.17

E. § 2 Abs. 20 Nr. 1 I. Verbringer 23

Der Begriff „Verbringer“ definiert die Person, die für den innereuropäischen Export (sog. Verbringung, vgl. Rz. 27 ff.) verantwortlich ist. Dieser Begriff ergänzt somit den Begriff „Ausführer“, der sich mit der personellen Verantwortlichkeit für den außereuropäischen Export befasst (vgl. Rz. 3 ff.)

15 „Entwicklung“ schließt alle Stufen vor der Serienfertigung ein, z.B. Konstruktion, Forschung, Analyse, Konzepte, Zusammenbau und Test von Prototypen, Pilotserienpläne, Konstruktionsdaten, Verfahren zur Umsetzung der Konstruktionsdaten ins Produkt, Konfigurationsplanung, Integrationsplanung, Layout. „Herstellung“ umfasst alle Fabrikationsstufen, z.B. Fertigungsvorbereitung, Fertigung, Integration, Zusammenbau, Kontrolle, Prüfung (Test) und Qualitätssicherung ein. „Verwendung“ ist der Betrieb, Aufbau (einschließlich Vor-Ort-Aufbau), die Wartung (Test), Reparatur, Überholung oder Wiederaufarbeitung. 16 S. Nrn. 0021 und 0022 der Ausfuhrliste. Darüberhinaus ist auch die Software erfasst, die besonders für militärische Zwecke und besonders für die Modellierung und Simulation militärischer Waffensysteme oder Operationsszenarien, für die Ermittlung der Wirkung konventioneller, atomarer, chemischer oder biologischer Kampfmittel oder besonders für Anwendungen im Rahmen von Führungs-, Informations-, Rechner- und Aufklärungssystemen entwickelt wurde (vgl. Nr. 0021 b) der Ausfuhrliste). Die bei der Kommentierung zu Art. 2 Nr. 1 Dual-Use VO (Art. 2 Dual-Use VO Rz. 21 ff.) aufgezeigten Schwierigkeiten der Präzisierung des Tatbestandsmerkmals „Verwendung für zivile Zwecke“ gelten hier für die Voraussetzung „besonders für militärische Zwecke entwickelt“ entsprechend. Nach überwiegender Ansicht wird hier auf die objektive Beschaffenheit des Rüstungsguts bzw. der Rüstungssoftware und -technologie abgestellt; die subjektive Zweckbestimmung des Herstellers kann ergänzend herangezogen werden; vgl. BGH v. 28.1.2010 – 3 StR 274/09; BGH v. 28.3.2007 – 5 StR 225/06; Hess. VGH v. 16.8.2016 – 6 A 1996/14; Haellmigk, AW-Prax 2017, 394; Wolffgang/Simonsen/ Rogman/Morweiser, Vorb. zu den §§ 17 und 18 AWG Rz. 61 f. 17 Ergänzend besteht eine weitere Ausnahme hinsichtlich der Technologie für die magnetische Induktion zum Dauerantrieb ziviler Transporteinrichtungen, vgl. Anmerkung 2 c) zu Nr. 0022 der Ausfuhrliste.

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§ 4 AWG

II. Norminhalt Die Verbringereigenschaft wird im Einklang mit dem Begriff des Ausführers definiert: Verbringer ist jede natürliche und juristische Person oder Personengesellschaft, die über die Verbringung bestimmt und zum Zeitpunkt der Verbringung Vertragspartner des Empfängers ist.

24

Die Kommentierung zum Begriff „Ausführer“ gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AWG gilt daher entsprechend.

25

III. Exportkontrolle bei Cloud Computing Die Kommentierung zum Ausführerbegriff beim Cloud Computing mit außereuropäischem Bezug gilt für den Verbringerbegriff beim innereuropäischen Cloud Computing entsprechend. Auf die Ausführungen zu Rz. 8 wird daher verwiesen.

26

F. § 2 Abs. 21 Nr. 1 I. Innereuropäischer Export Während sich der Begriff „Ausfuhr“ auf Gütertransfers vom Inland ins nicht-europäische Ausland (Drittland) bezieht, erfasst der Begriff „Verbringung“ in Abs. 21 Nr. 1 den Transfer von Gütern einschließlich Software und Technologie vom Inland ins übrige Zollgebiet der Europäischen Union. Es geht bei der Verbringung also um innereuropäische Transfers.

27

II. Norminhalt Die Definition von Verbringung entspricht inhaltlich der Definition von Ausfuhr: Verbringung ist neben der gegenständlichen Übertragung die Übertragung von Software oder Technologie aus dem Inland in das übrige Zollgebiet der Europäischen Union einschließlich ihrer Bereitstellung auf elektronischem Weg für natürliche oder juristische Personen in dem Zollgebiet der Europäischen Union.

28

Die Kommentierung zum Begriff „Ausfuhr“ gem. § 2 Abs. 3 Nr. 2 AWG gilt daher entsprechend.

29

III. Exportkontrolle bei Cloud Computing Die Kommentierung zum Ausfuhrbegriff beim Cloud Computing mit außereuropäischem Bezug gilt für den Verbringungsbegriff beim innereuropäischen Cloud Computing entsprechend. Auf die Ausführungen in Rz. 14 wird daher verwiesen.

§ 4 Beschränkungen und Handlungspflichten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der auswärtigen Interessen (1) Im Außenwirtschaftsverkehr können durch Rechtsverordnung Rechtsgeschäfte und Handlungen beschränkt oder Handlungspflichten angeordnet werden, um 1. die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten, 2. eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten, 3. eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu verhüten,

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AWG § 4 4. die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Artikel 36, 52 Absatz 1 und des Artikels 65 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu gewährleisten oder 5. einer Gefährdung der Deckung des lebenswichtigen Bedarfs im Inland oder in Teilen des Inlands entgegenzuwirken und dadurch im Einklang mit Artikel 36 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Gesundheit und das Leben von Menschen zu schützen. (2) Ferner können im Außenwirtschaftsverkehr durch Rechtsverordnung Rechtsgeschäfte und Handlungen beschränkt oder Handlungspflichten angeordnet werden, um 1. Beschlüsse des Rates der Europäischen Union über wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik umzusetzen, 2. Verpflichtungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union durchzuführen, die in unmittelbar geltenden Rechtsakten der Europäischen Union zur Durchführung wirtschaftlicher Sanktionsmaßnahmen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgesehen sind, 3. Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen umzusetzen oder 4. zwischenstaatliche Vereinbarungen umzusetzen, denen die gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes zugestimmt haben. (3) Als Beschränkung nach den Absätzen 1 und 2 gilt die Anordnung von Genehmigungserfordernissen oder von Verboten. (4) Beschränkungen und Handlungspflichten sind nach Art und Umfang auf das Maß zu begrenzen, das notwendig ist, um den in der Ermächtigung angegebenen Zweck zu erreichen. Sie sind so zu gestalten, dass in die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung so wenig wie möglich eingegriffen wird. Beschränkungen und Handlungspflichten dürfen abgeschlossene Verträge nur berühren, wenn der in der Ermächtigung angegebene Zweck erheblich gefährdet wird. Sie sind aufzuheben, sobald und soweit die Gründe, die ihre Anordnung rechtfertigten, nicht mehr vorliegen. Nicht kommentiert.

§ 5 Gegenstand von Beschränkungen (1) Beschränkungen oder Handlungspflichten nach § 4 Absatz 1 können insbesondere angeordnet werden für Rechtsgeschäfte oder Handlungen in Bezug auf 1. Waffen, Munition und sonstige Rüstungsgüter sowie Güter für die Entwicklung, Herstellung oder den Einsatz von Waffen, Munition und Rüstungsgütern; dies gilt insbesondere dann, wenn die Beschränkung dazu dient, in internationaler Zusammenarbeit vereinbarte Ausfuhrkontrollen durchzuführen, 2. Güter, die zur Durchführung militärischer Aktionen bestimmt sind. (2) Beschränkungen oder Handlungspflichten nach § 4 Absatz 1 Nummer 4 können insbesondere angeordnet werden in Bezug auf den Erwerb inländischer Unternehmen oder von Anteilen an solchen Unternehmen durch unionsfremde Erwerber, wenn infolge des Erwerbs die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 4 Absatz 1 Nummer 4 gefährdet ist. Dies setzt voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unionsfremde Erwerber aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation stehen unionsansässigen Erwerbern gleich. (3) Beschränkungen oder Handlungspflichten nach § 4 Absatz 1 Nummer 1 können insbesondere angeordnet werden in Bezug auf den Erwerb inländischer Unternehmen oder von Anteilen an solchen Unternehmen durch Ausländer, um wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten, wenn die inländischen Unternehmen

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§ 15 AWG 1. Kriegswaffen oder andere Rüstungsgüter herstellen oder entwickeln oder 2. Produkte mit IT-Sicherheitsfunktionen zur Verarbeitung von staatlichen Verschlusssachen oder für die IT-Sicherheitsfunktion wesentliche Komponenten solcher Produkte herstellen oder hergestellt haben und noch über die Technologie verfügen, wenn das Gesamtprodukt mit Wissen des Unternehmens vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zugelassen wurde. Dies gilt insbesondere dann, wenn infolge des Erwerbs die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder die militärische Sicherheitsvorsorge gefährdet sind. (4) Beschränkungen oder Handlungspflichten nach § 4 Absatz 1 Nummer 5 können auch angeordnet werden in Bezug auf Güter, die nicht in Absatz 1 genannt sind. 2Dies setzt voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. (5) Beschränkungen oder Handlungspflichten nach § 4 Absatz 1 können auch angeordnet werden in Bezug auf Rechtsgeschäfte oder Handlungen Deutscher im Ausland, die sich auf Güter im Sinne des Absatzes 1 einschließlich ihrer Entwicklung und Herstellung beziehen. Nicht kommentiert.

§ 8 Erteilung von Genehmigungen (1) Bedürfen Rechtsgeschäfte oder Handlungen nach einer Vorschrift dieses Gesetzes oder einer Rechtsverordnung auf Grund dieses Gesetzes einer Genehmigung, so ist die Genehmigung zu erteilen, wenn zu erwarten ist, dass die Vornahme des Rechtsgeschäfts oder der Handlung den Zweck der Vorschrift nicht oder nur unwesentlich gefährdet. In anderen Fällen kann die Genehmigung erteilt werden, wenn das volkswirtschaftliche Interesse an der Vornahme des Rechtsgeschäfts oder der Handlung die damit verbundene Beeinträchtigung des in der Ermächtigung angegebenen Zwecks überwiegt. (2) Die Erteilung der Genehmigung kann von sachlichen und persönlichen Voraussetzungen, insbesondere der Zuverlässigkeit des Antragstellers, abhängig gemacht werden. Dasselbe gilt bei der Erteilung von Bescheinigungen des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), dass eine Ausfuhr keiner Genehmigung bedarf. (3) Ist im Hinblick auf den Zweck, dem die Vorschrift dient, die Erteilung von Genehmigungen nur in beschränktem Umfang möglich, so sind die Genehmigungen in der Weise zu erteilen, dass die gegebenen Möglichkeiten volkswirtschaftlich zweckmäßig ausgenutzt werden können. (4) Unionsansässige, die durch eine Beschränkung nach Absatz 3 in der Ausübung ihres Gewerbes besonders betroffen werden, können bevorzugt berücksichtigt werden. (5) Der Antragsteller hat bei der Beantragung einer Genehmigung nach Absatz 1 Satz 1 oder einer Bescheinigung nach Absatz 2 Satz 2 vollständige und richtige Angaben zu machen oder zu benutzen. Nicht kommentiert.

§ 15 Rechtsunwirksamkeit (1) Ein Rechtsgeschäft, das ohne die erforderliche Genehmigung vorgenommen wird, ist unwirksam. Es wird vom Zeitpunkt seiner Vornahme an wirksam, wenn es nachträglich genehmigt wird oder das Genehmigungserfordernis nachträglich entfällt. Durch die Rückwirkung werden Rechte Haellmigk

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AWG § 15 Dritter, die vor der Genehmigung an dem Gegenstand des Rechtsgeschäfts begründet worden sind, nicht berührt. (2) Besteht für ein schuldrechtliches Rechtsgeschäft über den Erwerb eines inländischen Unternehmens oder einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an einem inländischen Unternehmen ein Prüfrecht auf Grund von § 4 Absatz 1 Nummer 4 und § 5 Absatz 2 in Verbindung mit einer auf Grund dieser Vorschriften erlassenen Rechtsverordnung und ist dieses Prüfrecht verbunden mit einer Ermächtigung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, nach Zustimmung der Bundesregierung den Erwerb innerhalb einer bestimmten Frist zu untersagen, so steht der Eintritt der Rechtswirkungen des Rechtsgeschäfts bis zum Ablauf des gesamten Prüfverfahrens unter der auflösenden Bedingung, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie den Erwerb innerhalb der Frist untersagt. (3) Ein Rechtsgeschäft, das dem Vollzug des Erwerbs eines inländischen Unternehmens oder einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an einem inländischen Unternehmen dient, ist schwebend unwirksam, wenn auf Grund von § 4 Absatz 1 Nummer 1 und § 5 Absatz 3 in Verbindung mit einer auf Grund dieser Vorschriften erlassenen Rechtsverordnung eine Meldepflicht besteht, die verbunden ist mit einer Ermächtigung der Bundesregierung, den Erwerb innerhalb einer bestimmten Frist zu untersagen. Das Rechtsgeschäft wird vom Zeitpunkt seiner Vornahme an wirksam, wenn das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie es schriftlich freigibt oder den Erwerb nicht innerhalb der Frist nach Satz 1 untersagt. Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. Nicht kommentiert.

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Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vom 18. August 1896 (RGBl. 195) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909 und BGBl. I 2003, S. 738), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. März 2020 (BGBl. I S. 541) (Auszug)

§ 241 Pflichten aus dem Schuldverhältnis (1) Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Die Leistung kann auch in einem Unterlassen bestehen. (2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. I. II. 1. 2. 3.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1) . . . . . . Schutz- und Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Nebenpflichten im IT-Bereich . . . . . . . 1. Vertragliche Nebenpflichten . . . . . . . . a) Aufklärungs-, Prüfungs- und Hinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . c) Datensicherung . . . . . . . . . . . . . . d) Datenherausgabe . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

1 2 2 4 9

. . 10 . . 11 . . . .

. . . .

11 14 17 19

e) Nebenpflichten bzgl. Softwarepflege . . . aa) Leistungssicherung bei Softwareüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Loyalitätspflicht und Kündigung . . . f) Schutz- und Obhutspflichten . . . . . . . 2. Nachvertragliche Nebenpflichten . . . . . . a) Datenherausgabe nach Vertragsende . . . aa) Grundlagen der Herausgabepflicht . bb) Umfang der Herausgabepflicht . . . . b) Migrationsunterstützung beim IT-Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Geheimhaltungs- und Verschwiegenheitspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 22 . . . . . . .

23 29 31 32 33 34 35

. 42 . 45

Literatur: Bartsch, Softwarepflege nach neuem Schuldrecht, NJW 2002, 1526; Fritzemeyer/Splittgerber, Verpflichtung zum Abschluss von Softwarepflege- und Hardwarewartungsverträgen, CR 2007, 209; Kaufmann, Kündigung langfristiger Softwarepflegeverträge oder Abschlusszwang, CR 2005, 841; Kremer, Anpassungspflicht Software bei Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 116; Liesching, Beratungspflichten des Anbieters im Rahmen von Softwareverträgen, ITRB 2016, 64; Messerschmidt/Voit, Privates Baurecht, 3. Aufl. 2018; Orthwein/Bernhard, Mangelhaftigkeit von Software aufgrund Gesetzesänderung, CR 2009, 354; Raue, Reichweite der vertraglichen Pflicht zur Aktualisierung von IT-Lösungen aufgrund von Gesetzesänderungen, CR 2018, 277; Roth, Geheimhaltungsklauseln in IT-Verträgen, ITRB 2011, 115; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil I: vorvertragliche Beratungspflichten, CR 2015, 209; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II: Nachvertragliche Pflichten, CR 2015, 277.

I. Einführung Die beiden Absätze der Vorschrift haben sehr unterschiedliche Ursprünge. Während Abs. 1 eine Definitionsnorm ist, die auf das römische Recht zurückgeht und die Wirkungsweise des Schuldverhältnisses beschreibt, ohne dies selbst weiter zu konkretisieren, ist Abs. 2 erst durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz 2002 in das BGB eingefügt worden.1 Abs. 2 umfasst die Nebenpflichten, die zuvor ungeschriebene Praxis in Rechtsprechung und Literatur waren, und die gerade im IT-Bereich erhebliche Bedeutung haben. Abs. 2 ist keine eigene Anspruchsgrundlage, sondern die jeweiligen Pflich-

1 MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 1 f.

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1

BGB § 241 Rz. 1 Pflichten aus dem Schuldverhältnis ten ergeben sich aus dem konkreten Schuldverhältnis zwischen den Parteien und begründen dann ggf. Ansprüche wie Schadensersatz oder Rücktrittsrecht.2

II. Norminhalt 1. Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1) 2

§ 241 Abs. 1 setzt verschiedene Begrifflichkeiten voraus, ohne sie selbst zu definieren. Danach ist der Gläubiger kraft des Schuldverhältnisses berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Das BGB selbst unterscheidet zwischen dem Schuldverhältnis im engeren Sinne und dem Schuldverhältnis im weiteren Sinne: Während ersteres die einzelne Forderung, also z.B. einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung meint, versteht man unter letzterem das gesamte Rechtsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner.3 Gläubiger und Schuldner sind zwingende Bestandteile eines Schuldverhältnisses. Die beiden dürfen nicht personenidentisch sein, da das Schuldverhältnis ansonsten durch Konfusion erlischt.4

3

Das BGB kennt keinen einheitlichen Leistungsbegriff. Unter einer Leistungspflicht kann sowohl eine Erfolgspflicht als auch eine Handlungspflicht verstanden werden, wobei Leistungshandlung und Leistungserfolg je nach Art des Schuldverhältnisses auch zusammenfallen können.5 Rechtsfolge aus Abs. 1 ist, dass dem Gläubiger gegen den Schuldner ein Forderungsrecht zusteht. Dieses kann nach Satz 2 auch in einem Unterlassen bestehen, das sich im IT-Bereich wohl meist im Bereich des Software-Urheberrechts abspielt. 2. Schutz- und Nebenpflichten (§ 241 Abs. 2)

4

Es ist umstritten, ob Abs. 2 nach seinem Wortlaut nur Schutzpflichten umfasst oder über den Begriff der „Interessen“ hinaus auch weitere Verhaltenspflichten des Schuldners.6 Soweit man diese Nebenpflichten nicht unter Abs. 1 subsumieren möchte, ergeben sie sich jedenfalls aus § 242.7 Insoweit überrascht es nicht, dass die dogmatische Begründung von selbstständigen wie unselbstständigen Nebenpflichten8 von Literatur und Rechtsprechung auch heute noch häufig auf § 242 gestützt wird.9 Mit Blick auf die Konzeption des § 241 nach der Einfügung des Abs. 2 spricht aber mehr dafür, dass es einer Begründung über Treu und Glauben nach Maßgabe des § 242 nicht mehr bedarf,10 und daher alle Nebenpflichten, einschließlich der leistungssichernden, unter Abs. 2 der Vorschrift zu subsumieren sind.11

5

Schutzpflichten bezwecken die Integrität absolut geschützter Rechte und Rechtsgüter (wie etwa Eigentum oder Gesundheit), aber auch dem Schutz der Vermögensinteressen des Gläubigers.12 Nebenpflichten dienen allgemein gesprochen der Vorbereitung, Unterstützung, Sicherung oder Durchführung der Hauptleistung. Bei den Nebenpflichten ist zwischen drei zeitlichen Situationen zu unterscheiden: zum einen die vorvertraglichen Pflichten, zum anderen die Nebenpflichten während des Laufes des Vertrages sowie die nachvertraglichen Nebenpflichten. Bei Aufklärung, Beratung und Erkundigung handelt es sich i.d.R. um vorvertragliche Pflichten. Für die Begründung vorvertraglicher Pflichten ist Voraussetzung, dass überhaupt ein vorvertragliches Schuldverhältnis i.S.d. § 311 Abs. 2 besteht (s. § 311 Rz. 4 ff.).

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

S. auch MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 241 BGB Rz. 1. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 4; BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 3 f. BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 2; MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 5. Jauernig/Mansel, § 241 BGB Rz. 7. S. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 50 und 60 f. S. dazu MünchKomm/Schubert, § 242 BGB Rz. 172. Zu dieser Trennung etwa BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 43. Vgl. nur Jauernig/Mansel, § 242 BGB Rz. 16. So i.E. auch BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 42. S. dazu MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 61 m.w.N. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 114.

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Pflichten aus dem Schuldverhältnis

Rz. 9 § 241 BGB

Daneben gibt es noch die Leistungssicherungspflicht (oder auch: leistungssichernde Nebenpflicht)13. Die Leistungssicherungspflicht ist dabei die Pflicht, alles zu tun, um den eingetretenen Leistungserfolg zu sichern und alles zu unterlassen, was die Positionen der anderen Partei schmälert oder entwertet.14 Eine solche leistungssichernde Nebenpflicht ist jedoch nicht generell anzunehmen, sondern ist – wie für Nebenpflichten üblich – nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Die Annahme einer leistungssichernden Duldungs- oder Handlungspflicht ist dabei die Ausnahme.15 Auch hier haben sich – ähnlich wie bei den vorvertraglichen Beratungspflichten16 – abstrakte Prüfungspunkte im Zivilrecht etabliert, die für den IT-Vertrag herangezogen werden können.17 Die nachvertraglichen Leistungssicherungspflichten sind vor allem bei hochwertigen Sach- und Investitionsgütern anerkannt, etwa weil kein verständiger Kunde solche Investitionsgüter erwerben würde, wenn er hinterher keine Möglichkeit hätte, Ersatzteile erwerben zu können.18

6

Voraussetzung für das Bestehen einer Leistungssicherungspflicht ist danach, (1) dass die Risiken/ 7 Probleme für den Anbieter erkennbar sind, (2) dass der Anbieter die Möglichkeit hat, die Verwirklichung dieser Risiken zu verhindern oder zumindest zu verringern und dass (3) die vertraglichen Regelungen der Annahme einer Leistungssicherungspflicht nicht entgegenstehen. Daneben wird man aber auch – ebenso wie bei der Begründung von Beratungspflichten – eine Interessenabwägung vornehmen müssen (4).19 Solche Leistungssicherungspflichten kommen bei IT-Verträgen insb. im Zusammenhang mit dem Vertragsende bzgl. Softwarepflege oder beim Outsourcing in Betracht (dazu Rz. 22 ff. und Rz. 41 ff.). Die Vorschrift ist generalklauselartig formuliert und bedarf daher der Konkretisierung. Inhalt und Umfang der Nebenpflichten richten sich daher i.d.R. nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Gleichwohl hat sich eine Fülle anerkannter Fallgruppen gebildet, die die Einstufung „benutzerfreundlicher“20 macht. Generell ist eine Nebenpflicht aber umso eher anzunehmen, je mehr die Parteien auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit angewiesen sind oder eine andere Partei sich auf die besondere Fachkunde der anderen verlassen muss. Dieser Grundsatz durchzieht insb. auch den Bereich der Nebenpflichten im IT-Vertrag.

8

3. Abgrenzung Versucht man, Leistungspflichten (Abs. 1), zu denen man dann auch ggf. die Nebenleistungspflichten zählt,21 und Nebenpflichten (Abs. 2) voneinander abzugrenzen, gibt es hierfür nur Anhaltspunkte. Eine Einordnung lässt sich häufig danach vornehmen, ob das Äquivalenz- oder Integritätsinteresse berührt ist.22 Allerdings ist die Zuordnung auch nicht überzubewerten.23 Im Zweifel kann auf die Rechtsfolge geschaut werden: erscheint die Fristsetzung als Voraussetzung der Lösung vom Vertrag oder der Übergang zum Schadensersatz statt der Leistung angesichts der konkreten Pflicht unpassend, spricht dies für die Einordnung bei Abs. 2, anderenfalls Abs. 1.24 Einklagbar sind nur solche Nebenpflichten, aus denen ein entsprechender Erfüllungsanspruch entspringt, dies ist etwa bei Aufklärungspflichten nicht der Fall.25 Bei Schutzpflichten ist die Einklagbarkeit die Ausnahme und dürfte nur zu bejahen sein, wenn eine unmittelbare Gefahr für ein Rechtsgut des Gläubigers der Pflicht besteht.26

13 So etwa MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 61. 14 Allgemein anerkannt, vgl. nur BGH v. 15.10.2004 – V ZR 100/04, NJW-RR 2005, 241, 243 = MDR 2005, 382; MünchKomm/Bachmann, § 241 Rz. 83; BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 71 jeweils m.w.N. 15 Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 265 u. 272. 16 Vgl. hierzu Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 ff. 17 Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 277. 18 So treffend formuliert bei Raue, CR 2018, 277, 279. 19 S. dazu Schuster/Hunzinger, CR 2015, 278 f. 20 MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 56. 21 Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 60. 22 S. BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 42 f.; MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 62. 23 MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 63. 24 MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 64. 25 Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 66 ff. 26 S. dazu MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 119 f.

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BGB § 241 Rz. 10 Pflichten aus dem Schuldverhältnis

III. Nebenpflichten im IT-Bereich 10

Grundsätzlich sind Nebenpflichten denkbar als Leistungstreuepflichten, Mitwirkungspflichten, Sicherungspflichten, Aufklärungspflichten, Unterlassungs -und Verschwiegenheitspflichten, Schutzpflichten und nachwirkenden Nebenpflichten.27 Nicht alle Kategorien dieser Nebenpflichten spielen in der IT-Praxis eine häufige Rolle: 1. Vertragliche Nebenpflichten a) Aufklärungs-, Prüfungs- und Hinweispflichten

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Während sich Beratungs- und Aufklärungspflichten,28 etwa des Softwarelieferanten oder -Herstellers ggü. seinem Kunden, i.d.R. eher vorvertraglich ergeben (s. dazu § 311 Rz. 4 ff.),29 sind im IT-Bereich während der Leistungsphase des Vertrages vor allem Prüfungs- und Hinweispflichten möglich. Prüfungspflichten ergeben sich in der IT-Praxis beim Werkvertrag (s. § 631 Rz. 59 f. und § 633 Rz. 14 ff.).

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Die Hinweispflichten sind, wie auch die Aufklärungspflichten, ein Unterfall der Informationspflichten.30 Sie betreffen die Pflicht einer Partei, den anderen Teil unaufgefordert über erkennbar entscheidungserhebliche Umstände zu informieren. Ähnlich wie die vorvertragliche Beratungspflicht beruht sie damit auf dem Gedanken, dass der Schuldner insb. wegen seiner überlegenen Fachkunde zur Information verpflichtet ist, wenn Gefahren für das Leistungs- oder Integritätsinteresse des Gläubigers bestehen, von denen dieser keine Kenntnis hat31 und diese Informationsasymmetrie unbillig ist.32 Die Hinweispflicht kann eine leistungsbezogene Nebenpflicht sein, aber auch Schutzpflicht. In der Gestalt der Information über den sachgemäßen Gebrauch einer Sache liegt ein Leistungsbezug vor, bei einem Hinweis bezüglich einer Gefahr eine Schutzpflicht.33

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In der IT-Praxis können sich Hinweispflichten in vielerlei Kontext ergeben. Das betrifft namentlich Leistungsfähigkeiten, Funktionalitäten und Kapazitäten. Erkennt beispielsweise ein Softwarelieferant, dass die vom Kunden geplante Hardware die Erfordernisse (etwa Rechenleistung oder Speicherplatz) für die Applikation nicht erfüllt34 oder die gewünschte Funktionalität nicht besitzt, muss er entsprechend handeln. Gleiches gilt sinngemäß, wenn ein Anbieter bemerkt, dass der vom Kunden genutzte oder auch im Rahmen des Vertrages angemietete Datenspeicher (für seine Nutzdaten) vollläuft. Bei einem Softwarepflegevertrag ist der Schuldner verpflichtet, seinen Kunden darauf hinzuweisen, wenn Aktualisierungen dazu führen, dass kundenindividuelle Anpassungen der Software durch die Aktualisierung verloren gehen und der Kunde dadurch Funktionen verliert. Bei einem Dauerschuldverhältnis (wie etwa SaaS oder einem Rechenzentrumsvertrag) besteht eine Pflicht des Anbieters, den Kunden über längere Abschaltungen rechtzeitig zu informieren.35 Bei einem Leasingvertrag über eine EDV-Anlage kann der Lieferant auf Grundlage von § 241 Abs. 2 verpflichtet sein, den Leasingnehmer auf die vorgesehene Kündigungsmöglichkeit hinzuweisen.36

27 Dazu auch die Kommentierung bei BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 46 ff. S. im Übrigen die vergleichbaren, etwas anderen Fallgruppen bei MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 55 ff. 28 Die Begrifflichkeiten werden im Einzelnen recht unterschiedlich verwendet: während nach hier vertretener Auffassung die Aufklärung vorvertragliches Verhalten betrifft und entscheidungsrelevante Informationen daher als Hinweispflichten bezeichnet werden, werden an anderer Stelle die vertraglichen Hinweispflichten als Aufklärungspflichten behandelt; so etwa bei MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 121 ff. 29 Zu den vorvertraglichen Beratungspflichten ausführlich Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 ff. 30 S. dazu auch MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 121, 124 ff. 31 BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 77. 32 Vgl. BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 136 f. 33 MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 129. 34 Unklar diesbezüglich Liesching, ITRB 2016, 66. 35 So BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 86 bezüglich der entsprechenden Pflicht eines Stromerzeugers, seinen Abnehmer zu informieren. 36 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 105/12, CR 2013, 637; s. dazu Anm. Elteste, ITRB 2013, 179.

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Pflichten aus dem Schuldverhältnis

Rz. 18 § 241 BGB

b) Mitwirkungspflichten Die Parteien können beide zur Mitwirkung verpflichtet sein, allerdings trifft eine solche Mitwirkungspflicht mehr den Gläubiger der Hauptleistung des Vertrages (etwa beim Werkvertrag gem. § 642, s. § 642 Rz. 4 ff.), wobei die Bewirkung der Leistung grundsätzlich in den Risikobereich des Schuldners fällt und er sich nicht auf Unterstützung des Gläubigers verlassen darf.37 Insoweit dürfen sich aber aus der erforderlichen Mitwirkung für den Gläubiger keine Nachteile und kein erheblicher Aufwand ergeben,38 die Mitwirkung muss also zumutbar sein. Der Schuldner kann über die eigentliche Leistungspflicht als Leistungssicherungspflicht zu zusätzlichen Mitwirkungshandlungen verpflichtet sein, um den tatsächlichen Erfolg der Leistung sicherzustellen.39

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Bei zahlreichen IT-Verträgen stellt die Verschaffung des Zugangs durch den Kunden eine entsprechende Mitwirkungspflicht da, ob dies der physikalische Zugang zu Räumen ist (etwa bei der Installation von Hardware oder dem Aufspielen von Software auf beim Kunden befindliche Hardware) oder der technische Zugang zu Servern40 und anderen Systemen (etwa für die Fernwartung bei Supportverträgen, dem Aufspielen von Software-Aktualisierungen aus der Ferne oder dem Übertragen von Daten bei einer Migration). Auch die Zurverfügungstellung von Räumenist eine klassische Mitwirkungspflicht in diesem Bereich,41 etwa für das Projektoffice bei größeren IT-Projekten, das gleiche gilt sinngemäß für vom Kunden zu stellende Infrastruktur beim Outsourcing.42

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Bei IT-Werkverträgen sind Mitwirkungshandlungen des Bestellers von besonderer Bedeutung, die 16 nach hier vertretener Auffassung auch echte Nebenpflichten im Sinne der Vorschrift darstellen (s. im Einzelnen mit Beispielen § 642 Rz. 4 ff.). Bei Verträgen über Online-Softwarenutzung (etwa SaaS) ist der Nutzer verpflichtet, bei technisch notwendigen Aktualisierungen der Plattform die Nutzung für einen angemessenen Zeitraum einzustellen, soweit hierfür nicht bereits entsprechende Wartungsfenster vertraglich festgelegt sind. Ist der Kunde verpflichtet, Software oder Softwarelizenzen beizustellen, etwa zum Betrieb im Wege des Outsourcings durch einen Anbieter, dürfte auch dies eine Nebenpflicht in Form einer Mitwirkung darstellen. c) Datensicherung Ein Klassiker in der IT-Praxis ist die Frage, inwieweit der Kunde verpflichtet ist, eine Datensicherung vorzunehmen. Dies spielt wegen der denkbaren umfangreichen Folgeschäden bei Zerstörung der Daten auf dem eigentlichen Softwaresystem, namentlich den potentiellen Kosten der Datenwiederherstellung, eine solch wichtige Rolle, dass viele Anbieter in ihren Haftungsklauseln festlegen, dass die Haftung für Datenverlust nur den Ersatz dessen abdeckt, was der Kunde bei einem regelmäßigen Backup verloren hätte. Diese Pflicht dürfte den Kunden selbst in allen Konstellationen treffen, in denen er für den Betrieb der Software verantwortlich ist bzw. der Betrieb in seine Verantwortungssphäre fällt. Darunter fallen insb. Softwarepflegeverträge, bei denen die betreute Software auf Hardware des Kunden läuft, sowie Vereinbarungen über Software-Installationen auf Hardware des Kunden.

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Ungeachtet dessen kann sich die Pflicht zur Datensicherung aber auch als Nebenpflicht des Anbieters 18 ergeben. Dies gilt bei allen Formen der Online-Softwarenutzung, insb. bei professionellen SaaS-Applikationen hinsichtlich der enthaltenen Nutzdaten des Kunden, aber ggf. auch für das Hosten einer Applikation.43 Allerdings wird man dies nicht für alle möglichen Vertragskonstellationen unterstellen 37 38 39 40

MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 88. S. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 88. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 91. S. dazu etwa Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Thalhofer/Zdanowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 91. 41 S. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Redeker, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 16 Rz. 170. 42 Dazu Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Thalhofer/Zdanowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 91. 43 So das LG Duisburg zum Hosten einer Webseite, LG Duisburg v. 25.7.2014 – 22 O 102/12, MMR 2014, 735 = CR 2014, 752; s. dazu Anmerkung Bergt, ITRB 2014, 252. Das Urteil des LG Duisburg bestätigend OLG Düsseldorf („Nebenpflichtverletzung“), OLG Düsseldorf v. 30.12.2014 – 22 U 130/14, CR 2015, 390. I.E. (aber ohne dogmatische Begründung oder gar Anspruchsgrundlage) ebenso OLG Hamburg zum Webhosting, OLG Hamburg v. 11.4.2018 – 8 U 69/16, CR 2018, 594; s. dazu Anm. Seegel, ITRB 2018, 229. Ähnlich wenig juris-

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BGB § 241 Rz. 18 Pflichten aus dem Schuldverhältnis können: trifft den Anbieter lediglich die Pflicht zur Verfügungstellung von Speicherplatz, die der Kunde im Rahmen von IaaS und PaaS44 für eigene Applikationen nutzt (etwa bei Amazon Web Services), so ist es am Kunden, selber ein Backup seiner Software vorzuhalten, auch wenn er die Software zwischendurch aktualisiert. Denn dem reinen Mietvertrag über Speicherplatz eine Erhaltung und Obhutspflicht für fremde Software zu entnehmen, ist bei der reinen Zurverfügungstellung einer Infrastruktur ohne Verantwortung für die Applikation, die die Nutzdaten enthält, schon kaum denkbar und dürfte auch bei einer einfachen Software wie eine Webseite zu weitgehend sein.45 Etwas anderes gilt dann, wenn die vertragliche Leistung weitreichender ist oder weitere Bestandteile enthält und damit der Pflichtenkreis insgesamt weiter zu ziehen ist, beispielsweise bei der zusätzlichen Betreuung der gehosteten Software (Einspielen von Aktualisierungen) oder zugesagter Redundanz der Applikationen. Eine Nebenpflicht in Form einer systemüblichen Datensicherung ist auch dort anzunehmen, wo die Software in nennenswertem Umfang Nutzdaten des Kunden enthält, die der Kunde nicht selbst sichern kann. d) Datenherausgabe 19

Ansprüche des Kunden auf Herausgabe von Daten setzen voraus, dass er Rechte an den Daten besitzt und dem Anbieter keine Rechte an den Daten zustehen. Im Wesentlichen wird ein Zuweisungsgehalt an den Daten nach dem BGB, dem UrhG und dem DSGVO diskutiert.46 Die einzelne dogmatische Begründung ist vorliegend für die Nebenpflichten nur insoweit relevant,47 als dass nach allgemeiner Auffassung die Rechte an den Daten ausschließlich dem Kunden zustehen und nicht dem Anbieter. Dieser dogmatischen Begründung folgend hat das OLG München48 pointiert festgestellt, dass der Kunde als „Herr der Daten“ einzuordnen ist.

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Ist der Kunde somit als „Herr der Daten“ einzuordnen, kann sich die Herausgabe als Nebenpflicht des Vertrages darstellen. Maßgeblich sind dabei die Interessen der Vertragsparteien. Der Kunde hat ein besonders schützenswertes Interesse daran, sowohl während als auch nach Beendigung des Vertrages die Rechte aus seiner Stellung als „Herr seiner Daten“ wahrnehmen zu können. Diesem Interesse wird nur dann ausreichend Rechnung getragen, wenn der Kunde vom Anbieter jederzeit die Herausgabe der Daten verlangen kann. Auf der anderen Seite ist jedoch das Interesse des Anbieters zu berücksichtigen, dem durch ein Herausgabeverlangen stets Kosten für die Bereitstellung der Daten entstehen können. Die Grundlage für den Herausgabeanspruch ist daher jeweils für den Einzelfall zu bestimmen:

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Für die Zeit vor einer Kündigung lässt sich – anders als nach der Beendigung des Vertrages (dazu Rz. 31 ff.) – nach hier vertretener Auffassung keine Herausgabepflicht als Nebenpflicht aus Abs. 2 begründen, da insoweit die Interessen des Anbieters überwiegen, dem eine generelle Bereitstellung und Aufbereitung nicht zugemutet werden kann.49 Das Interesse des Kunden ist auf der anderen Seite nicht derart schützenswert wie bei einer Vertragsbeendigung, da das Fortlaufen der Geschäfte i.d.R. nicht von der Datenherausgabe abhängt. Da der Kunde aber auch während der gesamten Vertragslaufzeit „Herr seiner Daten“ bleiben muss, besteht ohne eine explizite vertragliche Regelung eine „Lücke“, die

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tisch konkret das OLG Hamm zum Mitverschulden an Datenverlust durch einen Werkunternehmer, OLG Hamm v. 1.12.2003 – 13 U 133/03, CR 2004, 654 und das OLG Köln (zur Kontrolle der Datensicherung als Vertragspflicht des Auftragnehmers eines Hard- und Softwarewartungsvertrages), OLG Köln v. 2.2.1996 – 19 U 223/95, CR 1996, 407. S. zu den Unterschieden Schuster/Reichl, CR 2010, 38 f. m.w.N. A.A. das LG Duisburg zum Hosten einer Webseite, LG Duisburg v. 25.7.2014 – 22 O 102/12, MMR 2014, 735 = CR 2014, 752 = ITRB 2014, 252, das aber dabei einige Aspekte übersehen hat, etwa dass Content Management Systeme von Webseiten typischerweise komfortable Back-up-Funktionen für die Nutzer bereitstellen. S. auch Schuster/Hunzinger, CR 2015, 279. Für diese und alle anderen denkbaren Zuweisungsmöglichkeiten, insb. unter dem Aspekt des Geheimnisschutzes nach § 2 Nr. 1 GeschGehG (§ 17 UWG a.F.), Daten als Früchte i.S.d. § 99 und einem Recht des Datenerzeugers sui generis, vgl. den sehr ausf. Beitrag von Zech, CR 2015, 137 ff. sowie die Habil.-Schr. Zech, Information als Schutzgegenstand, S. 63 ff. Zu der Diskussion im Einzelnen, etwa auf Grundlage einer Geschäftsbesorgung oder als Wegnahmerecht aus dem Mietrecht Schuster/Hunzinger, CR 2015, 280 f. m.w.N. OLG München v. 22.4.1999 – 6 U 1657/99, CR 1999, 485. S. dazu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281.

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Pflichten aus dem Schuldverhältnis

Rz. 24 § 241 BGB

im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nach § 242 geschlossen werden muss.50 Der Kunde hat im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung danach jederzeit das Recht, vom Anbieter zu verlangen, dass er ihm die Daten aufbereitet herausgibt.51 Allerdings besteht dann aufseiten des Anbieters die Vertragslücke, dass keine Vergütung hierfür geregelt ist. Der Anbieter kann daher im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung auch eine angemessene Vergütung für die Bereitstellung der Daten verlangen.52 e) Nebenpflichten bzgl. Softwarepflege Einen Problemkreis bildet bei Softwareüberlassungsverträgen (Kauf- und Werkvertrag) das Bestehen 22 oder der Umfang der Pflegepflicht bezüglich einer Software. In der Literatur und Rechtsprechung werden dabei i.d.R. zwei Konstellationen erörtert:53 In der ersten Konstellation haben der Kunde und der Anbieter einen Softwarepflegevertrag geschlossen. Dieser soll aber durch die (ordentliche) Kündigung des Anbieters beendet werden. In der zweiten Konstellation wird nur ein Softwareüberlassungsvertrag geschlossen. Der Kunde möchte später die Softwarepflege durch den Anbieter übernehmen lassen, was dieser aber verweigert. In beiden Konstellationen stellt sich die Frage nach einer Pflicht des Softwareanbieters, Pflegeleistungen für eine gewisse Dauer anzubieten. Diesbezüglich ist zu unterscheiden zwischen einer möglichen Leistungssicherungspflicht im Zusammenhang mit der Software-Überlassung und einer denkbaren Loyalitätspflicht mit Blick auf die Kündigung eines Softwarepflegevertrages: aa) Leistungssicherung bei Softwareüberlassung Mit Blick auf die Leistungssicherungspflicht im Zusammenhang mit der Softwareüberlassung kann 23 sich eine Pflegepflicht als Nebenpflicht i.S.d. § 241 Abs. 2 aus dem Softwareüberlassungsvertrag ergeben. Hat der Kunde ein gesteigertes Interesse an einer langfristigen Softwarepflege, wird er dieses Interesse durch den Abschluss eines langjährigen Pflegevertrages ohne ordentliche Kündigungsmöglichkeit umsetzen. Hat er dies trotz eines entsprechenden Angebotes des Anbieters nicht gemacht, so soll nach einem Teil der Literatur kein Bedürfnis bestehen, einen Abschlusszwang zum Schutz des Kunden zu konstruieren.54 Des Weiteren wird gegen die Annahme einer Pflegepflicht vorgebracht, sie verstoße gegen die Abschlussfreiheit und sei wegen der fehlenden Verschleißmöglichkeiten von Software unnötig.55 Obwohl die Literatur relativ zurückhaltend bei der Annahme einer Pflegepflicht ist, hat die Rspr. in der Vergangenheit häufiger eine solche Pflegepflicht angenommen.56 Die beiden in der Literatur vorgebrachten Argumente gehen am Kern der Problematik vorbei. Denn es geht nicht um den Schutz der Software vor Verschleiß, sondern den Erhalt der Nutzbarkeit der Software und der in die Software getätigten Investitionen.57 Daher ist auch die Frage eines Angebotes des Anbieters für das Eingreifen der Norm nicht relevant. Vielmehr hat hier eine Abwägung zu erfolgen: Die Abschlussfreiheit des Lieferanten muss dann vorgehen, wenn er die Fortentwicklung bzw. Pflege der Software insgesamt eingestellt hat, also auch keinem anderen seiner Kunden anbietet. Bietet er die Pflege aber anderen Kunden an, so ist die Verweigerung ggü. einem weiteren einzelnen Kunden i.d.R. schlicht missbräuchlich und damit nicht schützenswert, zumal er für eine solche Pflege seine übliche (hilfsweise: die marktübliche) Vergütung verlangen kann.58 Hinsichtlich des zweiten Arguments ist zu50 51 52 53 54 55

S. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281. In diese Richtung auch Grützmacher, ITRB 2004, 260, 261. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281. S. dazu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 284 ff. So Bartsch, NJW 2002, 1526, 1530; Kaufmann, CR 2005, 841, 845. Vgl. Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, 32. El. 2013, Nr. 31, Rz. 201 f.; Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Kap. I Rz. 55 ff. 56 Vgl. nur OLG Koblenz v. 27.5.1993 – 5 U 1938/92, NJW 1993, 3144 = CR 1994, 95 m. Anm. Müller-Hengstenberg = CR 1993, 626 m. Anm. Waltl; OLG Köln v. 17.7.1998 – 19 U 9/98, CR 1998, 720; LG Köln v. 16.10.1997 – 83 O 26/97, NJW-RR 1999, 1285 = CR 1999, 218. 57 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 284 ff. So auch Raue, CR 2018, 279 ff. mit Blick auf die vergleichbare Pflicht zur Lieferung von Ersatzteilen bei hochwertigen Sachgütern sowie m.w.N. 58 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 285. I.E. ebenso Raue, CR 2018, 280.

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BGB § 241 Rz. 24 Pflichten aus dem Schuldverhältnis dem zu berücksichtigen, dass Software zwar tatsächlich nicht verschleißen kann, sich aber – ähnlich wie bei Verschleißteilen – Fehler an der Software erst im Laufe ihrer Nutzung zeigen und eine Fehlerbehebung erfordern, um die weitere Nutzbarkeit zu ermöglichen59 25

Insoweit wird man eine entsprechende Leistungssicherungspflicht des Software-Anbieters bei hochpreisiger,60 insb. aber betriebsnotwendiger Software bejahen müssen. Das Bestehen einer solchen Pflicht wird auch nicht durch die Vertragsfreiheit eingeschränkt, vielmehr ist sie typische Folge einer freiwilligen vertraglichen Bindung und die übliche ausdrückliche Vereinbarung von Pflegeleistungen ist gerade eher ein Indiz dafür, dass eine nachsorgende Aktualisierungspflicht interessengerecht ist.61 Soweit der Software-Anbieter diese Nebenpflicht vermeiden möchte, etwa weil er ihr aus betrieblichen Gründen nicht nachkommen kann, muss er dies im Rahmen des AGB-Rechts mit dem Kunden vereinbaren.62 Nur diese Lösung entspricht der typischen Interessenlage redlicher Parteien, zumal der Softwareanbieter i.d.R. schon aus urheberrechtlichen Gründen der einzige ist, der solche Aktualisierungen vornehmen kann.63 Selbst wenn man der hier vertretenen Auffassung nicht folgen will, dann wird man eine Pflegepflicht aus § 241 Abs. 2 zumindest für die Fehlerbeseitigung, abseits von Weiterentwicklungen der Software, ableiten müssen.64

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Die Dauer dieser Leistungssicherungspflicht des Software-Anbieters ist weitgehend ungeklärt. Der Beginn kann jedenfalls frühestens mit der Übergabe bzw. Abnahme der Software sein.65 Bezüglich des Endes der Pflicht besteht ein Ansatz darin, den Lebenszyklus der Software als Maßstab für die Mindestdauer einer Pflegepflicht heranzuziehen.66 Gemeint ist hiermit der Zeitraum zwischen dem Beginn und dem Ende des Verkaufs der Software auf dem Markt. Abzugrenzen ist der Lebenszyklus insb. von der Nutzungsdauer, d.h. dem Zeitraum der durchschnittlichen Nutzung beim Kunden. Für den Lebenszyklus wird dabei häufig eine Dauer von fünf Jahren angenommen.67

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Allerdings ist der Lebenszyklus einer Software kein wirklich taugliches Kriterium für die Bestimmung einer Mindestpflegedauer. Denn der Lebenszyklus ist bei jeder Software anders und damit kein einheitlicher Zeitraum feststellbar. Zudem wäre dadurch der letzte Käufer „der Dumme“, weil er nicht mehr in den „Genuss“ einer Pflegepflicht käme.68 Dem Problem wollte das LG Köln dadurch abhelfen, indem es neben einem Lebenszyklus von fünf Jahren noch eine Nutzungsdauer von (ggf. weiteren) fünf Jahren zugrunde legte.69 Dies verdeutlicht i.E., dass der Lebenszyklus kein taugliches Kriterium für eine generelle Pflegemindestdauer sein kann.70

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Richtig war aber der Ansatz des LG Köln, auf die Nutzungsdauer abzustellen. Allerdings ist auch dieser Zeitraum der durchschnittlichen Nutzung beim Kunden je nach Art der Software sehr unterschiedlich. Daher ist auch die Festlegung einer festen Mindestdauer für eine Pflegepflicht nicht möglich und die Rspr. des OLG Koblenz71 abzulehnen, die eine Pflegepflicht von „etwa fünf Jahren ab Nutzungsbeginn“ angenommen hat. Vielmehr ist die Dauer einer etwaigen Pflegepflicht für die jeweilige Software im Einzelfall anhand der jeweiligen Nutzungsdauer zu ermitteln, wofür im Prozess ggf. auch ein Sachverständigengutachten erstellt werden muss.72 Ein anderer, allerdings auf der gleichen 59 60 61 62 63 64

65 66 67 68 69 70 71 72

So auch Schuster/Hunzinger, CR 2015, 284 ff. So Raue, CR 2018, 280. Raue, CR 2018, 280. So auch Raue, CR 2018, 280 sowie zu den AGB-Fragen dann S. 283 f. S. dazu Raue, CR 2018, 278 und 280. Ähnlich Fritzemeyer/Splittgerber, CR 2007, 209, 213 und wohl auch Raue, CR 2018, 280 f.; a.A. Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Kap. I Rz. 53 ff. Eine darüberhinausgehende Pflegepflicht lehnen auch ab: Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 416; Kilian/ Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, 32. El. 2013, Nr. 31, Rz. 201 f. Ähnlich Raue, CR 2018, 282. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 285 f. Dazu auch Raue, CR 2018, 282 f. Kritisch insoweit Jaeger, CR 1999, 209, 211 f. m.w.N. So bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 285. LG Köln v. 16.10.1997 – 83 O 26/97, NJW-RR 1999, 1286. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 285. I.E. ebenso Raue, CR 2018, 282 f. OLG Koblenz v. 12.1.2005 – 1 U 1009/04, CR 2005, 483 = ITRB 2005, 152. Kaufmann, CR 2005, 841, 844. Zu den denkbaren Argumenten für kürzere und längere Laufzeiten Raue, CR 2018, 283.

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Pflichten aus dem Schuldverhältnis

Rz. 32 § 241 BGB

dogmatischen Grundlage beruhender Aspekt ist die Leistungssicherungspflicht als nachvertragliche Pflicht eines Softwarepflegevertrages, für die das Vorstehende sinngemäß zu gelten hat. bb) Loyalitätspflicht und Kündigung Eine Konkretisierung der als Nebenpflichten anerkannten Treuepflichten ist die Loyalitätspflicht, wo- 29 nach jeder Schuldner verpflichtet ist, das Schuldverhältnis gem. Treu und Glauben abzuwickeln und im zumutbaren Rahmen auf die Interessen der anderen Partei Rücksicht zu nehmen.73 Dazu gehört namentlich auch die Kündigung bei Dauerschuldverhältnissen, die dann treuwidrig sein kann, wenn der Kündigende dabei schutzwürdige Belange der Gegenseite74 grob verletzt. Dies spielt bei anlasslosen Kündigungen von Softwarepflegeverträgen eine Rolle, wenn diese aus nicht anzuerkennenden Gründen ausgesprochen werden, etwa weil der Anbieter den Kunden loswerden möchte oder andere subjektive Gründe vorliegen und der Kunde keine Alternative besitzt. In diesem Fall wird aufgrund des (kartellrechtlichen) Lock-In-Effekts seine Investitionen in die Software im Regelfall wertlos, weil diese nicht mehr gepflegt wird. Eine solche Kündigung stellt sich als treuwidrig und damit als Verstoß gegen die Nebenpflicht dar, 30 wenn der Anbieter die Pflege noch am Markt ggü. anderen Kunden zu gleichen Konditionen, die der zu kündigende Kunde zu zahlen bereit ist, anbietet. Hier kann man auch über eine entsprechende nachvertragliche (leistungssichernde) Pflicht zur Pflege nachdenken, wobei im Einzelfall etwas anderes dann gelten kann, wenn der Anbieter etwa objektiv gerechtfertigte Gründe hat, etwa weil er die Pflege dieses Produkts einstellen möchte (dazu Rz. 21 ff.). f) Schutz- und Obhutspflichten Schutz-, Fürsorge- und Obhutspflichten verpflichten die Parteien, sich bei Durchführung des Schuldverhältnisses so zu verhalten, dass Rechtsgüter der anderen Parteien nicht verletzt werden.75 Während sich diese Pflichten im IT-Bereich bezüglich Körper und Leben selten ausprägen, sind Einflüsse auf Eigentum und Vermögen durchaus denkbar. Insoweit umfassen die Schutzpflichten im IT-Bereich grundsätzlich alle Handlungen, die erforderlich sind, die Systeme (Software und Hardware) sowie Daten des Vertragspartners und deren Integrität nicht zu gefährden. Eine solche Pflicht ergibt sich etwa als Obhutspflicht des Mietvertrages bei der Nutzung von Online-Applikationen, etwa durch ordnungsgemäßen Umgang mit den Login-Daten oder die Vermeidung des Übertragens von Schadprogrammen. Gleiches gilt bezüglich der Verwendung von Open Source Software, die aufgrund eines Copyleft-Effektes76 die Software des Vertragspartners „infiziert“.

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2. Nachvertragliche Nebenpflichten Nachvertragliche Nebenpflichten folgen aus Abs. 2. Zeitlich erfasst die Vorschrift sowohl das Stadium 32 der eigentlichen Vertragsabwicklung als auch die Zeit nach Erfüllung der Hauptpflichten, das letztere sind Pflichten, die gerade nicht ausdrücklich vereinbart worden sind, sondern sich durch Auslegung nach §§ 157, 242 ergeben.77 Dazu gehört insb. das Verbot, dem Gläubiger die durch den Vertrag gewährten Vorteile zu entziehen und die Pflicht, alles zu unterlassen, was den Vertragszweck (im Nachhinein) gefährden oder vereiteln könnte.78 Hiervon sind sogenannten Vertragsfortwirkungen zu unterscheiden, die Abreden der Parteien betreffen, die diese für die Zeit nach Erfüllung der Vertragspflichten oder nach Ende eines Dauerschuldverhältnisses festgelegt haben (etwa Vertraulichkeitspflicht oder Wettbewerbsabreden).79

73 74 75 76 77 78 79

MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 101. S. dazu MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 103 f. BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 89. S. dazu Jaeger/Metzger, S. 26 ff. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 f. BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 99; BGH v. 29.9.1989 – V ZR 198/87, NJW 1990, 508. BeckOK BGB/Sutschet, § 241 Rz. 100.

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BGB § 241 Rz. 33 Pflichten aus dem Schuldverhältnis a) Datenherausgabe nach Vertragsende 33

Ein häufig in der IT-Praxis vorkommender Fall, gewissermaßen ein Unterfall der Migrationsunterstützung (dazu Rz. 41 ff.), ist die Datenherausgabe nach Vertragsende, etwa auch bei einem ASP-, Cloud- oder Software-as-a-Service-Vertrag.80 aa) Grundlagen der Herausgabepflicht

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Das Thema der Datenherausgabe bei Vertragsende stellt sich anders dar, als ein Anspruch während des laufenden Vertrages (dazu Rz. 19 ff.) Wurde der Vertrag gekündigt und ist das Vertragsende damit absehbar, besteht eine Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2, die Daten an den Kunden herauszugeben. Es handelt sich insoweit um eine Leistungssicherungspflicht des Anbieters, dem Kunden die Daten – auf die dieser zwingend bei Beendigung des Vertrages angewiesen ist – für eine Weiternutzung zur Verfügung zu stellen. Diese Herausgabepflicht ist auch nicht vergütungspflichtig, weil Nebenpflichten nicht zusätzlich gefordert werden, sondern ohnehin geschuldet und damit bereits durch die Vergütung der Hauptleistungspflichten abgegolten sind.81 bb) Umfang der Herausgabepflicht

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Neben dem grundsätzlichen Anspruch kann auch der Umfang der Herausgabepflicht, namentlich die Ausgestaltung in Form des Formates fraglich sein. Nicht selten wird der Anbieter ein proprietäres Dateiformat verwenden, das nur von dessen spezieller Software ausgelesen werden kann. Oder er verwendet einen freien Standard, für den der Kunde aber nicht über die passende Software verfügt.82

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Auf Grundlage der bei Vertragsbeendigung bestehenden Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 kann der Kunde im Regelfall aber lediglich die Bereitstellung in dem Format verlangen, dass dem Anbieter selbst ohne größeren Aufwand zur Verfügung steht. Er wird sich daher mit dem proprietären Dateiformat oder demjenigen Dateiformat begnügen müssen, dass der Anbieter ohne weiteres erstellen kann. Denn damit kommt der Anbieter seiner Leistungssicherungspflicht nach, also der Erhaltung des Leistungserfolges in Form der Daten.

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Der Anbieter ist hinsichtlich des Dateiformats also verpflichtet, dem Kunden die durch die integrierte Exportfunktion seiner Software möglichen Dateiformate zur Verfügung zu stellen. Die meisten Programme werden es ohne größeren Arbeitsaufwand daher zumindest ermöglichen, die Datenstruktur im CSV83- oder XML84-Format oder im EDI85-Standard bereitzustellen.86 Denn die Mehrzahl der Programme hat bereits einen Export in eine dieser plattform- und implementationsunabhängigen Dateiformate integriert. Eine Pflicht zur Bereitstellung in einem bestimmten Dateiformat kann sich im Einzelfall auch daraus ergeben, dass der Normgeber zur Nutzung eines bestimmten Dateiformats verpflichtet hat und der Anbieter bei Nutzung eines anderen Standards contra legem handeln würde.87

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Gleiches gilt auch für die Bereitstellung von Schnittstellen. Soweit die Software des Anbieters bereits eine Schnittstelle zum Datenzugriff integriert hat, die auch eine Begrenzung auf einzelne Kunden ohne größeren Zeitaufwand zulässt, ist diese dem Kunden zur Verfügung zu stellen. Häufig wird daher

80 Zu den Begriffen und ggf. Unterschieden Schuster/Reichl, CR 2010, 38 ff. 81 Deutlicher wird die Abgrenzung auch bei einem Vergleich mit § 2 Abs. 6 VOB/B im privaten Baurecht, wonach nur solche Leistungen vergütungspflichtig sind, die „zusätzlich“, also neben den Nebenpflichten gefordert werden, vgl. Messerschmidt/Voit, Privates Baurecht, § 2 VOB/B Rz. 20. 82 S. dazu im Einzelnen Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281 f. 83 Abk. für Comma-separated Values, bei dem Datenfelder i.d.R. durch ein Komma voneinander getrennt werden; vgl. zu Vor- und Nachteilen des CSV-Formats beim Umzug von Postfächern Berger, c’t 2014, 96, 97. 84 Abk. für Extensible Markup Language, bei dem die einzelnen Einheiten der Datenstruktur in sog. Elemente eingeordnet werden; vgl. zum XML-Format bei Office-Dokumenten Schüler, c’t 2009, 154 ff. 85 Abk. für Electronic Data Interchange, als Oberbegriff für verschiedene Datenstrukturstandards bei Geschäftsdaten; vgl. hierzu ausführlich Harter, CR 1991, 430 ff. 86 Vgl. Hoppen, CR 2008, 674, 676 f. 87 Vgl. bspw. zur verpflichtenden Nutzung des EDI-Standards bei Energieversorgungsunternehmen BGH v. 29.4.2008 – KVR 20/07.

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Pflichten aus dem Schuldverhältnis

Rz. 42 § 241 BGB

eine WebDAV88-Schnittstelle zur Verfügung zu stellen sein, die in den meisten Webservern und Dateimanagern standardmäßig implementiert ist. Soweit das Programm des Anbieters keinen Export in einen offenen Standard unterstützt oder keine 39 Schnittstellen dafür vorgesehen hat, können die Rücksichtnahme- und Schutzpflichten aus § 241 Abs. 2 nicht soweit ausgedehnt werden, dass der Anbieter zu umfangreichen und mitunter kostenintensiven Konvertierungen oder zur Schaffung von Datenschnittstellen auf eigene Kosten verpflichtet wird.89 Viele Software-Anwendungen kennen keine Format-Standards oder integrierte Schnittstellen, sondern setzen auf ein rein proprietäres System. In diesen Fällen hat der Kunde über die Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 auch keinen Anspruch auf (manuelle) Konvertierung oder Schaffung einer Schnittstelle. Dennoch wird man dem Interesse des Kunden an einer Nutzung seiner Daten in einem neuen Ziel- 40 system Rechnung tragen müssen. Nach hier vertretener Auffassung hat er daher das Recht, die ggf. zeitintensive Konvertierung in ein anderes Dateiformat oder die Schaffung einer entsprechenden Schnittstelle über die Herausgabepflicht nach der ergänzenden Vertragsauslegung (§ 242) zu verlangen.90 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Ausgangsformat in diesen Fallgestaltungen um ein proprietäres Format des Anbieters handelt, so dass dieser ggf. der einzige, jedenfalls im Regelfall derjenige ist, der die Konvertierung (am besten) durchführen kann. Für diese Arbeiten ist der Kunde dem Anbieter dann aber auch zur Zahlung einer angemessenen Vergütung für die Arbeiten verpflichtet. Allerdings wird auch diese Pflicht ihre Grenzen in den vorgenannten neutralen Datenformaten,91 wie z.B. CSV oder XML, finden. Dem Anbieter kann es nicht zugemutet werden, eine Konvertierung in ein proprietäres Dateiformat eines Drittanbieters vorzunehmen.92 Ebenso wird vom Anbieter nicht verlangt werden können, eine auf einen Drittanbieter abgestimmte, proprietäre Schnittstelle zu schaffen. Das Urheberrecht wird dem zwar wohl nicht entgegenstehen.93 In beiden Fällen wird es dem Anbieter aber i.d.R. an dem Wissen über die Spezifikationen und die Datenstruktur fehlen und die Aneignung dieses Wissens nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich sein. Der Unterschied zur auf § 241 Abs. 2 gestützten Datenherausgabe besteht also im Wesentlichen darin, dass die Bereitstellung offener Dateiformate und Schnittstellen auch dann – gegen Vergütung – auf Grundlage von § 242 gefordert werden kann, wenn die bisherige Software eine solche Möglichkeit standardmäßig nicht anbietet.

41

b) Migrationsunterstützung beim IT-Verträgen Ein klassischer Fall von nachvertraglichen IT-Pflichten, die häufig genug nicht ausdrücklich im Vertrag 42 vereinbart werden, ist die Migrationsunterstützung am (Laufzeit-)Ende eines Vertrages, bei dem Hardware, Software, Dienstleistungen oder Daten von dem alten Anbieter auf einen neuen oder zurück zum Kunden migriert werden müssen. Besonders häufig ist das bei Outsourcing-Verträgen, aber auch denkbar z.B. bei Hosting-, Rechenzentrums- und SaaS-Verträgen. Das Wort Migration (auch: Transition) beschreibt die Überführung dieser Daten und/oder Geschäftsprozesse von einer Systemumgebung in eine andere Systemumgebung.94 Eine solche Migration kann auch eine werkvertragliche Leistung sein (s. dazu § 631 Rz. 104 ff.). Die Frage, ob es sich um ein Insourcing (zurück an den Kunden) oder um ein Second Generation Outsourcing (auf einen neuen Anbieter) handelt, spielt keine Rolle, da dies

88 Abk. für Web-based Distributed Authoring and Versioning, wodurch ein standardisierter Dateizugriff über das Internet ermöglicht wird. 89 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281 f. 90 S. dazu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281 f. 91 So die Bezeichnung von Hoppen, CR 2008, 674, 677. 92 Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 281 f. 93 Vgl. hierzu EuGH v. 2.5.2012 – C-406/10, ECLI:EU:C:2012:259, CR 2012, 429 m. Anm. Heymann = ITRB 2012, 147. 94 Kremer/Kamm, ITRB 2013, 264; Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277 f. Ausführlich hierzu auch Auer-Reinsdorff/ Conrad/Thalhofer/Zdanowiecki, Beck’sches Mandatshandbuch IT-Recht, § 19 Rz. 174 ff.

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387

BGB § 241 Rz. 42 Pflichten aus dem Schuldverhältnis den Pflichtenkreis nicht berührt und die Entscheidung auch zum relevanten Zeitpunkt, nämlich dem früheren Vertragsschluss, ohnehin i.d.R. nicht getroffen ist.95 43

Zieht man die abstrakten Prüfungspunkte (s. dazu Rz. 7) für eine leistungssichernde Nebenpflicht heran, so ist bei einem solchen IT-Vertrag festzustellen, dass etwa für den alten Outsourcinganbieter das Problem und Risiko des Endes des Outsourcings erkennbar ist (1), er die Möglichkeit hat, durch seine Zusammenarbeit mit dem neuen Outsourcinganbieter oder dem Kunden den Eintritt von Verzögerungen und Schäden bei der Migration zu verhindern (2) und i.d.R. keine vertraglichen Regelungen zur Migrationsunterstützung bestehen, die der Annahme einer nachvertraglichen Leistungssicherungspflicht entgegenstehen (3). Zudem muss es – wie bereits Lutz/Weigl96 festgehalten haben – unstreitig zu den nachvertraglichen Pflichten des bisherigen Outsourcinganbieters gehören, die Reintegration beim Kunden zu ermöglichen. Dann besteht aber auch kein Grund, den alten Outsourcinganbieter nicht auch zur Zusammenarbeit mit einem Dritten zu verpflichten, so dass auch die Interessenabwägung (4) zugunsten einer aktiven Leistungssicherungspflicht ausfällt.97

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Der Umfang dieser Nebenpflicht ergibt sich aus den (zu Ende gehenden) vertraglichen Leistungspflichten und der Frage, was zu migrieren ist, um die betriebliche Lösung für den Kunden im erforderlichen und angemessenen Maß aufrecht zu erhalten. Dies kann sowohl umfangreiche Herausgabepflichten, als auch die Gewährung von Zugang zu den IT-Systemen betreffen. Soweit es sich aber um einen darüberhinausgehenden Mehraufwand handelt, also z.B. die Koordinierung oder Konzepterstellung mit dem neuen Anbieter, muss dieser entweder durch den Kunden selbst erbracht oder eine (vergütungspflichtige) Zusatzvereinbarung mit dem alten Outsourcinganbieter getroffen werden.98 Zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch ohne nähere Begründung, ist auch das OLG München gekommen. Danach ergibt sich aus den Vertragsbeziehungen für den Anbieter die Pflicht, „für den Fall der Beendigung […] einen reibungslosen Übergang auf ein Fremdsystem zu ermöglichen“.99 c) Geheimhaltungs- und Verschwiegenheitspflichten

45

Neben der Frage, ob Informationen und Kenntnisse aus oder im Zusammenhang mit einem Vertragsverhältnis dem GeschGehG unterfallen, können sich Vertraulichkeitspflichten auch aus nachvertraglichen Nebenpflichten ergeben. Dabei ist zu bedenken, dass gerade in Zeiten der heutigen Informationsgesellschaft Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse eine überragende Bedeutung haben, da sie nicht selten zu den wichtigsten Vermögenswerten eines Unternehmens gehören.100 Soweit keine gesetzliche Geheimhaltungspflicht besteht101 und die Parteien auch keine vertraglichen Geheimhaltungsklauseln geschlossen haben,102 ist der Umfang der Geheimhaltungs- und Verschwiegenheitspflichten nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Als Prüfungsmaßstab kann gelten: Eine Geheimhaltungspflicht kann dann angenommen werden, wenn einer Partei ein besonderes Wissen zu Teil wurde, mit dem sie Umstände der anderen Partei beeinflussen kann und im Rahmen einer Interessenabwägung die Gefährdung der Rechtsgüter einer Partei die Einschränkung der anderen Partei überwiegt und eine Geheimhaltung damit zumutbar macht.103 Dies ergibt sich aus der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die schutzwürdigen Interessen des jeweils anderen Vertragspartners, soweit aus den Umständen des Einzelfalles der Wille nach bzw. der Bedarf an zur vertraulichen Behandlung übermittelten Informationen

95 96 97 98 99

100 101 102 103

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S. zur Diskussion aber Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277 f. Lutz/Weigl, CR 2014, 629, 630. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 278. Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 278. So OLG München v. 22.4.1999 – 6 U 1657/99, CR 1999, 485, aber unter Bezugnahme auf § 242, was vermutlich daran liegen wird, dass § 241 Abs. 2 zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte und Nebenpflichten generell auf § 242 gestützt wurden (s. hierzu Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 ff.). Vgl. ferner auch Schumacher, CR 2006, 229, 234, der sich scheinbar auch dieser Auffassung anschließen will, aber darauf hinweist, dass eine vertragliche Regelung sinnvoll ist, um Streitigkeiten vorzubeugen. Conrad/Grützmacher/Gennen, § 13 Rz. 1. Für eine Aufzählung und Besprechung sämtlicher gesetzlicher Geheimhaltungsvorschriften vgl. Conrad/ Grützmacher/Gennen, § 13 Rz. 12 ff. Vgl. hierzu ausf. Conrad/Grützmacher/Gennen, § 13 Rz. 12 ff. Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 523 i.V.m. 495 ff.

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§ 249 BGB

Art und Umfang des Schadensersatzes

folgt.104 Dies führt allerdings nach der Vorschrift nicht dazu, dass sich eine Geheimhaltungspflicht in Form einer Verschlüsselungspflicht für E-Mails ergibt.105 Die Geheimhaltungspflicht kann aber im Einzelfall so weit gehen, dass sich jede Datenverwendung abseits des Vertragszwecks als Verletzung der Geheimhaltungspflicht darstellt.106

§ 249 Art und Umfang des Schadensersatzes (1) Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. (2) Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. Bei der Beschädigung einer Sache schließt der nach Satz 1 erforderliche Geldbetrag die Umsatzsteuer nur mit ein, wenn und soweit sie tatsächlich angefallen ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktion und Systematik der §§ 249 ff. . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatzverpflichtung (§ 249 Abs. 1) . Verletzung einer Person (§ 249 Abs. 2) . . . . Beschädigung einer Sache (§ 249 Abs. 2) . . . a) Beschädigung von Sachen durch IT-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschädigung von IT-Systemen . . . . . . . aa) Beschädigung und Zerstörung von Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sachqualität von Daten und Software . cc) Analoge Anwendung von § 249 Abs. 2 Satz 1 auf Beschädigung oder Vernichtung von Daten oder Software . . . . . (1) Voraussetzungen für eine analoge Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vermögenswert . . . . . . . . . . . . . . (3) Löschung und Wiederherstellung von Dateien . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Software . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 9 11 11 13 19 19 25 25 26 29 30 31 34 41 42

(1) Beim Anwender . . . . . . . . . . . . . (2) Beim Anbieter . . . . . . . . . . . . . ff) Adäquanz, haftungsausfüllende Kausalität und Schutzzweck der Norm . . c) Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kosten der Ersatzbeschaffung . . . . . . . b) Abzug neu für alt . . . . . . . . . . . . . . aa) Hardware . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Software . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gebrauchsvorteile . . . . . . . . . . . . . . d) Verfügbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechenzentrumsleistungen, Hosting . bb) ASP, SaaS, Cloud Computing . . . . . e) Eigener Aufwand . . . . . . . . . . . . . . f) Umsatzsteuer (§ 249 Abs. 2 Satz 2) . . . . III. 1. 2. 3. IV.

Abdingbarkeit . . . . . . . . . Kein zwingendes Recht . . . AGB-Recht . . . . . . . . . . . Typische Ausschlussklauseln Einzelfälle und -fragen . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. 43 . 48 . . . . . . . . . . . . .

54 55 59 60 61 62 65 67 71 73 76 78 82

. . . . .

83 83 85 88 93

Literatur: Backmann, Gesundheits-Apps im Durchbruch – Regulatorische und haftungsrechtliche Aspekte zu „mobile Health“, MPR 2011, 73; Gärtner, Die Rolle von Betriebssystemen im Konformitätsbewertungsprozess, MPR 2014, 187; Heussen, Rechtliche Verantwortungsebenen und dingliche Verfügungen bei der Überlassung von Open Source Software, MMR 2004, 445; Heydn, Identitätskrise eines Wirtschaftsguts: Software im Spannungsfeld zwischen Schuldrecht und Urheberrecht, CR 2010, 765; Heydn, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 11.12.2014 – I ZR 8/13 – UsedSoft III, MMR 2015, 535; Irmer, Medizinprodukterechtliche Einordnung von Software, Updates & Upgrades,

104 S. dazu Roth, ITRB 2011, 116. 105 A.A. Klett/Lee, Vertraulichkeit des E-Mailverkehrs, CR 2008, 644, 645; gegen eine solche dem Vertragsverhältnis nicht zu entnehmende Pflicht spricht aber, dass im Rahmen der E-Mail-Transportverschlüsselung die E-Mails allenfalls auf dem Server des Providers unverschlüsselt zugänglich wären, der seinerseits aber nach dem Telekommunikationsgeheimnis verpflichtet ist, was eine strafrechtlich bewehrte und damit im Rahmen des vertraglichen Pflichtenkreises einen ausreichenden Schutz der Vertraulichkeit darstellt. 106 Stancke, Grundlagen des Unternehmensdatenschutzrechts – gesetzlicher und vertraglicher Schutz unternehmensbezogener Daten im privaten Wirtschaftsverkehr, BB 2013, 1418, 1424.

Schuster und Heydn

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BGB § 249 Rz. 1 Art und Umfang des Schadensersatzes MPR 2013, 145; Jaeger/Metzger, Open Source Software – Rechtliche Rahmenbedingungen der Freien Software, 3. Aufl. 2011; Junker, Die Entwicklung des Computerrechts in den Jahren 1991 und 1992, NJW 1993, 824; König, Die Qualifizierung von Computerprogrammen als Sachen iS des § 90 BGB, NJW 1989, 2604; König, Software (Computerprogramme) als Sache und deren Erwerb als Sachkauf, NJW 1993, 3121; Marly, Die Qualifizierung der Computerprogramme als Sache nach § 90 BGB, BB 1991, 432; Meier/Wehlau, Die zivilrechtliche Haftung für Datenlöschung, Datenverlust und Datenzerstörung, NJW 1998, 1585; Müller-Hengstenberg, Computersoftware ist keine Sache, NJW 1994, 3128; Müller-Hengstenberg/Kirn, Vertragscharakter des Application Service Providing-Vertrags, NJW 2007, 2370; Oen, Software als Medizinprodukt, MPR 2009, 55; Parnas, Software Aging, in International Conference on Software Engineering, IEEE Computer Society Press, 1994; Redeker, Wer ist Eigentümer von Goethes Werther?, NJW 1992, 1739; Redeker, Software – ein besonderes Gut, NJOZ 2008, 2917; Reese, Produkthaftung und Produzentenhaftung für Hard- und Software, DStR 1994, 1121; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Spindler, Rechtsfragen bei Open Source, 2004; Stögmüller, Anmerkung zu OLG München, Urt. v. 3.8.2006 – 6 U 1818/06, MMR 2006, 749; Weimer, Medizinproduktehaftung – Straf- und zivilrechtliche Haftung der Anwender und Betreiber von Medizinprodukten – Teil 4, MPR 2008, 6; Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Stand März 2015.

I. Allgemeines 1. Funktion und Systematik der §§ 249 ff. 1

Die §§ 249 ff. enthalten keine Anspruchsgrundlagen, sondern sie setzen das Bestehen einer Anspruchsgrundlage voraus, die als Rechtsfolge die Verpflichtung zum Schadensersatz anordnet. Die Anspruchsgrundlage kann vertraglicher oder gesetzlicher Natur sein; in Betracht kommen insbesondere Schadensersatzansprüche aus Vertrag, unerlaubter Handlung oder Gefährdungshaftung wie z.B. Produkthaftung. Anknüpfend an die jeweilige Anspruchsgrundlage regeln die §§ 249 ff. die Rechtsfolgen von Schadensersatzansprüchen.

2

Zweck des in den §§ 249 ff. verankerten Schadensersatzrechts ist der Ausgleich erlittener Nachteile (Ausgleichsfunktion), grundsätzlich nicht jedoch eine Bestrafung des Schädigers1 und auch nicht eine Prävention schädigenden Verhaltens;2 ein etwaiger präventiver Nebeneffekt ist allenfalls eine nützliche Folge der Kompensation.3 Der Geschädigte soll durch die Schadensersatzleistung nicht besser gestellt werden als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Strafschadensersatz wie etwa in den USA (punitive damages) gibt es im deutschen Recht nicht; soweit US-amerikanische Urteile Strafschadensersatz zusprechen, ist deren Vollstreckung in Deutschland wegen Verstoßes gegen den ordre public (§ 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) nicht möglich.4

3

Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen bildet die sog. GEMA-Rspr. des I. Zivilsenats des BGH, nach welcher die GEMA berechtigt ist, für ungenehmigte öffentliche Musikwiedergaben den doppelten Tarifbetrag als Schadensersatz i.R.d. Schadensberechnung gem. § 97 Abs. 2 Satz 3 UrhG (Lizenzanalogie) zu verlangen.5 Diese Rspr. hat jedoch Ausnahmecharakter und wird mit der besonderen Verletzlichkeit musikalischer Urheberrechte, der erschwerten Nachweisbarkeit derartiger Urheberrechtsverletzungen an entlegensten Orten in Hotels, Gaststätten, Barbetrieben usw. und den daraus folgenden hohen Überwachungskosten der GEMA sowie damit begründet, dass die Höhe der vom Verletzer zu zahlenden Lizenzgebühr nicht mit der Tarifgebühr für erlaubte Wiedergaben übereinzustimmen braucht, um einen Anreiz für die Einholung der Erlaubnis zu schaffen.6 Diese Rspr. ist nicht auf andere urheberrechtliche Rechtsverletzungen wie etwa ungenehmigte Vervielfältigung und Verbreitung von Musikwerken7 oder Software und erst recht nicht auf andere Fallgestaltungen außerhalb des Urheberrechts anwendbar.

1 2 3 4 5

MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 8; Erman/Ebert, Vor § 249 BGB Rz. 1. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 9; Erman/Ebert, Vor § 249 BGB Rz. 1. So ausdrücklich BGH v. 28.6.2011 – KZR 75/10, NJW 2012, 928, 933 zum Kartellschadensersatz. BGH v. 4.6.1992 – IX ZR 149/91, NJW 1992, 3096, 3103 = CR 1993, 274. BGH v. 12.2.2015 – I ZR 204/13, GRUR 2015, 987, 989 – Trassenfieber; BGH v. 22.1.1986 – I ZR 194/83, GRUR 1986, 376, 380 – Filmmusik; BGH v. 10.3.1972 – I ZR 160/70, GRUR 1973, 379 – Doppelte Tarifgebühr. 6 BGH v. 10.3.1972 – I ZR 160/70, GRUR 1973, 379, 381 – Doppelte Tarifgebühr. 7 BGH v. 22.1.1986 – I ZR 194/83, GRUR 1986, 376, 380 – Filmmusik.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 9 § 249 BGB

Zu den besonderen Methoden der Schadensberechnung im Urheberrecht gem. § 97 Abs. 2 UrhG s. im Übrigen dort.

4

Bei der Systematik der §§ 249 ff. ist zwischen dem (primären) Anspruch auf Herstellung i.S.v. § 249 (Naturalrestitution) und den (sekundären) Kompensationsansprüchen gem. §§ 250, 251 zu unterscheiden. Im Rahmen des Anspruchs auf Herstellung (§ 249) hat der Geschädigte, wenn die Voraussetzungen des § 249 Abs. 2 Satz 1 vorliegen (Verletzung einer Person oder Beschädigung einer Sache), ein Wahlrecht, ob er die Vornahme der Naturalrestitution vom Schädiger verlangt (§ 249 Abs. 1) oder diese selbst vornimmt oder vornehmen lässt und vom Schädiger Ersatz der Kosten verlangt (§ 249 Abs. 2 Satz 1).8

5

Bei der Beschädigung von Sachen ist zunächst zu fragen, ob eine Wiederherstellung (i.S.v. Reparatur) möglich ist. Ist eine Wiederherstellung nicht möglich, weil der Schaden irreparabel ist (Totalschaden), so ist zu fragen, ob eine Herstellung durch Beschaffung einer gleichartigen und gleichwertigen Sache möglich ist (Ersatzbeschaffung).9 Ist dies der Fall, besteht ein Anspruch auf Herstellung gem. § 249. Ist dies nicht der Fall, besteht nur ein Anspruch auf Ersatz der durch die Zerstörung eingetretenen Vermögenseinbuße in Geld gem. § 251 Abs. 1 Alt. 1.10 Aus dem Wortlaut „soweit“ in § 251 Abs. 1 Alt. 1 folgt, dass derselbe Sachverhalt herstellbare und nicht herstellbare Schäden auslösen kann.11

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Nur wenn eine Herstellung möglich ist, kommen die sekundären Kompensationsansprüche gem. 7 § 250 (nach fruchtloser Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung) oder § 251 Abs. 2 (Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich) in Betracht. Sowohl die Unmöglichkeit gem. § 251 Abs. 1 Alt. 1 als auch die Unverhältnismäßigkeit der Herstellung gem. § 251 Abs. 2 sind Einwendungen des Schädigers, weshalb der Schädiger für das Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen die Darlegungs- und Beweislast trägt.12 Im Rahmen der Herstellung gem. § 249 erfolgt keine Unterscheidung zwischen Vermögensschäden 8 und Nichtvermögensschäden.13 So gewährt beispielsweise § 249 im Falle einer unberechtigten Anfertigung elektronischer Kopien von Dateien mit persönlichen Inhalten (z.B. Fotos, Briefe) einen Anspruch auf unwiederbringliche Vernichtung dieser Kopien.14 Kann der Geschädigte die Herstellung selbst vornehmen, beispielsweise im Falle der Wiederherstellung gelöschter Dateien mit persönlichem Inhalt, so ist § 249 Abs. 2 anwendbar.15 Lediglich im Rahmen des Geldersatzes ist zwischen Vermögensschäden und Nichtvermögensschäden zu unterscheiden: Gemäß § 253 Abs. 1 kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Im Bereich des IT-Rechts haben die §§ 249 ff. in mehrfacher Hinsicht Bedeutung. Zum einen kann ein 9 schädigendes Ereignis Schäden an IT-Systemen verursachen. Hierzu gehört insb. der in der Praxis relevante Fall der Vernichtung von Daten. Zum anderen können fehlerbehaftete IT-Leistungen wie z.B. Softwarefehler Schäden an anderen Rechtsgütern, einschließlich anderer IT-Systeme, verursachen. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise Gesundheitsverletzungen durch Softwarefehler in medizinischen Geräten oder Schäden, die aus Ausfällen in Rechenzentren und die dadurch verursachte Unter8 Jauernig/Teichmann, § 249 BGB Rz. 1; Erman/Ebert, § 249 BGB Rz. 3; BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, NJW 1984, 2282; BGH v. 15.10.2013 – VI ZR 528/12, NVwZ 2014, 385, 387; a.A. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 357: Ersetzungsbefugnis des Gläubigers; ebenso wohl auch BGH v. 18.3.2014 – VI ZR 10/13, NJW 2014, 2874, Rz. 30; BGH v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09, NJW 2010, 606 Rz. 13; BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, NJW 1975, 160, 161; zu den Konsequenzen, ob Wahlrecht oder Ersetzungsbefugnis vorliegt MünchKomm/Krüger, § 262 BGB Rz. 10. 9 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, NJW 1984, 2282. 10 BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, NJW 1984, 2282. 11 Jauernig/Teichmann, § 249 BGB Rz. 1. 12 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. 13 Palandt/Grüneberg, § 253 BGB Rz. 3; Jauernig/Teichmann, § 249 BGB Rz. 2; Erman/Ebert, § 249 BGB Rz. 2; Schuster, CR 2011, 215, 217. 14 Vgl. hierzu die Beispiele aus der Rspr. zu nicht IT-bezogenen Sachverhalten bei Jauernig/Teichmann, § 249 BGB Rz. 2. 15 Jauernig/Teichmann, § 249 BGB Rz. 2.

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BGB § 249 Rz. 9 Art und Umfang des Schadensersatzes brechung von Hosting-, ASP/SaaS und Cloud Computing Leistungen resultieren. Insb. im vertragsrechtlichen Bereich spielt das Schadensersatzrecht eine wichtige Rolle, etwa bei Leistungsstörungen wie beispielsweise gescheiterten IT-Projekten, wenn der Auftraggeber Schadensersatz für eine Ersatzbeschaffung verlangt. 10

Im Hinblick auf die IT-Relevanz ist zu unterscheiden zwischen durch IT-Systeme verursachten Schäden (Personenschäden und Sachschäden an anderen Sachen als dem IT-System selbst) einerseits (dazu Rz. 13 ff.) und Schäden an IT-Systemen andererseits, die auf beliebige Schadensursachen zurückzuführen sein können (dazu Rz. 25 ff.). Bei den durch IT-Systeme verursachten Schäden gibt es in Bezug auf den zu ersetzenden Schaden, die Adäquanz, die haftungsausfüllende Kausalität und den Schutzzweck der Norm keine Besonderheiten im Vergleich zu den durch andere Ursachen als IT-Systeme verursachten Schäden; insoweit kann daher auf die allgemeinen Kommentierungen zum Schadensrecht der §§ 249 ff. verwiesen werden.

II. Norminhalt 1. Schadensersatzverpflichtung (§ 249 Abs. 1) 11

Die §§ 249 ff. stehen zwar systematisch im Allgemeinen Teil des Schuldrechts. Sie finden aber nicht nur auf Schadensersatzansprüche Anwendung, die ihre Anspruchsgrundlage im zweiten Buch des BGB oder überhaupt im BGB haben, sondern grundsätzlich auf alle Schadensersatzansprüche, auch solche, die außerhalb des BGB geregelt sind.16 Schadensersatzverpflichtungen i.S.v. Abs. 1 sind grundsätzlich alle vertraglichen (z.B. §§ 280 ff.) und gesetzlichen (z.B. §§ 823 ff.) Schadensersatzansprüche sowie Schadensersatzansprüche aus Gefährdungshaftung (z.B. § 1 ProdHaftG).

12

Grundsätzlich kann der Geschädigte die Vornahme der Naturalrestitution vom Schädiger verlangen (Abs. 1). In der Praxis macht der Geschädigte zwar häufig von seinem Wahlrecht gem. Abs. 2 Satz 1 Gebrauch, die Restitution von einem Dritten vornehmen zu lassen und vom Schädiger Ersatz der Kosten zu verlangen (§ 249 Abs. 2 Satz 1). Die Vornahme durch den Schädiger selbst kommt aber insbesondere dann in Betracht, wenn nur dieser über die zur Vornahme erforderlichen Informationen und Kenntnisse verfügt, was im IT-Bereich nicht selten der Fall ist. So wird der Lieferant einer von ihm selbst programmierten fehlerhaften Software häufig selbst am besten in der Lage sein, durch den Softwarefehler verursachte Mangelfolgeschäden an anderen Komponenten des IT-Systems des Geschädigten (z.B. Verlust von Daten, Fehlfunktion anderer Software, die über Schnittstellen mit der fehlerhaften Software verbunden ist, fehlerhafte Einträge in der Registry oder fehlerhafte Dateien in allgemeinen Verzeichnissen oder Verzeichnissen des Betriebssystems, die bei der Installation der fehlerhaften Software erzeugt worden sind)17 zu beseitigen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann als Herstellung der Voraussetzung für die Naturalrestitution auch ein Anspruch auf Herausgabe des Source Codes einer Software bestehen, damit ein Dritter Fehlerbeseitigungen oder erforderliche Anpassungen der Software vornehmen kann, etwa wenn sich der Lieferant und Hersteller der Software weigert, diese durchzuführen oder einen Pflegevertrag für die Software abzuschließen.18 2. Verletzung einer Person (§ 249 Abs. 2)

13

Die Verletzung einer Person durch IT-Systeme, insb. durch Software, aber auch durch Hardware oder fehlende Kompatibilität verschiedener Komponenten eines IT-Systems, z.B. Hard- und Software, ist in vielfältigen Fallgestaltungen denkbar. Insb. in Luft- und Raumfahrt, Straßen- und Eisenbahnverkehr, Schiffstechnik, Medizintechnik, Anlagenbau und Fertigungstechnik, Reaktortechnik und Waffentechnik kommen IT-Systeme zum Einsatz.19

16 17 18 19

Palandt/Grüneberg, Vorb v § 249 BGB Rz. 4. Zu den technischen Vorgängen bei der Installation von Software vgl. Heydn, MMR 2015, 535. OLG München v. 16.7.1991 – 25 U 2586/91, CR 1992, 208 = Beil. BB 1993, Heft 5, 12. Reese, DStR 1994, 1121 mit konkreten Beispielen.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 17 § 249 BGB

Eine unmittelbare Verletzung einer Person durch Hardware kommt dabei allerdings kaum in Betracht. Verletzungen durch Implosionen und Strahlungsschäden durch Röntgenstrahlung20 sind nur bei Röhrenmonitoren technisch möglich, nicht jedoch bei Flachmonitoren, welche die Röhrenmonitore weitestgehend abgelöst haben. Auch Gesundheitsschäden durch elektromagnetische Felder dürften in der Praxis kaum relevant sein. Daher kommt i.d.R. nur eine mittelbare Verletzung einer Person durch Hardware in Betracht, wenn ein Hardwarefehler, etwa ein fehlerhafter Chip, zu einem Ausfall oder einer Fehlfunktion eines Systems führt, was sodann einen Unfall oder ein sonstiges Ereignis mit Personenschaden zur Folge hat.

14

Software umfasst nicht nur Stand-Alone-Software, die als eigenständiges Produkt vertrieben und auf einem Rechner installiert wird, sondern auch Steuerungssoftware, die integrierter Bestandteil eines Geräts ist. So können Softwarefehler in softwaregesteuerten Fahrerassistenzsystemen in Kraftfahrzeugen oder in Lichtzeichenanlagen an Kreuzungen und Bahnübergängen Verkehrsunfälle verursachen, oder eine Opernsängerin stürzt aufgrund einer fehlerhaften Steuerungssoftware für einen beweglichen Bühnenaufbau ab und verletzt sich. Des Weiteren kann ein Befall eines Computers oder eines vernetzten Systems mit Malware Ausfälle oder Fehlfunktionen von IT-Systemen zur Folge haben.

15

Auch im medizinischen Bereich spielen IT-Systeme eine wichtige Rolle, wobei ebenfalls sowohl 16 Stand-Alone-Software als auch Steuerungssoftware Anwendung finden.21 Als Beispiele für Stand-Alone-Software wären hier die PACS (Picture Archiving and Communication-System) Software für die Erfassung und Archivierung digitaler Bilddaten in der Nuklearmedizin und der Radiologie, Software zur Strahlentherapieplanung (etwa für die Berechnung der angemessen hohen Strahlendosis im Tumorgewebe), oder medizinische Expertensysteme, wie beispielsweise Programme zur EKG-Analyse oder zur Interpretation von Lungenfunktionstests zu nennen.22 Steuerungssoftware befindet sich in vielen medizinischen Geräten. So können etwa Softwarefehler eine zu hohe Strahlendosis eines Computertomografen,23 fehlende Kompatibilität von Software und Hardware eine Fehlmedikation eines Patienten mittels eines Perfusors24 oder ein Befall eines vernetzten Systems eines Krankenhauses mit Malware eine Verzögerung der Diagnosestellung bei einem Herzinfarktpatienten wegen Ausfalls eines EKG-Aufzeichnungssystems in der Notfallambulanz25 zur Folge haben. Auch Softwarefehler in Gesundheits-Apps26 können Gesundheitsschäden zur Folge haben. Insb. im Bereich der Softwarefehler ist in derartigen Fällen jedoch die Kausalität besonders sorgfältig zu prüfen, wobei zwischen der haftungsbegründenden Kausalität zwischen dem Verhalten des Schädigers und der eingetretenen Rechtsgutsverletzung (z.B. Körperverletzung) und der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und dem entstandenen Schaden zu differenzieren ist. Während die haftungsbegründende Kausalität systematisch zum Haftungsrecht und damit zum jeweiligen Haftungsgrund (z.B. § 823) gehört, ist die haftungsausfüllende Kausalität Teil des Schadensrechts der §§ 249 ff.27 Allerdings kann die Kausalität für eine Körperverletzung im Rahmen desselben Schadensereignisses je nach Anspruchsgrundlage einmal zur Haftungsausfüllung und einmal zur Haftungsbegründung gehören. Löst beispielsweise ein Softwarefehler eines Fahrerassistenzsystems eines Kfz ein plötzliches Bremsmanöver aus und verursacht dadurch einen Unfall, bei dem der Käufer des Kfz als Fahrer und sein Beifahrer verletzt werden, so gehört die erlittene Körperverletzung beim Anspruch des Käufers aus §§ 437, 280 zur Haftungsausfüllung, bei den Ansprüchen aus § 823 und aus § 1 ProdHaftG des Käufers und des Beifahrers hingegen zur haftungsbegründenden Kausalität.28 Denn nur im Rahmen des vertraglichen Schadensersatzanspruchs stellt bereits die Auslieferung des Kfz mit der fehlerhaften Software eine haftungsbegründende Pflichtverletzung dar, so dass die Frage, ob durch diesen Haftungsgrund die Körperverletzung als Schaden kausal verursacht wurde, zur Haftungsausfül20 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Reese, DStR 1994, 1121. Irmer, MPR 2013, 145, 146. Oen, MPR 2009, 55, 56. Heussen, MMR 2004, 445, 446. Vgl. die Beispielsfälle bei Weimer, MPR 2008, 6, 8 und Kilian/Heussen/R. Koch, Computerrechts-Handbuch, Kapitel 122, Rz. 4. Gärtner, MPR 2014, 187, 188. Backmann, MPR 2011, 73, 75. Palandt/Grüneberg, Vorb v § 249 BGB Rz. 24. Vgl. Palandt/Grüneberg, Vorb v § 249 BGB Rz. 24.

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BGB § 249 Rz. 17 Art und Umfang des Schadensersatzes lung gehört. Im Rahmen der unerlaubten Handlung (§ 823) und der Gefährdungshaftung (§ 1 ProdHaftG) ist hingegen die haftungsbegründende Rechtsgutsverletzung erst mit der Körperverletzung durch den Unfall eingetreten, so dass die Frage, ob das Verhalten des Schädigers (Auslieferung des Kfz mit der fehlerhaften Software) kausal für die Körperverletzung war, zur Haftungsbegründung gehört. 18

Zur haftungsbegründenden Kausalität bei Verletzung einer Person im Rahmen des § 823 s. § 823 Rz. 18 ff., zu § 1 ProdHaftG s. § 1 ProdHaftG Rz. 4 ff. 3. Beschädigung einer Sache (§ 249 Abs. 2) a) Beschädigung von Sachen durch IT-Systeme

19

Ebenso wie eine Verletzung von Personen (Rz. 13–18) kommt auch eine Beschädigung von Sachen durch IT-Systeme, sei es durch Software, sei es durch Hardware oder fehlende Kompatibilität verschiedener Komponenten eines IT-Systems, in vielfältigen Fallgestaltungen in Betracht. Durch IT-Systeme verursachte Unfälle in Luft- und Raumfahrt, Straßen- und Eisenbahnverkehr, Schifffahrt, Industrieund sonstigen Anlagen, Reaktoren und im Bereich der Verteidigung29 haben regelmäßig (auch) Sachschäden zur Folge.

20

Eine unmittelbare Beschädigung von nicht zum IT-System gehörenden anderen Sachen durch Hardware kommt etwa durch Brandentwicklung bei Überhitzung eines Computers aufgrund eines Ausfalls des CPU- oder Netzteillüfters oder zu viel Staub im Inneren des Computers sowie durch Auslaufen der Kühlflüssigkeit bei PCs mit Wasserkühlung in Betracht. Fängt ein Computer hingegen aufgrund Überspannungen aus dem Stromnetz Feuer, so handelt es sich nicht um eine Sachbeschädigung durch die Hardware; diese Fälle sind daher nicht IT-spezifisch, weil das Brandrisiko bei Überspannungen auch andere Elektrogeräte als PCs betrifft. Häufig werden sich die durch Hardware verursachten Sachschäden jedoch auf das IT-System selbst beschränken, etwa wenn ein fehlerhafter Controller die Festplatte schädigt30 (zur Löschung von Datenbeständen s. Rz. 29 ff.) oder wenn der Brand auf das Innere des Computergehäuses beschränkt bleibt und nicht auf die Umgebung übergreift.

21

Ähnlich wie bei der Verletzung von Personen wird auch bei der Beschädigung von Sachen eine mittelbare Beschädigung durch einen Hardwarefehler, der zu einem Ausfall oder einer Fehlfunktion eines Systems führt, die häufigste Fallgestaltung der Sachbeschädigung durch Hardware sein.

22

Ebenso wie bei der Verletzung von Personen kommt auch bei der Beschädigung von Sachen durch Software sowohl Stand-Alone-Software als auch Steuerungssoftware sowie der Befall eines Systems mit Malware in Betracht (vgl. Rz. 15).

23

Bei der Beschädigung von Sachen durch Softwarefehler ist die Kausalität besonders sorgfältig zu prüfen (vgl. Rz. 17, 54).

24

Zur haftungsbegründenden Kausalität im Rahmen des § 823 s. § 823 Rz. 18–22, zu § 1 ProdHaftG s. § 1 ProdHaftG Rz. 7–14. b) Beschädigung von IT-Systemen aa) Beschädigung und Zerstörung von Hardware

25

Bei der Zerstörung von Hardware sind wie bei allen anderen Sachen grundsätzlich die Kosten der Wiederbeschaffung einer gleichartigen oder wirtschaftlich gleichwertigen Ersatzsache zu ersetzen. Bei gebrauchten Sachen ist der Wiederbeschaffungswert der Preis einer gleichwertigen gebrauchten Sache, vorausgesetzt, es gibt einen Gebrauchtmarkt für entsprechende Hardware.31 Ist ein Gebrauchtmarkt für entsprechende Hardware nicht nachweisbar, so ist ein konkretes Angebot einer gebrauchten Ersatzhardware vorzulegen, andernfalls ist der Wiederbeschaffungswert anhand des Neupreis unter Berücksichtigung eines Abzugs neu für alt (Rz. 62 ff.) zu ermitteln.32 Eine Schadensbemessung nach dem 29 30 31 32

Reese, DStR 1994, 1121 mit konkreten Beispielen. Vgl. Reese, DStR 1994, 1121. Palandt/Grüneberg, § 249 BGB Rz. 16. AG Hamburg-Barmbek v. 23.5.2008 – 820 C 14/08, r + s 2009, 11 (Navigationsgerät).

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 26 § 249 BGB

Wiederbeschaffungswert einer gebrauchten Ersatzsache scheidet ferner aus, wenn diese Art der Ersatzbeschaffung unzumutbar ist.33 Die Anschaffung gebrauchter technischer Geräte wie z.B. Server, Computer und Drucker ist wegen eines gerade für ältere Modelle existierenden Gebrauchtmarkts grundsätzlich möglich und zumutbar;34 nach anderer Ansicht muss sich indes jedenfalls eine geschädigte Privatperson auf den Kauf eines gebrauchten Computers von Dritten, insb. Privatpersonen, aufgrund des Wertes und der Komplexität eines EDV-Systems nicht verweisen lassen.35 Auf den ursprünglichen Anschaffungspreis eines Servers ist grundsätzlich nicht abzustellen, und zwar auch dann nicht, wenn eine Nachfrage nach diesem konkreten Server, insb. durch gewerbliche Nutzer, und demzufolge ein entsprechendes Angebot deshalb nicht mehr besteht, weil beides durch das Angebot technisch weiterentwickelter Server zu mindestens vergleichbaren oder sogar günstigeren Preisen zwischenzeitlich verdrängt wurde.36 Eine derartige Verdrängung vom Markt bedeutet regelmäßig nur, dass zwischenzeitlich vergleichbare Produkte mit einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis angeboten werden, so dass für das ursprüngliche Produkt mangels Nachfrage ein Veräußerungserlös nicht mehr zu erzielen wäre.37 Bei derartigen einer schnellen technischen und preislichen Entwicklung ausgesetzten Gegenständen ist zu berücksichtigen, dass solche Geräte sowohl technisch erheblich weiterentwickelt wurden als auch die Preise deutlich gefallen sind38 – der dadurch bedingte Wertverlust des Altgeräts im Zeitpunkt seiner Zerstörung muss beim Geschädigten bleiben und kann nicht zu Lasten des Schädigers gehen. Bei der Bezifferung des in der Anschaffung eines neuen Geräts liegenden, im Rahmen des Abzugs neu für alt (im Einzelnen Rz. 62 ff.) abzuziehenden Vermögensvorteils ist daher nicht nur die voraussichtliche Nutzungsdauer, sondern auch der in der technischen Weiterentwicklung liegende Vorteil zu berücksichtigen.39 Beschränkt sich die technische Weiterentwicklung hingegen allein darauf, dass für denselben (oder einen geringeren) Preis die Festplattenspeicherkapazität des Servers größer ist (etwa 2 TB statt 500 GB), so handelt es sich letztlich doch wieder nur um eine Frage der voraussichtlichen Nutzungsdauer, denn der einzige Vorteil, der sich aus der größeren Speicherkapazität ergibt, besteht darin, dass der Server ein größeres Datenvolumen aufnehmen kann und daher erst zu einem späteren Zeitpunkt wegen Ausschöpfung des Datenvolumens ausgetauscht werden muss. bb) Sachqualität von Daten und Software Bei in IT-Systemen gespeicherten Daten und Software stellt sich zunächst die umstrittene Frage, ob diese überhaupt als Sache i.S.d. Abs. 2 anzusehen sind, was indes in der Literatur und Rspr. speziell im Zusammenhang mit § 249 nicht weiter problematisiert sondern nur im Rahmen von § 90 abgehandelt wird, worauf im Zusammenhang mit § 249 verwiesen wird.40 Bedeutsam ist diese Frage, weil der Geschädigte nur dann nach seiner Wahl statt der Wiederherstellung durch den Schädiger gem. Abs. 1 den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen kann, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen. Dass der Schädiger gem. Abs. 1 grundsätzlich zur Wiederherstellung oder Ersatzbeschaffung von Daten oder Software verpflichtet ist, die durch das zum Schadensersatz verpflichtende Ereignis adäquat kausal (dazu Rz. 54) beschädigt oder zerstört wurden und in den Schutzbereich der verletzten Norm (dazu Rz. 54) fallen, ist jedoch von der Sachqualität von Daten und Software unabhängig und unterliegt daher keinen Zweifeln.

33 Palandt/Grüneberg, § 249 BGB Rz. 19; vgl. auch die Rspr. zur Beschaffung gebrauchter Navigationsgeräte: AG Düsseldorf v. 28.11.2008 – 27 C 5601/08, NJW-RR 2009, 906 = ITRB 2009, 250 (Erwerb über eBay nicht zumutbar); AG Essen v. 15.4.2011 – 20 C 617/10, BeckRS 2011, 12477 (Wahrnehmung eines seriösen Angebots eines gewerblichen Händlers mit 1 Jahr Gewährleistung zumutbar); AG Wuppertal v. 17.3.2009 – 39 C 489/08, SVR 2009 Heft 7, 265 (Abstellen auf Angebote gewerblicher Händler im Internet zur Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes zulässig); AG Hamburg-Barmbek v. 23.5.2008 – 820 C 14/08, r + s 2009, 11 (schlicht vergleichbares Gerät nicht zumutbar). 34 LG Köln v. 19.12.2013 – 8 O 252/09, BeckRS 2014, 00580 – Kölner Stadtarchiv; OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. 35 LG Göttingen v. 7.3.2012 – 8 O 116/11, BeckRS 2013, 17194 (Apple iMac und Laptop Acer Aspire). 36 OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. 37 OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. 38 OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. 39 OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. 40 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 423.

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BGB § 249 Rz. 27 Art und Umfang des Schadensersatzes 27

Der BGH setzt die Anwendbarkeit von § 249 Abs. 2 auf Daten schlicht voraus, ohne diese zu thematisieren.41 Gemäß § 90 sind Sachen i.S.d. Gesetzes nur körperliche Gegenstände. Daten sind hingegen Informationen, und Computerprogramme sind Anweisungen an einen Computer, bestimmte Rechenvorgänge durchzuführen und Ergebnisse auszugeben. Entscheidend für die Nutzbarkeit und den wirtschaftlichen Wert von Daten und Software ist deren jeweiliger geistiger Inhalt, während es für die Nutzbarkeit vollkommen irrelevant ist, auf was für einem physischen Speichermedium sich die Daten oder die Computerprogramme befinden,42 insb. ob es sich um einen optischen (z.B. CD, DVD), magnetischen (z.B. herkömmliche Festplatte) oder elektronischen (z.B. Solid-State-Disk [SSD] oder USBSpeicherstick) Speicher handelt. Für die Nutzbarkeit spielt es auch keine Rolle, ob sich das physische Speichermedium im Besitz des Nutzers befindet, denn die Nutzung kann auch online erfolgen.43 Der BGH hat ursprünglich ausdrücklich offen gelassen, ob Software als solche eine Sache ist und darauf hingewiesen, dass jedenfalls eine „entsprechende Anwendung“ bestimmter schuldrechtlicher Kundenschutzvorschriften, die nach dem Gesetzeswortlaut für Sachen gelten (kaufrechtliches Sachmängelgewährleistungsrecht nach §§ 459 ff. a.F.44 und das frühere AbzahlungsG)45 gerechtfertigt sei. In diese Entscheidungen wurde in späteren Entscheidungen die Schlussfolgerung hineingelesen, dass „Standardsoftware als bewegliche Sache anzusehen ist“,46 was sich so aus den ursprünglichen Entscheidungen aber nicht ergibt und im Übrigen abzulehnen ist. Würde man im Rahmen des § 249 ebenso wie der BGH in der ASP-Entscheidung nicht auf den geistigen Inhalt von Software und Daten abstellen, sondern deren Sachqualität gerade mit deren Verkörperung auf einem elektronischen Datenträger begründen,47 so hätte dies zur Folge, dass eine Beschädigung der Sache i.S.v. Abs. 2 Satz 1 nur dann vorliegt, wenn der Datenträger als solcher beschädigt wurde, denn eine Beschädigung der Sache i.S.v. Abs. 2 Satz 1 setzt einen Eingriff in die Sachsubstanz voraus.48 Eine Löschung oder Veränderung von Daten ist nur bei optischen Datenträgern (CD, DVD, Blu-Ray usw.) mit einem Eingriff in die Sachsubstanz verbunden, denn dort ist die Information in Form von sog. Pits (Gruben) und Lands (Flächen) gespeichert, die auf einer Polycarbonatschicht aufgebracht sind und durch berührungslose Abtastung mittels eines Lasers gelesen werden. Bei magnetischen Datenträgern ist die Information jedoch in Form von Magnetisierungen und bei elektronischen Datenträgern in Form von Elektronen gespeichert, die ohne Eingriff in die Sachsubstanz verändert werden können. Zwar wird eine Beschädigung eines Datenträgers z.B. durch einen Brand in vielen Fällen auch eine Beschädigung der darauf gespeicherten Daten zur Folge haben. Umgekehrt ist aber eine Beschädigung von auf einem Datenträger gespeicherten Daten oder Software in der Weise, dass diese nicht mehr nutzbar sind, nicht nur durch Beschädigung des Datenträgers, sondern auch ohne eine Beschädigung der Sachsubstanz des Datenträgers möglich, etwa wenn Daten oder Software gelöscht oder deinstalliert oder überschrieben werden. Bei derartigen Vorgängen, die den weitaus häufigeren Fall der Beschädigung von Daten oder Software darstellen dürften, bleiben magnetische und elektronische Datenträger in ihrer Substanz vollkommen unverletzt. Die Verkörperung auf dem Datenträger ist daher kein geeignetes Kriterium für die Sachqualität von Software, jedenfalls nicht, wenn damit die Anwendung von § 249 auf Daten und Software begründet werden soll. 41 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98; BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663. 42 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394, 2395 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55 – ASP. 43 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394, 2395 = CR 2007, 75 = ITRB 2007, 55 – ASP. 44 BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, NJW 1988, 406, 408 = CR 1988, 124. Nach § 453 n.F. kommt es indes für die Anwendbarkeit des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts auf die Sachqualität nicht mehr an, Kilian/ Heussen/Heydn, Computerrechts-Handbuch, Kapitel 32.13 Rz. 20; s. auch BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2437 = CR 1993, 681 zu § 377 HGB. 45 BGH v. 18.10.1989 – VIII ZR 325/88, NJW 1990, 320, 321 = CR 1990, 112 m. Anm. Heymann. Für die Anwendbarkeit der §§ 499 ff. n.F., die an die Stelle des früheren Abzahlungsgesetzes getreten sind, kommt es indes für die Anwendbarkeit der Schutzvorschriften des Verbraucherkreditrechts auf die Sachqualität nicht mehr an, vgl. hierzu Kilian/Heussen/Heydn, Computerrechts-Handbuch, Kapitel 32.13 Rz. 21. 46 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394 = CR 2007, 75 = ITRB 2007, 55 – ASP; BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2437 = CR 1993, 681; LG Siegen v. 19.7.2013 – 6 O 120/12, BeckRS 2014, 10813. 47 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394, 2395 = CR 2007, 75 = ITRB 2007, 55 – ASP. 48 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 424.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 30 § 249 BGB

Nach mittlerweile überwiegender Auffassung in der Literatur stellt lediglich der Datenträger, auf 28 dem die Software oder Daten gespeichert sind, aufgrund seiner Körperlichkeit eine Sache i.S.v. § 90 dar, die Software oder die Daten als solche hingegen nicht.49 Diese Auffassung erscheint vorzugswürdig, weil körperliche Trägermedien bei Vertrieb und Nutzung von Software und der Übertragung und Nutzung von Daten immer weniger eine Rolle spielen.50 Vertrieb und Nutzung von Software erfolgt ebenso wie die Übertragung und Nutzung von Daten zunehmend in unkörperlicher Form über das Internet. Zwar existiert auch bei der Nutzung von Software über Application Service Providing (ASP) oder Software as a Service (SaaS) die Software irgendwo auf einem physischen Datenträger, ebenso wie die in der Cloud gespeicherten Daten irgendwo physisch vorhanden sind. Die Vernetzung über das Internet ermöglicht jedoch die dezentrale Speicherung zusammengehörender und zusammenwirkender Programme und Daten an verschiedensten Orten, was insb. beim Cloud Computing genutzt wird und ebenfalls gegen die Sachqualität spricht, denn eine Sache ist ortsgebunden und kann sich nicht gleichzeitig an mehreren Orten befinden. Durch die zunehmend lückenlose Verfügbarkeit des Internets sind Daten und Software zudem ubiquitär geworden. Es spielt keine Rolle mehr, mit welchem Gerät Daten abgerufen werden und Software genutzt wird, wo sich dieses Gerät gerade befindet, und wo sich die genutzten Daten und die genutzte Software befinden. Es ist daher jedenfalls heutzutage nicht mehr sachgerecht, Software und Daten anhand einer – in der Praxis häufig nicht mehr existierenden – Bindung an einen bestimmten körperlichen Datenträger zu betrachten. Die herkömmlichen sachenrechtlichen Kategorien wie Besitz und Eigentum passen nicht auf Software und Daten. So kann jemand beispielsweise Besitzer einer Musikdatei sein, die auf einem in seinem Eigentum befindlichen Gerät physisch gespeichert ist, kann diese aber gleichwohl nicht nutzen, wenn sie durch Digital Rights Management (DRM) geschützt ist und dem Besitzer der zum Abspielen der Datei erforderliche Lizenzschlüssel abhandengekommen ist. Für die wirtschaftliche Nutzbarkeit von Daten und Software spielt somit nur der Zugriff auf diese eine Rolle, nicht jedoch das Eigentum an dem physischen Datenträger, auf dem diese gespeichert sind („Access statt Assets“). Daten und Software stellen somit nach hier vertretener Auffassung keine Sachen dar. cc) Analoge Anwendung von § 249 Abs. 2 Satz 1 auf Beschädigung oder Vernichtung von Daten oder Software Abs. 2 Satz 1 ist nach hier vertretener Auffassung auf die Beschädigung oder Vernichtung von Daten oder Software analog anzuwenden.

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(1) Voraussetzungen für eine analoge Anwendung Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung liegen vor. Da Abs. 2 Satz 1 für Daten und Software 30 mangels Sachqualität unmittelbar nicht gilt, enthält Abs. 2 im Hinblick auf die Beschädigung von Daten und Software eine Regelungslücke. Durch das am 1.8.2002 in Kraft getretene 2. SchadensrechtsänderungsG wurde in Abs. 2 Satz 1 der Wortlaut des Satzes 2 a.F., der bereits in der ursprünglichen Fassung des BGB von 1900 enthalten war, unverändert übernommen. Die Regelungslücke ist daher auch planwidrig, weil Daten und Software zur Zeit der Schaffung der Norm Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht bekannt waren. Es liegt auch eine vergleichbare Interessenlage vor. Abs. 2 Satz 1 dient nicht dem Interesse des Schädigers,51 sondern allein dem Interesse des Geschädigten. Der Zweck der Vorschrift besteht vor allem darin, dass der Geschädigte nicht gezwungen werden soll, das verletzte

49 Daten und Software: MünchKomm/Stresemann, § 90 BGB Rz. 25; Palandt/Ellenberger, § 90 BGB Rz. 2; Erman/J. Schmidt, § 90 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/Fritzsche, § 90 Rz. 25; Daten: LG Konstanz v. 10.5.1996 – 1 S 292/95, NJW 1996, 2662; Software: Heydn, CR 2010, 765, 769, 770; Redeker, NJOZ 2008, 2917; Müller-Hengstenberg/Kirn, NJW 2007, 2370, 2373; Müller-Hengstenberg, NJW 1994, 3128; Junker, NJW 1993, 824, 830; Redeker, NJW 1992, 1739; Kilian/Heussen/Heydn, Computerrechts-Handbuch, Kapitel 32.13 Rz. 27 ff.; a.A. König, NJW 1993, 3121; Marly, BB 1991, 432; König, NJW 1989, 2604; s. auch FG Berlin-Brandenburg v. 29.1.2008 – 5 K 2543/04 B, IStR 2008, 706 zum Begriff der „Ware“ i.S.d. § 2a Abs. 2 Satz 1 EStG für Standardsoftware bis zu einem Anschaffungspreis von 410 t. 50 Stögmüller, MMR 2006, 749 für Softwareüberlassung. 51 BGH v. 18.3.2014 – VI ZR 10/13, NJW 2014, 2874 Rz. 30.

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BGB § 249 Rz. 30 Art und Umfang des Schadensersatzes Rechtsgut dem Schädiger zur Wiederherstellung anzuvertrauen.52 Dieses Interesse des Geschädigten besteht bei Daten und Software mindestens in gleicher Weise wie bei Sachen; bei Daten, insb. Daten vertraulicher Art, sogar noch in höherem Maße. Des Weiteren soll der Geschädigte von der Notwendigkeit befreit werden, überhaupt eine Instandsetzung veranlassen zu müssen.53 Auch dieses Interesse des Geschädigten ist bei der Zerstörung von Daten und Software mindestens in gleicher Weise gegeben. Ebenso wie der Geschädigte einen Unfallschaden eines älteren Kfz nicht selten zum Anlass nehmen wird, sich ein Neufahrzeug zuzulegen, kann der Geschädigte im IT-Bereich ein Interesse daran haben, die Zerstörung einer Software zum Anlass zu nehmen, die neueste Version oder eine andere, u.U. höherwertige Software anstelle der ursprünglichen Software zu beschaffen oder die Zerstörung einer Datenbank zum Anlass zu nehmen, die Datenbank komplett neu und anhand anderer Kriterien aufzusetzen. Der in der IT geltende Leitsatz „Never touch a running system“ führt gerade bei Daten und Software häufig dazu, dass bestehende veraltete Systeme gleichwohl weiterbenutzt werden und von einer Neuanschaffung abgesehen wird. Abs. 2 Satz 1 eröffnet dem Geschädigten die Möglichkeit der Schadensbehebung in eigener Regie und entspricht dem gesetzlichen Bild des Schadensersatzes, nach dem der Geschädigte Herr des Restitutionsgeschehens ist und grundsätzlich selbst bestimmen darf, wie er mit dem beschädigten Gegenstand verfährt.54 Das gilt für Software und Daten in gleicher Weise wie für körperliche Sachen. Schließlich soll Abs. 2 Satz 1 das Abwicklungsverhältnis von dem Streit darüber entlasten, ob die Herstellung durch den Schädiger gelungen ist und vom Geschädigten als Ersatzleistung angenommen werden muss;55 auch dieses Interesse beider Parteien besteht bei Daten und Software in gleicher Weise wie bei Sachen. (2) Vermögenswert 31

Wegen § 253 Abs. 1 setzt die analoge Anwendung von § 249 Abs. 2 Satz 1 auf Daten und Software allerdings voraus, dass diese einen Vermögenswert haben und ihnen nicht bloßer immaterieller Wert zukommt.

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Software, die gegen Entgelt erworben werden kann, hat einen Vermögenswert, grundsätzlich nicht jedoch kostenlose Software wie z.B. Open Source Software oder kostenlose Spiele für Computer, Tablets oder Smartphones, deren kostenlose Wiederbeschaffung möglich ist. Kostenlose Computerspiele können aber häufig durch sog. In-App-Käufe z.B. von Punkten, die es ermöglichen, ein höheres Spiellevel zu erreichen, aufgewertet werden. Einem solchermaßen durch In-App-Käufe aufgewerteten Spiel kann ein Vermögenswert nicht abgesprochen werden. Maßgeblich ist insofern nicht, ob es möglich wäre, das Spiel einschließlich des durch die In-App-Käufe erworbenen Mehrwertes zu veräußern, sondern ob ein solches Spiel, wollte man es haben, Geld kostete und ob es vom Verkehr als durch Geld kompensierbar angesehen wird.56 Das ist bei einem durch In-App-Käufe aufgewerteten Spiel zu bejahen, bei einem durch bloße Leistung des Spielers ohne Zahlung eines Entgelts auf ein hohes Level „hochgespielten“ Spiel jedoch zu verneinen. Etwas anderes gilt nur, sofern für solche durch bloße Spielerleistung aufgewerteten Spiele tatsächlich ein Gebrauchtmarkt existiert, auf dem ein Erlös erzielt werden kann.

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Daten, die am Markt gegen Entgelt erworben werden können, wie z.B. Musik- und Filmdateien, E-Books und digitale Hörbücher haben ebenfalls einen Vermögenswert. Andere, zumeist von Anwendern selbst erzeugte Daten haben einen Vermögenswert, wenn diese geschäftlich genutzt werden (z.B. Kundendaten, technische Zeichnungen und Pläne, Buchhaltungsdaten, gespeicherte GeschäftsE-Mails) und wenn durch ihr Fehlen Betriebsabläufe gestört oder erschwert werden.57 Bei rein privat genutzten Daten ist hinsichtlich des Vermögenswertes danach zu unterscheiden, ob an diesen ausschließlich ein Affektionsinteresse besteht (z.B. persönliche E-Mails zwischen Freunden und Familienangehörigen, Urlaubsfilme und -fotos)58 oder ob diese Vermögensbezug haben. Daten, deren Be52 53 54 55 56 57

MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 357; BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, NJW 1975, 160, 161. BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, NJW 1975, 160, 161. BGH v. 20.10.2009 – VI ZR 53/09, NJW 2010, 606 Rz. 13. BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, NJW 1975, 160, 161. BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 23; BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, NJW 1984, 2282, 2283. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066 Rz. 17 = CR 2009, 283 m. Anm. Hilber/Busche = ITRB 2009, 98. 58 LG Hamburg v. 2.7.1999 – 303 O 100/99, NJW-RR 2000, 653: Fotos einer Antarktisreise.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 37 § 249 BGB

deutung ausschließlich in einem Affektionsinteresse besteht, haben keinen Vermögenswert, weshalb ihre Beschädigung keinen Vermögensschaden verursacht59 und somit eine analoge Anwendung von § 249 Abs. 2 Satz 1 ausscheidet; die Verpflichtung des Schädigers zur Wiederherstellung gem. § 249 Abs. 1 bleibt hiervon jedoch unberührt, sofern diese möglich ist. Ein Vermögensbezug privat genutzter Daten liegt hingegen vor bei gespeicherten E-Mails und sonstigen Dateien, die sich auf vermögensrechtliche Beziehungen der Privatperson, insb. Vertragsverhältnisse beziehen wie Internetbestellungen, Flug- und Hotelbuchungen, Online-Fahrkarten und -Eintrittskarten, Korrespondenz mit Vermietern, Hausverwaltungen, Handwerkern, Versicherungen usw. Auch auf einem Computer oder Mobiltelefon gespeicherte Fotos können Vermögensbezug haben, etwa wenn es sich um Beweisfotos handelt, die für die Geltendmachung oder die Abwehr von Ansprüchen angefertigt wurden oder beispielsweise um Fotodokumentationen von Wertgegenständen, die für den Fall der Entwendung zum Zwecke der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen erstellt wurden. In all diesen Fällen ist ein Vermögenswert privat genutzter Daten zu bejahen und § 249 Abs. 2 Satz 1 analog anwendbar. (3) Löschung und Wiederherstellung von Dateien Sowohl Daten als auch Software sind auf Computersystemen als Dateien gespeichert. Die Dateien, aus 34 denen Software besteht, unterscheiden sich technisch von Dateien, die Daten enthalten, lediglich durch das Dateiformat. Die physikalische Beschaffenheit von Dateien hängt von der Art des Speichermediums ab (optisch, magnetisch oder elektronisch), nicht jedoch davon, ob die Dateien Software oder Daten enthalten. Physikalisch ist die Löschung von Daten und Software daher identisch. Bei Löschung von Dateien ist zumeist eine relativ einfache Wiederherstellung i.S.d. § 249 möglich, die einer Reparatur bei Sachen entspricht. Ein bloßes Löschen von Dateien führt nur dazu, dass diese in den sog. Papierkorb verschoben werden, von wo sie jederzeit wieder hergestellt werden können.60 Soweit von den Dateien ein Backup existiert oder das System beispielsweise anhand eines Wiederherstellungspunktes auf einen früheren Zeitpunkt zurückgesetzt werden kann, ist ebenfalls eine Wiederherstellung relativ einfach. So kann beispielsweise unter dem Betriebssystem Windows mittels einer Systemwiederherstellung ein Computer jederzeit in den Zustand zurückversetzt werden, in dem er sich zu einem bestimmten, definierten Zeitpunkt in der Vergangenheit (sog. Wiederherstellungspunkt) befunden hat. Solche Wiederherstellungspunkte werden vom Betriebssystem Windows in regelmäßigen Abständen sowie bei Änderungen am Computer, z.B. bei der Installation eines Programms oder Treibers, automatisch gesetzt und können zudem manuell gesetzt werden. Die Systemwiederherstellung führt dazu, dass sämtliche Dateien, die nach dem Wiederherstellungspunkt gelöscht wurden und Software, die deinstalliert wurde, wieder verfügbar sind; lediglich Dateien und Änderungen von Dateien, die nach dem Wiedererstellungspunkt erstellt oder vorgenommen wurden, werden dadurch nicht wiederhergestellt.

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Aber selbst wenn Dateien auch aus dem Papierkorb und damit vermeintlich „endgültig“ gelöscht werden, führt dieser Löschbefehl nur dazu, dass die Information, wo sich die Dateien physisch auf der Festplatte befinden, verloren geht.61 Die Dateien selbst bleiben unverändert auf der Festplatte gespeichert und können mittels sog. File Recovery Programme jederzeit wieder hergestellt werden. Der Speicherplatz, den die Dateien einnehmen, wird beim vermeintlich endgültigen Löschen aus dem Papierkorb lediglich für ein etwaiges späteres Überschreiben freigegeben, das aber regelmäßig nur dann stattfindet, wenn der sonstige freie Speicherplatz voll ist. Die Dateien selbst bleiben physisch unverändert auf dem Speichermedium gespeichert und können jederzeit wieder hergestellt werden, und zwar so lange, bis der freie Speicherplatz des Speichermediums voll ist und die Programmdateien überschrieben werden.

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Auch bei einem Formatieren der gesamten Festplatte werden die Dateien unter Umständen nicht vollständig gelöscht. Denn die normale Formatierung (sog. High-Level-Formatierung) führt lediglich

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59 BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 20; BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, NJW 1984, 2282, 2283. 60 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Daten auf Festplatten richtig löschen, https://www.bsifuer-buerger.de/BSIFB/DE/Empfehlungen/RichtigLoeschen/richtigloeschen.html (zuletzt besucht am 1.12.2019). 61 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Daten auf Festplatten richtig löschen, https://www.bsifuer-buerger.de/BSIFB/DE/Empfehlungen/RichtigLoeschen/richtigloeschen.html (zuletzt besucht am 1.12.2019).

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BGB § 249 Rz. 37 Art und Umfang des Schadensersatzes dazu, dass die Dateisystemstruktur neu angelegt wird, also das komplette Inhaltsverzeichnis gelöscht und durch ein neues ersetzt wird.62 Auch hier befinden sich die Dateien physisch noch auf dem Datenträger63 und können somit wiederhergestellt werden.64 Die Kosten für eine solche Rekonstruktion von Daten durch eine EDV-Spezialfirma sind ersatzfähig.65 38

Eine Datei, die nicht gelöscht sondern „nur“ beschädigt wurde, ist in der Regel vollkommen unbrauchbar, d.h. auf sie kann durch das Betriebssystem oder die entsprechenden Anwendungen überhaupt nicht mehr zugegriffen werden, und der Anwender erhält eine Fehlermeldung. Eine Beschädigung einer Datei kommt daher zumeist einer vollständigen und unwiederbringlichen Vernichtung der Datei gleich, während das Löschen einer Datei häufig gerade nicht deren unwiederbringliche Vernichtung zur Folge hat. Die herkömmliche schadensrechtliche Differenzierung zwischen „bloßer“ (in der Regel reparierbarer) Beschädigung und (unwiederbringlicher) Zerstörung, die für Sachen entwickelt wurde, ist daher bei Dateien nicht anwendbar.

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Bestehen die oben beschriebenen Wiederherstellungsmöglichkeiten nicht, so ist eine Wiederherstellung von Dateien i.S.d. § 249 im Wege einer Ersatzbeschaffung möglich, soweit die Dateien aufgrund einer in anderer Form noch vorhandenen Vorlage, z.B. durch Eingabe noch auf Papier vorhandener Konstruktionszeichnungen, „technisch“ reproduzierbar sind.66 Wenn auch das nicht der Fall ist, wenn also nur eine vollständige manuelle Neuerzeugung der Dateien in Betracht kommt, ist danach zu unterscheiden, ob die Dateien eine qualifizierte geistige oder schöpferische Leistung enthalten.

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Bei der unwiederbringlichen „technisch“ nicht reproduzierbaren Zerstörung von Dateien, die eine qualifizierte geistige oder schöpferische Leistung enthalten, wie beispielsweise Konstruktionszeichnungen eines Ingenieurbüros oder Software, liegt eine Unmöglichkeit der Herstellung i.S.v. § 251 Abs. 1 vor, und die Zuerkennung von Wiederherstellungskosten gem. Abs. 2 Satz 1 scheidet aus. Denn bei qualifizierten geistigen oder schöpferischen Leistungen ist eine Neuschaffung nicht ohne weiteres eine „Wiederherstellung“ im Rechtssinne.67 Eine neugeschaffene Software wird immer Abweichungen und Unterschiede im Vergleich zu der ursprünglichen Software aufweisen. Der Geschädigte hat dann nur Anspruch auf eine Entschädigung in Geld gem. § 251 Abs. 1. Ein Anspruch auf Ersatz der Kosten für eine neue Erstellung der Dateien besteht nicht. dd) Daten

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Beinhalten unwiederbringlich „technisch“ nicht reproduzierbar zerstörte Dateien Daten, die ohne geistige oder schöpferische Leistung durch manuelle Eingabe wiederhergestellt werden können, sei es auch mit erheblichem Aufwand, wie beispielsweise der Warenkatalog eines Online-Shops, dann ist die Wiederherstellung i.S.d. § 249 möglich. Es ist dann allerdings zu prüfen, ob der Aufwand unverhältnismäßig i.S.d. § 251 Abs. 2 ist. Ist der Aufwand unverhältnismäßig, dann sind nicht die vollen Kosten der Wiederherstellung gem. § 249 Abs. 2 analog zu ersetzen, sondern es ist stattdessen gem. § 251 Abs. 2 Satz 1 nur eine Geldentschädigung in angemessener Höhe zu zahlen. ee) Software

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Bei Software ist zunächst danach zu unterscheiden, ob eine Installation oder Kopie der Software beim Anwender gelöscht oder beschädigt wurde (dazu Rz. 43 ff.) oder ob Kopien oder das Original der Software beim Anbieter gelöscht oder beschädigt wurden (dazu Rz. 48 ff.).

62 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Daten auf Festplatten richtig löschen, https://www.bsifuer-buerger.de/BSIFB/DE/Empfehlungen/RichtigLoeschen/richtigloeschen.html (zuletzt besucht am 1.12.2019). 63 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Daten auf Festplatten richtig löschen, https://www.bsifuer-buerger.de/BSIFB/DE/Empfehlungen/RichtigLoeschen/richtigloeschen.html (zuletzt besucht am 1.12.2019). 64 Vgl. z.B. den Sachverhalt OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704. 65 OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704. 66 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. 67 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 46 § 249 BGB

(1) Beim Anwender Bei Software ist zu beachten, dass der Softwarelizenznehmer im Falle eines Verlusts oder einer Be- 43 schädigung der konkreten Installation einer Standardsoftware auf einem Rechner eines Anwenders nach dem Softwarelizenzvertrag i.d.R. berechtigt ist, ebenso wie bei einem Hardwarewechsel die Software neu zu installieren, sei es durch einen erneuten Softwaredownload oder von einem (Sicherungs-)Datenträger. In einem solchen Fall fehlt es bereits an einem Schaden. Zu ersetzen sind dann nur evtl. Kosten für IT-Dienstleistungen, die der Geschädigte für die Neuinstallation der Software aufwenden musste. Erfordert die erneute Installation der lizenzierten Software eine Deaktivierung der ursprünglichen Softwareinstallation und ist diese aufgrund der Beschädigung nicht möglich, ist der Geschädigte im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht (§ 254) gehalten, den Softwarehersteller zu kontaktieren und unter Hinweis auf die Unmöglichkeit der Deaktivierung zu verlangen, dass ihm die erneute Installation gleichwohl ermöglicht wird, ohne die Softwarelizenz nochmals gegen Entgelt erwerben zu müssen. Gleiches gilt, wenn nicht nur die Softwareinstallation, sondern auch sämtliche (Sicherungs-)Kopien zerstört wurden, beispielsweise bei einem Brand. Da Software keine Sache ist (s. Rz. 28), sondern der Softwareanwender vielmehr ein urheberrechtliches Nutzungsrecht gem. §§ 69a Abs. 4, 31 UrhG erworben hat, das physisch nicht zerstört werden kann, hat der Softwarelizenzgeber dem Softwarelizenznehmer für die Dauer der Lizenz aus dem zugrunde liegenden Lizenzvertrag die Nutzung der Software zu ermöglichen. Diese Verpflichtung umfasst regelmäßig die nochmalige Lieferung einer Kopie der Software per Download oder auf einem physischen Datenträger. Verlangt der Softwarelizenzgeber für die nochmalige Auslieferung eines physischen Datenträgers ein Entgelt für den Datenträger und die Versandkosten, so ist dieses als Schaden zu ersetzen. Entsprechendes gilt grundsätzlich auch für die Installation einer Individualsoftware, denn auch hier wird der Hersteller der Software regelmäßig eine Kopie der Software zurückbehalten haben, so dass er dem Nutzer nochmals eine Kopie der Software zur Verfügung stellen kann. Hat der Hersteller der Software hingegen keine Kopie zurückbehalten und dem Anwender im Wege eines Buy-Out-Vertrages sämtliche Rechte an der Software (einschließlich des Quellcodes) übertragen und sind durch das schädigende Ereignis sämtliche (Sicherungs-)Kopien der Software beschädigt worden, wird im Rahmen des Mitverschuldens (§ 254) genau zu prüfen sein, ob der Anwender seiner Obliegenheit zur Sicherung der Software in ausreichendem Maß nachgekommen ist. Bei einer teuren Individualsoftware ist es nicht ausreichend, wenn sich sämtliche Sicherungskopien am selben Ort befinden; vielmehr ist dann zumindest eine Sicherungskopie an einem anderen Ort (z.B. beim Hersteller der Software oder bei einem Software-Escrow-Dienstleister) aufzubewahren.

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Da Software somit i.d.R. wiederbeschafft werden kann, ohne die Lizenz nochmals erwerben zu müs- 45 sen, scheidet eine Schadensbemessung nach dem Wiederbeschaffungswert einer entsprechenden Software(-lizenz) regelmäßig aus. Muss die Lizenz ausnahmsweise aufgrund entsprechender Bestimmungen im zugrunde liegenden Lizenzvertrag nochmals erworben werden, um die zerstörte Software wieder zu beschaffen, so ist der Geschädigte grundsätzlich berechtigt, die Software vom Originalhersteller wiederzubeschaffen (zum Abzug neu für alt s. Rz. 65 f.). Zwar ist fraglich, ob eine solche Klausel überhaupt wirksam wäre; das hat aber zu Lasten des Schädigers zu gehen und nicht zu Lasten des Geschädigten. Der Schädiger hat daher lediglich einen Anspruch auf Abtretung sämtlicher Ansprüche gegen den Lizenzgeber im Zusammenhang mit der Verwendung dieser Klausel. Auch wenn dasselbe Ereignis (z.B. ein Brand) nicht nur die Software, sondern auch den Gegenstand zerstört hat, anhand dessen der Geschädigte gegenüber dem Anbieter nachweisen kann, dass er die Lizenz zur Nutzung der Software bereits erworben hat (z.B. die DVD-Hülle mit dem aufgedruckten Product Key), ist ausnahmsweise der Wiederbeschaffungswert der Softwarelizenz zu ersetzen. Eine Schadensbemessung nach dem Gebrauchtwiederbeschaffungswert kommt nicht in Betracht, wenn diese Art der Ersatzbeschaffung unzumutbar ist.68 Auf den Erwerb einer günstigeren Lizenz der entsprechenden Software auf dem Gebrauchtmarkt kann der Schädiger den Geschädigten daher nicht verweisen, weil der Erwerb gebrauchter Software nur unter bestimmten, im Einzelnen höchst umstrittenen Voraussetzungen rechtlich überhaupt zulässig ist69 und daher im Einzelfall der recht68 Palandt/Grüneberg, § 249 BGB Rz. 19. 69 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft; BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2014, 168 = ITRB 2011, 75 – UsedSoft II; BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13 – UsedSoft III, CR 2015, 429 =

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BGB § 249 Rz. 46 Art und Umfang des Schadensersatzes lichen Beratung bedarf. Deshalb ist der Erwerb gebrauchter Software generell als unzumutbar anzusehen. 47

Sind sämtliche Kopien einer Software zerstört worden, was regelmäßig nur bei einer Individualsoftware denkbar ist, und existiert auch keine Vorlage in anderer Form (z.B. ein Ausdruck des Quellcodes auf Papier), anhand derer die Software „technisch“ reproduziert werden kann,70 so ist eine Wiederherstellung i.S.d. § 249 im Wege einer Ersatzbeschaffung nicht möglich. Es liegt dann eine Unmöglichkeit der Herstellung i.S.v. § 251 Abs. 1 vor; die Zuerkennung von Wiederherstellungskosten gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 scheidet aus, weil bei qualifizierten geistigen oder schöpferischen Leistungen, wie sie in einer Software enthalten sind, eine Neuschaffung nicht ohne weiteres eine „Wiederherstellung“ im Rechtssinne ist.71 Der Geschädigte hat dann nur Anspruch auf eine Entschädigung in Geld; ein Anspruch auf Ersatz der Kosten für eine neue Erstellung der Software besteht nicht. (2) Beim Anbieter

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Software kann jedoch nicht nur beim Anwender, sondern auch beim Anbieter zerstört werden. Während sich das Interesse des Anwenders in der Regel im bloßen Nutzungsinteresse erschöpft, kommt beim Anbieter das Verwertungsinteresse an der Software hinzu. Bei den Anbietern ist zu unterscheiden zwischen dem Vertrieb (Distributor, Reseller) und dem Hersteller. Während der Vertrieb regelmäßig nur über Kopien der Software im Objektcode verfügt, liegt die Software beim Hersteller auch im Quellcode vor.

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Im Falle einer Zerstörung von Softwarekopien beim Vertrieb (Distributor, Reseller) ist eine Wiederherstellung i.S.d. § 249 im Wege einer Ersatzbeschaffung möglich, weil sich der Vertrieb vom Hersteller jederzeit neue Kopien der Software beschaffen kann. Der Schaden besteht dann in dem Entgelt einschließlich Versandkosten usw., das hierfür an den Hersteller zu entrichten ist. Distributoren sind häufig auch berechtigt, die von ihnen vertriebenen Kopien der Software anhand einer vom Hersteller erhaltenen Masterkopie selbst herzustellen, oder die Software auf ihrer eigenen Website zum Download anzubieten. In diesem Fall umfasst der zu ersetzende Schaden nicht nur den Materialaufwand, sondern auch den eigenen Arbeitsaufwand für die Wiederherstellung der zerstörten Kopien.72

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Werden Softwarekopien beim Hersteller zerstört, so ist danach zu unterscheiden, ob nur Objektcode oder nur Quellcode oder beides zerstört worden ist.

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Wurden nur Objektcodekopien zerstört, so ist eine Wiederherstellung i.S.d. § 249 im Wege einer Ersatzbeschaffung möglich, und zwar entweder, wenn mindestens ein (ggf. auch andernorts, z.B. bei einem Distributor oder Reseller noch vorhandenes) Objektcodeexemplar unbeschädigt geblieben ist, durch Vervielfältigung von diesem, oder, wenn alle existierenden Objektcodexemplare zerstört worden sind, durch erneute Kompilierung des Quellcodes. Der Schaden umfasst dann Materialaufwand und eigenen Arbeitsaufwand für die Wiederherstellung der zerstörten Objektcodeexemplare.73

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Wurde nur Quellcode zerstört, kommt es darauf an, ob sämtliche Exemplare des Quellcodes (einschließlich z.B. etwaiger Ausdrucke auf Papier) zerstört wurden. Ist noch ein Exemplar vorhanden, so ist eine Wiederherstellung i.S.d. § 249 im Wege einer Ersatzbeschaffung möglich. Ist hingegen kein Exemplar des Quellcodes mehr vorhanden, so kommt es darauf an, inwieweit eine Wiederherstellung des Quellcodes durch Dekompilierung, also Umwandlung von Objektcode in Quellcode durch Verwendung eines Dekompilierers, technisch möglich ist. Der durch Dekompilierung gewonnene Quellcode ist allerdings niemals absolut identisch mit dem ursprünglichen Quellcode. Der Grad der Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Quellcode hängt u.a. davon ab, ob es sich bei dem Objektcode um Maschinencode oder Bytecode (z.B. bei Java-Programmen) handelt, oder ob im Objektcode Debuginformationen gespeichert sind. Kann durch eine Dekompilierung ein Quellcode erstellt werden, der einen hohen Grad an Ähnlichkeit im Vergleich zum ursprünglichen Quellcode aufweist, so gehört

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MMR 2015, 530 m. Anm. Heydn; BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, CR 2015, 711 = ITRB 2015, 277 – Green-IT. Vgl. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. Vgl. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1068 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1068 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 56 § 249 BGB

nicht nur der Aufwand für die Dekompilierung, sondern auch der Aufwand für die manuelle Nachbearbeitung durch einen Programmierer zum ersatzfähigen Schaden. Im Einzelfall kann es vorkommen, dass eine zumindest annäherungsweise Rekonstruktion des Quellcodes durch Dekompilierung nicht möglich ist, etwa wenn das Programm unter Verwendung bestimmter Optimierungsfunktionen des Compilers kompiliert wurde oder der Quellcode mittels Obfuskation gegen Dekompilierung geschützt wurde. Da sich aus technischer Sicht Dekompilierung regelmäßig nur sehr eingeschränkt zur Wiederherstellung von Quellcode eignet, ist das Unterlassen einer angemessenen mehrfachen Sicherung des Quellcodes an verschiedenen Orten grob fahrlässig und begründet ein Mitverschulden gem. § 254. Ist eine Wiederherstellung des Quellcodes durch Dekompilierung und Nachbearbeitung des Programms nicht möglich, besteht gem. § 251 Abs. 1 nur Anspruch auf eine Entschädigung in Geld; ein Anspruch auf Ersatz der Kosten für eine Neuprogrammierung der Software besteht nicht.74 Das Gleiche gilt, wenn Quellcode und Objektcode in sämtlichen existierenden Exemplaren zerstört werden, was nur bei Individualsoftware denkbar ist.

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ff) Adäquanz, haftungsausfüllende Kausalität und Schutzzweck der Norm Die vom Schädiger begangene Rechtsgutsverletzung muss für den Schaden adäquat kausal sein (haf- 54 tungsausfüllende Kausalität). Problematisch ist insoweit insb., ob die Schadensersatzpflicht bei Herbeiführung eines Stromausfalls, beispielsweise durch Beschädigung eines Stromkabels im Zuge von Bauarbeiten, auch den Schaden umfasst, der infolge des Stromausfalls an IT-Systemen, insb. in Gestalt des Verlusts von Daten, entstanden ist. Nach richtiger Auffassung sind derartige Stromausfallfolgeschäden, einschließlich eines Datenverlusts, durch die Rechtsgutsverletzung (z.B. Beschädigung des Stromkabels) adäquat verursacht75 und auch vom Schutzzweck der Norm des § 823 umfasst.76 Allerdings wird in derartigen Fällen regelmäßig ein erhebliches, je nach konkreter Fallgestaltung unter Umständen sogar einen Schadensersatzanspruch gänzlich ausschließendes Mitverschulden des Geschädigten gem. § 254 gegeben sein, wenn dieser sein IT-System nicht mittels einer unterbrechungsfreien Stromversorgung (USV) gegen Stromausfälle und mittels regelmäßiger Datensicherungen gegen Datenverlust abgesichert hat.77 Ist der Schädiger der Netzbetreiber, sind zudem die besonderen Verschuldensbestimmungen in § 18 NAV zu beachten.78 c) Darlegungs- und Beweislast Der Geschädigte hat den Eintritt des Schadens und die Kausalität des schädigenden Ereignisses für 55 den Eintritt des Schadens (haftungsausfüllende Kausalität) darzulegen und zu beweisen. Die Behauptung, dass der Hard- und Softwarehändler des Geschädigten einen Schaden an der Computeranlage festgestellt habe, ist hierfür nicht ausreichend; vielmehr ist substantiiert vorzutragen, aufgrund welcher Tatsachen der Hard- und Softwarehändler die behaupteten Feststellungen getroffen hat.79 Hat der Anbieter bei Implementierung eines Progaramms, das eine Sicherungsroutine enthält, die Übertragung der Sicherungsroutine und deren Lauffähigkeit nicht überprüft, muss der Anbieter im späteren Streit über die Ursache eines Datenverlustes beweisen, dass der Datenverlust seine Ursache nicht in fehlerhafter Implementierung der Sicherungsroutine, sondern in einem anderen Ereignis hatte.80

74 Vgl. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. 75 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1589; LG Konstanz v. 10.5.1996 – 1 S 292/95, CR 1997, 84 = NJW 1996, 2662; ebenso i.E. OLG Oldenburg v. 24.11.2011 – 2 U 98/11, ZD 2012, 177 = CR 2012, 77 und AG Brandenburg v. 23.5.2011 – 34 C 124/10, BeckRS 2011, 13907. 76 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1589; a.A. LG Konstanz v. 10.5.1996 – 1 S 292/95, CR 1997, 84 = NJW 1996, 2662. 77 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1591; OLG Karlsruhe v. 7.11.1995 – 3 U 15/95, NJW 1996, 200, 201 = CR 1996, 352; LG Konstanz v. 10.5.1996 – 1 S 292/95, CR 1997, 84 = NJW 1996, 2662. 78 S. hierzu AG Brandenburg v. 23.5.2011 – 34 C 124/10, BeckRS 2011, 13907. 79 AG Heinsberg v. 11.10.2006 – 19 C 34/06, BeckRS 2007, 12937. 80 BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924 = CR 1996, 663.

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BGB § 249 Rz. 57 Art und Umfang des Schadensersatzes 57

Hinsichtlich der Darlegung der Höhe des Schadens ist die Vorlage einer Neuanschaffungsrechnung für eine zerstörte Computeranlage nicht ausreichend; vielmehr muss der Geschädigte konkret darlegen, aus welchen Komponenten seine (zerstörte) Computeranlage bestand, welche dieser Komponenten zerstört wurden und welche Entschädigung er bezüglich der einzelnen zerstörten Komponenten begehrt.81

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Die Bezifferung des Schadens auf der Grundlage des Wiederbeschaffungswertes wird dem Geschädigten häufig nur mithilfe eines Sachverständigengutachtens möglich sein. Die Fachgruppe Elektrotechnik und EDV im Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e.V. (BVS) hat einen „Bewertungsleitfaden für ITK-Systeme, Elektronik und elektrotechnische Geräteeinheiten“ herausgegeben,82 der von der Rechtsprechung als Bewertungsgrundlage anerkannt wird.83 4. Rechtsfolgen

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Grundsätzlich hat der Schädiger den gesamten Schaden zu ersetzen.84 Ausnahmen hiervon sind in §§ 10 und 11 ProdHaftG vorgesehen. Gemäß § 10 ProdHaftG ist die Haftung bei Personenschäden durch ein Produkt oder gleiche Produkte mit demselben Fehler auf einen Höchstbetrag von 85 Mio. Euro für alle Geschädigten beschränkt. In § 11 ProdHaftG ist bei Sachschäden eine Selbstbeteiligung des Geschädigten von 500 t geregelt. a) Kosten der Ersatzbeschaffung

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Bei Beschädigung von Hardware, Software oder Daten umfasst der zu ersetzende Schaden, sofern eine Reparatur nicht möglich ist, die Kosten der Beschaffung eines gleichwertigen Ersatzes (zu den Einzelheiten s. Rz. 25, 39, 43 ff.). b) Abzug neu für alt

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Der Grundsatz der Naturalrestitution besagt, dass dem Geschädigten lediglich die entstandenen Nachteile zu ersetzen sind, er jedoch durch die Schadensersatzleistung auch nicht besser gestellt werden darf. Daraus folgt, dass der Geschädigte im Fall der Zerstörung oder Beschädigung einer alten Sache nicht die Kosten der Beschaffung einer neuen Sache zu ersetzen hat. Vielmehr ist nur derjenige Teil der Kosten für die Beschaffung der neuen Sache zu ersetzen, der auf die verbleibende Nutzungsdauer der alten Sache entfällt.85 Bei der Nutzungsdauer ist nicht die theoretisch technisch mögliche (längere) Nutzungsdauer zugrunde zu legen, sondern die sich in der Praxis ergebende tatsächliche (kürzere) Nutzungsdauer, die aus der Notwendigkeit resultiert, noch voll funktionsfähige Hardware oder Software etwa aufgrund nicht mehr verfügbarer Wartung oder nicht mehr verfügbarer Treiber zu ersetzen. aa) Hardware

62

Bei einem Server kann von einer Nutzungsdauer von 5 Jahren ausgegangen werden; bei einem Arbeitsplatzrechner (PC oder Notebook) dürfte die Nutzungsdauer in der Regel etwas kürzer sein (je nach CPU-Leistung und Arbeitsspeicherumfang im Kaufzeitpunkt 2-4 Jahre). Schafft der Geschädigte beispielsweise infolge der Zerstörung eines 4 Jahre alten Servers einen neuen Server an, so hat der Schädiger bei einer Servernutzungsdauer von 5 Jahren lediglich 1/5 der Anschaffungskosten für den neuen Server zu ersetzen.

63

Für privatgenutzte technische Geräte wie Computer, Fernseher, DVD- und CD-Player, Drucker, Telefon, Radio etc. hat das LG Köln bei einem Alter von bis zu 5 Jahren einen Abzug von 30 %, bei einem 81 82 83 84 85

AG Heinsberg v. 11.10.2006 – 19 C 34/06, BeckRS 2007, 12937. Erschienen im Wißner Verlag, Augsburg. OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. Palandt/Grüneberg, Vorb v § 249 BGB Rz. 3. BGH v. 6.12.1995 – VIII ZR 270/94, NJW 1996, 584, 586.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 65 § 249 BGB

Alter zwischen 5 und 15 Jahren einen Abzug i.H.v. 60 % und bei Geräten, die über 15 Jahre alt sind bzw. ohne Altersangabe, einen Abzug von 90 % für angemessen gehalten.86 Diese Rspr. ist aber nicht verallgemeinerungsfähig, da hier in einem besonders gelagerten Fall (Zerstörung des gesamten Inhalts einer Privatwohnung infolge des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs) die in umfangreichen Listen im Einzelnen aufgeführten Hausratsgegenstände zu Gruppen zusammengefasst wurden. Eine Nutzungsdauer von 15 Jahren kommt zwar für Fernseher, DVD- und CD-Player, Telefon und Radio durchaus in Betracht, für Computer und Drucker hingegen kaum. Bei Geräten, die einer sehr schnellen technischen und preislichen Entwicklung ausgesetzt sind, ist 64 im Rahmen des Abzugs neu für alt zu berücksichtigen, dass solche Geräte sowohl technisch erheblich weiterentwickelt wurden als auch die Preise deutlich gefallen sind.87 Besteht nach einem älteren Modell eines zerstörten Servers deshalb keine Nachfrage und demzufolge kein Angebot mehr, weil beides durch das Angebot technisch weiterentwickelter Server zu mindestens vergleichbaren oder sogar günstigeren Preisen zwischenzeitlich verdrängt wurde, ist im Rahmen des Abzugs neu für alt bei der Bezifferung des in der Anschaffung eines neuen Geräts liegenden abzuziehenden Vermögensvorteils nicht nur die voraussichtliche Nutzungsdauer, sondern auch der in der technischen Weiterentwicklung liegende Vorteil zu berücksichtigen.88 bb) Software Auch Software unterliegt einem Alterungsprozess.89 Insofern ist zwischen Software, die gewartet und 65 permanent weiterentwickelt wird und unveränderter Software zu unterscheiden. Beide unterliegen – jeweils unterschiedlichen – Arten der Alterung. Bei unveränderter Software ergibt sich die Alterung daraus, dass sie nach einiger Zeit nicht mehr den Erwartungen der Anwender entspricht.90 Software, die gewartet und permanent weiterentwickelt wird, wird zwar hinsichtlich der Funktionalität den höheren Erwartungen der Anwender angepasst. Gerade die Wartung und wiederholte Anpassung der Software führt aber zu einer Alterung.91 Eine neu programmierte Software ist häufig im Zeitpunkt der Markteinführung fehlerbehaftet, weil sie nicht in sämtlichen in Betracht kommenden Konfigurationen, Hardwareumgebungen usw. getestet werden kann. Diese Fehler („Kinderkrankheiten“) werden zumeist in der Anfangsphase nach der Markteinführung durch Updates behoben. Insofern ist also eine nicht mehr ganz neue Software meistens besser als eine ganz neue. Ist der Zustand erreicht, dass die „Kinderkrankheiten“ behoben sind, beginnt die „Alterung“ der Software, die darin besteht, dass die Fehlerhaftigkeit der Software durch Softwarewartung, also weitere Updates und Patches, über die Jahre (wieder) zunimmt, und zwar zum einen deshalb, weil die Beseitigung eines Fehlers nicht selten mehrere neue Fehler zur Folge hat.92 Zum anderen nimmt eine Software durch Softwarewartung an Umfang zu, weil Updates meist durch Ergänzung von zusätzlichem Code und nicht durch Ersetzung oder Abänderung von vorhandenem Code vorgenommen werden.93 Über den gesamten Lebenszyklus einer Software resultieren daraus eine Zunahme an Fehlern und längere Programmreaktionszeiten.94 Diese Alterungserscheinungen haften aber sämtlichen Softwareexemplaren in gleicher Weise an, sowohl denjenigen, die schon einige Zeit in Benutzung sind, als auch denjenigen, die vom Anbieter erstmals an einen Anwender veräußert werden. Durch die bloße Benutzung nutzt sich Software hingegen nicht ab. Das teilweise (fälschlich)95 als Softwareabnutzung bezeichnete Problem, dass ein Computersystem im Laufe der Zeit langsamer wird, weil freier Speicherplatz nicht wieder zur Nutzung zur Verfügung gestellt wird, hat hingegen nichts mit einer „Alterung“ oder „Abnutzung“ von Software zu tun. Denn dieses Problem ist vom Alter der Software vollkommen unabhängig,96 es betrifft nicht nur eine bestimmte 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

LG Köln v. 19.12.2013 – 8 O 252/09, BeckRS 2014, 00580 – Kölner Stadtarchiv. OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. Vgl. hierzu grundlegend Parnas, Software Aging, S. 279 ff. Parnas, Software Aging, S. 279 f. Parnas, Software Aging, S. 279 f. Parnas, Software Aging, S. 280. Parnas, Software Aging, S. 280. Parnas, Software Aging, S. 281. Parnas, Software Aging, S. 280. Parnas, Software Aging, S. 280.

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BGB § 249 Rz. 65 Art und Umfang des Schadensersatzes Software sondern das gesamte Computersystem, und es kann – anders als die oben beschriebene „Alterung“ einer Software – durch eine spezielle Bereinigungssoftware oder ein Neuaufsetzen des Computers in der Regel vollständig behoben werden. 66

Für den Abzug neu für alt ergibt sich aus diesen Besonderheiten der Softwarealterung folgendes: Da sich Software durch die bloße Benutzung nicht abnutzt, kann bei Software anders als bei körperlichen Gegenständen beim Abzug neu für alt nicht auf die Nutzungsdauer abgestellt werden. Bei gewarteter Software ist kein Abzug neu für alt vorzunehmen, wenn die gleiche Software mit dem gleichen Wartungsstand, in dem sie sich im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses befunden hat, neu erworben werden muss (s. aber Rz. 43 ff. zur meist nicht bestehenden Notwendigkeit, die Softwarelizenz neu zu erwerben). Nimmt hingegen der Schädiger das schädigende Ereignis zum Anlass, auf ein neueres Release der Software umzusteigen, ist ein Abzug neu für alt in der Höhe des Wertes der zusätzlichen Funktionen und Verbesserungen gegenüber der zerstörten Software vorzunehmen, der mangels konkreter Anhaltspunkte regelmäßig zu schätzen sein wird (§ 287 ZPO). Gleiches gilt bei nicht gewarteter Software, wenn eine neuere Version als die zerstörte Version erworben wird. Wegen der Besonderheiten und Schwierigkeiten des Softwaregebrauchtmarkts (vgl. Rz. 46) kann bei der Bezifferung des Abzugs neu für alt auch nicht auf einen Zeitwert der zerstörten Software abgestellt werden. c) Gebrauchsvorteile

67

Bei der Frage, ob der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit von IT-Systemen einen ersatzfähigen Schaden darstellt, ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob die IT-Systeme Erwerbszwecken oder privaten Zwecken dienen.

68

Bei zu Erwerbszwecken genutzten IT-Systemen hat der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit regelmäßig einen entgangenen Gewinn zur Folge, der gem. § 252 zu ersetzen ist.97

69

Bei nicht zu Erwerbszwecken genutzten IT-Systemen stellt der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit nur dann einen ersatzfähigen Schaden dar, wenn der Geschädigte auf deren ständige Verfügbarkeit für seine eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise angewiesen ist.98 Dies wurde für Internetzugang99 und Telefon100 sowie für einen PC101 oder Laptop102 bejaht, für ein Telefaxgerät103 und ein Navigationsgerät104 jedoch verneint. Im Hinblick auf die zentrale Bedeutung für die Lebensführung ist der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit von Smartphone, Tablet und WLAN-Router und im Bereich der Software von Betriebssystemen, Textverarbeitungs- und E-Mail-Programmen sowie Internetbrowsern als ersatzfähiger Schaden anzuerkennen. Bei Gegenständen, die nicht zum notwendigen Lebensbedarf gehören, wie etwa Spielekonsolen, Computerspielen oder zentralen Medienspeichern für Musik und Filme (NAS), stellt der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit hingegen keinen ersatzfähigen Schaden dar.

70

Bei der Beschädigung mehrerer Geräte ist der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit nur für ein Gerät als ersatzfähiger Schaden anzuerkennen, wenn ein Gerät das andere oder die anderen vollständig ersetzen kann. So sind entgangene Gebrauchsvorteile nur entweder für einen PC oder einen Laptop, nicht aber für beide Geräte zu ersetzen.105 Hingegen hat ein Mobiltelefon neben einem PC (oder Laptop) zentrale Bedeutung für die Lebensführung, auch dann, wenn es sich um ein Smartphone handelt. Gleiches ist für ein Tablet oder einen E-Book-Reader zusätzlich zu einem PC (oder Laptop) und einem Smartphone anzuerkennen, da nur auf solchen Geräten das mobile Lesen von digitalen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern sinnvoll möglich ist. Lesen gehört zweifelsohne zum notwendigen Lebens97 98 99 100 101 102

BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50, 52. BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50, 52. BGH v. 24.1.2013 – III ZR 98/12, NJW 2013, 1072, 1073 = CR 2013, 294 = ITRB 2013, 98. BGH v. 24.1.2013 – III ZR 98/12, NJW 2013, 1072, 1073 = CR 2013, 294 = ITRB 2013, 98. OLG München v. 23.3.2010 – 1 W 2689/09, CR 2010, 450 = ITRB 2010, 206. OLG München v. 23.3.2010 – 1 W 2689/09, CR 2010, 450 = ITRB 2010, 206; die ältere Rspr. aus der Zeit, als insb. das Internet noch kaum Bedeutung für die tägliche Lebensführung hatte, wie etwa AG Ulm v. 17.7.1996 – 3 C 1418/96, NJW-RR 1997, 556, ist überholt. 103 BGH v. 24.1.2013 – III ZR 98/12, NJW 2013, 1072, 1073 = CR 2013, 294 = ITRB 2013, 98. 104 AG Wiesbaden v. 25.9.2013 – 93 C 1390/13, NJW 2014, 1543. 105 OLG München v. 23.3.2010 – 1 W 2689/09, CR 2010, 450 = ITRB 2010, 206.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 76 § 249 BGB

bedarf, weshalb man mit der zunehmenden Ablösung der herkömmlichen Printmedien durch digitale Medien auch auf die ständige Verfügbarkeit der für die digitale Mediennutzung notwendigen Geräte angewiesen ist. d) Verfügbarkeit Bei IT-Leistungen, deren Zweck in der dauerhaften und ununterbrochenen Verfügbarkeit für den Anwender besteht, stellen auch Unterbrechungen der Verfügbarkeit der Leistung grundsätzlich einen ersatzfähigen Schaden dar. Die Anbieter derartiger Leistungen versuchen häufig, der Schadensersatzhaftung durch Klauseln in AGB, in denen nur eine eingeschränkte Verfügbarkeit positiv gewährleistet wird, zu entgehen. Derartige AGB-Klauseln sind jedoch als verhüllte Haftungsausschlussklauseln regelmäßig unwirksam106 (s. auch Rz. 92). Führt man sich vor Augen, dass beispielsweise eine Verfügbarkeit von 99 % im Jahresmittel bedeuten würde, dass die Verfügbarkeit in jedem Jahr 3,65 Tage sanktionslos ausfallen könnte, z.B. ein Online-Shop im Weihnachtsgeschäft,107 so erschließt sich unmittelbar, dass dies auch wirtschaftlich im Ergebnis richtig und keineswegs unbillig ist, zumal es durch entsprechende Redundanzen und Backup-Server technisch möglich ist, eine Verfügbarkeit von 100 % zu gewährleisten.

71

Auch hier ist zwischen zu Erwerbszwecken genutzten IT-Leistungen und nicht zu Erwerbszwecken genutzten IT-Leistungen zu unterscheiden. Bei zu Erwerbszwecken genutzten IT-Leistungen stellt deren Ausfall regelmäßig einen ersatzfähigen Schaden dar. Bei nicht zu Erwerbszwecken genutzten IT-Leistungen stellt der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit nur dann einen ersatzfähigen Schaden dar, wenn der Geschädigte auf deren ständige Verfügbarkeit für seine eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise angewiesen ist.108

72

aa) Rechenzentrumsleistungen, Hosting Dient die IT-Leistung unmittelbar der Gewinnerzielung des Leistungsempfängers, beispielsweise 73 wenn die IT-Leistung unmittelbar zum Abschluss von umsatzgenerierenden Verträgen benutzt wird, wie im Fall von Online-Shops, wird der Schaden in der Regel mit dem entgangenen Gewinn (§ 252, s. dort) identisch sein. Beim Ausfall von zu Erwerbszwecken genutzten Hostingleistungen sind neben dem entgangenen Gewinn (§ 252) auch nutzlose Aufwendungen für Suchmaschinenwerbung (Klickkosten) zu ersetzen.109 Schwieriger wird die Schadensbezifferung indes, wenn die IT-Leistung nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar der Gewinnerzielung dient, etwa wenn ein Unternehmen seine Leistungen über seine Website nur bewirbt, die zum Umsatz führenden Verträge jedoch auf anderem Wege abschließt. In diesen Fällen muss der Websitebetreiber nachweisen, für welchen Anteil seines Umsatzes der Internetauftritt im Sinne einer conditio sine qua non kausal ist, was im Einzelfall schwierig sein kann.

74

Bei einem Ausfall von nicht zu Erwerbszwecken genutzten Hostingleistungen, etwa im Falle der Nicht- 75 verfügbarkeit privater Websites, wird es regelmäßig an einem ersatzfähigen Schaden fehlen, weil der Betreiber einer privaten Website nicht auf deren ständige Verfügbarkeit angewiesen ist. bb) ASP, SaaS, Cloud Computing Application Service Providing (ASP), Software as a Service (SaaS) und Cloud Computing dienen häufig nur mittelbar der Gewinnerzielung, etwa wenn unternehmensinterne Prozesse durch eine CloudLösung abgewickelt werden. Ein Beispiel hierfür ist Webtracking-Software, die häufig als SaaS-Lösung angeboten wird und Website-Betreibern eine genaue Analyse der Website-Besuche und insb. der sog. Conversion-Rate ermöglicht, d.h. des Anteils der Website-Besucher, die anlässlich ihres Besuchs eine 106 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = MMR 2008, 136 = ITRB 2007, 106. 107 Vgl. hierzu den Fall AG Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297 = ZUM-RD 2002, 162 = MMR 2002, 258 = ITRB 2002, 108. 108 BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50, 52. 109 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = ITRB 2007, 106.

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BGB § 249 Rz. 76 Art und Umfang des Schadensersatzes Aktion durchführen wie z.B. ein Kontaktformular ausfüllen oder eine Ware im Online-Shop bestellen. Derartige Softwarelösungen verschaffen dem Websitebetreiber lediglich Informationen über das Verhalten der Website-Besucher, tragen aber unmittelbar nichts zur Generierung von Umsatz bei. Auch in diesen Fällen kann die Bezifferung des Schadens, der durch eine Unterbrechung der Verfügbarkeit verursacht wurde, im Einzelfall schwierig sein. 77

Bei einem Ausfall von nicht zu Erwerbszwecken genutzten Cloud Computing Leistungen, etwa im Falle der Nichtverfügbarkeit von Clouds, in denen Daten zur privaten Nutzung wie Fotos, Musikdateien, E-Books, Hörbücher und dergleichen gespeichert sind, wird es regelmäßig an einem ersatzfähigen Schaden fehlen. Etwas anderes gilt dann, wenn der Ausfall der Cloud zu einem endgültigen und unwiederbringlichen Verlust von Dateien wie Musikdateien, E-Books, Hörbüchern usw. führt, die gegen Entgelt erworben wurden und infolge des Verlusts erneut gegen Entgelt erworben werden müssen; in diesem Fall stellen die aufzuwendenden Entgelte einen ersatzfähigen Schaden dar. Ebenso wie bei Software (s. Rz. 43) ist hier aber zunächst zu prüfen, ob der Geschädigte nach den Nutzungsbedingungen des Anbieters der digitalen Medien verlangen kann, dass ihm die verlorengegangenen Dateien erneut zur Verfügung gestellt werden, ohne das (volle) Entgelt nochmals bezahlen zu müssen. e) Eigener Aufwand

78

Beim eigenen Aufwand des Geschädigten ist danach zu differenzieren, ob dieser zur Schadensermittlung und zur außergerichtlichen Abwicklung des Schadensersatzanspruches angefallen ist oder zur Behebung des Schadens selbst. Für Zeitaufwand im eigenen Unternehmen kann kein Ersatz verlangt werden, sofern die Zeit zur Schadensermittlung und zur außergerichtlichen Abwicklung des Schadensersatzanspruchs angefallen ist und der im Einzelfall erforderliche Zeitaufwand nicht die von einem privaten Geschädigten typischerweise zu erbringende Mühewaltung überschreitet.110 Eigener Aufwand zur Behebung des Schadens ist hingegen zu ersetzen, weil der Geschädigte gem. Abs. 2 Satz 1 den zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen kann, und zwar unabhängig davon, ob er den Schaden selbst behoben hat oder ihn durch Dritte hat beheben lassen oder gar den Schaden überhaupt nicht beheben lässt.111

79

Allerdings kommt es nicht darauf an, welche Beträge der Geschädigte tatsächlich konkret für die Schadensbeseitigung aufgewendet hat; der zur Wiederherstellung erforderliche Geldbetrag ist vielmehr nach objektiven Kriterien zu bestimmen und gem. § 287 ZPO zu schätzen, wobei § 287 ZPO dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Darlegung erleichtert.112 Der Geschädigte darf einerseits nicht zu Lasten des Schädigers in unangemessener Weise Kosten veranlassen; andererseits dürfen besondere Anstrengungen des Geschädigten zur Schadensbehebung, die er durch den Einsatz seiner oder der Arbeitskraft seiner Mitarbeiter unternommen hat, nicht dem Schädiger zugute kommen.113

80

Bei einem Verlust von Daten umfasst der zu ersetzende Schaden auch die Kosten einer zur Feststellung der gelöschten Daten durchgeführten Inventur.114

81

Hinsichtlich des eigenen Aufwands des Geschädigten für die Schadensbeseitigung ist es irrelevant, ob die Arbeiten von Angestellten während der ohnehin bezahlten Arbeitszeit erledigt wurden oder die Angestellten Überstunden gemacht haben, ob zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt worden sind und ob der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis die Arbeitskraft seiner Angestellten während der Arbeitszeit anderweitig hätte einsetzen können und ob er dadurch Gewinn hätte erzielen können.115

110 111 112 113 114 115

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BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663. BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663. BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663. BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663. BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663. BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, NJW 1996, 2924, 2925 = CR 1996, 663.

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Art und Umfang des Schadensersatzes

Rz. 88 § 249 BGB

f) Umsatzsteuer (§ 249 Abs. 2 Satz 2) Abs. 2 Satz 2 gilt für die Beschädigung einer Sache und ist auf die Beschädigung oder Zerstörung von Daten und Software analog anwendbar (Rz. 29 ff.).

82

III. Abdingbarkeit 1. Kein zwingendes Recht Die §§ 249 ff. enthalten kein zwingendes Recht.116 Der Schadensersatz lässt sich bei einer vertraglichen Haftung durch vertragliche Individualvereinbarungen (zu AGB s. Rz. 85 ff.) innerhalb der Grenzen des § 138 beschränken.117 Beispielsweise kann der Ausgleich von Drittschäden ausgeschlossen oder die Naturalrestitution durch einen generellen Geldersatzanspruch ersetzt werden.118

83

Zu beachten ist aber, dass auch in Individualvereinbarungen enthaltene Beschränkungen des Scha- 84 densersatzes nicht eingreifen, wenn der Schädiger vorsätzlich gehandelt hat (§ 276 Abs. 3). Dies hat gerade im IT-Bereich Bedeutung, weil dort Schadensereignisse besonders häufig auf vorsätzliche Handlungen zurückgehen (Hackerangriffe, Malware, Ausspionieren von Bankdaten, Einbau von Manipulationssoftware), die zwar häufig, aber nicht immer, von unbeteiligten Dritten begangen werden, so dass vertragliche Vereinbarungen hier bisweilen durchaus eine Rolle spielen können. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Konstellation ist die Manipulation von Abgaswerten durch eine von VW in Fahrzeuge eingebaute Software, die im Jahr 2015 bekannt wurde. 2. AGB-Recht Erfolgen Beschränkungen des Schadensersatzes in AGB, so unterliegen diese bei der Verwendung ge- 85 genüber Verbrauchern (Business to Consumer, „B2C“) der Inhaltskontrolle gem. § 309 Nr. 5, 7 Buchst. a, 7 Buchst. b, 8 Buchst. b und § 307 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 310 Abs. 3. Bei der Verwendung gegenüber Unternehmern (Business to Business, „B2B“) erfolgt die Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 und 2 nach Maßgabe von § 310 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2. Danach sind Haftungsausschlüsse, etwa für mittelbare Schäden, Folgeschäden oder unvorhersehbare Schäden,119 oder Haftungsbeschränkungen, etwa auf einen bestimmten Höchstbetrag,120 unwirksam, wenn sich diese (auch) auf Verletzungen an Leben, Körper und Gesundheit gem. § 309 Nr. 7 Buchst. a (B2C) oder § 307 Abs. 1, 2 i.V.m. § 310 Abs. 1 Satz 2 (B2B) oder die Haftung für grobe Fahrlässigkeit beziehen, § 309 Nr. 7 Buchst. b (B2C) oder § 307 Abs. 1, 2 i.V.m. § 310 Abs. 1 Satz 2 (B2B).

86

Eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners i.S.v. § 307 Abs. 1, 2 liegt u.a. vor, wenn der Ersatzanspruch des Vertragspartners auf einen rein symbolischen Betrag begrenzt wird,121 was häufig dann der Fall sein wird, wenn die Ansprüche des Vertragspartners bei Software-Massenprodukten, deren Preise meist im zwei- oder maximal dreistelligen Euro-Bereich liegen, auf den für das Softwareprodukt gezahlten Preis beschränkt wird (s. dazu das Beispiel nachfolgend in Rz. 90).

87

3. Typische Ausschlussklauseln Die üblichen Haftungsausschluss- und -begrenzungsklauseln, die sich regelmäßig in Softwarelizenzverträgen US-amerikanischer Provenienz finden, sind nach deutschem AGB-Recht meist unwirksam. Dies gilt etwa für den Ausschluss von „indirect, special, incidental or consequential damages“ oder für den Ausschluss der Haftung für „loss of profits, loss of goodwill, loss of personnel salaries, work stoppage and/or computer failure or malfunction and/or costs of procuring substitute software or services“. 116 117 118 119 120 121

MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 6. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 7. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 7; OLG München v. 2.3.1994 – 7 U 5918/93, NJW-RR 1994, 742. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 7.

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BGB § 249 Rz. 89 Art und Umfang des Schadensersatzes 89

Hinzu kommt, dass das Gesetz die Begriffe des „indirekten“ („indirect“) oder „mittelbaren“ („consequential“) Schadens nicht kennt, denn nach dem Schadensersatzrecht des BGB ist es für den Umfang des zu ersetzenden Schadens unerheblich, ob der Schaden unmittelbar an dem verletzten Rechtsgut selbst oder an anderen Rechtsgütern des Geschädigten eingetreten ist.122 Bei Klauseln, die den Ersatz „indirekter“ oder „mittelbarer“ Schäden ausschließen, ist daher schon unklar, was damit im konkreten Fall gemeint ist. Hat beispielsweise die Verletzung der Pflicht eines IT-Dienstleisters hinsichtlich der Verfügbarkeit eines IT-Systems oder der Einrichtung einer Notstromversorgung eines Rechenzentrums einen Produktionsausfall zur Folge, würde die Einordnung des Produktionsausfallschadens als „indirekter“ oder „mittelbarer“ Schaden dazu führen, dass bei der Verletzung der betreffenden vertraglichen Pflicht gar kein Schadensersatz möglich ist, weil alle Schäden mittelbar sind; eine solche Auslegung ist daher ausgeschlossen.123 Das gilt auch dann, wenn der Ausschluss des „indirekten“ oder „mittelbaren“ Schadens auf Fälle einfacher Fahrlässigkeit beschränkt ist. Nach der Rspr. des BGH kann die Schadensersatzhaftung für die Verletzung von wesentlichen Vertragspflichten bei einfacher Fahrlässigkeit durch AGB nicht generell ausgeschlossen sondern nur auf den bei Vertragsschluss vorhersehbaren und vertragstypischen Schaden begrenzt werden.124 Der Ausfall einer durch ein ITSystem gesteuerten Produktion ist regelmäßig vorhersehbar und vertragstypisch, so dass ein solcher Produktionsausfallschaden durch AGB i.d.R. nicht ausgeschlossen werden kann.

90

Auch eine Klausel wie beispielsweise „in no event shall either party’s aggregate liability to the other party for direct damages exceed the lesser of a) the amount of total fees paid or payable by you for the Software giving rise to such claim during the 12 months immediately preceding the event giving rise to such claim or b) the applicable list price, at the date of the purchase, for the Software giving rise to such claim ordered by you during the 12 months immediately preceding the event giving rise to such claim“ ist wegen unangemessener Benachteiligung des Vertragspartners unwirksam. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Haftungsbegrenzung nach der Formulierung der Klausel für die Haftung beider Parteien gelten soll, weil eine Haftung des Vertragspartners (= Softwareanwenders) gegenüber dem Verwender der AGB (= Softwareanbieter) kaum in Betracht kommen wird.

91

Auch die üblichen Haftungsausschlussklauseln in den Lizenzbedingungen für die Nutzung von Open Source Software sind nach h.M. meist unwirksam,125 beispielsweise die GNU General Public License („GPL“) Version 2 Ziff. 12 oder Version 3 Ziff. 16, die ganz generell „damages, including any general, special, incidental or consequential damages arising out of the use or inability to use the program (including but not limited to loss of data or data being rendered inaccurate or losses sustained by you or third parties or a failure of the program to operate with any other programs), even if such holder or other party has been advised of the possibility of such damages“ ausschließen will. Die Lizenzbedingungen für Open Source Software stellen AGB dar und unterliegen somit der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle.126 Der Umstand, dass Open Source Software unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird, ändert daran nichts, denn § 276 Abs. 3 gilt ebenso wie § 309 Nr. 7 (B2C) und § 307 (B2B) für jeden Vertragstypus. Diese Vorschriften sollen grundlegende Interessen des Vertragspartners schützen, insb. hinsichtlich der Integrität seiner Rechtsgüter.127 Auch sofern man auf Open Source Software die Schenkungsvorschriften für anwendbar hält,128 ergibt sich nichts anderes, denn auch die Haftung des Schenkers gem. § 521 für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit kann durch AGB nicht weiter eingeschränkt

122 123 124 125

MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 99; Schuster, CR 2011, 215, 217. Schuster, CR 2011, 215, 217. BGH v. 18.7.2012 – VIII ZR 337/11, CR 2012, 718 = ZIP 2012, 2064. Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 224; Spindler, Rechtsfragen bei Open Source, D. Rz. 22; Graf von Westphalen/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Klauselwerke“, IT-Verträge, Rz. 211; a.A. Heussen, MMR 2004, 445, 448: Keine Beschränkung vertraglicher Haftung, sondern nur Klarstellung, dass es ohne Vertrag keine vertragliche Haftung geben kann, weil GNU-GPL-Lizenz keinerlei schuldrechtliche Vereinbarung begründe, sondern lediglich das durch dingliche Verfügung erworbene Recht nach Art, Umfang und Zeitdauer beschreibe. 126 LG München I v. 19.5.2004 – 21 O 6123/04, CR 2004, 774 = ITRB 2004, 242 für die GNU General Public License. 127 Spindler, Rechtsfragen bei Open Source, D. Rz. 22; Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 224. 128 So etwa Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 225.

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Schadensersatz in Geld nach Fristsetzung

Rz. 1 § 250 BGB

werden.129 Wegen des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion130 ist auch der Vorbehalt zugunsten des anwendbaren Rechts („unless required by applicable law“) in Ziff. 12 Version 2 oder Ziff. 16 Version 3 der GPL unbeachtlich.131 Auch verhüllte Haftungsausschlussklauseln wie etwa die Gewährleistung einer Verfügbarkeit von 92 99 % im Jahresmittel bei Hostingleistungen sind unwirksam.132

IV. Einzelfälle und -fragen Verletzt der Hersteller einer Standardsoftware seine Pflicht zur Pflege der Software oder zum Abschluss eines Pflegevertrages, kann der daraus resultierende Schadensersatzanspruch als Herstellung der Voraussetzung für die Naturalrestitution auf Herausgabe des Source Codes der Software gerichtet sein.133 Verletzt der Softwareanbieter seine Verpflichtung zur Beratung des Kunden, in dem er es unterlässt, auf die Existenz einer abgespeckten, wesentlich kostengünstigeren Einsteigerversion der Software hinzuweisen, so ist der Kunde, dem infolge der Beratungspflichtverletzung ein Schadensersatzanspruch aus c.i.c. gem. §§ 280, 241 Abs. 2 zusteht, gem. § 249 so zu stellen, als ob er den Vertrag über den Erwerb der Software nie abgeschlossen hätte; er ist daher zur Zahlung des vereinbarten Preises nicht verpflichtet.134

93

§ 250 Schadensersatz in Geld nach Fristsetzung Der Gläubiger kann dem Ersatzpflichtigen zur Herstellung eine angemessene Frist mit der Erklärung bestimmen, dass er die Herstellung nach dem Ablauf der Frist ablehne. Nach dem Ablauf der Frist kann der Gläubiger den Ersatz in Geld verlangen, wenn nicht die Herstellung rechtzeitig erfolgt; der Anspruch auf die Herstellung ist ausgeschlossen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systematik und Funktion der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fristsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Angemessenheit der Frist . . . . . . . . b) Erfüllung notwendiger Mitwirkungspflichten durch den Gläubiger . . . . . c) Entbehrlichkeit der Fristsetzung . . . . 2. Ablehnungsandrohung . . . . . . . . . . . 3. Fruchtloser Fristablauf . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

3 3 4

. . . .

5 6 7 9

. . . .

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4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruch auf Geldersatz . . . . . . . . b) Erlöschen des Anspruchs auf Naturalrestitution . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kein zwingendes Recht . . . . . . . . . . . 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 11 . . . 11 . . . .

. . . .

. . . .

12 13 13 14

IV. Verhältnis zu § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

I. Allgemeines 1. Systematik und Funktion der Norm § 250 ermöglicht dem Gläubiger die Umwandlung des Anspruchs auf Naturalrestitution in einen Anspruch auf Geldersatz. Es handelt sich um einen sekundären Kompensationsanspruch, der voraus129 Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 225; Spindler, Rechtsfragen bei Open Source, D. Rz. 21; Graf von Westphalen/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Klauselwerke“, IT-Verträge, Rz. 211. 130 BGH v. 24.9.1985 – VI ZR 4/84, NJW 1986, 1610, st. Rspr. 131 Spindler, Rechtsfragen bei Open Source, D. Rz. 22. 132 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = MMR 2008, 136 = ITRB 2007, 106. 133 OLG München v. 16.7.1991 – 25 U 2586/91, CR 1992, 208 = Beil. BB 1993, Heft 5, 12. 134 OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, CR 1994, 212 = NJW 1994, 1355.

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BGB § 250 Rz. 1 Schadensersatz in Geld nach Fristsetzung setzt, dass ein Anspruch auf Naturalrestitution gem. § 249 Abs. 1 besteht1 und diese auch möglich ist. § 250 findet daher keine Anwendung auf Entschädigungsansprüche gem. § 251.2 2. Bedeutung und Anwendungsbereich 2

§ 250 spielt schon in der allgemeinen Praxis kaum eine Rolle, weil regelmäßig auch dann Geldersatz geleistet wird, wenn die Voraussetzungen der §§ 249 Abs. 2, 250, 251 nicht erfüllt sind.3 Der Gläubiger wird von der Möglichkeit des § 250 nur dann Gebrauch machen, wenn er auf die Herstellung in Natur nach § 249 Abs. 1 keinen Wert legt.4 Das wird im IT-Bereich aber gerade dann, wenn nur der Schädiger selbst über die zur Vornahme erforderlichen Informationen und Kenntnisse beispielsweise bei einer von ihm selbst programmierten Software verfügt (vgl. § 249 Rz. 12), nicht der Fall sein, weshalb auch die Bedeutung im IT-Bereich eher gering ist.

II. Norminhalt 1. Fristsetzung 3

§ 250 verlangt eine formlose, empfangsbedürftige Fristsetzung, deren Zugang im Streitfall vom Gläubiger zu beweisen ist.5 Allerdings sind vertragliche Regelungen zu beachten. IT-Projektverträge und Outsourcing-Verträge enthalten häufig Bestimmungen, die für derartige Erklärungen von Bedeutung sein können. So können Eskalationsklauseln vorsehen, dass im Falle von Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten in einem ersten Schritt ein Lösungsversuch auf Projektarbeitsebene und in einem zweiten Schritt auf Projektleiterebene erfolgen muss, bevor die Geschäftsführung involviert werden darf. Klauseln, die für derartige Erklärungen Schriftform oder zumindest Textform verlangen und/ oder vorsehen, dass die Erklärung an eine bestimmte Person gerichtet werden muss, sind ebenfalls nicht selten. a) Angemessenheit der Frist

4

Die Frist muss angemessen sein. Die Setzung einer zu kurzen Frist setzt eine angemessene Frist in Lauf.6 b) Erfüllung notwendiger Mitwirkungspflichten durch den Gläubiger

5

In IT-Projekten spielen häufig Mitwirkungspflichten des Gläubigers eine erhebliche Rolle. Ist eine Mitwirkung des Gläubigers für die Herstellung notwendig, so darf der Gläubiger die Frist erst dann setzen, wenn er seinerseits die ihm obliegende notwendige Mitwirkungshandlung vorgenommen hat. Hat beispielsweise ein Auftragnehmer im Verlauf eines IT-Projekts beim Programmieren einer Schnittstelle zu einer nicht vertragsgegenständlichen Software des Auftraggebers einen Fehler dieser Software verursacht, so muss der Auftraggeber dem Auftragnehmer den Zugriff auf diese Software, sofern notwendig auch auf den Quellcode, gewähren, damit dieser den Fehler beseitigen kann. c) Entbehrlichkeit der Fristsetzung

6

Die Fristsetzung ist entbehrlich, wenn der Schuldner die geforderte Herstellung oder überhaupt jeden Schadensersatz ernsthaft und endgültig verweigert.7

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Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 1; BeckOK BGB/Flume, § 250 Rz. 4. BeckOK BGB/Flume, § 250 Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 250 BGB Rz. 1. Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 1. Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 250 BGB Rz. 2; Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 2. BGH v. 13.1.2004 – XI ZR 355/02, NJW 2004, 1868; BGH v. 26.1.2012 – VII ZR 154/10, NJW 2012, 1573.

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Schadensersatz in Geld nach Fristsetzung

Rz. 12 § 250 BGB

2. Ablehnungsandrohung Die Fristsetzung muss mit einer Ablehnungsandrohung verbunden sein. Diese muss die Erklärung 7 enthalten, dass der Gläubiger nach Ablauf der Frist die Herstellung durch den Schuldner ablehne; die bloße Erklärung, dass sich der Gläubiger nach Ablauf der Frist die Ablehnung der Naturalrestitution vorbehalte oder die Aufforderung, Geldersatz zu leisten, ist nicht ausreichend.8 Während das Erfordernis einer Ablehnungsandrohung in § 283 Abs. 1 Satz 1 und § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz abgeschafft wurde und in § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1 BGB n.F. nicht mehr enthalten ist, ist das Erfordernis der Ablehnungsandrohung in § 250 Satz 1 unverändert erhalten geblieben und weiterhin zu beachten.

8

3. Fruchtloser Fristablauf Die gesetzte Frist oder im Falle der Setzung einer zu kurzen Frist die angemessene Frist muss fruchtlos abgelaufen sein. Der Grund für den Ablauf der Frist ist irrelevant; insb. spielt es keine Rolle, wenn der Schuldner die Frist nicht schuldhaft versäumt hat. Es gibt keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; allenfalls kann der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung in Betracht kommen.9

9

Während des Laufs der Frist kann der Geschädigte, auch wenn ein Fall des § 249 Abs. 2 vorliegt, beispielsweise bei einer Löschung von Daten, nur Naturalrestitution verlangen.10

10

4. Rechtsfolgen a) Anspruch auf Geldersatz Nach Ablauf der Frist kann der Gläubiger Schadensersatz in Geld in Höhe der Herstellungskosten gem. § 249 Abs. 2 fordern.11 Die Umwandlung des Anspruches auf Herstellung in eine Geldforderung erfolgt in dem Zeitpunkt, in welchem der Gläubiger Geldersatz fordert.12

11

b) Erlöschen des Anspruchs auf Naturalrestitution Grundsätzlich erlischt gem. Satz 2 Halbs. 2 im Zeitpunkt des Verlangens von Geldersatz der Anspruch auf Herstellung. Ausnahmsweise kann der Gläubiger jedoch dann wieder zur Geltendmachung des Anspruchs auf Herstellung zurückkehren, wenn der Anspruch auf Geldersatz nicht durchsetzbar ist, während der Anspruch auf Herstellung realisiert werden kann,13 beispielsweise wenn der Schuldner ein freiberuflich tätiger Programmierer ist, der zwar nicht über pfändbares Geldvermögen verfügt, aber über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, um den Schaden, den er bei Arbeiten an einem ITSystem verursacht hat, zu beseitigen. Zwar kann der Schuldner nach Fristablauf nur noch durch Geldersatz erfüllen. Ein Herstellungsangebot des Schuldners muss der Gläubiger nicht annehmen, er kann dies jedoch tun (Annahme an Erfüllungs statt, § 364 Abs. 1).14

8 Palandt/Grüneberg, § 250 BGB Rz. 2; BeckOK BGB/Flume, § 250 Rz. 7; MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 5. 9 Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 5. 10 Palandt/Grüneberg, § 250 BGB Rz. 3; Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 4; MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 9. 11 Erman/Ebert, § 250 BGB Rz. 6; MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 12; Palandt/Grüneberg, § 250 BGB Rz. 3. 12 BGH v. 17.2.2011 – III ZR 144/10, NJW-RR 2011, 910; Palandt/Grüneberg, § 250 BGB Rz. 3; a.A. MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 10: Umwandlung bereits mit Fristablauf. 13 MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 11. 14 MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 11.

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BGB § 250 Rz. 13 Schadensersatz in Geld nach Fristsetzung

III. Abdingbarkeit 1. Kein zwingendes Recht 13

§ 250 enthält kein zwingendes Recht;15 bei Individualvereinbarungen ist die Grenze des § 138 zu beachten.16 Beispielsweise kann die Naturalrestitution durch einen generellen Geldersatzanspruch ersetzt werden,17 so dass die Anwendung von § 250 bereits deshalb entfällt, weil es an der Voraussetzung eines bestehenden Anspruchs auf Naturalrestitution18 fehlt. 2. AGB-Recht

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Abbedingungen oder Modifikationen in AGB unterliegen der Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 und Abs. 2. Eine Unwirksamkeit kommt in Betracht, wenn der Schadensersatz per AGB auf Naturalrestitution beschränkt wird und das Recht des Gläubigers, den Anspruch gem. § 250 in einen Anspruch auf Geldersatz umzuwandeln, generell ausgeschlossen wird. Entsprechend der Rspr. des BGH zu § 32319 ist eine Klausel unwirksam, die eine Nachfristsetzung auch dann verlangt, wenn die Fristsetzung wegen endgültiger und ernsthafter Weigerung des Schuldners entbehrlich ist.

IV. Verhältnis zu § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1 15

§ 250 kann bei der Beendigung und Abwicklung von gescheiterten IT-Projekten eine Rolle spielen, weshalb in diesem Zusammenhang das Verhältnis zu § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1 von Bedeutung ist. Die Vorschriften unterscheiden sich insb. dadurch, dass § 250 eine Ablehnungsandrohung erfordert, § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1 hingegen nicht. Ein weiterer Unterschied besteht in den Rechtsfolgen: Während sowohl bei § 250 als auch bei § 281 Abs. 1 Satz 1 der ursprünglich bestehende Anspruch in einen Geldersatzanspruch umgewandelt wird, ist die Rechtsfolge des § 323 Abs. 1 ein Rücktrittsrecht, wobei allerdings neben dem Rücktritt auch ein Schadensersatzanspruch geltend gemacht werden kann (§ 325). § 281 Abs. 1 Satz 1 gilt allgemein für alle Primärleistungsansprüche, unabhängig davon, ob diese auf Vertrag oder Gesetz beruhen.20 § 250 gilt nur für Schadensersatzansprüche, die auf Naturalrestitution gerichtet sind, und ist daher gegenüber § 281 Abs. 1 Satz 1 lex specialis.21 § 323 Abs. 1 gilt für auf einem gegenseitigen Vertrag beruhende Primärleistungsansprüche.

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Fordert der Auftraggeber eines Vertrags über die Lieferung und Implementierung von Standardsoftware einschließlich Migration der Daten aus dem Altsystem in das neue System den Auftragnehmer unter Fristsetzung auf, eine vertraglich vereinbarte Teilleistung, wie z.B. die Datenmigration, oder die gesamte Vertragsleistung zu erbringen, so gelten § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1. Gleiches gilt, wenn der Auftraggeber den Auftragnehmer zur Beseitigung von Mängeln einer abgelieferten, aber noch nicht abgenommenen Softwarelösung auffordert, z.B. wenn bei der Datenmigration ein Element der Datensätze nicht migriert wurde. Hat der Auftragnehmer hingegen bei dem Versuch, die Daten aus dem Altsystem in das neue System zu migrieren, versehentlich sämtliche Daten im Altsystem gelöscht, und fordert der Auftraggeber den Auftragnehmer nunmehr unter Fristsetzung auf, zunächst die Daten im Altsystem z.B. anhand einer Sicherungskopie wieder herzustellen und sodann die Datenmigration ordnungsgemäß und mangelfrei durchzuführen, gilt für die Aufforderung zur Wiederherstellung der versehentlich gelöschten Daten § 250. Für die Aufforderung zur ordnungsgemäßen und mangelfreien Durchführung der vertraglich geschuldeten Datenmigration gelten § 281 Abs. 1 Satz 1 und § 323 Abs. 1. Die Aufforderung zur Wiederherstellung der versehentlich gelöschten Daten des Altsystems muss mit einer Ablehnungsandrohung verbunden sein, die Aufforderung zur Durchführung der beim ersten Versuch misslungenen Datenmigration hingegen nicht. Der fruchtlose 15 16 17 18 19 20 21

MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 6. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. BeckOK BGB/Flume, § 250 Rz. 4. BGH v. 6.6.2013 – VII ZR 355/12, NJW 2013, 3022. Palandt/Grüneberg, Vorb v § 281 BGB Rz. 1. MünchKomm/Oetker, § 250 BGB Rz. 2.

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Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung

Rz. 2 § 251 BGB

Ablauf der Frist zur Wiederherstellung der gelöschten Daten ermöglicht noch keine Beendigung des IT-Projekts. Erst wenn die gelöschten Daten wiederhergestellt wurden – sei es im Wege der Naturalrestitution durch den Auftragnehmer oder nach Fristablauf durch einen vom Auftraggeber beauftragten Dritten – und sodann die Frist zur Durchführung der Datenmigration in das neue System fruchtlos abläuft, kann der Auftraggeber vom Vertrag zurücktreten und Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen.

§ 251 Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung (1) Soweit die Herstellung nicht möglich oder zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend ist, hat der Ersatzpflichtige den Gläubiger in Geld zu entschädigen. (2) Der Ersatzpflichtige kann den Gläubiger in Geld entschädigen, wenn die Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist. [Die aus der Heilbehandlung eines verletzten Tieres entstandenen Aufwendungen sind nicht bereits dann unverhältnismäßig, wenn sie dessen Wert erheblich übersteigen.] I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systematik und Funktion der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

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II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmöglichkeit der Herstellung (§ 251 Abs. 1 Alt. 1) . . . . . . . . . . . . . a) Völlige Zerstörung von Hardware . . . b) Völlige Zerstörung von Software . . . c) Unwiederbringliche Vernichtung von Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unwiederbringliche Übermittlung/ Preisgabe von Daten . . . . . . . . . .

8

. . .

. . . 8 . . . 10 . . . 11 . . . 12 . . . 14

2. 3. 4. III. 1. 2. IV.

e) Schäden durch Computerviren und sonstige Malware . . . . . . . . . . . . f) Rechtliche Unmöglichkeit . . . . . . . Zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend (§ 251 Abs. 1 Alt. 2) . . . . . . Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich (§ 251 Abs. 2) . . Rechtsfolge: Geldentschädigung . . . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Kein zwingendes Recht . . . . . . . . . . . AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zu § 275 . . . . . . . . . . . . .

. . . 15 . . . 16 . . . 17 . . . . . .

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I. Allgemeines 1. Systematik und Funktion der Norm § 251 gewährt dem Gläubiger einen Anspruch auf Geldersatz, wenn und soweit die Naturalrestitution nicht möglich (§ 251 Abs. 1 Satz 1), zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend (§ 251 Abs. 1 Satz 2) oder unverhältnismäßig ist (§ 251 Abs. 2). Es handelt sich ebenso wie bei § 250 um einen sekundären Kompensationsanspruch. Aus § 251 folgt im Umkehrschluss der Vorrang der Naturalrestitution: Alle Schäden, die gem. § 249 Abs. 1 oder Abs. 2 ersetzt werden können, fallen aus dem Regelungsbereich des § 251 heraus.1

1

Während § 251 Abs. 1 dem Gläubigerinteresse dient und diesem anstelle der nicht möglichen oder nicht genügenden Naturalrestitution einen Schadensersatzanspruch in Geld verschafft, dient § 251 Abs. 2 dem Interesse des Schuldners2 und gewährt diesem eine Ersetzungsbefugnis.3 Die Unmöglichkeit gem. § 251 Abs. 1 Alt. 1 und die Unverhältnismäßigkeit der Herstellung gem. § 251 Abs. 2 sind Einwendungen des Schädigers; der Schädiger trägt für das Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen die Darlegungs- und Beweislast.4

2

1 Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 1. 2 MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 2. 3 Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 5; Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 16; MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 35. 4 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98.

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BGB § 251 Rz. 3 Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung 2. Bedeutung und Anwendungsbereich 3

§ 251 gilt für alle Schadensersatzansprüche unabhängig davon, auf welcher Anspruchsgrundlage sie beruhen.5 Eine analoge Anwendung auf Eigentumsherausgabeansprüche gem. § 985 kommt nicht in Betracht.6 Zum Beseitigungsanspruch gem. § 1004 vgl. Rz. 29.

4

§ 251 gilt für alle Fälle der Naturalrestitution gem. § 249 Abs. 1; er gilt nur für Vermögensschäden, nicht jedoch für Nichtvermögensschäden wie z.B. Gesundheitsschäden.7

5

Der praktisch wichtigste Anwendungsfall von § 251 ist der Ersatz eines technischen oder merkantilen Minderwerts, der nach Durchführung einer fachgerechten Reparatur verbleibt, insb. bei durch einen Unfall beschädigten Kraftfahrzeugen. Systematisch eingeordnet wird der Minderwert entweder als Teilunmöglichkeit i.S.v. Abs. 1 Alt. 18 oder als Ungenügen der Herstellung i.S.v. Abs. 1 Alt. 2, wobei die systematische Einordnung wegen der identischen Rechtsfolge keine Rolle spielt.9

6

Bei der Beschädigung von IT-Systemen sind allerdings nur wenige Fälle denkbar, in denen nach einer fachgerechten Reparatur ein technischer oder merkantiler Minderwert verbleibt. Eine Situation, in der die Gebrauchsfähigkeit, Betriebssicherheit oder Lebensdauer eines IT-Systems beeinträchtigt ist, weil nach einer Reparatur geringfügige Schadensfolgen verbleiben oder das Ergebnis der Reparatur nicht perfekt ist (technischer Minderwert)10 oder das reparierte IT-System vom Verkehr geringer bewertet wird (merkantiler Minderwert),11 kommt nur in Betracht, wenn die Beschädigung physischer Natur war, beispielsweise wenn ein Computer aufgrund eines Ausfalls des Lüfters überhitzt wurde oder in das Gehäuse Wasser eingedrungen ist. Diese Fälle sind mit dem Unfallschaden eines Pkw vergleichbar: Die nicht auszuschließende Möglichkeit verbliebener versteckter Mängel, die zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Ausfall führen, oder die subjektive Abneigung, einen reparierten Gegenstand zu erwerben,12 führen in derartigen Fällen zu einer Wertminderung.

7

War die Beschädigung hingegen nicht physischer sondern rein informationstechnischer Natur wie z.B. bei einem Verlust von Daten, die vollständig wiederhergestellt worden sind, gibt es keinerlei Anlass zur Annahme eines geminderten Wertes, denn diese Beschädigungen haben keinerlei Einfluss auf die physische Substanz des IT-Systems. Vielmehr geht ein Verlust von Daten in aller Regel auf eine Fehlbedienung durch Menschen zurück. Ein Computer, auf dem in der Vergangenheit einmal Daten gelöscht worden sind, wird vom Verkehr nicht als „repariert“ und nicht als minderwertig angesehen.

II. Norminhalt 1. Unmöglichkeit der Herstellung (§ 251 Abs. 1 Alt. 1) 8

Voraussetzung von Abs. 1 Alt. 1 ist die Unmöglichkeit der Naturalrestitution. Unmöglichkeit liegt nicht schon deshalb vor, weil der Schaden irreparabel ist (Totalschaden), denn dann kommt eine Herstellung durch Beschaffung einer gleichartigen und gleichwertigen Sache in Betracht (Ersatzbeschaffung).13 Ist eine solche Ersatzbeschaffung möglich, besteht ein Anspruch auf Herstellung gem. § 249, und die Anwendung von Abs. 1 Alt. 1 ist ausgeschlossen.

9

Die Ursache der Unmöglichkeit ist im Rahmen des § 254 zu berücksichtigen, wenn der Gläubiger die Unmöglichkeit schuldhaft mit herbeigeführt hat,14 beispielsweise durch Unterlassen einer üblichen Datensicherung oder eines üblichen Virenschutzes.

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MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 2; MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 3. MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 5; BeckOK BGB/Flume, § 251 Rz. 4, 5. Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 4. Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 5; Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 13. Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 14; Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 6. Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 6. BGH v. 10.7.1984 – VI ZR 262/82, NJW 1984, 2282. Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 3.

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Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung

Rz. 14 § 251 BGB

a) Völlige Zerstörung von Hardware Im Falle einer völligen Zerstörung von Hardware wird in der Regel eine Naturalrestitution durch Ersatzbeschaffung einer gleichartigen und gleichwertigen Hardware möglich sein; Abs. 1 Alt. 1 ist daher grundsätzlich nicht anwendbar. Allerdings richtet sich der Schadensersatzanspruch bei der Zerstörung von Hardware dann nach Abs. 1 Alt. 1, wenn der Geschädigte einen vertraglichen Anspruch auf Herausgabe der Hardware hatte, die Erfüllung dieses vertraglichen Herausgabeanspruches infolge der Zerstörung nicht mehr möglich ist und der Geschädigte nunmehr gem. § 281 Schadensersatz statt der Leistung verlangt15 (rechtliche Unmöglichkeit, s. Rz. 16).

10

b) Völlige Zerstörung von Software Eine völlige Zerstörung von Software führt nur dann zur Unmöglichkeit der Herstellung i.S.v. Abs. 1 Alt. 1, wenn sämtliche existierenden Kopien der Software zerstört worden sind und diese daher nicht technisch reproduziert oder rekonstruiert sondern nur komplett neu programmiert werden kann (§ 249 Rz. 47 und § 249 Rz. 50–53). Eine Neuschaffung einer Software ist keine „Wiederherstellung“ i.S.v. § 249 Abs. 1, weil die Schaffung von Software eine qualifizierte geistige Leistung darstellt16 (§ 249 Rz. 47, 53). Folglich besteht in solchen Fällen nur ein Anspruch auf Entschädigung in Geld gem. Abs. 1 Alt. 1, nicht jedoch auf Ersatz der Kosten für eine neue Erstellung der Software.

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c) Unwiederbringliche Vernichtung von Daten Auch bei Daten ist zunächst zu prüfen, ob sämtliche existierenden Kopien der Daten wirklich zerstört 12 worden sind, oder ob eine technische Reproduktion oder Rekonstruktion möglich ist.17 Können die Daten nach einer einfachen Löschung oder nach einer Formatierung der Festplatte aus dem sog. Papierkorb, aus einem Backup, durch eine Systemwiederherstellung, mittels eines File Recovery Programms oder sonstiger Spezialwerkzeuge (§ 249 Rz. 35–37), sei es auch nur durch ein darauf spezialisiertes Fachunternehmen und/oder mit erheblichem Aufwand wiederhergestellt werden, so liegt keine Unmöglichkeit i.S.v. Abs. 1 Alt. 1 vor. Es ist dann allerdings zu prüfen, ob der Aufwand unverhältnismäßig i.S.v. Abs. 2 ist. Ist eine technische Reproduktion oder Rekonstruktion der Daten nicht möglich, sondern nur eine 13 komplette manuelle Neueingabe, dann ist die Herstellung nur gem. Abs. 1 Alt. 1 unmöglich, wenn die Eingabe mit einer qualifizierten geistigen oder schöpferischen Leistung verbunden ist, beispielsweise wenn es sich bei den Daten um Konstruktionszeichnungen eines Ingenieurbüros handelt, weil dann eine Neuschaffung keine „Wiederherstellung“ im Rechtssinne ist.18 Es kommt dann auf eine Unverhältnismäßigkeitsprüfung gem. Abs. 2 nicht an. Handelt es sich bei der Neueingabe der Daten hingegen um eine rein mechanische Eingabe der Daten in einen Computer (Abschreiben) wie beispielsweise die Erfassung eines Warenkatalogs für einen Online-Shop, fehlt es an einer Unmöglichkeit der Herstellung i.S.v. Abs. 1 Alt. 1. Ist der Aufwand für die manuelle Neuerfassung der Daten hoch, so ist zu prüfen, ob Unverhältnismäßigkeit i.S.v. Abs. 2 vorliegt. d) Unwiederbringliche Übermittlung/Preisgabe von Daten Bei der unwiederbringlichen Übermittlung oder Preisgabe von Daten beispielsweise durch Sicher- 14 heitslücken im System oder Hackerangriffe ist zwar i.d.R. eine Wiederherstellung i.S.v. § 249, also eine Löschung der Daten bei allen Empfängern, welche diese erhalten haben, nicht möglich, da dies voraussetzen würde, dass alle Empfänger der Daten bekannt und zur Löschung bereit sind. Das ist jedoch regelmäßig nicht der Fall. Gleichwohl unterfallen solche Fälle erst dann Abs. 1 Alt. 1, wenn infolge der Übermittlung oder Preisgabe von Daten, beispielsweise Kreditkartendaten, durch Hinzutreten weiterer Umstände ein Vermögensschaden entsteht, denn die bloße Übermittlung oder Preisgabe von Daten stellt noch keinen Vermögensschaden dar. 15 16 17 18

OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205. Vgl. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066, 1067 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98.

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BGB § 251 Rz. 15 Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung e) Schäden durch Computerviren und sonstige Malware 15

Schäden durch Computerviren und sonstige Malware stellen hingegen regelmäßig einen Vermögensschaden dar, weil dadurch die Nutzung der betroffenen IT-Systeme nicht mehr oder nur noch mit Einschränkungen möglich ist. Allerdings fehlt es in diesen Fällen an einer Unmöglichkeit i.S.v. Abs. 1 Alt. 1, wenn die Malware, beispielsweise mit einer Spezialsoftware, oder auch nur durch ein komplettes Neuaufsetzen des Computers, beseitigt werden kann. Zur unwiederbringlichen Löschung von Daten durch Malware s. Rz. 12 f. f) Rechtliche Unmöglichkeit

16

Ein weiterer Anwendungsfall von Abs. 1 Alt. 1 ist die rechtliche Unmöglichkeit. Ein Hauptanwendungsfall der rechtlichen Unmöglichkeit ist der Schadensersatz statt der Leistung gem. § 281. In diesen Fällen ist die Herstellung aus Rechtsgründen ausgeschlossen19 (vgl. § 281 Abs. 4), denn dieser Schadensersatzanspruch ersetzt bereits kraft Gesetzes den ursprünglichen vertraglichen Leistungsanspruch. § 251 ist daher in allen Fällen anzuwenden, in denen zwischen den Parteien eine Vertragsbeziehung besteht und der Schadensersatzanspruch an die Stelle eines vertraglichen Primäranspruchs getreten ist. 2. Zur Entschädigung des Gläubigers nicht genügend (§ 251 Abs. 1 Alt. 2)

17

Ein wichtiger Anwendungsbereich von Abs. 1 Alt. 2 sind die Fälle des sog. unechten Totalschadens,20 in denen sich der Geschädigte bei erheblicher Beschädigung einer praktisch neuwertigen Sache nicht auf die technisch an sich mögliche Reparatur verweisen lassen muss, weil dies in einem solchen Fall als unzumutbar angesehen wird,21 sondern stattdessen den für die Anschaffung einer neuen Sache erforderlichen Neupreis verlangen kann und die beschädigte Sache dem Schädiger zur Verfügung stellen muss.22 Die Fallgruppe des unechten Totalschadens wurde von der Rechtsprechung anhand der Beschädigung von praktisch neuwertigen Fahrzeugen mit geringer Fahrleistung entwickelt und ist grundsätzlich auf die erhebliche Beschädigung von praktisch neuwertiger Computerhardware anwendbar.23

18

Die Naturalrestitution ist zur Entschädigung des Gläubigers ferner u.a. dann ungenügend, wenn sie für den Geschädigten unzumutbar lange dauern würde.24 Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine Wiederherstellung verlorengegangener Daten durch manuelle Neueingabe durch den Schädiger zwar möglich ist, aber unzumutbar lange dauert; allerdings ergibt sich in einem solchen Fall ein Geldanspruch auch bereits aus § 249 Abs. 2. Unterschiedlich ist indes die Berechnung: Während der Geschädigte gem. § 249 Abs. 2 den Betrag verlangen kann, den ein Dritter für die Durchführung der Wiederherstellung verlangt (wodurch die lange Dauer etwa dann kompensiert werden kann, wenn der Dritte mit mehreren Personen parallel arbeitet), gewährt Abs. 1 Alt. 2 lediglich einen Wertersatzanspruch, der den Wertverlust des Vermögens des Geschädigten als Ganzes ausgleicht25 und daher deutlich geringer sein kann. Abs. 1 Alt. 2 hat deshalb bei Verlust von Daten in der Praxis keine Bedeutung.

19 OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205; MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 6; Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 2. 20 MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 13, 26 ff.; Palandt/Grüneberg, § 249 BGB Rz. 23; Jauernig/Teichmann, § 251 BGB Rz. 4. 21 Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 4. 22 MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 27. 23 MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 30. 24 MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 13. 25 Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 24.

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Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung

Rz. 23 § 251 BGB

3. Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich (§ 251 Abs. 2) § 251 Abs. 2 setzt voraus, dass die Herstellung nur mit unverhältnismäßigen Aufwendungen möglich ist und gewährt dem Schädiger gegenüber den Herstellungsansprüchen aus § 249 Abs. 1 und Abs. 226 eine Ersetzungsbefugnis,27 die darauf gerichtet ist, statt der Herstellung oder des für die Herstellung erforderlichen Geldbetrags lediglich einen geringeren Entschädigungsbetrag zu leisten. Die Ersetzungsbefugnis hat lediglich den Zweck, die Höhe der Ersatzpflicht nach oben zu begrenzen, wenn dem Schädiger eine Naturalrestitution i.S.d. § 249 wegen unverhältnismäßiger Kosten im Vergleich zum Wert der Sache unzumutbar ist.28

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Die Darlegungs- und Beweislast für die Unverhältnismäßigkeit der Aufwendungen trägt der Schädi- 20 ger; den Geschädigten trifft lediglich eine sekundäre Darlegungslast, soweit es sich um Tatsachen handelt, die sich der Kenntnis des Schädigers entziehen, weil sie aus der Sphäre des Geschädigten stammen.29 Der Schädiger muss also darlegen, dass die Kosten der Herstellung den Wert des beschädigten Gegenstands vor dem Schadensereignis erheblich übersteigen. Die von der Rspr. für Kfz-Schäden entwickelte Faustregel, nach welcher eine Unverhältnismäßigkeit 21 gem. Abs. 2 vorliegt, wenn die Herstellungskosten den Wert vor dem Schadensereignis um mehr als 30 % übersteigen, kann bei Schäden an IT-Systemen nicht ohne weiteres herangezogen werden; vielmehr ist hier eine sorgfältige Abwägung der beiderseitigen Interessen erforderlich.30 Der BGH hat in einem Fall, in dem der Sohn eines freien Mitarbeiters eines Ingenieurbüros bei dem 22 Versuch, auf einem Betriebsrechner des Ingenieurbüros ein Computerspiel zu installieren, den auf der Festplatte des Rechners befindlichen Datenbestand weitgehend zerstört bzw. unbrauchbar gemacht hatte, zur Feststellung der Unverhältnismäßigkeit und der Darlegungslast folgendes ausgeführt31: Der Wert eines Bestandes von gespeicherten Daten für einen Betrieb lässt sich nicht nur nach den konkreten Kosten bemessen, die der Geschädigte seit dem Schadensereignis für die Rekonstruktion von verlorenen Daten aufgewendet hat. Vielmehr ist auch von Bedeutung, inwieweit durch ihr Fehlen Betriebsabläufe gestört und erschwert werden, d.h. inwieweit dadurch zeitlicher und personeller Mehraufwand verursacht wird. Bei der Schadensschätzung im Rahmen einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung i.S.d. § 287 ZPO kann berücksichtigt werden, welchen Aufwand der Geschädigte in der Vergangenheit seit dem Schadensereignis tatsächlich betrieben hat, um verlorene Dateien zu rekonstruieren. Dabei muss der Geschädigte nicht zwingend im Einzelnen darlegen, welche konkreten Kosten für welche konkreten Dateirekonstruktionen bisher entstanden sind. Vielmehr kann es für eine Schätzung ausreichen, die entsprechenden (Mehr-)Leistungen der Mitarbeiter des Geschädigten für die Rekonstruktion von konkret benötigten Dateien darzulegen. Diese können zu einer Bewertung des eingetretenen Schadens auch dann herangezogen werden, wenn die entsprechenden Arbeitszeiten im Unternehmen des Geschädigten nicht zusätzlich vergütet worden sind. Bei einer Schätzung des Vermögensschadens im Rahmen des § 251 ist ohne Bedeutung, ob der Geschädigte den Schaden selbst behoben hat oder ihn durch Dritte hat beheben lassen. Bei einem Anspruch nach § 249 kann nämlich der Zeitaufwand im eigenen Unternehmen, der nicht lediglich der Schadensermittlung oder außergerichtlichen Abwicklung des Schadensersatzanspruchs dient, sondern der Schadensbeseitigung selbst, ersatzfähig sein. Denn es ist nicht gerechtfertigt, solche besonderen Anstrengungen zur Schadensbehebung, die der Geschädigte durch den Einsatz seiner oder der Arbeitskraft seiner Mitarbeiter unternommen hat, dem Schädiger zugute kommen zu lassen. Der Grad des Verschuldens des Schädigers oder andere Umstände, die nicht das reine Wertverhältnis 23 betreffen, wie beispielsweise immaterielle Interessen, sind nach der Rspr. des BGH bei der Beurteilung der Unverhältnismäßigkeitsgrenze zu berücksichtigen mit der Folge, dass insb. bei vorsätzlichen Pflichtverletzungen oder sonstigem schweren Verschulden dem Schuldner Aufwendungen zuzumuten

26 BGH v. 8.12.1987 – VI ZR 53/87, NJW 1988, 1835; Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 5. 27 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98; Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 5; Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 16; MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 35. 28 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. 29 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98. 30 Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 6. 31 BGH v. 9.12.2008 – VI ZR 173/07, NJW 2009, 1066 = CR 2009, 283 = ITRB 2009, 98.

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BGB § 251 Rz. 23 Schadensersatz in Geld ohne Fristsetzung sein können, die sonst als unverhältnismäßig anzusehen wären.32 Dem ist zuzustimmen, weil das Unverhältnismäßigkeitskriterium nicht ohne einzelfallbezogene Güter- und Interessenabwägung ausgefüllt werden kann. Gerade IT-Systeme sind aufgrund ihrer Bedeutung für viele Lebensbereiche sehr verletzlich und in besonderem Maße vorsätzlichen Angriffen ausgesetzt, weshalb hier eine Berücksichtigung des Verschuldensgrades geboten ist. Im Bereich der Kfz-Unfälle, welche die Kasuistik zu Abs. 2 und zu den §§ 249 ff. insgesamt maßgeblich prägen, stellt die vorsätzliche Herbeiführung von Schäden wegen der damit verbundenen Schädigung eigener Rechtsgüter des Schädigers hingegen die Ausnahme dar.33 Abzulehnen ist indes die Auffassung, dass die Unverhältnismäßigkeitsgrenze auch durch die Vermögensverhältnisse des Schädigers beeinflusst werden könne,34 weil Abs. 2 lediglich eine Beschränkung des Integritätsinteresses des Geschädigten darstellt und beim Integritätsinteresse i.S.v. § 249 Gesichtspunkte der Prävention und der Spürbarkeit – anders als etwa im Falle des gewohnheitsrechtlich anerkannten Entschädigungsanspruchs wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts35 – unberücksichtigt bleiben. 4. Rechtsfolge: Geldentschädigung 24

Rechtsfolge des § 251 ist die Entschädigung des Gläubigers in Geld. Bei der Bemessung der Entschädigung wird nicht wie bei §§ 249 Abs. 2, 250 auf das Integritätsinteresse, sondern auf das Wertinteresse abgestellt, d.h. der Schädiger hat die Differenz zwischen dem Wert des Vermögens des Geschädigten, wie es sich ohne das schädigende Ereignis darstellen würde, und dem durch das schädigende Ereignis verminderten Wert zu ersetzen.36

25

Sind die tatsächlichen Herstellungskosten höher als ursprünglich angenommen, trägt dieses Prognoserisiko nach der Rspr. des BGH der Schädiger, wobei sich die Ersatzpflicht des Schädigers aber nach dem Grundgedanken des Abs. 2 auf den Betrag beschränkt, der noch in einem angemessenen Verhältnis zum Wiederbeschaffungswert steht, wenn schon die ursprünglich angenommenen Herstellungskosten über dem Wiederbeschaffungswert lagen und der Geschädigte den Reparaturauftrag erteilt hat, ohne den Schädiger zu fragen.37

III. Abdingbarkeit 1. Kein zwingendes Recht 26

§ 250 enthält kein zwingendes Recht.38 Beispielsweise kann die Unverhältnismäßigkeitsgrenze durch Vertrag konkretisiert werden. Bei Individualvereinbarungen ist die Grenze des § 138 zu beachten.39 2. AGB-Recht

27

Abbedingungen oder Modifikationen in AGB unterliegen der Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 und Abs. 2. Eine Unwirksamkeit kommt in Betracht, wenn jegliche Verhältnismäßigkeitsanforderungen ersatzlos abbedungen werden, um auch exorbitante Herstellungskosten verlangen zu können.

32 BGH v. 4.4.2014 – V ZR 275/12, NJW 2015, 468; BGH v. 2.10.1987 – V ZR 140/86, NJW 1988, 699; BGH v. 24.4.1970 – V ZR 97/67, NJW 1970, 1180; zust. Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 23; Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 6; a.A. MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 38. 33 Für eine Differenzierung zwischen Verkehrsunfällen und vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen ausdrücklich OLG Celle v. 8.7.2004 – 11 U 46/04, NJW-RR 2004, 1681. 34 Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 23. 35 Vgl. BGH v. 5.12.1995 – VI ZR 332/94, NJW 1996, 984 – Caroline von Monaco. 36 MünchKomm/Oetker, § 251 BGB Rz. 35; Palandt/Grüneberg, § 251 BGB Rz. 10; Erman/Ebert, § 251 BGB Rz. 24. 37 BGH v. 20.6.1972 – VI ZR 61/71, NJW 1972, 1800. 38 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. 39 BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 6.

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Entgangener Gewinn

Rz. 1 § 252 BGB

IV. Verhältnis zu § 275 Während § 251 nur im Schadensersatzrecht gilt und als Rechtsfolge die Zahlung einer Entschädigung in Geld anstelle der Naturalrestitution anordnet, regelt § 275 Leistungsverweigerungsrechte ohne Pflicht zur Zahlung einer Entschädigung (wobei allerdings Schadensersatzansprüche unberührt bleiben, § 275 Abs. 4), die grundsätzlich für Ansprüche aller Art gelten. Bei Schadensersatzansprüchen hat § 251 als lex specialis Vorrang vor § 275.40

28

Vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes wurde aus Abs. 2 ein allgemeiner Rechtsgedanke abgeleitet und im Rahmen des gesetzlichen Beseitigungsanspruches gem. § 1004 angewandt.41 Dafür ist seit Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes kein Raum mehr, denn § 275 Abs. 2 enthält nunmehr ein Leistungsverweigerungsrecht, das für Ansprüche aller Art gilt.42 Gleiches gilt für die Anwendung des allgemeinen Rechtsgedankens aus Abs. 2 auf sonstige Ansprüche.43

29

§ 252 Entgangener Gewinn Der zu ersetzende Schaden umfasst auch den entgangenen Gewinn. Als entgangen gilt der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systematik und Funktion der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 3

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu ersetzender Schaden . . . . . . . . . . . . . 2. Entgangener Gewinn . . . . . . . . . . . . . . .

6 6 7

3. Feststellung und Umfang des zu ersetzenden Gewinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kein zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . .

. . . . .

10 15 15 17 19

Literatur: Meier/Wehlau, Die zivilrechtliche Haftung für Datenlöschung, Datenverlust und Datenzerstörung, NJW 1998, 1585; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215.

I. Allgemeines 1. Systematik und Funktion der Norm § 252 Satz 1 hat lediglich klarstellende Funktion; die Verpflichtung des Schädigers, dem Geschädigten auch den entgangenen Gewinn zu ersetzen, ergibt sich bereits aus § 249 Abs. 1.1 § 252 Satz 2 enthält lediglich eine Darlegungs- und Beweiserleichterung, welche die Regelung in § 287 ZPO ergänzt.2

40 Palandt/Grüneberg, § 275 BGB Rz. 3. 41 BGH v. 21.6.1974 – V ZR 164/72, NJW 1974, 1552; vgl. auch BGH v. 24.4.1970 – V ZR 97/67, NJW 1970, 1180: i.E. verneint für den Fall eines vorsätzlichen Verstoßes gegen eine gesetzliche Unterlassungspflicht. 42 BGH v. 30.5.2008 – V ZR 184/07, NJW 2008, 3122; BGH v. 23.10.2009 – V ZR 141/08, NJW-RR 2010, 315. 43 Vgl. BGH v. 26.11.1975 – VIII ZR 31/74, NJW 1976, 235; BGH v. 2.10.1987 – V ZR 140/86, NJW 1988, 699. 1 Palandt/Grüneberg, § 252 BGB Rz. 1; BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50. 2 Erman/Ebert, § 252 BGB Rz. 10; Palandt/Grüneberg, § 252 BGB Rz. 4; BGH v. 24.4.2012 – XI ZR 360/11, NJW 2012, 2266; BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348; BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50.

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BGB § 252 Rz. 2 Entgangener Gewinn 2

Der entgangene Gewinn ist ein mittelbarer Schaden,3 was jedoch für die Rechtsanwendung unerheblich ist, weil das Gesetz die Begriffe unmittelbarer und mittelbarer Schaden nicht kennt4 und beide Schadensarten gleich behandelt.5 Zu vertraglichen Ausschlussklauseln s. Rz. 15–18 und § 249 Rz. 83–92. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

3

Im IT-Bereich kommt ein entgangener Gewinn insb. aufgrund der Unmöglichkeit oder Einschränkung der Nutzung von IT-Infrastruktur (Hardware, Software, Rechenzentrumsleistungen) in Betracht. So hat beispielsweise der Anbieter von Webhosting-Leistungen den Gewinn zu ersetzen, der dem Betreiber eines Online-Shops infolge der Nichtabrufbarkeit gehosteter Inhalte entgeht.6

4

Ein weiterer wichtiger Anwendungsbereich ist der Verlust von Daten. Insb. wenn Dateien mit betriebswichtigen Informationen vernichtet oder versehentlich überschrieben wurden, kann der entgangene Gewinn beträchtlich sein.7

5

Kein entgangener Gewinn ist die Einsparung von Kosten. Bei vielen IT-Verträgen wie z.B. Outsourcing- oder ASP-Verträgen bezweckt der Kunde nicht die Erzielung eines Gewinns sondern die Einsparung von Kosten. Scheitert beispielsweise infolge einer Vertragspflichtverletzung des Outsourcing-Anbieters ein Outsourcing-Projekt bereits in der Transitionsphase, in der die IT-Systeme vom Rechenzentrum des Kunden in das Rechenzentrum des Outsourcing-Anbieters migriert werden sollen, so stellt die nicht realisierte Kosteneinsparung typischerweise eine der vom Outsourcing-Kunden geltend gemachten Schadenspositionen dar. Zwar besteht insofern ein Zusammenhang zwischen entgangenem Gewinn und ersparten Kosten, als geringere Kosten bei gleichen Umsätzen zu einem höheren Gewinn führen; gleichwohl stellt die Ersparnis nicht die Kehrseite des entgangenen Gewinns dar und wird auch sonst nicht von diesem Begriff erfasst.8

II. Norminhalt 1. Zu ersetzender Schaden 6

§ 252 setzt zunächst, wie alle Vorschriften des Schadensrechts der §§ 249 ff., das Bestehen eines Schadensersatzanspruches voraus; hierbei kann es sich um einen vertraglichen (z.B. §§ 280 ff.) oder gesetzlichen (z.B. §§ 823 ff.) Schadensersatzanspruch handeln. 2. Entgangener Gewinn

7

Der entgangene Gewinn umfasst alle Vermögensvorteile, die im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses noch nicht zum Vermögen des Geschädigten gehörten, ihm ohne dieses Ereignis aber zugeflossen wären.9

8

Nicht zu ersetzen ist der Gewinn aus einer verbotenen Tätigkeit (§ 134).10 Betreiber von verbotenen Online-Glücksspiel-Websites, Pornografie-Websites ohne wirksame Altersverifikation oder Kinderpornografie-Websites haben daher gegen den Webhosting-Provider keinen Anspruch auf Ersatz des durch Serverausfall entgangenen Gewinns.

3 4 5 6 7 8 9 10

Palandt/Grüneberg, § 252 BGB Rz. 1; MünchKomm/Oetker, § 252 BGB Rz. 2, § 249 BGB Rz. 101. MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 102. Palandt/Grüneberg, § 252 BGB Rz. 1. AG Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297 = ZUM-RD 2002, 162 = MMR 2002, 258 = ITRB 2002, 108. Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585. Schuster, CR 2011, 215, 218. Palandt/Grüneberg, § 252 BGB Rz. 1; MünchKomm/Oetker, § 252 BGB Rz. 4. Erman/Ebert, § 252 BGB Rz. 7; BeckOK BGB/Flume, § 252 Rz. 8.

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Entgangener Gewinn

Rz. 13 § 252 BGB

Umstritten ist die Ersatzfähigkeit des entgangenen Gewinns aus einer zwar nicht i.S.v. § 134 verbote- 9 nen, aber i.S.v. § 138 sittenwidrigen Tätigkeit.11 Für eine Ersatzfähigkeit wird angeführt, dass das aufgrund eines sittenwidrigen Vertrages gezahlte Entgelt weder vindiziert noch kondiziert (§ 817 Satz 2) werden kann.12 Gegen eine Ersatzfähigkeit spricht, dass der Schädiger zu einer Leistung gezwungen wird, zu der er außerhalb des Schadensersatzrechts nicht verpflichtet wäre, und dass ein Schutz der im Widerspruch zur Sittenordnung stehenden Erwerbsaussicht dem Grundsatz widerspricht, dass die Rechtsordnung die Durchsetzung eines auf sittenwidriger Grundlage beruhenden Leistungsversprechens im Wege der staatlichen Rechtspflege ausschließt.13 Die letztgenannte Auffassung ist vorzuziehen, weil die Rückabwicklung sittenwidriger Geschäfte für die Frage, ob der Erwerb rechtlich geschützt werden soll, nicht relevant ist.14 Die erstgenannte Auffassung übersieht zudem, dass die Zahlung eines Entgelts auf einen sittenwidrigen Vertrag jedenfalls dann eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung i.S.v. § 826 darstellt und daher i.E. (im Falle eines Mitverschuldens des Geschädigten zumindest teilweise, § 254) sehr wohl „zurückgefordert“ werden kann, wenn die Sittenwidrigkeit gerade in der Vereinnahmung des Entgelts besteht. So haben etwa die Teilnehmer eines Computer-„Systemspiels“, das nach dem Schneeballprinzip abläuft, gegen den Veranstalter des Spiels einen Schadensersatzanspruch gem. § 826.15 Es wäre demgegenüber ein Wertungswiderspruch, wenn der Webhosting-Provider, auf dessen Server ein solches Spiel läuft, dem Veranstalter im Falle des Ausfalls des Servers den entgangenen Gewinn ersetzen müsste. 3. Feststellung und Umfang des zu ersetzenden Gewinns Gemäß § 252 Satz 2 gilt derjenige Gewinn als entgangen, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge 10 oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Ist ersichtlich, dass der Gewinn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder den besonderen Umständen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte, dann wird vermutet, dass er gemacht worden wäre; volle Gewissheit, dass der Gewinn gezogen worden wäre, ist nicht erforderlich.16 Diese Vermutung ist widerleglich, wobei der Nachweis einer ernsthaften Möglichkeit, dass kein Gewinn erzielt worden wäre, nicht ausreicht.17 An das Vorbringen eines Unternehmers, ihm seien erwartete Gewinne entgangen, dürfen wegen der damit regelmäßig verbundenen Schwierigkeiten keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden.18 Ein strenger Beweis gem. § 286 ZPO darf nicht gefordert werden; vielmehr genügt für die Wahrscheinlichkeitsprognose nach § 252 Satz 2 die substantiierte Darlegung von Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen wie z.B. die Angabe konkreter Produktstückzahlen, deren Absatz der Unternehmer erwartete, und der Gewinnspanne pro Stück.19

11

Die Vermutung, der Auftraggeber hätte mittels eines neuen IT-Systems z.B. für einen Online-Shop Gewinne erwirtschaftet, ist widerlegt, wenn der Auftraggeber im Zeitpunkt der Auftragserteilung Verluste erwirtschaftet hat und alsbald nach dem Scheitern des IT-Projekts betreffend die Implementierung des neuen IT-Systems und Ablösung des Altsystems den Online-Shop schließt oder seinen Geschäftsbetrieb insgesamt einstellt.

12

Ergibt der Sachverständigenbeweis, dass sowohl ein höherer Gewinn als vom Geschädigten vorgetragen als auch ein Verlust in Betracht komme, insb. bei der Vermarktung eines neuen Produkts, darf das Gericht sich diese Bekundung nicht zu Eigen machen und darf sich der Aufgabe, auf der Grundlage des § 252 und § 287 ZPO eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf

13

11 Gegen eine Ersatzfähigkeit Palandt/Grüneberg, § 252 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/Flume, § 252 Rz. 9; Erman/ Ebert, § 252 BGB Rz. 8. 12 MünchKomm/Oetker, § 252 BGB Rz. 10. 13 MünchKomm/Oetker, § 252 BGB Rz. 11. 14 MünchKomm/Oetker, § 252 BGB Rz. 11. 15 OLG Bamberg v. 7.3.2001 – 3 U 105/00, NJW-RR 2002, 1393. 16 BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348. 17 Erman/Ebert, § 252 BGB Rz. 10. 18 BGH v. 9.4.1992 – IX ZR 104/91, NJW-RR 1992, 997, 998; BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348. 19 BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348, 3349.

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BGB § 252 Rz. 13 Entgangener Gewinn die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen.20 Ein Schadensersatzanspruch darf nur dann verneint werden, wenn ein Schadenseintritt nicht mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten war; ggf. kommt ein Risikoabschlag in Betracht.21 14

Das Gericht hat den Schaden gem. § 287 ZPO zu schätzen. Selbst wenn der Vortrag des Geschädigten nicht ausreichend substantiiert ist, ist das Gericht zur Prüfung verpflichtet, ob und ggf. in welchem Umfang ein in jedem Falle entstandener Mindestschaden auf Grund des festgestellten Sachverhalts im Wege der Schätzung festgestellt werden kann; zu diesem Zwecke muss das Gericht auch von seinem Fragerecht Gebrauch machen.22 Satz 2 verschafft dem Geschädigten eine stärkere Position als der Anscheinsbeweis.23

III. Abdingbarkeit 1. Kein zwingendes Recht 15

§ 252 enthält kein zwingendes Recht.24 Der Schadensersatz für entgangenen Gewinn lässt sich bei einer vertraglichen Haftung durch vertragliche Individualvereinbarungen (zu AGB s. Rz. 17 f.) innerhalb der Grenzen des § 138 beschränken.25 Soll der Schadensersatz für entgangenen Gewinn generell ausgeschlossen werden, so sollte dies unter ausdrücklicher Verwendung des Begriffes „entgangener Gewinn“ erfolgen und nicht unter Verwendung der gesetzlich nicht definierten und daher missverständlichen Begriffe „mittelbarer“ oder „indirekter“ Schaden oder „Folgeschaden“.26

16

Zu beachten ist jedoch, dass in Individualvereinbarungen enthaltene Beschränkungen des Schadensersatzes nicht eingreifen, wenn der Schädiger vorsätzlich gehandelt hat (§ 276 Abs. 3), etwa im Falle von Hackerangriffen, Malware, Ausspionieren von Daten, Einbau von Manipulationssoftware, Back Doors (Hintertüren) oder Programmsperren.27 2. AGB-Recht

17

Erfolgen Beschränkungen des Schadensersatzes für entgangenen Gewinn in AGB, so unterliegen diese bei der Verwendung gegenüber Verbrauchern (Business to Consumer, „B2C“) der Inhaltskontrolle gem. § 309 Nr. 5, 7 Buchst. a, 7 Buchst. b, 8 Buchst. b und § 307 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 310 Abs. 3. Bei der Verwendung gegenüber Unternehmern (Business to Business, „B2B“) erfolgt die Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 und 2 nach Maßgabe von § 310 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2.

18

Danach sind Haftungsausschlüsse für entgangenen Gewinn, mittelbare Schäden, Folgeschäden oder unvorhersehbare Schäden,28 oder Haftungsbeschränkungen, etwa auf einen bestimmten Höchstbetrag,29 unwirksam, wenn sich diese (auch) auf Verletzungen an Leben, Körper und Gesundheit gem. § 309 Nr. 7 Buchst. a (B2C) oder § 307 Abs. 1, 2 i.V.m. § 310 Abs. 1 Satz 2 (B2B) oder die Haftung für grobe Fahrlässigkeit beziehen, § 309 Nr. 7 Buchbst. b (B2C) oder § 307 Abs. 1, 2 i.V.m. § 310 Abs. 1 Satz 2 (B2B). Zu den US-amerikanisch geprägten üblichen Haftungsausschluss- und -begrenzungsklauseln in Softwarelizenzverträgen, die häufig u.a. den Schadensersatz für entgangenen Gewinn generell ausschließen, s. § 249 Rz. 88–90, zu den üblichen Haftungsausschlussklauseln in Lizenzbedingungen für die Nutzung von Open Source Software s. § 249 Rz. 91.

20 BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348, 3349. 21 BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348, 3349. 22 BGH v. 1.2.2000 – X ZR 222/98, NJW-RR 2000, 1340, 1341; BGH v. 26.7.2005 – X ZR 134/04, NJW 2005, 3348, 3349. 23 Erman/Ebert, § 252 BGB Rz. 10. 24 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. 25 BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 6. 26 Schuster, CR 2011, 215, 218. 27 Vgl. zu Programmsperren BGH v. 15.9.1999 – I ZR 98/97, NJW-RR 2000, 393 = CR 2000, 94. 28 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 7. 29 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 7; OLG München v. 2.3.1994 – 7 U 5918/93, NJW-RR 1994, 742.

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Immaterieller Schaden

Rz. 2 § 253 BGB

IV. Einzelfälle und -fragen Beim Ausfall von Hostingleistungen ist bei der Berechnung der entgangenen Umsätze der Ausfall- 19 zeitraum genau zu ermitteln und ausreichend lange Vergleichszeiträume zugrunde zu legen; Zeiträume von vier Wochen vor und drei Wochen nach dem Ausfall sind zu kurz.30 Ein Zeitraum von 6 Monaten ist hingegen ausreichend.31 Vom entgangenen Umsatz sind Abzüge infolge von Rücktritten und Storni sowie Kündigungs- und Zahlungsausfall vorzunehmen.32 Beim Versand von Waren sind zudem ersparte Betriebskosten (Wareneinsatz, Versandkosten, Honorare) abzuziehen.33

§ 253 Immaterieller Schaden (1) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden. (2) Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. Literatur: Degenhart, Die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes in § 253 BGB, 2011; Wagner, Das Zweite Schadensrechtsänderungsgesetz, NJW 2002, 2049. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systematik und Funktion der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtvermögensschaden . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Regelung (§ 253 Abs. 1) . . . . . Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit, der sexuellen Selbstbestimmung (§ 253 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 6

. 8 . 8 . 10

a) Körper . . . . . . . . . . . . b) Gesundheit . . . . . . . . . . c) Freiheit . . . . . . . . . . . . d) Sexuelle Selbstbestimmung . 4. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . .

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13 14 15 16 17

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Kein zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . 20 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

. 12

I. Allgemeines 1. Systematik und Funktion der Norm § 253 regelt den Schadensersatz für immaterielle Schäden (Nichtvermögensschäden). Regelungsgegenstand ist die Entschädigung in Geld. Unberührt hiervon bleibt der Grundsatz, dass für immaterielle Schäden Schadensersatz in Form der Naturalrestitution verlangt werden kann (§ 249 Rz. 8). Der in § 253 nicht genannte Begriff Schmerzensgeld ist dogmatisch unpräzise, weil die Entschädigung für erlittene Nichtvermögensschäden nicht auf erlittene Schmerzen beschränkt ist, sondern alle Einbußen des Geschädigten erfasst, die nicht in Geld messbar sind.1

1

Bei Vermögensschäden besteht die Funktion des Schadensersatzes darin, den erlittenen Vermögensnachteil auszugleichen (Ausgleichsfunktion). Immaterielle Schäden können wegen ihres Nichtvermögenscharakters per se nicht unmittelbar durch Geld ausgeglichen werden. Gleichwohl erfüllt auch der Schadensersatz wegen immaterieller Schäden, insb. das Schmerzensgeld gem. § 253 Abs. 2, eine

2

30 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = ITRB 2007, 106. 31 AG Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297 = ZUM-RD 2002, 162 = MMR 2002, 258 = ITRB 2002, 108. 32 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = ITRB 2007, 106. 33 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = ITRB 2007, 106. 1 MünchKomm/Oetker, § 253 BGB Rz. 4.

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BGB § 253 Rz. 2 Immaterieller Schaden Ausgleichsfunktion.2 Bei immateriellen Schäden besteht der Ausgleich darin, dass der Geschädigte in die Lage versetzt werden soll, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten zu verschaffen, die die erlittenen Beeinträchtigungen jedenfalls teilweise ausgleichen.3 3

Obgleich das Schadensersatzrecht grundsätzlich nicht den Zweck hat, den Schädiger zu bestrafen4 oder schädigendem Verhalten allgemein vorzubeugen,5 kommt dem Schadensersatz für immaterielle Schäden – anders als dem Schadensersatz für Vermögensschäden – über die Ausgleichsfunktion hinaus auch eine Genugtuungsfunktion zu. Daraus wurden Erhöhungen des Ersatzes für den immateriellen Schaden abgeleitet, etwa bei Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder bei der Entschädigung von Diskriminierungsopfern (§§ 15, 21 AGG), was durchaus i.E. einer Zubilligung gewisser pönaler Elemente gleichkommt.6

4

Die Genugtuungsfunktion entsprach vor dem Inkrafttreten des 2. SchadensrechtsänderungsG im Jahr 2002 der st. Rspr. des BGH,7 war aber nicht unumstritten.8 Der Streit wurde dadurch neu entfacht,9 dass der Gesetzgeber das bislang im Recht der unerlaubten Handlungen (§ 847 a.F.) geregelte Schmerzensgeld in das allgemeine Schuldrecht verschoben hat und dadurch nicht nur auf vertragliche Schadensersatzansprüche, sondern insb. auch auf Schadensersatzansprüche aus Gefährdungshaftung erstreckt hat, um die Schadensregulierung dadurch zu vereinfachen, dass eine Beweiserhebung über das Verschulden nicht mehr erforderlich ist. Da der Grad des Verschuldens aber nach altem Recht nicht nur für das Bestehen eines Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde nach, sondern wegen der Genugtuungsfunktion auch für dessen Höhe eine Rolle spielte, wird nunmehr argumentiert, dass der Zweck der Reform nicht erreicht werde, wenn an der Genugtuungsfunktion wie bisher festgehalten wird.10

5

Bei besonders schwerwiegendem Verschulden ist eine betragsmäßige Erhöhung des Schadensersatzes für immaterielle Schäden geboten. Eine Abschaffung der Genugtuungsfunktion aus bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen der Verfahrensvereinfachung ist daher abzulehnen. Zudem überzeugt das Argument der Verfahrensvereinfachung nicht. In nicht besonders gelagerten Fällen der Gefährdungshaftung oder der einfachen Fahrlässigkeit greift die Vereinfachung ohne weiteres, so dass eine Beweiserhebung über das Verschulden nicht erforderlich ist. Wie die Fälle zeigen, in denen sich der BGH zur Bemessung des Schmerzensgeldes auf die Genugtuungsfunktion berufen hat, ist ein besonders schwerwiegendes Verschulden zumeist offensichtlich11 und bedarf daher i.d.R. ebenfalls keiner detaillierten Beweiserhebung über das Verschulden. Offensichtlich besonders schwerwiegendes Verschulden liegt regelmäßig in Fällen vor, in denen Computersysteme absichtlich manipuliert und infolgedessen Menschen getötet oder schwer verletzt werden. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

6

Ersatzfähige immaterielle Schäden können sowohl unmittelbar durch IT-Systeme verursacht werden (Personenschäden, z.B. Gesundheitsverletzungen durch Softwarefehler in medizinischen Geräten) als auch eine (weitere) Folge von Schäden an IT-Systemen sein, die ihrerseits auf beliebige Schadensursachen zurückzuführen sein können, z.B. mangelhafte Reparatur einer Wasserleitung in einem Kranken-

2 BGH v. 29.11.1994 – VI ZR 93/94, NJW 1995, 781. 3 Palandt/Grüneberg, § 253 BGB Rz. 4. 4 Erman/Ebert, Vor § 249 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, Vorb v § 249 BGB Rz. 2; MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 8. 5 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 9; Erman/Ebert, Vor § 249 BGB Rz. 1. 6 Erman/Ebert, Vor § 249 BGB Rz. 13. 7 BGH v. 6.7.1955 –Großer Zivilsenat 1/55, NJW 1955, 1675 = BGHZ 18, 149; BGH v. 6.12.1960 – VI ZR 73/60, BeckRS 2015, 5468; BGH v. 16.12.1975 – VI ZR 175/74, NJW 1976, 1147, 1148. 8 Auch zur a.A. BGH v. 29.11.1994 – VI ZR 93/94, NJW 1995, 781. 9 Degenhart, Genugtuungsfunktion, S. 174 ff. 10 Wagner, NJW 2002, 2049, 2054; Palandt/Grüneberg, § 253 BGB Rz. 4. 11 BGH v. 16.12.1975 – VI ZR 175/74, NJW 1976, 1147, 1148: Tötung eines Menschen und schwerste Verletzung eines weiteren Menschen auf einer Trunkenheitsfahrt mit 1,7‰ und 90 km/h im Stadtbereich; BGH v. 29.11.1994 – VI ZR 93/94, NJW 1995, 781, 782: Geiselnahme im Zusammenhang mit einem Banküberfall zum Zwecke der Drogenbeschaffung.

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Immaterieller Schaden

Rz. 9 § 253 BGB

haus, die einen Wasserschaden im Serverraum verursacht, wodurch der Server beschädigt wird und für die Behandlung notwendige Patientendaten verlorengehen. Die in § 253 zum Ausdruck kommende grundsätzliche Ungleichbehandlung von materiellen und immateriellen Schäden wird zu Recht als nicht mehr zeitgemäß kritisiert.12 Die erhebliche Bedeutung, die immaterielle Gegenstände für die Lebensführung eingenommen haben, ist insb. vor dem Hintergrund zunehmender Digitalisierung vieler Bereiche des täglichen Lebens offenkundig. So haben z.B. digitale Fotografien und Videos infolge der ständigen Verfügbarkeit einer Kamera im Mobiltelefon und der Möglichkeit, diese über das Internet jederzeit gleichzeitig an mehrere Empfänger zu versenden oder sofort weltweit zu veröffentlichen, einen ganz anderen Stellenwert als analoge Fotografien früher hatten. Auch das Phänomen der Selfies und das Teilen derselben über das Internet zeigt, dass immaterielle Gegenstände zur Darstellung der eigenen Persönlichkeit benutzt werden und damit Ausdruck der Persönlichkeit sind, deren Schutz im Rahmen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt ist. Für Profile in sozialen Netzwerken oder Avatare in virtuellen Realitäten gilt nichts anderes – auch sie sind immateriell und Ausdruck der Persönlichkeit. Es entspricht zwar dem geltenden Recht (vgl. § 249 Rz. 8), aber nicht mehr der sozialen Realität, wenn im Falle der Beschädigung oder Zerstörung derartiger immaterieller Güter unter Hinweis darauf, dass hieran ein bloßes Affektionsinteresse besteht, ein Anspruch auf Entschädigung abgelehnt wird.

7

II. Norminhalt 1. Nichtvermögensschaden Nichtvermögensschäden sind alle Schäden, die nicht in Geld bemessen werden können. Die Abgren- 8 zung zwischen ersatzfähigen Vermögensschäden und grundsätzlich nicht zu ersetzenden Nichtvermögensschäden hat der BGH insb. anhand des Verlusts der Gebrauchsmöglichkeit von Sachen vorgenommen. Nach einer Grundsatzentscheidung des Großen Zivilsenats des BGH kann es einen ersatzfähigen Vermögensschaden darstellen, wenn der Eigentümer einer von ihm selbst genutzten Sache diese vorübergehend nicht benutzen kann, ohne dass ihm hierdurch zusätzliche Kosten entstehen oder Einnahmen entgehen.13 Maßgebliches Kriterium ist dabei, ob die Bedeutung der Wirtschaftskraft der Sache für die eigene Le- 9 benshaltung so hoch ist, dass sich auch wirklich der objektiv bewertbare Funktionsverlust im Vermögen des Betroffenen niederschlägt; die rechtliche Wertung kann sich auch an den Anschauungen des Verkehrs über die Wichtigkeit eines Wirtschaftsguts für die Lebensführung und den geltenden Lebensstandard ausrichten.14 Auf dieser Grundlage wurde von der Rspr. der zeitweise Ausfall des Internetzugangs als Vermögensschaden angesehen.15 Als nicht ersatzfähiger immaterieller Schaden wurden hingegen der Verlust der Gebrauchsmöglichkeit eines Pelzmantels,16 eines Wohnwagens,17 eines Motorsportbootes18 und eines privaten Schwimmbads19 angesehen. Auch bei dem Ausfall der Nutzung privater IT-Systeme ist danach zu unterscheiden, ob diese als Luxus oder bloße Annehmlichkeit anzusehen sind (dann nicht ersatzpflichtiger immaterieller Schaden) oder eine zentrale Bedeutung für die Lebensführung haben (dann ersatzpflichtiger Vermögensschaden; Beispiele § 249 Rz. 69; zum Ausfall der Nutzung gewerblich genutzter IT-Systeme § 249 Rz. 72 ff.).

12 13 14 15 16 17 18 19

MünchKomm/Oetker, § 253 BGB Rz. 5; Erman/Ebert, § 253 BGB Rz. 1. BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50. BGH v. 9.7.1986 – GSZ 1/86, NJW 1987, 50, 53. BGH v. 24.1.2013 – III ZR 98/12, NJW 2013, 1072 = CR 2013, 294 = ITRB 2013, 98. BGH v. 12.2.1975 – VIII ZR 131/73, NJW 1975, 733. BGH v. 15.12.1982 – VIII ZR 315/80, NJW 1983, 444. BGH v. 15.11.1983 – VI ZR 269/81, NJW 1984, 724. BGH v. 28.2.1980 – VII ZR 183/79, NJW 1980, 1386.

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BGB § 253 Rz. 10 Immaterieller Schaden 2. Gesetzliche Regelung (§ 253 Abs. 1) 10

Abs. 1 enthält eine Modifikation der §§ 249–252 und zugleich ein Analogieverbot20: Schäden, die keine Vermögensschäden sind, also immaterielle Schäden, sind grundsätzlich nicht ersatzfähig, es sei denn, das Gesetz ordnet den Ersatz an.

11

Im IT-Recht relevante gesetzliche Bestimmungen, die einen Schadensersatz bei immateriellen Schäden vorsehen, sind § 8 Satz 2 ProdHaftG und § 97 Abs. 2 Satz 4 UrhG. § 8 Satz 2 ProdHaftG sieht im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit einen Anspruch auf eine billige Entschädigung in Geld wegen des immateriellen Schadens (Schmerzensgeld) vor. Die Haftung nach dem ProdHaftG ist verschuldensunabhängig. Als Produkte kommen Hardware ebenso wie Software in Betracht (vgl. § 2 ProdHaftG Rz. 3, 4 ff.). § 97 Abs. 2 Satz 4 UrhG gewährt Urhebern bei Verletzungen des Urheberpersönlichkeitsrechts eine Entschädigung in Geld wegen des immateriellen Schadens (vgl. § 97 UrhG Rz. 108). 3. Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit, der sexuellen Selbstbestimmung (§ 253 Abs. 2)

12

Gemäß Abs. 2 setzt ein Anspruch auf eine billige Entschädigung in Geld wegen eines erlittenen immateriellen Schadens eine Verletzung der genannten Rechtsgüter (Körper, Gesundheit, Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung) sowie das Bestehen eines Schadensersatzanspruches voraus. Im Rahmen des § 253 spielt das Verschulden keine Rolle;21 dieses ist vielmehr im Rahmen der Voraussetzungen der jeweiligen Anspruchsgrundlage zu prüfen. a) Körper

13

Fälle der Verletzungen des Körpers sind etwa Unfälle, die unmittelbar oder mittelbar durch Fehler in IT-Systemen, z.B. Softwarefehler, verursacht wurden (Beispiele vgl. § 249 Rz. 13 ff.). b) Gesundheit

14

Verletzungen der Gesundheit können ebenfalls unmittelbar oder mittelbar durch Softwarefehler in IT-Systemen verursacht werden (Beispiele vgl. § 249 Rz. 16). c) Freiheit

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Die Freiheit von Personen kann durch Fehler in IT-Systemen überall dort verletzt werden, wo IT-Systeme für das Schließen und Öffnen von Türen eingesetzt werden. Beispiele sind Softwarefehler im Zutrittskontrollsystem eines Gebäudes, die zur Folge haben, dass sich Türen nicht mehr öffnen lassen und Personen im Gebäude eingesperrt werden, oder ein Fehler in der Steuerungssoftware eines Aufzugs, der dazu führt, dass Personen im Aufzug eingesperrt werden. Des Weiteren können Personen durch Fehlfunktionen in Brandmeldesystemen ihrer Freiheit beraubt werden, wenn sich Brandschutztüren fehlerhaft schließen und dadurch Personen eingesperrt werden. Weitere denkbare Fälle sind Türen von Verkehrsmitteln wie beispielsweise Bussen oder Bahnen, die sich aufgrund von Softwarefehlern nicht mehr öffnen lassen. d) Sexuelle Selbstbestimmung

16

Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung kommen beispielsweise beim Versagen softwaregestützter Altersverifikationssysteme für pornografische Inhalte22 in Betracht.

20 Erman/Ebert, § 253 BGB Rz. 1. 21 Erman/Ebert, § 253 BGB Rz. 12. 22 Zu den Anforderungen an Altersverifikationssysteme vgl. BGH v. 18.10.2007 – I ZR 102/05, MMR 2008, 400 = CR 2008, 386 – ueber18.de.

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Immaterieller Schaden

Rz. 23 § 253 BGB

4. Rechtsfolge Rechtsfolge des § 253 ist ein Analogieverbot23: Für Nichtvermögensschäden ist grundsätzlich kein 17 Schadensersatz zu leisten, es sei denn, das Gesetz ordnet den Ersatz an. Unabhängig von § 253 ist der Anspruch auf Geldentschädigung wegen einer Verletzung des All- 18 gemeinen Persönlichkeitsrechts aus § 823 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG. Dieser Anspruch wird nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers von § 253 nicht berührt,24 so dass die zum Gewohnheitsrecht erstarkte st. Rspr. hierzu weder ein Gesetz i.S.v. Abs. 1 noch eine Analogie zu Abs. 2 – die unzulässig wäre – darstellt. Gleiches gilt für § 83 Abs. 2 BDSG, der als lex specialis25 zu dieser Rspr. einen Ersatz für immaterielle Schäden bei rechtswidriger Verarbeitung personenbezogener Daten vorsieht. Zur Bemessung des Schmerzensgeldes gem. Abs. 2 kann auf die allgemeinen Kommentierungen zu § 253 verwiesen werden, denn hier ergeben sich im IT-Recht keine Besonderheiten.

19

III. Abdingbarkeit 1. Kein zwingendes Recht § 253 enthält kein zwingendes Recht.26 Der Schadensersatz für immaterielle Schäden lässt sich bei einer vertraglichen Haftung durch vertragliche Individualvereinbarungen (zu AGB s. Rz. 22 f.) innerhalb der Grenzen des § 138 beschränken.27

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In Individualvereinbarungen enthaltene Beschränkungen des Schadensersatzes für immaterielle Schä- 21 den greifen nicht, wenn der Schädiger vorsätzlich gehandelt hat (§ 276 Abs. 3), etwa im Falle von Hackerangriffen, Malware, Ausspionieren von Daten, Einbau von Manipulationssoftware, Back Doors (Hintertüren) oder Programmsperren.28 2. AGB-Recht Beschränkungen des Schadensersatzes für immaterielle Schäden in AGB unterliegen bei der Verwen- 22 dung ggü. Verbrauchern (Business to Consumer, „B2C“) der Inhaltskontrolle gem. § 309 Nr. 5, 7 Buchst. a, 7 Buchst. b, 8 Buchst. b und § 307 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 310 Abs. 3. Bei der Verwendung ggü. Unternehmern (Business to Business, „B2B“) erfolgt die Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 und 2 nach Maßgabe von § 310 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2. Danach sind Haftungsausschlüsse für immaterielle Schäden, oder Haftungsbeschränkungen, etwa 23 auf einen bestimmten Höchstbetrag,29 unwirksam, wenn sich diese (auch) auf Verletzungen an Leben, Körper und Gesundheit gem. § 309 Nr. 7 Buchst. a (B2C) oder § 307 Abs. 1, 2 i.V.m. § 310 Abs. 1 Satz 2 (B2B) oder die Haftung für grobe Fahrlässigkeit beziehen, § 309 Nr. 7 Buchst. b (B2C) oder § 307 Abs. 1, 2 i.V.m. § 310 Abs. 1 Satz 2 (B2B).

23 Erman/Ebert, § 253 BGB Rz. 1. 24 BT-Drucks. 14/7752, 25; Erman/Ebert, § 253 BGB Rz. 15; MünchKomm/Oetker, § 253 BGB Rz. 27; Palandt/ Grüneberg, § 253 BGB Rz. 10. 25 MünchKomm/Oetker § 253 BGB Rz. 27. 26 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. 27 BeckOK BGB/Schubert, § 249 Rz. 6. 28 Vgl. zu Programmsperren BGH v. 15.9.1999 – I ZR 98/97, NJW-RR 2000, 393 = CR 2000, 94. 29 MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 7; OLG München v. 2.3.1994 – 7 U 5918/93, NJW-RR 1994, 742.

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BGB § 254 Rz. 1 Mitverschulden

§ 254 Mitverschulden (1) Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. (2) Dies gilt auch dann, wenn sich das Verschulden des Beschädigten darauf beschränkt, dass er unterlassen hat, den Schuldner auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens aufmerksam zu machen, die der Schuldner weder kannte noch kennen musste, oder dass er unterlassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Die Vorschrift des § 278 findet entsprechende Anwendung. Literatur: Meier/Wehlau, Die zivilrechtliche Haftung für Datenlöschung, Datenverlust und Datenzerstörung, NJW 1998, 1585. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systematik und Funktion der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. 1. 2. 3.

6 6 7

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensersatzpflicht . . . . . . . . . . . . Verschulden des Geschädigten . . . . . . . Mitwirken eines Verschuldens des Geschädigten bei der Schadensentstehung (§ 254 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterlassen von Absicherungen gegen Stromausfall . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterlassen von Datensicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. .

9

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11

4. 5. 6. 7. III. 1. 2. IV.

c) Unterlassen von Absicherungen beim Online-Banking . . . . . . . . . . . . . . . . Warnungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Var. 1) . Schadensabwendungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Var. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Var. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kein zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . .

18 19 20 21 22 23 23 24 25

I. Allgemeines 1. Systematik und Funktion der Norm 1

§ 254 ist eine besondere Ausprägung des auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242) beruhenden Prinzips venire contra factum proprium1: Es verstößt gegen Treu und Glauben, einen anderen für einen Schaden in voller Höhe in Anspruch zu nehmen, zu dessen Entstehung der Anspruchsteller selbst beigetragen hat. § 254 stellt daher die Möglichkeit zur Verfügung, einen Schaden je nachdem, wer wieviel zu seiner Entstehung beigetragen oder es unterlassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu mindern, zwischen Schädiger und Geschädigtem aufzuteilen, indem der Schädiger zum Ersatz nur eines Teilbetrages verpflichtet oder der Schadensersatz gänzlich versagt wird. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

§ 254 kommt im IT-Recht erhebliche Bedeutung zu. Das Rechtsverhältnis zwischen einem Betreiber eines IT-Systems (Auftraggeber) und einem IT-Dienstleister (Auftragnehmer) ist in besonderem Maße davon geprägt, dass den vertraglichen Hauptleistungs- und Nebenpflichten des Auftragnehmers Obliegenheiten und Mitwirkungspflichten des Auftraggebers gegenüberstehen, die im Einzelfall sehr umfangreich sein können.

3

Bei umfangreichen IT-Projekten, etwa beim IT-Outsourcing, kann der Projekterfolg regelmäßig nur durch eine intensive Zusammenarbeit beider Parteien auf Augenhöhe erzielt werden. Klassischer Streitpunkt bei Streitigkeiten über die Abwicklung gescheiterter IT-Projekte, in denen es typischerwei1 OLG Karlsruhe v. 20.12.1995 – 10 U 123/95, NJW-RR 1997, 554 = CR 1996, 348.

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Mitverschulden

Rz. 8 § 254 BGB

se um Schadensersatzansprüche des Auftraggebers einerseits und Vergütungsansprüche des Auftragnehmers andererseits geht, ist daher, ob der Auftraggeber die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten ordnungsgemäß und rechtzeitig erfüllt hat, und inwiefern die Verzögerung der Erfüllung oder Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten durch den Auftraggeber zu einer Verzögerung der Leistungserbringung des Auftragnehmers und letztlich zum Scheitern des Projekts beigetragen hat. Auch die agile Softwareentwicklung wie z.B. das SCRUM-Verfahren erfordert eine permanente und intensive Einbindung des Auftraggebers in den Entwicklungsprozess. Zwar sind Verträge über Softwareentwicklung nach dem SCRUM-Verfahren gleichwohl als Werkverträge einzustufen, d.h. es ist auch hier der Auftragnehmer, der die Herbeiführung des Projekterfolgs schuldet.2 Daraus folgt, dass die Verletzung der dem Auftraggeber obliegenden Mitwirkungspflichten bei Schadensersatzansprüchen bei § 254, oder, wenn es um die vertraglichen Primäransprüche geht, bei § 275 zu verorten ist. Die Rspr. hat sich insb. mit der Obliegenheit zur Datensicherung beschäftigt (Rz. 11–17). Weitere 4 Obliegenheiten des Betreibers eines IT-Systems, deren Nichterfüllung im Rahmen des § 254 relevant werden kann, sind Schutzmaßnahmen gegen Angriffe durch Viren und Malware, z.B. fehlende Installation eines Virenscanners, die Absicherung gegen unbefugten Zugang und Zugriff, z.B. fehlende Zutrittskontrolle zu Serverräumen, fehlender Passwortschutz oder Fehlen einer Firewall, und die Absicherung gegen Stromausfall (Rz. 10). Ein Unterlassen von nicht IT-basierten Parallelsystemen, wie etwa die parallele Führung einer Datenbank oder Kartei in Papierform oder das Ausdrucken von Dateien auf Papier, führt jedoch i.d.R. nicht zu einem Mitverschulden i.S.d. § 254, denn der Sinn und Zweck des Einsatzes von IT-Systemen besteht ja gerade darin, papierbasierte Informationssysteme zu ersetzen.

5

II. Norminhalt 1. Schadensersatzpflicht § 254 setzt zunächst das Bestehen eines Schadensersatzanspruches voraus;3 hierbei kann es sich um einen vertraglichen (z.B. §§ 280 ff.) oder gesetzlichen (z.B. §§ 823 ff.) Schadensersatzanspruch handeln.

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2. Verschulden des Geschädigten Der Begriff des Verschuldens des Geschädigten in § 254 ist ein unechter Verschuldensbegriff, der 7 nicht mit dem Verschulden im eigentlichen Sinne gleichgesetzt werden kann,4 weshalb die Kriterien des § 276 nicht erfüllt sein müssen.5 § 276 regelt das Verschulden eines Schuldners (beim Schadensersatz: des Schädigers) und gilt daher nicht für das Verschulden des Geschädigten, da es keine Rechtspflicht gibt, sich nicht selbst zu schädigen.6 Die Anwendung des § 254 hängt daher nicht davon ab, dass der Geschädigte eine Rechtspflicht verletzt hat.7 Das Verschulden i.S.v. § 254 ist ein „Verschulden gegen sich selbst“8 und begründet lediglich eine nicht einklagbare Obliegenheit, deren Nichtbeachtung den Rechtsnachteil zur Folge hat, dass der Geschädigte seinen Schaden nicht vollständig oder gar nicht ersetzt erhält.9 Bei der Beurteilung des Verschuldens des Geschädigten spielt auch der Grad des Verschuldens des Schädigers eine Rolle. Handelt der Schädiger mit direktem Vorsatz nach § 826, wirkt sich einfache Fahrlässigkeit des Geschädigten i.d.R. nicht aus; anders jedoch bei grob fahrlässigem oder besonders 2 LG Wiesbaden v. 30.11.2016 – 11 O 10/15, CR 2017, 298 = ITRB 2017, 36; offengelassen in der Berufungsinstanz OLG Frankfurt a.M. v. 17.8.2017 – 5 U 152/16, CR 2017, 646. 3 Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 20. 4 Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 24; OLG Karlsruhe v. 7.11.1995 – 3 U 15/95, NJW 1996, 200, 201 = CR 1996, 352. 5 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590. 6 MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 3. 7 MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 3. 8 BeckOK BGB/Lorenz, § 254 Rz. 10. 9 MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 3.

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BGB § 254 Rz. 8 Mitverschulden leichtsinnigem Verhalten des Geschädigten, wenn dem eine nur bedingt vorsätzliche Schadenszufügung gegenübersteht.10 3. Mitwirken eines Verschuldens des Geschädigten bei der Schadensentstehung (§ 254 Abs. 1) 9

Ein Verschulden des Geschädigten hat bei der Schadensentstehung mitgewirkt, wenn der Geschädigte eine Sorgfaltsverletzung11 begangen hat, die für die Schadensentstehung adäquat kausal12 war und dem Geschädigten zugerechnet werden kann.13 Eine Sorgfaltsverletzung ist gegeben, wenn der Geschädigte die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein verständiger Mensch im eigenen Interesse aufwendet, um sich vor einem Schaden zu bewahren,14 wenn er also eine vermeidbare Gefahrenquelle geschaffen, eine vorhandene Gefahrenquelle nicht abgestellt oder daraufhin überwacht hat, ob sie sich konkretisiert, oder Hinweise auf das Vorhandensein einer Gefahr nicht beachtet hat.15 a) Unterlassen von Absicherungen gegen Stromausfall

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IT-Systeme wie beispielsweise Server können durch eine unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV) gegen Stromausfälle abgesichert werden. In Rechenzentren werden zumeist sehr hochwertige USV-Systeme eingesetzt, welche die IT-Systeme nicht nur gegen Stromausfälle, sondern auch gegen Spannungs- und Frequenzschwankungen des Stromnetzes absichern. Der Betrieb eines IT-Systems ohne USV begründet regelmäßig ein Mitverschulden bei Schäden aufgrund eines Stromausfalls.16 Das gilt jedenfalls für Server und Arbeitsplatzrechner, die auf eine Netzstromversorgung zwingend angewiesen sind, nicht jedoch für mobile Geräte wie Notebooks und Tablets, die am Netzstrom betrieben werden, denn diese verfügen über einen Akku, der beim Betrieb am Netzstrom bei Stromausfall eine unterbrechungsfreie Stromversorgung gewährleistet. Ist der Akku eines Notebooks jedoch defekt, trifft den Betreiber im Falle eines Datenverlusts aufgrund eines Stromausfalls ein Mitverschulden. b) Unterlassen von Datensicherungsmaßnahmen

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Während das Schadenspotential bei Datenverlusten sehr hoch ist, erfordern Datensicherungsmaßnahmen einen vergleichsweise geringen Aufwand und vergleichsweise geringe Kosten. Bei einem optimal funktionierenden Datensicherungskonzept, das täglich in der Nacht sämtliche Daten, die im Laufe eines Tages erstellt und verändert worden sind, auf einen externen Datenträger, z.B. innerhalb von Netzwerken auf einen Netzwerkspeicher, sog. NAS (abgekürzt für Network Attached Storage) sichert, kann im Prinzip nur jeweils der im Laufe eines Tages veränderte Datenbestand verlorengehen.17 Die Datensicherung ist jedenfalls bei gewerblicher Nutzung eine allgemein bekannte Selbstverständlichkeit und kann bei Fehlen gegenteiliger konkreter Anhaltspunkte als selbstverständlich erfolgt vorausgesetzt werden.18 Das gilt schon nach allgemeinen Grundsätzen und erst recht, wenn die Verpflichtung zur Datensicherung dem Anwender ausdrücklich vertraglich auferlegt wurde.19 Bei unterlassener Datensicherung führt im Rahmen des § 254 bereits jede Unterlassung oder Vernachlässigung einer objektiv gebotenen Datensicherung zur Anwendung des § 25420 und stellt regelmäßig einen ausreichenden

10 OLG Bamberg v. 7.3.2001 – 3 U 105/00, NJW-RR 2002, 1393, 1394. 11 MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 29-30; Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 20. 12 BeckOK BGB/Lorenz, § 254 Rz. 14; MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 32–33; Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 22. 13 MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 34; BeckOK BGB/Lorenz, § 254 Rz. 10; Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 25. 14 Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 20. 15 MünchKomm/Oetker, § 254 BGB Rz. 29-30. 16 LG Konstanz v. 10.5.1996 – 1 S 292/95, NJW 1996, 2662 = CR 1997, 84; AG Brandenburg v. 23.5.2011 – 34 C 124/10, BeckRS 2011, 13907. 17 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590. 18 OLG Karlsruhe v. 20.12.1995 – 10 U 123/95, NJW-RR 1997, 554 = CR 1996, 348. 19 LG Stuttgart v. 30.1.2002 – 38 O 149/00 KfH, CR 2002, 487. 20 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590.

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Mitverschulden

Rz. 15 § 254 BGB

Grund dar, einen dem Grunde nach gegebenen Schadensersatzanspruch wegen Verlusts von Daten überwiegend oder sogar völlig auszuschließen.21 Die Datensicherung muss regelmäßig erfolgen, d.h. täglich oder noch häufiger.22 Insb. wenn innerhalb kurzer Zeiträume große Mengen an Daten generiert werden, wie z.B. in frequentierten OnlineShops, kann eine einmalige tägliche Datensicherung unzureichend sein.

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Die Obliegenheit des Geschädigten zur Vornahme von Datensicherungsmaßnahmen umfasst auch die Überprüfung der Vollständigkeit und Wiederherstellbarkeit der gesicherten Daten, insb. nach jeder wesentlichen Hardware- oder Softwareänderung.23 Bei einer Sicherung auf Bandkassetten müssen diese auf ihre Eignung für die Datensicherung überprüft werden, und es muss gelegentlich kontrolliert werden, ob die Bandkassetten in Ordnung sind und ob die Sicherung der Daten auch tatsächlich erfolgt.24 Wird ein Datenspeichersystem durch ein neues mit anderen Datenspeichermedien ersetzt, ist zu prüfen, ob der Datenbestand auf den neuen Datenspeichermedien gesichert ist, bevor der Besitz an den bisher benutzten Datenspeichermedien aufgegeben wird.25 Auch im Verhältnis zum Lieferanten von Hard- und Software mit Datensicherungssystem muss der Anwender die Funktion der Datensicherung dadurch überprüfen, dass er den Inhalt des Zieldatenspeichermediums aufruft und auf dem Bildschirm ansieht, wenn er mit der Datensicherung vertraut ist; das gilt jedenfalls dann, wenn ein Anhaltspunkt für das Nichtfunktionieren der Datensicherung vorliegt, etwa wenn die Dauer der Datensicherung auf einem neuen Rechner (nur wenige Sekunden) im Vergleich zum älteren Rechner (ca. 20 Minuten) wesentlich kürzer ist.26

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Wenn der Betreiber eines IT-Systems zwar regelmäßig eine Datensicherung vornimmt, diese aber aus Gründen, die nicht mehr aufklärbar sind, nicht funktioniert hat, trifft ihn ebenfalls ein erhebliches Mitverschulden. Das gilt selbst dann, wenn die Datensicherung redundant angelegt ist und z.B. sowohl auf eine Spiegelungsfestplatte als auch auf Band erfolgt und ein Auftragnehmer zur Beseitigung eines Virusbefalls die Festplatte formatiert und sich sodann herausstellt, dass auf dem Band keine aktuelle Datensicherung vorhanden ist.27 Das Mitverschulden in einem solchen Fall ergibt sich daraus, dass der Betreiber nicht überprüft hat, ob und ggf. welche Daten auf die Sicherungsbänder geschrieben wurden, sowie daraus, dass er den Auftragnehmer auf die Spiegelungs-Festplatte vor Formatierung derselben nicht ausdrücklich hingewiesen hat.28 Ein erhebliches Mitverschulden liegt auch vor, wenn der Betreiber eines IT-Systems nach einem durch einen kurzen Stromausfall verursachten Programmabsturz versucht, die auf der Festplatte befindlichen Daten auf einem Datensicherungsband abzuspeichern und dabei die auf dem Sicherungsband befindliche Sicherungskopie der Daten vernichtet.29

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Ein Auftragnehmer muss allerdings selbst eine Datensicherung durchführen, wenn diese Gegenstand des erteilten Auftrags ist. So beinhaltet der Auftrag zum Austausch einer Festplatte i.d.R. die Sicherung sämtlicher auf der alten Festplatte vorhandenen Daten und deren Übertragung auf die neue Festplatte. Den Auftragnehmer treffen auch gesteigerte Pflichten im Hinblick auf die Datensicherung, bevor er gezielt alle Daten auf einem Server durch Formatierung der Festplatte endgültig beseitigt: Er muss dann den Auftraggeber auf den mit der Formatierung verbundenen grundsätzlich unwiederbringlichen Datenverlust hinweisen und nachdrücklich klären, ob eine rückspielbare Datensicherung zur Systemwiederherstellung vorhanden ist.30 Tut er dies nicht, so ist er trotz erheblichen Mitverschuldens des Auftraggebers zum Ersatze eines Teils des Schadens verpflichtet.31 Auch wenn andere, zwar nicht zielgerichtet zur Datenlöschung führende, aber aus sonstigen Gründen besonders schadens-

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21 OLG Hamm v. 1.12.2003 – 13 U 133/03, MMR 2004, 487 = CR 2004, 654; Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590; LG Stuttgart v. 30.1.2002 – 38 O 149/00 KfH, CR 2002, 487; LG Kleve v. 23.3.1990 – 3 O 356/89, BB 1992, Heft 14, 4 = CR 1992, 734; AG Kassel v. 22.10.1997 – 423 C 1747/97, NJW-RR 1998, 1326. 22 LG Konstanz v. 10.5.1996 – 1 S 292/95, NJW 1996, 2662 = CR 1997, 84. 23 LG Stuttgart v. 30.1.2002 – 38 O 149/00 KfH, CR 2002, 487. 24 OLG Karlsruhe v. 7.11.1995 – 3 U 15/95, NJW 1996, 200, 201 = CR 1996, 352. 25 LG Stuttgart v. 30.1.2002 – 38 O 149/00 KfH, CR 2002, 487. 26 OLG Köln v. 22.4.1994 – 19 U 253/93, CR 1994, 532 = BB 1995 Heft 40, 7. 27 OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704. 28 OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704. 29 OLG Hamm v. 17.2.1992 – 17 U 73/91, NJW-RR 1992, 1503 = CR 1992, 673. 30 OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704. 31 OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704.

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BGB § 254 Rz. 15 Mitverschulden trächtige Arbeiten an einem IT-System vorgenommen werden, wie etwa die Installation eines neuen Betriebssystems,32 ist es Sache des Auftragnehmers, zunächst eine Datensicherung durchzuführen. Vor dem Ausbau einer Festplatte muss der Auftragnehmer sicherstellen, dass eine ausreichende Datensicherung vorliegt, und sich selbst durch eine Kontrolle davon überzeugen; eine bloße Nachfrage beim Personal des Auftraggebers ist nach Auffassung des OLG Karlsruhe nicht ausreichend und führt trotz Mitverschuldens des Auftraggebers zu einer überwiegenden Haftung des Auftragnehmers.33 Nach Auffassung des OLG Hamm muss sich der Auftragnehmer zwar danach erkundigen und ggf. darüber vergewissern, ob die vom Anwender vorgenommene Datensicherung dem aktuellen Stand entspricht; zusätzliche Überprüfungspflichten bestehen jedoch nur dann, wenn ernsthafte Zweifel vorliegen, ob die Datensicherung ordnungsgemäß erfolgt ist oder das Sicherungssystem funktioniert.34 16

Um ein Mitverschulden auszuschließen, sollten Sicherungskopien zumindest in einem anderen Raum und zusätzlich in einem geeigneten Schrank aufbewahrt werden, der ausreichend Widerstand gegen unbefugten Zugriff und Feuer sicherstellt.35 Bei Daten, die weder besonderen Vertraulichkeitsanforderungen unterliegen noch aus anderen Gründen besonders sensibel sind, wird man zudem eine regelmäßige Sicherung der Daten an einem anderen, weiter entfernten Ort verlangen können, z.B. über das Internet durch Nutzung von Cloud-Diensten. Bei vertraulichen Daten wie etwa Patientendaten einer Arztpraxis oder Mandantendaten einer Anwaltskanzlei ist die Verwendung von CloudDiensten jedoch i.d.R. nicht zumutbar und kann daher im Rahmen des Mitverschuldens nicht verlangt werden. Auf die Benutzung von Cloud-Diensten, welche die Daten auf Servern außerhalb der EU speichern, kann der Geschädigte im Rahmen des Mitverschuldens regelmäßig nicht verwiesen werden.

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Handelt es sich bei den Daten um personenbezogene Daten, ist bei der Bestimmung der Obliegenheit des Geschädigten die datenschutzrechtliche Zulässigkeit der Speicherung der Daten bei Dritten zu berücksichtigen. Sofern die Sicherung personenbezogener Daten bei Dritten im Inland oder innerhalb der EU datenschutzrechtlich den Abschluss einer Vereinbarung über Auftragsdatenverarbeitung erfordert, ist danach zu differenzieren, mit welchem Aufwand der Geschädigte eine solche Vereinbarung im konkreten Fall hätte abschließen können. Bei personenbezogenen Daten kann vom Geschädigten erst recht unter keinen Umständen die Benutzung von Cloud-Diensten verlangt werden, welche die Daten auf Servern außerhalb der EU speichern. Das gilt auch dann, wenn die Datenübermittlung in ein bestimmtes Nicht-EU-Land im Einzelfall datenschutzrechtlich zulässig ist oder in zulässiger Weise vorgenommen werden kann (z.B. durch Verwendung der EU-Standardvertragsklauseln), weil die damit einhergehende Notwendigkeit einer datenschutzrechtlichen Beratung die Anforderungen an die Obliegenheit gem. § 254 regelmäßig überspannen würde. c) Unterlassen von Absicherungen beim Online-Banking

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Von einem Online-Banking Nutzer kann gefordert werden, dass er eine aktuelle Virenschutzsoftware und eine Firewall verwendet, regelmäßig Sicherheitsupdates für sein Betriebssystem und die verwendete Software einspielt und Warnungen der Banken beachtet, PIN und TAN niemals auf telefonische Anforderung oder Anforderung per E-Mail herauszugeben.36 Unterlässt er eine dieser Maßnahmen oder erkennt er deutliche Hinweise auf gefälschte E-Mails oder eine gefälschte Website seiner Bank nicht, trifft ihn ein Mitverschulden. Deutliche Hinweise sind etwa sprachliche Mängel, deutlich falsche Internetadresse, Adresse ohne https://oder fehlendes Schlüsselsymbol in der Statusleiste des Browsers.37 Weitergehende Sicherheitsmaßnahmen wie etwa die Verwendung bestimmter, besonders leistungsfähiger Virenschutzprogramme oder spezialisierter Programme zum Schutz gegen bestimmte Schadsoftware, die Veränderung der Standard-Sicherheitseinstellungen von Betriebssystem und Programmen, das Arbeiten ohne Administratorenrechte oder die ständige Überprüfung der Zertifikate können jedoch nicht verlangt werden – ihr Unterlassen begründet daher kein Mitverschul-

32 33 34 35 36 37

Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590. OLG Karlsruhe v. 7.11.1995 – 3 U 15/95, NJW 1996, 200, 201 = CR 1996, 352. OLG Hamm v. 1.12.2003 – 13 U 133/03, MMR 2004, 487 = CR 2004, 654. Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590. LG Köln v. 5.12.2007 – 9 S 195/07, MMR 2008, 259, 261. LG Köln v. 5.12.2007 – 9 S 195/07, MMR 2008, 259, 261.

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Mitverschulden

Rz. 22 § 254 BGB

den.38 Auch das Nichterkennen lediglich subtiler Abweichungen in der Internetadresse begründet kein Mitverschulden.39 4. Warnungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Var. 1) Der Betreiber eines IT-Systems ist verpflichtet, seinen Auftragnehmer auf die Gefahr eines ungewöhn- 19 lich hohen Schadens aufmerksam zu machen, bevor dieser mit der Ausführung von Arbeiten am ITSystem beginnt. Ein Datenverlust ist regelmäßig als ungewöhnlich hoher Schaden i.S.v. Abs. 2 Satz 2 Var. 1 anzusehen. So ist ein Nutzer verpflichtet, Techniker, die an seinem IT-System Arbeiten durchführen, auf die fehlende Datensicherung hinzuweisen; unterlässt er dies, verliert er seine Ersatzansprüche vollständig.40 Das OLG Karlsruhe hat in einem solchen Fall sogar angenommen, dass ein Anschein dafür besteht, dass der Auftragnehmer, wenn er diesbezüglich informiert worden wäre, von vornherein auf der Nachholung der Datensicherung bestanden oder aber jedenfalls jede Verantwortung für einen bei der Installation von Software – aus welchen Gründen auch immer – eintretenden Datenverlust abgelehnt hätte.41 5. Schadensabwendungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Var. 2) Den Geschädigten trifft eine Obliegenheit, die Entstehung eines Schadens abzuwenden. Aus diesem Grund kann der Betreiber eines IT-Systems u.U. gehalten sein, zur Abwendung von Schäden aufgrund des Ausfalls von IT-Hardware entsprechende Ersatzhardware anzuschaffen und vorzuhalten. Das gilt jedenfalls dann, wenn dem Geschädigten unter Hinweis auf die Störungsanfälligkeit der Hardware eine vorsorgliche Ersatzbeschaffung geraten wurde und der Schaden im Vergleich zum Anschaffungspreis der Ersatzhardware unverhältnismäßig hoch ist; in einem solchen Fall kommt ein gänzlicher Wegfall des Schadensersatzanspruchs in Betracht, wenn der Betreiber die Anschaffung der Ersatzhardware unterlässt.42

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6. Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 Var. 3) Nachdem der Schaden eingetreten ist, trifft den Geschädigten eine Obliegenheit, den Schaden möglichst gering zu halten und mit möglichst geringem Kostenaufwand zu beseitigen.43 Bei der Rückabwicklung eines Kaufs von Hard- und Software aus einer Hand stellt die Beschaffung eines gleichartigen Servers nach Rückgabe des Servers an den Verkäufer keinen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht dar, wenn der neue Server nicht gekauft, sondern lediglich geleast wird.44

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7. Rechtsfolgen Liegen die Voraussetzungen des § 254 vor, ist auf der Grundlage einer Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob und in welchem Umfang der Schädiger zum Schadensersatz verpflichtet bleibt.45 Hierbei sind die jeweiligen Verursachungsbeiträge von Schädiger und Geschädigtem sowie das beiderseitige Verschulden zu berücksichtigen.46

38 LG Köln v. 5.12.2007 – 9 S 195/07, MMR 2008, 259, 261. 39 LG Köln v. 5.12.2007 – 9 S 195/07, MMR 2008, 259, 261. 40 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1590; OLG Karlsruhe v. 20.12.1995 – 10 U 123/95, NJW-RR 1997, 554 = CR 1996, 348. 41 OLG Karlsruhe v. 20.12.1995 – 10 U 123/95, NJW-RR 1997, 554 = CR 1996, 348. 42 OLG Hamm v. 17.6.1996 – 13 U 30/96, NJW-RR 1998, 380, 381. 43 Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 60. 44 BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, NJW 1996, 1745, 1747 f. = CR 1996, 467. 45 Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 83. 46 BeckOK BGB/Lorenz, § 254 Rz. 52, 53; Erman/Ebert, § 254 BGB Rz. 86, 87.

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BGB § 254 Rz. 23 Mitverschulden

III. Abdingbarkeit 1. Kein zwingendes Recht 23

Die §§ 249 ff. enthalten kein zwingendes Recht;47 mithin ist auch § 254 nicht zwingend. Bei Vertragsklauseln, welche die Folgen der Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten z.B. im Rahmen eines IT-Projekts regeln, ist zwischen den jeweiligen Regelungsgegenständen genau zu differenzieren, denn Gegenstand solcher Vertragsklauseln können nicht nur Schadensersatzansprüche des Auftraggebers gegen den Auftragnehmer sein, sondern auch Schadensersatzansprüche des Auftragnehmers gegen den Auftraggeber. Eine vertragliche Regelung, die Schadensersatzansprüche des Auftragnehmers gegen den Auftraggeber wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten ausschließt, beinhaltet keinen Anwendungsausschluss des § 254 bei Schadensersatzansprüchen des Auftraggebers gegen den Auftragnehmer. 2. AGB-Recht

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Einschränkungen oder Ausschlüsse der Anwendung von § 254 in AGB unterliegen der Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. § 310.

IV. Einzelfälle und -fragen 25

Unterlässt es der Betreiber einer Website, eine Sicherungskopie der auf seinem Rechner lokal gespeicherten Websiteinhalte anzufertigen, trifft ihn im Falle der pflichtwidrigen Löschung der Website vom Webserver durch den Provider und der danach erfolgenden Zerstörung der lokal gespeicherten Kopien durch einen Festplattencrash ein Mitverschulden, das seinen Schadensersatzanspruch gegen den Provider um 30 % reduziert.48 Unterlässt der Betreiber eines IT-Systems die gelegentliche Kontrolle, ob die Bandkassetten in Ordnung sind, die für eine Datensicherung verwendet werden, und ob die Sicherung der Daten auch tatsächlich erfolgt, muss er sich einen Mitverschuldensanteil von 1/3 abziehen lassen, wenn sein Auftragnehmer vor Ausbau der Festplatte nicht selbst sicherstellt, dass eine ausreichende Datensicherung vorliegt, sondern diesbezüglich nur beim Personal des Auftraggebers nachfragt.49 Bei Nichtfunktionieren einer redundanten Datensicherung muss sich der Betreiber des IT-Systems einen Mitverschuldensanteil von 2/3 abziehen lassen, wenn er das Funktionieren der Datensicherung nicht regelmäßig überprüft hat und den mit der Beseitigung eines Virenbefalls Beauftragten vor der Formatierung der Spiegelungs-Festplatte nicht darauf hinweist, dass sich darauf eine Datensicherung befindet.50 Wenn der Anwender nach dem Wechsel auf eine neue Hardware nichts unternimmt, wenn der Datensicherungslauf nur noch wenige Sekunden statt wie bisher etwa 20 Minuten dauert, weil nichts gesichert wird, liegt ein den Schadensersatzanspruch vollständig ausschließendes Mitverschulden des Anwenders vor.51 Das gleiche gilt, wenn in einem Wartungs- und Pflegevertrag für Software die Zuweisung der dem Anwender schon nach allgemeinen Grundsätzen obliegenden Pflicht zur Datensicherung an den Auftraggeber explizit geregelt ist.52

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Wer die Wartung von Servern übernimmt, die sich in Rechenzentrumsräumlichkeiten eines Dritten befinden, ist verpflichtet, die Rückgabe der Server ggü. dem Dritten durchzusetzen; unterlässt es der Eigentümer der Server, sich um die Rückgabe der Server zu bemühen, so trifft ihn kein Mitverschulden, wenn sich der Dritte weigert, die Server herauszugeben.53

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Wer sich an einem sittenwidrigen Computer-„Systemspiel“ beteiligt, das nach dem Schneeballprinzip abläuft, dem müssen sich Bedenken gegen die Seriosität des Spiels aufdrängen, weshalb ihn ein Mitverschulden trifft; hat sich der Geschädigte hierbei mindestens besonders leichtsinnig verhalten, 47 48 49 50 51 52 53

MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 6. AG Bonn v. 21.11.2014 – 105 C 72/12, BeckRS 2016, 05850. OLG Karlsruhe v. 7.11.1995 – 3 U 15/95, NJW 1996, 200, 201 f. = CR 1996, 352. OLG Koblenz v. 4.8.2010 – 1 U 1492/09, CR 2010, 704. OLG Köln v. 22.4.1994 – 19 U 253/93, CR 1994, 532 = BB 1995 Heft 40, 7. LG Stuttgart v. 30.1.2002 – 38 O 149/00 KfH, CR 2002, 487. OLG Frankfurt v. 31.10.2008 – 2 U 244/07, BeckRS 2010, 20205.

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Teilleistungen

Rz. 2 § 266 BGB

während dem Schädiger nur bedingter Vorsatz angelastet werden kann, ist eine Reduzierung des zu ersetzenden Schadens auf 2/3 angemessen.54 Wurde dem Anwender wegen der Störungsanfälligkeit eines Druckers und der Höhe des Schadens im Falle eines Ausfalls geraten, einen Ersatzdrucker anzuschaffen, verliert er seinen Schadensersatzanspruch gänzlich, wenn der Ausfallschaden bereits am zweiten Tag die Anschaffungskosten des Ersatzdruckers übersteigt, der Anwender die Anschaffung aber gleichwohl unterlassen hat.55

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§ 266 Teilleistungen Der Schuldner ist zu Teilleistungen nicht berechtigt. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Teilbarkeit der Leistung . . . . . . . . . . . . a) Technische Unteilbarkeit . . . . . . . . . b) Rechtliche Unteilbarkeit . . . . . . . . . c) Teilbarkeit der Leistung bei IT-Projektverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Teilbarkeit der Leistung bei Softwareerstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einheitlichkeit des Vertrages . . . . . . . . . a) Einheitlichkeitswille . . . . . . . . . . . . b) Konkrete Umstände . . . . . . . . . . . .

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c) Widerlegung der Vermutung des Einheitlichkeitswillens . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ablehnung von Teilleistungen . . . . . . b) Freiwillige Annahme von Teilleistungen 4. Forderung von Teilleistungen . . . . . . . . 5. Zuvielleistung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . .

14 16 16 19 22 23

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Parteivereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 IV. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Literatur: Koch, Gesamtrücktritt bei Mangel eines Leistungsteils, ITRB 2004, 157; Kremer/Sander, Der EVB-IT Systemvertrag – doch kein (einheitlicher) Werkvertrag?, CR 2015, 146; Stögmüller, Teilbarkeit, Teilerfüllung und Teilrücktritt bei IT-Projekten, CR 2015, 424.

I. Allgemeines Der Zweck der Vorschrift ist zu verhindern, dass der Schuldner die zu erbringende Leistung in Teile zerstückelt und der Gläubiger hierdurch unzumutbar belästigt wird. Allerdings kann der Gläubiger angebotene Teilleistungen annehmen. Da die Vorschrift dispositiv ist, können die Parteien auch Teilleistungen vereinbaren.1

1

II. Norminhalt Der Begriff der Teilleistung ist gesetzlich nicht näher bestimmt. Unter „Teilleistung“ i.S.d. § 266 wird 2 jede – gemessen an der Verpflichtung – irgendwie unvollständige Leistung verstanden.2 Eine Teilleistung liegt vor, wenn durch Hinzukommen weiterer Teile die Gesamtleistung erbracht wird.3 Dies ist abzugrenzen von der Verpflichtung zur Erbringung mehrerer selbständiger Leistungen, denn werden diese nicht alle gemeinsam erbracht, liegen hinsichtlich der erbrachten Leistungen nicht Teilleistungen

54 55 1 2 3

OLG Bamberg v. 7.3.2001 – 3 U 105/00, NJW-RR 2002, 1393, 1394. OLG Hamm v. 17.6.1996 – 13 U 30/96, NJW-RR 1998, 380, 381. MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 5. MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 2. Erman/Artz, § 266 BGB Rz. 2.

Heydn und Stögmüller

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BGB § 266 Rz. 2 Teilleistungen vor, sondern einzelne vollständig erbrachte Leistungen.4 Durch Parteivereinbarung können selbständige Leistungen wiederum zu einer einheitlichen Leistung zusammengefasst werden. 3

Gerade bei komplexen IT-Verträgen werden häufig unterschiedliche IT-Leistungen, die vom selben Auftragnehmer zu erbringen sind, in einem gemeinsamen Vertragswerk vereinbart. Beispiele hierfür sind etwa ein Vertrag zur Beschaffung, Implementierung und Betrieb eines ERP-Systems, ein IT-Outsourcingvertrag oder IT-Projektverträge, die neben vorbereitenden Planungsleistungen z.B. die Lieferung von Hardware, die Überlassung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware, Customizing, Implementierungs- und Installationsleistungen bis hin zu Beratung, Schulung und Softwarepflege umfassen.5 Der EVB-IT-Systemvertrag betrifft ebenfalls komplexe ITProjekte, bei denen der Auftraggeber eine Hard- und Softwarelösung aus einer Hand wünscht, die ihrerseits aus verschiedenen Modulen besteht.6 In allen diesen Fällen ist von Bedeutung, ob es sich um eine Gesamtleistung oder mehrere selbständige Leistungen handelt und ob im Falle von Teilleistungen der Auftragnehmer berechtigt ist, einzelne Teilleistungen zu erbringen oder der Auftraggeber solche ablehnen darf. 1. Teilbarkeit der Leistung

4

Eine Leistung ist teilbar, wenn sie ohne Wertminderung und ohne Beeinträchtigung des Leistungszwecks in Teilleistungen zerlegt werden kann.7 Leistungen können aus technischen oder rechtlichen Gründen unteilbar sein.8 Ob eine solche Unteilbarkeit vorliegt, ist objektiv zu beurteilen.9 a) Technische Unteilbarkeit

5

Eine technische Unteilbarkeit ist z.B. gegeben, wenn ein herzustellendes Werk nicht zu teilen ist oder eine bestimmte Sache herauszugeben ist.10 Von einer Unteilbarkeit ist etwa bei der Erstellung einer komplexen Individualsoftware auszugehen.11 Hingegen wird bei einer Gesamtlösung, bestehend aus Hardware, Standardsoftware und individuell zu erstellender Spezialsoftware die Gesamtleistung nicht als technisch unteilbar angesehen, weil die alleinige Benutzung der einzelnen Teile möglich ist.12 Gleiches gilt bei einem Softwareerstellungs- und -entwicklungsvertrag, der mehrere Module zum Gegenstand hat, wenn alle Module unabhängig voneinander genutzt werden können; hier hat das OLG Köln keine technische Unteilbarkeit erkannt.13 b) Rechtliche Unteilbarkeit

6

Eine rechtliche Unteilbarkeit ist etwa bei einem Unterlassungsanspruch oder beim Anspruch auf Verschaffung des Eigentums oder eines Rechts gegeben.14 Eine rechtliche Unteilbarkeit wird man daher z.B. hinsichtlich der Einräumung des Nutzungsrechts an Software im vertraglich vereinbarten Umfang annehmen können.

4 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 5; Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 4. 5 Stögmüller, CR 2015, 424; Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 2. 6 Hinweise für die Nutzung der EVB-IT System, abzurufen unter http://www.cio.bund.de/Web/DE/IT-Beschaf fung/EVB-IT-und-BVB/Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_node.html#doc4623280bodyText2, S. 9 f., zuletzt abgerufen am 1.12.2019. 7 Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 3; MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 7. 8 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 = ITRB 2014, 179. 9 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 10 Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 3. 11 OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. 12 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 13 OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 = ITRB 2014, 179. 14 Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 3 m.w.N.; MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 14.

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Teilleistungen

Rz. 10 § 266 BGB

c) Teilbarkeit der Leistung bei IT-Projektverträgen Bei IT-Projektverträgen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass einzelne Leistungsbestandteile technisch und rechtlich teilbar sind, wenn sie entweder in mehrere getrennte Verträge oder Leistungsscheine aufgeteilt sind oder wenn sie als einzelne Leistungen beauftragt und erbracht werden können. Solche Leistungsbestandteile sind z.B. die Lieferung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware, Installationsleistungen und Softwarepflege. Ein in der Praxis häufig vorkommendes IT-Projekt ist die Einführung von ERP-Software15 beim Auftraggeber, bei der der Auftragnehmer Hardware und Standardsoftware-Lizenzen beschafft, die Standardsoftware kundenspezifisch anpasst, die ERP-Software beim Auftraggeber installiert und implementiert und für diese schließlich nach „Go Live“ Softwaresupport erbringt. Die unter einem IT-Projektvertrag geschuldeten Leistungen sind also daraufhin objektiv zu untersuchen und zu beurteilen, ob sie jeweils einzeln ohne Wertminderung und ohne Beeinträchtigung des Leistungszwecks zerlegbar sind.

7

d) Teilbarkeit der Leistung bei Softwareerstellung Auch innerhalb eines Vertragstyps können einzelne Leistungen teilbar sein, wie die Erstellung mehre- 8 rer jeweils unabhängig voneinander nutzbarer Softwaremodule. Andererseits sind Werkleistungen, bei denen ein einziger Erfolg geschuldet wird, unteilbar, auch wenn dazu mehrere Handlungen erforderlich sein mögen.16 Bei der Erstellung kundenspezifischer Software sind einzelne Entwicklungsschritte nicht als Teilleistungen anzusehen, selbst wenn diese dem Auftraggeber präsentiert werden und dieser den Auftragnehmer nach Projektfortschritt vergütet.17 So stellen bei einem dem Werkvertragsrecht unterliegenden Vertrag über die Herstellung einer den besonderen Bedürfnissen des Anwenders entsprechenden Software einzelne vertragliche Meilensteine wie „Betriebsbereitschaft“, „Probebetrieb“ und „Leistungsnachweis“ unter Berücksichtigung der Gesamtumstände und der komplexen Aufgabenstellung eine unteilbare Leistung dar.18 2. Einheitlichkeit des Vertrages Sind Leistungen teilbar, ist rechtlich zunächst bedeutsam, ob solche teilbaren Leistungen in einem ein- 9 heitlichen Vertrag vereinbart sind, der eine einheitliche Leistung vorsieht, oder ob es sich um mehrere gesonderte Verträge bzw. eine Mehrheit selbständiger Leistungen handelt. Bei gesonderten Verträgen ist jede vertragliche Leistung von den anderen Leistungen unabhängig und jeder Vertrag ist rechtlich selbständig, und zwar auch dann, wenn zwischen ihnen ein tatsächlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang besteht.19 Allerdings kann der Parteiwille teilbare Leistungen unabhängig davon, ob diese in mehreren Verträgen oder in einem einheitlichen Vertrag enthalten sind, zu einem einheitlichen Vertrag bzw. zu einer einheitlichen Leistung zusammenfassen, so dass sie für die rechtliche Beurteilung eine Einheit bilden.20 a) Einheitlichkeitswille Die Zusammenfassung zweier Vereinbarungen über den Kauf eines Computers und die zeitlich nicht begrenzte Überlassung von Software (als Lizenzvertrag) in ein und derselben Vertragsurkunde kann eine Vermutung dafür begründen, dass ein einheitlicher Vertrag mit gleichen Folgewirkungen bei Störungen in einem der Teilbereiche abgeschlossen werden sollte.21 Hiernach stellen zwei an sich selbstän15 Bei ERP (Enterprise Resource Planning)-Software handelt es sich um betriebliche Anwendungssoftware, die Geschäftsprozesse mittels des Einsatzes moderner Informationstechnologien unterstützt, vgl. Ralf Härting/ Markus Folmayer, Kauf oder Miete von Business Software – Entscheidungsfindung bei kleinen und mittleren Unternehmen, BC 2008, 202. 16 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 7; OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. 17 Vgl. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. 18 OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. 19 Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 16. 20 Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 16; BGH v. 6.12.1979 – VII ZR 313/78, NJW 1980, 829, 830; OLG Hamm v. 14.2.2000 – 13 U 196/99, NJW-RR 2000, 1224, 1225 f. = CR 2000, 811 = ITRB 2001, 36. 21 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004 = CR 1987, 358.

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BGB § 266 Rz. 10 Teilleistungen dige Vereinbarungen nur dann ein einheitliches Rechtsgeschäft dar, wenn nach den Vorstellungen der Vertragsschließenden die Vereinbarungen nicht für sich allein gelten, sondern gemeinsam miteinander „stehen und fallen“ sollen.22 Erforderlich ist der Wille zur rechtlichen Einheit, nicht nur zur wirtschaftlichen Verknüpfung. Es genügt, wenn dieser Wille nur bei einem Partner vorhanden, dem anderen jedoch erkennbar geworden und von ihm hingenommen ist. Da es naheliegt, dass der Grund für die gleichzeitige Regelung verschiedener Gegenstände in ihrem sachlichen Zusammenhang zueinander zu suchen ist, kann der „Einheitlichkeitswille“ vermutet werden, wenn die beiden Geschäfte in derselben Urkunde niedergelegt sind. b) Konkrete Umstände 11

Ob die Voraussetzungen der Einheitlichkeit des Vertrages vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls, die unter Abwägung aller Umstände beantwortet werden muss.23 Im konkreten Fall kam der BGH in einem Urteil vom 25.3.1987 zu dem Ergebnis, dass der Kauf eines handelsüblichen Computers einerseits und die Überlassung von Standardsoftware andererseits, die gerade nicht für besondere Anforderungen des Auftraggebers oder für den gelieferten Computer entwickelt worden war, nicht zu einem einheitlichen Vertrag führen, denn der Zweck hätte ebenso durch mehrere nacheinander geschlossene Verträge oder durch Vereinbarungen mit mehreren Lieferanten erreicht werden können.24

12

In einem weiteren Urteil vom 7.3.1990 hatte der BGH über den Rücktritt von einem Lieferungsvertrag über eine aus Hardware, Standardsoftware und Spezialsoftware bestehende EDV-Anlage zu entscheiden.25 Zwar könne – so der BGH – beachtlich sein, ob es dem Erwerber erkennbar gerade auf einheitliche Lieferung bzw. Herstellung der Hard- und Software ankam, weil er nur auf diese Weise eine praktikable und wirtschaftliche Bewältigung der von ihm an die Anlage gestellten Aufgaben (mithin eine sog. „Gesamtlösung“ seiner Probleme) erwarten konnte und bei späteren Betriebsstörungen einen einheitlichen Ansprechpartner habe. Das Verhältnis von handelsüblicher Hardware und Standardsoftware einerseits und Spezialsoftware andererseits sei jedoch dann nicht anders zu beurteilen, wie im vorgenannten Urteil vom 25.3.1987, wenn konkrete Umstände – hier die Reduktion des Umfangs der Spezialsoftware und der Erwerb auch ohne diese sinnvoll nutzbarer Standardsoftware – gegen die Annahme einer auch nur nach der Vorstellung des Erwerbers bestehenden Vertragseinheit sprechen. Umstände, die gleichwohl zu einer gegenteiligen Würdigung führen könnten, etwa wenn die Spezialsoftware ausschließlich bei der infrage stehenden Lieferantin oder infolge des gleichzeitigen Erwerbs von Hardware und Standardsoftware besonders preiswert erhältlich gewesen wäre, waren nicht vorgebracht.26 Das OLG Köln hat unter Bezugnahme auf diese BGH-Entscheidung bei der Beauftragung mehrerer voneinander getrennt nutzbarer Softwaremodule gleichfalls eine einheitliche Leistung abgelehnt; trotz des Vorliegens einer einheitlichen Vertragsurkunde würden die beauftragten Leistungen nicht miteinander stehen und fallen.27

13

Das Kriterium, ob die beauftragten Leistungen „miteinander stehen und fallen“, ist das entscheidende bei der Beurteilung der Einheitlichkeit des Vertrages und die vorgenannten Gerichtsentscheidungen dienen als Leitlinie für die rechtliche Beurteilung. Bei der Bejahung von Teilleistungen und deren Annahme kann der Gläubiger allerdings ggf. nach § 323 Abs. 5 Satz 1 vom ganzen Vertrag zurücktreten, wenn er an der bewirkten Teilleistung kein Interesse hat (vgl. § 323 Rz. 88). c) Widerlegung der Vermutung des Einheitlichkeitswillens

14

Ob die in einem IT-Projektvertrag geregelten Leistungen eine rechtliche Einheit bilden und hiernach zu einem einheitlichen Vertrag zusammengefasst sind, richtet sich danach, ob die Leistungen miteinander „stehen und fallen“ sollen. Dies ist insb. dann der Fall, wenn der Auftraggeber eine IT-Ge22 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 23 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358; s. hierzu auch Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 657 ff. 24 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 25 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 26 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 f. = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 27 OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 = ITRB 2014, 179.

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Teilleistungen

Rz. 19 § 266 BGB

samtlösung erwarten konnte. Die Verwendung einer einheitlichen Vertragsurkunde begründet hierbei zwar eine Vermutung des Einheitlichkeitswillens, die jedoch in den vorstehenden Entscheidungen des BGH vom 25.3.1987 und des OLG Köln vom 14.2.2013 widerlegt worden ist. Umgekehrt begründet die Niederlegung der Leistungen in mehreren selbständigen Verträgen in verschiedenen Urkunden zwar eine Vermutung dafür, dass die Verträge nicht in rechtlichem Zusammenhang stehen sollen, doch entscheidend bleibt immer der „Verknüpfungswille“.28 So können getrennte Verträge über die Grundsätze aus § 139 oder über eine gemeinsame Geschäftsgrundlage (§ 313) zu einem einheitlichen Rechtsgeschäft verbunden sein und zu einer rechtlichen Einheit der Leistungen führen.29 Indizien hierfür sind die Beauftragung einer „IT-Gesamtlösung“, die Feststellung der Funktionsfähigkeit aller Komponenten in einer einheitlichen Funktions- und Abnahmeprüfung,30 die Vereinbarung einer Gesamtabnahme, die Kundgebung des Verknüpfungswillens in der Präambel der Verträge und die vertragliche Regelung eines alle Leistungen erfassenden Rücktrittsrechts.

15

3. Rechtsfolgen a) Ablehnung von Teilleistungen Sofern Leistungen unteilbar sind, kann der Schuldner – unabhängig von § 266, der nur auf teilbare 16 Leistungen Anwendung findet – keine teilweisen Leistungen anbieten. Machte er dies gleichwohl, liegt keine – auch keine teilweise – Leistung vor.31 Von einer solchen Unteilbarkeit ist z.B. bei Werkleistungen auszugehen, da ein (einziger) Erfolg geschuldet wird, auch wenn dazu mehrere Handlungen erforderlich sein mögen.32 Sofern also die – dem Werkvertragsrecht unterfallende33 – Entwicklung und Erstellung von Individualsoftware geschuldet wird und die Parteien keine Teilleistungen oder Teilabnahmen einzelner Module oder Entwicklungsstufen vereinbart haben, muss der Auftragnehmer die gesamte zu entwickelnde und erstellende Softwarelösung liefern und zur Abnahme bereitstellen. Die Bereitstellung von Testversionen oder einzelnen Funktionalitäten stellt keine Teilleistung dar. Wenn ein einheitlicher Vertrag vorliegt und der Schuldner vertraglich eine einheitliche Leistung zu erbringen hat, ist der Schuldner nach § 266 zu Teilleistungen nicht berechtigt. Der Gläubiger kann hiernach Teilleistungen, die ihm der Schuldner andient, wie z.B. die Überlassung einer Standardsoftware ohne die beauftragten kundenspezifischen Anpassungen ablehnen. Eine unter den Voraussetzungen des § 266 unzulässige Teilleistung steht einer Nichtleistung gleich und der Auftraggeber, der die Teilleistung zurückweist, kommt nicht in Annahmeverzug und kann aufgrund vollständiger Nichterfüllung des Auftragnehmers nach § 323 Abs. 1 vom gesamten Vertrag zurücktreten (vgl. § 323 Rz. 17).34

17

Eine Ausnahme vom Recht des Gläubigers zur Ablehnung von Teilleistungen besteht nach § 242, wonach der Gläubiger Teilleistungen nicht ablehnen darf, wenn ihm die Annahme bei verständiger Würdigung der Lage des Schuldners und seiner eigenen schutzwürdigen Interessen zuzumuten ist.35 Bei komplexen, vertraglich umfassend geregelten IT-Projekten wird eine Verpflichtung des Auftraggebers zur Annahme von Teilleistungen nach § 242 regelmäßig nicht gegeben sein.

18

b) Freiwillige Annahme von Teilleistungen Es ist dem Gläubiger unbenommen, Teilleistungen freiwillig anzunehmen.36 Eine solche freiwillige Annahme wird selten ausdrücklich erfolgen, sondern eher durch schlüssiges Verhalten, etwa durch Einsatz der Teilleistung im Produktivbetrieb. Die Beweislast, dass der Gläubiger eine Teilleistung freiwillig 28 Kremer/Sander, CR 2015, 146, 148. 29 Koch, ITRB 2004, 157, 158 und 160; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; OLG Köln v. 19.1.1994 – 2 U 74/93, CR 1994, 401. 30 Koch, ITRB 2004, 160. 31 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 7. 32 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 7. 33 Vgl. zur Vertragstypologisierung z.B. Marly, Softwarerecht, Rz. 690. 34 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 18; Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 10 und § 323 BGB Rz. 24. 35 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 13, Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 8. 36 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 18; Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 10.

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BGB § 266 Rz. 19 Teilleistungen angenommen hat, so dass dies zu einer Teilerfüllung des Vertrages führt, liegt beim Schuldner.37 Nach Annahme ist hierbei § 363 zu beachten, der zu einer Umkehr der Beweislast führt, wenn der Gläubiger die Teilleistung als Teilerfüllung angenommen hat.38 20

Im Fall der freiwilligen Annahme von Teilleistungen, sowie falls ausnahmsweise eine Verpflichtung des Auftraggebers zur Annahme von Teilleistungen nach § 242 bestehen sollte, findet § 266 keine Anwendung und es ist auch bei einem einheitlichen Vertrag die Erbringung von Teilleistungen zulässig.

21

Für den Fall, dass eine Teilleistung zulässig und bewirkt ist oder der Auftraggeber eine Teilleistung freiwillig angenommen hat, stellt dies eine quantitative Teilleistung dar und führt zu einer Teilerfüllung des Vertrages. 4. Forderung von Teilleistungen

22

§ 266 gilt nicht für den Gläubiger. Dieser ist zu Teilforderungen berechtigt und kann Teilleistungen einklagen.39 5. Zuvielleistung

23

Die Zuvielleistung ist gesetzlich nicht geregelt. Im Falle einer Zuvielleistung kann der Gläubiger diese bei Unteilbarkeit ablehnen.40 Bei Teilbarkeit muss er die Leistung annehmen, sofern durch Trennung keine unzumutbaren Aufwendungen entstehen und der Schuldner zur Rücknahme der Mehrleistung bereit ist.41 Bei der Zuviellieferung von Hardware wird hiernach der Gläubiger die geschuldete Menge annehmen und den Lieferanten bezüglich der überzähligen Geräte zur Rücknahme auffordern müssen. Anders hingegen bei Softwarelizenzen: Falls der Lizenznehmer z.B. 100 Lizenzen erworben, aber 110 Lizenzen – etwa in Form von Produktschlüsseln – erhalten hat, wird es ihm i.d.R. nicht zuzumuten sein, diese 10 überzähligen Lizenzen auszusondern und zurückzugeben, denn er wird nur schwer überprüfen können, welche der Produktschlüssel aktiv sind und ob der Lizenzgeber die 10 überzähligen Lizenzen deaktiviert hat. Er sieht sich zudem der latenten Gefahr einer Urheberrechtsverletzung ausgesetzt, wenn zunächst aktive Lizenzen zurückgegeben werden sollen, da der Lizenznehmer unter entsprechender Anwendung der UsedSoft-Rspr. die Softwarekopien für diese überzähligen Lizenzen unbrauchbar machen muss.42

III. Abdingbarkeit 1. Parteivereinbarung 24

Da § 266 dispositiv ist, können die Parteien die Erbringung von Teilleistungen vertraglich vereinbaren,43 wie z.B. im Rahmen eines IT-Projektes vorbereitende Planungsleistungen oder die eigenständige Überlassung von Standardsoftware, selbst wenn diese kundenspezifisch anzupassen ist. Sofern Teilabnahmen zulässig sind, ist klarzustellen, worauf sich diese Teilabnahmen beziehen und ob sie eine Teilleistung bewirken oder weiterhin eine Gesamtabnahme erforderlich ist.44 Zudem ist es dem Gläubiger unbenommen, Teilleistungen freiwillig anzunehmen.45

37 38 39 40 41 42

MünchKomm/Fetzer, § 363 BGB Rz. 1. Jauernig/Stadler, § 266 BGB Rz. 9. Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 11; Erman/Artz, § 266 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 10; MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 22. Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 10 m.w.N.; MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 22. BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2011, 223 m. Anm. Rössel = ITRB 2011, 75 – UsedSoft II; Stögmüller, GRUR-Prax 2014, 58; BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, MMR 2015, 530, 534 = CR 2015, 429 – UsedSoft III. 43 Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 5. 44 Vgl. Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 191. 45 MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 18; Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 10.

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Leistungsort

§ 269 BGB

2. AGB Ggü. Verbrauchern stellt eine Klausel, nach der der AGB-Verwender zu Teillieferungen berechtigt ist, einen unzulässigen Änderungsvorbehalt und somit einen Verstoß gegen § 308 Nr. 4 dar.46

25

Eine Regelung in AGB im unternehmerischen Verkehr, nach der der AGB-Verwender/Lieferant zur Erbringung von Teilleistungen berechtigt ist, stellt eine Abweichung vom gesetzlichen Leitbild dar und führt zu einer unangemessenen Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 2 Nr. 1 und zur Unwirksamkeit einer solchen Klausel.47 Wäre etwa im Rahmen eines IT-Projektvertrages der Auftraggeber verpflichtet, Teilleistungen anzunehmen, könnte dies dazu führen, ihm die Möglichkeit aus der Hand zu schlagen, den Lieferanten wegen Nichtleistung in Verzug zu setzen.48

26

Zwar kann eine solche Unwirksamkeit dann nicht vorliegen, wenn der Aufbau der EDV-Anlage stufen- 27 weise erfolgt und zunächst die Voraussetzungen für die Installation geschaffen werden und Gerät ausgeliefert wird, nach dessen Aufbau die eigentliche Hardware folgt, und schließlich noch weitere Geräte mitgeliefert und angeschlossen werden.49 Allerdings wird man in einem solchen Fall prüfen müssen, ob es sich hierbei tatsächlich um einzelne zulässige Teillieferungen handelt oder ob die Parteien nicht vielmehr die Lieferung eines einheitlichen Gesamtsystems vereinbart haben.

IV. Einzelfälle Wenn der Lieferant ein Komplettsystem schuldet, das aus Hardware und Standardsoftware besteht 28 und er sich zudem verpflichtet hat, die Standardsoftware individuell einzurichten, liegt ohne diese individuelle Einrichtung trotz erfolgter Lieferung der Hardware samt installierter Standardsoftware noch keine vollständige Erfüllung vor, sondern lediglich eine Teilleistung, welche der Kunde ablehnen darf.50 Ein Rahmenvertrag, bei dem sich der Auftragnehmer zur Lieferung von 20.000 Platinen/Leiterkarten in zeitlich aufeinanderfolgenden Abrufmengen verpflichtet, stellt einen echten Sukzessivvertrag dar. Wesenstypischer Vertragsinhalt ist hierbei die Vertragsabwicklung durch Teilleistungen, für die dann jeweils § 266 gilt.51

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In Bezug auf den IT-Systemvertrag wird die Auffassung vertreten, es handele sich entgegen der „Hin- 30 weise für die Nutzung der EVB-IT System“, nach denen die Leistungen zur Herbeiführung der Betriebsbereitschaft des Gesamtsystems den Schwerpunkt der Leistungen bilden und der EVB-IT Systemvertrag damit einheitlich dem Werkvertragsrecht unterliegt,52 hierbei nicht um einen einheitlichen Vertrag, sondern um zwei (oder mehr) Verträge, die in Urkundeneinheit zueinander, hinsichtlich ihrer Rechtsanwendung allerdings losgelöst nebeneinander, stehen.53

§ 269 Leistungsort (1) Ist ein Ort für die Leistung weder bestimmt noch aus den Umständen, insbesondere aus der Natur des Schuldverhältnisses, zu entnehmen, so hat die Leistung an dem Orte zu erfolgen, an welchem der Schuldner zur Zeit der Entstehung des Schuldverhältnisses seinen Wohnsitz hatte. 46 OLG Stuttgart v. 6.5.1994 – 2 U 275/93, NJW-RR 1995, 116 = CR 1995, 269; BeckOK BGB/Lorenz, § 266 Rz. 10. 47 Graf von Westphalen/Thüsing/Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Teillieferungen“ Rz. 5; Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 150 m.w.N. 48 Vgl. Graf von Westphalen/Thüsing/Graf von Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Teillieferungen“ Rz. 5. 49 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 150. 50 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 52. 51 OLG Düsseldorf v. 25.7.2014 – I-22 U 192/13, CR 2015, 215. 52 Hinweise für die Nutzung der EVB-IT System, S. 18. 53 Kremer/Sander, CR 2015, 146, 153.

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BGB § 269 Rz. 1 Leistungsort (2) Ist die Verbindlichkeit im Gewerbebetrieb des Schuldners entstanden, so tritt, wenn der Schuldner seine gewerbliche Niederlassung an einem anderen Orte hatte, der Ort der Niederlassung an die Stelle des Wohnsitzes. (3) Aus dem Umstand allein, dass der Schuldner die Kosten der Versendung übernommen hat, ist nicht zu entnehmen, dass der Ort, nach welchem die Versendung zu erfolgen hat, der Leistungsort sein soll. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leistungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragliche Vereinbarung . . . . . . . . . . b) AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Natur des Schuldverhältnisses . . . . . . . aa) Kauf von Hardware/Überlassung von Standardsoftware . . . . . . . . . . . . bb) Softwareerstellung . . . . . . . . . . . . cc) Installationspflicht . . . . . . . . . . . dd) IT-Projektvertrag und Systemvertrag .

4 5 8 11 13 15 16 17 18

ee) Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . ff) ASP/SaaS/Cloud Computing . . . . gg) Supportverträge und Dienstverträge hh) Erfüllungsort bei Rücktritt . . . . . . d) Sitz oder Ort der gewerblichen Niederlassung des Schuldners . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtsstand des Erfüllungsortes . . . . c) Internationale Zuständigkeit . . . . . . .

. . . .

22 23 24 25

. . . . .

27 28 28 29 30

Literatur: Saenger, Zivilprozessordnung, 8. Aufl. 2019; Schuster, Leistungsabgrenzung in IT-Verträgen, CR 2013, 690; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II: Nachvertragliche Pflichten, CR 2015, 277.

I. Allgemeines 1

Der Leistungsort ist der Ort, an dem der Schuldner die Leistungshandlung vorzunehmen hat. Synonym hierzu wird auch die Terminologie „Erfüllungsort“ verwendet (z.B. in § 29 ZPO und §§ 447 Abs. 1, 644 Abs. 2 BGB).1 Der Leistungsort kann mit dem Ort, an dem der Leistungserfolg (d.h. die Erfüllung nach § 362) eintritt (Erfolgsort), zusammenfallen (so bei Hol- und Bringschuld), muss es aber nicht (so bei Schickschuld).2 Gesetzlicher Regelfall ist die Holschuld; Bring- und Schickschulden sind i.d.R. zu vereinbaren.

2

Damit eine Leistungshandlung zur Erfüllung führt, muss diese am Leistungsort vorgenommen werden. Nur dann kann die Leistung Gläubigerverzug begründen und der Schuldner dem Schuldnerverzug entgehen, zudem wird hierdurch bei Gattungsschulden die Konkretisierung herbeigeführt.3

3

§ 269 gilt für Schuldverhältnisse aller Art. Auch der Ort der Nacherfüllung im Kaufrecht richtet sich nach § 269 Abs. 1.4 Für ein taugliches Nacherfüllungsverlangen ist die Bereitschaft des Käufers erforderlich, dem Verkäufer die Kaufsache zur Überprüfung der erhobenen Mängelrügen am rechten Ort, nämlich dem Erfüllungsort der Nacherfüllung zur Verfügung zu stellen, für dessen Bestimmung die allgemeine Vorschrift des § 269 Abs. 1 maßgebend ist.5

II. Norminhalt 4

Nach § 269 bestimmt sich der Leistungsort zunächst nach der vertraglichen Vereinbarung zwischen den Parteien. Ist eine solche nicht geschlossen, ist auf die Natur des Schuldverhältnisses abzustellen. Sofern sich auch hiernach der Leistungsort nicht bestimmen lässt, ist Leistungsort der Wohnsitz des Schuldners.

1 2 3 4 5

Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 1; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 2. Jauernig/Stadler, § 269 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 2; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 53. BGH v. 13.4.2011 – VIII ZR 220/10, BB 2011, 1679. BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 96/12, K&R 2013, 201, 203 = CR 2013, 199.

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Leistungsort

Rz. 11 § 269 BGB

1. Leistungsort Mit dem Begriff des Leistungs- bzw. Erfüllungsortes ist der Ort der politischen Gemeinde gemeint. § 269 trifft über die Stelle oder den Platz, an dem innerhalb eines Ortes die Erfüllung stattzufinden hat, keine Regelung, doch sind die zur Bestimmung des Erfüllungsortes genannten Überlegungen auch auf die Leistungsstelle innerhalb eines Ortes anzuwenden.6

5

Somit kann z.B. der Leistungsort beim IT-Support bei einer vereinbarten „Vor Ort“-Betreuung die Räumlichkeiten der Niederlassung des Auftraggebers, in denen sich dessen zu wartende IT befindet, sein. Es handelt sich dann um eine Bringschuld mit der Folge, dass die Kostentragung dem Schuldner obliegt, dieser also ohne anderweitige Vereinbarung Reisekosten und Reisezeiten zum Leistungsort selbst zu tragen hat.7

6

Sind mehrere Verpflichtungen vertraglich miteinander verbunden, ist für jede Verpflichtung der Leistungsort gesondert zu bestimmen.8 Die Einheitlichkeit eines Schuldverhältnisses bedingt nicht die Einheit des Leistungsortes. Leistung und Gegenleistung müssen ebenfalls nicht notwendigerweise am selben Leistungsort erbracht werden. Nebenpflichten sind im Zweifel am Ort der Hauptverpflichtung zu erfüllen.9

7

a) Vertragliche Vereinbarung Vereinbarungen über den Leistungsort können ausdrücklich oder konkludent getroffen werden. Einseitige Erklärungen nach Vertragsschluss wie etwa Vermerke auf Rechnungen genügen nicht, es sei denn, sie werden aufgrund ständiger Geschäftsverbindung zwischen Kaufleuten u.U. Vertragsinhalt.10

8

Sofern die Vereinbarung nicht die Festlegung des Ortes bezweckt, an dem der Schuldner die ihm obliegende Leistung zu erbringen hat, sondern allein darauf abzielt, den besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsorts i.S.d. § 29 ZPO festzulegen, ist eine solche „abstrakte“ Vereinbarung des Erfüllungsorts für den Leistungsort i.S.d. § 269 ohne Bedeutung.11

9

Somit ist bei der Vertragsgestaltung zwischen der Vereinbarung des Leistungsortes und einer Gerichtsstandsklausel zu unterscheiden, denn eine Vereinbarung des Leistungsortes kann eine Gerichtsstandswirkung nur dann entfalten, wenn die Vertragsparteien Kaufleute, juristische Personen des öffentlichen Rechts oder öffentlich-rechtliche Sondervermögen sind (§ 29 Abs. 2 ZPO). Fallen die Parteien nicht unter diese Gruppe, ist zwar die Bestimmung des Leistungsortes wirksam; sie hat aber nicht zur Folge, dass dies nach § 29 Abs. 1 ZPO auch der Gerichtsstand ist, da anderenfalls die Regelungen des § 38 ZPO umgangen werden könnten.12

10

b) AGB In AGB ggü. Verbrauchern für Leistungen, die im Wege der Bringschuld zu erfüllen sind, weicht eine Klausel, nach der der Schuldner nur die rechtzeitige, ordnungsgemäße Ablieferung der Ware an das Transportunternehmen schuldet, zum Nachteil des Kunden vom Leistungsort des § 269 und der Regelung des § 446 ab, nach der die Gefahr nicht schon mit der Übergabe an das Transportunternehmen, sondern erst mit der Übergabe an den Käufer auf diesen übergeht. Darin liegt eine i.S.d. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2 unangemessene Benachteiligung des Kunden, weil ein sachlicher Grund für die Abweichung nicht gegeben ist.13

6 7 8 9 10 11 12 13

BGH v. 9.3.1983 – VIII ZR 11/82, NJW 1983, 1479, 1481. Vgl. Erman/Artz, § 269 BGB Rz. 5. MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 10; Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 7; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 19. Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 8. BGH v. 16.6.1997 – II ZR 37/94, NJW-RR 1998, 755. Erman/Artz, § 269 BGB Rz. 12. BGH v. 6.11.2013 – VIII ZR 353/12, MMR 2014, 166, 167 = CR 2014, 195 = ITRB 2014, 50.

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11

BGB § 269 Rz. 12 Leistungsort 12

Vereinbarungen des Erfüllungsorts in AGB ggü. Kaufleuten setzen voraus, dass sie nicht gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 verstoßen, etwa indem sie der Natur des Schuldverhältnisses zuwider laufen oder sachliche Gründe fehlen.14 c) Natur des Schuldverhältnisses

13

Aus den Umständen, insb. aus der Natur des Schuldverhältnisses kann sich ein – ggf. einheitlicher – Leistungsort ergeben, wenn die Leistung besonders ortsgebunden oder ortsbezogen ist.15 Übernimmt der Verkäufer die Anlieferung der Ware, so ist i.d.R. auf eine Bringschuld zu schließen.16

14

Bei gegenseitigen Verträgen ist fraglich, ob ein gemeinsamer Leistungsort begründet wird. Insb. ist nicht zwingend der Ort gemeinsamer Leistungsort, an dem die vertragscharakteristische Leistung zu erbringen ist.17 aa) Kauf von Hardware/Überlassung von Standardsoftware

15

Beim Kauf von Hardware wie auch bei der Überlassung von Standardsoftware ist nach der Natur des Schuldverhältnisses i.d.R. wie beim Kauf oder der Lieferung von Waren von einer Holschuld bzw. einer Schickschuld auszugehen, so dass der Sitz des Verkäufers bzw. Softwareanbieters Leistungsort ist. Beim Versendungskauf von Hardware und Software richtet sich die Verteilung der Preisgefahr nach §§ 269, 447.18 Sofern der Erwerb der Hardware oder Software über das Internet erfolgt, unterscheidet sich dies vom klassischen Kauf in einem Geschäft vor Ort lediglich dadurch, dass sich die Vertragsparteien nicht persönlich gegenüberstehen und sich nicht am selben Ort befinden.19 Dabei wird hinsichtlich des Erfüllungsorts der Kauf einer Software zum Download wie ein Erwerb dieser Software auf Datenträgern behandelt.20 Aus der Natur des Schuldverhältnisses wird daher bei der Überlassung von Hardware wie auch von Standardsoftware der Leistungsort i.d.R. der Sitz des Hardwarebzw. Softwareanbieters sein, unabhängig davon, ob die Hardware bzw. Standardsoftware in einem Ladengeschäft oder über das Internet bestellt wird und ob die Software auf einem Datenträger oder zum Download geliefert wird. Lediglich im Falle des Softwareversandhandels kann eine Bringschuld des Verkäufers bestehen und sich der Erfüllungsort des Kaufvertrages beim Käufer befinden.21 bb) Softwareerstellung

16

In Bezug auf die – dem Werkvertragsrecht unterfallende22 – Entwicklung und Erstellung von Individualsoftware wird der Ort der Leistungspflicht des Unternehmers durch das zu erstellende Werk bestimmt, so dass sowohl der Sitz des Unternehmers, an dem die Programmierung der Individualsoftware erfolgt, als auch der Sitz des Bestellers, wenn bei ihm die Software zu erstellen ist, Leistungsort sein kann.23 Sofern der Auftragnehmer im Rahmen des Softwareerstellungsvertrages nicht nur die Übergabe eines betriebsbereiten Programms, sondern auch die Herstellung von dessen Ablauffähigkeit und Betriebsbereitschaft schuldet, ist Leistungsort der Sitz des Auftraggebers.24

14 Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Gerichtsstandsklauseln“ Rz. 18; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 13. 15 Jauernig/Stadler, § 269 BGB Rz. 8. 16 MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 20. 17 Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 13; nach Erman/Artz, § 269 BGB Rz. 12, besteht bei gegenseitigen Verträgen eine Tendenz der Rspr. zur Annahme eines gemeinsames Leistungsortes dort, wo der Schwerpunkt der Leistung zu erbringen ist. 18 OLG Stuttgart v. 6.5.1994 – 2 U 275/93, NJW-RR 1995, 116, 117 = CR 1995, 269. 19 Hoeren/Sieber/Holznagel/Banholzer, Handbuch Multimedia-Recht, Teil 25 Rz. 30. 20 Hoeren/Sieber/Holznagel/Banholzer, Handbuch Multimedia-Recht, Teil 25 Rz. 30 m.w.N. 21 Marly, Softwarerecht, Rz. 1261 m.w.N. 22 Vgl. zur Vertragstypologisierung z.B. Marly, Softwarerecht, Rz. 690. 23 MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 47. 24 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 596.

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Leistungsort

Rz. 22 § 269 BGB

cc) Installationspflicht Sowohl bei der Lieferung von Standardsoftware als auch bei der Erstellung von Individualsoftware 17 liegt allerdings eine Bringschuld vor, wenn der Softwareanbieter sich zur Installation der Software vor Ort beim Kunden oder zur Herstellung der Betriebsbereitschaft verpflichtet hat. Denn aus der Natur eines solchen Vertrages ergibt sich, dass Leistungsort i.S.d. § 269 der Ort ist, an dem der Softwareanbieter die Software zu installieren oder ihre Betriebsbereitschaft herzustellen hat.25 dd) IT-Projektvertrag und Systemvertrag IT-Projektverträge können neben vorbereitenden Planungsleistungen z.B. die Lieferung von Hardware, die Überlassung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware, Customizing, Implementierungs- und Installationsleistungen bis hin zu Beratung, Schulung und Softwarepflege umfassen.26 Der EVB-IT Systemvertrag betrifft ebenfalls komplexe IT-Projekte, bei denen der Auftraggeber eine Hard- und Softwarelösung aus einer Hand wünscht, die ihrerseits aus verschiedenen Modulen besteht, wie etwa Hardwarelieferung, Standardsoftwareüberlassung, Individualsoftwareerstellung, Konfiguration, Customizing, Beratung, Schulung und Support.27

18

Bei einer Mehrheit von Verpflichtungen ist grundsätzlich der Leistungsort für jede einzelne Verpflichtung besonders zu bestimmen, allerdings kann sich aus Abreden der Parteien oder der Natur des Schuldverhältnisses ein einheitlicher Leistungsort ergeben.28 Die Einheitlichkeit eines Schuldverhältnisses indiziert nicht zugleich die Einheit des Leistungsortes.29

19

Sofern die Vertragsparteien ihren tatsächlichen Willen zum Leistungsort weder ausdrücklich noch konkludent zum Ausdruck gebracht haben,30 kann deren mutmaßlichem Willen Rechnung getragen werden, der sich vor allem aus der Beschaffenheit der streitigen Leistung, aber auch aus der Natur des Schuldverhältnisses ergeben kann.31

20

Bei einem IT-Projektvertrag wie auch einem Systemvertrag wird man daher zuvorderst darauf abstellen müssen, ob eine Gesamtleistung in Form einer IT-Gesamtlösung geschuldet wird oder mehrere selbständige Leistungen oder Teilleistungen (vgl. hierzu § 266 Rz. 9). Schuldet der Auftraggeber mehrere selbständige Leistungen oder ist er zur Erbringung von Teilleistungen berechtigt, können sich hieraus für unterschiedliche Leistungen unterschiedliche Leistungsorte ergeben. Ist hingegen eine Gesamtlösung zu erbringen, wird Leistungsort im Zweifel der Ort sein, an dem diese Gesamtlösung zum Einsatz kommen soll, es sei denn, der Auftragnehmer kann sämtliche geschuldeten Leistungsbestandteile bis hin zur Installation und dem Support „remote“ erbringen.

21

ee) Outsourcing Ein Outsourcing-Vertrag stellt einen komplexen Vertrag über die Auslagerung von Daten, Datenver- 22 arbeitung oder IT-gestützten Geschäftsprozessen auf einen rechtlich eigenständigen Dritten dar, der sich aus einer Fülle einzelner Leistungen zusammensetzt, die – je nach Leistungstypus – dem Kaufrecht, Mietrecht, Werkvertragsrecht oder Dienstvertragsrecht unterfallen.32 Die konkrete Leistungsbeschreibung wird i.d.R. in Leistungsscheinen näher geregelt, auf die abzustellen ist, um den Leistungs25 Vgl. BGH v. 6.11.2013 – VIII ZR 353/12, MMR 2014, 166, 167 = CR 2014, 195 = ITRB 2014, 50 zur Bringschuld im Möbel-Onlinehandel bei hinzubuchbarer Montage. 26 Stögmüller, CR 2015, 424; Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 2. 27 Hinweise für die Nutzung der EVB-IT System, abzurufen unter http://www.cio.bund.de/Web/DE/IT-Beschaf fung/EVB-IT-und-BVB/Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_node.html#doc4623280bodyText2, S. 9 f. (zuletzt abgerufen am 1.12.2019). 28 Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 7; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 10. 29 MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 10. 30 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 269 meint, bei Systemverträgen lasse sich relativ leicht einvernehmlich festlegen, dass der Erfüllungsort beim Gläubiger sei, und deshalb auch eine entsprechende Formulierung in den Vertrag aufnehmen. 31 OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, CR 2010, 630, 631 m.w.N. 32 Schuster, CR 2015, 277; Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 36–38.

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BGB § 269 Rz. 22 Leistungsort ort der jeweiligen Leistung zu ermitteln. Grundsätzlich wird man sagen können, dass Leistungsort das Rechenzentrum des Outsourcing-Anbieters ist,33 denn Zweck des Outsourcing ist die Verlagerung von IT-Prozessen vom Kunden auf den Outsourcing-Anbieter. Ungeachtet dessen ist auf den Outsourcing-Vertrag zurückzugreifen, um zu ermitteln, an welcher Stelle die Datenübergabe vom Kunden an den Outsourcing-Anbieter erfolgt. So stellt Bartsch34 bzgl. der Leistungsorte der Datenverarbeitungsleistungen auf den Ort der Datenübergabepunkte ab, wie sie im Vertrag näher definiert sind. Nach Schuster35 sind die Verantwortlichkeits-Schnittstellen und die Leistungsübergabepunkte vertraglich möglichst eindeutig zu beschreiben, um die Leistungs- und Verantwortlichkeitssphären der Parteien gegenseitig abzugrenzen. ff) ASP/SaaS/Cloud Computing 23

Bei Application Service Providing (ASP), Software as a Service (SaaS) und Cloud Computing wird Software lediglich zeitweise überlassen und der entsprechende Vertrag unterliegt i.d.R. dem Mietvertragsrecht.36 Wenn nichts anderes vereinbart ist, ist – da es sich nicht um eine Grundstücksmiete, sondern um einen Mietvertrag über bewegliche Sachen handelt – für den Leistungsort der Sitz des Schuldners, also des Vermieters, d.h. des Service Providers bzw. Cloud Providers im Zeitpunkt des Vertragsschlusses entscheidend.37 gg) Supportverträge und Dienstverträge

24

Bei Dienstverträgen ist Leistungsort i.d.R. der Ort, wo die Dienste zu erbringen sind.38 Dies gilt etwa für Schulungsleistungen und Softwaresupport. Bei Softwarepflegeverträgen, bei denen die Pflegeleistung nicht nur in der Überlassung neuer Softwareversionen, sondern insb. auch in der Fehlerbeseitigung vor Ort besteht, ist der typische Ort der Leistungserbringung der Sitz des Gläubigers.39 Bei Wartungsleistungen wird der Erfüllungsort durch die Bestimmung der Geräte, die im Wartungsschein als Wartungsobjekt aufgeführt sind, der Sitz des Auftraggebers.40 Allerdings kann sich aus der Natur des Schuldverhältnisses nach § 269 Abs. 1 dann etwas anderes ergeben, wenn die Leistungen nicht „vor Ort“ sondern „remote“ etwa in Form eines „Webinars“ oder im Wege der Fernwartung zu erbringen sind. hh) Erfüllungsort bei Rücktritt

25

Im Falle der Ausübung des gesetzlichen Rücktrittsrechts (§ 323) durch den Käufer wie auch durch den Verkäufer ist Leistungsort für die Rückgabe der Sache der Ort, an dem sich die zurückzugewährende Sache zur Zeit des Rücktritts vertragsgemäß befindet.41 Bei Hardware wie auch Software, die auf dem Rechner des Kunden installiert ist, ist somit im Falle des Rücktritts Leistungsort der Sitz bzw. das Rechenzentrum des Käufers. Auch wenn dieser Grundsatz in erster Linie im Zusammenhang mit dem Rücktritt von Kaufverträgen erörtert wird, gilt dies gleichermaßen im Falle der Erstellung und Lieferung einer Individualsoftware, die unter Werkvertragsrecht fällt, im Falle eines Rücktritts wegen Mangelhaftigkeit des Werks.42

26

Ist die Software nach den vertraglichen Vereinbarungen der Parteien auf dem Server eines Host-Providers zu installieren, so befindet sich die streitgegenständliche Software vertragsgemäß am Ort des Ser33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. U Rz. 252. Hoffmann-Becking/Gebele/Bartsch, „Outsourcing-Vertrag“, § 20 und Fn. 36. Schuster, CR 2013, 690. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, MMR 2007, 243 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 117 f. OLG Düsseldorf v. 14.6.2007 – 24 U 226/06; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 42. MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 30. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. S Rz. 470. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. P Rz. 443. MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 41; Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 16; OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, CR 2010, 630, 631 m.w.N. OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, CR 2010, 630, 632.

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Leistungszeit

§ 271 BGB

vers, welcher somit der Erfüllungsort ist.43 Im Falle eines Rücktritts vom Vertrag ist diese i.S.v. § 346 zurückzugewähren. Sofern hierfür die Software von dem Server zu löschen ist, hat der Kunde dem Softwareanbieter, dem die Software zurückzugewähren ist, lediglich Zugriff auf diesen Server zu ermöglichen, jedoch nicht die Software am Sitz des Softwareanbieters zurückzugeben, da Austauschort der beiderseitigen Rückgewähransprüche der Ort des Servers ist, da sich dort die Software vertragsgemäß befindet.44 d) Sitz oder Ort der gewerblichen Niederlassung des Schuldners Sofern sich weder aus der Parteivereinbarung noch aus der Natur des Schuldverhältnisses der Leistungs- 27 ort bestimmen lässt, ist Leistungsort der Wohnsitz des Schuldners gem. §§ 7 bis 11, an dessen Stelle bei juristischen Personen und rechtsfähigen Gesellschaften der Sitz des Schuldners tritt.45 Nach § 269 Abs. 2 ist bei gewerblichen Verbindlichkeiten Leistungsort der Ort der gewerblichen Niederlassung. 2. Rechtsfolgen a) Erfüllung Nur eine Leistung am Leistungsort stellt eine ordnungsgemäße Leistung des Schuldners dar. Bietet er nicht am Leistungsort an, wird die geschuldete Leistung nicht bewirkt und es tritt keine Erfüllung nach § 362 ein. Vielmehr stehen dem Gläubiger die Rechte wie bei einer Nichtleistung zu, insb. also die Einrede nach § 320.46

28

b) Gerichtsstand des Erfüllungsortes Mittelbare Bedeutung hat § 269 auch für den Gerichtsstand, denn der in § 29 ZPO bezeichnete Gerichtsstand des Erfüllungsorts bezieht sich auf den Leistungsort i.S.d. § 269.47

29

c) Internationale Zuständigkeit Auch die internationale Zuständigkeit stellt auf den Erfüllungsort ab, denn Art. 7 Nr. 1 EuGVVO normiert den besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsortes. Danach kann bei vertraglichen Ansprüchen eine Person in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, verklagt werden, nämlich vor dem Gericht des Ortes, an dem die vertragliche Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre.48 Für den Verkauf beweglicher Sachen und die Erbringung von Dienstleistungen ist nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. b EuGVVO für sämtliche Ansprüche aus dem Vertragsverhältnis einschließlich der Zahlungsverpflichtung des Käufers bzw. Dienstleistungsgläubigers der Ort maßgeblich, an dem die Waren vertragsgemäß geliefert bzw. die Dienstleistungen erbracht worden sind.49 Die Begriffe der EuGVVO sind hierbei europäisch-autonom auszulegen.

§ 271 Leistungszeit (1) Ist eine Zeit für die Leistung weder bestimmt noch aus den Umständen zu entnehmen, so kann der Gläubiger die Leistung sofort verlangen, der Schuldner sie sofort bewirken. (2) Ist eine Zeit bestimmt, so ist im Zweifel anzunehmen, dass der Gläubiger die Leistung nicht vor dieser Zeit verlangen, der Schuldner aber sie vorher bewirken kann. 43 44 45 46 47 48 49

OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, CR 2010, 630. Vgl. OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, CR 2010, 630, 632; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 41. Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 17; MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 49. MünchKomm/Krüger, § 269 BGB Rz. 53. BeckOK BGB/Lorenz, 52. Edition, § 269 Rz. 8. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Stögmüller, Teil 6 Rz. 417 f. Saenger/Heinrich/Dörner, ZPO, Art. 7 EuGVVO Rz. 12.

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BGB § 271 Rz. 1 Leistungszeit I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 271 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 271 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmung der Leistungszeit . . . . . . a) Vertragliche Vereinbarung . . . . . . . . b) AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bestimmung durch Gesetz . . . . . . . d) Umstände des Schuldverhältnisses . . . aa) Kauf von Hardware . . . . . . . . . bb) Überlassung von Standardsoftware

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

1 2 2 4 6 7 8 10 11 12 13

cc) Softwareerstellung . . . . . . . . . . . dd) IT-Projektvertrag und Systemvertrag ee) Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . ff) ASP/SaaS/Cloud Computing . . . . gg) Supportverträge und Service Level Agreements . . . . . . . . . . . . . . . e) Stundung/Verschiebung . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schuldnerverzug . . . . . . . . . . . . . . b) Absolutes Fixgeschäft . . . . . . . . . . . c) Relatives Fixgeschäft . . . . . . . . . . . .

. . . .

14 16 20 21

. . . . . .

22 23 25 25 26 27

Literatur: Schuster, Rechtsnatur der Service Level bei IT-Verträgen, CR 2009, 205.

I. Allgemeines 1

Neben dem Ort der Leistung (§ 269) ist wesentliche Leistungsmodalität die Leistungszeit. Beide Regelungen zusammen legen fest, unter welchen Voraussetzungen der Schuldner „am rechten Ort, zur rechten Zeit“ leistet.1 § 271 regelt beide Komponenten der Leistungszeit, die Frage der Fälligkeit und die Frage der Erfüllbarkeit. Die Fälligkeit bezeichnet den Zeitpunkt, von dem ab der Gläubiger die Leistung verlangen kann, die Erfüllbarkeit den Zeitpunkt, von dem ab der Schuldner leisten darf und der Gläubiger durch Nichtannahme der Leistung in Gläubigerverzug kommt.2 Beide Zeitpunkte fallen i.d.R. zusammen, die Erfüllbarkeit kann jedoch auch vor (§ 271 Abs. 2) bzw. erst nach der Fälligkeit eintreten.3

II. Norminhalt 1. § 271 Abs. 1 2

§ 271 Abs. 1 gilt für Schuldverhältnisse aller Art und ist deshalb grundsätzlich auch bei periodisch wiederkehrenden Leistungspflichten anwendbar.4 Hiernach ist eine Leistung sofort fällig, wenn eine Zeit für die Leistung weder bestimmt noch den Umständen zu entnehmen ist. Das Merkmal „sofort“ ist hierbei objektiv zu verstehen und bedeutet, dass der Schuldner so schnell leisten muss, wie ihm dies nach objektiven Umständen möglich ist, wobei etwa notwendige Vorbereitungen zu berücksichtigen sind, jedoch keine subjektiven Umstände wie etwa eine angemessene Überlegungsfrist.5 Hinsichtlich des genauen Leistungszeitpunkts, d.h. der Tageszeit gilt § 242, wonach der Schuldner nicht zu unpassender Zeit leisten darf.6 Nach § 358 HGB kann bei Handelsgeschäften die Leistung nur während der gewöhnlichen Geschäftszeit bewirkt und gefordert werden.

3

§ 271 Abs. 1 enthält keine gesetzliche Vermutung der Fälligkeit, sondern findet Anwendung, wenn weder gesetzlich noch aus den Umständen noch durch vertragliche Vereinbarung eine Fälligkeitsregelung getroffen worden ist.7 2. § 271 Abs. 2

4

§ 271 Abs. 2 stellt eine Auslegungsregel für vertragliche Leistungszeitbestimmungen dar, die im Zweifel nur zugunsten des Schuldners wirkt und sagt, dass dieser bereits vor Fälligkeit leisten bzw. in 1 2 3 4 5 6 7

MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 1; MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 1. Jauernig/Stadler, § 271 BGB Rz. 4. BGH v. 19.11.2014 – VIII ZR 79/14, NJW 2015, 873, 877. MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 31; Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 10. Palandt/Grünberg, § 271 BGB Rz. 3. Erman/Artz, § 271 BGB Rz. 2.

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Leistungszeit

Rz. 8 § 271 BGB

Annahmeverzug begründender Weise anbieten kann.8 Allerdings ist Abs. 2 unanwendbar, wenn der Gläubiger durch die Vorausleistung ein vertragliches Recht verliert oder wenn seine rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt werden.9 Eine vorzeitige Erfüllung gem. § 271 Abs. 2 ist immer dann ausgeschlossen, wenn sich aus dem Gesetz, aus einer Vereinbarung der Parteien oder aus den Umständen ergibt, dass der Schuldner nicht berechtigt sein soll, die Leistung schon vor der Zeit zu erbringen.10 Ein der Anwendung des § 271 Abs. 2 entgegenstehender Ausschluss vorzeitiger Leistungen ergibt sich aus den Umständen, wenn die Leistungszeit nicht nur im Interesse des Schuldners hinausgeschoben ist, sondern wenn auch der Gläubiger ein rechtlich geschütztes Interesse daran hat, die Leistung nicht vorzeitig entgegennehmen zu müssen.11 So hat der BGH in Zusammenhang mit dem Kauf von Einbauküchen entschieden, dass die Befugnis des Verkäufers, vorzeitig zu erfüllen, auf Grund der besonderen Umstände des Geschäfts regelmäßig ausgeschlossen ist, weil die verkauften Einbauküchen für einen bestimmten Raum zusammengestellt werden und deren Montage und Nutzung davon abhängig ist, dass beim Käufer die entsprechenden räumlichen und technischen Voraussetzungen für den Einbau erfüllt sind.12 Dies muss gleichermaßen für die Lieferung oder Bereitstellungen von IT-Leistungen gelten, wenn der Auftraggeber zuerst die räumlichen oder technischen Voraussetzungen schaffen muss, um diese Leistungen nutzen zu können. Bei der Lieferung von Software ist dies etwa die Anschaffung entsprechender Hardware und die Herstellung der erforderlichen Systemumgebung, beim Outsourcing der Abschluss der Transition und bei vereinbarten Teilleistungen in Projektverträgen das Erreichen des entsprechenden Meilensteins, zu dem die Teilleistung erfolgen soll.

5

3. Bestimmung der Leistungszeit Die Leistungszeit kann durch vertragliche Abreden oder durch Gesetz bestimmt sein. Liegt weder eine vertragliche Vereinbarung noch eine gesetzliche Regelung vor, ist auf die Umstände abzustellen.

6

a) Vertragliche Vereinbarung Erforderlich ist eine vertragliche Abrede. Vereinbart werden können Termine oder Fristen, wobei die 7 Auslegungsregeln der §§ 187 bis 193 Anwendung finden. Der Fälligkeitszeitpunkt muss zumindest hinreichend bestimmbar sein.13 Werden unbestimmte Formulierungen wie „möglichst bald“ verwendet, ist der Spielraum nach billigem Ermessen auszufüllen.14 Falls etwa Projektverträge keinen Fertigstellungstermin oder Supportverträge oder Service Level Agreements keine konkreten Reaktionszeiten, die in zeitlicher Hinsicht Art und Umfang der vertraglich geschuldeten Leistung beschreiben,15 in Form von Fristen vorsehen, sondern unbestimmte Formulierungen wie „baldigst“, „umgehend“ oder „in angemessener Zeit“, ist die Leistungszeit nach billigem Ermessen zu bestimmen. So enthält die Zusicherung, gekaufte Möbel „baldigst“ zu liefern, nach Treu und Glauben das Versprechen, innerhalb eines Zeitraumes von höchstens 6 bis 8 Wochen zu liefern.16 b) AGB AGB-Klauseln sind an §§ 307, 308 Nr. 1 zu messen und unwirksam, wenn sie unangemessen lange oder 8 nicht hinreichend bestimmte Leistungsfristen vorsehen. Auch im Verkehr zwischen Unternehmen müssen sich AGB über Leistungsfristen im Rahmen des Angemessenen halten.17 Allerdings sind die Besonderheiten des Handelsverkehrs zu berücksichtigen, so dass ggf. längere Fristen als in Verbraucher8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Jauernig/Stadler, § 271 BGB Rz. 1 und 15. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 11; MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 35. BGH v. 25.10.2006 – VIII ZR 23/06, NJW 2007, 1198, 1199. BGH v. 25.10.2006 – VIII ZR 23/06, NJW 2007, 1198, 1199. BGH v. 25.10.2006 – VIII ZR 23/06, NJW 2007, 1198, 1199. Erman/Artz, § 271 BGB Rz. 8. Erman/Artz, § 271 BGB Rz. 8. Schuster, CR 2009, 205, 206. OLG Nürnberg v. 13.11.1980 – 8 U 1237/80, NJW 1981, 1104 (Ls.). Palandt/Grüneberg, § 308 BGB Rz. 10; MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 26.

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BGB § 271 Rz. 8 Leistungszeit verträgen noch wirksam sein können.18 Eine Klausel, nach der die sich aus einem elektronischen Katalog ergebende Lieferzeit unverbindlich ist, soweit sie nicht schriftlich zugesagt wird, hält der AGBrechtlichen Inhaltskontrolle nicht stand.19 9

Die Verpflichtung des Verwenders von AGB, seine Leistung innerhalb des vertraglich vereinbarten Zeitraums bzw. zu der vertraglich vereinbarten Zeit zu erbringen, stellt eine wesentliche Vertragspflicht dar, bei deren Verletzung die Haftung für einfache Fahrlässigkeit durch AGB regelmäßig nicht ausgeschlossen werden darf.20 c) Bestimmung durch Gesetz

10

Gesetzliche Sonderregelungen für die Leistungszeit sind etwa vorgesehen in § 579 (Fälligkeit der Miete), 614 (Fälligkeit der Vergütung bei Dienstverträgen) und § 641 (Fälligkeit der Vergütung bei Werkverträgen). Eine Fälligkeitsregelung für Honorare unter einem Verlagsvertrag sieht § 23 VerlG vor, allerdings sind Computerprogramme nur selten Gegenstand verlagsmäßiger Vervielfältigung und Verbreitung.21 d) Umstände des Schuldverhältnisses

11

Die Bestimmung der Leistungszeit anhand der Umstände, insb. mit Rücksicht auf die Natur des Schuldverhältnisses, ist Teil der Vertragsauslegung und einzelfallbezogen.22 Dazu sind der Wortlaut des Vertrages und die Umstände des Einzelfalls, namentlich die der Gegenseite erkennbare wirtschaftliche Bedeutung an der Einhaltung einer Frist, zu würdigen.23 Die Ergebnisse sind häufig evident, so kann beim Werkvertrag die Leistungspflicht des Unternehmers nicht fällig werden, bevor die zur Herstellung des Werks erforderliche Zeit verstrichen ist.24 Zu berücksichtigen sind die Natur des Schuldverhältnisses, die Verkehrssitte und die Beschaffenheit der Leistung.25 aa) Kauf von Hardware

12

Bei Barzahlungsgeschäften des täglichen Lebens ist sofortige Leistung anzunehmen.26 Sofern Hardware direkt beim Händler gekauft und bezahlt wird, ist diese sofort zu übergeben oder im Falle eines Versendungskaufs sofort der zur Ausführung der Versendung bestimmten Person auszuliefern. bb) Überlassung von Standardsoftware

13

Mangels Leistungszeitbestimmung wird bei der Überlassung von Standardsoftware davon auszugehen sein, dass die Software sofort zu übergeben bzw. auszuliefern ist, denn der Softwareanbieter hat hiervon allenfalls eine Kopie auf einem Datenträger zu fertigen. Bei einer Überlassung der Software mittels Download steht diese ohnehin jederzeit zur Verfügung, ohne dass ein Vervielfältigungsstück auf einem Datenträger erstellt werden muss. Schuldet der Softwareanbieter die Installation der Standardsoftware vor Ort beim Kunden, steht ihm der hierfür angemessene Zeitraum zur Verfügung. cc) Softwareerstellung

14

In Bezug auf die – dem Werkvertragsrecht unterfallende27 – Entwicklung und Erstellung von Individualsoftware hat der Unternehmer nach Vertragsschluss mit der Herstellung alsbald zu beginnen und 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

Spindler/Schuster/Schuster, § 308 BGB Rz. 17. LG Frankfurt/M. v. 9.3.2005 – 2-02 O 341/04, CR 2006, 210 (Ls.) = ITRB 2005, 254. OLG Köln v. 21.3.1997 – 19 U 215-96, NJW-RR 1998, 1274. Schricker, Verlagsrecht, 3. Aufl. 2001, § 1 VerlG Rz. 33. MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 30. BGH v. 8.3.2001 – VII ZR 470/99, NJW-RR 2001, 806. MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 30; Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 9. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 9. BeckOK BGB/Lorenz, § 271 Rz. 20. Vgl. zur Vertragstypologisierung z.B. Marly, Softwarerecht, Rz. 690.

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Leistungszeit

Rz. 18 § 271 BGB

sie in angemessener Zeit zügig zu Ende zu führen. Dabei ist die für die Herstellung notwendige Zeit in Rechnung zu stellen. Mit Ablauf der angemessenen Fertigstellungsfrist tritt Fälligkeit ein.28 Falls der für die Softwareerstellung angebotene Zeitrahmen für mehrere Realisierungsstufen 12 Monate beträgt, kann sich der Auftragnehmer auch bei großzügiger Betrachtung nicht darauf berufen, dass er seine Leistung mehr als 19 Monate nach Vertragsbeginn noch nicht zu erbringen hatte.29

15

dd) IT-Projektvertrag und Systemvertrag IT-Projektverträge können neben vorbereitenden Planungsleistungen z.B. die Lieferung von Hardware, 16 die Überlassung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware, Customizing, Implementierungs- und Installationsleistungen bis hin zu Beratung, Schulung und Softwarepflege umfassen.30 Der EVB-IT Systemvertrag betrifft ebenfalls komplexe IT-Projekte, bei denen der Auftraggeber eine Hard- und Softwarelösung aus einer Hand wünscht, die ihrerseits aus verschiedenen Modulen besteht, wie etwa Hardwarelieferung, Standardsoftwareüberlassung, Individualsoftwareerstellung, Konfiguration, Customizing, Beratung, Schulung und Support.31 Üblicherweise werden in Projektverträgen Leistungszeiten vereinbart. Je nach Ausgestaltung können 17 dies Projekt-Meilensteine, ein Bereitstellungstermin zur Abnahme, ein Fertigstellungstermin, ein Abnahmetermin oder ein „Go Live“-Termin sein. Umstritten ist zwischen den Parteien hierbei häufig, inwieweit Zwischentermine bzw. Meilensteine verbindliche Fristen und Termine darstellen, denn ohne entsprechende vertragliche Vereinbarung ist der Auftragnehmer nur verpflichtet, das Gesamtwerk innerhalb der vertraglich festgelegten Zeit fertigzustellen und hat zumindest die theoretische Möglichkeit, einen Verzug im Projektverlauf wieder aufzuholen.32 Sofern vertraglich nicht ausdrücklich geregelt, ist durch Auslegung zu ermitteln bzw. aus den Umständen zu entnehmen, welche dieser Termine für den Schuldner verbindlich sind und die Fälligkeit begründen sowie ggf. verzugsauslösend nach § 286 Abs. 2 sind.33 Während ein Bereitstellungstermin zur Abnahme, Fertigstellungstermin oder „Go Live“-Termin i.d.R. den Zeitpunkt beschreibt, zu dem der Auftragnehmer spätestens die geschuldete Leistung zur Abnahme bereitstellen bzw. vertragsgemäß erbracht haben muss oder ab wann diese im Produktivbetrieb eingesetzt werden soll, werden Projekt-Meilensteine häufig nur zur Kontrolle des Projektfortschritts dienen und bei Erreichen die Fälligkeit von Abschlagszahlungen begründen, aber nicht verzugsauslösend sein. In einem vom BGH34 entschiedenen Fall war Gegenstand der Vereinbarung unter den Parteien eine einheitliche Absprache über die Herstellung eines individuell auf die Bedürfnisse der Klägerin zugeschnittenen, Hard- und Software einschließenden EDV-Systems, die rechtlich als Werkvertrag einzuordnen ist. Im Rahmen eines solchen Vertrags ist der Unternehmer, der das System herzustellen und zu liefern hat, regelmäßig auch zur Überlassung einer Dokumentation an den Besteller verpflichtet, die diesen in die Lage versetzt, mit dem System zu arbeiten. Die Überlassung einer solchen Dokumentation gehört zu seinen Hauptpflichten; die Verletzung dieser Verpflichtung kann auf Seiten des Bestellers die Rechte nach den §§ 325, 326 auslösen. Der Anspruch auf Überlassung dieser Dokumentation ist erst nach Herstellung des Werkes, d.h. nach Abschluss der geschuldeten Arbeiten an dem System fällig. Sofern die Parteien keine anderen Absprachen getroffen haben oder sich diese nicht aus den Umständen ergeben, kann von dem Unternehmer nach Treu und Glauben nicht verlangt werden, vor der abschließenden Fertigstellung der Software eine dem jeweils erreichten Ausbauzustand entsprechende Dokumentation zu liefern und er kann deren endgültige Herstellung bis zum Abschluss der geschuldeten Arbeiten an dem System zurückstellen, da erst dann endgültig feststeht, welche Funktionen in das

28 29 30 31

BGH v. 8.3.2001 – VII ZR 470/99, NJW-RR 2001, 806. OLG Hamburg v. 16.8.2013 – 9 U 41/11. Stögmüller, CR 2015, 424; Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 2. Hinweise für die Nutzung der EVB-IT System, abzurufen unter http://www.cio.bund.de/Web/DE/IT-Beschaf fung/EVB-IT-und-BVB/Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_node.html#doc4623280bodyText2, S. 9 f. (zuletzt abgerufen am 1.12.2019). 32 Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 98. 33 Vgl. Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 98; Jauernig/Stadler, § 271 BGB Rz. 16. 34 BGH v. 20.2.2001 – X ZR 9/99, NJW 2001, 1718, 1719 = CR 2001, 367 m. Anm. Hoene.

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18

BGB § 271 Rz. 18 Leistungszeit System implementiert sind und wie sich diese in ihrer konkreten Erscheinung dem Benutzer darstellen. 19

Der Anspruch des Bestellers einer individuell auf seine Bedürfnisse zugeschnittenen Software auf Lieferung einer zum Betrieb der Software erforderlichen Dokumentation wird also grundsätzlich erst mit dem Abschluss der Arbeiten an dem Programm fällig.35 Gleichermaßen werden einzelne vereinbarte Teilleistungen innerhalb eines Projektvertrags dann fällig, wenn die hierfür erforderlichen Vorarbeiten abgeschlossen sind. So muss beispielsweise die Schulung erst dann geleistet werden, wenn die zu schulende Software getestet und funktionsfähig ist, und die Erbringung von Softwarepflege ist i.d.R. erst ab „Go Live“ geschuldet, also wenn die Software produktiv eingesetzt wird.36 ee) Outsourcing

20

Beim Outsourcing richtet sich die Durchführung der Transition nach einem so genannten Transition-Plan, der stark projektbezogen ist und deshalb große Ähnlichkeiten zum Softwareerstellungsoder IT-Projektvertrag aufweist. Im Leistungsschein Transition wird der Projektplan festgehalten und die einzelnen Schritte der Transition werden meist mit festen Vollendungsterminen (Meilensteinen) hinterlegt.37 ff) ASP/SaaS/Cloud Computing

21

Bei Application Service Providing (ASP), Software as a Service (SaaS) und Cloud Computing wird Software lediglich zeitweise überlassen und der entsprechende Vertrag unterliegt i.d.R. dem Mietvertragsrecht.38 Die Leistungszeit entspricht der Vertragslaufzeit. Allerdings ist zu beachten, dass nach einem Urteil des BGH, das den Online-Zugriff auf den Rechner einer Bank im Rahmen des OnlineBanking betrifft, ein solcher Online-Zugriff grundsätzlich unbeschränkt, d.h. „rund um die Uhr“ zur Verfügung stehen muss, soweit sich aus der Vereinbarung keine zeitlichen Nutzungsbeschränkungen ergeben.39 Aus diesem Grunde werden im Bereich des ASP, SaaS und Cloud Computing in aller Regel Service Level Agreements geschlossen, in denen die Parteien bestimmte quantitative und qualitative Merkmale der Leistungserbringung bestimmen. Typisch ist insb. die Vereinbarung einer bestimmten Verfügbarkeitsquote (z.B. von 99,5 %) der vertraglich geschuldeten Leistungen, die die Hauptleistungspflicht des Auftragnehmers in Form einer zeitlichen Begrenzung konkretisiert.40 gg) Supportverträge und Service Level Agreements

22

In Supportverträgen und Service Level Agreements werden neben der Leistungsbeschreibung die qualitativen und quantitativen Leistungsstandards festgelegt. Dies sind regelmäßig Reaktionszeiten, die in zeitlicher Hinsicht Art und Umfang der vertraglich geschuldeten Leistung beschreiben,41 und die Erreichbarkeit einer Hotline.42 Diese Regelungen stellen vertragliche Bestimmungen der Leistungszeit nach § 271 dar. e) Stundung/Verschiebung

23

Eine Stundung bewirkt nach allgemeinem Verständnis das Hinausschieben der durch Parteivereinbarung oder durch Gesetz bestimmten Fälligkeitszeitpunkte und kommt im Regelfall durch Partei35 36 37 38 39 40 41 42

BGH v. 20.2.2001 – X ZR 9/99, NJW 2001, 1718 = CR 2001, 367 m. Anm. Hoene. Redeker, IT-Recht, Rz. 341. Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 180 f. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, MMR 2007, 243 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 117 f. BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181, 182 m. Anm. Stögmüller = ITRB 2001, 76. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 26 f.; Schuster, CR 2009, 205, 206. Schuster, CR 2009, 205, 206. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 200; Redeker, ITRecht, Rz. 641a.

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Leistungszeit

Rz. 27 § 271 BGB

vereinbarung zu Stande.43 Die nachträgliche Stundung ist eine Vertragsänderung, die sich u.U. auch aus einer ergänzenden Vertragsauslegung oder konkludent ergeben kann.44 Gerade in Projektverträgen mit fest vereinbarten Leistungszeiten wie Projekt-Meilensteinen oder einem Fertigstellungstermin kann eine Diskussion zwischen den Parteien über Verzögerungen oder Verschiebungen dazu führen, dass auch ohne ausdrückliche Festlegung neuer Leistungszeiten die Parteien zumindest konkludent eine einvernehmliche Stundung bzw. Verschiebung vereinbart haben. Selbst wenn Termine fest vereinbart worden sind, gilt grundsätzlich, dass diese entfallen bzw. dann angemessene Fristen gelten, wenn Änderungs- oder Ergänzungswünsche durchgeführt werden.45 Wird eine zunächst festgelegte Leistungszeit vor deren Ablauf einvernehmlich hinausgeschoben, die Erfüllung der Leistungspflicht also gestundet, gerät der Schuldner nicht in Verzug und ein bereits eingetretener Verzug wird geheilt.46 Wird auf unbestimmte Zeit gestundet, kann der Gläubiger eine neue Leistungszeit gem. §§ 316, 315 nach billigem Ermessen bestimmen.47

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4. Rechtsfolgen a) Schuldnerverzug Hält der Schuldner die Leistungszeit nicht ein, kommt er unter den Voraussetzungen des § 286 – und somit u.U. ohne Mahnung nach § 286 Abs. 2, 3 – in Verzug.

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b) Absolutes Fixgeschäft Bei einem absoluten Fixgeschäft führt die Nichteinhaltung der Leistungszeit zur Unmöglichkeit. Ein absolutes Fixgeschäft liegt vor, wenn die Einhaltung der Leistungszeit nach dem Zweck des Vertrages und der gegebenen Interessenlage für den Gläubiger derart wesentlich ist, dass eine verspätete Leistung keine Erfüllung mehr darstellt.48 Bei IT-Verträgen wird ein absolutes Fixgeschäft meist nur in außergewöhnlichen Fallkonstellationen vorliegen,49 z.B. die Bereitstellung einer Buchungsplattform zur Teilnahme an einer Online-Auktion. Denkbar wäre dies auch in Zusammenhang mit Großprojekten, die einen festen Starttermin haben, zu dem rechtzeitig vorher das IT-System fertig sein muss, etwa im Hinblick auf einen Sporttermin oder eine angekündigte Geschäftseröffnung.50 Absoluten Fixcharakter haben i.d.R. auch Dauerverpflichtungen,51 bei IT-Verträgen wären dies z.B. Supportverträge sowie ASP-, SaaS- und Cloud Computing-Verträge.

26

c) Relatives Fixgeschäft Beim relativen Fixgeschäft tritt bei Nichteinhaltung der Leistungszeit keine Unmöglichkeit ein, der Gläubiger ist aber nach Maßgabe des § 323 Abs. 2 Nr. 2 berechtigt, vom Vertrag zurückzutreten.52 Ob es sich tatsächlich um einen Fixtermin handelt, muss mit Vorsicht und hohen Anforderungen geprüft werden, wobei davon auszugehen ist, dass fest vereinbarte Termine nicht automatisch zum Fixgeschäft führen, sondern vielmehr klar gewollt sein muss, dass das Geschäft mit der zeitgerechten Leistung steht und fällt.53 Klauseln wie „fix“, „prompt“ oder „spätestens“ in Verbindung mit einer bestimmten Leistungszeit können auf ein Fixgeschäft hindeuten, jedoch ist auch eine abweichende Auslegung im Einzelfall möglich.54 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

BGH v. 12.3.2013 – XI ZR 227/12, NJW 2013, 3437, 3438. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 14; MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 22. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 243. BGH v. 24.10.1990 – VIII ZR 305/89, NJW-RR 1991, 822. BGH v. 24.10.1990 – VIII ZR 305/89, NJW-RR 1991, 822. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 17; MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 14. Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1414. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 242. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 17. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 18; MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 14. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 241. Marly, Softwarerecht, Rz. 1894.

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BGB § 273 Rz. 1 Zurückbehaltungsrecht

§ 273 Zurückbehaltungsrecht (1) Hat der Schuldner aus demselben rechtlichen Verhältnis, auf dem seine Verpflichtung beruht, einen fälligen Anspruch gegen den Gläubiger, so kann er, sofern nicht aus dem Schuldverhältnis sich ein anderes ergibt, die geschuldete Leistung verweigern, bis die ihm gebührende Leistung bewirkt wird (Zurückbehaltungsrecht). (2) Wer zur Herausgabe eines Gegenstands verpflichtet ist, hat das gleiche Recht, wenn ihm ein fälliger Anspruch wegen Verwendungen auf den Gegenstand oder wegen eines ihm durch diesen verursachten Schadens zusteht, es sei denn, dass er den Gegenstand durch eine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung erlangt hat. (3) Der Gläubiger kann die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts durch Sicherheitsleistung abwenden. Die Sicherheitsleistung durch Bürgen ist ausgeschlossen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3. III. 1. 2. 3. IV. 1.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamer und fälliger Gegenanspruch Konnexität . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

1

. . . .

. . . .

4 4 5 6

Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts . Parteivereinbarung . . . . . . . . . . . . . . AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur des Schuldverhältnisses . . . . . . . . Einzelne IT-Vertragsarten . . . . . . . . . . Überlassung von Hardware und Standardsoftware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

9 10 12 13 16

.

16

2. 3. 4. 5. 6.

Softwareerstellung . . . . . . . . . . . . . . IT-Projektvertrag und Systemvertrag . . . Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . . . . ASP/SaaS/Cloud Computing . . . . . . . Wartungs-, Pflege- und Supportverträge .

. . . . .

. . . . .

17 18 19 21 22

V. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Abwendung durch Sicherheitsleistung (§ 273 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht nach § 369 HGB . . . . . . . . . . . . . . . .

25 26

Literatur: Grützmacher, Dateneigentum – ein Flickenteppich, CR 2016, 485; Redeker, Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts im Wartungs- und Pflegevertrag, CR 1995, 385; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II: Nachvertragliche Pflichten, CR 2015, 277.

I. Allgemeines 1

Gem. der Legaldefinition in § 273 Abs. 1 gewährt das Zurückbehaltungsrecht dem Schuldner das Recht, seine Leistung zu verweigern, bis ihm die gebührende Leistung bewirkt wird. Zweck des Zurückbehaltungsrechts ist die Sicherung des Schuldners im Hinblick auf seine Gegenforderung und zugleich mittelbarer Erfüllungsdruck auf den Gläubiger.1

2

Das Zurückbehaltungsrecht beruht auf dem Gedanken, dass derjenige treuwidrig handelt, die aus einem einheitlichen Rechtsverhältnis die ihm gebührende Leistung fordert, ohne die ihm obliegende Gegenleistung zu erbringen.2 Als besonderer Anwendungsfall des Verbots unzulässiger Rechtsausübung (§ 242) darf das Zurückbehaltungsrecht nicht in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise ausgeübt werden. So kann es gegen das Gebot von Treu und Glauben verstoßen, wenn eine hochwertige Leistung zum Zwecke der Durchsetzung eines verhältnismäßig geringfügigen Gegenanspruchs zurückgehalten wird, wobei allerdings nicht schematisch allein auf die Wertverhältnisse abzustellen ist. Vielmehr kann ein Zurückbehaltungsrecht auch dann gegeben sein, wenn der Wert der Forderung, derentwegen die Herausgabe eines Gegenstands verweigert wird, erheblich geringer ist als der Wert der herausverlangten Sache; denn das Recht auf Zurückbehaltung würde seinen vom Gesetzgeber verfolgten Zweck verlieren, auf den Schuldner Druck auszuüben, wenn es nur dann ausgeübt werden könnte,

1 Jauernig/Stadler, § 273 BGB Rz. 1. 2 Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 1; MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 2.

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Zurückbehaltungsrecht

Rz. 6 § 273 BGB

wenn das Wertverhältnis in etwa ausgeglichen ist. Erforderlich ist vielmehr stets eine Abwägung der konkreten Umstände des Einzelfalls.3 Gegenstand des Zurückbehaltungsrechts kann jede Art von Leistung sein, sofern sie geeignet erscheint, den Gegenanspruch des Schuldners zu sichern. Verweigert werden kann auch die Herausgabe von Sachen, wobei unerheblich ist, ob ihnen ein eigener Vermögenswert zukommt oder ob sie selbständig pfändbar sind, und die Leistung geschuldeter Handlungen (z.B. Dienstleistungen).4

3

II. Norminhalt 1. Gegenseitigkeit Voraussetzung des Bestehens des Zurückbehaltungsrechts ist das Vorliegen der Gegenseitigkeit. Der zu- 4 rückhaltende Schuldner der Forderung muss Gläubiger der Gegenforderung sein, deren Schuldner wiederum der Gläubiger ist, d.h. es muss eine beiderseitige persönliche und rechtliche Identität von Gläubiger und Schuldner bestehen.5 Die Gegenseitigkeit kann beispielsweise dann nicht vorliegen, wenn Eigentümerstellung und Schuldnerstellung hinsichtlich der Gegenforderung auseinanderfallen.6 Bei IT-Verträgen sind entsprechende Fallkonstellationen etwa denkbar hinsichtlich der Herausgabe von Daten, falls derjenige, der die Herausgabe seiner Daten von einem ASP- oder Cloud-Anbieter beansprucht, nicht zugleich Vertragspartner des Anbieters ist, sondern etwa ein Kunde des Auftraggebers. Sofern einem solchen Dritten ggü. dem ASP- oder Cloud-Anbieter ein Herausgabeanspruch hinsichtlich seiner Daten zustehen sollte,7 könnte der ASP- bzw. Cloud-Anbieter gegen diesen Herausgabeanspruch kein Zurückbehaltungsrecht aufgrund fälliger, offener Vergütungsansprüche ggü. seinem Auftraggeber geltend machen. 2. Wirksamer und fälliger Gegenanspruch Der Gegenanspruch muss wirksam und fällig (§ 271) sein.8 Relevant kann dies werden, wenn ein Auftraggeber ggü. Vergütungsansprüchen eines ASP- oder Cloud-Anbieters ein Zurückbehaltungsrecht mit der Begründung geltend macht, er hätte einen Anspruch auf Datenherausgabe. Je nachdem, auf welcher Rechtsgrundlage ein solcher Anspruch auf Datenherausgabe beruht, kann er entweder jederzeit fällig sein oder muss gem. § 271 Abs. 1 nach den Umständen bestimmt werden (s. § 271 Rz. 6), wobei dann der Anbieter für eine Fälligkeit zunächst zur Datenherausgabe aufgefordert und ihm sodann eine angemessene Zeit für die Bereitstellung des Datenmaterials eingeräumt werden muss.9

5

3. Konnexität Für das Bestehen eines Zurückbehaltungsrechts ist Konnexität erforderlich, d.h. Anspruch und Gegenanspruch müssen auf „demselben rechtlichen Verhältnis“ beruhen. Dieser Begriff ist im weitesten Sinne zu verstehen; es genügt, wenn zwischen den beiden Ansprüchen ein innerer natürlicher und wirtschaftlicher Zusammenhang in der Weise besteht, dass es gegen Treu und Glauben verstoßen würde, wenn der eine Anspruch ohne Rücksicht auf den anderen geltend gemacht und durchgesetzt werden könnte.10 Auch zwischen Ansprüchen aus mehreren Verträgen kann die erforderliche Konnexität

3 4 5 6 7 8 9 10

BGH v. 2.12.2011 – V ZR 30/11, NJW 2012, 528, 529. MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 39; Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 4. Jauernig/Stadler, § 273 BGB Rz. 7. Vgl. hierzu OLG Karlsruhe v. 16.2.2012 – 9 U 168/11, NJW-RR 2012, 1442, wonach einer Kfz-Werkstatt kein Zurückbehaltungsrecht an dem Kfz wegen des Werklohns ggü. dem Eigentümer zusteht, wenn der Werkvertrag mit einem Dritten geschlossen wurde. S. zum Dateneigentum Grützmacher, CR 2016, 485 und zum Anspruch auf Datenherausgabe nach Vertragsende Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 279 ff. Erman/Artz, § 273 BGB Rz. 11 und 14; zum Fälligkeitszeitpunkt nach § 271 vgl. § 271 Rz. 2. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 283. Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 9 m.w.N.

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BGB § 273 Rz. 6 Zurückbehaltungsrecht bestehen.11 So kann sich aus einer ständigen Geschäftsbeziehung eine „Einheitlichkeit des faktischen Verhältnisses“ ergeben, mit der Folge, dass einem Werkunternehmer ein Zurückbehaltungsrecht nicht nur an dem zuletzt zur Reparatur übergebenen Fahrzeug wegen der Reparaturkosten dieses Fahrzeugs zusteht, sondern auch wegen noch offener Rechnungen aus den Reparaturen an anderen Fahrzeugen.12 7

Bezogen auf die Zurückhaltung von IT-Wartungs-, Pflege- oder Supportleistungen des Auftragnehmers aus einem Wartungs-, Pflege- bzw. Supportvertrag bedeutet dies, dass eine Konnexität nicht nur dann zu bejahen ist, wenn die Leistungen aufgrund offener Vergütungsansprüche aus dem Wartungs-, Pflege- bzw. Supportvertrag für frühere Wartungs-, Pflege- bzw. Supportleistungen zurückbehalten werden, sondern auch, wenn der Leistungserbringer die zu wartenden IT-Systeme geliefert hat und das Entgelt für die Lieferung der Software bzw. Hardware noch nicht vollständig beglichen worden ist.13

8

Bei ASP-, Cloud- und Outsourcingverträgen ist ebenfalls eine Konnexität zwischen der Vergütungspflicht und der Datenherausgabepflicht zu bejahen, da es sich hierbei um Dauerschuldverhältnisse handelt und das gesamte Verhältnis als wirtschaftliche Einheit anzusehen ist.14

III. Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts 9

Das Zurückbehaltungsrecht kann gesetzlich, vertraglich oder aus der Natur des Schuldverhältnisses ausgeschlossen sein. 1. Parteivereinbarung

10

Die Ausschlussabrede kann auch konkludent zustande kommen, etwa durch Vereinbarung einer Vorleistungspflicht, einer Barzahlungsklausel oder durch Begründung eines neuen Rechtsverhältnisses in Kenntnis des Bestehens von Gegenforderungen.15

11

Insb. bei Wartungs-, Pflege- und Supportverträgen aber auch bei der zeitlich befristeten Softwareüberlassung wird häufig vereinbart, dass die Pflegegebühr für die jeweilige Pflegeperiode bzw. die Lizenzgebühr für die jeweilige Lizenzdauer im Vorhinein zu entrichten sind. In diesen Fällen wird das Druckmittel eines Zurückbehaltungsrechts des Auftraggebers faktisch zunichte gemacht.16 2. AGB

12

Für einen Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts durch Vereinbarung ist eine Individualvereinbarung erforderlich, formularmäßige Ausschlussklauseln sind gem. §§ 309 Nr. 2 Buchst. b, 310 Abs. 3 in AGB und Verbraucherverträgen unwirksam.17 3. Natur des Schuldverhältnisses

13

Die Grenzen des Zurückbehaltungsrechts und somit ein Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts aus der Natur des Schuldverhältnisses ergeben sich aus dem begrenzten Zweck der Sicherung des Schuldners im Hinblick auf seine Gegenforderung, der besonderen Schutzwürdigkeit des Gläubigers und der mangelnden Schutzwürdigkeit des Schuldners.18 So besteht kein Zurückbehaltungsrecht an Urkunden, deren Erhalt für den Gläubiger von besonderer Bedeutung ist, wie etwa die Krankenunterlagen eines 11 12 13 14 15 16

Erman/Artz, § 273 BGB Rz. 15. OLG Düsseldorf v. 27.10.1977 – 13 U 76/77, NJW 1978, 703, 704. Redeker, CR 1995, 385, 386 f. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 283. Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 13; MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 44. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. P Rz. 287 f., die die Vorauszahlung des kompletten Jahresbetrages der Wartungspauschale als unwirksam ansehen, nicht hingegen quartalsweise Vorauszahlungen, da diese üblich sind. 17 Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 13; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Zurückbehaltungsklauseln“ Rz. 12. 18 Jauernig/Stadler, § 273 BGB Rz. 12.

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Zurückbehaltungsrecht

Rz. 17 § 273 BGB

Patienten.19 Ebenso ist das Zurückbehaltungsrecht bei Ansprüchen ausgeschlossen, die für den Gläubiger von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung sind, wie etwa Bauunterlagen im Besitz des Architekten, die für die Durchführung eines Bauvorhabens dringend erforderlich sind, wenn der Bauherr Abschlagsrechnungen nicht bezahlt hat.20 Nach diesen Grundsätzen kann ein Zurückbehaltungsrecht aufgrund der Natur des Schuldverhältnisses z.B. ausgeschlossen sein in Bezug auf Daten, die für den Auftraggeber von erheblicher Bedeutung sind, wie bei einem Outsourcing-Anbieter oder Cloud Provider gespeicherte Personaldaten, die für die Gehaltszahlung an Mitarbeiter oder die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen erforderlich sind, oder hinsichtlich für den Auftraggeber dringend erforderliche Zugangskennungen. Im Fall einer Auftragsverarbeitung ist der Auftraggeber die verantwortliche Stelle und benötigt die Daten unabhängig von der konkreten Situation, um seinen aus der DSGVO folgenden, umfangreichen Pflichten ggü. den Betroffenen nachzukommen, so dass hier ein Zurückbehaltungsrecht an Daten ausgeschlossen ist.21 Ein an sich bestehendes Zurückbehaltungsrecht kann auch nach Treu und Glauben (§ 242) ausgeschlossen sein. Dies ist etwa der Fall, wenn das Zurückbehaltungsrecht zur faktischen Vereitelung der Durchsetzung der Gegenforderung führt, eine anderweitige hinreichende Sicherung des Gläubigers besteht oder wenn wegen einer unverhältnismäßig geringen Forderung eine hochwertige Leistung zurückbehalten wird.22

14

Allerdings kann ein Zurückbehaltungsrecht auch dann gegeben sein, wenn der Wert der Forderung, derentwegen die Herausgabe verweigert wird, erheblich geringer ist als der Wert der herausverlangten Sache, denn das Recht auf Zurückbehaltung würde seinen vom Gesetzgeber verfolgten Zweck verlieren, auf den Schuldner Druck auszuüben, wenn es nur dann ausgeübt werden könnte, wenn das Wertverhältnis in etwa ausgeglichen ist, so dass stets eine Abwägung der konkreten Umstände des Einzelfalls erforderlich ist.23

15

IV. Einzelne IT-Vertragsarten 1. Überlassung von Hardware und Standardsoftware Ein Zurückbehaltungsrecht besteht gem. § 273 Abs. 1 nur, „sofern nicht aus dem Schuldverhältnis sich ein anderes ergibt“. Dies kann sich auch aus der Natur des Schuldverhältnisses ergeben, wenn beispielsweise Sachen zurückbehalten werden sollen, deren Verderbnis oder Entwertung zu besorgen ist.24 Dem steht nach Auffassung des LG München I gleich, dass ein PC bereits nach einer vergleichsweise geringfügigen Zeit von der Entwicklung überholt und damit weitgehend entwertet ist.25 Folgt man dieser Auffassung, kann an Hardware und Standardsoftware, die gleichermaßen in geringfügiger Zeit überholt wird, kein Zurückbehaltungsrecht geltend gemacht werden. Diese Entscheidung darf jedoch nicht verallgemeinert werden, denn dies würde bedeuten, dass dem Lieferanten von Hardware oder Standardsoftware allein aufgrund der Tatsache, dass seine Leistungen schnell technisch überholt sind, das Druckmittel des Zurückbehaltungsrechts aus der Hand genommen werden würde. Dies würde dem Gedanken des Zurückbehaltungsrechts widersprechen, wonach eine Partei nicht die ihr gebührende Leistung fordern soll, ohne die ihr obliegende Gegenleistung zu erbringen.

16

2. Softwareerstellung Wenn eine – dem Werkvertragsrecht unterfallende26 – Entwicklung und Erstellung von Individualsoftware geschuldet wird, kann der Auftraggeber ggü. der Werklohnforderung ein Zurückbehaltungs19 20 21 22 23 24 25 26

Erman/Artz, § 273 BGB Rz. 21. OLG Köln v. 11.7.1997 – 11 W 21/97, NJW-RR 1998, 1097. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Haarmeyer/Hartung, Teil 4 Rz. 187. Erman/Artz, § 273 BGB Rz. 26; Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 17; BGH v. 2.12.2011 – V ZR 30/11, NJW 2012, 528, 529. BGH v. 2.12.2011 – V ZR 30/11, NJW 2012, 528, 529. Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 15. LG München I v. 18.11.1988 – 21 O 11130/88, NJW 1989, 2625, 2626 = CR 1989, 990 m. Anm. Malzer. Vgl. zur Vertragstypologisierung z.B. Marly, Softwarerecht, Rz. 690.

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17

BGB § 273 Rz. 17 Zurückbehaltungsrecht recht wegen der Mangelhaftigkeit der Software zur Durchsetzung der Mängelbeseitigung geltend machen. Ein solches Zurückbehaltungsrecht ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Aufklärung der Mängel schwierig und zeitraubend ist.27 3. IT-Projektvertrag und Systemvertrag 18

Bei IT-Projektverträgen und Systemverträgen ist eine Konnexitität auch hinsichtlich unterschiedlicher Leistungsgegenstände zu bejahen, die allesamt aus demselben rechtlichen Verhältnis stammen, wie etwa die Überlassung von Standardsoftware, Implementierungsleistungen, Schulung und Softwarepflege. So kann der Auftragnehmer beispielsweise Pflege und Schulung zurückhalten, bis ihm fällige Lizenzgebühren und Implementierungsleistungen vergütet worden sind. 4. Outsourcing

19

Beim Outsourcing ist der Auftraggeber in aller Regel auf die Leistungen des Outsourcing-Anbieters angewiesen, so dass für ihn ein vertraglicher Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts erhebliche Bedeutung hat. Umgekehrt möchte der Outsourcing-Anbieter sein Druckmittel zur Zahlung der Vergütung ggü. dem Auftraggeber in Form des Zurückbehaltungsrechts nicht aufgeben. Allerdings kann ein so starkes Druckmittel auch leicht zur Durchsetzung zweifelhafter Forderungen eingesetzt werden.28 In derartigen Fällen ist häufig umstritten, inwieweit eine Vertragspartei zur Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts tatsächlich berechtigt ist.29 Aus diesem Grunde werden in Outsourcing-Verträgen häufig Regelungen des Zurückbehaltungsrechts individuell verhandelt und können beispielsweise vorsehen, dass der Outsourcing-Anbieter sein Zurückbehaltungsrecht erst ab einem bestimmten offenen Betrag geltend machen darf oder dass der Auftraggeber die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts durch Sicherheitsleistung abwenden darf, wobei die Sicherheitsleistung nicht der nach § 271 Abs. 3 Satz 1 entspricht, sondern vertraglich näher ausgestaltet wird (etwa Hinterlegung auf einem Treuhandkonto).30 Vertraglich lässt sich – in Anlehnung an ein AGB-rechtlich zulässiges Aufrechnungsverbot (§ 309 Nr. 3 BGB) – zudem regeln, dass eine Zurückbehaltung nur bei unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderungen zulässig ist.31

20

Beim Outsourcing besteht eine nachvertragliche Pflicht des bisherigen Outsourcing-Anbieters zur Migrationsunterstützung bei einem Second Generation Outsourcing.32 Hierbei darf er wegen einer ausstehenden Vergütung Daten dann nicht zurückhalten, wenn diese eine existenzielle Bedeutung für den Kunden haben und dieser ohne die Daten sein Geschäft über den neuen Outsourcing-Anbieter faktisch nicht mehr ausüben kann.33 5. ASP/SaaS/Cloud Computing

21

Bei Beendigung des Vertragsverhältnisses kommt hinsichtlich eines Zahlungsrückstandes ein Zurückbehaltungsrecht an dem Kunden gehörenden Datenbeständen und Software in Betracht.34 Einem Cloud-Anbieter ist es allerdings wohl häufig schon nach § 242 verwehrt, ein Zurückbehaltungsrecht geltend zu machen, denn die Datenverarbeitung ist oft ein lebenswichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Abläufe in einem Unternehmen und könnte existenzvernichtende Folgen haben, käme sie zum Erliegen.35 Wenn die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts wegen der besonderen Umstände den Gläubiger der Gefahr der Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz aussetzt, ist seine Ausübung

27 28 29 30 31 32 33 34 35

BGH v. 31.3.2005 – VII ZR 369/02, NJW-RR 2005, 969. Redeker, CR 1995, 385. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 5.4 Rz. 343. Vgl. Palandt/Ellenberger, Überbl. v. § 232 BGB Rz. 2. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 5.4 Rz. 343. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 279. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 284. Schneider/Kosmides, Handbuch EDV-Recht, Kap. W Rz. 365. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Haarmeyer/Hartung, Teil 4 Rz. 186.

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Zurückbehaltungsrecht

Rz. 24 § 273 BGB

nach Treu und Glauben unzulässig.36 Ebenso können bei ASP- oder Cloud-Verträgen wegen einer ausstehenden Vergütung Daten dann nicht zurückgehalten werden, wenn diese eine existenzielle Bedeutung für den Kunden haben und dieser ohne die Daten sein Geschäft faktisch nicht mehr ausüben kann.37 6. Wartungs-, Pflege- und Supportverträge Sofern der Auftragnehmer die zu wartenden IT-Systeme geliefert hat und das Entgelt für die Lieferung der Software bzw. Hardware noch nicht vollständig beglichen worden ist, kann er vom Grundsatz her Pflegeleistungen aus einem Wartungs-, Pflege- bzw. Supportvertrag zurückhalten.38 Allerdings kann ein Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts aus der Natur der Sache deswegen in Betracht kommen, weil die Pflege- bzw. Wartungsleistung relativ rasch wertlos wird, überhaupt nicht nachgeholt werden kann oder die Hardware bzw. Software über die Dauer der Zeit ohne Wartung oder Pflege unbrauchbar wird oder völlig veraltet.39 Ebenso können nicht erbrachte Unterstützungsleistungen in aktuellen Problemsituationen nachträglich kaum nachgeholt werden, so dass sich hier ebenfalls die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts aus der Natur der Sache verbieten kann.40 Allerdings wird man diese Fälle nach dem Gebot von Treu und Glauben unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit lösen müssen, wonach eine hochwertige Leistung zum Zwecke der Durchsetzung eines verhältnismäßig geringfügigen Gegenanspruchs nicht zurückgehalten werden darf.41 Erforderlich ist hierbei stets eine Abwägung der konkreten Umstände des Einzelfalls, wobei es gerade nicht erforderlich ist, dass das Wertverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung in etwa ausgeglichen ist, denn sonst würde das Zurückbehaltungsrecht seinen vom Gesetzgeber verfolgten Zweck verlieren, auf den Schuldner Druck auszuüben.42

22

Ein Zurückbehaltungsrecht erledigt nicht das Interesse des Auftraggebers, den Vergütungsanspruch bei mangelhafter Wartungsleistung zu mindern oder sogar gänzlich einzubehalten oder einen Schadensersatzanspruch geltend zu machen.43

23

V. Rechtsfolgen Das Zurückbehaltungsrecht ist ein Leistungsverweigerungsrecht und begründet eine aufschiebende Einrede.44 Es ist kein Befriedigungsrecht.45 Die Ausübung hat rechtsgestaltende Wirkung und schränkt den Anspruch dahin ein, dass der Schuldner nur noch zur Zug-um-Zug-Leistung verpflichtet ist (§ 274).46 Die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts schließt den Schuldnerverzug (§ 286) aus.47 Das Zurückbehaltungsrecht begründet ein Recht zum Besitz.48

36 MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 72; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Haarmeyer/Hartung, Teil 4 Rz. 186. 37 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 284. 38 Redeker, CR 1995, 385, 387. 39 Redeker, CR 1995, 385, 387. 40 Redeker, CR 1995, 385, 388; Redeker, IT-Recht, Rz. 673. 41 Erman/Artz, § 273 BGB Rz. 26. 42 BGH v. 2.12.2011 – V ZR 30/11, NJW 2012, 528, 529. 43 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. P Rz. 367. 44 Jauernig/Stadler, § 273 BGB Rz. 19. 45 Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 1; MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 3. 46 Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 20; MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 91. 47 Jauernig/Stadler, § 273 BGB Rz. 19. 48 BGH v. 17.3.1975 – VIII ZR 245/73, NJW 1975, 1121; BGH v. 20.12.2001 – IX ZR 401/99, NJW 2002, 1050, 1052.

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BGB § 273 Rz. 25 Zurückbehaltungsrecht

VI. Abwendung durch Sicherheitsleistung (§ 273 Abs. 3) 25

Nach § 273 Abs. 3 Satz 1 kann der Gläubiger die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts durch Sicherheitsleistung abwenden, wobei für die Art der Sicherheitsleistung §§ 232 ff. gelten, jedoch nach § 273 Abs. 3 Satz 2 die Sicherheitsleistung durch Bürgen ausgeschlossen ist.

VII. Kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht nach § 369 HGB 26

§ 369 HGB gewährt bei beiderseitigen Handelsgeschäften einem Kaufmann ein Zurückbehaltungsrecht an den beweglichen Sachen und Wertpapieren des Schuldners, welche sich in seinem Besitz befinden. Hieraus steht dem Gläubiger nach § 371 HGB ein Befriedigungsrecht zu. Zurückgehalten werden dürfen nur bewegliche Sachen und Wertpapiere, die im Eigentum des Schuldners stehen, nicht hingegen Rechte oder Forderungen.49 An nicht in einem Wertpapier verbrieften Rechten (z.B. Patentrechte, Urheberrechte) kann kein Zurückbehaltungsrecht nach § 369 HGB entstehen.50 Auch wird die Anwendung der Norm auf Daten abgelehnt, da Daten keine Sachen i.S.d. § 90 sind und § 369 HGB nicht extensiv ausgelegt wird.51

§ 274 Wirkungen des Zurückbehaltungsrechts (1) Gegenüber der Klage des Gläubigers hat die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts nur die Wirkung, dass der Schuldner zur Leistung gegen Empfang der ihm gebührenden Leistung (Erfüllung Zug um Zug) zu verurteilen ist. (2) Auf Grund einer solchen Verurteilung kann der Gläubiger seinen Anspruch ohne Bewirkung der ihm obliegenden Leistung im Wege der Zwangsvollstreckung verfolgen, wenn der Schuldner im Verzug der Annahme ist. Nicht kommentiert.

§ 275 Ausschluss der Leistungspflicht (1) Der Anspruch auf Leistung ist ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. (2) Der Schuldner kann die Leistung verweigern, soweit diese einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht. Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat. (3) Der Schuldner kann die Leistung ferner verweigern, wenn er die Leistung persönlich zu erbringen hat und sie ihm unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers nicht zugemutet werden kann. (4) Die Rechte des Gläubigers bestimmen sich nach den §§ 280, 283 bis 285, 311a und 326. Nicht kommentiert. 49 Baumbach/Hopt/Hopt, § 369 HGB Rz. 7 f. 50 MünchKomm/Welter, § 369 HGB Rz. 35. 51 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 284.

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Verantwortlichkeit des Schuldners

Rz. 2 § 276 BGB

§ 276 Verantwortlichkeit des Schuldners (1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos, zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung. (2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. (3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden. I. Allgemeines – Zurechnung, Verschuldensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . Verschulden . Vorsatz . . . . Fahrlässigkeit

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1

. 4 . 4 . 7 . 10

4. III. 1. 2. IV.

Grobe Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungserweiterungen . . . . . . . . . . . . . Haftungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . Einzelfälle der Fahrlässigkeit im IT-Bereich

. . . . .

20 22 22 28 35

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Emmerich/Sonnenschein, Miete, 11. Aufl. 2014; Grützmacher, Lizenzmetriken und Copyright – ein Widerspruch? Ausgestaltung, Wirksamkeit und Rechtsfolgen von Lizenzbeschränkungen, ITRB 2017, 141, 146; Hartung/Stiemerling, Effektive Service Level-Kriterien, CR 2011, 617; Hoeren, Skriptum IT-Vertragsrecht (Stand: Oktober 2016); Hoeren/Sieber/Holznagel, Multimedia-Recht, 48. EL Februar 2019; Horner/Kaulartz, Verschiebung des Sorgfaltsmaßstabs bei Herstellung und Nutzung autonomer Systeme, CR 2016, 7; Klett/Hilberg, Die neue DIN-Spezifikation für das Outsourcing – Inhalt und praktische Anwendung, CR 2010, 417, 420; Koch, Handbuch Software- und Datenbankrecht, 2003; Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016; Lensdorf, IT-Compliance – Maßnahmen zur Reduzierung von Haftungsrisiken von IT-Verantwortlichen, CR 2007, 413; Lensdorf/Züllich, Verwendung personenbezogener Daten in IT-Systemen zu Testzwecken für Weiter- und Neu-Entwicklung von Software, Zur datenschutzrechtlichen Zulässigkeit der Verwendung von personenbezogenen Daten im Rahmen von Softwaretests, CR 2015, 2; Redeker, IT-Recht, 6. Aufl. 2017; Schumacher, Service Level Agreements: Schwerpunkt bei IT- und Telekommunikationsverträgen, MMR 2006, 12; Röhrborn/Sinhart, Application Service Providing – juristische Einordnung und Vertragsgestaltung, CR 2001, 69; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Schuster, Haftung für Malware im Arbeitsverhältnis, DuD 2006, 424; Söbbing, Service Level Agreement, ITRB 2004, 257; Walker, Die eingeschränkte Haftung des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der Schuldrechtsmodernisierung, JuS 2002, 736; Weitnauer/Mueller-Stöfen, Beck’sches Formularbuch IT-Recht, 4. Aufl. 2017.

I. Allgemeines – Zurechnung, Verschuldensprinzip § 276 ist zusammen mit den §§ 277 und 278 die zentrale Zurechnungsnorm des Zivilrechts, neben dem Leistungsstörungsrecht insb. auch im Deliktsrecht.1 Z.T. – insb. im Hinblick auf die Definition von Fahrlässigkeit – gilt § 276 auch für das öffentliche Recht,2 nicht aber für das Strafrecht. Als Zurechnungsnorm ist § 276 keine Anspruchsgrundlage.3

1

§ 276 ist Ausdruck des sog. Verschuldensprinzips, wonach eine Schadensersatzpflicht des Schuldners nur bei einem vorwerfbaren Verhalten besteht, d.h. bei Vorsatz oder Fahrlässigkeit.4 Von diesem Prinzip gibt es aber zahlreiche Ausnahmen, vgl. z.B. §§ 278, 287 Satz 2, 536a, 675y sowie § 1 ProdHaftG.5 Auch bei Übernahme einer Garantie sowie für seine finanzielle Leistungsfähigkeit („Geld hat man zu haben“) haftet der Schuldner verschuldensunabhängig.6

2

1 2 3 4 5 6

Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 1; MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 2. BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 4; MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 6. MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 1; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 3; vgl. Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 3. BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 3; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 9.

Cording

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BGB § 276 Rz. 3 Verantwortlichkeit des Schuldners 3

Umgekehrt kennt das Gesetz aber auch Haftungsmilderungen ggü. dem Maßstab des § 276, vgl. z.B. § 277 sowie die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung.7

II. Norminhalt 1. Verschulden 4

Verschulden, wenngleich im BGB nicht ausdrücklich definiert, ist der Oberbegriff für Vorsatz und Fahrlässigkeit.8

5

Objektiv setzt Verschulden Pflichtwidrigkeit – so der Terminus im Leistungsstörungsrecht – bzw. Rechtswidrigkeit – so der Terminus im Deliktsrecht – voraus.9 Die Begriffe Pflichtwidrigkeit und Rechtswidrigkeit sind regelmäßig erfolgsbezogen,10 d.h. Pflichtwidrigkeit wird angenommen, wenn der objektive Tatbestand einer Leistungsstörung vorliegt. Wird lediglich ein bestimmtes Verhalten geschuldet, wie insb. bei Vorliegen eines Dienstvertrags, ist der Begriff Pflichtwidrigkeit dagegen verhaltensbezogen zu verstehen.11 Das Vorliegen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes lässt im Deliktsrecht die Rechtswidrigkeit und im Leistungsstörungsrecht die Pflichtwidrigkeit entfallen.

6

Subjektiv sind die Anforderungen an das Verschulden bei Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschiedlich. 2. Vorsatz

7

Vorsatz ist das Wissen und Wollen des pflichtwidrigen Erfolgs.12 Der Vorsatz muss sich nur auf die Verletzung des Vertrags bzw. auf die Verletzung des Rechtsguts erstrecken, nicht auf den eingetretenen Schaden. Ausnahme hiervon ist § 826 – dort muss sich der Vorsatz auch auf die Schadensfolgen erstrecken.13 Sog. bedingter Vorsatz ist ausreichend; dieser liegt vor, wenn der als möglich erkannte pflichtwidrige bzw. rechtswidrige Erfolg billigend in Kauf genommen wird.14 (Bewusste) Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Handelnde darauf vertraut, dass der Schaden nicht eintreten werde.15

8

Anders als im Strafrecht setzt Vorsatz nach h.M. im Zivilrecht das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit voraus,16 so dass ein Verbotsirrtum den Vorsatz ausschließt.17 Bei der Verletzung eines strafrechtlichen Schutzgesetzes i.S.v. § 823 Abs. 2 ist nach h.M. das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit dagegen nicht erforderlich, ebenso wenig bei § 826 das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit.18

9

Wer sich auf einen den Vorsatz ausschließenden Rechtsirrtum beruft, trägt hierfür die Beweislast.19 Im Ergebnis wird dies oft allerdings keine Rolle spielen, da in solchen Fällen meist eine Haftung wegen Fahrlässigkeit besteht. 3. Fahrlässigkeit

10

Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einfacher Fahrlässigkeit (häufig auch als leichte Fahrlässigkeit bezeichnet) und grober Fahrlässigkeit. Daneben gibt es noch die Verletzung der Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten (vgl. § 277).

7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 4; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 111, 133. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 5; HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 3. HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 3 f.; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 13. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 8; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 8. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 8; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 8. BGH v. 20.12.2011 – VI ZR 309/10, NJW-RR 2012, 404. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 10; HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 8. BGH v. 17.9.1985 – VI ZR 73/84, NJW 1986, 180, 182; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 18. BGH v. 15.12.1970 – VI ZR 97/96, NJW 1971, 459, 460; BGH v. 17.4.1997 – I ZR 131/95, NJW-RR 1998, 34. BGH v. 16.7.2002 – X ZR 250/00, NJW 2002, 3255, 3256. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 11; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 21. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 11, vgl. auch HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 8. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 11; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 22.

464

Cording

Verantwortlichkeit des Schuldners

Rz. 15 § 276 BGB

Weiter kann zwischen unbewusster – der Handelnde hat die Möglichkeit des Eintritts des pflichtwid- 11 rigen Erfolgs nicht erkannt, hätte diesen bei gehöriger Sorgfalt aber erkennen und verhindern können – und bewusster Fahrlässigkeit – der Handelnde hat mit dem Eintritt des pflichtwidrigen Erfolgs gerechnet, aber darauf vertraut, dieser werde nicht eintreten – unterschieden werden.20 Diese Unterscheidung ist aber regelmäßig ohne Bedeutung und wird auch in der Vertragsgestaltung nur selten als Maßstab herangezogen. Im Arbeitsrecht hat die Rspr. abweichende Kategorien entwickelt: Statt zwischen einfacher und gro- 12 ber Fahrlässigkeit wird hier zwischen leichter, mittlerer, grober und gröbster Fahrlässigkeit unterschieden.21 Es ist in der IT-Vertragspraxis unüblich, diese arbeitsrechtlichen Kategorien zu verwenden. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2), d.h. wer hätte wissen können und müssen, dass er eine Rechtsverletzung begeht.22 Voraussetzung der Fahrlässigkeit ist mithin die Vorhersehbarkeit der Gefahr und die Vermeidbarkeit des Eintritts des pflichtwidrigen Erfolgs.23 Anders als im Strafrecht gilt im Zivilrecht für die (einfache) Fahrlässigkeit kein individueller, sondern ein auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteter objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab, der auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes basiert.24 Er gilt auch für § 254 sowie § 823 Abs. 2, selbst dann wenn als Schutzgesetz eine strafrechtliche Norm anzuwenden ist.25 Durch vertragliche Regelungen kann der zwischen den Vertragsparteien geltende Sorgfaltsmaßstab verstärkt oder abgemildert werden.26

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Die erforderliche Sorgfalt ist das Maß an Umsicht, das nach dem Urteil besonnener und gewissenhaf- 14 ter Angehöriger des in Betracht kommenden Verkehrskreises zu beachten ist.27 Dies entspricht nicht notwendig der üblichen Sorgfalt, da eingerissene Verkehrsunsitten und allgemeine Nachlässigkeit nicht entschuldigend wirken.28 Wenn der Handelnde sich so verhalten hat, wie es ihm von kompetenten Fachleuten empfohlen wurde, handelt er nicht fahrlässig.29 Bei der Beurteilung kommt es jeweils auf den Erkenntnisstand zur Zeit der Verursachung des Schadens an.30 Den Warenhersteller trifft aber nach Inverkehrbringen eine Produktbeobachtungspflicht auf noch unbekannt gebliebene gefährliche Eigenschaften.31 Die Sorgfaltsanforderungen sind unterschiedlich je nach der mit der betreffenden Handlung verbundenen Gefahr und dem jeweiligen Verkehrskreis (Beruf, Alter, Bildung etc.) des Handelnden.32 So unterliegen z.B. Personen, die urheberrechtlich geschützte Werke im Internet zur Verfügung stellen – der BGH spricht aufgrund der Downloadmöglichkeiten im Internet von einer „hochgradige(n) Gefährdung der Verwertungsrechte“33 – oder die berufsmäßig mit der Verwertung von urheberrechtlich geschützten Werken befasst sind, im Bereich urheberrechtlicher Schadensersatzansprüche einem gestei-

20 HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 17; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 24 f.; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 13. 21 Walker, JuS 2002, 736; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 14; vgl. auch MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 87, 108. 22 OLG Karlsruhe v. 23.4.2008 – 6 U 180/06, CR 2009, 217, 219; vgl. auch zum Begriff der einfachen Fahrlässigkeit und zum objektiven Sorgfaltsmaßstab: BGH v. 21.5.1963 – VI ZR 254/62. 23 HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 10; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 23. 24 Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 29; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 29; HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 13; MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 54; vgl. auch BGH v. 21.5.1963 – VI ZR 254/62, NJW 1963, 1609, 1610; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 15. 25 Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 15; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 21. 26 MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 57; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 23; vgl. auch RG v. 14.1.1928 – I 119/27, RGZ 119, 397, 399. 27 HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 13; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 32 f.; BGH v. 8.7.1971 – III ZR 67/68, NJW 1971, 1881, 1882. 28 Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 29. 29 Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 16; BGH v. 8.7.1971 – III ZR 67/68, NJW 1971, 1881, 1882. 30 Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 276 BGB Rz. 27; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 16. 31 Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 16; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 27; BGH v. 17.3.1981 – VI ZR 286/78, LMRR 1981, 14. 32 HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 14 f.; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 17. 33 BGH v. 20.5.2009 – I ZR 239/06, CR 2009, 642, 643 = ITRB 2010, 6.

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BGB § 276 Rz. 15 Verantwortlichkeit des Schuldners gerten Sorgfaltsmaßstab.34 Unternehmen und ihre Organe haben besondere Sorgfaltspflichten im Hinblick auf die ausreichende Lizenzierung der von dem Unternehmen genutzten Software; dies gilt allerdings nur für die Vermeidung einer Verletzung von Immaterialgütern Dritter, nicht im Hinblick auf mögliche (bloße) Verstöße gegen vertragliche Beschränkungen.35 16

Umgekehrt müssen bei der Bestimmung von Sorgfaltspflichten auch objektive Schwierigkeiten berücksichtigt werden, so z.B. die Komplexität von Software und damit verbunden die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, fehlerfrei zu programmieren.36 Zu Einzelfällen der einfachen Fahrlässigkeit im IT-Bereich vgl. Ziffer VIII (Rz. 35 ff.).37

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Sorgfaltsanforderungen können sich insb. auch aus Rechtsnormen und anderen Regelwerken ergeben, im IT-Bereich insb. aus DIN-Normen und technischen Regeln.38 Für den IT-Bereich besonders relevant sind hier die IT-Grundschutzkataloge des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die IT Infrastructure Library (ITIL – auch ISO/IEC 20000)39 sowie diverse DIN-Normen, z.B. DIN-Norm 66272 für die zu leistende Qualität bei der Softwareentwicklung40 und DIN ISO/IEC 27001 zu den Anforderungen an Informationssicherheits-Managementsysteme.41 Auch die Prüfungsstandards des Institutes der Wirtschaftsprüfung (IDW) sind für den IT-Bereich z.T. relevant, z.B. die IDW PS 330 (Abschlussprüfung bei Einsatz von Informationstechnologie), IDW PS 331 (Abschlussprüfung bei teilweiser Auslagerung der Rechnungslegung auf Dienstleistungsunternehmen) oder IDW PS 880 (Die Prüfung von Softwareprodukten).42

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Neue Fragestellungen im Hinblick auf den Sorgfaltsmaßstab ergeben sich beim Einsatz autonomer Systeme. Auch hier geht es um die Sorgfalt derjenigen, die diese Systeme herstellen, in den Verkehr bringen oder einsetzen, nicht etwa um die Sorgfalt der Systeme selbst, die mangels Einsichts- und Urteilsfähigkeit kein Verschulden treffen kann.43 Aufgrund der mit solchen Systemen verbundenen besonderen Gefahren ist hier zunächst ein besonders strenger Sorgfaltsmaßstab anzuwenden, insb. auf Seiten der Hersteller. Für Nutzer autonomer Systeme beziehen sich die Sorgfaltsanforderungen insb. auf die Auswahl, Bedienung und Überwachung der Systeme.44 Da selbst bei höchster Sorgfalt in diesen Bereichen ein Fehlverhalten autonomer Systeme durch den Nutzer nicht ausgeschlossen werden kann, ist eine Verlagerung der Sorgfaltspflichten auf den Hersteller geboten.45 Hierfür spricht auch, dass der Hersteller – anders als der einzelne Nutzer, der regelmäßig nur über ein einziges System eines Typs verfügt – eine große Anzahl der von ihm hergestellten Systeme beobachten und daraus Schlussfolgerungen ziehen kann.

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Die Anforderungen an einen die Fahrlässigkeit ausschließenden Rechtsirrtum sind sehr hoch.46 Nicht nur muss der Handelnde die Rechtslage sorgfältig prüfen und soweit erforderlich, Rechtsrat einholen, er darf sich auch nicht ohne weiteres auf diesen Rechtsrat verlassen, wenn er mit einer abweichenden Beurteilung durch das zuständige Gericht rechnen muss.47 Zudem muss er sich unter den Voraussetzungen des § 278 das Verschulden eines Rechtsanwalts oder Gutachters, die eine unrichtige Auskunft erteilt haben, zurechnen lassen.48

34 Hoeren/Sieber/Holznagel/Paul, Teil 7.4, EL 45 Juli 2017, Rz. 174, 181; BGH v. 10.10.1991 – I ZR 147/89, GRUR 1993, 34, 36 = CR 1992, 162. 35 Grützmacher, ITRB 2017, 141, 146; OLG Karlsruhe v. 23.4.2008 – 6 U 180/06, CR 2009, 217. 36 Weitnauer/Mueller-Stöfen, B 1 Fn. 32. 37 Zu Einzelfällen der einfachen Fahrlässigkeit im Übrigen vgl. Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 61 ff. 38 Klett/Hilberg, CR 2010, 417, 420; Lensdorf, CR 2007, 413, 418. 39 Lensdorf/Züllich, CR 2015, 2; Klett/Hilberg, CR 2010, 417, Fn. 20. 40 Klett/Hilberg, CR 2010, 417, Fn. 27. 41 Klett/Hilberg, CR 2010, 417, Fn. 20. 42 Lensdorf, CR 2007, 413, 418. 43 Horner/Kaulartz, CR 2016, 7. 44 Horner/Kaulartz, CR 2016, 7, 8 f. 45 Horner/Kaulartz, CR 2016, 7, 9 ff. 46 HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 12; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 30; BGH v. 21.12.1995 – V ZB 4/94, NJW 1996, 1216, 1218. 47 MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 73 ff.; vgl. auch BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 30. 48 Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 30; BGH v. 3.12.2007 – II ZR 21/06, WM 2008, 391, 394.

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Verantwortlichkeit des Schuldners

Rz. 24 § 276 BGB

4. Grobe Fahrlässigkeit Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Handelnde die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, d.h. schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss.49 Anders als bei der einfachen Fahrlässigkeit ist der Maßstab hier nicht rein objektiv, sondern bezieht auch subjektive Elemente ein: den Handelnden muss auch in subjektiver Hinsicht ein schweres Verschulden treffen.50 Dies kann bei sonst gleichen Umständen bei einem Fachmann der Fall sein, während es bei einem Nichtfachmann nicht der Fall ist.

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Der groben Fahrlässigkeit in etwa entsprechen die Offensichtlichkeit i.S.d. § 10 Satz 1 Nr. 1, Alt. 2 21 TMG sowie das grobe Verschulden i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, der bei elektronisch gefertigten Steuererklärungen nicht anders auszulegen ist als bei schriftlich gefertigten Erklärungen.51 Allerdings werden von einigen Autoren die Offensichtlichkeit i.S.d. TMG stärker objektiv und das grobe Verschulden i.S.d. AO stärker subjektiv verstanden als die grobe Fahrlässigkeit des BGB.52 Zu Einzelfällen grober Fahrlässigkeit im IT-Bereich vgl. Ziffer VIII (Rz. 35 ff.).53

III. Abdingbarkeit 1. Haftungserweiterungen Neben den bereits erwähnten gesetzlichen Haftungserweiterungen (s. Rz. 2) sind Haftungsverschärfungen in Individualvereinbarungen bis zur Grenze des § 138 wirksam, etwa durch Übernahme einer schuldunabhängigen Haftung.54 Haftungserweiterungen durch AGB zulasten des Verbrauchers sind in Verbraucherverträgen unwirksam und auch ggü. einem Unternehmer nur ausnahmsweise zulässig.55

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Zu den Haftungserweiterungen gehören typischerweise auch Schadenspauschalierungen, die in Indi- 23 vidualvereinbarungen regelmäßig zulässig sind.56 In AGB sind Schadenspauschalierungen nur insoweit zulässig, wie die Pauschale den typischerweise zu erwartenden Schaden nicht übersteigt und dem anderen Teil ausdrücklich der Nachweis gestattet wird, ein Schaden sei nicht entstanden oder geringer als die Pauschale (vgl. § 309 Nr. 5)57. Von der Schadenspauschalierung zu unterscheiden ist die Vertragsstrafe, die nicht lediglich den Schadensbeweis ersparen soll, sondern den doppelten Zweck verfolgt, die Erfüllung der Hauptverbindlichkeit zu sichern und im Fall einer Leistungsstörung den Schadensbeweis entbehrlich zu machen.58 Die häufigste Form der Haftungserweiterung in IT-Verträgen sind die Vereinbarung verschuldensunabhängiger Service Level sowie die Übernahme einer Garantie. In Kauf- und Werkverträgen kann es sich bei einer Garantie entweder um eine selbständige oder eine unselbständige Garantie handeln (vgl. Kommentierung zu § 443 und § 639). Die Garantie lässt die gesetzlichen Rechte des Käufers/Bestellers unberührt und kann eine verschuldensunabhängige Schadenersatzpflicht begründen. Die Garantie kann ausdrücklich oder stillschweigend übernommen werden. In IT-Verträgen wird die stillschweigende Übernahme einer Garantie regelmäßig dadurch ausgeschlossen, dass als Voraussetzung für eine Garantie vereinbart wird, dass diese ausdrücklich unter Verwendung des Wortes „Garantie“ vereinbart wird. Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Garantie können vertraglich beschränkt 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 33; BGH v. 10.5.1994 – XI ZR 212/93, NJW 1994, 2093, 2094. Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 94; HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 19. Beermann/Gosch/von Wedelstädt, § 173 AO Rz. 85. Hoeren/Sieber/Holznagel/Höfinger, Multimedia-Recht, Teil 18.1, EL 18, Oktober 2007, Rz. 90; Beermann/ Gosch/von Wedelstädt, § 173 AO Rz. 86. Zu weiteren Einzelfällen der groben Fahrlässigkeit, die aber überwiegend den Straßenverkehr betreffen, vgl. Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 98 ff. sowie Palandt/Grüneberg, § 277 BGB Rz. 6. HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 22; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 37; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 25. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 25; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 127. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 26; HK-BGB/Schulze, § 276 Rz. 22. Ausführlich dazu MünchKomm/Grundmann, § 276 BGB Rz. 183 ff. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 26; zu den Voraussetzungen der Vertragsstrafe vgl. Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 11 f.

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BGB § 276 Rz. 24 Verantwortlichkeit des Schuldners werden, was der Gesetzgeber durch die Verwendung des Wortes „soweit“ (ggü. dem ursprünglich mit der Schuldrechtsreform verwendeten Wort „wenn“) in §§ 444 und 639 klargestellt hat. 25

Service Level Agreements (SLAs) sollen die Unsicherheit beseitigen, die sich aus dem Gesetzeswortlaut des § 243 ergibt, wonach der Schuldner eine Leistung von „mittlerer Art und Güte“ zu erbringen hat.59 SLAs dienen jedoch nicht nur der Festsetzung von Leistungsstandards, sie können auch das gesetzliche Leistungsstörungsrecht ausschließen und durch ein eigenes Sanktionsregime ersetzen.60 Die gesetzlichen Regelungen (neben dem allgemeinen Schuldrecht meist Werkvertrags-, Dienstvertrags- oder Mietrecht) erweisen sich oft als unzureichend, da zum einen i.d.R. kein passendes Leistungsstörungsrecht vorhanden ist und der Kunde zum anderen seinen Schaden darlegen und beweisen muss. Leistungsbeschreibungen in SLAs konkretisieren in den meisten Fällen das vertragliche Pflichtenprogramm und stellen dogmatisch daher insoweit zunächst keine Gewährleistungs- oder Haftungsmodifikationen dar. Sofern an die Nichteinhaltung des Leistungskatalogs verschuldensunabhängige Sanktionen geknüpft werden, können diese Klauseln als garantieähnliche Haftungserweiterungen (z.B. im Fall von Garantieklauseln, die eine Vertragsstrafe bei Nichteinhaltung vorsehen)61 anzusehen sein. Je nach Ausgestaltung können SLAs im Einzelfall aber auch als Gewährleistungskonkretisierung62 oder Haftungsbegrenzung interpretiert werden, letzteres insb. dann, wenn eine bestimmte Sanktion als abschließende Rechtsfolge einer Unterschreitung der vereinbarten Leistungsqualität vereinbart wird. Leistungsvorbehaltsklauseln, die die Leistung unter den Vorbehalt des technisch und organisatorisch Möglichen stellen, können u.U. einen AGB-rechtlich unzulässigen Haftungsausschluss darstellen.63

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Es ist zu unterscheiden zwischen Rechtsfolgen bzw. Sanktionen, die verschuldensunabhängig eintreten und solchen, die nur verschuldensabhängig gelten.64 Zudem können SLAs abhängig vom Vertragsgegenstand verschiedene Inhalte haben: (i) Verfügbarkeitsquoten, wie etwa „99,5 % Erreichbarkeit des Servers im Monatsmittel“ oder die maximale Zeit, in der das System zusammenhängend nicht verfügbar sein darf (maximum downtime), (ii) Reaktions- und Behebungszeiten für bestimmte Fehler, wobei Kategorien der Dringlichkeit gebildet werden und kritische Fehler z.B. innerhalb von 30 Minuten zu beheben sind, (iii) Festlegung der entscheidenden Service Levels (Key Service Levels), (iv) Sanktionen wie pauschalierte Minderungen, Vertragsstrafen, pauschalierte Schadensersatzzahlungen, Bonus-/Malus-Regelungen und ggf. Kündigungsmöglichkeiten, (v) Service Level ManagementRegelungen zur Überprüfung der Einhaltung der Service Levels wie etwa Monitoring, Tracking, Reporting, und Auditing. Sinnvoll kann es auch sein, eine Möglichkeit der Anpassung der SLA vorzusehen65 oder unpassende gesetzliche Regelungen wie etwa die §§ 340 f. ausdrücklich auszuschließen.66

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Ein weiterer Fall der Haftungserweiterung ist die Übernahme des Beschaffungsrisikos. So hat der Schuldner einer Gattungsschuld nicht ein bestimmtes, sondern irgendein Stück der Gattung zu liefern, so dass sich schon aus dem Inhalt seiner Leistungspflicht ergibt, dass seine Schuld fortbesteht, solange die geschuldete Sache beschafft werden kann.67 Eine Gattungsschuld ist beispielsweise bei Standardsoftware anzunehmen, mit der Folge, dass der Händler als Schuldner gem. § 276 Abs. 1 das Beschaffungsrisiko trägt.68 Die Übernahme des Beschaffungsrisikos beschränkt sich i.d.R. auf das Gelingen

59 Schumacher, MMR 2006, 12. 60 Vgl. Schumacher, MMR 2006, 12, 13. 61 So das LG Karlsruhe für Verfügbarkeitsklauseln von 99 %: LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 = ITRB 2007, 106. 62 Schuster, CR 2009, 205, 207. 63 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, § 13 Rz. 208. 64 Redeker, IT-Recht, Rz. 641b. 65 Redeker, IT-Recht, Rz. 641d. 66 Vgl. Schuster, CR 2009, 205, 208 f., der auch das Verhältnis einzelner Service Levels zu den unterschiedlichen Vertragstypen des BGB näher beleuchtet; vgl. zu SLAs im Übrigen Hartung/Stiemerling, Effektive Service Level-Kriterien, CR 2011, 617 ff.; Söbbing, Service Level Agreement, ITRB 2004, 257 ff.; Redeker, IT-Recht, Rz. 641a ff. sowie Schumacher, Service Level Agreements: Schwerpunkt bei IT- und Telekommunikationsverträgen, MMR 2006, 12 ff. 67 Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 30 f.; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 152. 68 Koch, § 2 Rz. 52, 54; Hoeren, Skriptum IT-Vertragsrecht, S. 134.

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Verantwortlichkeit des Schuldners

Rz. 34 § 276 BGB

und die Rechtzeitigkeit der Beschaffung, begründet aber im Zweifel keine verschuldensunabhängige Einstandspflicht für die Qualität des zu beschaffenden Gegenstands.69 2. Haftungsbeschränkungen Zu unterscheiden sind gesetzliche (wie z.B. die §§ 104 ff. im SGB VII im Zusammenhang mit der gesetzlichen Unfallversicherung) und vertragliche Haftungsbeschränkungen.

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Für den IT-Bereich relevant sind insb. die vertraglichen Haftungsbeschränkungen. Diese sind grund- 29 sätzlich zulässig, und zwar auch für Ansprüche aus unerlaubter Handlung.70 Nicht abgedungen werden kann die Haftung des Schuldners für Vorsatz (vgl. § 276 Abs. 3), außer bei der Haftung für das Verschulden von Erfüllungsgehilfen (vgl. § 278 Satz 2). Auch summenmäßige Haftungsbegrenzungen und Abkürzungen der Verjährungsfrist sind bei Vorsatz unwirksam.71 Eine haftungsbeschränkende Klausel sollte derart ausgestaltet werden, dass sie nicht nur Schadensersatz, sondern auch Aufwendungsersatz (§ 284) umfasst. Denn eine Haftungsbeschränkung bezogen auf Schadensersatz erfasst nicht unbedingt auch Aufwendungsersatz, was sich insb. aus der Alternativität von § 281 und § 284 ergeben soll.72 Verbote vertraglicher Haftungsbeschränkungen finden sich in zahlreichen Normen.73 Für Haftungs- 30 beschränkungen in AGB gelten die Schranken der §§ 307, 309 Nr. 7, für Individualvereinbarungen gilt die Schranke des § 138.74 Haftungsmilderungen sind im Zweifel eng und gegen denjenigen auszulegen, der die Haftung begren- 31 zen will.75 So erfasst der Haftungsausschluss für Sachmängel nicht Mängel, die nach Vertragsschluss entstehen und auch nicht Schadensersatzansprüche wegen falscher Beratung oder wegen Verletzung der Nacherfüllungspflicht.76 Vertragliche Haftungsbeschränkungen erfassen u.U. nicht deliktische Ansprüche,77 so dass sich in entsprechenden Klauseln eine ausdrückliche Regelung empfiehlt, dass vereinbarte Haftungsbeschränkungen auch für die deliktische Haftung gelten sollen. Auch ein stillschweigender Haftungsausschluss ist möglich, allerdings nur für einfache Fahrlässigkeit.78 Der Wille zum Haftungsausschluss kann sich dabei konkludent aus den Umständen ergeben oder aus einer ergänzenden Vertragsauslegung.79

32

Vertragliche Haftungsmilderungen erstrecken sich im Zweifel auch ohne eine entsprechende ausdrück- 33 liche Klarstellung auf die Arbeitnehmer des Schuldners, und zwar trotz der Unklarheitsregel (§ 307 Abs. 1 Satz 2) auch im Fall einer formularmäßigen Freizeichnung.80 Dennoch ist in IT-Verträgen zu empfehlen, die Erstreckung einer vertraglichen Haftungsmilderung auf die Arbeitnehmer des Schuldners ausdrücklich zu vereinbaren. Für Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers gegen seine Arbeitnehmer besteht eine richterrechtlich entwickelte Haftungsmilderung, die die gesamte betriebliche Tätigkeit erfasst und darauf beruht, dass das Betriebsrisiko vom Arbeitgeber zu tragen ist.81 Diese Haftungsbeschränkung gilt aber nicht für Ansprüche Dritter gegen Arbeitnehmer.82 Die arbeitsvertragliche Haftungsmilderung gilt auch nicht für

69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 32; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 149. Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 114, 117; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 57. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 35; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 46. Schuster, CR 2011, 215, 218 f. Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 46; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 35. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 35; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 54. Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 56; BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 47. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 36; BGH v. 29.10.1975 – VIII ZR 103/74, NJW 1976, 235. BGH v. 24.11.1976 – VIII ZR 137/75, NJW 1977, 379. OLG Hamm v. 29.11.2004 – 13 U 59/04, NJW-RR 2006, 104. BeckOK BGB/Lorenz, § 276 Rz. 49.; Jauernig/Stadler, § 276 BGB Rz. 55. Zu den zahlreichen Fallgruppen vgl. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 38 ff. 80 BGH v. 6.7.1995 – I ZR 123/93, BGHZ 130, 223; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 42. 81 Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 44.; vgl. dazu auch Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 133 ff. 82 BGH v. 19.9.1989 – VI ZR 349/88, BGHZ 108, 305 = CR 1990, 525.

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BGB § 276 Rz. 34 Verantwortlichkeit des Schuldners Auftragsverhältnisse, Schwarzarbeiter, Dienstverträge mit Organen juristischer Personen oder mit selbständig Tätigen.83

IV. Einzelfälle der Fahrlässigkeit im IT-Bereich 35

Im IT-Bereich kann sich fahrlässiges Verhalten u.a. aus der falschen Beurteilung der Rechtslage ergeben: wer etwa irrtümlich davon ausgeht, das von ihm verwendete Programm sei gemeinfrei, kann schuldhaft handeln. Dieses Verschulden dürfte nahezu immer gegeben sein, da heutzutage im Zweifel davon auszugehen ist, dass Softwareprogramme urheberrechtlich geschützt sind. Bestehen dennoch Zweifel, muss sich der Handelnde nach der Rechtslage erkundigen.84 Wer ein fremdes, urheberrechtlich geschütztes Computerprogramm zum Herunterladen ins Internet einstellt, handelt fahrlässig, wenn er nicht zuvor sorgfältig geprüft hat, ob der Berechtigte das Programm zur öffentlichen Zugänglichmachung freigegeben hat.85

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Der Umfang der Prüf- und Erkundungspflichten hängt insb. davon ab, wer der Verletzer ist; ein großes Softwarehaus muss grundsätzlich mehr prüfen als ein Jugendlicher, der Kopien für seinen PC fertigt.86 Fahrlässiges Handeln liegt z.B. vor bei der Verbreitung von Open Source Software, ohne – wie erforderlich – auf die GPL (GNU General Public License) hinzuweisen, den Lizenztext der GPL beizufügen und den Quellcode i.S.v. § 69c Nr. 4 UrhG öffentlich zugänglich zu machen; eine Schadensersatzpflicht wegen Urheberrechtsverletzung ist möglich,87 allerdings fehlt es nach Auffassung des OLG Hamm an einem Schaden, wenn die Programmversion kostenlos zur Verfügung gestellt wird.88

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Daneben kann sich im Rahmen der IT-Sicherheit fahrlässiges Verhalten daraus ergeben, dass keine Konfiguration mit den gängigen, von den Herstellern zur Verfügung gestellten Sicherheitspatches und Updates vorgenommen wird. Es ist allgemein vorhersehbar, dass ein Rechner mit veralteter Sicherheitssoftware ein Risiko darstellt und finanzielle Schäden durch unbefugte Verwendung von abgegriffenen Daten durch Dritte entstehen können.89

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Fahrlässigkeit ist auch dann anzunehmen, wenn die sich aus einem Computerwartungsvertrag ergebende Pflicht zur Sicherung des aktuellen Datenbestands missachtet wird.90

39

Den Mieter einer Software trifft grobe Fahrlässigkeit i.S.d. § 536b, wenn er Umstände übersieht oder Maßnahmen unterlässt, die jeder andere unternommen hätte, um Schaden von sich abzuwenden; eine grundsätzliche Untersuchungspflicht des Mieters ergibt sich daraus aber nicht.91 Wenn nach den gesamten Umständen der Verdacht eines Mangels besonders nahe liegt und aus diesem Grunde von dem Mieter ohne weiteres verlangt werden kann, die Sache zu überprüfen und bereits bei einer nur oberflächlichen Prüfung der Mangel zu erkennen gewesen wäre, kann grobe Fahrlässigkeit vorliegen.92

40

Regelbeispiele für grobe Fahrlässigkeit mit IT-Bezug finden sich z.B. in den Online-Banking-Bedingungen (vgl. dort Ziff. 10.2.1 Abs. 5), die sich auf § 675v Abs. 2 a.F. beziehen. Maßgeblich sind auch bei Vorliegen der Regelbeispiele immer die Umstände des Einzelfalls.93 Als grob fahrlässig wurde von der Rspr. u.a. die bewusste Mitteilung einer PIN oder TAN an Dritte, die Aufbewahrung von Karte und

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 45; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 135. Redeker, IT-Recht, Rz. 103. BGH v. 20.5.2009 – I ZR 239/06, BeckRS 2009, 21769 = CR 2009, 642 = ITRB 2010, 6. Redeker, IT-Recht, Rz. 103; vgl. dazu auch LG Frankfurt v. 13.1.2011 – 2-03 O 340/10, BeckRS 2012, 00681, zu Verschuldensmaßstäben in Tauschbörsen. LG Bochum v. 3.3.2016 – I-8 O 294/15, MMR 2016, 553, 554; LG Hamburg v. 14.6.2013 – 308 O 10/13, ZUMRD 2014, 44 ff. = CR 2013, 498 = ITRB 2013, 205; Redeker, IT-Recht, Rz. 103. OLG Hamm v. 13.6.2017 – 4 U 72/16, Rz. 165 ff., juris = CR 2017, 783 m. Anm. Eickemeier/Keppeler = ITRB 2017, 234. Schuster, Haftung für Malware im Arbeitsverhältnis, DuD 2006, 424, 427. OLG Köln v. 2.2.1996 – 19 U 223/95, NJW-RR 1997, 558 = CR 1996, 407; Staudinger/Caspers, § 276 BGB Rz. 67. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, § 13 Rz. 65. Emmerich/Sonnenschein, § 536b BGB Rz. 7 für Mietsachen allgemein. Langenbucher/Bliesener/Spindler/Herresthal, § 675v BGB Rz. 51 m.w.N.

470

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Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten

Rz. 2 § 277 BGB

Geheimzahl an einem Ort, das Unbeaufsichtigtlassen der Karte an einem öffentlich zugänglichen Ort94 sowie das Unterlassen von Maßnahmen nach Entdeckung eines Phishing-Angriffs.95 Grobe Fahrlässigkeit kommt auch in Betracht, wenn der Kunde beim Online-Banking nicht erkennt, dass er sich nicht auf der Internetseite der Bank befindet, obwohl dies an der Gestaltung der Seite oder der Adresszeile deutlich erkennbar ist. Bei fehlenden optischen Auffälligkeiten der Online-Banking-Maske wurde vom BGH das Vorliegen grober Fahrlässigkeit dagegen selbst in einem Fall abgelehnt, in dem es einen Warnhinweis und eine Aufforderung zur Eingabe von zehn TAN gab.96 Bei der Überlassung von Open-Source-Software – wegen der regelmäßig kostenfreien Überlassung ist hier der Haftungsmaßstab des § 521 zu beachten – kann grobe Fahrlässigkeit z.B. vorliegen, wenn die überlassene Software virenversucht ist.97 Bei unentgeltlicher Softwareüberlassung zu Testzwecken ist grobe Fahrlässigkeit möglich, wenn die Softwarenutzung und damit das Testen aufgrund von Serverwartungsarbeiten über längere Zeit nicht möglich ist.98

41

§ 277 Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten Wer nur für diejenige Sorgfalt einzustehen hat, welche er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt, ist von der Haftung wegen grober Fahrlässigkeit nicht befreit. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

1. Eigenübliche Sorgfalt . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung für IT-Verträge . . . . . . . . . . . .

2 3

Literatur: Es wird auf das Literaturverzeichnis der Kommentierung zu § 276 verwiesen.

I. Allgemeines Die Verletzung der Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten ist eine eigenständige Stufe der Fahrlässigkeit, die in zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen1 für anwendbar erklärt wird. Durch Parteiabrede kann die Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten aber auch zum vertraglichen Haftungsmaßstab werden.2

1

II. Norminhalt 1. Eigenübliche Sorgfalt Anders als für die einfache Fahrlässigkeit (§ 276) gilt für § 277 ein subjektiver Maßstab, der auf das übliche Verhalten des Handelnden abstellt.3 Dies gilt allerdings nur insoweit, als dies zu einer Haftungserleichterung führt – wer in eigenen Angelegenheiten sorgfältiger ist, als es § 276 verlangt, haftet nur nach § 276.4 Im Hinblick auf die Haftungserleichterung ist die Grenze die grobe Fahrlässigkeit.

94 95 96 97 98 1 2 3 4

Palandt/Sprau, § 675l BGB Rz. 9. Langenbucher/Bliesener/Spindler/Herresthal, § 675v BGB Rz. 50a m.w.N. Langenbucher/Bliesener/Spindler/Herresthal, § 675v BGB Rz. 51 m.w.N. Redeker, IT-Recht, Rz. 595a. Röhrborn/Sinhart, CR 2001, 69, 77, Fn. 81. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 277 BGB Rz. 2 und MünchKomm/Grundmann, § 277 BGB Rz. 1. HK-BGB/Schulze, § 277 Rz. 1; Staudinger/Caspers, § 277 BGB Rz. 5. Staudinger/Caspers, § 277 BGB Rz. 1; HK-BGB/Schulze, § 277 Rz. 3. HK-BGB/Schulze, § 277 Rz. 3; BeckOK BGB/Lorenz, § 277 Rz. 8.

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2

BGB § 277 Rz. 3 Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten 2. Bedeutung für IT-Verträge 3

Für IT-Verträge ist der Haftungsmaßstab des § 277 ungeeignet, da hier weder Raum für nachlässiges Verhalten noch – erst recht – für sich daraus ergebende Haftungserleichterungen ist. Erforderlich und auch üblich ist vielmehr ein rein objektiver Haftungsmaßstab, der dem Kunden ein Höchstmaß an Verlässlichkeit bietet.

§ 278 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte Der Schuldner hat ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Die Vorschrift des § 276 Abs. 3 findet keine Anwendung. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Vertreter . . . . . . . . . Erfüllungsgehilfe . . . . . . . . . . . Erfüllung einer Verbindlichkeit des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . 4. Verschulden . . . . . . . . . . . . . .

1

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 3 4

. . . . . . . . . . . .

5 24

5. 6. III. 1. 2. 3.

Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abdingbarkeit von § 278 Satz 1 . . . . . . . . Haftungsausschluss für Vorsatz (§ 278 Satz 2) Haftungsausschluss für Ansprüche gegen den Erfüllungsgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . .

25 26 27 27 28 29

Literatur: Horner/Kaulartz, Verschiebung des Sorgfaltsmaßstabs bei Herstellung und Nutzung autonomere Systeme, CR 2016, 7; Polenz, Neues zum Subunternehmervertrag im IT-Recht, CR 2008, 285; Wicker, Haftet der CloudAnbieter für Schäden beim Cloud-Nutzer? Relevante Haftungsfragen in der Cloud, MMR 2014, 715, 716; Wolf, Schuldnerhaftung bei Automatenversagen, JuS 1989, 899.

I. Allgemeines 1

Anders als § 831 stellt § 278 nicht auf das Verschulden des Schuldners, sondern auf das Verschulden der Hilfsperson ab und begründet damit eine Art von Erfolgshaftung.1 § 278 ist keine Anspruchsgrundlage, sondern eine Zurechnungsnorm.2

2

§ 278 gilt nur innerhalb bestehender (vertraglicher oder gesetzlicher) Schuldverhältnisse, worunter auch die Haftung aus c.i.c., eine ständige Geschäftsverbindung oder die Nachwirkungen eines Vertrages gehören.3 Für unerlaubte Handlungen von Hilfspersonen wird dagegen nur nach § 831 mit der Möglichkeit des Entlastungsbeweises gehaftet, es sei denn, die unerlaubte Handlung stellt zugleich einen Verstoß gegen eine schuldrechtliche Verpflichtung aus einem Schuldverhältnis dar.4

II. Norminhalt 1. Gesetzliche Vertreter 3

Der Begriff ist im weiten Sinn des Handelns mit Wirkung für andere zu verstehen und umfasst u.a. den Inhaber der elterlichen Sorge, den Vormund, den Betreuer, den Testamentsvollstrecker, den Insolvenzverwalter und den Treuhänder.5 Nicht darunter fallen Organe juristischer Personen, deren

1 2 3 4 5

Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 1; HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 1. HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 1; Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 2; MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 15 f. Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 2. HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 4; Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 17.

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Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte

Rz. 7 § 278 BGB

Verschulden gem. §§ 31, 89 als eigenes Verschulden der juristischen Person gilt. Für die OHG, die KG und die GbR gilt das Gleiche wie für juristische Personen.6 2. Erfüllungsgehilfe Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles mit dem Willen des Schuld- 4 ners bei der Erfüllung einer dieser obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird.7 Der Erfüllungsgehilfe kann, muss aber nicht einem Weisungsrecht des Schuldners unterliegen.8 Hilfspersonen des Erfüllungsgehilfen sind auch Erfüllungsgehilfen des Schuldners, sofern dieser mit ihrer Heranziehung einverstanden war.9 War der Schuldner nicht einverstanden, so haftet er i.d.R. dennoch, weil die Eigenmächtigkeit der ersten Hilfsperson als Verschulden ggü. dem Gläubiger anzusehen ist.10 Demgemäß gilt § 278 sowohl für genehmigte als auch für ungenehmigte Subunternehmer. 3. Erfüllung einer Verbindlichkeit des Schuldners Die vom gesetzlichen Vertreter bzw. Erfüllungsgehilfen (nachfolgend „Erfüllungsgehilfe“) verrichtete Tätigkeit oder deren Unterlassen muss im Bereich des vom Schuldner geschuldeten Gesamtverhaltens liegen.11 Dies beinhaltet neben Leistungspflichten auch Verhaltens- und Rücksichtnahmepflichten. Wenn mit der Erfüllung oder deren Vorbereitung bereits vor Entstehung der Verpflichtung begonnen wird, ist § 278 aber auch anwendbar.12 Nicht Erfüllungsgehilfen des Schuldners sind dagegen Dritte, die freiwillig (GoA) oder im Auftrag des Gläubigers die Aufgaben des Schuldners wahrnehmen, z.B. bei einem Deckungsgeschäft des Gläubigers während des Schuldnerverzugs.13

5

Das vom Schuldner geschuldete Gesamtverhalten hängt maßgeblich vom jeweiligen Vertragstypus 6 ab. Beim Kaufvertrag ist der Hersteller der Sache nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers, da sich die Pflichten des Verkäufers nicht auf die Herstellung der Sache erstrecken.14 Dies soll auch für den Werklieferungsvertrag gelten,15 was allerdings nicht überzeugt, da dort die Herstellung der Sache gerade zu den Pflichten des Schuldners gehört.16 Ebenso wenig ist umgekehrt nachvollziehbar, weshalb § 278 sich beim Kaufvertrag auf die Herstellung der Sache beziehen soll, wenn der Verkäufer diese selbst herstellt oder den Eindruck erweckt, er würde dies tun.17 Für die sich aus einem Kaufvertrag ergebenden Pflichten spielt es keine Rolle, ob der Verkäufer, ein Dritter oder ein mit dem Verkäufer verbundenes Unternehmen die Sache herstellt. Auch ein Zwischenhändler ist nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers. Besonderheiten für IT-Verträge, etwa beim Kauf von Hard- oder Software, sind im Hinblick auf die vorstehenden Grundsätze nicht ersichtlich. Interessant ist insoweit aber möglicherweise eine EuGHEntscheidung aus dem Baurecht, wonach diejenigen Kosten als Nacherfüllungskosten verschuldensunabhängig zu liquidieren sind, die sich aus dem Ein- und Ausbau von mangelhafter Ware, insb. bei der Installation von Geräten, ergeben.18 Eine Übertragung dieser Rspr. auf IT-Systeme, die häufig aus einer Vielzahl von Komponenten unterschiedlicher Hersteller bestehen, oder auf LAN-Verbindungen, die oft ebenfalls in Gebäude „eingebaut“ werden, erscheint naheliegend.

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 125; vgl. auch Palandt/Grüneberg, § 278 BGB § 31 Rz. 6. BGH v. 21.4.1954 – VI ZR 55/53, NJW 1954, 1193. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 26; BeckOK BGB/Lorenz, § 278 Rz. 11. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 44; Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 7. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 44; Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 12; BGH v. 3.6.1993 – III ZR 104/92, NJW 1993, 3061. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 23.; Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 35. Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 8. HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 10; Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 37; Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 13 m.w.N.; a.A. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 31. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 13; vgl. BGH v. 2.4.2014 – VIII ZR 46/13, NJW 2014, 2183. Vgl. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 37; dazu auch MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 34. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 13; vgl. auch Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 37 f. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 31 mit Verweis auf EuGH v. 16.6.2011 – C-87/09, 65/09, EuZW 2011, 631.

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7

BGB § 278 Rz. 8 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte 8

Benutzt der Verkäufer für die ihm obliegende Unterweisungspflicht des Käufers eine Bedienungsanleitung des Herstellers, ist der Hersteller insoweit Erfüllungsgehilfe des Verkäufers, nicht aber, wenn der Verkäufer die Bedienungsanleitung des Herstellers ohne eigene Unterweisungspflicht lediglich mitliefert.19 Im Hinblick auf Installations- und Nutzeranleitungen für Software scheidet eine Haftung des Verkäufers gem. § 278 für Fehler des Herstellers regelmäßig aus, insb. wenn der Hersteller diese Anleitungen im Wege der Online-Hilfe selbst bereitstellt.

9

Im Hinblick auf die Lieferpflicht ist der Hersteller Erfüllungsgehilfe des Verkäufers, wenn der Hersteller die Sache in Erfüllung der entsprechenden Verpflichtung des Verkäufers direkt an den Käufer liefert.20

10

Beim Versendungskauf sind die Beförderungspersonen wegen § 447 keine Erfüllungsgehilfen des Verkäufers, der Käufer hat aber aus § 421 HGB einen eigenen Anspruch gegen den Frachtführer.21 Übernimmt der Verkäufer die Auslieferung mit eigenen Leuten, sind diese dagegen Erfüllungsgehilfen des Verkäufers, zumal ein Anspruch aus § 421 HGB in diesem Fall nicht besteht.22

11

Beim Werkvertrag ist der in die Produktion eingeschaltete Subunternehmer auch dann Erfüllungsgehilfe des Werkunternehmers, wenn es sich um ein mit dem Werkunternehmer verbundenes Unternehmen handelt. Der bloße Zulieferer ist dagegen nicht Erfüllungsgehilfe des Werkunternehmers, es sei denn, der Werkunternehmer schuldet nicht nur die Beschaffung, sondern auch die Herstellung des betreffenden Teils.23 Wenn der Zulieferer des Werkunternehmers mit dem Besteller in unmittelbare Verbindung tritt, ist er hinsichtlich der Lieferung als Erfüllungsgehilfe des Werkunternehmers anzusehen.24 Auch wenn es um die Rechtzeitigkeit der Leistung geht, soll der Zulieferer als Erfüllungsgehilfe des Werkunternehmers anzusehen sein.25

12

Die Unterscheidung zwischen einem in die Produktion eingeschalteten Subunternehmer und einem Zulieferer ist in IT-Projekten nicht immer einfach zu treffen. Sofern ausschließlich individuelle Programmierleistungen geschuldet werden, ist bei der Einschaltung Dritter durch den Werkunternehmer immer von Erfüllungsgehilfen auszugehen. Sofern der Werkunternehmer im Rahmen eines IT-Projekts auch mit der Beschaffung erforderlicher Hardware beauftragt wird, sind Hersteller und Lieferanten der Hardware dagegen als Zulieferer anzusehen. Wie aber verhält es sich bei einer ERP-Einführung, wenn der Werkunternehmer auch mit der Beschaffung der Standard-ERP-Software beauftragt wird, die er anschließend im Wege des Customizing an die Bedürfnisse des Kunden anpasst? Auch wenn am Ende ein funktionsfähiges und den Bedürfnissen des Kunden entsprechendes ERP-System geschuldet ist, gibt es keinen Grund, die Beschaffung von Standardsoftware grundsätzlich anders zu behandeln als die Beschaffung von Hardware. Fehler der Standard-ERP-Software sind dem Werkunternehmer daher ebenso wenig über § 278 zuzurechnen wie Fehler der von ihm beschafften Hardware, während er für Fehler der von ihm eingeschalteten Dritten beim Customizing der ERP-Software gem. § 278 einzustehen hat. Entsprechendes dürfte für die Pflege von Software gelten – die bloße Beschaffung der Standardpflegeleistungen des Herstellers der ERP-Software durch den Werkunternehmer ist als Zulieferung anzusehen, die vom Werkunternehmer durch eigene Mitarbeiter oder Subunternehmen durchgeführte Pflege individueller Softwarekomponenten dagegen als Leistungserbringung mittels Erfüllungsgehilfen.

13

Beauftragt der Schuldner einen technischen Sachverständigen, um seine Leistungspflicht beurteilen zu können, so ist der Sachverständige Erfüllungsgehilfe des Schuldners, wenn dieser aufgrund eines falschen Gutachtens des Sachverständigen die Leistung nicht rechtzeitig erbringt.26

14

Demgegenüber wird über § 278 regelmäßig keine Organisationspflichtverletzung des Subunternehmers zugerechnet, da die Organisationspflicht keine vertragliche Verbindlichkeit ggü. dem Bestel19 20 21 22 23 24

Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 19; Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 16. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 99; HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 10. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 15. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 31; HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 10. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 38, 99; Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 14. Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 18; jurisPK BGB/Seichter, § 278 Rz. 17; Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 99 m.w.N. 25 Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 14; das dort genannte BGH-Urteil stützt diese Auffassung aber nicht. 26 OLG Karlsruhe v. 22.9.2004 – 14 U 173/03, NJW 2005, 515, 516.

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Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte

Rz. 18 § 278 BGB

ler, sondern eine Obliegenheit des Unternehmers sei, zu deren Erfüllung er sich regelmäßig nicht des Subunternehmens bedient.27 Die ordnungsgemäße Organisation des Herstellungsprozesses beim Nachunternehmer sei regelmäßig allein dessen Angelegenheit und werde nicht im Fremdinteresse durchgeführt.28 Ergreift also der Subunternehmer bei der Erstellung von Individualsoftware nicht die gebotenen organisatorischen Maßnahmen und erfüllt das erstellte Werk daraufhin nicht die vereinbarten Anforderungen, so kann dies dem Generalunternehmer nicht nach § 278 zugerechnet werden.29 Aus ähnlichen Erwägungen ist der Hauptunternehmer nicht Erfüllungsgehilfe des Bauherrn ggü. anderen Bauunternehmen;30 u.U. besteht aber gem. § 642 eine Ausgleichspflicht.31 Beim Dienstvertrag haftet derjenige, der eine Hilfsperson einsetzt, ebenfalls nach § 278 für deren Verschulden. Schuldet er hingegen lediglich die Vermittlung einer Person, welche eine bestimmte Dienstleistung erbringen soll (sog. Dienstvermittlungsvertrag), schuldet er nicht die Dienstleistung selbst.32 Er haftet dann nicht für ein Verschulden der vermittelten Person, wohl aber für eigenes Verschulden bei deren Auswahl. So ist etwa eine Fluggesellschaft als sog. Leistungsträger Erfüllungsgehilfe des Reiseveranstalters,33 nicht aber des die Reise lediglich vermittelnden Reisebüros.

15

Diese Unterscheidung gilt auch im IT-Bereich. Stellt ein IT-Unternehmen im Wege der Arbeitnehmerüberlassung IT-Experten zur Verfügung, die unter Anleitung des Auftraggebers tätig werden, haftet das IT-Unternehmen für die Fehler dieser IT-Experten nicht nach § 278, sondern lediglich für ein etwaiges eigenes Verschulden bei deren Auswahl. Schuldet das IT-Unternehmen hingegen nicht lediglich die Zurverfügungstellung der IT-Experten, sondern eine konkrete Dienstleistung, die es mit Hilfe der ITExperten erbringt, findet § 278 – selbstverständlich – Anwendung.

16

Beim Mietvertrag hat der Vermieter gem. § 278 für von ihm beauftragte Reparaturunternehmen34 einzustehen und für andere Personen, die in seinem Auftrag Arbeiten ausführen,35 nicht dagegen für einen Mieter im Verhältnis zu einem anderen Mieter.36 Für Verträge über SaaS und ASP-Leistungen sowie Cloud Computing, die als Mietverträge qualifiziert werden37 (außer im Fall der unentgeltlichen Leistungserbringung, die bei Gratis-Email Diensten vorkommt – dann wird schwerpunktmäßig ein Leihvertrag angenommen)38, bedeutet dies, dass der Provider über § 278 für das Verschulden aller Personen einzustehen hat, denen er sich für die Erfüllung seiner Leistungspflichten bedient, nicht aber für das Verschulden seiner anderen Kunden.

17

Der Mieter haftet gem. § 278 für diejenigen, die auf seine Veranlassung hin mit der Mietsache in Berührung kommen,39 z.B. Untermieter (§ 540 Abs. 2), Dritte, denen er den Besitz der Sache überlassen hat,40 Angestellte,41 Gäste, Kunden und Lieferanten,42 nicht aber für Dritte, die ohne sein Zutun mit der Mietsache in Berührung kommen.43 Vor dem Hintergrund der vom Gesetz vorausgesetzten Obhutspflicht des Mieters im Hinblick auf die Mietsache)44 dürfte diese überwiegend Immobilienmietverträge betreffende Rspr. auch auf Mietverhältnisse im IT-Bereich übertragbar sein, es sei denn, es

18

27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

BGH v. 11.10.2007 – VII ZR 99/06, NJW 2008, 145, 146. BGH v. 11.10.2007 – VII ZR 99/06, NJW 2008, 145, 146. Polenz, Neues zum Subunternehmervertrag im IT-Recht, CR 2008, 685, 688. BGH v. 27.6.1985 – VII ZR 23/84, BGHZ 95, 131. BGH v. 21.10.1999 – VII ZR 185/98, NJW 2000, 1336. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 16; MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 33. BGH v. 11.1.2005 – X ZR 163/02, NJW 2005, 1420. BGH v. 12.12.2012 – XII ZR 6/12, NJW-RR 2013, 333. Für Arbeiter: BGH v. 5.3.1998 – III ZR 183-96, LM Nr. 39. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 103; BeckOK BGB/Lorenz, § 278 Rz. 29. Wicker, MMR 2014, 715, 716. Wicker, MMR 2014, 715, 716. BGH v. 21.5.2010 – V ZR 244/09, NJW 2010, 2341. OLG Hamm v. 26.6.1987 – 30 U 96/86, NJW-RR 1987, 1142. RG v. 20.2.1914 – III 528/13, RGZ 84, 224. RG v. 2.1.1923 – III 151/22, RGZ 106, 134. BGH v. 15.5.1991 – VIII ZR 38/90, NJW 1991, 1750, 1752; vgl. auch Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 102. 44 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 536c BGB Rz. 1; Erman/Lützenkirchen, § 536c BGB Rz. 1.

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BGB § 278 Rz. 18 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte fehlt (wie z.B. bei Cloud Services) an einem physischen Mietobjekt oder die Obhutspflicht ist vertraglich ausgeschlossen oder aus anderen Gründen auf das konkrete Mietverhältnis nicht anwendbar. 19

Bei Offenbarungspflichten, z.B. im Hinblick auf das arglistige Verschweigen eines Mangels gem. § 634a, hängt die Anwendung des § 278 auf Hilfspersonen davon ab, welche Aufgaben diesen zugewiesen sind.45 Fehlen ausreichende Kontrollen, so muss sich der Schuldner so behandeln lassen, als hätte er die zu offenbarenden Tatsachen selbst gekannt.46

20

Der bekannte Grundsatz, dass die schuldhafte Handlung in einem sachlichen Zusammenhang mit den Aufgaben stehen muss, die der Schuldner dem Erfüllungsgehilfen hinsichtlich der Vertragserfüllung zugewiesen hat47 und der Schuldner nicht für schuldhafte Handlungen des Erfüllungsgehilfen haftet, die dieser nur bei Gelegenheit der Vertragserfüllung begeht, gilt nur noch in engen Grenzen.48 So wird der Zusammenhang mit der Vertragserfüllung nicht dadurch unterbrochen, dass der Erfüllungsgehilfe von den Weisungen des Schuldners abweicht49 oder in die eigenen Taschen wirtschaften will.50 Auch strafbare und andere vorsätzliche Handlungen schließen die Anwendbarkeit des § 278 nicht zwingend aus.51 Lediglich dann, wenn überhaupt kein Zusammenhang mit dem Aufgabenkreis besteht, der dem Erfüllungsgehilfen vom Schuldner zugewiesen wurde, findet § 278 keine Anwendung.52 Noch weitergehender wird gefordert, § 278 auch dann anzuwenden, wenn dem Erfüllungsgehilfen die Schädigung durch die übertragene Aufgabe erleichtert worden ist.53

21

§ 278 ist auch auf Unterlassungspflichten anwendbar, auf Obliegenheiten dagegen nur teilweise.54 Für den in IT-Verträgen wichtigen § 254 regelt § 254 Abs. 2 Satz 2 die Anwendbarkeit von § 278 ausdrücklich, für den Annahmeverzug und § 326 Abs. 2 soll dies gleichfalls gelten, da die Rechtsstellung des Gläubigers zugleich eine Pflichtenstellung sei.55 Im Übrigen gilt § 278 für Obliegenheiten nicht.56

22

Auf höchstpersönliche Schuldnerpflichten ist § 278 nicht anwendbar; hier begründet bereits die Übertragung der Aufgabe an eine Hilfsperson ein eigenes Verschulden des Schuldners.57

23

Im IT-Bereich stellt sich die Frage, ob § 278 beim Versagen von Maschinen, insb. elektronischen Geräten der Datenverarbeitung, analog angewendet werden kann.58 Eine Regelungslücke könnte im Lichte des technischen Fortschritts durchaus angenommen werden.59 Eine analoge Anwendung würde dazu führen, dass dem Schuldner das Maschinenversagen zuzurechnen ist und ihm die Kosten auferlegt werden; er hätte daher den Anreiz, Nutzen und Kosten einer erhöhten Maschinensicherheit hinreichend abzuwägen.60 Die h.M. lehnt eine analoge Anwendung jedoch ab.61 Insb. reiche die Beweislastumkehr des § 280 Abs. 1 Satz 2 und die sich aus § 276 ergebende Pflicht, Maschinen sorgfältig auszuwählen und instand zu halten, aus.62 Bei Maschinen – unter der Voraussetzung einer bestmöglichen und sorg-

45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 19; vgl. auch MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 22. BGH v. 12.3.1992 – VII ZR 5/91, BGHZ 117, 318, 320; Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 22. BGH v. 26.4.1991 – V ZR 165/89, BGHZ 114, 270. Vgl. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 47; a.A. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 54. BGH v. 14.2.1989 – VI ZR 121/88, NJW-RR 1989, 723, 725. BGH v. 12.7.1977 – VI ZR 159/75, NJW 1977, 2259. BGH v. 15.3.2012 – III ZR 148/11, WM 2012, 837; MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 47; BeckOK BGB/Lorenz, § 278 Rz. 44; zu Beispielsfällen vgl. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 20 f. und Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 56 f. BGH v. 30.9.2003 – XI ZR 232/02, NJW-RR 2004, 45. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 22 a.E. m.w.N.; vgl. auch HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 11. Vgl. Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 14, 22, 47; HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 9. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 24; HK-BGB/Schulze, § 278 Rz. 9. Ermann/Westermann, § 278 BGB Rz. 14, 22, 47; kritisch: MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 24. Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 26; BeckOK BGB/Lorenz, § 278 Rz. 19. So z.B. Wolf, Schuldnerhaftung bei Automatenversagen, JuS 1989, 899. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 46; a.A. Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 5. Vgl. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 46. Vgl. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 46 m.w.N.; für autonome Systeme vgl. Horner/Kaulartz, CR 2016, 7. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 46 m.w.N.

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Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte

Rz. 28 § 278 BGB

fältigen Auswahl derselben – fehlt zudem das Zurechnungsmoment, das bei der Hinzuziehung von Gehilfen darin liegt, dass diese schuldhaft handeln müssen.63 4. Verschulden Der Tatbestand des § 278 verlangt Verschulden des Erfüllungsgehilfen, also Vorsatz oder Fahrlässig- 24 keit. Für die Zurechnungsfähigkeit (§ 827) kommt es auf die Person des Erfüllungsgehilfen an.64 Gesetzliche und vertragliche Haftungsmilderungen gelten auch für den Erfüllungsgehilfen.65 Der nach § 276 anzulegende Sorgfaltsmaßstab richtet sich dagegen grundsätzlich nach der Person des Schuldners, nicht nach der des Erfüllungsgehilfen.66 Nimmt der Erfüllungsgehilfe als Fachmann besonderes Vertrauen in Anspruch, ist aber auf den für ihn geltenden höheren Sorgfaltsmaßstab abzustellen.67 5. Rechtsfolgen Aufgrund der durch § 278 bewirkten Zurechnung haftet der Schuldner nach §§ 280 ff. für den Erfüllungsgehilfen. Der Erfüllungsgehilfe selbst haftet mangels vertraglicher Beziehung zu dem Gläubiger nicht aus Vertrag, u.U. aber aus Delikt. Eine vertragliche Haftung des Erfüllungsgehilfen besteht ausnahmsweise analog den für c.i.c. geltenden Grundsätzen, wenn die Pflichtverletzung in der Verletzung einer Nebenpflicht besteht und der Erfüllungsgehilfe bei Anbahnung und Abwicklung des Vertrags in besonderem Maße für sich Vertrauen in Anspruch genommen hat.68

25

6. Beweislast § 280 Abs. 1 Satz 2 gilt auch für § 278. Steht fest, dass ein Erfüllungsgehilfe des Schuldners einen Schaden verursacht hat, muss der Schuldner beweisen, dass den Erfüllungsgehilfen kein Verschulden trifft.69

26

III. Abdingbarkeit 1. Abdingbarkeit von § 278 Satz 1 Wie sich im Umkehrschluss aus § 278 Satz 2 ergibt, ist § 278 Satz 1 bei (einfacher und grober) Fahrlässigkeit umfassend abdingbar.70 In AGB sind jedoch auch hier die Grenzen des § 307 Abs. 2 Nr. 2 (kein Haftungsausschluss bei Kardinalpflichten)71 und des § 309 Nr. 7 zu beachten.

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2. Haftungsausschluss für Vorsatz (§ 278 Satz 2) § 278 Satz 2 ermöglicht einen Haftungsausschluss für vorsätzliches Verhalten von Erfüllungsgehilfen und gesetzlichen Vertretern (nicht dagegen für Organe juristischer Personen).72 Für AGB ist jedoch § 309 Nr. 7 lit. b zu beachten.73

63 Vgl. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 46 m.w.N. 64 OLG Düsseldorf v. 7.4.1995 – 3 Wx 472/94, NJW-RR 1995, 1165, 1166; Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 68; Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 27; a.A. MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 50. 65 Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 27; BeckOK BGB/Lorenz, § 278 Rz. 48. 66 BGH v. 15.12.1959 – VI ZR 222/58, BGHZ 31, 358, 367; MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 50. 67 BGH v. 26.4.1991 – V ZR 165/89, BGHZ 114, 263; Staudinger/Caspers, § 278 BGB Rz. 66. 68 Palandt/Grüneberg, § 278 BGB Rz. 40; Jauernig/Stadler, § 278 BGB Rz. 14. 69 Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 50; jurisPK BGB/Seichter, § 278 Rz. 43. 70 MünchKomm/Grundmann, § 278 BGB Rz. 51. 71 Palandt/Grüneberg, § 309 BGB Rz. 48 m.w.N. 72 Vgl. Erman/Westermann, § 278 BGB Rz. 51; BeckOK BGB/Lorenz, § 278 Rz. 49. 73 Vgl. im Einzelnen Polenz, CR 2008, 685, 688.

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BGB § 278 Rz. 29 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte 3. Haftungsausschluss für Ansprüche gegen den Erfüllungsgehilfen 29

Der Anspruch des Geschädigten gegen den Erfüllungsgehilfen aus c.i.c. oder Delikt in Form einer Haftungsfreistellung zugunsten Dritter kann in AGB ebenfalls nur in den Grenzen des § 309 Nr. 7 abbedungen werden.74

§ 280 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung (1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. (2) Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter der zusätzlichen Voraussetzung des § 286 verlangen. (3) Schadenersatz statt der Leistung kann der Gläubiger nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 281, des § 282 oder des § 283 verlangen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . .

2 2 3

3. Einzelfragen zu IT-Verträgen . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 16 19

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Hoeren, Skriptum IT-Recht (Stand: Oktober 2016); Hoppen, Software-Anforderungsdokumentation, CR 2015, 747; Ihde, Das Pflichtenheft beim Softwareerstellungsvertrag, CR 1999, 409; Intveen/Lohmann, Das IT-Pflichtenheft, CR 2003, 640; Liesching, Beratungspflichten des Anbieters im Rahmen von Softwareverträgen, ITRB 2016, 64; Meier/Wehlau, Die zivilrechtliche Haftung für Datenlöschung, Datenverlust und Datenzerstörung, NJW 1998, 1586; Müglich/Lapp, Mitwirkungspflichten des Auftraggebers beim IT-Systemvertrag, CR 2004, 801; Redeker, IT-Recht, 6. Aufl. 2017; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim ITVertrag – Teil I: vorvertragliche Beratungspflichten, CR 2015, 209.

I. Allgemeines 1

§ 280 ist die grundlegende Anspruchsnorm für alle vertraglichen und vertragsähnlichen Schadensersatzansprüche. Sie wurde mit der Schuldrechtsreform eingeführt und tritt an die Stelle der früheren (ungeschriebenen) positiven Vertragsverletzung (pVV), umfasst aber auch Unmöglichkeit, Verzug und jede andere Art der Leistungsstörung.1

II. Norminhalt 1. Anwendungsbereich 2

§ 280 gilt für alle Arten von Verträgen – gegenseitige und nicht gegenseitige, entgeltliche und nicht entgeltliche –, alle Arten von Pflichten – Leistungspflichten, Nebenleistungspflichten und Pflichten aus § 241 Abs. 2, vorvertragliche und nachvertragliche – und auch für vertragsähnliche Sonderverbindungen, gesetzliche Schuldverhältnisse (z.B. Geschäftsführung ohne Auftrag) und zum Teil auch für öffentlich-rechtliche Sonderverbindungen.2

74 Palandt/Grüneberg, § 309 BGB Rz. 40 a.E. m.w.N. 1 Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 5. 2 Erman/Westermann, § 280 BGB Rz. 5 ff.; Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 6 ff.

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Schadensersatz wegen Pflichtverletzung

Rz. 10 § 280 BGB

2. Pflichtverletzungen Sofern ein Erfolg geschuldet ist, ist grundsätzlich bereits der Nichteintritt des Leistungserfolgs als Pflichtverletzung anzusehen. Ist lediglich eine Tätigkeit geschuldet, ist Pflichtverletzung die objektive Abweichung des Verhaltens einer Partei vom geschuldeten Pflichtprogramm.3

3

Hauptfallgruppen von Pflichtverletzungen sind die Nichterfüllung einer Leistungspflicht, die Schlechterfüllung einer Leistungspflicht und die Verletzung einer Nebenpflicht.4

4

Unter die Nichterfüllung einer Leistungspflicht fallen Verzug und Unmöglichkeit. Für die Geltendma- 5 chung des Verzögerungsschadens müssen gem. § 280 Abs. 2 neben der Pflichtverletzung die weiteren Voraussetzungen des § 286 vorliegen, bevor ein Schadensersatzanspruch besteht, für die Geltendmachung von Schadensatz statt der Leistung (als Folge des Verzugs oder der Unmöglichkeit) gem. § 280 Abs. 3 die weiteren Voraussetzungen der §§ 281 ff. Bei der Schlechterfüllung ist zwischen Verträgen mit und ohne gesetzlichem Mängelhaftungsregime zu 6 unterscheiden. Werden Dienst- oder Geschäftsbesorgungsverträge schlecht erfüllt, ergibt sich der Schadensersatzanspruch des Geschädigten meist unmittelbar aus § 280 Abs. 1, nur soweit der Gläubiger nach einer teilweisen Schlechtleistung wegen des noch ausstehenden Leistungsteils Schadensersatz statt der Leistung oder Ersatz von vergeblichen Aufwendungen verlangt, gelten ergänzend §§ 281, 284.5 Bei Kauf- und Werkverträgen sind die §§ 280 ff. bis zum Gefahrübergang (§§ 446, 640) direkt anzuwenden, ab Gefahrübergang gelten die §§ 280 ff. aufgrund der Verweisungen in den §§ 437 Nr. 3 bzw. 634 Nr. 4.6

7

Mietverträge regeln die Haftung für Mängel eigenständig und ohne Anknüpfung an die §§ 280 ff. Für Pflichtverletzungen, die nicht zu einem Mangel führen, gilt § 280 aber selbstverständlich auch hier.7

8

Für Schäden aus der Verletzung von Nebenpflichten – auch bei der Verletzung leistungsbezogener Nebenpflichten – findet unabhängig vom Vertragstyp § 280 Abs. 1 unmittelbar Anwendung.8 Für den ITBereich relevante Beispiele sind z.B. Schäden aus der Verletzung von Aufklärungs- oder Beratungspflichten, Erfüllungsverweigerung oder deren Ankündigung, Weigerung, sich an seinem Angebot festhalten zu lassen oder die vereinbarten Vertragsbedingungen einzuhalten, die unberechtigte Kündigung oder Rücktrittserklärung oder eventuell auch schon deren bloße Androhung. Keine Pflichtverletzung ist dagegen der Widerspruch gegen eine berechtigte Kündigung, (von Ausnahmen abgesehen) die außergerichtliche oder gerichtliche Geltendmachung unbegründeter Ansprüche oder unberechtigte Abmahnungen.

9

Weitere Beispiele für unter § 280 Abs. 1 fallende Pflichtverletzungen sind die Verletzung der Obhuts- 10 pflicht der zu reparierenden Sache sowie die Verletzung von Geheimhaltungspflichten, Aufklärungspflichten und Mitwirkungspflichten, z.B. unrichtige Mitteilung des IT-Unternehmens, der verloren gegangene Datenbestand lasse sich nicht wieder herstellen,9 mangelnde Mitwirkung des Bestellers bei der vereinbarten Entwicklung neuer Software,10 Verursachung von Datenverlusten im Rahmen von Wartungs- oder Pflegeleistungen,11 nicht vereinbarte Sperren, nicht vereinbarte Online-Meldungen an den Hersteller12 – die zugleich auch Datenschutzverstöße darstellen können – oder nicht hinreichende, dem Auftraggeber jedoch zuzumutende Vorsorge für Bedienfehler des Nutzers bei der Installation einer Datensicherung.13 Der IT-Anbieter hat regelmäßig die Nebenpflicht, Datensicherungsmaßnahmen zu ergreifen, etwa durch Sicherungskopien oder Backups, um der Gefahr eines möglichen Datenverlus-

3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 12; vgl. auch MünchKomm/Ernst, § 280 BGB Rz. 16. Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 8 ff.; BeckOK BGB/Lorenz, § 280 Rz. 13. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 16; vgl. auch BeckOK BGB/Lorenz, § 280 Rz. 24. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 17; Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 12. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 21; vgl. auch BeckOK BGB/Wiederhold, § 536a Rz. 6. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 22; HK-BGB/Schulze, § 280 Rz. 10. BGH v. 11.4.2000 – X ZR 19/98, NJW 2000, 2812 = CR 2000, 424. BGH v. 13.7.1988 – VIII ZR 292/87, DB 1988, 2249 = CR 1989, 102 m. Anm. Köhler. Müglich/Lapp, CR 2004, 801, 807. Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad, § 10 Rz. 145. OLG Oldenburg v. 3.6.2003 – 9 U 10/03, CR 2004, 175 f. = ITRB 2004, 6.

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BGB § 280 Rz. 10 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung tes zu begegnen.14 Internet-Provider haften bei fehlendem Zugriff auf den E-Mail-Account15 oder bei falscher IP-Daten-Auskunft.16 3. Einzelfragen zu IT-Verträgen 11

Für die Abgrenzung von § 280 Abs. 1 zu § 280 Abs. 3 i.V.m. §§ 281 ff. ist entscheidend, ob Schadensersatz neben oder statt der Leistung verlangt wird. Der neben den Anspruch auf Nacherfüllung tretende Anspruch aus Abs. 1 erfasst alle Schäden, die durch die Pflichtverletzung endgültig entstanden sind und durch Nachbesserung oder Ersatzlieferung nicht beseitigt werden können.17 Die Ansprüche aus § 280 Abs. 1 und § 280 Abs. 3 i.V.m. §§ 281 ff. ergänzen sich im Fall mangelhafter Leistung so, dass sie zu einem vollständigen Ausgleich des entstandenen Schadens führen. Unter § 281 fallen die Kosten der Ersatzbeschaffung oder Reparatur und ein verbleibender Minderwert,18 unter § 280 Abs. 1 alle anderen Schäden, darunter neben Schäden an anderen Rechtsgütern auch der Verlust von Daten,19 Nutzungsausfall,20 entgangener Gewinn, Gutachterkosten21 und die Belastung mit einer Schadensersatzpflicht aus dem Weiterverkauf der Sache.22

12

Für die Frage des Vorliegens einer Pflichtverletzung ist oft der Umfang vertraglich nicht im Einzelnen definierter Pflichten entscheidend. Um diesen Pflichtenumfang zu ermitteln stellt die Rspr. häufig auf die äußeren Umstände und die Interessenlagen der Parteien ab. So hängen das Bestehen und der Umfang von Beratungs- und Aufklärungspflichten beim Verkauf von Hard- oder Software maßgeblich von der zu erwartenden Expertise des IT-Providers, dem erkennbaren Informationsstand und Aufklärungsbedarf des Kunden sowie den sonstigen Umständen des Einzelfalls ab.23 Der IT-Provider ist nur zur Aufklärung bezüglich der Eigenschaften verpflichtet, die er kennt oder kennen muss.24 Daher kann der Kunde i.d.R. keine Aufklärung über ganz entfernt liegende Risiken erwarten, die allenfalls dem Hersteller der Ware aufgrund dessen überragender Sachkunde bekannt sind.25 Der IT-Provider ist lediglich dann zur Nachfrage beim Hersteller verpflichtet, wenn er aufgrund konkreter Anhaltspunkte Zweifel an der Eignung der Ware für die vom Kunden beabsichtigte Verwendung hat oder haben muss.26 Der IT-Provider ist auch dazu verpflichtet, auf mögliche Restriktionen für die Anwendung27 oder Kapazitätsprobleme28 hinzuweisen. Wenn es sich bei dem Kunden nicht erkennbar um einen Laien (geringer Informationsstand) handelt, erscheint es angemessen, diesem die Pflicht aufzuerlegen, seine Beratungsbedürftigkeit offenzulegen und die von ihm für notwendig erachteten Funktionen und Eigenschaften abzufragen.29

14 LG Duisburg v. 25.7.2014 – 22 O 102/12, Rz. 18, juris = CR 2014, 752 = ITRB 2014, 252; Meier/Wehlau, NJW 1998, 1586. 15 OLG Naumburg v. 11.7.2013 – 2 U 4/13, NJW-RR 2014, 535 = ITRB 2013, 275. 16 AG Celle v. 30.1.2013 – 14 C 1662/12, NJW-RR 2013, 1246. 17 BGH v. 19.6.2009 – V ZR 93/08, NJW 2009, 2674; Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 18. 18 BGH v. 3.7.2013 – VIII ZR 169/12, NJW 2013, 2959. 19 BGH v. 2.7.1996 – X ZR 64/94, BGHZ 133, 155, 166; zur Löschung von Daten wegen mangelhafter Software vgl. Meier/Wehlau, Die zivilrechtliche Haftung für Datenlöschung, Datenverlust und Datenzerstörung, NJW 1998, 1586. 20 BGH v. 19.6.2009 – V ZR 93/08, NJW 2009, 2674. 21 BGH v. 13.9.2001 – VII ZR 392/00, NJW 2002, 141. 22 BGH v. 20.3.1996 – VIII ZR 109/95, NJW-RR 1996, 951; Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 18. 23 Zu den Kriterien im Einzelnen und dem sich daraus ergebenden Prüfungsschema vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210 ff. 24 Hoeren, S. 159. 25 Hoeren, S. 159. 26 BGH v. 16.6.2004 – VIII ZR 303/03, NJW 2004, 2301; Hoeren, S. 159. 27 OLG Celle v. 26.2.1986 – 6 U 154/84, CR 1988, 303, 305; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, M. IV. Rz. 613. 28 LG Köln v. 19.2.1986 – 23 O 450/83, CR 1987, 508; Hoeren, S. 159. 29 Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, M. IV. Rz. 612; Redeker, IT-Recht, Rz. 303 f.; ausführlich Müglich/Lapp, CR 2004, 801, 807.

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Schadensersatz wegen Pflichtverletzung

Rz. 15 § 280 BGB

Im Rahmen von Werkverträgen im IT-Bereich, z.B. einem Vertrag über die Herstellung einer Soft- 13 ware,30 werden die Pflichten regelmäßig in einem Pflichtenheft niedergelegt.31 Üblicherweise ist die Erstellung des Pflichtenhefts Sache des Auftraggebers.32 Häufig wird dieser jedoch nicht die ausreichende Sachkunde haben, so dass das Pflichtenheft von den Parteien gemeinsam erarbeitet wird.33 In so einer Konstellation muss der Auftragnehmer seine IT-Sachkunde einbringen und ggf. auch darauf hinweisen, dass das IT-Projekt nicht an die vorhandene Betriebssoftware angepasst werden kann.34 Zu beachten ist, dass das Fehlen eines Pflichtenhefts schon eine teilweise Nichterfüllung des Vertrags darstellen und Rechte aus § 323 begründen kann.35 Der Auftragnehmer hat u.U. auf die Notwendigkeit der Erstellung eines Pflichtenhefts hinzuweisen und ein Angebot für dessen Erstellung zu unterbreiten.36 Üblich ist daher eine ausdrückliche Vereinbarung über die Verantwortlichkeit für das Pflichtenheft. In Werkverträgen bestehen über die ausdrücklich vereinbarten Pflichten hinaus ferner Beratungs-, 14 Hinweis-, Geheimhaltungs- und ggf. sonstige Pflichten. Die Beratungs- und Informationspflichten des Unternehmers hängen dabei stark von den Umständen des Einzelfalls ab, insb. der Sachkunde der Beteiligten und der Komplexität des Projekts.37 Nachvertraglich können sich – unabhängig von einem Wartungsvertrag – Pflichten für den Hersteller ergeben, z.B. bei nachträglich auftretenden Mängeln oder sonstigen nutzungsrelevanten Umständen, wobei die Anforderungen nicht allzu hoch angesetzt werden dürfen.38 Der Softwarehersteller hat auch vorvertragliche Beratungspflichten und muss die ITBedürfnisse des Bestellers sorgfältig analysieren und ggf. entsprechende Nachfragen stellen.39 Eine Beratungspflicht des Herstellers, die beim Softwareerwerb die Auswahl der notwendigen Hardware mitumfasst, kommt allerdings nur in solchen Fällen in Betracht, in denen der Besteller konkret um Beratung gebeten hat oder wenn der Besteller erkennbar aufklärungsbedürftig ist.40 Der Anbieter kann nicht dazu verpflichtet werden, die noch zu beschaffende Hardware zu überprüfen oder den Besteller eigenständig auf eine etwaige Unterdimensionierung hinzuweisen; dies wäre eine übertriebene Risikoverlagerung zulasten des Herstellers.41 Das LG Hamburg entschied im Jahr 2015 (derzeit im Berufungsverfahren), dass eine Beratungspflicht in Bezug auf Hardware nur auf konkrete Nachfrage ausgelöst werde, wenn im zugrunde liegenden Rahmenvertrag eine Beratungspflicht nur für die Einführung der Software vorgesehen war.42 In dem Fall ging es um einen Softwarevertrag zur Einführung, Implementierung und Anpassung eines neuen ERP-Systems, wobei der vom Besteller (mit eigener ITAbteilung) angeschaffte Server nicht die benötigte Rechenkapazität besaß.43 Zusätzlich zum Kauf- oder Werkvertrag kann auch ein Beratungs- bzw. Auskunftsvertrag (§ 611) geschlossen werden, bei dessen Verletzung voller Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 verlangt werden kann. Ein Auskunftsvertrag gilt als stillschweigend geschlossen, wenn eine Auskunft des Händlers zum einen erkennbar von erheblicher Bedeutung und Grundlage wesentlicher Entschlüsse des Kunden war und wenn zum anderen der Händler als Auskunftgeber besonders sachkundig ist oder ein eigenes wirtschaftliches Interesse verfolgt.44 In IT-Projekten mit dem typischen Wissensgefälle zwischen Auftrag-

30 Redeker, IT-Recht, Rz. 296. 31 Redeker, IT-Recht, Rz. 302; Hoppen, Software-Anforderungsdokumentation, CR 2015, 747. 32 Intveen/Lohmann, Das IT-Pflichtenheft, CR 2003, 640 ff.; OLG Köln v. 6.3.1998 – 19 U 228/97, CR 1998, 459; Redeker, IT-Recht, Rz. 304. 33 Redeker, IT-Recht, Rz. 302a. 34 Redeker, IT-Recht, Rz. 302a. 35 Ihde, CR 1999, 409, 413; Redeker, IT-Recht, Rz. 307. 36 OLG Stuttgart v. 18.10.1988 – 6 U 64/88, NJW-RR 1989, 1328 = CR 1989, 498. 37 Redeker, IT-Recht, Rz. 399; zu den Kriterien im Einzelnen und dem sich daraus ergebenden Prüfungsschema vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210 ff. 38 Redeker, IT-Recht, Rz. 398 m.w.N. 39 Liesching, ITRB 2016, 64; Redeker, IT-Recht, Rz. 397, 399. 40 Liesching, ITRB 2016, 64, 66; OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, CR 1994, 212. 41 Liesching, ITRB 2016, 64, 66. 42 LG Hamburg v. 31.8.2015 – 419 HKO 48/11, (Berufung anhängig). 43 LG Hamburg v. 31.8.2015 – 419 HKO 48/11, (Berufung anhängig). 44 BGH v. 11.10.1988 – XI ZR 1/88, NJW 1989, 1029.

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15

BGB § 280 Rz. 15 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung nehmer und Auftraggeber liegt ein stillschweigender Auskunftsvertrag nahe, sofern sich die Auskunftspflichten nicht bereits aus dem IT-Projektvertrag selbst ableiten lassen.45 4. Rechtsfolgen 16

Die vom Schuldner zu vertretende Pflichtverletzung begründet für den Gläubiger einen Schadensersatzanspruch, der sich auf alle unmittelbaren und mittelbaren Nachteile des schädigenden Verhaltens erstreckt und auch Prozesskosten umfasst.46 Ausgenommen sind Schäden, die außerhalb des Schutzzwecks der verletzten Pflicht liegen.47 Der Schadensersatzanspruch tritt neben den Erfüllungsanspruch, nicht an dessen Stelle.48 Der Schadensersatzanspruch besteht grundsätzlich auch, wenn dem Gläubiger ebenfalls eine Pflichtverletzung zur Last fällt, ggf. kommt aber § 254 zur Anwendung.

17

Solange der pflichtwidrige Zustand andauert, kann sich aus § 280 Abs. 1 auch ein Unterlassungsanspruch ergeben,49 ein vorbeugender Unterlassungsanspruch besteht jedoch nicht.50

18

Es gilt die Regelverjährung (§§ 195, 199), es sei denn § 280 ist auf Grund einer Verweisung in §§ 437 Nr. 3 bzw. 634 Nr. 4 anwendbar – dann gelten die Sondervorschriften des § 438 bzw. § 634a.51 5. Beweislast

19

Der Gläubiger trägt die Beweislast für die Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und den Ursachenzusammenhang zwischen beiden.52 Der Schuldner trägt wegen § 280 Abs. 1 Satz 2 die Beweislast für das Nichtvertretenmüssen, nicht jedoch der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis, vgl. § 619a.53

20

Bei den Anforderungen an den Beweis der Pflichtverletzung ist zwischen erfolgsbezogenen und verhaltensbezogenen Pflichten zu unterscheiden:

21

Bei erfolgsbezogenen Pflichten ergibt sich der Beweis der Pflichtverletzung bereits daraus, dass die Leistung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vertragsgemäß erbracht worden ist.54 Da der Schuldner die Erfüllung beweisen muss,55 bedeutet dies praktisch eine Beweislastumkehr zulasten des Schuldners. Beim Kauf- und Werkvertrag genügt für den Beweis der Pflichtverletzung, dass der Schuldner eine mangelhafte Leistung erbracht hat. Hat der Schuldner eine erfolgsbezogene Pflicht, einen Schaden wie den entstandenen zu verhindern, wird durch den Nachweis des Schadens auch die Pflichtverletzung bewiesen.56

22

Bei verhaltensbezogenen Pflichten muss der Gläubiger i.d.R. den vollen Beweis der Pflichtverletzung erbringen.57 Es gibt insoweit jedoch Beweiserleichterungen, wenn der Gläubiger nachweisen kann, dass die Schadensursache allein aus dem Verantwortungsbereich des Schuldners herrühren kann.58

23

Für den Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden trägt grundsätzlich der Gläubiger die Beweislast.59 Dies gilt allerdings nicht, wenn sich die Pflichtverletzung bereits daraus ergibt, dass der Gläubiger bei Abwicklung des Vertrags einen Schaden erlitten hat. Wer vertragliche oder vorvertragliche Beratungs- oder Aufklärungspflichten verletzt hat, ist beweispflichtig dafür, dass der Scha45 Zur Beurteilung des Wissensgefälles und den sich daraus ergebenden Beratungspflichten vgl. im Einzelnen Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210 ff. 46 BeckOK BGB/Lorenz, § 280 Rz. 40 ff.; OLG Düsseldorf v. 9.6.1995 – 22 U 203/94, NJW-RR 1996, 729. 47 Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 32, vgl. auch Palandt/Grüneberg, Vorb. vor § 249 BGB Rz. 29 ff. 48 HK-BGB/Schulze, § 280 Rz. 16.; Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 22. 49 BGH v. 12.1.1995 – III ZR 136/93, NJW 1995, 1284. 50 BGH v. 5.6.2012 – X ZR 161/11, NZBau 2012, 652 = CR 2012, 645; Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 32. 51 Prütting u.a./Schmidt-Kessel/Kramme, § 280 BGB Rz. 23.; Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 21. 52 Staudinger/Caspers, § 280 BGB Rz. F1; HK-BGB/Schulze, § 280 Rz. 13. 53 MünchKomm/Ernst, § 280 BGB Rz. 44; Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 31. 54 Palandt/Grüneberg § 280 BGB Rz. 35; BeckOK BGB/Lorenz, § 280 Rz. 80. 55 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 363 BGB Rz. 1; MünchKomm/Fetzer, § 363 BGB Rz. 1. 56 OLG Hamm v. 28.10.1988 – 26 U 65/88, NJW-RR 1989, 468. 57 Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 36; BeckOK BGB/Lorenz, § 280 Rz. 80. 58 Zu Beispielen vgl. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 37. 59 BGH v. 31.5.1978 – VIII ZR 263/76, NJW 1978, 2197; Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 26.

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Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung

§ 281 BGB

den auch bei pflichtgemäßem Verhalten entstanden wäre; dabei besteht die Vermutung, dass der Gläubiger sich „aufklärungsrichtig“ verhalten hätte.60 Im Hinblick auf das Verschulden muss der Schuldner beweisen, dass er bzw. sein Erfüllungshilfe die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. An den Entlastungsbeweis sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.61 Er ist erbracht, wenn der Schuldner die Ursache des Schadens wahrscheinlich macht und sicher ist, dass er diese nicht zu vertreten hat.62 Ist die Ursache unaufklärbar, kann sich der Schuldner durch den Nachweis entlasten, dass er die ihm obliegende Sorgfalt beachtet hat.63

24

III. Abdingbarkeit § 280 ist grundsätzlich dispositives Recht.64 Da die Haftung aus § 280 Verschulden voraussetzt, gelten insoweit die gleichen Regeln und Einschränkungen wie bei § 276. Insbesondere kann die Haftung für Vorsatz im Voraus auch nicht dadurch ausgeschlossen werden, dass § 280 statt § 276 abbedungen wird.65 Auch die Beweislastverteilung in § 280 Abs. 1 Satz 2 ist dispositives Recht und kann durch Individualvereinbarung, nicht aber durch AGB, abbedungen werden.66 Das ausdrückliche Nennen von Verschulden als Anspruchsvoraussetzung in einer vertraglichen Regelung stellt im Zweifel keine Änderung der Beweislast dar.67

§ 281 Schadensersatz statt der Leistung wegen nicht oder nicht wie geschuldet erbrachter Leistung (1) Soweit der Schuldner die fällige Leistung nicht oder nicht wie geschuldet erbringt, kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat. Hat der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur verlangen, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Hat der Schuldner die Leistung nicht wie geschuldet bewirkt, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nicht verlangen, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist. (2) Die Fristsetzung ist entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert oder wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigen. (3) Kommt nach der Art der Pflichtverletzung eine Fristsetzung nicht in Betracht, so tritt an deren Stelle eine Abmahnung. (4) Der Anspruch auf die Leistung ist ausgeschlossen, sobald der Gläubiger statt der Leistung Schadensersatz verlangt hat. (5) Verlangt der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung, so ist der Schuldner zur Rückforderung des Geleisteten nach den §§ 346 bis 348 berechtigt.

60 61 62 63 64 65 66 67

Für zahlreiche Nachweise und Beispiele vgl. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 39. BGH v. 14.11.1989 – X ZR 116/88, NJW-RR 1990, 446, 447; Erman/Westermann, § 280 BGB Rz. 31. BGH v. 13.12.1991 – LwZR 5/91, BGHZ 116, 334, 337; Erman/Westermann, § 280 BGB Rz. 31. BGH v. 6.5.1965 – II ZR 217/62, NJW 1965, 1585; Jauernig/Stadler, § 280 BGB Rz. 25. MünchKomm/Ernst, § 280 BGB Rz. 46. MünchKomm/Ernst, § 280 BGB Rz. 46. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 46. Palandt/Grüneberg, § 280 BGB Rz. 46.

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BGB § 281 Rz. 1 Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . a) Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . b) Versäumung einer gesetzten Frist oder Entbehrlichkeit . . . . . . . . . . . . . . aa) Versäumung einer gesetzten Frist . (1) Fristsetzung . . . . . . . . . . . . . (2) Fristüberschreitung . . . . . . . . . bb) Abmahnung statt Fristsetzung . . . cc) Entbehrlichkeit der Fristsetzung . . c) Vertretenmüssen . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

1 4 4 4 5 5 5 12 15 16 18

d) Unterlassen der erforderlichen Mitwirkung des Gläubigers . . . . . . 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . aa) Inhalt und Schadensberechnung bb) Teilleistung . . . . . . . . . . . . . cc) Mangelhafte Leistung . . . . . . . b) Erlöschen des Leistungsanspruchs . . 3. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

19 30 30 30 39 49 53 56

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individualvereinbarungen . . . . . . . . . . . 2. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 58

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Bartsch, Das BGB und die modernen Vertragstypen, CR 2000, 3; Bartsch, Softwarepflege nach neuem Schuldrecht, NJW 2002, 1526; Giebel/Malten, Schadensersatz bei Ausfällen von TK-Netzen – Haftung des Diensteanbieters gegenüber Unternehmenskunden, MMR 2014, 302, 306; Heussen, Anmerkung zu LG München, Urt. v. 22.12.1988, CR 1989, 809 f. – Softwareerstellung zum Festpreis; Kochendörfer, Verletzerzuschlag auf Grundlage der Enforcement-Richtlinie?, ZUM 2009, 389; Lutz/Weigl, Second Generation IT-Outsourcing, CR 2014, 629; Kapellmann, Die erforderliche Mitwirkung nach § 642 BGB, § 6 VI VOB/B – Vertragspflichten und keine Obliegenheiten, NZBau 2011, 193; Müglich/Lapp, Mitwirkungspflichten des Auftraggebers beim IT-Systemvertrag, CR 2004, 801; Müller-Hengstenberg/Krcmar, Mitwirkungspflichten des Auftraggebers bei IT-Projekten, CR 2002, 549; Redeker, IT-Recht, 6. Aufl. 2017; Schuster, Mitwirkungspflichten bei IT-Verträgen – Warum aus § 642 BGB keine bloße Obliegenheit folgt, CR 2016, 627; Stögmüller, Teilbarkeit, Teilerfüllung und Teilrücktritt bei IT-Projekten, CR 2015, 424.

I. Allgemeines 1

§ 281 (i.V.m. § 280 Abs. 3) betrifft nur Schäden, die durch die Erfüllung des Leistungsanspruchs oder durch Nacherfüllung abgewendet werden können.1 Für bereits endgültig entstandene Schäden gilt § 280 Abs. 1. Die §§ 282 f., die vom Wortlaut des § 281 („nicht wie geschuldet“) mit umfasst sind, gehen § 281 als Spezialnormen vor.2

2

§ 281 betrifft drei Fallgruppen, die sich dem Tatbestand des § 281, der nach Störungsursachen unterscheidet, aber nicht entnehmen lassen: – Nichtleistung; – Quantitativ unvollständige Leistung (Teilleistung); – Qualitativ unzureichende (d.h. mangelhafte) Leistung. § 281 gilt für alle Arten von Schuldverhältnissen, auch für Ansprüche auf Rückabwicklung (§ 346) und gesetzliche Schuldverhältnisse. Unanwendbar ist § 281 lediglich auf Ansprüche auf Leistung von Geld.3

3

Die nach § 281 Abs. 1 erforderliche Fristsetzung erfüllt zugleich alle Anforderungen an eine Mahnung und alle ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale des Verzugs (§ 286) sind zugleich solche des § 281.4 Es ist daher ausgeschlossen, dass der Gläubiger Schadensersatz statt der Leistung verlangen kann, der Schuldner sich aber noch nicht in Verzug befindet.

1 2 3 4

Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 2; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 1. BT-Drucks. 14/6040, 138; HK-BGB/Schulze, § 281 BGB Rz. 5. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 5; a.A. MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 10. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 7; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 6.

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Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung

Rz. 7 § 281 BGB

II. Norminhalt 1. Anspruchsvoraussetzungen a) Pflichtverletzung Wie § 280 verlangt § 281 gem. § 280 Abs. 3 zunächst eine Pflichtverletzung gem. einer der drei vorgenannten Fallgruppen. Eine fällige Leistung (§ 281 Abs. 1) liegt nur dann vor, wenn die zugrunde liegende Forderung wirksam, durchsetzbar und fällig ist.5 Eine dauernde oder aufschiebende Einrede schließt nicht nur den Verzug, sondern auch § 281 aus.6 Entsprechendes gilt beim Unterlassen der erforderlichen Mitwirkung des Gläubigers.7

4

b) Versäumung einer gesetzten Frist oder Entbehrlichkeit aa) Versäumung einer gesetzten Frist (1) Fristsetzung Erforderlich ist weiter die Setzung einer angemessenen Frist zur Leistung bzw. Nacherfüllung (§ 281 Abs. 1 Satz 1). Die Fristsetzung muss grundsätzlich eine bestimmte und eindeutige Aufforderung zur Leistung enthalten;8 eine Ablehnungsandrohung ist seit der Schuldrechtsreform nicht mehr erforderlich.9 Die Fristsetzung ist entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung vor Fälligkeit ernsthaft und endgültig verweigert (§ 281 Abs. 2; dazu näher Rz. 16 ff.).10 In analoger Anwendung von § 323 Abs. 4 kann der Gläubiger zudem auch dann Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des § 281 im Zeitpunkt der Fälligkeit vorliegen werden.11

5

Trotz der Komplexität von Softwareentwicklung muss ein Nachbesserungsverlangen auch bei Verträ- 6 gen über Softwareentwicklung so konkret gefasst sein, dass die Mängel mit Hilfe von Zeugen bzw. Sachverständigen feststellbar sind, wobei es genügt, dass die Symptome hinreichend genau bezeichnet werden.12 Die Unzulänglichkeit der Leistung muss so konkret beschrieben werden, dass sie individualisiert werden kann.13 Zur Vermeidung einer unwirksamen Fristsetzung ist es daher sinnvoll, die Leistungsaufforderung möglichst bestimmt und konkret zu fassen. Eine ausreichende Leistungsaufforderung wurde in folgenden Fällen angenommen: Die Aufforderung, die Komplettinstallation vorzunehmen,14 die Aufforderung, eine Basisversion einer Software im vereinbarten Umfang fertigzustellen, ohne dass der Besteller gehalten gewesen wäre, die etwa vorhandenen Mängel der Software aufzuführen15 oder die Aufforderung, die nach dem Vertrag durch eine Software zu bewirkende Funktion herbeizuführen.16 Als nicht ausreichend wurde eine Leistungsanforderung angesehen, die die Erledigung „aller notwendigen Arbeiten zur Erfüllung des Vertragsverhältnisses mit dem Ziel der Herbeiführung eines vollständig funktionstüchtigen Q-Systems“ verlangte und nicht erkennen ließ, dass die Klägerin weitere Mängel (Datenaustausch etc.) neben einer unzureichenden CAD-Integration bemängelte.17

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 8; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 5. BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, NJW 2013, 1431; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 8. Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 39; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 11. BGH v. 25.3.2010 – VII ZR 224/08, NJW 2010, 2200 = CR 2010, 422 = ITRB 2010, 204; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 9. HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 9; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 6. HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 5; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 9; a.A. MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 55 ff. HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 5; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 8a m.w.N.; im Ergebnis ähnlich MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 56, 67. OLG Düsseldorf v. 2.10.2008 – 7 U 82/07. OLG Düsseldorf v. 2.10.2008 – 7 U 82/07. BGH v. 25.3.2010 – VII ZR 224/08, NJW 2010, 2200 = CR 2010, 422 = ITRB 2010, 204. BGH v. 24.11.1998 – X ZR 21-96, NJW-RR 1999, 347, 348. BGH v. 18.5.1999 – X ZR 100/98. OLG Köln v. 2.2.2012 – 19 U 98/11.

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BGB § 281 Rz. 8 Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung 8

Die Fristsetzung muss mehr sein als ein höfliches Drängen auf Vertragserfüllung; sie muss dem Schuldner deutlich machen, dass es mit Fristablauf ernst werden kann.18 Die Androhung von rechtlichen Schritten nach Fristablauf ist ausreichend.19 Der Angabe eines bestimmten Zeitraums oder Endtermins soll es nicht bedürfen; vielmehr soll die Aufforderung, umgehend oder unverzüglich zu leisten, ausreichen können.20 Zu empfehlen ist allerdings die schriftliche Setzung eines großzügig bemessenen Endtermins, um jeden Zweifel an der Wirksamkeit der Fristsetzung von vornherein auszuschließen.

9

Die Frist ist angemessen, wenn sie den Schuldner in die Lage versetzt, die bereits begonnene Leistung zu vollenden; sie muss dagegen nicht so bemessen sein, dass der Schuldner die noch nicht begonnene Leistung erst anfangen und fertigstellen kann.21

10

Die Frist kann länger zu bemessen sein, wenn sich der Gläubiger zuvor in Annahmeverzug befunden hat. So ist einem IT-Systemhaus nicht zuzumuten, sich bei Annahmeverzug des Kunden dauernd zur Erbringung der noch ausstehenden restlichen Werkleistung bereitzuhalten, und es kann daher die Einräumung eines angemessenen Zeitraums beanspruchen, um die Leistungsbereitschaft wieder herbeizuführen.22

11

Eine zu kurz gesetzte Frist soll eine angemessene Frist in Gang setzen,23 allerdings dann nicht, wenn der Gläubiger zu erkennen gibt, die Leistung nach Ablauf der zu kurzen Frist nicht anzunehmen, selbst wenn sie innerhalb der objektiv angemessenen Frist erfolgt.24 Auch insoweit gilt die vorstehend ausgesprochene Empfehlung, die Frist eher großzügig zu setzen. (2) Fristüberschreitung

12

Die Frist ist gewahrt, wenn der Schuldner die Leistungshandlung innerhalb der (angemessenen) Frist vornimmt; dass der Leistungserfolg erst später eintritt, ist unschädlich.25

13

Die Frist ist auch bei geringfügiger Überschreitung versäumt,26 in Ausnahmefällen kann aber § 242 anwendbar sein.27

14

Der Schuldner muss innerhalb der Frist vollständig und in der geschuldeten Qualität leisten; erbringt er eine unvollständige oder mangelhafte Leistung, kann der Gläubiger sie zurückweisen.28 Nimmt er die Leistung dennoch an, kann er erst nach nochmaliger Fristsetzung Schadensersatz statt der Leistung verlangen.29 bb) Abmahnung statt Fristsetzung

15

Gem. § 281 Abs. 3 ist die Fristsetzung durch eine Abmahnung zu ersetzen, wenn die Fristsetzung aufgrund der Art der Pflichtverletzung nicht in Betracht kommt.30 Dies betrifft insb. Unterlassungsansprüche, bei denen die einmal begangene Handlung nicht rückgängig gemacht werden kann.31

18 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 9; MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 32 ff. 19 BGH v. 18.3.2015 – VIII ZR 176/14, NJW 2015, 2564. 20 BGH v. 18.3.2015 – VIII ZR 176/14, NJW 2015, 2564; BGH v. 25.3.2010 – VII ZR 224/08, NJW 2010, 2200 = CR 2010, 422 = ITRB 2010, 204; BGH v. 12.8.2009 – VIII ZR 254/08, NJW 2009, 3153. 21 Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 10; Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 46. 22 BGH v. 3.4.2007 – X ZR 104/04, NJW 2007, 2761 = CR 2007, 419 = ITRB 2007, 150. 23 Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 49; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 6. 24 BGH v. 21.6.1985 – V ZR 134/84, NJW 1985, 2640; RG v. 20.11.1917 – II 225/17, RGZ 91, 204, 207. 25 Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 7; BGH v. 6.2.1954 – II ZR 176/53, BGHZ 12, 267. 26 BGH v. 7.12.1973 – V ZR 24/73, NJW 1974, 360; Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 60. 27 jurisPK BGB/Seichter, § 281 Rz. 28; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 12. 28 Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 64; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 22. 29 Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 7; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 12; a.A. Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 65; Prütting u.a./Schmidt-Kessel/Kramme, § 281 BGB Rz. 11. 30 MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 44; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 8. 31 Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 53; MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 44.

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Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung

Rz. 20 § 281 BGB

cc) Entbehrlichkeit der Fristsetzung Für die Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. § 281 Abs. 2 gelten strenge Anforderungen.32 Im Fall 16 der Erfüllungsverweigerung werden neben der Fristsetzung auch die erforderlichen Mitwirkungshandlungen des Gläubigers entbehrlich.33 So reichen das bloße Bestreiten des Mangels34 oder die Erklärung, der vereinbarte Fälligkeitstermin könne nicht eingehalten werden,35 nicht aus. Ausreichend sind dagegen eine Rücktrittserklärung des Schuldners, wenn sie keinen Zweifel daran lässt, dass der Schuldner zur Leistungserbringung nicht mehr bereit ist,36 die unrechtmäßige Verweigerung der Mängelbeseitigung,37 das hartnäckige Bestreiten der Pflichtverletzung,38 die Erklärung, die Leistung könne erst zu einem Termin nach Ablauf der angemessenen Frist erfolgen39 sowie das Stellen eines Klagabweisungsantrags.40 Besondere Umstände, die eine Fristsetzung entbehrlich machen können, können u.a. vorliegen, wenn der eingetretene Schaden durch eine Nacherfüllung nicht mehr beseitigt werden kann,41 wenn der Verkäufer dem Käufer einen Mangel arglistig verschwiegen hat42 oder wenn der Schuldner bei einem „justin-time“-Vertrag nicht termingerecht leistet.43 Beim relativen Fixgeschäft soll die Fristsetzung dagegen nicht entbehrlich sein, was allerdings streitig ist.44

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c) Vertretenmüssen Im Hinblick auf das erforderliche Vertretenmüssen des Schuldners kommt es bei § 281 auf den Zeitpunkt des Fristablaufs an, es sei denn die Gefahr ist gem. § 287 wegen des Verzugs bereits auf den Schuldner übergegangen.45

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d) Unterlassen der erforderlichen Mitwirkung des Gläubigers Ist für die Erbringung der Leistung die Mitwirkung des Gläubigers erforderlich, setzt § 281 voraus, dass der Gläubiger die erforderliche Handlung vornimmt oder ihre Vornahme anbietet (vgl. im Einzelnen die Ausführungen bei § 286 Rz. 10 ff.).46 Bei Ansprüchen aus einem gegenseitigen Vertrag muss der Gläubiger zudem die Gegenleistung anbieten, und zwar in einer Art und Weise, die den Annahmeverzug zu begründen vermag; die bloße Bereitschaft zur Leistung genügt nicht.47 Dies kann allerdings nicht gelten, wenn der Schuldner vorleistungsverpflichtet ist.48

19

Ob es sich bei der erforderlichen Mitwirkung des Auftraggebers (Werkbestellers) in einem IT-Projekt um eine Obliegenheit oder eine Nebenleistungspflicht handelt, ist streitig. Während die Rspr. regelmäßig eine Obliegenheit annimmt,49 wird in der Literatur zunehmend auch die Auffassung vertreten,

20

32 BGH v. 17.10.2008 – V ZR 31/08, NJW 2009, 1813, 1816; BGH v. 12.2.2014 – XII ZR 76/13, NJW 2014, 1521; zu Einzelfällen vgl. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 14. 33 BGH v. 28.7.1999 – VIII ZB 3/99, NJW-RR 2000, 444; Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 15. 34 BGH v. 29.6.2011 – VIII ZR 202/10, NJW 2011, 2872. 35 BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714. 36 BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714. 37 BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, NJW 2013, 1431. 38 LG Aachen v. 26.4.2005 – 12 O 493/04, NJW 2005, 2236. 39 BGH v. 19.9.1983 – VIII ZR 84/82, NJW 1984, 48, 49. 40 BGH v. 8.12.1983 – VII ZR 139/82, NJW 1984, 1460. 41 BGH v. 8.12.2011 – VII ZR 198/10, NJW-RR 2012, 268. 42 BGH v. 8.12.2006 – V ZR 249/05, NJW 2007, 835. 43 Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 15 m.w.N.; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 12. 44 Vgl. MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 64; jurisPK BGB/Seichter, § 281 Rz. 39. 45 Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 16; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 12. 46 Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 39; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 11; BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, NJW 1996, 1745 = CR 1996, 467. 47 BGH v. 6.12.1991 – V ZR 229/90, NJW 1992, 556, 558; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 11. 48 Vgl. jurisPK BGB/Seichter, § 281 Rz. 47; HK-BGB/Schulze, § 320 Rz. 14. 49 Redeker, IT-Recht, Rz. 412; BGH v. 16.5.1968 – VII ZR 40/66, NJW 1968, 1873; Lutz/Weigl, CR 2014, 629, 633; Palandt/Sprau, § 642 BGB Rz. 2 m.w.N.

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BGB § 281 Rz. 20 Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung es handele sich um eine Nebenleistungspflicht.50 Begründet wird diese Auffassung – in Anlehnung an die entsprechende Begründung für Bauverträge51 – mit den Besonderheiten von IT-Projekten, die sich mit zunehmender Größe von einer einseitigen Werkleistung hin zu einem gemeinsamen Projekt (oder, mit den Worten von Bartsch, einer gemeinsamen Expedition)52 entwickeln.53 21

Soweit für den Regelfall vom Vorliegen einer bloßen Obliegenheit ausgegangen wird, soll sich das Vorliegen einer Nebenleistungspflicht aus den Besonderheiten des IT-Projekts ergeben können. Nach Auffassung von Redeker kommt dies beispielsweise dann in Betracht, wenn die Entwicklung der Individualsoftware als Pilotprojekt für eine mögliche Nutzung als Standardsoftware dient oder wenn die Individualsoftware beim Unternehmer eine große Anzahl von Arbeitskräften bindet, die in anderer Weise nicht eingesetzt werden können.54 Eine Mitwirkungsobliegenheit sei auch dann eine Neben(leistungs)pflicht, wenn die fristgerechte Herstellung des Werkes von den Vorausleistungen des Bestellers abhängt und das Werk nach Fristablauf sinnlos wird (z.B. wenn es sich um eine Messepräsentation handelt).55 Noch weiter gehen Müller-Hengstenberg/Krcmar, die die Mitwirkungspflicht des Auftraggebers innerhalb eines IT-Projekts, das eine Anwendungslösung zum Vertragsgegenstand hat, als Vertragspflicht (und nicht lediglich als Obliegenheit) qualifizieren, wenn die Mitwirkung für den Erfolg des Projekts unabdingbar ist.56

22

In jedem Fall kann sich eine Mitwirkungspflicht (im Gegensatz zu einer Mitwirkungsobliegenheit) des Bestellers aus einer ausdrücklichen Vereinbarung ergeben.57 Gerade in Verträgen über große IT-Projekte ist dies mangels für IT-Projekte ausreichender gesetzlicher Regelungen – §§ 642 ff. sowie ggf. § 242 – aus Sicht des Werkunternehmers empfehlenswert und häufige Praxis, die Mitwirkungspflichten des Bestellers als (Nebenleistungs-)Pflichten vertraglich auszugestalten.58 Auch die einzelnen Pflichten werden im Interesse des Projekterfolges meist ausführlich beschrieben.

23

Demgegenüber ist eine pauschale Klausel, wonach alle Mitwirkungspflichten des Auftraggebers nicht nur Nebenleistungspflichten, sondern Hauptpflichten sind, jedenfalls in AGB des Auftragnehmers (Werkunternehmers) unwirksam.59

24

Die Rechtsfolgen eines Unterlassens von Mitwirkungsleistungen sind unterschiedlich, je nachdem ob eine bloße Obliegenheit oder eine Nebenleistungspflicht vorliegt.

25

Unterlässt der Besteller bei Vorliegen einer bloßen Obliegenheit trotz entsprechender Aufforderung durch den Werkunternehmer die erforderlichen Mitwirkungshandlungen, kommt er in Annahmeverzug (§ 295 Satz 2) mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen;60 insb. haftet der Werkunternehmer während des Annahmeverzugs gem. § 300 Abs. 1 nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit.61 Ein Verschulden oder sonstiges Vertretenmüssen des Gläubigers ist für den Annahmeverzug nicht erforderlich.62 Der Werkunternehmer hat bei fehlender Mitwirkung des Bestellers die Rechte aus § 642 (angemessene Entschädigung) und § 643 (Kündigung nach angemessener Fristsetzung mit Kündigungsandrohung),63 einklagen oder anderweitig erzwingen kann er die Erbringung der Mitwirkungsleistung nicht.64 Auch ein Zurückbehaltungsrecht kann der Werkunternehmer nicht geltend machen.65 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Schuster, CR 2016, 627 ff. Kapellmann, NZBau 2011, 193 ff. Bartsch, CR 2000, 3, 9. Schuster, CR 2016, 627, 628. Redeker, IT-Recht, Rz. 414. Redeker, IT-Recht, Rz. 414. Müller-Hengstenberg/Krcmar, CR 2002, 549 ff. Müglich/Lapp, CR 2004, 801, 802; Redeker, IT-Recht, Rz. 414; Heussen, Anmerkung zu LG München, Urt. v. 22.12.1988, CR 1989, 809 f. – Softwareerstellung zum Festpreis. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witzel, § 18 Rz. 182 f.; Redeker, IT-Recht, Rz. 415. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witzel, § 18 Rz. 187; Redeker, IT-Recht, Rz. 415; Schuster, CR 2016, 627, 633 m.w.N. Redeker, IT-Recht, Rz. 412. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witzel, § 18 Rz. 184. Palandt/Grüneberg, § 293 BGB Rz. 1 und 10; OLG Karlsruhe v. 26.6.2008 – 19 U 179/06. Redeker, IT-Recht, Rz. 412. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witzel, § 18 Rz. 183 f. Schuster, CR 2016, 627, 628.

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Cording

Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung

Rz. 30 § 281 BGB

Die angemessene Entschädigung des § 642 ist kein Schadensersatz und beinhaltet insb. nicht entgangenen Gewinn.66 Daneben kann der Werkunternehmer gem. § 645 Abs. 1 die Vergütung für das erbrachte Teilwerk verlangen. Dies wird – insb. im Vergleich zu den Rechten des Werkunternehmers im Fall einer Kündigung nach § 648 – als nicht ausreichend angesehen, um die Rechte des Werkunternehmers zu wahren. Der BGH gewährt dem Werkunternehmer daher u.U. zusätzlich einen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1; eine Gegenauffassung lehnt dies ab und will dem Werkunternehmer (lediglich) einen Vergütungsanspruch analog § 648 Satz 2 gewähren.67

26

Wenn eine Nebenleistungspflicht vorliegt, steht dem Werkunternehmer – neben den Rechten aus § 642 f., die weiterhin Anwendung finden68 – ein Erfüllungsanspruch zu, den er notfalls einklagen kann; es liegt ein Fall des Schuldnerverzugs vor, so dass dem Werkunternehmer ein Zurückbehaltungsrecht zusteht und die §§ 280 ff. Anwendung finden.69 Möchte der Werkunternehmer Schadensersatz geltend machen, muss er gem. § 281 den Besteller unter Fristsetzung zur Erbringung der Mitwirkungshandlung auffordern.70

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Der Werkunternehmer hat ferner zu beachten, dass die Mitwirkungsobliegenheiten oder -pflichten des Bestellers aus Gründen seiner eingeschränkten Sachkunde nicht immer einfach erfüllbar sind.71 Er darf daher nicht mit komplexen und schwer verständlichen Fragen Informationen verlangen, sondern muss diese so stellen, dass der Besteller diese ordnungsgemäß beantworten kann.72 Der Werkunternehmer kann sich nicht auf mangelnde Mitwirkung des Bestellers berufen, wenn er sich nicht hinreichend verständlich macht oder überhaupt nicht fragt.73 Schließlich muss die Mitwirkung dem Besteller auch zumutbar sein, d.h. es muss ihm möglich sein, die Fragen zu beantworten bzw. die Fragen überhaupt zu erkennen.74

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Das früher ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Vertragstreue des Gläubigers in § 326 a.F. soll seit der Schuldrechtsreform entfallen sein.75 Da Voraussetzung des § 281 die Leistungsbereitschaft des Gläubigers ist, soll dies aber selten relevant werden. Zudem soll in derartigen Fällen der Einwand des § 242 möglich sein.76 Da auch der wichtigste Fall der Vertragstreue des Gläubigers, die Erbringung seiner Mitwirkungsleistungen, von der vermeintlichen Rechtsänderung nicht betroffen ist, fragt sich, in welchen Fällen dies überhaupt relevant werden kann bzw. ob es die behauptete Rechtsänderung überhaupt gibt.

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2. Rechtsfolgen a) Schadensersatz aa) Inhalt und Schadensberechnung Der Anspruch soll den durch die Nichterfüllung entstandenen Schaden ausgleichen. Er ist auf das positive Interesse gerichtet, d.h. der Gläubiger ist so zu stellen, als wäre pflichtgemäß erfüllt worden.77 Der Anspruch geht auf Geld, Naturalrestitution ist ausgeschlossen.78 Ausnahmsweise kann der Anspruch aber auf die Beschaffung gleichwertiger Sachen gerichtet sein.79 Verspätungsschäden und un-

66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

Schuster, CR 2016, 627, 628; Palandt/Sprau, § 642 BGB Rz. 5. Vgl. BeckOK BGB/Voit, § 642 Rz. 7 f. Schuster, CR 2016, 627, 633; Palandt/Sprau, § 642 BGB Rz. 3. Schuster, CR 2016, 627, 633; Palandt/Sprau, § 642 BGB Rz. 3. Schuster, CR 2016, 627, 630 und 633. Redeker, IT-Recht, Rz. 413. Redeker, IT-Recht, Rz. 413. OLG Stuttgart v. 23.8.1994 – 6 U 57/94; Redeker, IT-Recht, Rz. 413. Redeker, IT-Recht, Rz. 413. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 35; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 13. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 35. BGH v. 27.5.1998 – VIII ZR 362/96, NJW 1998, 2901. BGH v. 11.10.2012 – VII ZR 179/11, NJW 2013, 370; Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 3. BGH v. 27.9.1971 – II ZR 43/70, WM 1971, 1412, 1414; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 16.

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BGB § 281 Rz. 30 Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung ter § 280 Abs. 1 fallende Schäden können nicht in den Anspruch statt der Leistung einbezogen werden und sind daher separat geltend zu machen.80 31

Anders als vor der Schuldrechtsreform schließen sich Rücktritt und Schadensersatz statt der Leistung nicht aus, vgl. § 325.81 Der Gläubiger kann daher frei zwischen der Differenz- und der Surrogationsmethode wählen. Bei der Differenzmethode – auch die Gegenleistung wird rückabgewickelt und die Differenz zwischen Leistung und Gegenleistung ist der Schaden – ist der Rücktritt konkludent enthalten, sofern er nicht ausdrücklich erfolgt.82 Das Schuldverhältnis wandelt sich in einen einseitigen Anspruch des Gläubigers auf Schadensersatz um, bei dem die vom Schuldner zu erbringende Leistung, die ersparte Gegenleistung, ersparte Aufwendungen und entstandene Folgeschäden zu bloßen Rechnungsposten werden;83 die Regeln über die Aufrechnung finden auf diese Saldierungen keine Anwendung.84 Die Differenzmethode kann auch dann noch vom Gläubiger gewählt werden, wenn der Schuldner bereits Eigentümer der verkauften und gelieferten Sache geworden ist – diese ist dann wieder herauszugeben und ihr Wert bei der Saldierung einzubeziehen.85

32

Bei der Surrogationsmethode bleibt es bei der Leistung des Gläubigers, die dieser dem Schuldner auch nach Fristablauf weiter anbieten kann, falls sie noch nicht erbracht ist.86 Der Schadensersatzanspruch geht dann auf die gesamte Leistung zzgl. etwaiger Folgeschäden, d.h. ohne Saldierung der ersparten Gegenleistung und ersparter Aufwendungen.87

33

Zugunsten des Gläubigers gilt eine Rentabilitätsvermutung, d.h. die Vermutung, dass die vom Schuldner nicht erbrachte Leistung der Gegenleistung gleichwertig ist.88 Als Mindestschaden kann der Gläubiger daher einen Betrag in Höhe seiner Gegenleistung ersetzt verlangen.89 Zusätzlich kann er die für den Vertrag gemachten und nutzlos gewordenen Aufwendungen ersetzt verlangen, da vermutet wird, dass er diese bei ordnungsgemäßer Erfüllung des Vertrages wieder eingebracht hätte;90 dies gilt insb. für die Partei, die Gläubiger der Sachleistung war, d.h. den Käufer bzw. Besteller. § 284 steht dem nicht entgegen,91 dieser gilt vielmehr auch und insb. für entferntere Aufwendungen, für die die Rentabilitätsvermutung nicht gilt.92 Die Rentabilitätsvermutung umfasst z.B. Kosten für die Installation, die Schulung oder das Customizing,93 nicht aber Aufwendungen für weitere Geschäfte, die der Gläubiger im Hinblick auf den Erstvertrag vorgenommen hat. Sie ist widerleglich durch den Nachweis, dass der Gläubiger bei ordnungsgemäßer Vertragsabwicklung einen Verlust gemacht hätte.94

34

Im Hinblick auf den Einsatz von Personal gilt die Rentabilitätsvermutung nicht. Wenn Mitarbeiter infolge einer IT- oder TK-Störung nicht produktiv eingesetzt werden können, begründet dies einen Schadensersatzanspruch nur dann, wenn dadurch das wirtschaftliche Ergebnis des Unternehmens nachweisbar beeinträchtigt wird. Ersatzfähig sind dagegen unmittelbar durch die Störung verursachte Überstunden von Mitarbeitern.95

35

Zu unterscheiden ist zwischen konkreter und abstrakter Schadensberechnung. Die konkrete Schadensberechnung ist die Regel; wenn der Gläubiger Kaufmann oder Gewerbetreibender ist, kann er alternativ aber auch die abstrakte Schadensberechnung wählen.96 Auch im Prozess kann noch von einer auf die andere Berechnungsmethode umgestellt werden. Beide Methoden können aber nicht vermischt 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 17; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 16. Vgl. Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. A 16; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 57. Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 23, 25; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 20. BGH v. 17.7.2001 – X ZR 71/99, NJW 2001, 3535; Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 24. BGH v. 25.9.1958 – VII ZR 181/57, NJW 1958, 1915; Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 24. BGH v. 20.5.1994 – V ZR 64/93, BGHZ 126, 131, 136. jurisPK BGB/Seichter, § 281 Rz. 60; vgl. HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 18. BGH v. 25.3.1983 – V ZR 168/81, BGHZ 87, 156, 158; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 21. BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 50; vgl. BGH v. 30.6.1993 – XII ZR 136/91, NJW 1993, 2527. BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96, NJW 1998, 2360, 2364. BGH v. 12.3.2009 – VII ZR 26/06, NJW 2009, 1870; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 BGB Rz. 50. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 23 m.w.N.; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 21. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 23; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 21. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, § 13 Rz. 181. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 24; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 52. Giebel/Malten, MMR 2014, 302, 306 m.w.N. BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 41 f.; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 19 f.

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Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung

Rz. 39 § 281 BGB

werden, es sei denn, der Schaden besteht aus verschiedenen Positionen – dann kann für eine Position die konkrete und für eine andere Position die abstrakte Schadensberechnung gewählt werden.97 Bei konkreter Schadensberechnung kann der Käufer die Differenz zwischen dem Kaufpreis und dem 36 Marktwert, den entgangenen Gewinn aus einem konkreten Weiterverkauf der Sache oder die Mehrkosten aus einem Deckungsgeschäft als Schaden geltend machen;98 aufgrund der Schadensminderungspflicht kann auch eine Verpflichtung zum Abschluss eines Deckungsgeschäfts bestehen. Der Verkäufer kann bei der konkreten Schadensberechnung die Differenz zwischen seinen Selbstkosten (Herstellungs- oder Anschaffungskosten) und dem Vertragspreis als Schaden geltend machen.99 Die abstrakte Schadensberechnung basiert auf der Vermutung, dass der Gläubiger aus dem Geschäft den in seiner Branche üblichen Gewinn erzielt hätte.100 Es handelt sich um eine Form der Beweiserleichterung, um die Offenlegung von Geschäftsinterna zu vermeiden.101 Der Gläubiger kann den entgangenen Gewinn in seinen AGB pauschalieren, muss dabei aber die Grenzen des § 309 Nr. 5 beachten.102 Der Käufer kann bei der abstrakten Schadensberechnung die Differenz zwischen Vertragspreis und Marktpreis (hypothetisches Deckungsgeschäft) oder die Differenz zwischen Vertragspreis und Weiterverkaufspreis (hypothetisches Gewinngeschäft) als Schaden geltend machen,103 der Verkäufer die Differenz zwischen dem Marktpreis (hypothetisches Deckungsgeschäft) und dem Vertragspreis.104

37

Häufigster Fall der abstrakten Schadensberechnung im IT-Bereich ist die sog. Lizenzanalogie. Hier 38 wird der Schaden danach berechnet, welche Lizenzgebühr für das verletzte Programm üblicherweise bezahlt wird.105 Dies gilt auch dann, wenn der Rechtsinhaber mit dem Verletzer normalerweise keinen Lizenzvertrag schließen würde, etwa weil der Verkauf der Lizenz ausschließlich über den Handel erfolgt oder für das Inland gar keine Lizenzen vergeben werden.106 Dabei ist auf den objektiven Verkehrswert des Schutzrechts abzustellen, der beim Rechtsinhaber und nicht im Handel zu ermitteln ist; da im Handel zwangsläufig Margen aufgeschlagen werden, soll der Verletzer bei Berechnung des Schadens im Wege der Lizenzanalogie mithin einen niedrigeren Preis zahlen müssen als ein rechtstreuer Lizenznehmer, der sich die Lizenz legal im Handel beschafft.107 Ein Verletzeraufschlag ist (außer im Hinblick auf Musik ggü. der GEMA)108 weder nach deutschem Recht109 noch nach der Enforcement-Richtlinie110 vorgesehen. Allerdings ist der Ermessenspielraum des Tatrichters im Rahmen der Schadensschätzung gem. § 287 Abs. 1 ZPO weit,111 so dass von einer grundsätzlichen Privilegierung des Verletzers eher keine Rede sein kann. bb) Teilleistung § 281 Abs. 1 Satz 2 regelt allein die quantitativ unvollständige Leistung. Ist die Leistung objektiv und nach dem Vertragszweck teilbar und hat die Teilleistung für den Gläubiger Interesse, zerfällt der Vertrag in zwei selbständige Teile – für die bewirkte Teilleistung wird die anteilige Vergütung geschuldet, ein Schadensersatzanspruch besteht nur für die nicht bewirkte Teilleistung (zu den Rechtsfolgen auf Primärebene vgl. § 266 Rz. 16 ff.).112 Mit diesem Schadensersatzanspruch kann der Gläubiger gegen den Teilentgeltanspruch des Schuldners aufrechnen.113 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113

BGH v. 19.6.1951 – I ZR 118/60, BGHZ 2, 310, 313. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 25 f.; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 42. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 27 f.; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 41 f. Vgl. HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 19; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 46. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 30. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 30; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 32; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 47. BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 47; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 33. Redeker, IT-Recht, Rz. 247. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witte, § 5 Rz. 318. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witte, § 5 Rz. 319 m.w.N. Spindler/Schuster/Spindler, § 97 UrhG Rz. 41 m.w.N. Spindler/Schuster/Spindler, § 97 UrhG Rz. 40, 43 f. m.w.N. Kochendörfer, ZUM 2009, 389, 392 m.w.N. Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Goldmann, § 9 UWG Rz. 154a m.w.N. Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 22; HK-BGB/Schulze, § 281 Rz. 22. BGH v. 1.2.1962 – VII ZR 213/60, BGHZ 36, 316, 318.

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BGB § 281 Rz. 40 Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung 40

Ist die Leistung objektiv oder nach dem Vertragszweck nicht teilbar oder hat die Teilleistung für den Gläubiger kein Interesse, gilt § 281 für die gesamte Leistung (zur Unteilbarkeit s. § 266 Rz. 5 f.).114 Ein mangelndes Interesse an der Teilleistung wird angenommen, wenn bei Bestellung einer EDV-Anlage die auf die Zwecke des Bestellers zugeschnittene Software ausbleibt.115

41

Grundsätzlich sind einzelne Leistungsbestandteile in IT-Projektverträgen als teilbar anzusehen, wenn sie entweder in mehrere getrennte Verträge aufgeteilt sind oder wenn sie als einzelne Leistungen in Auftrag gegeben werden können (s. auch § 266 Rz. 4 f.).116 Leistungsbestandteil können beispielsweise die Lieferung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware, die Installation an sich oder die Softwarepflege sein.117 Selbst innerhalb eines Vertragstyps können Leistungen teilbar sein, z.B. wenn ein Softwareentwicklungsvertrag mehrere Module zum Gegenstand hat, die unabhängig voneinander genutzt werden können (§ 266 Rz. 8 f.).118 Demgegenüber sind Werkleistungen, bei denen ein einziger Erfolg geschuldet wird, unteilbar, auch wenn dazu mehrere Tätigkeiten erforderlich sind.119 Milestones bzw. Entwicklungsschritte sind daher nicht als Teilleistung anzusehen, selbst wenn diese dem Auftraggeber präsentiert werden und dieser den Auftragnehmer nach Projektfortschritt vergütet.120 Bei einer komplexen Individualsoftware ist regelmäßig keine Teilbarkeit der Leistung anzunehmen.121 Bei einer Gesamtlösung, die aus Hardware, Standardsoftware sowie individuell zu erstellender Spezialsoftware besteht, ist die Gesamtleistung teilbar, wenn die alleinige Nutzung der einzelnen Teile möglich ist.122 Wenn der Kunde jedoch Hardware trotz günstigerer Angebote Dritter beim Hersteller der Software kauft, damit er Hard- und Software aus einer Hand erhält, nimmt der BGH ein einheitliches (und damit per se unteilbares) Geschäft bei Lieferung von Hard- und Software an.123

42

Von der Frage der Teilbarkeit ist die Frage der technischen Funktionsfähigkeit zu unterscheiden. Wenn bei einem Vertrag über die Lieferung von Hard- und Software die Software nicht geliefert wird, liegt ein Fall der unvollständigen und nicht der mangelhaften Leistung vor, da die technische Funktionsfähigkeit der Hardware durch das Fehlen der Software nicht beeinträchtigt ist.124

43

Ob neben der Lieferung von Hard- und Software auch die Erstellung von Individualsoftware oder sonstige Anpassungen an die konkreten Bedürfnisse des Käufers bzw. Bestellers Bestandteil eines einheitlichen Geschäfts sind, ist regelmäßig durch Vertragsauslegung zu ermitteln. Wenn der Besteller das System nur zusammen mit den individuellen Anpassungen tatsächlich nutzen kann, ist im Zweifel ein einheitliches Geschäft anzunehmen.125

44

Nach der st. Rspr. des BGH stellen zwei an sich selbständige Vereinbarungen nur dann ein einheitliches Rechtsgeschäft dar, wenn nach den Vorstellungen der Vertragschließenden die Vereinbarungen nicht für sich allein gelten, sondern gemeinsam miteinander „stehen und fallen“ sollen (ausführlich zur Einheitlichkeit vgl. § 266 Rz. 9 ff.).126 Der Wille, ein einheitliches Geschäft vorzunehmen, wird vermutet, wenn sämtliche Regelungsgegenstände „in derselben Urkunde“, d.h. im selben Vertrag enthalten sind, „da es naheliegt, dass der Grund für die gleichzeitige Regelung verschiedener Gegenstände in ih-

114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126

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BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 58 ff.; vgl. BGH v. 21.1.2000 – V ZR 387/98, NJW 2000, 1256. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. Stögmüller, CR 2015, 424, 425 ff. Stögmüller, CR 2015, 424, 425 ff. OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 = ITRB 2014, 179; Stögmüller, CR 2015, 424, 425 ff. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161; Stögmüller, CR 2015, 424, 425 ff. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161; Stögmüller, CR 2015, 424, 425 ff. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 = ITRB 2014, 179; vgl. im Einzelnen auch Stögmüller, CR 2015, 424, 425 ff. BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, CR 1996, 467 ff. BGH v. 29.5.1991 – VIII ZR 125/90, CR 1991, 604 = Zahrnt, ECR, BGH 13. OLG Köln v. 4.11.2002 – 19 U 27/02, ZUM-RD 2003, 195 ff. = CR 2003, 246 für die EDV-mäßige Ausrüstung eines Kommissionierungslagers mit vollautomatischer Fördertechnik. BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358 m.w.N.

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Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung

Rz. 49 § 281 BGB

rem sachlichen Zusammenhang zueinander zu sehen ist“.127 Diese Vermutung ist widerlegt, wenn der Kauf eines handelsüblichen Computers und die Überlassung von Standardsoftware nur aus wirtschaftlichen Gründen beim selben Händler erfolgt.128 Denn sie besagt nichts darüber, dass der Fortbestand beider Geschäfte, die sich inhaltlich stark voneinander unterscheiden, auf Dauer in gegenseitiger Abhängigkeit bleiben sollte.129 Ob das Fehlen einer Hard- und/oder Softwaredokumentation ausreicht, um ein Interesse des Gläubigers an der übrigen Leistung abzulehnen, wird nach seiner Interessenslage beurteilt, im Fall des Leasings nach der Interessenslage des Leasingnehmers.130 Hier wird z.T. danach unterschieden, ob eine Wartung durch eine Drittfirma auch ohne die Dokumentation möglich ist, da sich sonst eine besondere Abhängigkeit von dem Lieferanten ergibt.131 Auch die Lieferung einer Dokumentation in englischer Sprache ist u.U. nicht ausreichend und der Verzug bei Lieferung der Dokumentation in deutscher Sprache kann den Gläubiger berechtigen, die gesamte Leistung abzulehnen.132

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Ein die Benutzung einer EDV-Anlage erst ermöglichendes Benutzerhandbuch ist eine für die Ge- 46 brauchsfähigkeit der Anlage wesentliche, wenn nicht unerlässliche Vertragsleistung; „das Benutzerhandbuch ist gleichsam Teil der Anlage, ohne den die Werkleistung nicht vollständig erbracht ist“.133 Eine Softwaredokumentation ist mangelhaft, wenn darin enthaltene Bildschirmdialoge in nennenswertem Umfang nicht (mehr) aktuell sind, nicht mit den im Programm vorhandenen Dialogen übereinstimmen oder gar nicht dokumentiert sind.134 Sie ist darüber hinaus mangelhaft, wenn ein Inhaltsverzeichnis fehlt oder sie den Anwender nicht in die Lage versetzt, die Software im Bedarfsfalle erneut oder auf einer anderen Anlage zu installieren.135 Im Übrigen hat der Pflegegläubiger einen Anspruch auf eine aktualisierte Software-Dokumentation bei jedem Update der Software.136 Da Maßstab die Nutzbarkeit der Software für den Anwender ist, können statt einem Benutzerhandbuch auch andere Formen der Benutzerhilfe als ausreichend angesehen werden, insb. Online-Hilfen, sofern sie in einer für den Anwender verständlichen Sprache verfügbar sind und im Hinblick auf Aktualität, Übersichtlichkeit und Verständlichkeit den Anforderungen der Rspr. an Benutzerhandbücher genügen. Die Beweislast für die Teilbarkeit trägt derjenige, der sich auf die Teilbarkeit beruft, die Beweislast für das mangelnde Interesse an der Teilleistung trägt der Gläubiger.137

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Grundsätzlich ist es möglich, die vorstehend dargestellten Rechtsfolgen durch abweichende Vereinbarungen auszuschließen, etwa in der Weise, dass ein Schadensersatzanspruch statt der Leistung im Hinblick auf bereits erfolgte Teilleistung ausgeschlossen ist. In Individualverträgen dürfte eine solche – für den Gläubiger nicht zu empfehlende – Regelung wirksam sein, in AGB ggü. Verbrauchern ist sie es nicht (zur Abdingbarkeit in Individualvereinbarungen und AGB vgl. § 266 Rz. 25).138 Ob eine solche Klausel im unternehmerischen Verkehr in AGB wirksam wäre, lässt das OLG Stuttgart offen, es ist aber zu bezweifeln.

48

cc) Mangelhafte Leistung Bei mangelhafter Leistung ist nach dem vorliegenden Vertragstyp zu unterscheiden – bei Kauf- und 49 Werkverträgen findet § 281 unmittelbar nur bis zum Gefahrübergang Anwendung, danach gilt § 281 aufgrund der Verweisungen in den §§ 437 Nr. 3 bzw. 634 Nr. 4. Beim Mietvertrag gilt § 281 nur vor 127 LG Karlsruhe v. 4.10.1990 – 12 U 30/90 zu einem EDV System mit auf spezielle Bedürfnisse des Kunden abgestellter Software, mit Verweis auf BGH v. 22.5.1970 – V ZR 130/67, BGHZ 54, 71, 72; BGH v. 4.7.1975 – I ZR 115/73, NJW 1976, 193; vgl. auch BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004 = CR 1987, 358. 128 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 129 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 130 Vgl. LG Köln v. 15.11.1994 – 82 O 165/93, LG 75 Nr. 175, ECR Lfg. 3, Juni 1995, S. 468 ff. 131 LG Köln v. 15.11.1994 – 82 O 165/93, LG 75 Nr. 175, ECR Lfg. 3, Juni 1995, S. 468 ff. 132 LG Köln v. 15.11.1994 – 82 O 165/93, LG 75 Nr. 175, ECR Lfg. 3, Juni 1995, S. 468 ff. 133 Vgl. BGH v. 3.11.1992 – X ZR 83/90, NJW 1993, 1063, 1064 = CR 1993, 352. 134 LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, MMR 2004, 356 = CR 2004, 177 = ITRB 2004, 173. 135 LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, MMR 2004, 356 = CR 2004, 177 = ITRB 2004, 173. 136 LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, MMR 2004, 356 = CR 2004, 177 = ITRB 2004, 173. 137 Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 39; Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 33. 138 Vgl. OLG Stuttgart v. 6.5.1995 – 2 U 275/93, CR 1995, 269 = Zahrnt ECR, OLG Stuttgart, 183.

Cording

493

BGB § 281 Rz. 49 Schadensersatz wegen nicht erbrachter Leistung Überlassung der Mietsache. Auf Dienstverträge, die keine Arbeitsverträge sind, findet § 281 Anwendung.139 Bei Softwarepflegeverträgen kann es für die Anwendung von § 281 – wie auch in vielerlei anderer Hinsicht140 – somit dahinstehen, ob es sich um einen Werk- oder Dienstvertrag handelt. 50

Bei mangelhafter Leistung kann der Gläubiger die mangelhafte Leistung behalten und verlangen, so gestellt zu werden, als wäre die Leistung ordnungsgemäß (sog. kleiner Schadensersatz).141 Der Schadensersatzanspruch richtet sich auf die Wertdifferenz zwischen der mangelfreien und der mangelhaften Sache oder den Kosten der Reparatur.142

51

Alternativ kann der Gläubiger die Sache dem Schuldner zur Verfügung stellen und Schadensersatz statt Leistung des gesamten Vertrags verlangen (sog. großer Schadensersatz); bei nur unerheblicher Pflichtverletzung ist der große Schadensersatz gem. § 281 Abs. 1 Satz 3 ausgeschlossen.

52

Unerheblich ist die Pflichtverletzung i.d.R., wenn die Leistungsfähigkeit um weniger als 5 % beeinträchtigt ist oder die Reparaturkosten weniger als 10 % des Kaufpreises betragen.143 Bei Arglist des Schuldners ist die Pflichtverletzung i.d.R. als erheblich anzusehen.144 b) Erlöschen des Leistungsanspruchs

53

Nach Ablauf der vom Gläubiger gesetzten Nachfrist bestehen der Erfüllungsanspruch und der Schadensersatzanspruch zunächst nebeneinander.145 Der Gläubiger kann weiterhin Erfüllung verlangen, ohne dass sein Schadensersatzanspruch dadurch erlischt. Auch eine erneute Fristsetzung ist nicht erforderlich. Mit der Leistung durch den Schuldner erlischt der Schadensersatzanspruch.

54

Verlangt der Gläubiger Schadensersatz statt der Leistung, erlischt der Leistungsanspruch, § 281 Abs. 4. Das Verlangen ist eine einseitige, empfangsbedürftige, unwiderrufliche und rechtsgestaltende Erklärung, die eindeutig sein muss.146

55

Der Schuldner soll dem Gläubiger nach h.M. für die Wahl zwischen Erfüllung und Schadensersatz statt der Leistung eine Frist setzen können. Abgeleitet wird dies aus einer analogen Anwendung von § 264 Abs. 2 oder von § 350 oder aus § 242.147 Der BGH hat hierüber noch nicht entschieden. 3. Beweislast

56

Der Gläubiger hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 281 zu beweisen, der Schuldner, dass er die Leistung erbracht hat.148 Hat der Gläubiger die Sache als Erfüllung angenommen, trägt er die Beweislast dafür, dass sie nicht vertragsgemäß war, ausgenommen im Fall des § 477.149 Bei gegenseitigen Verträgen ist der Gläubiger beweispflichtig, dass er die Gegenleistung erbracht oder ordnungsgemäß angeboten hat. Für das Nichtvertretenmüssen ist der Schuldner beweispflichtig, § 280 Abs. 1 Satz 2, ebenso für Ersparnisse, die vom Schadensersatz des Gläubigers abgezogen werden sollen.150

139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150

494

Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 44; vgl. auch BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 68. Vgl. Bartsch, NJW 2002, 1526 ff. LG Aachen v. 26.4.2005 – 12 O 493/04, NJW 2005, 2236; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 71. BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 71; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 45; BGH v. 26.1.1983 – VIII ZR 227/81, NJW 1983, 1424. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 47; Erman/Westermann, § 281 BGB Rz. 9. Vgl. BGH v. 24.3.2006 – V ZR 173/05, NJW 2006, 1960, 1961. BGH v. 20.1.2006 – V ZR 124/05, NJW 2006, 1198; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 14. Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 14 f.; MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 98 f. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 51 m.w.N. MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 190; Jauernig/Stadler, § 281 BGB Rz. 33. BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 78; Palandt/Grüneberg, § 281 BGB Rz. 53. BGH v. 17.7.2001 – X ZR 71/99, NJW 2001, 3535; BeckOK BGB/Lorenz, § 281 Rz. 79.

Cording

Schadensersatz wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2

Rz. 2 § 282 BGB

III. Abdingbarkeit 1. Individualvereinbarungen § 281 ist dispositives Recht. Durch Individualvereinbarung kann das Erfordernis einer Nachfristsetzung aufgehoben, für die Nachfrist eine bestimmte Dauer vereinbart, für die Nachfristsetzung eine bestimmte Form vorgesehen oder das Erfordernis einer Ablehnungsandrohung in Anlehnung an § 326 a.F. vereinbart werden.151

57

2. AGB Abänderungen durch AGB unterliegen zahlreichen Beschränkungen, vor allem im nicht unternehme- 58 risch geprägten Bereich; zu beachten sind insbesondere die §§ 307 Abs. 2, 308 Nr. 2, 309 Nr. 4, 309 Nr. 7 und 309 Nr. 13. Die Zulässigkeit, das Erfordernis einer Ablehnungsandrohung in AGB zu vereinbaren, ist abhängig vom Einzelfall und an § 307 Abs. 2 zu messen. Sofern für den Schuldner in der konkreten Vertragsbeziehung ein greifbareres Bedürfnis nach einer Ablehnungsandrohung besteht, sollte diese auch in AGB vereinbart werden können.152

§ 282 Schadensersatz statt der Leistung wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 Verletzt der Schuldner eine Pflicht nach § 241 Abs. 2, kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen, wenn ihm die Leistung durch den Schuldner nicht mehr zuzumuten ist. I. Allgemeines – Verhältnis zu §§ 280, 281 . . .

1

2. Rechtsfolgen und Beweislast . . . . . . . . . . .

4

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . .

3 3

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Literatur: Es wird auf das Literaturverzeichnis der Kommentierung zu § 276 verwiesen.

I. Allgemeines – Verhältnis zu §§ 280, 281 § 282 wird z.T. als überflüssig angesehen, da der Schuldner, der § 241 Abs. 2 verletzt, „nicht wie ge- 1 schuldet“ leistet und damit auch den Tatbestand des § 281 Abs. 1 Satz 1 erfüllt.1 Zudem gibt es unterschiedliche Ansichten zum Nebeneinander von § 281 und § 282, die praktisch aber ohne Bedeutung sind, da beide Normen zum gleichen Anspruch führen.2 Folge einer Verletzung von § 241 Abs. 2, z.B. einer Verletzung von Eigentum des Gläubigers im Rahmen des Ausführens von Werkleistungen, ist regelmäßig ein Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 geltend zu machen. Nur ausnahmsweise besteht daneben ein Schadensersatzanspruch statt der Leistung (§ 281).3

151 152 1 2 3

MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 169; Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 206. MünchKomm/Ernst, § 281 BGB Rz. 170; Staudinger/Schwarze, § 281 BGB Rz. B 207 ff. Erman/Westermann, § 282 BGB Rz. 1. Vgl. im Einzelnen Palandt/Grüneberg, § 282 BGB Rz. 1 f. HK-BGB/Schulze, § 282 Rz. 1; vgl. auch Erman/Westermann, § 282 BGB Rz. 1.

Cording

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2

BGB § 282 Rz. 3 Schadensersatz wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2

II. Norminhalt 1. Anspruchsvoraussetzungen 3

Neben der Verletzung einer Pflicht aus § 241 Abs. 2 und den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 muss dem Gläubiger die Leistung durch den Schuldner unzumutbar sein. Letzteres erfordert eine Abwägung der beiderseitigen Interessen4 und setzt i.d.R. voraus, dass der Schuldner abgemahnt worden ist.5 Nur in besonders schweren Fällen kann entsprechend § 281 Abs. 2 Alt. 2 auf die Abmahnung verzichtet werden.6 Eine Fristsetzung ist dagegen nicht erforderlich.7 2. Rechtsfolgen und Beweislast

4

Die Rechtsfolgen richten sich nach § 281.8 Der Gläubiger ist für alle Voraussetzungen des § 282 beweispflichtig, der Schuldner hat das fehlende Verschulden zu beweisen.9

III. Abdingbarkeit 5

§ 282 ist grundsätzlich dispositives Recht.10 Da die Haftung aus § 280 Verschulden voraussetzt, gelten insoweit die gleichen Regeln und Einschränkungen wie bei § 276. Insbesondere kann die Haftung für Vorsatz im Voraus auch nicht dadurch ausgeschlossen werden, dass § 280 statt § 276 abbedungen wird.11

§ 283 Schadensersatz statt der Leistung bei Ausschluss der Leistungspflicht Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen. § 281 Abs. 1 Satz 2 und 3 und Abs. 5 findet entsprechende Anwendung. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Rechtsfolgen und Beweislast . . . . . . . . . .

4

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . .

3 3

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Literatur: Es wird auf das Literaturverzeichnis der Kommentierung zu § 276 verwiesen.

I. Allgemeines 1

§ 283 wird wie § 282 zum Teil als überflüssig angesehen, da der Gläubiger i.d.R. nicht weiß, weshalb der Schuldner nicht leistet und auch im Fall des § 275 nach § 281 vorgehen kann. Wenn der Schuldner sich auf § 275 beruft, muss er neben den Voraussetzungen des § 275 beweisen, dass er die

4 5 6 7 8 9 10 11

OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, NJW-RR 2013, 1136 = CR 2013, 214. BGH v. 19.10.1977 – VIII ZR 42/67, NJW 1978, 260. Palandt/Grüneberg, § 282 BGB Rz. 4; BeckOK BGB/Lorenz, § 282 Rz. 3. BGH v. 19.10.1977 – VIII ZR 42/67, NJW 1978, 260. Palandt/Grüneberg, § 282 BGB Rz. 6; Jauernig/Stadler, § 282 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 282 BGB Rz. 7; Jauernig/Stadler, § 282 BGB Rz. 8. MünchKomm/Ernst, § 282 BGB Rz. 13. MünchKomm/Ernst, § 282 BGB Rz. 13.

496

Cording

§ 284 BGB

Ersatz vergeblicher Aufwendungen

Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Misslingt ihm dies, kann der Gläubiger nach § 281 oder § 283 vorgehen, was jeweils zum gleichen Ergebnis führt.1 § 283 gilt für alle vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse, ist aber nur anwendbar, wenn das zum Wegfall der Leistungspflicht führende Hindernis nach Begründung des Schuldverhältnisses entstanden ist, sonst gilt § 311a Abs. 2.2

2

II. Norminhalt 1. Anspruchsvoraussetzungen Der Schuldner muss kraft Gesetz (§ 275 Abs. 1) oder kraft einer von ihm erhobenen Einrede (§ 275 Abs. 1 oder 2) von einer Haupt- oder Nebenleistungspflicht frei geworden sein und der Schuldner muss dies zu vertreten haben.3 Bei quantitativ oder qualitativ unvollständigen Leistungen finden gem. Satz 2 § 281 Abs. 1 Sätze 2 und 3 entsprechende Anwendung.

3

2. Rechtsfolgen und Beweislast Der Inhalt des Schadensersatzanspruches richtet sich nach den Grundsätzen des § 281.4 Daneben kann der Gläubiger gem. § 285 das Surrogat verlangen, das an die Stelle der nicht mehr zu erbringenden Leistung getreten ist.

4

Der Gläubiger ist für alle Voraussetzungen des § 283 beweispflichtig, der Schuldner hat das fehlende Verschulden zu beweisen, § 280 Abs. 1 Satz 2.

5

III. Abdingbarkeit Im Hinblick auf die Abdingbarkeit gelten die Ausführungen zu § 280, auf den § 283 verweist.5

6

§ 284 Ersatz vergeblicher Aufwendungen Anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung kann der Gläubiger Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung gemacht hat und billigerweise machen durfte, es sei denn, deren Zweck wäre auch ohne die Pflichtverletzung des Schuldners nicht erreicht worden. I. Allgemeines – Verhältnis zu § 281, Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolge und Beweislast . . . . . . . . . . . .

5 5 9

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Individualvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Literatur: Bartsch, Softwarepflege nach neuem Schuldrecht, NJW 2002, 1526; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215.

1 2 3 4 5

Vgl. im Einzelnen Palandt/Grüneberg, § 283 BGB Rz. 1 f. OLG Karlsruhe v. 14.9.2004 – 8 U 97/04, NJW 2005, 989; MünchKomm/Ernst, § 283 BGB Rz. 3. HK-BGB/Schulze, § 283 Rz. 2; Jauernig/Stadler, § 283 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 283 BGB Rz. 6; Jauernig/Stadler, § 283 BGB Rz. 8. MünchKomm/Ernst, § 283 BGB Rz. 27.

Cording

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BGB § 284 Rz. 1 Ersatz vergeblicher Aufwendungen

I. Allgemeines – Verhältnis zu § 281, Anwendungsbereich 1

Nach § 281 (vgl. dort die Rentabilitätsvermutung) kann der Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs statt der Leistung den Ersatz vergeblicher Aufwendungen nur verlangen, wenn er bei Abwicklung des Vertrags Vorteile erlangt hätte, die seine Aufwendungen ausgeglichen hätten. Bei dem Anspruch aus § 284 entfällt diese Voraussetzung, so dass ein Aufwendungsersatzanspruch auch besteht, wenn der Vertrag zu ideellen Zwecken geschlossen wurde.1

2

§ 284 ist nur auf den Schadensersatz statt der Leistung anwendbar, der seiner Natur nach auf das positive Interesse gerichtet ist.2 Hat der Gläubiger einen Anspruch auf das negative Interesse, kann er unabhängig von den Voraussetzungen des § 284 seine vergeblichen Aufwendungen verlangen.3

3

§ 284 gilt für alle vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnisse und sowohl für die Nicht- wie die Schlechtleistung.4

4

Im Bereich des IT-Rechts können sich Ansprüche aus § 284 beispielsweise aus der Anschaffung von Hard- oder Software, der Anmietung von Stellflächen oder anderen Räumlichkeiten oder auch der Beauftragung von Beratern zur Unterstützung bei dem vertragsgegenständlichen IT-Projekt ergeben.5

II. Norminhalt 1. Anspruchsvoraussetzungen 5

Es müssen sämtliche Voraussetzungen eines Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung (§§ 280 Abs. 1–3, 281–283, 311a Abs. 2) vorliegen.6 Darüber hinaus muss der Gläubiger vergebliche Aufwendungen getätigt haben. Aufwendungen sind im Hinblick auf den Erhalt der Leistung freiwillig erbrachte Vermögensopfer, z.B. Finanzierungskosten, eigene Arbeitsleistungen des Gläubigers, soweit diese einen Marktwert haben,7 Vertragskosten wie Montage-, Untersuchungs- und Transportkosten, nicht aber Montagekosten im Rahmen der Nacherfüllung8 oder die vom Gläubiger im Rahmen des Vertrages erbrachte Gegenleistung.9

6

Vergeblich sind die Aufwendungen, z.B. für Zubehör, insb. dann, wenn der Käufer oder Besteller die Sache zurückgibt oder diese nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann.10 Wurde das Zubehör bis zur Rückgabe der Sache genutzt, mindert sich der Anspruch um eine Nutzungsvergütung.11 Entsprechendes gilt nach dem Grundsatz der Vorteilsausgleichung für andere Vorteile.12

7

Die Aufwendungen müssen im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung getätigt worden sein. Regelmäßig trifft dies nur auf Aufwendungen nach Vertragsschluss zu.13 Wird ein schwebend unwirksamer Vertrag genehmigt, gilt § 284 aber auch für Aufwendungen während der Schwebezeit.14 Die Ersatzpflicht entfällt, wenn die Aufwendungen in einem offensichtlichen Missverhältnis zur Bedeutung der

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 1; MünchKomm/Ernst, § 284 BGB Rz. 5. BT-Drucks. 14/6040, 144. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 2 und Vorb. vor § 249 BGB Rz. 17. Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/Lorenz, § 284 Rz. 2. Schuster, CR 2011, 215, 218. Jauernig/Stadler, § 284 BGB Rz. 3; BGH v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07, NJW 2008, 2837 = CR 2008, 617 m. Anm. Redeker. Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 284 Rz. 11–14; Palandt/Grüneberg, Vorb. vor § 249 BGB Rz. 44. BGH v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07, NJW 2008, 2837 = CR 2008, 617 m. Anm. Redeker. Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 5; BeckOK BGB/Lorenz, § 284 Rz. 22; a.A. Bartsch, NJW 2002, 1526 ff. Fn. 52, wonach die bei der Softwarepflege gezahlte Pflegevergütung Aufwand i.S.d. § 284 sei. BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04, NJW 2005, 2848. BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04, NJW 2005, 2848. BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04, NJW 2005, 2848, 2850; vgl. dazu Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 5 und Vorb. vor § 249 BGB Rz. 67 ff. BeckOK BGB/Lorenz, § 284 Rz. 15; Jauernig/Stadler, § 284 BGB Rz. 5. BGH v. 26.3.1999 – V ZR 364-97, NJW 1999, 2269.

498

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§ 285 BGB

Herausgabe des Ersatzes

Leistung stehen.15 Die Ersatzpflicht entfällt auch, wenn die Aufwendungen aus anderen Gründen als der Nicht- oder Schlechtleistung des Schuldners fehlgeschlagen sind, z.B. wenn ein mit Gewinnerzielungsabsicht geschlossenes Geschäft ein Verlustgeschäft war, das nicht einmal die Aufwendungen gedeckt hätte oder wenn das erworbene Zubehör durch ein anderes Ereignis zerstört worden ist.16 Eine Kombination des Anspruchs aus § 284 mit einem Anspruch aus § 281 ist ausgeschlossen, da der Anspruch aus § 284 nur „anstelle“ des Schadensersatzspruchs statt der Leistung geltend gemacht werden kann.17 Ist die Leistung abgrenzbar oder teilbar, so ist dem Gläubiger zu gestatten, hinsichtlich des einen Teils Schadensersatz statt der (Teil-)Leistung, hinsichtlich des anderen Teils Ersatz seiner nutzlos gewordenen Aufwendungen zu verlangen.18

8

2. Rechtsfolge und Beweislast Zu ersetzen sind die vergeblichen Aufwendungen, nicht das negative Interesse.19 Nicht erfasst ist damit insb. entgangener Gewinn.20 Der Gläubiger ist für alle Voraussetzungen des § 284 beweispflichtig, der Schuldner hat das fehlende Verschulden, die Unverhältnismäßigkeit der Aufwendungen und das unabhängig von der Pflichtverletzung eingetretene Fehlschlagen der Aufwendungen zu beweisen.21

9

III. Abdingbarkeit 1. Individualvertrag § 284 kann individualvertraglich modifiziert und sogar vollständig abbedungen werden. Der Gläubiger ist dann auf die Geltendmachung der allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätze (s. Rz. 1 zur sog. Rentabilitätsvermutung) beschränkt und verzichtet damit ggf. auf einen Ausgleich für immateriellen Verlust.22

10

2. AGB Die Möglichkeit des Abbedingens von § 284 in AGB ist umstritten. Während z.T. selbst für den nicht unternehmerisch geprägten Verkehr eine weitgehende Zulässigkeit des Abbedingens von § 284 in AGB für zulässig gehalten wird23, wird von anderer Seite auch für den unternehmerisch geprägten Verkehr eine weitgehende Beschränkung der Abdingbarkeit von § 284 befürwortet.24

§ 285 Herausgabe des Ersatzes (1) Erlangt der Schuldner infolge des Umstands, auf Grund dessen er die Leistung nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu erbringen braucht, für den geschuldeten Gegenstand einen Ersatz oder einen Ersatzanspruch, so kann der Gläubiger Herausgabe des als Ersatz Empfangenen oder Abtretung des Ersatzanspruchs verlangen.

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 6; Jauernig/Stadler, § 284 BGB Rz. 6. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 7; Jauernig/Stadler, § 284 BGB Rz. 7. MünchKomm/Ernst, § 284 BGB Rz. 33; Prütting u.a./Schmidt-Kessel/Kramme, § 284 BGB Rz. 5. Staudinger/Schwarze, § 284 BGB Rz. 15; MünchKomm/Ernst, § 284 BGB Rz. 34, 36. Erman/Westermann, § 284 BGB Rz. 1. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 8; Jauernig/Stadler, § 284 BGB Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 284 BGB Rz. 9; vgl. auch MünchKomm/Ernst, § 284 BGB Rz. 45 ff. MünchKomm/Ernst, § 284 BGB Rz. 42; Staudinger/Schwarze, § 284 BGB Rz. 72. Vgl. MünchKomm/Ernst, § 284 BGB Rz. 42. Vgl. Staudinger/Schwarze, § 284 BGB Rz. 73 f.

Cording

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11

BGB § 285 Rz. 1 Herausgabe des Ersatzes (2) Kann der Gläubiger statt der Leistung Schadensersatz verlangen, so mindert sich dieser, wenn er von dem in Absatz 1 bestimmten Recht Gebrauch macht, um den Wert des erlangten Ersatzes oder Ersatzanspruchs. I. Allgemeines – Rechtsnatur, Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

1 2 2 5

3. Anrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verjährung und Beweislast . . . . . . . . . . .

6 7

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Literatur: Es wird auf das Literaturverzeichnis der Kommentierung zu § 276 verwiesen.

I. Allgemeines – Rechtsnatur, Anwendungsbereich 1

§ 285 ist weder ein Schadensersatz- noch ein Bereicherungsanspruch, sondern ein schuldrechtlicher Ausgleichsanspruch eigener Art.1 Er ist unabhängig vom Rechtsgrund auf alle schuldrechtlichen Ansprüche anzuwenden, z.B. auch auf unerlaubte Handlungen, GoA, Rücktritt, die Haftung des Verkäufers für Mängel der Kaufsache sowie die Beschädigung einer Sache vor Gefahrübergang,2 nicht aber auf § 985.3

II. Norminhalt 1. Anspruchsvoraussetzungen 2

Der ursprüngliche Anspruch muss auf die Leistung eines Gegenstandes gerichtet sein; nicht auf eine Handlung oder Unterlassung.4 § 285 gilt daher grundsätzlich nicht für Werk- und Dienstverträge; eine Herausgabepflicht kann sich aber aus einer ergänzenden Vertragsauslegung ergeben.5 § 285 gilt nur für Stückschulden, nicht für Gattungsschulden. Für Vorratsschulden gilt § 285 nur dann, wenn der Grund für den Ausschluss der Leistungspflicht den gesamten Vorrat betrifft.6 Der ursprüngliche Anspruch muss zudem auf die Verschaffung von Eigentum und nicht lediglich auf Besitz gerichtet sein, so dass § 285 auf Mietverhältnisse keine Anwendung findet; begründet wird dies mit der erforderlichen Identität zwischen dem Gegenstand, der nicht mehr geleistet werden kann und dem, für den der Schuldner Ersatz erlangt hat.7

3

Der Schuldner muss von seiner Leistungspflicht gem. § 275 ganz oder teilweise frei geworden sein. § 285 gilt unabhängig davon, ob das Leistungshindernis erst nach Vertragsschluss eingetreten ist oder schon vorher bestand, z.B. die verkaufte Sache schon vor Vertragsschluss zerstört wurde.8 Ebenso kommt es nicht darauf an, wer das Leistungshindernis zu vertreten hat.9

4

Der Schuldner muss aufgrund des Umstandes, der zum Wegfall der Leistungspflicht geführt hat, ein Surrogat für den geschuldeten Gegenstand oder einen Anspruch auf Ersatz wirklich erlangt haben.10 Erforderlich ist ein adäquater Ursachenzusammenhang.11 Beispiele sind der Schadensersatzanspruch gegen Dritte wegen Zerstörung der verkauften Sache oder der Anspruch auf die Versicherungssum1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Jauernig/Stadler, § 285 BGB Rz. 1, 10. BGH v. 10.3.1995 – V ZR 7/94, BGHZ 129, 103. HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 3 f. HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 3; Jauernig/Stadler, § 285 BGB Rz. 5. OLG Dresden v. 20.8.1997 – 12 U 1040/97, NJW-RR 1998, 373; BeckOK BGB/Lorenz, § 285 Rz. 7. RG v. 18.2.1919 – II 369/18, RGZ 95, 23; HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 3. Vgl. Jauernig/Stadler, § 285 BGB Rz. 9; Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 8. MünchKomm/Emmerich, § 285 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 6. BGH v. 21.5.1987 – IX ZR 77/86, WM 1987, 988; Staudinger/Caspers, § 285 BGB Rz. 28. BGH v. 8.3.1991 – V ZR 351/89, BGHZ 114, 39. BGH v. 10.2.1988 – IV a ZR 249/86, NJW-RR 1988, 903; HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 6.

500

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Herausgabe des Ersatzes

Rz. 9 § 285 BGB

me.12 Ausreichend ist aber auch das sog. rechtsgeschäftliche Surrogat, z.B. das vom Schuldner durch Verkauf an einen Dritten erzielte Entgelt.13 2. Rechtsfolgen Der Gläubiger kann das Surrogat auch dann herausverlangen, wenn es einen höheren Wert hat als die nicht erbrachte Leistung.14 Da der Anspruch auf dem ursprünglichen Anspruch beruht, haften Bürgen des Primäranspruchs auch für den Anspruch aus § 285.15 Die Herausgabepflicht erstreckt sich auch auf gezogene Nutzungen.16 Eigene Aufwendungen darf der Schuldner nur abziehen, wenn ihm ein Anspruch aus GoA oder § 812 zusteht;17 bei einer Tätigkeit im Rahmen des eigenen Gewerbebetriebs ist auch ein Entgelt für die von ihm geleisteten Arbeiten anzusetzen.18

5

3. Anrechnung Die gem. § 285 Abs. 2 vorgesehene Anrechnung auf einen etwaigen Schadensersatzanspruch statt der Leistung erfolgt nicht, wenn sich die als Surrogat erlangte Forderung als nicht durchsetzbar erweist.19 Für die Gegenleistung gilt § 326 Abs. 3.20

6

4. Verjährung und Beweislast Der Anspruch aus § 285 unterliegt der gleichen Verjährungsfrist wie der ursprüngliche Erfüllungsanspruch.21 Die Verjährung beginnt mit der Erlangung des Surrogats durch den Schuldner und der erforderlichen Kenntnis des Gläubigers und nicht bevor der Ersatzanspruch entstanden ist und der Anspruch aus § 285 erstmals geltend gemacht werden konnte.22 Die Geltendmachung des Anspruchs ist keine Voraussetzung für den Verjährungsbeginn.23 Die Verjährung des Anspruchs wird durch die Klage auf Leistung gehemmt.24

7

Der Gläubiger muss beweisen, dass der Schuldner einen Ersatz oder einen Ersatzanspruch erlangt hat; gelingt ihm dies, steht ihm wegen der Höhe ein Auskunftsanspruch zu.25

8

III. Abdingbarkeit § 285 ist durch Individualvereinbarung abdingbar. Im Fall eines Abbedingens von § 285 durch AGB wird eine entsprechende Anwendung des § 309 Nr. 7 und Nr. 8 lit. b vertreten, da es „wegen des hohen Gerechtigkeitsgehalts des § 285 … nicht zugelassen werden (könne), dass Klauselverwender dem anderen Teil das Wahlrecht des § 285 aus der Hand schlagen“.26

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

BGH v. 10.3.1995 – V ZR 7/94, BGHZ 129, 103. BGH v. 15.10.2004 – V ZR 100/04, NJW-RR 2005, 241; Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 7. MünchKomm/Emmerich, § 285 BGB Rz. 30; Jauernig/Stadler, § 285 BGB Rz. 11. Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 9; BeckOK BGB/Lorenz, § 285 Rz. 19. BGH v. 27.10.1982 – V ZR 24/82, NJW 1983, 930. BGH v. 7.2.1997 – V ZR 107/96, MDR 1997, 540, 542. Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 9; BeckOK BGB/Lorenz, § 285 Rz. 15. HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 11; MünchKomm/Emmerich, § 285 BGB Rz. 37. Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 11; HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 11. BGH v. 10.2.1988 – IVa ZR 249/86, NJW-RR 1988, 902, 904; Staudinger/Schwarze, § 285 BGB Rz. 53; MünchKomm/Emmerich, § 285 BGB Rz. 33. BGH v. 10.2.1988 – IV a ZR 249/86, NJW-RR 1988, 902; Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 12; MünchKomm/ Emmerich, § 285 BGB Rz. 33 m.w.N. Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 12; HK-BGB/Schulze, § 285 Rz. 9. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 12 m.w.N. MünchKomm/Emmerich, § 285 BGB Rz. 39; Palandt/Grüneberg, § 285 BGB Rz. 13. MünchKomm/Emmerich, § 285 BGB Rz. 38.

Cording

501

9

BGB § 286 Rz. 1 Verzug des Schuldners

§ 286 Verzug des Schuldners (1) Leistet der Schuldner auf eine Mahnung des Gläubigers nicht, die nach dem Eintritt der Fälligkeit erfolgt, so kommt er durch die Mahnung in Verzug. Der Mahnung stehen die Erhebung der Klage auf die Leistung sowie die Zustellung eines Mahnbescheids im Mahnverfahren gleich. (2) Der Mahnung bedarf es nicht, wenn 1. für die Leistung eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist, 2. der Leistung ein Ereignis vorauszugehen hat und eine angemessene Zeit für die Leistung in der Weise bestimmt ist, dass sie sich von dem Ereignis an nach dem Kalender berechnen lässt, 3. der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert, 4. aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der sofortige Eintritt des Verzugs gerechtfertigt ist. (3) Der Schuldner einer Entgeltforderung kommt spätestens in Verzug, wenn er nicht innerhalb von 30 Tagen nach Fälligkeit und Zugang einer Rechnung oder gleichwertigen Zahlungsaufstellung leistet; dies gilt gegenüber einem Schuldner, der Verbraucher ist, nur, wenn auf diese Folgen in der Rechnung oder Zahlungsaufstellung besonders hingewiesen worden ist. Wenn der Zeitpunkt des Zugangs der Rechnung oder Zahlungsaufstellung unsicher ist, kommt der Schuldner, der nicht Verbraucher ist, spätestens 30 Tage nach Fälligkeit und Empfang der Gegenleistung in Verzug. (4) Der Schuldner kommt nicht in Verzug, solange die Leistung infolge eines Umstands unterbleibt, den er nicht zu vertreten hat. (5) Für eine von den Absätzen 1 bis 3 abweichende Vereinbarung über den Eintritt des Verzugs gilt § 271a Absatz 1 bis 5 entsprechend. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung und Rechtsnatur . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich und Abdingbarkeit . . . II. 1. 2. 3. 4.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsvoraussetzungen . . . . . Mitwirkung des Gläubigers . . . . . . . Mahnung (§ 286 Abs. 1) . . . . . . . . Verzug ohne Mahnung (§ 286 Abs. 2) .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

1 1 3 5 5 10 16 20

5. 6. 7. 8. 9.

Verzug bei Entgeltforderungen (§ 286 Abs. 3) Vertretenmüssen (§ 286 Abs. 4) . . . . . . . . Dauer des Verzuges . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 28 30 31 37

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Individualvereinbarungen . . . . . . . . . . . . 2. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 38 39

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Bartsch, Softwarepflege nach neuem Schuldrecht, NJW 2002, 1526; Lehmann/Meents (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Informationstechnologierecht, 2. Aufl. 2011; Lutz/Weigl, Second Generation IT-Outsourcing, CR 2014, 629; Redeker, ITRecht, 6. Aufl. 2017.

I. Allgemeines 1. Einführung und Rechtsnatur 1

Verzug liegt vor, wenn der Schuldner die noch mögliche Leistung aus einem von ihm zu vertretenden Grund verzögert.1 § 286 regelt mithin den Schuldnerverzug, nicht den Gläubigerverzug.2 In den Fällen der §§ 433 Abs. 2, 640 Abs. 1, in denen der Gläubiger zur Abnahme verpflichtet ist, gerät der Gläubiger durch die Nichtabnahme aber sowohl in Gläubiger- als auch in Schuldnerverzug.3

1 HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 1; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 2. 2 HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 1; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 5. 3 Vgl. MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 5.

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Verzug des Schuldners

Rz. 7 § 286 BGB

§ 286 ist keine Anspruchsgrundlage. Die Haftungsanordnung ist in § 280 Abs. 1 enthalten.4 Der An- 2 spruch auf Verzögerungsschaden gem. § 280 Abs. 1 besteht nach § 280 Abs. 2 aber nur, wenn zusätzlich die Voraussetzungen des § 286 erfüllt sind. Die bloße Nichterfüllung ist zwar eine Pflichtverletzung, begründet für sich allein aber noch keine Schadensersatzpflicht. Für den Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung hat § 286 (anders als vor der Schuldrechtsreform) keine Bedeutung.5 2. Anwendungsbereich und Abdingbarkeit Die §§ 286 ff. gelten für alle Schuldrechtsverhältnisse, auch solche die aus Sachen-, Familien- oder 3 Erbrecht entstehen.6 Verzögerungen im Zahlungsverkehr i.S.d. § 675s werden gem. § 675z durch § 675y abschließend geregelt.7 Die §§ 286 ff. sind grundsätzlich dispositiv, es sind aber die Grenzen der §§ 271a, 286 Abs. 5, 288 Abs. 6 sowie bei AGB §§ 308 Nr. 1 bis 2, 309 Nr. 4, 5a, 7 und die Generalklausel des § 307 zu beachten.8

4

II. Norminhalt 1. Anwendungsvoraussetzungen Der Anspruch muss durchsetzbar und fällig sein.9 Das Bestehen einer Einrede schließt den Verzug auch dann aus, wenn der Schuldner sie zunächst nicht erhebt.10 Das Zurückbehaltungsrecht schließt den Verzug nur aus, wenn es vor oder bei Eintritt der Verzugsvoraussetzungen ausgeübt wird, da der Gläubiger Gelegenheit haben muss, von seiner Abwendungsbefugnis (§ 273 Abs. 3) Gebrauch zu machen.11 Auch das Leistungsverweigerungsrecht des § 410 Abs. 1 Satz 1 hindert den Verzug nur, wenn es geltend gemacht wird.12

5

Die Erbringung der Leistung muss noch möglich sein. Bei Unmöglichkeit und in den Fällen des § 275 Abs. 2 und 3 ist Verzug ausgeschlossen.13 Vorübergehende, vom Schuldner zu vertretende Leistungshindernisse begründen dagegen Verzug.14 Die Abgrenzung zwischen vorübergehenden und dauernden Leistungshindernissen ist nicht immer einfach und unter Berücksichtigung des Vertragszwecks und der Belange der Parteien nach Treu und Glauben zu beurteilen.15 Beim absoluten Fixgeschäft begründet die Nichteinhaltung der Leistungszeit Unmöglichkeit.16 Bei Unterlassungspflichten begründet ein Verstoß i.d.R. Unmöglichkeit, bei Dauerunterlassungspflichten Teilunmöglichkeit.17

6

Bei vielen Dauerverpflichtungen führt die Nichteinhaltung der Leistungszeit zu Teilunmöglichkeit, wenn die Leistung für einen vergangenen Zeitraum nicht nachholbar ist.18 Für Verträge über Softwarepflege kann dies aber nicht gelten, da hier das Interesse an der in der Vergangenheit versäumten Leistung weiterhin besteht – der vorhandene Fehler kann noch immer beseitigt werden, das neue Patch kann noch immer eingespielt werden.19

7

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 3; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 3; Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 4. BGH v. 30.11.1983 – IVb ZR 31/82, NJW 1984, 868; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 7 ff. Zu weiteren Einzelheiten der Anwendbarkeit der §§ 286 ff. vgl. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 4 f. MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 17 f.; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 7; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 22. Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 13; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 4. BGH v. 16.3.1988 – VIII ZR 184/87, BGHZ 104, 11; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 13. BGH v. 4.7.2014 – V ZR 229/13, NJW 2014, 3727; Prütting u.a./Schmidt-Kessel/Kramme, § 286 BGB Rz. 8. BGH v. 24.11.2006 – LwZR 6/05, NJW 2007, 1269; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 11. BGH v. 16.9.1987 – IVb ZR 27/86, NJW 1988, 251, 252; Prütting u.a./Schmidt-Kessel/Kramme, § 286 BGB Rz. 9; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 21. Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 4; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 5. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 275 BGB Rz. 10 ff.; Jauernig/Stadler, § 275 BGB Rz. 10. MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 42; Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 5. Vgl. Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 8; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 12. Vgl. MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 44; Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 6. Vgl. Bartsch, NJW 2002, 1526, 1529.

Cording

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BGB § 286 Rz. 8 Verzug des Schuldners 8

Die Forderung muss fällig sein, vgl. §§ 271, 271a. Die Stundung der Forderung beseitigt die Fälligkeit, nicht dagegen die Abrede, aus einem Titel zeitweilig nicht zu vollstrecken.20

9

Schließlich darf der Schuldner die Leistung nicht oder nicht rechtzeitig erbracht haben. 2. Mitwirkung des Gläubigers

10

Ist zur Vornahme der Leistung eine Mitwirkung des Gläubigers erforderlich, kommt der Schuldner nur in Verzug, wenn der Gläubiger die Mitwirkungsleistung erbringt oder anbietet.21 Entsprechendes gilt für die Erteilung von Auskünften. Der Auftragnehmer kann verlangen, dass der Besteller Auskünfte schriftlich gibt, damit diese als verlässliche Arbeitsgrundlage genutzt werden können.22

11

Der Schuldner kommt nicht in Verzug, wenn die Leistung ohne sein Verschulden aus auf den Gläubiger zurückzuführenden Gründen nicht zur vorgesehenen Leistungszeit erbracht werden kann.23 Dabei kommt es ausschließlich auf Umstände an, die in dem Zeitpunkt vorlagen, zu dem alle objektiven Verzugsvoraussetzungen vorliegen.24 Der Gläubigerverzug schließt den Schuldnerverzug aus.25 Soweit der Gläubiger zur Mitwirkung verpflichtet ist, ist er insoweit Schuldner, so dass er etwa durch die Ablehnung der Ware beim Werkvertrag nicht nur in Gläubigerverzug, sondern zugleich auch in Schuldnerverzug gerät.26 Im Streitfall ist der Gläubiger dafür beweispflichtig, dass er eine ihm obliegende Mitwirkungshandlung vorgenommen hat.27 Im Bereich von IT-Projekten kann es indes dazu kommen, dass der Gläubigerverzug nur während eines quantifizierbaren Zeitraums (z.B. vier Wochen) bzw. nur bezüglich eines abgrenzbaren Vertragsteils (z.B. fehlende Mitwirkung bezüglich einer mobilen Zusatzapplikation oder eines Moduls) vorliegt. In diesen Fällen stellt sich die Frage, inwieweit der Schuldner trotz bestehenden Gläubigerverzugs überhaupt in Verzug geraten kann. Grundsätzlich ist der Schuldnerverzug nur während des Zeitraums des Gläubigerverzugs bzw. für den abgrenzbaren Teil, der aufgrund des Verschuldens des Gläubigers verzögert ist, ausgeschlossen. Nimmt der Gläubiger die erforderliche Mitwirkungsleistung – wenn auch verspätet – vor, so kann der Schuldner, sofern die Voraussetzungen des § 286 vorliegen, wiederum in Schuldnerverzug geraten. Sollte sich der Gläubigerverzug lediglich auf einen abgrenzbaren Teil des Vertrags beziehen, der unabhängig von der Umsetzung des übrigen Vertrags ist, so ist der Schuldnerverzug im verbleibenden vertraglichen Pflichtenkreis möglich.

12

Im IT-Bereich findet sich zur Frage unterlassener Mitwirkungshandlungen nur ältere Rspr. Nach Auffassung des OLG Köln aus dem Jahr 1992 fehlt es in Fällen fehlender Gläubigermitwirkung an dem für den Schuldnerverzug erforderlichen Verschulden des Schuldners („doctrine of clean hands“).28 Konkret ging es um einen Programmierer, der die ihm in Auftrag gegebene Software nicht termingerecht fertigstellte, da der Auftraggeber einer ihm obliegenden Mitwirkungspflicht (hier: Lieferung von Vorprogrammen, auf denen die neue Software aufbauen soll) nicht rechtzeitig nachgekommen war.29 Auch der BGH nahm in einem Urteil aus dem Jahr 1998 in einem ähnlichen Sachverhalt an, dass mangels Verschulden kein Verzug des beklagten IT-Unternehmens fehle, und zwar auch für die Erstellung der Dokumentation, da deren Fertigstellung erst möglich sei, wenn die Software fertig ist und ihr end-

20 Redeker, IT-Recht, Rz. 412; BGH v. 11.12.1967 – III ZR 115/67, NJW 1968, 700; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 13. 21 Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 14; vgl. MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 25; BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, NJW 1996, 1745 = CR 1996, 467 für einen Vertrag über die Lieferung von Hard- und Software mit Programmierarbeiten; vgl. auch die Ausführungen zu § 281 Rz. 19 ff. 22 OLG Köln v. 21.1.1994 – 19 U 100/93, CR 1994, 538. 23 BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 56; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 113 f. 24 MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 113; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 32; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 54. 25 BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, NJW 1996, 1745 f. = CR 1996, 467; Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 57 m.w.N. 26 MünchKomm/Ernst, § 280 BGB Rz. 138. 27 Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 57; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 124. 28 OLG Köln v. 31.1.1992 – 19 U 114/91, VersR 1992, 721 = CR 1992, 333 – „Clean Hands“. 29 OLG Köln v. 31.1.1992 – 19 U 114/91, VersR 1992, 721 = CR 1992, 333 – „Clean Hands“.

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Verzug des Schuldners

Rz. 14 § 286 BGB

gültiger Aufbau festliegt.30 Nach einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1994,31 die ebenfalls ein ITProjekt betrifft, ist das Unterlassen einer Mitwirkungshandlung als Gläubigerverzug anzusehen, so dass der Schuldner gem. § 300 Abs. 1 nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten habe.32 Eine Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 2014, die Ansprüche im Zusammenhang mit der verspäteten Inbetriebnahme einer Windkraftanlage betrifft, könnte, soweit sie nicht VOB/B-spezifische Feststellungen trifft, auf IT-Projekte übertragen werden. Das OLG Düsseldorf entschied, dass Ausführungsfristen ersatzlos wegfallen, wenn durch eine dem Auftragnehmer (Schuldner) nicht zurechenbare, vom Auftraggeber (Gläubiger) zu vertretende verspätete Beistellung von Anlagenbauteilen der gesamte Zeitplan für die Ausführungen der Vertragsleistungen völlig umgeworfen wird.33 Die Werksvertragsparteien müssten in diesem Fall – entsprechend ihrer Kooperationspflicht – neue vertragliche Ausführungsfristen vereinbaren.34 Alternativ könne der Auftraggeber (Gläubiger) nach Wegfall der von ihm zu verantwortenden Leistungshindernisse (mangels Fortgeltung der kalendermäßig bestimmten Ausführungsfrist) nur durch Mahnung einen Verzug des Auftragnehmers (Schuldners) begründen.35 Anders als bei § 643 kann sich der Schuldner nicht nur dann auf ein Unterlassen einer Mitwirkungs- 13 handlung durch den Gläubiger berufen, wenn er den Gläubiger zur Erbringung der Mitwirkungshandlung unter Fristsetzung aufgefordert hat. Das Unterlassen jedes Hinweises des Schuldners auf eine vom Gläubiger zu erbringende Mitwirkungsleistung wird aber jedenfalls dann eine Berufung des Schuldners auf das Unterlassen einer Mitwirkungshandlung durch den Gläubiger ausschließen, wenn der Schuldner die Projektleitung innehat; der fehlende Hinweis auf die zu erbringende Mitwirkungsleistung stellt dann das für den Verzug erforderliche Verschulden des Schuldners dar.36 Entsprechendes gilt für das Unterlassen von Rückfragen, wenn erteilte Auskünfte des Gläubigers nach Meinung des Schuldners nicht ausreichend sind.37 Für derartige Hinweise und Rückfragen gibt es jedoch kein gesetzliches Formerfordernis, so dass ohne eine vertragliche Regelung, die Kommunikation in Textform verlangt, viel Potential für gerichtliche Auseinandersetzungen besteht, in denen darüber gestritten wird, wer wann was gesagt oder gefragt hat oder eben nicht. Tatsächlich ist die vom Auftragnehmer behauptete Nichterbringung von Mitwirkungsleistungen durch 14 den Besteller bei gescheiterten IT-Projekten meist der zentrale Streitpunkt.38 Zunehmend ist es daher Praxis, die Mitwirkungspflichten detailliert nach Art, Umfang und Zeitpunkt ihrer Vornahme im Vertrag bzw. in den Anlagen festzulegen39 und vertragliche Vorkehrungen zu treffen, die eine missbräuchliche Berufung des Auftragnehmers hierauf erschweren. So ist es inzwischen üblich, bei angeblich fehlender Mitwirkung des Bestellers ein formelles Rügeverfahren zu vereinbaren und vorzusehen, dass der Auftragnehmer sich auf fehlende Mitwirkungsleistungen des Bestellers nicht berufen kann (und mithin der Annahmeverzug des Bestellers ausgeschlossen ist), wenn der Auftragnehmer eine schriftliche Rüge unterlassen hat. Begründet werden solche Regelungen auch damit, dass sie für den Projekterfolg generell hilfreich sind, weil es den Auftragnehmer zu einer straffen und klaren Projektleitung zwingt. Auch eine Regelung, wonach der Auftragnehmer verpflichtet wird, bei Bestehen von Umgehungslösungen die Leistung trotz fehlender oder unzureichender Mitwirkung des Bestellers zu erbringen, findet sich in IT-Verträgen häufig.40 Im Gegenzug werden häufig Sanktionen für seitens des Bestellers ausbleibende Mitwirkungshandlungen vereinbart, wie etwa dass die Verantwortlichkeit des

30 BGH v. 10.3.1998 – X ZR 70/96, NJW 1998, 2132, 2133 = CR 1998, 393 = Rz. 16 f., juris; so auch BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, NJW 1996, 1745, 1746 = CR 1996, 467 und BGH v. 13.7.1988 – VIII ZR 292/87, NJW-RR 1988, 1396 f. = CR 1988, 921. 31 BGH v. 28.6.1994 – X ZR 95/92, NJW-RR 1994, 1469, 1470 = CR 1995, 265. 32 Vgl. Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 57 zu den Mitwirkungspflichten des Gläubigers. 33 OLG Düsseldorf v. 28.2.2014 – I-22 U 112/13, BeckRS 2014, 22423 Rz. 127 m.w.N. 34 OLG Düsseldorf v. 28.2.2014 – I-22 U 112/13, BeckRS 2014, 22423 Rz. 127 m.w.N. 35 OLG Düsseldorf v. 28.2.2014 – I-22 U 112/13, BeckRS 2014, 22423 Rz. 127 m.w.N. 36 OLG Köln v. 21.1.1994 – 19 U 100/93, CR 1994, 538 = Zahrnt, ECR, OLG Köln, 146. 37 Vgl. OLG Köln v. 4.11.2002 – 19 U 27/02, ZUM-RD 2003, 195, 198 = CR 2003, 246. 38 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Witzel, § 18 Rz. 167. 39 Lehmann/Meents/Häuser, Kap. 6 Rz. 62; Lutz/Weigl, CR 2014, 629, 632; vgl. im Einzelnen Auer-Reinsdorff/ Conrad/Witzel, § 18 Rz. 177. 40 Vgl. Lutz/Weigl, CR 2014, 629, 632, 634 zum IT-Outsourcing.

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505

BGB § 286 Rz. 14 Verzug des Schuldners Auftragnehmers für Einschränkungen der Leistung bei ausbleibenden Mitwirkungshandlungen beschränkt ist oder entfällt.41 15

Bei einem Anspruch aus einem gegenseitigen Vertrag muss der Gläubiger mit der Mahnung die ihm obliegende Gegenleistung anbieten, und zwar in einer Gläubigerverzug begründenden Art und Weise.42 Dies kann aber nicht gelten, wenn der Schuldner – wie meist in IT-Projekten – vorleistungspflichtig ist.43 3. Mahnung (§ 286 Abs. 1)

16

Die Mahnung ist eine nicht formgebundene, einseitige empfangsbedürftige Erklärung.44 Sie ist kein Rechtsgeschäft, sondern eine geschäftsähnliche Handlung, auf die aber die Vorschriften über Willenserklärungen, Rechtsgeschäfte und Vertretung entsprechend anwendbar sind.45 Die Mahnung muss nach Fälligkeit erfolgen, sonst ist sie wirkungslos.46 Es soll jedoch zulässig sein, die Mahnung mit der die Fälligkeit begründenden Handlung zu verbinden.47

17

Die Aufforderung zur Leistung muss eindeutig und bestimmt sein, d.h. unzweideutig zum Ausdruck bringen, dass die geschuldete Leistung verlangt wird;48 es genügt, wenn dies in höflicher Form zum Ausdruck gebracht wird. Die Setzung einer Frist oder der Hinweis auf Rechtsfolgen ist nicht erforderlich.49 Die Mahnung kann auch konkludent erfolgen, z.B. durch ein Schreiben, das den Verzugseintritt feststellt;50 dagegen ist die Übersendung einer Rechnung oder Forderungsaufstellung, auch wenn sie eine Zahlungsfrist enthält, keine Mahnung.51

18

Stehen dem Gläubiger mehrere Ansprüche zu, muss erkennbar sein, auf welche Forderung sich die Mahnung bezieht.52 Die Mahnung eines zu geringen Betrags begründet nur hinsichtlich des angemahnten Teils Verzug.53 Die Mahnung eines zu hohen Betrags ist eine wirksame Mahnung, wenn der Schuldner die Mahnung als Aufforderung zur Bewirkung der tatsächlich geschuldeten Leistung verstehen muss und der Gläubiger zur Annahme der ggü. seinen Vorstellungen geringeren Leistung bereit ist.54 Die Grundsätze über die Zuvielmahnung gelten entsprechend, wenn der Gläubiger eine Leistung zu Bedingungen verlangt, die vom Vertrag abweichen.55 Der Gläubiger kann aus der Mahnung jedoch keine Rechte geltend machen, wenn er eine unverhältnismäßig hohe, weit übersetzte Zuvielforderung geltend macht.56 Bei Werkverträgen soll generell anzunehmen sein, dass der Besteller Nachbesserungen im Zweifel nicht zurückweisen wird, auch wenn er meint, mehr verlangen zu können.57

19

Gem. § 286 Abs. 1 Satz 2 sind die Klage und der Mahnbescheid der Mahnung gleichgestellt. Ausreichend sind eine Widerklage, ein Hilfsantrag und – vorausgesetzt der Auskunftsanspruch besteht und ist fällig – eine Stufenklage.58

41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Lutz/Weigl, CR 2014, 629, 632, 634 zum IT-Outsourcing. BGH v. 6.12.1991 – V ZR 229/90, BGHZ 116, 249; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 14. Vgl. zu einem solchen Fall OLG Karlsruhe v. 16.8.2002 – 1 U 250/01, CR 2003, 95. HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 7 f.; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 16. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 16 m.w.N.; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 16. BGH v. 10.3.1998 – X ZR 70/96, NJW 1998, 2132, 2133 = CR 1998, 393 für die Mahnung zur Lieferung der Dokumentation eines IT-Systems. BGH v. 13.7.2010 – XI ZR 27/10, NJW 2010, 2940. Prütting u.a./Schmidt-Kessel/Kramme, § 286 BGB Rz. 13; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 BGB Rz. 26. BGH v. 10.3.1998 – X ZR 70-96, NJW 1998, 2132, 2133 = CR 1998, 393. BGH v. 6.5.1981 – IVa ZR 170/80, BGHZ 80, 269, 276. BGH v. 25.10.2007 – III ZR 91/07, NJW 2008, 50; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 18. Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 32; BGH v. 6.5.1981 – IVa ZR 170/80, NJW 1981, 1729, 1731. BGH v. 26.5.1982 – IVb ZR 715/80, NJW 1982, 1983, 1985. BGH v. 5.10.2005 – X ZR 276/02, NJW 2006, 769; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 28. BGH v. 6.10.1989 – V ZR 263/86, WM 1989, 1898; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 53. OLG Düsseldorf v. 7.4.2005 – 10 U 191/04, NJW-RR 2005, 1538; BGH v. 12.7.2006 – X ZR 157/05, NJW 2006, 3271, 3272. BGH v. 5.10.2005 – X ZR 276/02, NJW 2006, 769; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 20. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 21 m.w.N.; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 57.

506

Cording

Verzug des Schuldners

Rz. 26 § 286 BGB

4. Verzug ohne Mahnung (§ 286 Abs. 2) Eine nach dem Kalender bestimmte Leistungszeit (§ 286 Abs. 2 Nr. 1) liegt vor, wenn die Leistungszeit durch Gesetz, Rechtsgeschäft oder Urteil bestimmt ist, eine einseitige Bestimmung des Gläubigers genügt dagegen nicht,59 es sei denn dem Gläubiger steht ein Leistungsbestimmungsrecht nach §§ 315 f. zu.60 Als Leistungszeit muss unmittelbar oder mittelbar ein bestimmter Kalendertag festgelegt sein, die Rspr. weicht davon in einer z.T. nicht nachvollziehbaren Kasuistik jedoch ab (zu Einzelfällen vgl. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 22).

20

Bei Bestimmung der Leistungszeit durch Vertrag muss es sich um einen verbindlichen Termin handeln. Dies ist bei IT-Projekten nicht immer der Fall. So hat das LG München I entschieden, dass bei einem Projekt mit Erstellung von Software bei einer Planung über 5 Monate der Liefertermin „Ende des Monats November“ nicht zwingend einen kalendermäßigen Termin darstellt, da „in der EDVBranche, wie die ständig mit Streitigkeiten über die Herstellung von Programmen befasste Kammer aus eigener Sachkunde weiß, Verzögerungen bei einer Planung über 5 Monate üblich sind und auch die Besteller damit rechnen, wenn der Liefertermin nicht ausdrücklich als verbindlich bezeichnet wurde“.61 Es empfiehlt sich vor diesem Hintergrund, Meilensteine in den Verträgen ausdrücklich als verbindlich zu bezeichnen, sofern sie denn verbindlich sein sollen.

21

Darüber hinaus enthalten Verträge über IT-Projekte oft detaillierte Regelungen dazu, welche Auswirkungen „Changes“ auf die vereinbarten Termine haben. Änderungen führen i.d.R. dazu, dass die ursprünglich vereinbarten Termine keine Gültigkeit mehr haben.62 Es muss daher im Rahmen eines Change Request-Verfahrens ein Mechanismus etabliert werden, durch den neue verbindliche Termine an die Stelle der ursprünglichen verbindlichen Termine treten.63

22

Bei der Anknüpfung an ein vorheriges Ereignis (§ 286 Abs. 2 Nr. 2) muss eine angemessene Zeit für die Leistung in der Weise bestimmt sein, dass sie sich von diesem Ereignis an nach dem Kalender berechnen lässt. Die Bestimmung der Leistungszeit muss auch hier durch Gesetz, Rechtsgeschäft oder Urteil erfolgen, nicht einseitig durch den Gläubiger.64 Ein typisches Beispiel ist die Vereinbarung „Fälligkeit vier Wochen nach Erklärung der Abnahme“. Nicht hierunter fällt dagegen eine Regelung, nach der „sofort“ nach Leistung gezahlt werden muss, da es insoweit an einer angemessenen Zeit für die Leistung fehlt.65 „Ereignis“ ist eine Handlung oder ein wahrnehmbarer Umstand, nicht ein Rechtsbegriff wie Fälligkeit.66

23

Für die ernsthafte und endgültige Verweigerung der Leistung (§ 286 Abs. 2 Nr. 3) gelten die gleichen (strengen) Anforderungen wie bei § 281 Abs. 2.67

24

Als weitere besondere Gründe (§ 286 Abs. 2 Nr. 4) kommen z.B. die Selbstmahnung – der Schuldner hat die Leistung angekündigt, leistet aber nicht –, eine wissentlich falsche Leistung und das Ausbleiben der richtigen Leistung, die besondere Dringlichkeit der Leistung, sofern sich diese aus dem Vertragsinhalt – z.B. einem SLA – ergibt, das Verhindern des Zugangs einer Mahnung durch den Schuldner oder die Verletzung einer vorvertraglichen Rücksichtnahmepflicht.68

25

5. Verzug bei Entgeltforderungen (§ 286 Abs. 3) Die in Abs. 3 genannten Entgeltforderungen sind nur solche, die auf ein Entgelt für die Lieferung von Gütern oder die Erbringung von Dienstleistungen gerichtet sind.69 Unter „Dienstleistungen“ in 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

BGH v. 25.10.2007 – III ZR 91/07, NJW 2008, 50; BT-Drucks. 14/6040, 145. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 22; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 59. LG München I v. 10.5.1994 – 7 O 10346/93, BB Beilage 1995, Nr. 2, 9 = Zahrnt, ECR, LG München I, 166. OLG Stuttgart v. 29.3.1994 – 6 U 203/93, CR 1995, 222 = Zahrnt, ECR, OLG Stuttgart, 158. Vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Witzel, § 18 Rz. 189 f., 202 ff. BT-Drucks. 14/6040, 145 f. Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 28; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 23. Vgl. Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 43; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 35. Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 37; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 24, 14. Zu Einzelheiten vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 BGB Rz. 38 oder Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 25. BT-Drucks. 14/7052, 186; BGH v. 21.4.2010 – XII ZR 10/08, NJW 2010, 1872; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 40.

Cording

507

26

BGB § 286 Rz. 26 Verzug des Schuldners diesem Sinne fallen auch Werkleistungen.70 Nicht darunter fallen Schadensersatzansprüche, Vertragsstrafen, Bürgschaftsforderungen, Rückgewähransprüche, Zahlungsansprüche gegen Versicherungen, Bereicherungsansprüche und Ansprüche aus GoA.71 27

Eine Rechnung ist eine gegliederte Aufstellung über eine Entgeltforderung.72 Die Rechnung oder gleichwertige Zahlungsaufstellung muss schriftlich oder in Textform erteilt werden, eine Unterschrift ist nicht erforderlich.73 Daher genügen Fax- und E-Mail-Mitteilungen, nicht jedoch mündliche oder telefonische Mitteilungen.74 § 286 Abs. 3 begründet Verzug auch dann, wenn die Rechnung ausnahmsweise eine Fälligkeitsvoraussetzung ist.75 Geht die Rechnung vor Fälligkeit zu, beginnt die 30-TagesFrist mit Fälligkeit.76 6. Vertretenmüssen (§ 286 Abs. 4)

28

Der Schuldner kommt nicht in Verzug, solange die Leistung infolge eines Umstands unterbleibt, den er nicht gem. §§ 276 bis 278 zu vertreten hat. Das Vertretenmüssen ist keine Verzugsvoraussetzung, sondern ihr Fehlen ein Einwendungstatbestand.77 Die Beweislast für das fehlende Verschulden trägt der Schuldner.78

29

Als Entschuldigungsgründe kommen unverschuldete tatsächliche und rechtliche Leistungshindernisse in Betracht.79 Unverschuldete tatsächliche Leistungshindernisse können z.B. sein: mangelnde Mitwirkung des Gläubigers (s. dazu Rz. 10 ff.), schwere Krankheit des Schuldners, Ungewissheit über das Bestehen der Forderung, Betriebsstörungen durch Naturereignisse oder sonst höhere Gewalt,80 darunter auch Pandemien wie die COVID-19-Pandemie, sofern diese im Einzelfall tatsächlich zu einer unvermeidbaren Betriebsstörung führt. Unverschuldete rechtliche Leistungshindernisse können z.B. sein: Einfuhrbeschränkungen oder nicht voraussehbare Verzögerungen bei der Erteilung erforderlicher behördlicher Genehmigungen,81 oder auch die Einbringung der Leistung untersagende gesetzliche oder behördliche Anordnungen zur Eindämmung einer Pandemie. 7. Dauer des Verzuges

30

Der Verzug endet, wenn eine seiner Voraussetzungen entfällt, z.B. durch Leistung, Leistungsangebot, wenn dies in einer den Gläubigerverzug begründenden Art und Weise erfolgt,82 Stundung, Untergang des Anspruchs durch Aufrechnung, Rücktritt, Widerruf oder Unmöglichwerden der Leistung, Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts oder Rücknahme der Mahnung.83 Der Verzug endet ex nunc, bereits eingetretene Verzugsfolgen bleiben bestehen.84 Ein aufgrund des Verzugs entstandenes gesetzliches Kündigungs- oder Rücktrittsrecht entfällt mit Wegfall des Verzugs, wenn es nicht bereits zuvor ausgeübt worden ist; bei einem vertraglichen Kündigungs- oder Rücktrittsrecht soll dies je nach Auslegung aber auch anders sein können.85 70 BGH v. 20.8.2009 – VII ZR 212/07, NJW 2009, 3717; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 40; HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 21. 71 Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 52; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 27 m.w.N. 72 Erman/Westermann, § 286 BGB Rz. 53; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 33. 73 Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 28; Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 104; offen lassend: BGH v. 16.7.2009 – III ZR 299/08, NJW 2009, 3227 = CR 2009, 710. 74 Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 104; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 33. 75 Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 28; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 33. 76 Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 30; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 93. 77 OLG Naumburg v. 25.3.2010 – 1 U 108/09, NJW-RR 2010, 1180; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 32; jurisPK BGB/Alpmann, § 286 Rz. 43; a.A. MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 111; HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 25. 78 BGH v. 10.2.2011 – VII ZR 53/10, NJW 2011, 2120; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 40. 79 BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 56 f.; HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 26. 80 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 33; HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 26. 81 Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 58; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 34. 82 BGH v. 3.4.2007 – X ZR 104/04, NJW 2007, 2761 = CR 2007, 419 = ITRB 2007, 150. 83 Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 63 ff.; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 37 f. 84 BGH v. 22.3.1995 – XII ZR 20/94, NJW 1995, 2032; Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 133. 85 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 39 m.w.N.; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 109.

508

Cording

Verzug des Schuldners

Rz. 36 § 286 BGB

8. Rechtsfolgen Kommt der Schuldner in Verzug, kann der Gläubiger Ersatz des Verzögerungsschadens verlangen 31 (§§ 280 Abs. 1 und 2 i.V.m. 286), der bei Geldschulden mindestens den Verzugszinsen (§ 288) entspricht.86 § 287 erweitert die Haftung des Schuldners bei Verzug.87 Auch die §§ 290, 339, 536a Abs. 1, 546a Abs. 2, 990 Abs. 2 und 1613 knüpfen Rechtsfolgen an den Verzug.88 Der Anspruch auf Ersatz des Verzögerungsschadens tritt neben den Erfüllungsanspruch oder den 32 Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung.89 Die Kosten eines Deckungsgeschäfts oder einer Ersatzvornahme sind kein Verzögerungsschaden,90 anders kann es aber sein, wenn der Käufer und Gläubiger von seinem Abnehmer mit den Kosten eines Deckungsgeschäfts belastet worden ist.91 Inhalt und Umfang des Verzögerungsschadens richten sich nach §§ 249 ff.92 Der Gläubiger ist so zu stellen, wie er bei rechtzeitiger Leistung des Schuldners stünde.93 Zwischen dem Verzug und dem Schaden muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Das Verschulden des Schuldners muss sich nur auf den Eintritt des Verzugs, nicht auf den Eintritt des Schadens beziehen.94 Es gilt der Grundsatz der Naturalrestitution, praktisch besteht aber meist ein Anspruch in Geld (§ 251 Abs. 1).95 Die vorbehaltlose Annahme der verspäteten Leistung enthält im Zweifel keinen Verzicht auf Ersatz des Verzögerungsschadens.96

33

Die im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses wie z.B. der Softwarepflege gezahlte Vergütung stellt 34 bei Verzug des Auftragnehmers mit den (Pflege-)Leistungen für die Dauer des Verzugs einen Verzögerungsschaden dar.97 Die Kosten einer Ersatzvornahme (s. Rz. 32) sind auch in diesem Fall aber kein Verzögerungsschaden, stattdessen muss der Gläubiger über § 281 vorgehen.98 Kosten der Rechtsverfolgung sind nach st. Rspr. zu erstatten, wenn sie – nach Eintritt des Verzugs – 35 aus Sicht des Gläubigers zur Durchsetzung seiner Rechte erforderlich und99 zweckmäßig waren.100 Dazu gehören nicht die Kosten der Erstmahnung, die den Verzug erst begründet,101 aber die Kosten weiterer Mahnungen.102 Zahlt der Schuldner auf die erste Mahnung des Gläubigers nicht, kann dieser daher die weitere Rechtsverfolgung auf Kosten des Schuldners einem Rechtsanwalt übertragen.103 Zu ersetzen sind auch verzugsbedingte Aufwendungen wie z.B. Finanzierungskosten bei verspäteter Herstellung eines Werkes, Mehrkosten wegen Verzögerung der Fertigstellung eines Werkes, Belastung mit einer wegen Verspätung zu zahlenden Vertragsstrafe sowie weitere Folgeschäden und entgangener Gewinn, nicht dagegen die durch den Verzug entgangene Nutzungsmöglichkeit.104

86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104

Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 40; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 69. Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 42. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 40; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 4. Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 182; Jauernig/Stadler, § 286 BGB Rz. 41. Staudinger/Löwisch/Feldmann, § 286 BGB Rz. 184; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 127. BGH v. 9.11.1988 – VIII ZR 310/87, NJW 1989, 1215; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 BGB Rz. 72. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 69; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 132. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 69; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 132. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 42. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 69; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 132. Vgl. Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 42; MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 175. Vgl. Bartsch, NJW 2002, 1526, 1529. Bartsch, NJW 2002, 1526, 1529. Gemeint sein dürfte „oder“ und nicht „und“, da sich die Begriffe „erforderlich“ und „zweckmäßig“ gegenseitig ausschließen; in der Praxis sind die Anforderungen jedenfalls nicht allzu hoch. BGH v. 7.5.2015 – III ZR 304/14, MDR 2015, 754; BGH v. 4.5.2011 – VIII ZR 171/10; BGH v. 23.10.2003 – IX ZR 249/02, NJW 2004, 446. BGH v. 13.12.2012 – I ZR 150/11, NJW-RR 2013, 487 = CR 2013, 177 m. Anm. Müller. Vgl. im Einzelnen Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 45 f. oder BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 75 ff. BGH v. 7.5.2015 – III ZR 304/14, MDR 2015, 754. Vgl. BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 73, 74; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 47 f.

Cording

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36

BGB § 286 Rz. 37 Verzug des Schuldners 9. Beweislast 37

Der Gläubiger trägt die Beweislast für die tatbestandlichen Voraussetzungen des Verzugs, bei Abs. 3 muss er neben dem Zugang der Rechnung auch beweisen, dass sie den notwendigen Hinweis enthält.105 Der Schuldner hat die Leistung und ihre Rechtzeitigkeit, die fehlende Annahmebereitschaft des Gläubigers, die Beendigung des Verzugs und das fehlende Vertretenmüssen zu beweisen.106

III. Abdingbarkeit 1. Individualvereinbarungen 38

Gem. § 286 Abs. 5 gilt für von den Abs. 1 bis 3 abweichende Vereinbarungen § 271a entsprechend, der die Zulässigkeit langer Zahlungsfristen beschränkt. Davon abgesehen sind die §§ 286 ff. individualvertraglich grundsätzlich abdingbar, wobei jedoch die Grenzen des § 288 Abs. 6 zu beachten sind.107 Dies gilt auch für Haftungserweiterungen, wobei in Verbraucherdarlehensverträgen allerdings die Grenzen der §§ 497 f. zu beachten sind.108 2. AGB

39

Für abweichende Vereinbarungen in AGB gelten die üblichen Beschränkungen, insbesondere die §§ 308 Nr. 1 und 2, 309 Nr. 4, 5 lit. a, 7 und 8 lit. a sowie § 307.109 Der Ausschluss der Verzugshaftung bei einfacher Fahrlässigkeit in AGB ist auch im kaufmännischen Verkehr unwirksam, da es sich bei der Verpflichtung des Verwenders der AGB, die Leistung innerhalb der vertraglich vereinbarten Zeit zu erbringen, um eine Kardinalpflicht handelt.110

§ 287 Verantwortlichkeit während des Verzugs Der Schuldner hat während des Verzugs jede Fahrlässigkeit zu vertreten. Er haftet wegen der Leistung auch für Zufall, es sei denn, dass der Schaden auch bei rechtzeitiger Leistung eingetreten sein würde. Nicht kommentiert.

§ 305 Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag (1) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt. Gleichgültig ist, ob die Bestimmungen einen äußerlich gesonderten Bestandteil des Vertrags bilden oder in die Vertragsurkunde selbst aufgenommen werden, welchen 105 BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 85; vgl. HK-BGB/Schulze, § 286 Rz. 22 f. 106 BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 86; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 49. 107 MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 177; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 7; BeckOK BGB/Lorenz, § 286 Rz. 22. 108 MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 178. 109 Vgl. im Einzelnen MünchKomm/Ernst, § 286 BGB Rz. 177; Palandt/Grüneberg, § 286 BGB Rz. 7. 110 OLG Köln v. 21.3.1997 – 19 U 215/96, CR 1997, 736, 738, für Schadensersatzansprüche gegen einen Hardund Softwarelieferanten.

510

Cording und Hunzinger

Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag

§ 305 BGB

Umfang sie haben, in welcher Schriftart sie verfasst sind und welche Form der Vertrag hat. Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen nicht vor, soweit die Vertragsbedingungen zwischen den Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelt sind. (2) Allgemeine Geschäftsbedingungen werden nur dann Bestandteil eines Vertrags, wenn der Verwender bei Vertragsschluss 1. die andere Vertragspartei ausdrücklich oder, wenn ein ausdrücklicher Hinweis wegen der Art des Vertragsschlusses nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich ist, durch deutlich sichtbaren Aushang am Orte des Vertragsschlusses auf sie hinweist und 2. der anderen Vertragspartei die Möglichkeit verschafft, in zumutbarer Weise, die auch eine für den Verwender erkennbare körperliche Behinderung der anderen Vertragspartei angemessen berücksichtigt, von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen, und wenn die andere Vertragspartei mit ihrer Geltung einverstanden ist. (3) Die Vertragsparteien können für eine bestimmte Art von Rechtsgeschäften die Geltung bestimmter Allgemeiner Geschäftsbedingungen unter Beachtung der in Absatz 2 bezeichneten Erfordernisse im Voraus vereinbaren. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Begriff der AGB (§ 305 Abs. 1) . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderheiten bei IT-Verträgen . . . . . . . .

3 3 7

III. Einbeziehung in den Vertrag (§ 305 Abs. 2) . 11 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Besonderheiten bei IT-Verträgen . . . . . . . . 16

a) Sprachfassung und Fremdwörter bei IT-Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 b) Shrink-Wrap-Licensing und Click-WrapAgreement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 c) Open-Source-Verträge . . . . . . . . . . . . 22 IV. Einbeziehungsvereinbarung (§ 305 Abs. 3) . 23

Literatur: Speziell zu § 305: Kremer/Sander, Individuelle Änderungen von EVB-IT Verträgen und Ergänzungen mittels AGB, ITRB 2015, 24; Lapp, Kontrollfreie Individualvereinbarung oder AGB im IT-Vertrag, ITRB 2017, 291; Nietsch, Zur Überprüfung der Einhaltung des Datenschutzrechts durch Verbraucherverbände, CR 2014, 272; Söder, Schutzhüllenvertrag und Shrink-Wrap-License, 2006; Thalhofer/Wilmer, Praktische Herausforderungen bei der Abgrenzung von AGB und Individualvertrag bei IT-Projekten, CR 2014, 765; Witzel, Vertragsgestaltung für Generalunternehmer in IT- Projekten: Vermeidung von Lücken und Umgang mit Tücken, CR 2018, 345. Allgemein zum AGB-Recht bei IT-Verträgen: Bartl, Hardware, Software und Allgemeine Geschäftsbedingungen, CR 1985, 13; Bartsch, Grad der Marktdurchdringung von Software als rechtliches Kriterium, CR 1994, 667; Bartsch, Softwarepflege nach neuem Schuldrecht, NJW 2002, 1526; Bartsch, IT-Einkaufsbedingungen, CR 2015, 345; Berberich, Smart Contracts in der AGB-Kontrolle?, DSRITB 2019, 221; Bischof/Intveen, Neue EVB-IT Musterverträge der öffentlichen Hand für die Beschaffung und Pflege von Standerdsoftware: Überlassung (Typ A), ITRB 2015, 295; Bischof/Intveen, Neue EVB-IT Musterverträge der öffentlichen Hand für die Beschaffung und Pflege von Standardsoftware: EVB-IT Pflegevertrag S, ITRB 2016, 17; Brandi-Dohrn, Die Besonderheiten von Haftungsklauseln in IT-Verträgen, CR 2014, 417; Bräutigam, SLA: In der Praxis alles klar?, CR 2004, 248; Deike, Open Source Software: IPR-Fragen und Einordnung ins deutsche Rechtssystem, CR 2003, 9; Determann, Softwarekombinationen unter der GPL, GRUR Int 2006, 645; Erben/Kubert/Zahrnt, IT-Verträge – Wirksame und unwirksame Allgemeine Geschäftsbedingungen, 3. Aufl. 2003; Fritzemeyer/Schoch, Übernahme von Softwareüberlassungsverträgen beim IT-Outsourcing, CR 2003, 793; Funk/Wenn, Der Ausschluss der Haftung für mittelbare Schäden in internationalen Softwareverträgen, CR 2004, 481; Funk/Zeifang, Die GNU General Public License, Version 3, CR 2007, 617; Gräfin von Merveldt, Zulässigkeit langfristiger Laufzeiten für Softwareüberlassungsverträge, CR 2006, 721; Gräfin von Westerholt/Berger, Der Application Service Provider und das neue Schuldrecht, CR 2002, 81; Graf von Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 43. Aufl. 2019; Groß, AGB 4.0: Allgemeine Geschäftsbedingungen im Rahmen automatisierter Vertragsschlüsse, InTer 2018, 4; Grützmacher, Open Source Software und Embedded Systems, ITRB 2009, 184; Grützmacher, Teilkündigungen bei Softwarepflege- und Softwarelizenzverträgen, ITRB 2011, 133; Grützmacher, Lizenzgestaltung für neue Nutzungsformen im Lichte von § 69d UrhG, CR 2011, 485; Hartung/Stiemerling, Effektive Service-Level-Kriterien, CR 2011, 617; Hecht, Wertsicherungsklauseln in IT-Verträgen, ITRB 2006, 118; Heydn, Identitätskrise eines Wirtschaftsguts: Software im Spannungsfeld zwischen Schuldrecht und Urheberrecht, CR 2010, 765; Heymann, Gesetzliches Leitbild des Wartungsvertrages, CR 1991, 525; Hilty, Der Softwarevertrag – ein Blick in die Zukunft, MMR 2003, 3; Jessen, Vertragsgestaltung und -praxis der Online-Dienste, ZUM 1998, 282; Karger, Desorganisierte Leistungsänderungen in IT-Verträgen, ITRB 2009, 18; Kirn/Müller-Hengstenberg, Die EVBIT Systeme – ein Mustervertrag mit hohen Risiken?, CR 2009, 69; Koch, Urheber- und kartellrechtliche Aspekte der Nutzung von Open-Source-Software (II), CR 2000, 333; Koglin, Die Nutzung von Open Source Software unter neu-

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BGB § 305 Rz. 1 Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag en GPL-Versionen nach der „any later version“-Klausel, CR 2008, 137; Kremer/Sander, Der EVB-IT Systemvertrag – doch kein (einheitlicher) Werkvertrag?, CR 2015, 146; Lachenmann, Mobile Apps, ITRB 2015, 99; Lejeune, Softwarevertrieb über Distributoren, ITRB 2014, 234; Metzger/Jäger, Open Source Software und deutsches Urheberrecht, GRUR Int 1999, 839; Moos, Softwarelizenz-Audits, CR 2006, 797; Niebling, AnwaltKommentar AGB, 3. Aufl. 2017; Oelschlägel/Schmidt, Lizenzpflicht für „indirekte Nutzung“ von SAP-Software?, ITRB 2015, 72; Plaß, Open Contents im deutschen Urheberrecht, GRUR 2002, 670; Plath, Hardware, Software und IT-Verträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Pohle/Ammann, Über den Wolken … – Chancen und Risiken des Cloud Computing, CR 2009, 273; Redeker, Gesamtvertrag im Softwareprojekt, ITRB 2014, 193; Schneider, Vertragsschluß bei Schutzhüllenverträgen, CR 1996, 657; Schneider, Projektsteuerung – Projektrisiken bei Software, CR 2000, 27; Schreibauer/Taraschka, Service Level Agreements für Softwarepflegeverträge, CR 2003, 557; Schumacher, Wirksamkeit von typischen Klauseln in Softwareüberlassungsverträgen, CR 2000, 641; Sester, Open-Source-Software: Vertragsrecht, Haftungsrisiken und IPR-Fragen, CR 2000, 797; Söbbing, Besonderheiten des IT-Leasings, ITRB 2010, 236; Stiemerling/Schneider, Vertragliche Regelungen zum Antwortzeitverhalten interaktiver Computersysteme, CR 2011, 345; Wendehorst/Graf von Westphalen, Das Verhältnis zwischen Datenschutz-Grundverordnung und AGB-Recht, NJW 2016, 3745; Witte, Entlokalisierung deutscher Softwareüberlassungsverträge, ITRB 2007, 190.

I. Allgemeines 1

§ 305 Abs. 1 definiert, wann Allgemeine Geschäftsbedingungen vorliegen und steckt hiermit zugleich den groben Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle ab. Durch § 305 Abs. 2 wird für den Geschäftsverkehr mit Verbrauchern (vgl. § 310 Abs. 1) klargestellt, welche Anforderungen einzuhalten sind, damit die AGB überhaupt Vertragsbestandteil werden. § 305 Abs. 3 sieht erleichterte Einbeziehungsvoraussetzungen bei einer bestehenden Rahmenvereinbarung vor.

2

Grundvoraussetzung für die Anwendbarkeit der §§ 305 ff. ist stets, dass auf das Vertragsverhältnis deutsches Recht anzuwenden ist. Hieran kann es fehlen, wenn durch Gesetz oder Vertrag die Geltung ausländischen Rechts festgelegt wird. Soweit ein Vertrag mit einer ausländischen natürlichen oder juristischen Person geschlossen und keine vertragliche Regelung getroffen wurde, richtet sich das anwendbare Recht für Verträge ab dem 17.12.2009 nach der Rom-I-Verordnung.1 Häufig wird aber – auch innerhalb von AGB – vertraglich das anwendbare Recht bestimmt, sog. Rechtswahlklauseln. Zur Zulässigkeit solcher Klauseln vgl. § 307 Rz. 33.

II. Begriff der AGB (§ 305 Abs. 1) 1. Allgemeines 3

Die Annahme Allgemeiner Geschäftsbedingungen hat nach § 305 Abs. 1 drei Voraussetzungen: (1) Es muss sich um vorformulierte Vertragsbedingungen für eine Vielzahl von Verträgen handeln. (2) Diese Vertragsbedingungen muss der Verwender einseitig gestellt haben, d.h. sie dürfen (3) nicht zwischen den Vertragsparteien ausgehandelt worden sein.

4

Vertragsbedingungen können alle Erklärungen sein, die den Vertragsinhalt regeln sollen, gleich ob es sich um mit „AGB“ überschriebene, mehrseitige Regelungswerke oder auch nur einen einzelnen Satz auf einem Auftragsformular handelt.2 Dies wird letztlich auch klargestellt durch Abs. 1 Satz 2, der äußere Umstände wie Gestaltung, Form und Umfang für unerheblich erklärt. Vorformuliert sind Vertragsbedingungen, wenn sie handschriftlich oder maschinenschriftlich für eine mehrfache Verwendung aufgezeichnet oder in sonstiger Weise fixiert sind und nicht für den konkreten Vertragsschluss entworfen wurden.3 Dies soll schon angenommen werden können, wenn die Klauseln allgemein und abstrakt gehalten sind.4 Der Vorformulierung steht auch nicht entgegen, dass die Klausel noch ergänzt werden muss, wenn für diese Ergänzung mehrere vorformulierte Varianten (z.B. Laufzeit von 1 Vgl. ausf. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Anh. § 305 BGB Rz. 1 ff. 2 Vgl. BGH v. 12.6.2001 – XI ZR 274/00, NJW 2001, 2635, 2636 = CR 2001, 596; BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 11. 3 BGH v. 3.4.1998 – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 21. 4 BGH v. 26.3.2015 – VII ZR 92/14, NJW 2015, 1952, 1953.

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Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag

Rz. 6 § 305 BGB

zwei oder vier Jahren) vorgegeben sind, für die der Kunde sich entscheiden muss.5 Die Vorformulierung scheidet daher nur dann aus, wenn die Ergänzungen tatsächlich frei vom anderen Vertragsteil vorgenommen werden können, wobei hier allerdings häufig die Vermutungswirkung von § 310 Abs. 3 Nr. 1 entgegenstehen wird.6 Eine Vorformulierung für eine Vielzahl von Verträgen liegt jedenfalls immer dann vor, wenn die Klausel – ggf. auch nur gegenüber demselben Vertragspartner7 – tatsächlich mindestens dreimal verwendet wird.8 Eine Vorformulierung für eine Vielzahl von Verträgen ist aber auch anzunehmen, wenn es sich um ein Vertragsmuster handelt, das für eine unbestimmte Zahl künftiger Verwendungen – ggf. auch Dritte wie z.B. Rechtsanwälte, Notare oder ADAC-/EVB-IT-Vertragsmustern – konzipiert wurde, ohne das es auf die Zahl tatsächlicher Verwendungen ankommt.9 Die Vertragsbedingungen sind vom Verwender gestellt, wenn der Verwender sie einseitig festgelegt hat und auf ihn die Einbeziehung in den Vertrag zurückgeht.10 Dies schließt insb. nicht aus, dass die Vertragsbedingungen von einem Dritten, z.B. einem Rechtsanwalt oder einem Notar, stammen (sog. Drittbedingungen).11 Entscheidend ist hier verkürzt ausgedrückt, ob der Dritte als „verlängerter Arm“ einer der Vertragsparteien anzusehen ist.12 Dies ist bei einem notariellen Vertrag bspw. dann der Fall, wenn der Notar einseitig im Auftrag einer Partei tätig wird oder es sich um den „Hausnotar“ einer Partei handelt.13

5

Durch § 305 Abs. 1 Satz 3 grenzt das Gesetz AGB von einer Individualvereinbarung ab. Ein hiernach erforderliches Aushandeln von Vertragsbedingungen liegt vor, wenn der Verwender den gesetzesfremden Kern der Klausel ernsthaft zur Disposition gestellt hat und dem Vertragspartner tatsächlich Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen mit der Möglichkeit zur inhaltlichen Ausgestaltung eingeräumt wurde.14 Hierzu reicht es aber nicht aus, wenn der Verwender verschiedene Varianten zum Ankreuzen anbietet.15 Praktisch bedeutet das, dass ein Aushandeln i.d.R. nur dann vorliegt, wenn eine erkennbare Änderung im vorformulierten Text vorgenommen wurde und ein Beibehalten des gestellten Entwurfs grds. die Annahme ausgehandelter Vertragsbedingungen verbietet.16 Insbesondere soll es nicht ausreichen, einen Vertragsentwurf mit der Bitte zu übersenden, „Anmerkungen oder Änderungswünsche“ mitzuteilen, selbst wenn hiermit ausdrücklich Verhandlungsbereitschaft signalisiert wird.17 Diesen hohen Anforderungen des BGH können die Parteien, selbst im unternehmerischen Verkehr, nur in Ausnahmefällen gerecht werden, weshalb diese restriktive Rechtsprechung zu Recht Kritik widerfahren hat.18

6

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

BGH v. 13.11.1997 – X ZR 135/95, NJW 1998, 1066, 1067; BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 17 ff. Vgl. BGH v. 10.3.1999 – VIII ZR 204/98, NJW 1999, 2180. BGH v. 11.12.2003 – VII ZR 31/03, NJW 2004, 1454. BGH v. 27.9.2001 – VII ZR 388/00, NJW 2002, 138, 139. BGH v. 3.4.1998 – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 24. BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 286; BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 25; Ulmer/Brandner/ Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 26. Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 31. Ähnl. BGH v. 27.1.2017 – V ZR 130/15, NJW 2017, 1540, 1541 m. Anm. Lehmann-Richter. BGH v. 1.3.2013 – V ZR 31/12, NJW-RR 2013, 1028, 1029; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 32a. BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1807 = CR 2003, 647; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 286; BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 34; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 47. BGH v. 15.3.2018 – III ZR 126/17, NJW-RR 2018, 683, 686. BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1807 = CR 2003, 647; BGH v. 26.3.2015 – VII ZR 92/14, NJW 2015, 1952, 1953; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 286; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 47. BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 286 f. Sehr instruktiv Kaufhold, NJW 2014, 3488; Leuschner, NJW 2016, 1222. Für den IT-Bereich Thalhofer/Wilmer, CR 2014, 765, 766.

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BGB § 305 Rz. 7 Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag 2. Besonderheiten bei IT-Verträgen 7

Die Abgrenzung von AGB und Individualvereinbarung spielt gerade bei umfangreichen IT-Projekten eine bedeutende Rolle.19 Da es angesichts von sog. „best practices“ praxisfremd und nahezu unmöglich ist, bspw. bei einem umfangreichen IT-Outsourcing-Vertrag mit hundert Seiten jede einzelne Klausel von Grund auf neu zu entwickeln, enthalten derartige Verträge regelmäßig Musterklauseln.20 Angesichts der o.g. Anforderungen der Rspr. an ein Aushandeln werden hier stets kontrollfähige AGB vorliegen, da nicht jede Klausel (vgl. nur Schlussbestimmungen) individuell ausgehandelt und textlich verändert wird.21 Es hilft nach der BGH-Rspr. auch nicht, wenn aus dem Gesprächsverlauf hervorgeht, dass hinsichtlich der Vertragsklauseln Verhandlungsbereitschaft angezeigt wurde.22 Zusammenfassend werden daher nicht nur bei IT-Musterverträgen, sondern auch bei komplexen, in großen Teilen verhandelten IT-Vertragswerken zumindest teilweise kontrollfähige AGB zu sehen sein, da selbst „quantitative“ Veränderungen einer Klausel (10 % statt 20 %) nicht zur Annahme einer Individualvereinbarung ausreichen sollen.23 Insofern ist in jedem Fall anzuraten, das Aushandeln der einzelnen Klauseln dokumentiert festzuhalten.24 Zumindest bei einer Vertragsverhandlung zwischen zwei gleichberechtigten Unternehmen über ein komplexes IT-Outsourcing, bei denen auf beiden Seiten eine Prüfung durch beteiligte Juristen erfolgt, dürften diese Maßstäbe des BGH aber zu streng sein. Die Annahme vom Verwender gestellter Vertragsbedingungen muss hier ausscheiden, da regelmäßig eine Partei einen ersten Vertragsentwurf einbringen muss. In IT-Verträgen bestehen jedoch häufig Leistungsketten, durch die selbst ein individuell ausgehandelter Generalunternehmervertrag durch die Nutzung von standardisierten Subunternehmerverträgen zumindest im Verhältnis Generalunternehmer zu Subunternehmer der AGB-Kontrolle unterfallen kann.25

8

Nach allgemeiner Auffassung sind Open Source Lizenzbedingungen zutreffend als AGB einzuordnen.26 Denn es handelt sich unzweifelhaft um vorformulierte Vertragsbedingungen für eine Vielzahl von Verträgen. Problematisch ist hier nur, ob das AGB-Recht überhaupt Anwendung findet und wer die Lizenzbedingungen „gestellt“ hat. Für Verträge mit deutschen Verbrauchern findet das AGB-Recht über Art. 6 Abs. 1 Rom-I-VO zwingend Anwendung. Für Verträge mit Unternehmern wird teilweise eine Anwendung deutschen AGB-Rechts über Art. 8 Rom-II-VO i.V.m. Art. 9 Rom-I-VO auch bei einer Rechtswahlklausel in den Lizenzbedingungen für zwingend gehalten, soweit dies urheberrechtliche Klauseln betrifft.27 In der Regel wird es aber auf den Sitz des Lizenzgebers ankommen, unabhängig davon, ob Open Source Software als Schenkung – dann über Art. 4 Abs. 2 Rom-I-VO28 – oder Vertrag sui generis29 – dann über Art. 4 Abs. 1 Buchst. a Rom-I-VO30 – eingeordnet wird. „Gestellt“ werden die Open Source Bedingungen von demjenigen Entwickler, der die Open-Source-Software mit oder ohne eigene Ergänzungen entsprechend § 305 Abs. 2 an einen Dritten weitergibt.31 Unerheblich ist, dass der Entwickler durch die GPL-Bedingungen selbst nur zur Weitergabe verpflichtet ist, weil die Einbezie19 20 21 22 23 24 25 26

27 28 29 30 31

Hierzu ausf. Thalhofer/Wilmer, CR 2014, 765. Thalhofer/Wilmer, CR 2014, 765, 766. Thalhofer/Wilmer, CR 2014, 765, 766. BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 286 f.; Lapp, ITRB 2017, 291, 294. Vgl. BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, NJW 2013, 1431. Ähnl. Lapp, ITRB 2017, 291, 294. Kritisch Thalhofer/ Wilmer, CR 2014, 765, 770. Zur Bedeutung für die Nutzung von Softwareagenten ausf. Groß, InTer 2018, 4, 8. So Lapp, ITRB 2017, 291, 294 f. mit weiteren Gestaltungsmöglichkeiten zur Umgehung der AGB-Prüfung. So Witzel, CR 2018, 345, 347 f. LG Hamburg v. 20.11.2017 – 308 O 343/15, CR 2019, 774, 778; LG Frankfurt/M. v. 6.9.2006 – 2-6 O 224/06, CR 2006, 729, 731 m. Anm. Grützmacher = ITRB 2006, 273; LG München v. 19.5.2004 – 21 O 6123/04, CR 2004, 774, 775 m. Anm. Hoeren u. Anm. Metzger; Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 51; Hoeren in FS Kollhosser, S. 229, 239; Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 179; Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 426; Deike, CR 2003, 9, 13; Gerlach, CR 2006, 649, 653; Koch, CR 2000, 333, 339; Metzger/Jaeger, GRUR-Int. 1999, 839, 846; Plaß, GRUR 2002, 670, 678; Sester, CR 2000, 797, 804; Suchomski, ITRB 2016, 90. Lejeune, ITRB 2014, 234, 236. Ebenso Metzger/Jaeger, GRUR-Int. 1999, 839, 842; Witte, ITRB 2007, 190, 192 noch zu Art. 34 EGBGB. Vgl. MünchKomm/BGB/Martiny, Art. 4 Rom-I-VO Rz. 209. Zum Meinungsstand und Argumenten Hoeren in FS Kollhosser, S. 229 ff. Vgl. Spindler/Schuster/Bach, Art. 4 Rom-I-VO Rz. 5 für Softwareverträge. So auch Sester, CR 2000, 797, 804.

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Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag

Rz. 10 § 305 BGB

hung gleichwohl auf seine Veranlassung zurückgeht und er schuldrechtlich auch wirksam einen Vertrag ohne Weitergabe schließen könnte.32 Zur wirksamen Einbeziehung von Open Source Lizenzbedingungen nach Abs. 2 vgl. Rz. 22. Als AGB sind zudem die Ergänzenden Vertragsbedingungen für die Beschaffung von IT-Leistungen 9 (EVB-IT) zu qualifizieren.33 Verwender ist hier in der Regel der öffentliche Auftraggeber, da dieser die EVB-IT verpflichtend einsetzen muss (z.B. Ziff. 4.3 VV zu § 55 BHO; vgl. ferner § 310 Rz. 11). Die Frage des Verwenders kann hier gleichwohl problematisch werden: Da nämlich der Auftragnehmer häufig Kenntnis davon hat, dass der Vertrag mit der öffentlichen Hand nur unter Geltung der EVB-IT zustande kommen kann, legt er seinem Angebot ggf. bereits selbst diese ergänzenden Vertragsbedingungen bei.34 Es ließe sich dann argumentieren, der Auftragnehmer sei Verwender der EVB-IT mit der Folge, dass er sich nicht auf die Unwirksamkeit einzelner Klauseln berufen könnte.35 Richtigerweise ist in diesen Fällen Verwender aber gleichwohl die öffentliche Hand als Auftraggeber, weil die Einbeziehung durch den Auftragnehmer allein in Kenntnis der gesetzlichen Verpflichtung des Auftraggebers erfolgt und ein Vertragsschluss andernfalls ausgeschlossen wäre.36 Die vorangestellten Überlegungen gelten entsprechend für die Besonderen Vertragsbedingungen für die Beschaffung von DV-Leistungen (BVB).37 Nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob Datenschutzerklärungen z.B. für Cloud- oder ASP-Diens- 10 te als AGB zu qualifizieren sind.38 Die Beantwortung dürfte hier vom Einzelfall abhängig sein. Im Grundsatz gilt, dass eine Datenschutzerklärung nur der Unterrichtung darüber dient, wie ein Unternehmen personenbezogene Daten verarbeitet (vgl. Art. 13 DSGVO). Diese Unterrichtung hat keine legitimierende Wirkung, d.h. eine Datenverarbeitung wird nicht dadurch zulässig, dass die Datenschutzerklärung sie beschreibt, sondern ist unabhängig hiervon nach dem Datenschutzrecht zu beurteilen. Damit fehlt es dann aber an der für AGB zwingenden Voraussetzung, dass es sich um eine den Vertragsinhalt regelnde Erklärung, also eine Vertragsbedingung, handelt.39 Datenschutzerklärungen stellen daher grds. keine AGB dar.40 Im Einzelfall kann aber bspw. eine einzelne Klausel in einer Datenschutzerklärung als AGB zu qualifizieren sein, wenn sie objektiv vorformulierte Rechte und Pflichten begründet.41 In der Rechtsprechung wurden Datenschutzerklärungen hingegen i.d.R. hiervon abweichend pauschal als AGB qualifiziert; häufig um einem Verbraucherverband über § 307 die Überprüfung der Vereinbarkeit mit Datenschutzrecht zu ermöglichen.42 Das Interesse hieran ist zwar nachvollziehbar, lässt sich aber mit der Dogmatik des AGB-Rechts nicht in Einklang bringen und ist mit Blick auf Art. 80 Abs. 2 DSGVO i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 11 UKlaG auch systemwidrig.43 Anders liegt es hin32 A.A. Koch, CR 2000, 333, 339. 33 BGH v. 4.3.1997 – X ZR 141/95, CR 1997, 470; Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 77; Kirn/MüllerHengstenberg, CR 2009, 69; Kremer/Sander, ITRB 2015, 24, 25 f. 34 Ausf. zu dieser Praxis bei Softwareerstellungsverträgen im allgemeinen Schneider/Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, J. Rz. 18 ff. 35 Vgl. zum Grundsatz, dass die Unwirksamkeit von AGB nicht zugunsten des Verwenders erfolgen kann BGH, NJW-RR 1998, 594 (595); BGH v. 4.12.1986 – VII ZR 354/85, NJW 1987, 837 (838); Wolf/Lindacher/Pfeiffer/ Pfeiffer, § 307 Rz. 1. 36 BGH v. 4.3.1997 – X ZR 141/95, CR 1997, 470; Kremer/Sander, ITRB 2015, 24 (25 f.). A.A. Schneider/Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, J. Rz. 18 ff. 37 Vgl. nur Redeker/Karger, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 35. 38 Ausf. hierzu Nietsch, CR 2014, 272. 39 So auch Nietsch, CR 2014, 272 (274) noch zu § 13 TMG. 40 So auch OLG Hamburg v. 4.12.2014 – 10 U 5/11, CR 2015, 534 (534); Nietsch, CR 2014, 272 (274 f.); Wendehorst/Graf von Westphalen, NJW 2016, 3745 (3748). 41 Nietsch, CR 2014, 272 (275 f.). 42 Vgl. nur KG v. 21.3.2019 – 23 U 268/13, CR 2019, 827; KG v. 24.1.2014 – 5 U 42/12, CR 2014, 319 = IPRB 2014, 128 = ITRB 2014, 154; LG Berlin v. 6.3.2012 – 16 O 551/10, CR 2012, 270; LG Berlin v. 30.4.2013 – 15 O 92/12, CR 2013, 402 = ITRB 2013, 130; LG Berlin v. 19.11.2013 – 15 O 402/12, CR 2014, 404 = ITRB 2014, 79; LG Frankfurt v. 10.6.2016 – 2-03 O 364/15, DuD 2016, 613. A.A. OLG Hamburg v. 4.12.2014 – 10 U 5/11, CR 2015, 534, 534. Vgl. zur Überprüfung auf Grundlage des UWG BGH v. 14.1.2016 – I ZR 65/14, WRP 2016, 958 = CR 2016, 596; LG Düsseldorf v. 9.3.2016 – 12 O 151/15, CR 2016, 372. 43 Vgl. BGH v. 14.1.2016 – I ZR 65/14, WRP 2016, 958 = CR 2016, 596 stellt im Gegensatz zur Vorinstanz KG v. 24.1.2014 – 5 U 42/12, CR 2014, 319 = IPRB 2014, 128 = ITRB 2014, 154 auch nicht darauf ab, ob die Bedingungen gegen § 307 verstoßen, sondern prüft zutreffend auf Grundlage des UWG i.V.m. den Datenschutzvor-

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BGB § 305 Rz. 10 Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag gegen bei Vereinbarungen zur Auftragsverarbeitung nach Art. 28 DSGVO (AVV) – da diese Rechte und Pflichten enthalten, sind sie als AGB zu qualifizieren, soweit sie einseitig vorgegeben und vorformuliert wurden.44 Fraglich ist hier aber vor allem, welche Folgen eine nach den §§ 307 ff. unwirksame Klausel in einer AVV hat (hierzu § 306 Rz. 9). Diskutiert wird die Anwendbarkeit des AGB-Rechts zudem auf Leistungsbeschreibungen, die die eine Datenverarbeitung zur Erfüllung des Vertrages i.S.d. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b DSGVO erst „erforderlich“ machen.45 Auch eine Einwilligungs-Klausel soll der Kontrolle nach den §§ 305 ff. unterliegen.46 Allerdings wird die Wirksamkeit der Einwilligung hier regelmäßig schon an den (vorrangigen) Anforderungen der DSGVO scheitern, so dass es dann an (wirksamen) Rechten und Pflichten fehlt, die überhaupt noch eine Klauselkontrolle notwendig machen würden. Zur Frage, ob die Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 eine AGB-Eigenschaft begründen kann, vgl. § 305c Rz. 15.

III. Einbeziehung in den Vertrag (§ 305 Abs. 2) 1. Allgemeines 11

Nach § 305 Abs. 2 werden AGB i.S.d. Abs. 1 nur dann Bestandteil des Vertrages, wenn sie wirksam in den Vertrag einbezogen wurden. Scheitert die Einbeziehung an den Voraussetzungen des Abs. 2 (bzw. bei Unternehmern an den allg. Voraussetzungen, vgl. Rz. 15), bleibt der Vertrag nach § 306 wirksam und der Verwender kann sich auf die AGB nicht berufen. Die wirksame Einbeziehung ist von den zwei kumulativen Voraussetzungen abhängig, dass (1) der Verwender die andere Vertragspartei bei Vertragsabschluss auf die AGB ausdrücklich hinweist (Abs. 2 Nr. 1) und (2) für den anderen Vertragsteil die zumutbare Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht (Abs. 2 Nr. 2).

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Die Hinweispflicht nach § 305 Abs. 2 Nr. 1 unterteilt sich in zwei Alternativen: Grundsätzlich ist ein ausdrücklicher Hinweis notwendig. Dieser muss so deutlich sein, dass er auch von Kunden mit durchschnittlicher Aufmerksamkeit bei flüchtiger Betrachtung erfasst wird.47 Ein bloßer Abdruck der AGB auf der Vertragsrückseite reicht deshalb ohne ausdrücklichen Hinweis auf der Vorderseite nicht aus.48 Erfolgt der Vertragsschluss online, ist für den ausdrücklichen Hinweis i.d.R. erforderlich, dass im Zusammenhang mit dem „Bestellen-Button“ auf die Geltung der AGB hingewiesen wird, wobei das Wort AGB (auch für Abs. 2 Nr. 2) unterstrichen und verlinkt werden muss.49 Nur wenn ein ausdrücklicher Hinweis wegen der Art des Vertragsschlusses nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten möglich ist, kann der Hinweis nach Nr. 2 Alt. 2 durch einen deutlich sichtbaren Aushang am Ort des Vertragsschlusses erfolgen, wobei derartige Fallgestaltungen im IT-Recht nur schwer konstruierbar sind. Nicht ausreichend ist es jedenfalls, durch eine Hinweisklausel innerhalb der AGB zu bestimmen, dass auf die AGB hingewiesen wurde, zumal eine solche Klausel auch gegen § 309 Nr. 12 Buchst. b verstößt.50

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Für die zumutbare Möglichkeit der Kenntnisnahme nach § 305 Abs. 2 Nr. 2 müssen die AGB dem anderen Vertragsteil – egal ob schriftlich, elektronisch oder durch Aushang – zur Verfügung stehen. Dies ist unproblematisch der Fall, wenn die AGB schriftlich ausgehändigt oder zugesandt wurden.51

44 45 46 47 48 49 50 51

schriften. Eine ausdrückliche Stellungnahme zu der Einordnung von Datenschutzerklärungen als AGB erfolgt hingegen nicht. Malatidis, ITRB 2019, 144. Wendehorst/Graf von Westphalen, NJW 2016, 3745, 3748 f. BGH v. 1.2.2018 – III ZR 196/17, CR 2018, 247, 247 ff.; BGH v. 5.10.2017 – I ZR 7/16, ITRB 2018, 27; LG München I v. 11.10.2018 – 12 O 19277/17, CR 2019, 311, 312; Redeker, ITRB 2018, 96, 97; Schneider, CR 2017, 568, 570. BGH v. 11.7.2007 – XII ZR 197/05, NJW 2007, 2988, 2989; BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 45. BGH v. 14.1.1987 – IVa ZR 130/85, NJW 1987, 2431, 2432; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 129. BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 49; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 135b. Marly, Softwarerecht, Rz. 1935 ff. BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 55 mit Verweis auf BGH v. 24.3.1988 – III ZR 21/87, NJW 1988, 2106, 2108, wo eine Aushändigung jedoch auch durch eine Kenntnisnahmeklausel, nicht bewiesen werden konnte. Vgl. aber auch LG Bielefeld v. 25.3.1988 – 11 O 114/87, CR 1988, 922: „1 mm Buchstabengröße in AGB ermöglicht keine zumutbare Kenntnisnahme“.

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Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag

Rz. 17 § 305 BGB

Problematisch kann dies hingegen werden, wenn der Vertragsschluss über das Internet erfolgt: Hier ist i.d.R. ein gut sichtbarer Link erforderlich, der ohne Zugangsbarriere (z.B. Login) aufgerufen werden, und anschließend lokal gespeichert und ausgedruckt werden kann.52 Für die Einbeziehung ist nicht erforderlich, dass der andere Vertragsteil tatsächlich von den AGB Kenntnis nimmt, also von seiner Möglichkeit zur Kenntnisnahme Gebrauch macht.53 Nicht ausreichend ist es hingegen, durch eine Kenntnisnahmeklausel innerhalb der AGB zu bestimmen, dass der Vertragspartner in zumutbarer Weise Kenntnis nehmen konnte, zumal eine solche Klausel auch hier gegen § 309 Nr. 12 Buchst. b verstößt.54 Formal bedarf es ferner einem Einverständnis des Kunden mit den AGB. Allerdings wird dieses regel- 14 mäßig angenommen, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen.55 Problematisch kann dies nur werden, wenn die Vertragsparteien kollidierende AGB verwenden, weil es dann an einer Einigung zumindest hinsichtlich einzelner, sich widersprechender Klauseln fehlen kann.56 Im Übrigen kann aber auch dann grds. ein Einverständnis mit übereinstimmenden und einseitig aufgestellten Klauseln angenommen werden.57 Bei Verträgen mit Unternehmern gilt § 305 Abs. 2 nicht, vgl. § 310 Abs. 1. Hieraus darf nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass die AGB bei Verträgen mit Unternehmern stets als einbezogen gelten. Vielmehr bedarf es hier einer regulären, rechtsgeschäftlichen Einbeziehung nach den §§ 133, 157. Daher reicht es nicht aus, dass der andere Vertragsteil nur davon ausgeht, dass den Verträgen üblicherweise AGB zugrunde gelegt werden.58 Auf der anderen Seite kann eine Einbeziehung stets bejaht werden, wenn die Obliegenheiten des Abs. 2 auch im unternehmerischen Verkehr beachtet werden.59 Die fehlende Geltung von Abs. 2 hat damit letztlich nur Bedeutung für Fälle, in denen eine stillschweigende Einbeziehung durch Branchenüblichkeit, eine laufende Geschäftsverbindung oder ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben erfolgt.60

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2. Besonderheiten bei IT-Verträgen Für die Einbeziehung von AGB gelten auch bei IT-Verträgen die allgemeinen Regeln.61 Schwierigkeiten bei der Darstellung der AGB und ihrer Einbeziehung stellen sich vor allem im Bereich der elektronischen Medien.62 Für IT-Verträge ergeben sich Besonderheiten aber häufig insofern, als der Verwender seinen Ursprung im Ausland hat und englischsprachige AGB verwendet (vgl. Rz. 17) und/oder der Softwarehersteller, der häufig vom Softwareverkäufer abweicht und damit eine Dreieckskonstellation bildet, seine Nutzungsbedingungen einbezogen wissen will (vgl. Rz. 19), obwohl er am Vertragsschluss nicht beteiligt ist.

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a) Sprachfassung und Fremdwörter bei IT-Verträgen Im Bereich der IT kommt auch heute noch die dominierende Marktstellung der USA zur Geltung.63 Bei IT-Verträgen kommt daher häufig zum Tragen, dass die AGB nicht in deutscher, sondern in der Regel in englischer Sprache zur Verfügung gestellt werden oder in den deutschen AGB eine Klausel enthalten ist, nach denen „im Falle von Unstimmigkeiten zwischen der englischen und der nicht englischen Version die englische Version dieses Lizenzvertrages“64 Gültigkeit hat. Die Verwendung einer 52 BGH v. 14.6.2006 – I ZR 75/03, NJW 2006, 2976, 2977 = CR 2006, 773 = ITRB 2006, 271; Ulmer/Brandner/ Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 149a jeweils m.w.N. 53 Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 146. 54 Marly, Softwarerecht, Rz. 1942 ff. 55 BGH v. 22.9.2015 – II ZR 343/14, juris Rz. 13; BeckOK BGB/Becker, § 305 Rz. 67. 56 Marly, Softwarerecht, Rz. 1968. 57 Marly, Softwarerecht, Rz. 1967 u. Rz. 1969. 58 BGH v. 12.2.1992 – VIII ZR 84/91, NJW 1992, 1232, 1233; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 170a. 59 MünchKomm/Basedow, § 305 BGB Rz. 103. 60 Vgl. zu allen Fallgruppen ausf. Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 173 ff. 61 Zur Einbeziehung von Software-AGB ausf. Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 1 ff. 62 Hierzu Spindler/Schuster/Schuster, § 305 Rz. 32 ff. 63 So auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1922. 64 So z.B. Apple iOS 9.1. Softwarelizenzvertrag 2016, Ziff. 13.

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BGB § 305 Rz. 17 Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag fremden Sprache könnte zum einen gegen das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2) verstoßen.65 Vorzugswürdiger ist allerdings (mit gleichem Ergebnis) die Prüfung anhand von § 305 Abs. 2, weil die fehlende Möglichkeit zumutbarer Kenntnisnahme bereits die Einbeziehung scheitern lässt.66 Gegenüber einem deutschen Verbraucher werden AGB grds. nicht wirksam einbezogen, wenn die AGB in einer fremden Sprache (zu einzelnen Wörtern vgl. Rz. 18) verfasst sind und der Verwender sein Marktstreben auch an deutsche Verbraucher gerichtet hat.67 Da fremdsprachige AGB somit nicht Vertragsbestandteil werden, hilft es dem Verwender daher auch nicht weiter, wenn er in deutschsprachigen AGB klauselmäßig den Vorrang der englischsprachigen AGB erklärt, da dies § 305 Abs. 2 nicht abbedingt. Im Bereich der Verträge mit Unternehmern kann dieser Grundsatz hingegen keine Gültigkeit für sich beanspruchen, zumal hier § 305 Abs. 2 wegen § 310 Abs. 1 keine Anwendung findet. Hier gilt vielmehr, dass die AGB von IT-Verträgen immer dann wirksam einbezogen wurden, wenn sie entweder in der gemeinsamen Verhandlungssprache oder in Englisch abgefasst sind, weil letzteres nicht nur eine anerkannte Weltsprache sondern vor allem auch die allgemein übliche EDV-Fachsprache bildet.68 18

Ebenso problematisch im Hinblick auf Abs. 2 Nr. 2 ist die Nutzung von it-spezifischem Fachvokabular. Der Verwender befindet sich hier naturgemäß auf einem schmalen Grat zwischen notwendiger Verständlichkeit und zwingenden Fachwörtern. Grundsätzlich gilt, dass die Verwendung von Fachausdrücken zur fehlenden Einbeziehung führen kann, wenn diese für einen Durchschnittskunden die allgemeine Verständlichkeit aufheben.69 Übertragen auf den IT-Bereich wird deshalb vertreten, dass die Verwendung von englischen Fachbegriffen und Abkürzungen für Soft- und Hardware zur fehlenden Einbeziehung führen kann, weil trotz der Durchdringung der Gesellschaft mit Computern nicht davon ausgegangen werden könne, dass diese einem Durchschnittskunden bekannt sind.70 Faktisch besteht jedoch die gesamte IT-Welt aus englischsprachigen Fachbegriffen (Software, Hardware, Open Source, Desktop, Cloud) und Abkürzungen (RAM, CPU, RAID, HDD, SSD), so dass hier die Verwendung ausformulierter oder deutschsprachiger Begriffe nicht erwartet werden kann und wohl mehr Verwirrung als Nutzen zur Folge hätte. Daher führt richtigerweise die Verwendung sämtlicher IT-spezifischer, gängiger Abkürzungen und englischen Fachbegriffe zur wirksamen Einbeziehung.71 Etwas anderes kann allenfalls dann gelten, wenn die Begriffe auf der Webseite, in der Präsentation oder im Angebot deutschsprachig oder ausformuliert bezeichnet wurden und damit von den AGB-Formulierungen abweichen. b) Shrink-Wrap-Licensing und Click-Wrap-Agreement

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Die Einbeziehung von AGB wird häufig beim Kauf von Standard-Software problematisiert. Denn hier finden sich i.d.R. zwei AGB, die einbezogen werden sollen: Zum einen die AGB des Software-Verkäufers (Distributor) und zum anderen die AGB des Software-Herstellers. Die Einbeziehungsfrage stellt sich sowohl beim „Offline“-Kauf als auch beim Download bzw. der Installation der Software: Bei dem heute als Auslaufmodell anzusehenden Kauf einer Software auf einem Datenträger werden die AGB häufig nicht äußerlich an der Verkaufsverpackung befestigt, sondern sind zusammen mit dem Datenträger in eine Kunststoffhülle eingeschweißt und können daher erst nach dem Öffnen dieser Hülle, d.h. i.d.R. erst nach Abschluss des Kaufvertrages, zur Kenntnis genommen werden. Nach dem Willen des Software-Herstellers sollen hier die AGB mit dem Aufreißen der Schutzhülle in einen eigenen, vom Kaufvertrag mit dem Verkäufer getrennten Vertrag einbezogen werden, dem sog. Schutzhüllenvertrag oder auch Shrink-Wrap-Licensing. Ähnlich stellt sich die Situation beim Download 65 So z.B. KG v. 8.4.2016 – 5 U 156/14, CR 2016, 602, mit Zusammenfassung bei Engels, ITRB 2016, 174. 66 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 30 ff.; Marly, Softwarerecht, Rz. 1925 ff. 67 LG Berlin v. 9.5.2014 – 15 O 44/13, CR 2014, 676 = ITRB 2014, 180 für whatsapp. Bestätigt durch KG v. 8.4.2016 – 5 U 156/14, CR 2016, 602 = ITRB 2016, 174 auf Grundlage des Transparenzgebots. Ebenso Marly, Softwarerecht, Rz. 1926. Weitergehend Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 32, der auch bei einer ausschließlich fremdsprachigen Webseite die Einbeziehung verneint. 68 Vgl. OLG Hamburg v. 1.6.1979 – 11 U 32/79, NJW 1980, 1232, 1233; Marly, Softwarerecht, Rz. 1928 f. 69 BGH v. 7.10.1981 – VIII ZR 229/80, NJW 1982, 331, 333; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Habersack, § 305 BGB Rz. 152. 70 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 31. 71 Zurückhaltender Marly, Softwarerecht, Rz. 1927. A.A. offenbar Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 31.

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Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag

Rz. 21 § 305 BGB

oder der Installation von Software dar: Dem Nutzer wird bei der Installation der Software ein Popup angezeigt, bei dem er bestätigen muss, durch die nachfolgende Benutzung der Software gleichzeitig seine Zustimmung zu den Hersteller-AGB zu erteilen, sog. End User License Agreement (EULA), Click Wrap Agreement oder auch Enter-Vereinbarung.72 Für den Fall des Shrink-Wrap-Licensing wird teilweise angenommen, dass das Aufreißen der das Software-Programm umgebenden Schutzhülle als Vertragsannahme zum vom Hersteller angebotenen Schutzhüllenvertrag gilt und daher mit diesem Aufreißen die AGB des Software-Herstellers auch wirksam einbezogen werden, weil nunmehr eine Kenntnisnahme des AGB-Inhalts möglich ist.73 Demgegenüber wird teilweise gefordert, für eine wirksame Einbeziehung der AGB seien die Klauseln von außen sichtbar anzubringen und mit dem Hinweis zu versehen, dass mit dem Aufreißen der Schutzhülle der Vertrag auf Geltung dieser Bedingungen angenommen werde.74 Die neuere Rspr. hatte sich zwei Mal am Rande mit der Einbeziehung von Hersteller-AGB im Rahmen von (Spiele-)Software zu beschäftigen, die auf die Online-Spieleplattform Battle.net zurückgreift. Die entsprechende Client-Software enthält auf der Schutzhülle des Datenträgers äußerlich sichtbar den Hinweis, dass die auf dem Datenträger befindlichen Nutzungsbedingungen Anwendung finden. Das OLG Dresden sah hierin keine wirksame Einbeziehung in den Kaufvertrag mit dem Verkäufer nach § 305 Abs. 2, da die AGB erst nach Erwerb der Software und bei Einrichtung des notwendigen Battle.net-Accounts einsehbar waren.75 Das OLG Hamburg verneinte im Zusammenhang mit dem Kauf der gleichen Client-Software ebenfalls eine wirksame Einbeziehung nach § 305 Abs. 2 Nr. 1, da kein Hinweis oder Aushang der AGB beim Kauf erfolgte. Es sah aber eine wirksame Einbeziehung darin, dass die AGB bei der Erstellung eines Accounts einsehbar sind, durch den – neben dem Kaufvertrag über die Client-Software – ein weiterer Vertrag mit dem Software-Hersteller abgeschlossen werde.76

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Die Entscheidungen des OLG Dresden und des OLG Hamburg deuten hier schon an, das hier richti- 21 gerweise sauber zwischen den (möglichen) Verträgen und Parteien unterschieden werden muss: Beim Kauf von Standard-Software auf einem Datenträger gibt es im Grundsatz nur einen Vertrag, nämlich den Kaufvertrag mit dem Software-Verkäufer, der bei der Bezahlung an der Kasse geschlossen wird. Ist zu diesem Zeitpunkt eine Kenntnisnahme der Hersteller-AGB nicht möglich, weil sie sich in einer Schutzhülle befinden, die zunächst aufgerissen werden muss, werden die AGB in den Kaufvertrag nicht wirksam einbezogen.77 Einen eigenständigen sog. Schutzhüllenvertrag, der durch das Aufreißen der Schutzhülle mit dem Software-Hersteller zustandekommen soll, gibt es nicht und ist eine künstliche Konstruktion eines tatsächlich nicht vorliegenden Vertragsschlusses.78 Eine Einbeziehung kommt daher nur dann in Betracht, wenn (1) der Software-Verkäufer ausnahmsweise identisch ist mit dem Software-Hersteller und (2) nach Abs. 2 Nr. 1 bei Vertragsschluss die AGB auch wahrnehmbar sind.79 Beim Click Wrap Agreement verhält es sich ähnlich: Eine Einbeziehung in den Kaufvertrag scheidet schon deshalb denklogisch aus, weil die Einbeziehung hier nachträglich erfolgen würde und deshalb die Voraussetzungen von Abs. 2 nicht erfüllt sind.80 Es wird aber auch – analog zum sog. Schutzhüllenvertrag 72 So z.B. die Microsoft Windows 10 Lizenzbestimmungen von November 2015: „… dies ist ein Lizenzvertrag … zwischen Ihnen und der Microsoft Corporation …, wenn Sie die Software bei einem Einzelhändler erworben haben. … Durch die Annahme dieses Vertrages oder durch die Nutzung der Software erklären Sie sich mit allen diesen Bestimmungen einverstanden. Wenn Sie diese Bestimmungen nicht akzeptieren und nicht einhalten, dürfen Sie die Software oder deren Features nicht verwenden.“ Zahlreiche weitere Bsp. in Marly, Softwarerecht, S. 425 f. 73 So OLG Stuttgart v. 10.2.1989 – 2 U 290/88, NJW 1989, 2633, 2634; Heydn, CR 2010, 765, 775; Hilty, MMR 2003, 3, 8; Schneider, CR 1996, 657. Ausf. u. differenzierend Söder, Schutzhüllenvertrag, S. 88 ff. 74 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 224; Leupold/Glossner/von dem Bussche/Schelinski, MAH IT-Recht, Teil 1 Rz. 153 f.; Söder, Schutzhüllenvertrag, S. 130. 75 OLG Dresden v. 20.1.2015 – 14 U 1127/14, CR 2015, 357, 357 = ITRB 2015, 87. 76 OLG Hamburg v. 6.11.2014 – 3 U 86/13, CR 2015, 308, 309. 77 So auch Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 224. 78 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 5; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 209; Niebling/Härting, AnwaltKommentar AGB, Teil 2 IT- und EDV-Verträge Rz. 1226; Redeker, IT-Recht, Rz. 579; Schumacher, CR 2000, 641, 643. A.A. Söder, Schutzhüllenvertrag, S. 88 ff. 79 Ähnl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1004 ff. A.A. Söder, Schutzhüllenvertrag, S. 235 ff., wonach nachträgliche Wahrnehmbarkeit ausreicht, wenn Rücktrittsrecht vorgesehen. 80 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 7.

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BGB § 305 Rz. 21 Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Vertrag – für alle Beteiligten erkennbar mangels Erklärungsbewusstseins des Nutzers kein eigener (ClickWrapping-/Lizenz-)Vertrag mit dem Hersteller begründet, so dass die AGB i.d.R.81 nicht wirksam einbezogen werden und damit auch nicht zur Anwendung kommen können.82 Hieran ändert auch die Click-Wrapping-Entscheidung des EuGH nichts.83 Denn hier ging es nur um die Frage, ob AGB (genauer: Gerichtsstandsklauseln) generell mit Abschluss eines Kaufvertrages durch Anklicken eines Bestätigungsfeldes einbezogen werden können. Fehlt es schon an einem Vertrag als Anknüpfungspunkt, kommt es auf diese Frage aber schon nicht mehr an.84 Eine Einbeziehung kommt daher auch hier nur dann in Betracht, wenn (1) der Software-Verkäufer ausnahmsweise identisch ist mit dem SoftwareHersteller und (2) die AGB nach Abs. 2 Nr. 1 bei Vertragsschluss und nicht erst bei Installation der Software wahrnehmbar sind.85 c) Open-Source-Verträge 22

Für die wirksame Einbeziehung der Open Source Lizenzbedingungen gelten ebenfalls die Voraussetzungen des § 305 Abs. 2. Für den ausdrücklichen Hinweis nach Abs. 2 Nr. 1 reicht es hier aus, wenn auf der Bestellseite oder am Anfang jeder Quelldatei auf die Geltung der GPL hingewiesen wird.86 Für die Möglichkeit der zumutbaren Kenntnisnahme nach Abs. 2 Nr. 1 soll es bereits ausreichen, dass die GPL-Lizenz allgemein zugänglich über das Internet abrufbar ist.87 Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen (vgl. Rz. 13) sollte aber stets zusammen mit dem Hinweis eine entsprechende Verlinkung erfolgen, wie es auch der Anhang zur GPL v3 vorsieht. Wird hingegen keinerlei Hinweis auf die Geltung der Lizenzbedingungen gegeben, scheidet eine Einbeziehung regelmäßig aus.88 Zur hier virulenten Problematik, dass die GPL in englischer Sprache verfasst ist, vgl. Rz. 17.89

IV. Einbeziehungsvereinbarung (§ 305 Abs. 3) 23

Durch § 305 Abs. 3 hat der Verwender die Möglichkeit, durch Abschluss einer Rahmenvereinbarung für eine bestimmte Art künftiger Rechtsgeschäfte die Geltung seiner AGB im Voraus zu vereinbaren. Diese Rahmenvereinbarung muss zunächst den Anforderungen des § 305 Abs. 2 genügen. Durch die Beschränkung auf „bestimmte Art von Rechtsgeschäften“ wird deutlich, dass die konkreten Rechtsgeschäfte von der Rahmenvereinbarung auch benannt werden müssen.90 Daher reicht es nicht aus, dass die AGB „für alle künftigen Geschäfte“ gelten sollen.91 Zudem kann sich die Rahmenvereinbarung

81 Im Hinblick auf die Battle.net-Entscheidungen sind möglicherweise Fallgestaltungen denkbar, in denen mit den Nutzungsbedingungen tatsächlich ein weiterer Vertrag über weitere Leistungen (z.B. Online-Services) abgeschlossen wird. Es erscheint dann aber zweifelhaft, ob die AGB aus diesem Vertrag Wirkung für den ersten Software-Vertrag entfalten können. 82 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 7 f.; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 209; Leujeune, ITRB 2015, 203, 204; Lejeune, ITRB 2014, 234, 237. Ähnl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1004 ff. mit Ausnahmefällen. 83 EuGH v. 21.5.2015 – C-322/14, CR 2015, 670 = ITRB 2015, 203. 84 Ähnl. Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 7 Fn. 8; Lejeune, ITRB 2015, 203, 204. 85 Vgl. Grützmacher, CR 2011, 485, 486 Fn. 2, der darauf hinweist, dass heute bei gewerblichen Käufern regelmäßig eine Einbeziehung über schriftliche Rahmenverträge mit dem Softwarehersteller oder Vertriebstöchtern erfolgt. 86 Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 180 ff.; Spindler, Rechtsfragen open source, S. 57 ff.; Koch, CR 2000, 333, 339; Metzger/Jaeger, GRUR-Int. 1999, 839, 846; Sester, CR 2000, 797, 804 f. 87 LG Frankfurt/M. v. 6.9.2006 – 2-6 O 224/06, CR 2006, 729, 731 m. Anm. Grützmacher = ITRB 2006, 273. 88 Kremer/Garsztecki, jurisPR-ITR 14/2016 Anm. 5 mit Verweis auf LG Hannover v. 21.7.2015 – 18 O 159/15, ZUM-RD 2016, 384. 89 Speziell zur Sprachenproblematik im Zusammenhang mit Open Source Spindler, Rechtsfragen open source, S. 67 ff. Für Unbedenklichkeit Koglin, CR 2008, 137, 138. 90 OLG Koblenz v. 30.9.2010 – 2 U 1388/09, CR 2011, 471, 472 = ITRB 2011, 55; MünchKomm/Basedow, § 305 BGB Rz. 99. 91 So ausdrücklich OLG Koblenz v. 30.9.2010 – 2 U 1388/09, CR 2011, 471, 472 = ITRB 2011, 55 für einen Webhosting-Vertrag.

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Einbeziehung in besonderen Fällen

Rz. 2 § 305a BGB

auch nur auf „bestimmte AGB“ beziehen, so dass eine Geltung von AGB „in ihrer jeweils geltenden Fassung“ nicht vereinbart werden kann.92 Im Bereich der IT-Verträge sind insb. bei komplexen Vertragswerken und Verträgen mit Dauerschuldcharakter häufiger Rahmenvereinbarungen mit entsprechender AGB-Geltungsklausel für die notwendigen Einzelverträge anzutreffen. Spezifische Besonderheiten haben sich hier bislang allerdings nicht gezeigt.93 Keine wirksame Rahmenvereinbarung stellen jedenfalls die AGB eines App-Stores dar, die für jeden Vertrag über einen Kauf von Software Anwendung finden sollen.94

24

§ 305a Einbeziehung in besonderen Fällen Auch ohne Einhaltung der in § 305 Abs. 2 Nr. 1 und 2 bezeichneten Erfordernisse werden einbezogen, wenn die andere Vertragspartei mit ihrer Geltung einverstanden ist, 1. die mit Genehmigung der zuständigen Verkehrsbehörde oder auf Grund von internationalen Übereinkommen erlassenen Tarife und Ausführungsbestimmungen der Eisenbahnen und die nach Maßgabe des Personenbeförderungsgesetzes genehmigten Beförderungsbedingungen der Straßenbahnen, Obusse und Kraftfahrzeuge im Linienverkehr in den Beförderungsvertrag, 2. die im Amtsblatt der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen veröffentlichten und in den Geschäftsstellen des Verwenders bereitgehaltenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen a) in Beförderungsverträge, die außerhalb von Geschäftsräumen durch den Einwurf von Postsendungen in Briefkästen abgeschlossen werden, b) in Verträge über Telekommunikations-, Informations- und andere Dienstleistungen, die unmittelbar durch Einsatz von Fernkommunikationsmitteln und während der Erbringung einer Telekommunikationsdienstleistung in einem Mal erbracht werden, wenn die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der anderen Vertragspartei nur unter unverhältnismäßigen Schwierigkeiten vor dem Vertragsschluss zugänglich gemacht werden können. Literatur: Vgl. zu normenübergreifender Literatur zu den §§ 305 ff. die Aufstellung bei § 305.

§ 305a macht zugunsten bestimmter Massengeschäfte eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 305 Abs. 2, wonach der Verwender die andere Vertragspartei auf die AGB hinweisen und ihr eine zumutbare Möglichkeit der Kenntnisnahme verschaffen muss. Die Vorschrift macht jedoch trotz der Privilegierung nicht die Einbeziehungsvereinbarung entbehrlich.1 Hierfür reicht es jedoch aus, dass „die andere Vertragspartei mit ihrer Geltung einverstanden ist“, ohne vom Inhalt der AGB Kenntnis erlangt zu haben. Zur Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens ist hier keine ausdrückliche Einverständniserklärung des Kunden notwendig, sondern die schlichte Inanspruchnahme der Leistung ausreichend, wodurch schlüssig die Einbeziehung der AGB vereinbart wird, weil jeder Kunde von der Geltung von Anbieter-AGBs ausgeht.2

1

Nr. 1 von § 305a erstreckt die Privilegierung auf den Eisenbahnpersonenverkehr sowie die Personenbeförderung mit Straßenbahnen, Obussen und Kraftfahrzeugen.3 Diese Privilegierung hat für den Bereich des IT-Rechts keine Bedeutung.

2

92 MünchKomm/Basedow, § 305 BGB Rz. 98. 93 Zu einer unwirksamen Rahmenvereinbarung in einem Webhosting-Vertrag vgl. OLG Koblenz v. 30.9.2010 – 2 U 1388/09, CR 2011, 471, 472 = ITRB 2011, 55. 94 Lachenmann, ITRB 2015, 99. 1 Spindler/Schuster/Schuster, § 305a Rz. 2. 2 MünchKomm/Basedow, § 305a BGB Rz. 4; Spindler/Schuster/Schuster, § 305a Rz. 2. 3 MünchKomm/Basedow, § 305a BGB Rz. 7 ff.

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BGB § 305a Rz. 3 Einbeziehung in besonderen Fällen 3

Nr. 2 von § 305a erstreckt die Privilegierung auf Post (Nr. 2 Buchst. a) und Telekommunikation (Nr. 2 Buchst. b). Letzteres erfasst nach seinem Wortlaut nicht nur Telekommunikationsdienstleistungen im engeren Sinne, sondern auch „Informations- und andere Dienstleistungen“. Für IT-Verträge hat die Vorschrift gleichwohl keine Bedeutung. Denn Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist, dass die Leistung unmittelbar durch den Einsatz von Fernkommunikationsmitteln und während der Erbringung einer Telekommunikationsdienstleistung in einem Mal erbracht wird. Dies betrifft vor allem Mehrwert-, Auskunfts- und Call-by-Call-Dienste, für die sich im IT-Bereich keine vergleichbaren Fallgestaltungen finden lassen. In der Praxis hat die Privilegierung daher nur Auswirkungen auf den Bereich der elektronischen Medien.4

§ 305b Vorrang der Individualabrede Individuelle Vertragsabreden haben Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Literatur: Redeker, Gesamtvertrag im Softwareprojekt, ITRB 2014, 193.

1

§ 305b löst einen Widerspruch auf, der dadurch entstehen kann, dass eine Individualabrede und eine Klausel in AGB denselben Fall regeln: Die Individualabrede geht in diesen Fällen vor; führt aber nicht zur Unwirksamkeit der AGB-Klausel. Letztere findet in Kollisionsfällen schlicht keine Anwendung.1

2

Unerheblich ist, ob die Individualabrede vor, bei oder nach Vertragsabschluss getroffen wurde; sie hat stets Vorrang.2 Der Anwendungsbereich vorrangiger Individualabreden ist aufgrund des generellen Vorrangs unüberschaubar.3 Beispiele sind eine Individualabrede zum kostenlosen Versand der Kaufsache, während die AGB eine Versandpauschale vorsehen4 oder eine individuelle Auslegung einer AGB-Klausel durch die Parteien entgegen der objektiven Auslegung.5 Der Vorrang der Individualabrede wird durch § 305b grds. schrankenlos gewährleistet, soweit die Individualvereinbarung wirksam ist und nicht gegen gesetzliche Vorschriften (§ 134) verstößt.6 Der bedeutendste Anwendungsbereich für Fragen rund um die Möglichkeit einer vertraglichen Einschränkung des Vorrangs der Individualabrede betrifft die Zulässigkeit von Schriftformklauseln (vgl. hierzu § 307 Rz. 32).

3

Spezifische Besonderheiten für den Bereich der IT-Verträge ergeben sich aus der Vorschrift nicht. Der Vorrang der Individualabrede gilt daher bspw. auch, wenn eine Abweichung von den EVB-IT durch Individualvereinbarung vorgesehen wird, auch wenn die Verwendung abweichender Bedingungen der öffentlichen Hand untersagt ist.7 Einen Verstoß gegen § 305b stellt es ferner dar, wenn in einem EDV-Systemvertrag klauselmäßig bestimmt wird, dass es sich um zwei getrennte Verträge handelt, obwohl die Auslegung der Individualvereinbarung ergibt, dass es sich um einen Vertrag handelt (sog. Trennungsklauseln, vgl. § 307 Rz. 60).8 Speziell für IT-Verträge wurde ferner bestätigt, dass eine Klausel unwirksam ist, die den Vorrang der AGB vor der Individualabrede klauselmäßig bestimmen will.9

4 Hierzu ausf. Spindler/Schuster/Schuster, § 305a Rz. 3 ff. 1 Zur – i.E. rein dogmatischen Frage – ob es sich bei § 305b um eine Kollisions- oder Auslegungsregel handelt, vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305b BGB Rz. 7. 2 BGH v. 20.10.1994 – III ZR 76/94, NJW-RR 1995, 179, 180; BGH v. 21.9.2005 – XII ZR 312/02, NJW 2006, 138, 139; MünchKomm/Basedow, § 305b BGB Rz. 5. 3 Vgl. die Übersicht bei Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 305b BGB Rz. 12 ff. 4 Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305b BGB Rz. 21. 5 BGH v. 3.12.2014 – VIII ZR 224/13, NJW-RR 2015, 264, 266 f. 6 Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305b BGB Rz. 26 ff. 7 Kremer/Sander, ITRB 2015, 24, 25 f. 8 Redeker, ITRB 2014, 193, 195. 9 LG Berlin v. 28.11.2014 – 15 0 601/12, CR 2015, 74, 78 m. Anm. Redeker.

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Überraschende und mehrdeutige Klauseln

Rz. 3 § 305c BGB

§ 305c Überraschende und mehrdeutige Klauseln (1) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, werden nicht Vertragsbestandteil. (2) Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehen zu Lasten des Verwenders. I. Überraschende Klauseln (§ 305c Abs. 1) . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderheiten bei IT-Verträgen . . . . . . . .

1 1 4

II. Unklarheitenregelung (§ 305c Abs. 2) . . . . 12 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Besonderheiten bei IT-Verträgen . . . . . . . . 14

Literatur: Suchomski, Der Copyleft-Effekt bei Cloud Computing, ITRB 2016, 90.

I. Überraschende Klauseln (§ 305c Abs. 1) 1. Allgemeines § 305c Abs. 1 nimmt auf die Tatsache Rücksicht, dass AGB vom Vertragspartner des Verwenders häufig nicht gelesen werden. Daher sollen nach dem Willen des Gesetzgebers solche Klauseln nicht Teil des Vertrages werden, mit denen vernünftigerweise nicht gerechnet werden kann.1 Dies gilt nicht nur für klassische AGB-Klauseln, sondern erfasst auch deklaratorische Klauseln und Klauseln zur Haupt- und Gegenleistung, die der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 entzogen sind.2

1

Eine überraschende und damit unwirksame Klausel ist im Grundsatz anzunehmen, wenn eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Vorstellungen und Erwartungen des Kunden und dem Inhalt der Klausel vorliegt.3 Welche Vorstellungen und Erwartungen ein Kunde an den Inhalt von AGB hat, ist eine Frage des Einzelfalls; generelle Kriterien existieren hier nicht. Die Vorschrift birgt daher ein hohes Risiko für eine ausufernde Judikatur.4 Im Grundsatz gilt jedenfalls, dass eine Klausel dann überraschend ist, wenn sie nicht den Vorstellungen und Erwartungen entspricht, die die typische Kundengruppe mit durchschnittlicher Geschäftserfahrung nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrages erwartet.5 Letztlich kommt es auf die Kenntnis der maßgeblichen Kasuistik an.6

2

Die Darstellungsweise innerhalb der AGB ist für den Überraschungseffekt grundsätzlich unerheblich, so dass auch ein Fettdruck nicht ausreicht, um die Unwirksamkeit zu verhindern.7 Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Klausel kann die Unwirksamkeit allerdings verhindern, insbesondere wenn hierdurch auch von einer Individualabrede nach § 305 Abs. 1 Satz 3 ausgegangen werden kann.8 Umgekehrt kann sich aber allein aus der Stellung der Klausel im Gesamtwerk der AGB der Überraschungseffekt ergeben.9

3

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BT-Drucks. 7/3919, 19. Vgl. OLG Köln v. 4.7.2006 – 22 U 40/06, NJW 2006, 3358; BeckOK BGB/Schmidt, § 305c Rz. 3. MünchKomm/Basedow, § 305c BGB Rz. 6. So der Vorwurf von Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 305c BGB Rz. 135 mit umfangreicher Kasuistik. BGH v. 28.1.2016 – I ZR 60/14, NJW-RR 2016, 498, 500; MünchKomm/Basedow, § 305c BGB Rz. 7. Eine riesige Auswahl an „überraschenden Klauseln“ enthält Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305c BGB Rz. 33 ff. BGH v. 21.6.2001 – IX ZR 69/00, NJW-RR 2002, 485. MünchKomm/Basedow, § 305c BGB Rz. 10. BGH v. 28.1.2016 – I ZR 60/14, NJW-RR 2016, 498, 500.

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BGB § 305c Rz. 4 Überraschende und mehrdeutige Klauseln 2. Besonderheiten bei IT-Verträgen 4

Eine Besonderheit der Regelung liegt für den Bereich der IT-Verträge darin, dass sie auch für Klauseln gilt, die im Übrigen nach § 307 Abs. 3 Satz 1 der Inhaltskontrolle entzogen sind.10 Dies betrifft insb. Leistungsbeschreibungen, Pflichtenhefte und Service Level Agreements (vgl. hierzu § 307 Rz. 75 ff.).

5

Bei einem Software-Leasingvertrag mit dem Modell des „Bestelleintritts“ in den Vertrag zwischen Lieferanten und Leasingnehmer durch den Leasinggeber wird das Schuldverhältnis im Ganzen übertragen.11 Hier ist eine Klausel nach § 305b überraschend und damit unwirksam, nach der die Übernahme des Softwareüberlassungsvertrages aus Gründen in der Sphäre des Leasingnehmers (z.B. Insolvenz) rückwirkend wegfallen kann.12

6

Bei einem Pflege- bzw. Wartungsvertrag ist es grds. möglich, dass die AGB nur zur „Behandlung von Mängeln“ verpflichten und damit ein Beseitigungserfolg nicht geschuldet wird.13 Denn mangels eines gesetzlichen Leitbildes für diesen Vertragstyp kann nicht pauschal von einem Werkvertrag ausgegangen werden, sondern es kommt bei entsprechender Ausgestaltung der Leistungspflichten auch ein Dienstvertrag in Betracht.14 Eine solche Klausel ist aber dann nach Abs. 1 überraschend und damit unwirksam, wenn auf der einen Seite durch Werbebroschüren und Anpreisungen des Anbieters ein schneller Beseitigungserfolg versprochen wird aber auf der anderen Seite eine dem widersprechende Leistungsbeschreibung oder Vertragsüberschrift vorliegt.15

7

Pflege- und Wartungsverträge sehen mitunter vor, dass zwar die Fehlerbeseitigung von der vereinbarten Vergütung umfasst ist, auf der anderen Seite aber eine Zusatzvergütung fällig sein soll, wenn tatsächlich kein Fehler vorlag oder ein Fehler dem Verantwortungsbereich des Kunden entspringt. Eine solche Klausel ist jedenfalls dann nicht nur nach Abs. 1 überraschend, sondern zudem auch nach Abs. 2 widersprüchlich und damit unwirksam, wenn der Pflegevertrag – wie üblich – auch Betreuungsund Unterstützungsleistungen beinhaltet.16

8

Vereinzelt finden sich Klauseln in Pflegeverträgen, nach denen das Nutzungsrecht für frühere Versionen teilweise entzogen werden soll, wenn im Rahmen der Softwarepflege Patches, Updates oder Bugfixes bereitgestellt werden. Eine solche Klausel in einem Pflegevertrag ist überraschend und damit unwirksam, weil der Kunde nicht damit rechnet, dass ihm durch die Leistungserbringung bereits erbrachte Leistungen plötzlich wieder genommen werden.17

9

In einem Softwareüberlassungsvertrag, der die Überlassung einer client-server-basierten Unternehmenssoftware regelt, soll eine Klausel nicht überraschend sein, nach der es verboten ist, ein als Gesamtheit erworbenes Nutzungsvolumen aufzuspalten, sog. Aufspaltungsverbot.18 Dies dürfte aber nur gelten, soweit auch eine abgespaltene Veräußerung unzulässig ist.19 Überraschend kann hingegen eine Klausel sein, die in AGB den Erwerb von Lizenzen für die indirekte Nutzung durch Drittanwendungen vorschreibt.20 Zur Vereinbarkeit mit gesetzlichen Leitgedanken des UrhG vgl. § 307 Rz. 40 ff. Ebenso überraschend ist eine Quellcode-Klausel, die im Kleingedruckten versteckt ist, obwohl der Kunde billigerweise mit der Überlassung des Quellcodes rechnen durfte (vgl. zu Quellcode-Klauseln § 307 Rz. 50).21 10 BGH v. 10.11.1989 – V ZR 201/88, NJW 1990, 576, 577. 11 OLG Oldenburg v. 5.4.2007 – 1 U 45/06, NJOZ 2007, 5937; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 111. 12 OLG Oldenburg v. 5.4.2007 – 1 U 45/06, NJOZ 2007, 5937, 5940 f. 13 Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 40; Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, S. Rz. 110 ff. 14 Vgl. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, S. Rz. 12. 15 Heymann, CR 1991, 525, 528. 16 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, S. Rz. 365. 17 Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 163. 18 OLG Karlsruhe v. 27.7.2011 – 6 U 18/10, CR 2011, 641, 645 = ITRB 2011, 224; LG Mannheim v. 22.12.2009 – 2 O 37/09, CR 2010, 159, 160 f. = IPRB 2010, 131. 19 Vgl. BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2014, 168 = ITRB 2014, 75 – UsedSoft II. 20 Oelschlägel/Schmidt, ITRB 2015, 72, 74 f. für AGB von SAP. 21 Zur schwierigen Frage, wann eine Quellcode-Überlassung geschuldet ist Hoeren, CR 2004, 721.

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Überraschende und mehrdeutige Klauseln

Rz. 14 § 305c BGB

Umfangreiche Mitwirkungspflichten in AGB eines Hardware-Kaufs sind überraschend, da der Kun- 10 de bei einem Kaufvertrag üblicherweise nur davon ausgeht, den Kaufpreis als wesentliche Pflicht erbringen zu müssen.22 Handelt es sich hingegen um einen komplexen Kauf von Hardware inkl. deren Montage (vgl. § 434 Abs. 2), der naturgemäß der Mitwirkung des Kunden bedarf (z.B. Spezifizierung der benötigten Bauteile und notwendigen Schnittstellen), können dementsprechende Pflichten aufgenommen werden. Bei einem Werkvertrag ist hingegen umstritten, ob eine Mitwirkungsobliegenheit (§ 642) zur Mitwirkungspflicht erhoben werden darf (vgl. hierzu § 307 Rz. 26). Das Überraschungsmoment soll bei Erhebung einer Neben- zur Hauptpflicht fehlen, wenn sie an prominenter Stelle des Auftrags erfolgt.23 Im Übrigen gilt, dass allgemeine AGB-Regelungen (z.B. Schlussbestimmungen), die auch in anderen 11 Verträgen nicht überraschend sind, auch bei IT-Verträgen keinen Überraschungseffekt hervorrufen können. So sind – bei Verträgen mit Unternehmern – bspw. Schiedsklauseln in AGB von SoftwareVerträgen nicht überraschend (vgl. zur Inhaltskontrolle § 309 Rz. 87).24 Gleiches gilt für Gerichtstandsklauseln in IT-Verträgen, soweit hier auf den Sitz des Verwenders oder einen Ort mit einen konkreten Zusammenhang zum Vertragsverhältnis abgestellt wird.25

II. Unklarheitenregelung (§ 305c Abs. 2) 1. Allgemeines Die Auslegung von AGB erfolgt grds. nach den allgemeinen Regeln für Willenserklärungen (§§ 133, 157). Allerdings gilt bei AGB der Grundsatz einer objektiven Auslegung.26 Das bedeutet, dass die Auslegung nicht unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und dem Verständnis der konkreten Parteien erfolgt, sondern sich nach dem typischen Verständnis redlicher Vertragspartner unter Abwägung der Interessen der an Geschäften dieser Art üblicherweise beteiligten Kreise richtet.27

12

Ergibt sich nach Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, dass für die Klausel zwei rechtlich vertretbare Auslegungsergebnisse möglich sind, kommt die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 zur Anwendung.28 Maßgeblich ist dann diejenige Auslegung, die „zu Lasten des Verwenders“ geht. Dies ist im Regelfall die kundenfreundlichere Auslegungsalternative. Zwingend ist dies aber nicht: So ist die kundenfeindlichste Auslegungsalternative Folge von § 305c Abs. 2, wenn diese Auslegungsalternative zur Unwirksamkeit der Klausel nach den §§ 307 ff. führt oder es sich um einen Verbandsprozess handelt.29

13

2. Besonderheiten bei IT-Verträgen Zahlreiche Unklarheiten hinsichtlich der Auslegung von Klauseln ergeben sich bei Open Source Soft- 14 ware Lizenzen.30 Dies betrifft insb. die sog. Copyleft-Klauseln, die nach umstrittener Auffassung wirksam sind (vgl. hierzu § 307 Rz. 58). Allerdings spricht viel dafür, dass den Copyleft-Klauseln durch die möglichen Auslegungsalternativen kein umfassender Schutz zukommt. Denn es muss hier zu Lasten des Verwenders nach § 305c Abs. 2 von einer engen Auslegung des Copyleft-Effekts ausgegangen 22 23 24 25 26 27

Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 68. Redeker/Witte, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.4 Rz. 81. Marly, Softwarerecht, Rz. 2034. Marly, Softwarerecht, Rz. 2025. Ausf. Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305c BGB Rz. 73 ff. Allg. M., vgl. nur BGH v. 23.11.2005 – VIII ZR 154/04, NJW 2006, 1056; BGH v. 18.7.2007 – VIII ZR 227/06, NJW-RR 2007, 1697, 1700; BGH v. 21.4.2009 – XI ZR 78/08, NJW 2009, 2051; BGH v. 17.2.2011 – III ZR 35/10, NJW 2011, 2122, 2123 = CR 2011, 300 = ITRB 2011, 150; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305c BGB Rz. 74. 28 BGH v. 29.5.2008 – III ZR 330/07, NJW 2008, 2495, 2496; BGH v. 17.2.2011 – III ZR 35/10, NJW 2011, 2122, 2123 = CR 2011, 300 = ITRB 2011, 150; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 152/15, NJW-RR 2016, 526, 527. 29 BGH v. 29.5.2008 – III ZR 330/07, NJW 2008, 2495, 2496; BGH v. 21.4.2009 – XI ZR 78/08, NJW 2009, 2051, 2052; BGH v. 17.2.2011 – III ZR 35/10, NJW 2011, 2122, 2123 = CR 2011, 300 = ITRB 2011, 150. 30 Vgl. Suchomski, ITRB 2016, 90.

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BGB § 305c Rz. 14 Überraschende und mehrdeutige Klauseln werden.31 Auf der anderen Seite muss die sog. „any later version“-Klausel (vgl. hierzu § 308 Rz. 37) nach § 305c Abs. 2 im Sinne einer kundenfreundlichen Auslegung weit verstanden werden, d.h. dass der Lizenznehmer sein Wahlrecht hinsichtlich der für ihn geltenden Lizenzbestimmungen gegenüber verschiedenen Lizenzgebern unterschiedlich ausüben kann.32 Greifen soll die Unklarheitenregelung auch für Ziff. 3 (2) der GPLv2, wonach das Angebot zur Zurverfügungstellung des Quellcodes für drei Jahre gültig sein muss.33 15

Nach Auffassung des LG Berlin soll bei einer Datenschutzerklärung eines Softwareanbieters (hier: Apple) die Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 auch auf die Frage Anwendung finden, ob es sich hierbei um AGB i.S.d. § 305 Abs. 1 handelt, die einer Inhaltskontrolle unterliegen.34 Erwecke der Verwender mit der äußeren Gestaltung den Eindruck, als sei die Datenschutzerklärung die maßgebliche Vertragsgrundlage, müsste nach der verbraucherfeindlichsten Auslegung zu Lasten des Verwenders davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um AGB handele.35 Diese Auffassung verkennt jedoch, dass § 305c Abs. 2 auf die Frage, ob es sich um AGB handelt, nicht anwendbar ist.36 Entscheidend ist vielmehr, ob die Datenschutzerklärung objektiv vorformulierte Rechte und Pflichten begründet oder der Vertragspartner nach dem Inhalt der Datenschutzerklärung zumindest davon ausgehen musste, dass hierdurch die vertraglichen Rechte und Pflichten begründet werden sollen (vgl. zu Datenschutzerklärungen als AGB § 305 Rz. 10).37

§ 306 Rechtsfolgen bei Nichteinbeziehung und Unwirksamkeit (1) Sind Allgemeine Geschäftsbedingungen ganz oder teilweise nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam, so bleibt der Vertrag im Übrigen wirksam. (2) Soweit die Bestimmungen nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam sind, richtet sich der Inhalt des Vertrags nach den gesetzlichen Vorschriften. (3) Der Vertrag ist unwirksam, wenn das Festhalten an ihm auch unter Berücksichtigung der nach Absatz 2 vorgesehenen Änderung eine unzumutbare Härte für eine Vertragspartei darstellen würde. Literatur: Vgl. zu normenübergreifender Literatur zu den §§ 305 ff. die Aufstellung bei § 305.

I. Allgemeines 1

Die Vorschrift regelt, welche Folgen die Unwirksamkeit nach den §§ 307 ff. auf den Vertrag haben.

2

§ 306 Abs. 1 kehrt das Regel-Ausnahme-Prinzip von § 139 um: Der Vertrag bleibt wirksam, auch wenn einzelne Klauseln unwirksam sind. Die Regelung gilt nach ihrer systematischen Stellung nicht nur für unwirksame Klauseln nach den §§ 307 ff., sondern auch für nicht einbezogene Klauseln nach den §§ 305 Abs. 2, 305c Abs. 1.1 Mindestvoraussetzung für die Anwendbarkeit von § 306 Abs. 1 (und auch Abs. 3) ist aber stets, dass durch die Unwirksamkeit der Klauseln die wesentlichen Vertragsbestandteile (essentialia negotii) als wirksame Teile übrig bleiben.2 31 Suchomski, ITRB 2016, 90, 94. Für die Reichweite einer Klausel in einer Creative Commons Lizenz und der Anwendung der Unklarheitenregelung OLG Köln v. 31.10.2014 – 6 U 60/14, CR 2015, 44, 47 = IPRB 2015, 132. 32 Funk/Zeifang, CR 2007, 617, 618. 33 LG Hamburg v. 20.11.2017 – 308 O 343/15, CR 2019, 774, 778. 34 LG Berlin v. 30.4.2013 – 15 O 92/12, CR 2013, 402, 403 = ITRB 2013, 130. 35 LG Berlin v. 30.4.2013 – 15 O 92/12, CR 2013, 402, 403 = ITRB 2013, 130. 36 BGH v. 4.2.2009 – VIII ZR 32/08, CR 2009, 305, 307. 37 Ähnl. Nietsch, CR 2014, 272, 274. 1 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 7. 2 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 10.

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Rechtsfolgen bei Nichteinbeziehung und Unwirksamkeit

Rz. 5 § 306 BGB

Statt der unwirksamen Klauseln gelten nach § 306 Abs. 2 die gesetzlichen Vorschriften. Da die Vor- 3 schrift nur den Grundfall einer vollständig unwirksamen Klausel eines eindeutigen Vertragstyps vor Augen hat, adressiert sie viele Fallgestaltungen nicht, die insb. im IT-Recht von Bedeutung sind. In der Rspr. und Literatur haben sich daher in Fortbildung des § 306 Abs. 2 vier vorrangige Prüfungspunkte herauskristallisiert: [1] Die Anwendung „gesetzlicher Vorschriften“ kommt nur in Betracht, wenn durch die unwirksame Klausel wirklich eine Lücke entsteht; kennt der gesetzliche Vertragstyp (z.B. Kaufvertrag) keine entsprechende Regelung, hat dies regelmäßig nur den ersatzlosen Wegfall der unwirksamen Klausel zur Folge.3 [2] Eine Anwendung von § 306 Abs. 2 erübrigt sich ferner hinsichtlich solcher Teile einer Klausel, die wirksam bleiben, weil sie eigenständige und inhaltlich vom unwirksamen Teil trennbare Regelungen enthalten.4 Hinsichtlich des unwirksamen Teils kommt hingegen eine geltungserhaltende Reduktion ausnahmslos nicht in Betracht.5 [3] Besonders bedeutsam – insb. für das IT-Recht – ist die Prüfung, ob überhaupt „gesetzliche Vorschriften“ zur Verfügung stehen. Daran fehlt es, wenn der Vertrag keinem Vertragstyp zugerechnet werden kann (sui generis) oder das Gesetz den geschlossenen Vertrag nur unzureichend regelt. In diesem Fall ist überwiegend anerkannt, dass die sich ergebende Vertragslücke durch eine ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden darf (vgl. Rz. 5).6 [4] Besteht eine wirksame abweichende Vereinbarung, kann § 306 Abs. 2 nicht zur Anwendung kommen, wobei an dieser Stelle vorformulierte salvatorische Klauseln i.d.R. unwirksam sind (vgl. hierzu ausführlich Rz. 7).7 Ausnahmsweise kann der Vertrag nach § 306 Abs. 3 in Abweichung zu Abs. 1 insgesamt unwirksam 4 sein, wenn ein weiteres Festhalten am Vertrag unzumutbar ist. Der Wortlaut der Norm erfasst hier sowohl eine Unzumutbarkeit auf Seiten des Verwenders als auch des anderen Vertragsteils, wobei aber beide Fallgruppen nur geringe praktische Bedeutung haben.8 Eine der wichtigsten Fallgruppen bilden hier Verträge, bei denen das Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung durch die Fortgeltung massiv gestört wird.9

II. Besonderheiten bei IT-Verträgen Ähnlich wie im Recht der elektronischen Medien10 fehlt es auch im IT-Recht häufig entweder vollständig an einem gesetzlich passenden Vertragstyp oder die gesetzlichen Regelungen bilden die betroffene Klausel nicht ausreichend ab. Es bedarf dann bei einer unwirksamen Klausel einer ergänzenden Vertragsauslegung, die auf einen beiderseitigen Interessenausgleich gerichtet ist.11 Dies jedoch nur, soweit es sich um eine bislang ungeklärte Rechtslage handelt und nicht offensichtlich gegen AGB-Vorschriften verstoßen wurde.12 Daher scheidet bspw. bei Softwareverträgen eine ergänzende 3 MünchKomm/Basedow, § 306 BGB Rz. 15. 4 So zutreffend Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 12. Vgl. zum sog. blue-pencil-test auch BGH v. 9.10.2014 – III ZR 32/14, NJW 2015, 328 = CR 2014, 784; BAG v. 12.3.2008 – 10 AZR 152/07, NZA 2008, 699. 5 BGH v. 22.9.2015 – II ZR 343/14, BeckRS 2015, 19661 Rz. 20; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 14. 6 BGH v. 3.11.1999 – VIII ZR 269/98, NJW 2000, 1110, 1114; BGH v. 26.3.2015 – VII ZR 92/14, NJW 2015, 1952, 1954; BGH v. 3.12.2015 – VII ZR 100/15, NJW 2016, 401, 402 f.; BGH v. 6.4.2016 – VIII ZR 79/15, NJW 2017, 320, 321 f.; MünchKomm/Basedow, § 306 BGB Rz. 31 f.; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 34. A.A. offenbar Jauernig/Stadler, § 306 BGB Rz. 5. 7 BGH v. 26.3.2015 – VII ZR 92/14, NJW 2015, 1952, 1954; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 306 Rz. 22 f.; Ulmer/ Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 39. 8 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 42. 9 BGH v. 12.10.2011 – IV ZR 199/10, NJW 2012, 217, 221; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 52. 10 Vgl. hierzu Spindler/Schuster/Schuster, § 306 Rz. 6. 11 Allgemein Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 37. 12 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 37.

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5

BGB § 306 Rz. 5 Rechtsfolgen bei Nichteinbeziehung und Unwirksamkeit Vertragsauslegung bei unwirksamen Haftungsausschlüssen aus.13 Ist für den Vertrag aufgrund der Komplexität des IT-Vertrages nicht erkennbar, welche Gestaltungsmöglichkeit die Parteien gewählt hätten, scheidet eine ergänzende Vertragsauslegung jedoch aus.14 Die Grenze der ergänzenden Vertragsauslegung bilden wiederrum die §§ 307 ff.15 6

Eine ergänzende Vertragsauslegung wird im Bereich der IT-Verträge u.a. bei unwirksamen Preiserhöhungsklauseln (vgl. § 309 Rz. 2 ff., auch: Wertsicherungsklauseln) diskutiert. Denn bei IT-Outsourcing-, Wartungs- und Pflegeverträgen soll stets angenommen werden können, dass die Parteien eine angemessene Wertsicherungsklausel vereinbart hätten.16 Dies erscheint zu weitgehend: Das dispostive Recht kennt – bis auf die §§ 557a ff. – keine Preiserhöhungsvorschriften. Die o.g. IT-Verträge weisen gegenüber anderen Verträgen keine Besonderheit auf, die eine ergänzende Vertragsauslegung für unwirksame Wertsicherungsklauseln rechtfertigen würden. Es verbleibt damit bei der Grundregel (vgl. Rz. 3), dass die Klausel grundsätzlich ersatzlos wegfällt. Eine Ausnahme wird nur für den Fall gelten können, dass dies für den Verwender zu einer längerfristigen und erheblichen Verschiebung des Vertragsgefüges führt, weil die Kosten immens steigen und ihn besonders lange Kündigungsfristen (z.B. fünf Jahre bei einem Pflegevertrag) treffen.17 Bei der Software-Miete wird eine ergänzende Vertragsauslegung für unwirksame Laufzeitklauseln (vgl. § 307 Rz. 55) diskutiert, weil das Mietrecht keine Mindestlaufzeiten vorsieht.18 Allerdings fehlt es auch hier an der notwendigen Besonderheit einer Software-Miete, die eine Sonderregelung gegenüber (nicht vorhandenen) gesetzlichen Vorschriften erfordern würde.19

7

Salvatorische Klauseln sind auch im IT-Recht Klassiker und umschreiben bei einem weitgehenden Verständnis all solche Regelungen, durch die versucht wird, unwirksamen AGB durch Rückgriff auf eine der ursprünglichen Regelung möglichst nahe kommenden Regelung doch noch Geltung zu verleihen.20 Gemein ist diesen Klauseln, dass sie letztlich die von Abs. 2 vorgesehene Geltung dispositiven Rechts verhindern oder verändern wollen. Bestimmungen, nach denen „die Unwirksamkeit einer Bestimmung dieser AGB den übrigen Vertragsinhalt nicht berührt“ – sog. Vertragswirksamkeitsklauseln – sind zwar nicht nach § 307 unwirksam, haben aber wegen der gesetzlichen Regelung des Abs. 1 keine Wirkung.21 Häufig in länderübergreifenden Hard- und Softwareverträgen US-amerikanischer Anbieter zu finden sind Relativierungsklauseln, also Klauseln, nach denen eine Regelung nur gilt, „soweit gesetzlich zulässig“ oder „soweit rechtlich zulässig“. Solche Regelungen sind jedoch unisono wegen Verstoß gegen das Transparenzgebot des Abs. 1 Satz 2 unwirksam.22 Dies hat zuletzt für verschiedene derartige Formulierungen das LG Berlin in Bezug auf die Garantie-AGB für Hardware von Apple festgehalten.23 Denn bei solchen Klauseln ist es einem durchschnittlichen Kunden ohne vertiefte Rechtskenntnisse (und häufig selbst dann) nicht möglich herauszufinden, ob und inwieweit eine Regelung Anwendung findet. An der Unwirksamkeit solcher Klauseln ändert auch nichts, dass die betreffende Rechtsfrage streitig ist und somit für den Verwender Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Klauselgestaltung besteht.24 Denn dies würde gerade im allerorts streitigen IT-Recht verhindern, dass jemals

13 Funk/Wenn, CR 2004, 481, 487 und Fn. 52. 14 Vgl. BGH v. 3.12.2015 – VII ZR 100/15, NJW 2016, 401, 402 f. 15 Allgemein BGH v. 31.10.1984 – VIII ZR 220/83, NJW 1985, 621, 622; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 37. 16 So wohl Hecht, ITRB 2006, 118, 122. 17 BGH v. 31.7.2013 – VIII ZR 162/09, NJW 2013, 3647, 3653. 18 Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 728. 19 Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 728. 20 So auch das Verständnis von Marly, Softwarerecht, Rz. 2036. 21 So auch Marly, Softwarerecht, Rz. 2040. 22 BGH v. 22.9.2015 – II ZR 340/14, MDR 2016, 40; BGH v. 5.5.2015 – XI ZR 214/14, NJW 2015, 2412, 2413; BGH v. 4.2.2015 – VIII ZR 26/14, NJW-RR 2015, 738, 739; BGH v. 5.3.2013 – VIII ZR 137/12, NJW 2013, 1668; LG Berlin v. 28.11.2014 – 15 0 601/12, CR 2015, 74 ff.; MünchKomm/Basedow, § 305 BGB Rz. 82; Wolf/ Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 306 BGB Rz. 45; Marly, Softwarerecht, Rz. 2053 ff.; BeckOK BGB/ Schmidt, § 306 Rz. 22; Bunte, NJW 1981, 2657, 2661. 23 LG Berlin v. 28.11.2014 – 15 0 601/12, CR 2015, 74 ff. 24 MünchKomm/Basedow, § 305 BGB Rz. 82; Marly, Softwarerecht, Rz. 2059; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/ Habersack, § 305 BGB Rz. 153. In diese Richtung auch BGH v. 5.5.2015 – XI ZR 214/14, NJW 2015, 2412,

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Umgehungsverbot

§ 306a BGB

gerichtlich eine Entscheidung herbeigeführt wird.25 Bei den sog. salvatorischen Klauseln mit Ersetzungsbefugnis handelt es sich um Regelungen, nach denen der Verwender befugt ist, „eine unwirksame Bestimmung durch eine wirksame zu ersetzen“ oder bei denen der Verwender „für den Fall, dass vorstehende Regelung unwirksam ist, folgendes als vereinbart“ gelten soll. Solche Klauseln sind zwar unter Umständen nicht intransparent, wenn sie die Ersatzregelung klar und verständlich erkennen lassen. Sie stellen aber stets eine unvereinbare Abweichung vom gesetzlichen Grundgedanken des § 306 Abs. 2 dar, weil der Verwender sich hiermit statt der Geltung dispositiven Rechts die (erneute) Möglichkeit einer einseitigen Interessenwahrnehmung einräumen will.26 Zu Klauseln, die einen einheitlichen EDV-Vertrag in zwei Verträge trennen wollen – sog. Trennungs- oder Entkopplungsklauseln – vgl. § 307 Rz. 60. Eine Unwirksamkeit des gesamten Vertrages nach § 306 Abs. 3 kommt bei IT-Verträgen im Einzelfall im Bereich der Open Source Software in Betracht.27 Denn Open Source Software wird ohne Vergütung als Gegenleistung weitergegeben. Die Gegenleistung bilden hier vielmehr die Lizenzbestimmungen, zu deren Einhaltung sich der Vertragspartner verpflichtet. Ist eine dieser Klauseln nach den §§ 307 ff. unwirksam, kann hierdurch das Äquivalenzinteresse u.U. massiv gestört sein und zur Gesamtunwirksamkeit führen (vgl. zu § 306 Abs. 3 und der Copyleft-Klausel § 307 Rz. 58).

8

Soweit Vereinbarungen zur Auftragsverarbeitung nach Art. 28 DSGVO als AGB einzuordnen sind (hierzu § 305 Rz. 10), ist weitgehend ungeklärt, wann diese gegen die §§ 307 ff. verstoßen können. Kommt eine Unwirksamkeit in Betracht (bspw. bei stark eingeschränkten Kontrollrechten), stellt sich die Frage, welche Folge die Unwirksamkeit der Klausel hat. § 306 Abs. 2 verlangt grundsätzlich die Anwendung der „gesetzlichen Vorschriften“. Allerdings enthält der Anforderungskatalog von Art. 28 Abs. 3 DSGVO keine automatisch wirkenden gesetzlichen Regelungen zur Auftragsverarbeitung, sondern verlangt gerade den Abschluss eines Vertrages mit dem in Art. 28 Abs. 3 DSGVO genannten Minimalinhalt. Folge ist dementsprechend in Anwendung der zu § 306 Abs. 2 allgemein angenommenen Erwägungen (s. Rz. 3), dass die unwirksame Klausel entweder ersatzlos wegfällt oder eine ergänzende Vertragsauslegung stattfinden muss. Für eine ergänzende Vertragsauslegung auf das durch Art. 28 Abs. 3 DSGVO vorgeschriebene Mindestmaß spricht, dass ein ersatzloser Wegfall nicht nur den Verwender bestrafen würde, sondern auch bei der anderen Vertragspartei zu einem bußgeldbewährten (vgl. Art. 83 DSGVO) Verstoß gegen Art. 28 Abs. 3 DSGVO führen würde. Da das AGB-Recht primär die andere Vertragspartei davor schützen soll, keinen Einfluss auf die Bedingungen des Verwenders nehmen zu können,28 wäre ein ersatzloser Wegfall schwer mit dem Schutzgrund des AGB-Rechts vereinbar.

9

§ 306a Umgehungsverbot Die Vorschriften dieses Abschnitts finden auch Anwendung, wenn sie durch anderweitige Gestaltungen umgangen werden. Literatur: Vgl. zu normenübergreifender Literatur zu den §§ 305 ff. die Aufstellung bei § 305.

25 26

27 28

2413. A.A. OLG Stuttgart v. 19.12.1980 – 2 U 122/80, NJW 1981, 1105, 1106; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 306 BGB Rz. 46; Bunte, NJW 1981, 2657, 2661 f. Ähnl. LG Köln v. 4.2.1987 – 26 O 120/86, NJW-RR 1987, 885, 886; Marly, Softwarerecht, Rz. 2059. BGH v. 26.3.2015 – VII ZR 92/14, NJW 2015, 1952, 1954; LG Köln v. 4.2.1987 – 26 O 120/86, NJW-RR 1987, 885, 886; Marly, Softwarerecht, Rz. 2064; Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 147; BeckOK BGB/Schmidt, § 306 Rz. 23; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306 BGB Rz. 39; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 178; Redeker/Witte, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.4 Rz. 158. Vgl. Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 186; Spindler, Rechtsfragen open source, S. 91 ff. Vgl. MünchKomm/Basedow, Vor § 305 BGB Rz. 4 ff.

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BGB § 306a Rz. 1 Umgehungsverbot

I. Allgemeines 1

Die Vorschrift will eine Umgehung der §§ 305 bis 310 verhindern. Für die §§ 305 bis 306 hat das Umgehungsverbot dabei keinen großen Anwendungsbereich, da sich fast1 alle erdenklichen Sachverhalte unter diese Normen subsumieren lassen.2 Die Norm verfolgt daher vor allem den Zweck, eine Abweichung von den §§ 308, 309 durch anderweitige Gestaltung zu verhindern. Allerdings ist auch hier der Anwendungsbereich gering, weil für all diese Fälle i.d.R. auch auf die Auffangfunktion der Generalklausel des § 307 zurückgegriffen werden kann.3

2

Eine Anwendung von § 306a kommt im Regelfall nur in Betracht, wenn die betreffende Regelung die Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. dadurch zu umgehen versucht, dass sie nach § 307 Abs. 3 grundsätzlich von der Inhaltskontrolle ausgenommen ist.4 Ist dies der Fall, greift die Vorschrift unabhängig davon ein, ob der Verwender eine Umgehungsabsicht hatte.5 Rechtsfolge einer Umgehung ist nicht die Unwirksamkeit der Regelung, sondern die Prüfung anhand der umgangenen Normen (also insb. §§ 307, 308, 309).6

II. Besonderheiten bei IT-Verträgen 3

Im Recht der elektronischen Medien erfährt die Norm in jüngerer Zeit einen ihrer Anwendungsschwerpunkte,7 bspw. bei Rücklastschriften für Telekommunikationsleistungen8 oder den zwischen Bieter und Versteigerer geltenden AGB eines Internetauktionshauses.9 Im Bereich der IT-Verträge hat die Norm bislang hingegen keine größere Bedeutung erlangt.

4

Diskutiert wird eine Anwendung von § 306a auf Datenschutzerklärungen.10 Denkbar sind hier Fälle, in denen die verantwortliche Stelle nicht nur über den Umgang und Schutz personenbezogener Daten „informiert“ (vgl. Art. 13 DSGVO), sondern faktisch Rechte und Pflichten auferlegt, die typischerweise nur in AGB vorkommen. Eines Rückgriffs auf § 306a bedarf es dafür jedoch nicht, da auch einzelne Regelungen einer Datenschutzerklärung über die allgemeine Auslegung nach § 305 Abs. 1 als AGB qualifiziert werden können (vgl. hierzu § 305 Rz. 10).11

5

Ein weiterer, denkbarer Anwendungsfall wäre die Qualifizierung von nach § 307 Abs. 3 kontrollfreien Service Level Agreements (vgl. § 307 Rz. 76) als Umgehung der §§ 307 ff. Dies kommt aber nur in Betracht, wenn man bspw. eine Verfügbarkeitsregelung als verdeckten Haftungsausschluss verstanden wissen will.12 Eine Anwendung von § 306a scheidet richtigerweise aber aus, weil die Regelungen nur die Hauptleistungspflicht für Fälle konkretisieren, in denen das dispositive Recht keine passenden Regelungen bereithält. Die SLA sind daher weder bewusst noch unbewusst darauf gerichtet, die Inhaltskontrolle zu umgehen. Sie können aber gleichwohl an der Transparenzkontrolle (Abs. 1 Satz 2) und Überraschungskontrolle (§ 305c) scheitern (vgl. § 307 Rz. 76).

1 Zur Anwendung von § 306a auf § 305 Abs. 1 bei sog. unternehmensinternen Anweisungen vgl. BGH v. 8.3.2005 – XI ZR 154/04, NJW 2005, 1645, 1646 sowie für Rücklastschriften von Internetprovidern OLG Schleswig-Holstein v. 15.10.2015 – 2 U 3/15, MDR 2016, 12 = ITRB 2016, 79; LG Düsseldorf v. 5.6.2013 – 12 O 649/12, BeckRS 2014, 05561; LG Düsseldorf v. 29.7.2015 – 12 O 195/15, BeckRS 2015, 17146. 2 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306a BGB Rz. 5. 3 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 306a Rz. 5; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306a BGB Rz. 7. 4 So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 306a BGB Rz. 9. Ähnl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 306a BGB Rz. 2. 5 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 306a Rz. 3; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 306a BGB Rz. 4. 6 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 306a Rz. 8. 7 Ähnl. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 306a Rz. 5. Zu Einzelfällen vgl. Spindler/Schuster/Schuster, § 306a Rz. 2 ff. Für den TK-Bereich zu WifiSpots in neuerer Zeit BGH v. 25.4.2019 – I ZR 23/18, CR 2019, 469. 8 OLG Schleswig v. 15.10.2015 – 2 U 3/15, MDR 2016, 12 = ITRB 2016, 79; LG Düsseldorf v. 5.6.2013 – 12 O 649/12, BeckRS 2014, 05561; LG Düsseldorf v. 29.7.2015 – 12 O 195/15, BeckRS 2015, 17146. 9 Spindler/Schuster/Schuster, § 306a Rz. 2. 10 Nietsch, CR 2014, 272, 275. 11 So auch Nietsch, CR 2014, 272, 275. 12 So bspw. BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181 m. Anm. Stögmüller = ITRB 2001, 76.

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Inhaltskontrolle

§ 307 BGB

Ein Fall des Umgehungsverbotes wird zudem für Fälle diskutiert, in denen „Smart Contracts“ eingesetzt werden und diese eine technische Gestaltung nutzen, die faktisch oder bewusst eine AGB-Kontrolle umgeht.13 Die Bedeutung des Umgehungsverbotes bei Smart Contracts hängt maßgeblich davon ab, ob diese bereits ihrerseits als AGB eingeordnet werden können, weil die AGB-Kontrolle dann direkt ohne Umweg über § 306a greifen würde.14 Regelmäßig wird dies aber zu verneinen sein.15

§ 307 Inhaltskontrolle (1) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. (2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder 2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. (3) Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck und Prüfungsgegenstand . . . . . . . 2. Verhältnis zu anderen Normen . . . . . . . a) Verhältnis zu anderen AngemessenheitsNormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zu anderen Normen des AGB-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verbot unangemessener Benachteiligung . 1. Allgemeiner Unwirksamkeitsgrund (§ 307 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderheit bei IT-Verträgen . . . . . . . aa) Verkehrssitte bei IT-Verträgen . . . . bb) Ermöglichungsfunktion bei IT-Verträgen . . . . . . . . . . . . . . 2. Transparenzpflicht (§ 307 Abs. 1 Satz 2) . . 3. Regelbeispiele unangemessener Benachteiligung (§ 307 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . a) Vermutungswirkung des § 307 Abs. 2 . . b) Wesentliche Grundgedanken der gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 2 Nr. 1) . . . . c) Einschränkung wesentlicher Rechte und Pflichten (§ 307 Abs. 2 Nr. 2) . . . . . . . d) Problematik im IT-Recht: Vertragstypus .

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1 1 3

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3

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4

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5

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6 6 8 9

. 11 . 15 . 16 . 16 . 17 . 18 . 19

4. Unangemessen benachteiligende Klauseln in IT-Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) IT-übergreifende Klauseln . . . . . . . . . aa) Vertragstypisierungsklauseln . . . . . bb) Vorkasse-Klauseln . . . . . . . . . . . cc) Mitwirkungsklauseln . . . . . . . . . . dd) Gewährleistungs- und Haftungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Mängelrügepflichten und -fristen . . ff) Verjährungsregelungen . . . . . . . . gg) Schriftform, Rechtswahl, Gerichtsstand und sonstige Schlussbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hardware-Verträge . . . . . . . . . . . . . c) Software-Verträge . . . . . . . . . . . . . . aa) Weitergabe-Klauseln . . . . . . . . . . bb) Klauseln zur Art und Weise der Software-Nutzung . . . . . . . . . . . cc) Audit-Klauseln . . . . . . . . . . . . . dd) Quellcode-Klauseln . . . . . . . . . . ee) Rückgabe- und Löschungspflichten . ff) Softwareerstellungs-Klauseln . . . . . gg) Laufzeitklauseln . . . . . . . . . . . . hh) Open-Source-Bedingungen . . . . . . ii) Gewährleistungsklauseln . . . . . . . d) EDV-System-Verträge . . . . . . . . . . . .

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21 22 22 23 26

. 27 . 30 . 31 . . . .

32 36 40 40

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42 49 50 51 52 55 57 59 60

13 Berberich, DSRITB 2019, 221, 225 ff.; Lupu, CR 2019, 631, 633. 14 S. hierzu Lupu, CR 2019, 631, 633. 15 So wohl auch Berberich, DSRITB 2019, 221, 223 ff.; Lupu, CR 2019, 631, 633. A.A. offenbar Schawe, MMR 2019, 218, 221; Schrey/Thalhofer, NJW 2017, 1431, 1436.

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6

BGB § 307 Rz. 1 Inhaltskontrolle e) ASP-/SaaS-/Cloud-/Outsourcing-Verträge f) Pflege- und Wartungs-Verträge . . . . . . .

62 66

III. Schranken der Inhaltskontrolle (§ 307 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontrollfreier Bereich bei IT-Verträgen . . .

72 75

IV. Unternehmerischer Geschäftsverkehr . . . .

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Literatur: Dorner, Umfassende Nutzungsrechteeinräumung gegen Pauschalabgeltung – Ende für „Buy-outs“?, MMR 2011, 780; Gräfin von Westerholt/Berger, Der Application Service Provider und das neue Schuldrecht, CR 2002, 81; Grützmacher, Softwarelizenzverträge und CPU-Klauseln, ITRB 2003, 279; Heymann, Gesetzliches Leitbild des Wartungsvertrages, CR 1991, 525; Hoeren, Softwareauditierung, CR 2008, 409; Hoeren/Spittka, Aktuelle Entwicklungen des IT-Vertragsrechts, MMR 2009, 583; Huppertz/Schneider, Software-Lizenzaudits im Unternehmen, ZD 2013, 427; Intveen, Softwarelizenzaudits aus Anwendersicht, ITRB 2012, 208; Intveen/Karger, Erfolgreiche Durchführung von Software-Audits, ITRB 2014, 39; Koch, Urheberrechtliche Zulässigkeit technischer Beschränkungen und Kontrolle der Software-Nutzung, CR 2002, 629; Kotthoff/Wieczorek, Rechtsrahmen von Softwarelizenzaudits, MMR 2014, 3; Metzger, Zur Zulässigkeit von CPU-Klauseln in Softwarelizenzverträgen, NJW 2003, 1994; Peter, Verfügbarkeitsvereinbarungen beim ASP-Vertrag, CR 2005, 404; Polley, Verwendungsbeschränkungen in Softwareüberlassungsverträgen, CR 1999, 345; Redeker, Schriftformklauseln in Softwareverträgen, ITRB, 2006, 15; Redeker, Nutzungsrechtsregelungen in Softwarekaufverträgen, ITRB 2013, 68; Röhrborn/Sinhart, Application Service Providing – juristische Einordnung und Vertragsgestaltung, CR 2001, 69; Schneider, Software als handelbares verkehrsfähiges Gut – „Volumen-Lizenzen“ nach BGH, CR 2015, 413; Scholz/Haines, Hardwarebezogene Verwendungsbeschränkungen in Standardverträgen zur Überlassung von Software, CR 2003, 393; Strittmatter/Harnos, Softwareaudits, CR 2013, 621; Wille, Die neue Leitbilddiskussion im Urhebervertragsrecht, ZUM 2011, 206.

I. Allgemeines 1. Zweck und Prüfungsgegenstand 1

§ 307 stellt mit dem Merkmal der unangemessenen Benachteiligung faktisch die Grundnorm der Inhaltskontrolle dar.1 Sie will dem Bedürfnis des anderen Vertragsteils nach verstärktem Schutz vor einseitigen Vertragsbedingungen Rechnung tragen, dient also nicht dem Schutz des Verwenders oder Dritter. Deshalb kann auch nicht zugunsten des Verwenders die Unwirksamkeit einer Klausel nach § 307 begründet werden.2 Zweck der Inhaltskontrolle ist es, zum Ausgleich ungleicher Verhandlungspositionen und damit zur Sicherung der Vertragsfreiheit Schutz und Abwehr gegen die Inanspruchnahme einseitiger Gestaltungsmacht durch den Verwender zu gewährleisten.3

2

Vor der Inhaltskontrolle nach § 307 muss in einem ersten Schritt zunächst geprüft werden, ob die Klausel überhaupt kontrollfähig ist (§ 307 Abs. 3, hierzu Rz. 72 ff.). Soweit dies der Fall ist, muss in einem zweiten Schritt der Klauselinhalt durch Auslegung ermittelt werden, d.h. es muss bspw. vor der Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 1 Satz 2) geprüft werden, welcher – möglicherweise transparente – Inhalt sich nach der Auslegung der Klausel ergibt.4 Erst im dritten Schritt wird dann geprüft, ob eine Klausel eine unangemessene Benachteiligung darstellt (§ 307 Abs. 1), wobei die Prüfung der Regelbeispiele (§ 307 Abs. 2) vorrangig vorzunehmen ist.5 Bei der Durchführung der Inhaltskontrolle ist ein genereller Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen, d.h. es ist auf den typischen Durchschnittskunden abzustellen.6 Hierbei können und müssen aber gleichwohl die Besonderheiten und Eigenarten spezieller Vertragsarten und Vertragstypen sowie die Interessen bestimmter Branchen (also etwa des IT-Be1 Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 1; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 3; Spindler/Schuster/ Schuster, § 307 Rz. 2. 2 Vgl. BGH v. 4.12.1997 – VII ZR 187/96, NJW-RR 1998, 594, 595; BGH v. 4.12.1986 – VII ZR 354/85, NJW 1987, 837, 838; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 1. 3 Allg.M., BGH v. 19.11.2009 – III ZR 108/08, NJW 2010, 1277, 1278; Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 3 jeweils m.w.N. 4 BGH v. 19.1.2016 – XI ZR 388/14, NJW 2016, 1382; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 8; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 7. 5 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 96 f. 6 BGH v. 24.11.1988 – III ZR 188/87, NJW 1989, 222, 224; BGH v. 24.3.2010 – VIII ZR 304/08, NJW 2010, 2793, 2795; BGH v. 19.1.2016 – XI ZR 388/14, NJW 2016, 1382; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 8; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 77 f.

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Hunzinger

Inhaltskontrolle

Rz. 4 § 307 BGB

reichs) berücksichtigt werden.7 Für das Ergebnis der Inhaltskontrolle ist nicht entscheidend, ob und in welchem Umfang der Verwender von der betreffenden Klausel in der Praxis tatsächlich Gebrauch macht, sondern nur, welche Rechte nach der Klausel geltend gemacht werden könnten.8 2. Verhältnis zu anderen Normen a) Verhältnis zu anderen Angemessenheits-Normen Im Grundsatz gilt, dass die Vorschriften der §§ 307 ff. vorrangig gegenüber Normen zur Anwendung 3 kommen, die ebenfalls die Angemessenheit einer vertraglichen Bestimmung als Prüfungsgegenstand haben.9 § 134: Die §§ 307 ff. sind kein Verbotsgesetz i.S.d. § 134, aber die Unwirksamkeit kann sich sowohl aus § 134 als auch aus § 307 ergeben.10 § 138: Ein Verstoß gegen § 307 kann nach h.M. keine Sittenwidrigkeit nach § 138 begründen.11 Etwas anderes gilt nur, wenn der Gesamtvertrag in der Zusammenschau mit einer Vielzahl unwirksamer Klauseln eine sittlich verwerfliche Gesinnung hat.12 Dies schließt es aber nicht aus, bei einer Prüfung nach § 138 auch AGB-Vorschriften in die Gesamtbetrachtung mit einzubeziehen.13 § 242: Vor Inkrafttreten des AGB-Gesetzes wurde eine Inhaltskontrolle vorwiegend auf § 242 gestützt.14 § 307 stellt nunmehr eine Spezialvorschrift zu § 242 dar, weshalb nach allgemeiner Meinung eine Inhaltskontrolle einer Klausel nach § 242 neben § 307 nicht mehr in Betracht kommt.15 Möglich bleibt aber weiterhin eine Ausübungskontrolle, d.h. bspw. der Fall einer unzulässigen Rechtsausübung, wenn die Klausel zwar nach § 307 wirksam ist, aber die Anwendung im konkreten Fall ausnahmsweise treuwidrig erscheint.16 Ebenso möglich ist eine ergänzende Vertragsauslegung nach § 242 hinsichtlich lückenhafter AGB.17 Eine ergänzende Vertragsauslegung unwirksamer AGB ist hingegen nur in den engen Grenzen des § 306 Abs. 2 möglich, d.h. insb. wenn eine gesetzliche Vorschrift fehlt.18 §§ 11 Satz 2, 32 UrhG: Die Normen schließen die Anwendung der §§ 307 ff. aus.19 b) Verhältnis zu anderen Normen des AGB-Rechts Innerhalb der eigentlichen Inhaltskontrolle gilt eine im Verhältnis zum systematischen Aufbau umge- 4 kehrte Prüfungsreihenfolge.20 Soweit die Norm nicht unter den kontrollfreien Bereich des § 307 Abs. 3 fällt, ist daher zunächst § 309 zu prüfen und dann § 308. Soweit hiernach keine Unwirksamkeit der Klausel vorliegt, ist im dritten Schritt die Unangemessenheit nach § 307 zu prüfen, wobei auch hier Abs. 2 vor Abs. 1 zu prüfen ist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es keine Wirksamkeitsvermutung für den Fall gibt, dass eine Klausel nach den §§ 308, 309 nicht zu beanstanden ist, es sei denn der Wortlaut der Norm lässt dies zu (z.B. § 308 Nr. 6, 309 Nr. 5).21 Andererseits darf mithilfe von § 307 keine

7 Vgl. BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1808 = CR 2003, 647; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 82. 8 BGH v. 6.10.1982 – VIII ZR 201/81, NJW 1983, 159, 161; BGH v. 10.10.2012 – IV ZR 10/11, VersR 2013, 46, 51; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 8; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 80. 9 BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 10. Vgl. im Einzelnen zum Verhältnis zu Normen des Wettbewerbsrechts MünchKomm/Wurmnest, Vor § 307 BGB Rz. 12 f. 10 BGH v. 17.12.2008 – VIII ZR 92/08, NJW 2009, 667, 669; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 12; BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 11. 11 MünchKomm/Wurmnest, Vor § 307 BGB Rz. 10. 12 BGH v. 26.4.2001 – IX ZR 337/98, NJW 2001, 2466, 2468; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, Vor § 307 BGB Rz. 61; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 25. 13 BGH v. 18.9.1997 – IX ZR 283/96, NJW 1997, 3372, 3374; a.A. offenbar MünchKomm/Wurmnest, Vor § 307 BGB Rz. 10. 14 Vgl. nur BGH v. 28.2.1973 – IV ZR 34/71, NJW 1973, 990, 990 ff. 15 Vgl. nur Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 28; MünchKomm/Wurmnest, Vor § 307 BGB Rz. 11. 16 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 28; MünchKomm/Wurmnest, Vor § 307 BGB Rz. 11. 17 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 34. 18 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 35. 19 BGH v. 31.5.2012 – I ZR 73/10, GRUR 2012, 1031 = IPRB 2012, 199. 20 Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 2; BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 18. 21 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 49.

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BGB § 307 Rz. 4 Inhaltskontrolle Umgehung der in §§ 308, 309 vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachten Wertungen vorgenommen werden.22

II. Verbot unangemessener Benachteiligung 5

Obwohl die Systematik des § 307 eine klare Prüfungsreihenfolge vorgibt (vgl. hierzu Rz. 2), wird bei der gerichtlichen Kontrolle von Klauseln häufig nicht trennscharf zwischen Abs. 2 und Abs. 1 unterschieden, sondern die Unwirksamkeit einheitlich auf § 307 gestützt.23 Die Kommentierung von unangemessen benachteiligenden Klauseln in IT-Verträgen erfolgt daher nicht nach Absätzen getrennt (vgl. hierzu Rz. 21 ff.). Im Rahmen der allgemeinen Kommentierung der Abs. 1 und 2 wird daher nur auf generelle Erwägungen im Hinblick auf die Inhaltskontrolle von Klauseln aus dem IT-Vertragsrecht eingegangen. 1. Allgemeiner Unwirksamkeitsgrund (§ 307 Abs. 1 Satz 1) a) Allgemeines

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Nach Abs. 1 Satz 1 sind Klauseln in AGB unwirksam, die den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Ob dies bei einer Klausel der Fall ist, ist anhand einer umfassenden Interessenabwägung zu ermitteln.24 Hierbei sind die Art des konkreten Vertrages, die typischen Interessen der Vertragschließenden und die die jeweilige Klausel begleitenden Regelungen zu berücksichtigen.25 Entscheidend ist also nicht eine isolierte Beurteilung der Klausel, sondern ihre Wirkung als Bestandteil des Gesamtvertrages.26 Dies kann dazu führen, dass zwei für sich genommen wirksame Klauseln durch den sog. Summierungseffekt unwirksam sind,27 aber auch andersherum eine für sich genommen unwirksame Klausel durch den Kompensationsgedanken einer anderen Klausel wirksam ist.28 Je nach Einzelfall können zudem spezielle Abwägungskriterien, wie etwa Verkehrssitte, Versicherbarkeit, Risikobeherrschung, Standesrichtlinien, Branchenstandards und Gemeinschaftsbelange eine wichtige Rolle für die Interessenabwägung spielen.29

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Für den Grad der Unangemessenheit ist erforderlich, dass der Verwender durch die einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich eigene Interessen auf Kosten seines Vertragspartners durchzusetzen versucht, ohne auch dessen Belange hinreichend zu berücksichtigen und ihm einen angemessenen Ausgleich zuzugestehen.30 Oder anders ausgedrückt: Die Abweichung von einer gesetzlichen Regelung muss für den anderen Vertragsteil einen nicht unerheblichen Nachteil von einigem Gewicht ohne Ausgleich zur Folge haben.31 22 BGH v. 4.12.1996 – XII ZR 193/95, NJW 1997, 739, 740; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 1. 23 BGH v. 10.10.2012 – IV ZR 10/11, VersR 2013, 46, 50; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 97 m.w.N. aus Rspr. und Lit. 24 BGH v. 17.9.1987 – VII ZR 155/86, NJW 1988, 55, 55 f.; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 174; Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 23; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 35. 25 Allg.M., vgl. nur BGH v. 24.3.2010 – VIII ZR 178/08, NJW 2010, 2789, 2791; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 12. 26 BGH v. 1.12.1981 – KZR 37/80, NJW 1982, 644, 645; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 212 ff.; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 36. 27 Der Summierungseffekt kann sich dabei auch aus dem Zusammenspiel Individualabrede/AGB-Klausel ergeben. Vgl. BGH v. 5.4.2006 – VIII ZR 163/05, NJW 2006, 2116, 2117; BGH v. 2.12.1992 – VIII ARZ 5/92, NJW 1993, 532, 532 f.; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 213; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 37. 28 BGH v. 23.4.1991 – XI ZR 128/90, NJW 1991, 1886, 1887; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 215 ff.; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 38. 29 Zu diesen speziellen Bewertungskriterien im Einzelnen Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 181 ff. m.w.N. 30 BGH v. 1.2.2005 – X ZR 10/04, NJW 2005, 1774, 1775; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230, 1232 = CR 2016, 285; Erman/Roloff, § 307 BGB Rz. 11; Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 22. 31 BT-Drucks. 7/5422, 6; BGH v. 6.11.2013 – KZR 58/11, VersR 2014, 759, 765; OLG Hamm v. 27.2.1981 – 4 REMiet 4/80, NJW 1981, 1049, 1050.

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Inhaltskontrolle

Rz. 11 § 307 BGB

b) Besonderheit bei IT-Verträgen Bei der Beurteilung einer Klausel nach Treu und Glauben kommen zwei Bewertungskriterien bei der vorzunehmenden Interessenabwägung zum Tragen, die im Bereich der IT-Verträge besondere Berücksichtigung finden müssen: Die Verkehrssitte und die Ermöglichungsfunktion des Rechts.

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aa) Verkehrssitte bei IT-Verträgen Auch wenn die Verkehrssitte und Handelsbräuche als Kriterien nicht in Abs. 1 Satz 1 genannt sind, 9 besteht Einigkeit, dass diese gleichwohl bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind.32 Dies führt nicht dazu, dass die bloße Üblichkeit einer Vertragshandhabung oder Klausel zur Angemessenheit führt,33 sondern die Verkehrssitte muss ihrerseits mit Treu und Glauben zu vereinbaren34 und von allen beteiligten Gruppen anerkannt sein.35 Dies führt bspw. dazu, dass die Überbürdung von Schönheitsreparaturen auf den Mieter in AGB nicht per se ausgeschlossen ist, weil dies der Verkehrssitte entspricht, obwohl dies im Widerspruch zum Leitbild des § 535 Abs. 1 Satz 2 steht.36 Nach diesen Grundsätzen kann die Verkehrssitte auch bei IT-Verträgen besondere Bedeutung erlan- 10 gen. So dürften Verfügbarkeitsregelungen (z.B. 98,5 %) bei ASP- und Outsourcingverträgen – soweit eine Inhaltskontrolle überhaupt anwendbar ist – zumindest mit Blick auf die Verkehrssitte37 wirksam sein (vgl. hierzu ausführlich Rz. 76 f.). Hingegen ist die bloße Üblichkeit ohne die Berücksichtigung von Treu und Glauben kein Grund für die Annahme einer angemessenen Benachteiligung. Deshalb rechtfertigt sich für Software-Verträge auch keine generelle Haftungserleichterung, nur weil es der Üblichkeit entspricht, dass Software nicht fehlerfrei entwickelt werden kann (vgl. hierzu § 309 Rz. 37 und Rz. 60).38 Etwas anderes kann sich jedoch im Einzelfall unter dem Gesichtspunkt der Existenzgefährdung ergeben (hierzu Rz. 13 f.). Aus der Verkehrssitte kann sich aber auch umgekehrt die Unwirksamkeit einer Klausel ergeben. So widerspricht bei der Software-Miete eine Laufzeit ab 5 Jahren der Verkehrssitte und ist daher – auch im unternehmerischen Verkehr – nach Abs. 1 unwirksam.39 bb) Ermöglichungsfunktion bei IT-Verträgen Dem Zivilrecht kommt durch den Grundsatz der Privatautonomie eine Ermöglichungsfunktion zu.40 11 Die Prüfung der Benachteiligungswirkung einer Klausel nach den Geboten von Treu und Glauben darf daher nicht dazu führen, dass ein von beiden Parteien gewolltes und zulässiges Geschäftsmodell durch die Annahme einer unangemessenen Benachteiligung i.S.d. Abs. 1 Satz 1 wirtschaftlich, technisch oder faktisch nicht mehr durchführbar ist.41 Daher kann es im Einzelfall geboten sein, auch die Wirksamkeit solcher Klauseln zu bejahen, die im Regelfall als unangemessene Benachteiligung eingestuft werden.42 Eine solche Überlegung ist der Inhaltskontrolle auch nicht fremd, wie bspw. das Leasing zeigt: Der Leasinggeber schließt gegenüber dem Leasingnehmer generell die Gewährleistungsrechte aus und verweist ihn auf den Lieferanten – eine Vertragsgestaltung, die unter normalen Umständen einer

32 Allg.M., vgl. nur BGH v. 30.10.1984 – VIII ARZ 1/84, NJW 1985, 480, 481; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 17; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 209; BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 31. 33 So ausdr. BGH v. 25.6.1991 – XI ZR 257/90, NJW 1991, 2414, 2416. 34 Vgl. OLG Koblenz v. 10.3.1988 – 6 U 1286/85, NJW-RR 1988, 1306, 1307. 35 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 210. 36 Vgl. BGH v. 30.10.1984 – VIII ARZ 1/84, NJW 1985, 480, 481. Zu den engen Grenzen in neuerer Zeit BGH v. 18.3.2015 – VIII ZR 21/13, NJW 2015, 1874. 37 Vgl. hierzu nur die zahlreiche Literatur als „Spiegelbild“ der Verkehrssitte Beyer, ITRB 2005, 287; Bräutigam, CR 2004, 248; Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617; Hörl/Häuser, CR 2003, 713; Morsbach/Sommer, AL 2013, 179; Rath, K&R 2007, 362; Roth-Neuschild, ITRB 2012, 67; Schumacher, MMR 2006, 12; Schuster, CR 2009, 205; Söbbing, ITRB 2004, 257; Schreibauer/Taraschka, CR 2003, 557; Stiemerling/Schneider, CR 2011, 345. 38 So auch Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 425. Krit. aber Heussen, CR 2004, 1, 9 f. 39 Vgl. hierzu Rz. 55. 40 Vgl. hierzu ausf. Pfeiffer, EWS 2004, 98, 98 ff.; Wilmowsky, JZ 1996, 590, 591 ff. 41 Vgl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 182a. 42 So auch Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 182a.

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BGB § 307 Rz. 11 Inhaltskontrolle Inhaltskontrolle nach Abs. 1 nicht standhalten würde, aber allgemein akzeptiert wird,43 um das Geschäftsmodell des Leasing weiterhin zu ermöglichen. 12

Diesem Grundsatz kann und muss im Bereich der IT-Verträge besondere Beachtung geschenkt werden. Denn IT-Projekte enthalten häufig technische Besonderheiten, die Klauseln notwendig machen können, die unter normalen Umständen unwirksam sind. Eine Klausel in einem IT-Vertrag kann daher im Einzelfall der Inhaltskontrolle nach Abs. 1 standhalten, weil im Rahmen der Interessenabwägung der Ermöglichungsfunktion des Zivilrechts eine ausschlaggebende Rolle zukommt oder anders ausgedrückt, die Klausel kann wirksam sein, wenn das betreffende IT-Geschäftsmodell auf andere Weise nicht mehr wirtschaftlich durchführbar wäre.

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So kann bspw. die Haftung für Mängel durch AGB nur sehr begrenzt eingeschränkt werden (vgl. § 309 Rz. 47 ff.).44 Bei komplexen IT-Entwicklungsverträgen sind jedoch die Haftungsrisiken im Vorhinein kaum abschätzbar und bereits kleine Software-Mängel können zur Existenzgefährdung des SoftwareAnbieters führen. Dennoch verbietet sich hier eine generelle Privilegierung des IT-Rechts (vgl. ausf. § 309 Rz. 37). In Ausnahmefällen kann es hier jedoch die Ermöglichungsfunktion des Rechts gebieten, eine Begrenzung der Haftung auf die Auftragssumme als wirksam anzusehen, weil das Geschäftsmodell andernfalls nicht mehr wirtschaftlich durchführbar wäre und sonst berechtigte Interessen des Software-Anbieters gänzlich unberücksichtigt gelassen würden.45 Dem Interesse des Auftraggebers ist hiermit ausreichend Rechnung getragen, da Nacherfüllung und Rücktritt weiterhin möglich sind und weitergehende Schadensersatzansprüche ohnehin regelmäßig zu einer aussichtslosen Insolvenzforderung verkommen würden.46

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Ein weiterer Anwendungsbereich für die Ermöglichungsfunktion des Rechts dürfte sich in Zukunft im Bereich der Industrie 4.0 ergeben. So kann hier bspw. die Verwirklichung vieler Geschäftsmodelle nur durch eine Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) erfolgen. Für die zivilrechtliche Einordnung derartiger automatisierter Verträge bestehen bislang nur dogmatische Hilfskonstruktionen.47 Für die Vertragspraxis erscheint hier eine Klausel geboten, nach der automatisierte Erklärungen menschlichen Willenserklärungen gleichgestellt werden.48 Eine solche Klausel könnte jedoch wegen Abweichung von den §§ 145 ff. nach §§ 307, 308 Nr. 5 unwirksam sein. Die Ermöglichungsfunktion des Rechts gebietet es hier, derartige Klauseln zuzulassen, um dem berechtigten Interesse zur technologischen Abwicklung massenhafter Vertragsschlüsse Rechnung zu tragen und die Etablierung neuer Geschäftsmodelle zu ermöglichen.49 Abzugrenzen von den vorstehenden Erwägungen zu AGB-Regelungen im Rahmen von M2M sind Verträge über die Nutzung von M2M-Softwareagenten.50

43 Vgl. nur BGH v. 16.9.1981 – VIII ZR 265/80, NJW 1982, 105, 105 f.; BGH v. 4.4.1984 – VIII ZR 313/82, NJW 1984, 2687, 2688; BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 131/83, NJW 1985, 129, 130. Zum Software-Leasing OLG Koblenz v. 26.2.2015 – 3 U 812/14, MMR 2015, 512. Zu vereinzelten Bedenken hiergegen Graf von Westphalen/Thüsing/ Graf von Westphalen, Teil „Klauselwerke“, „Leasing“, Rz. 109. Für das EDV-Leasing Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 1 ff. 44 Insb. für die Verletzung von sog. Kardinalpflichten, vgl. BGH v. 11.11.1992 – VIII ZR 238/91, NJW 1993, 335, 335 f.; BGH v. 26.1.1993 – X ZR 90/91, NJW-RR 1993, 560, 561 = CR 1994, 91; BGH v. 14.11.2000 – X ZR 211/98, NJW-RR 2001, 342, 343. Für Haftungsfreizeichnungen bei Open-Source-Software Grützmacher, ITRB 2009, 184, 188. 45 Weitergehend Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 425 f. Ähnl. für den TK-Bereich OLG Köln v. 15.11.2012 – 19 U 124/12, CR 2013, 153, 155. 46 So auch Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 426. 47 Vgl. BGH v. 16.10.2012 – X ZR 37/12, CR 2013, 186; Groß, InTer 2018, 4, 4 f.; Müller-Hengstenberg/Kirn, MMR 2014, 307, 308 f.; Wulf/Burgenmeister, CR 2015, 404, 406. 48 So Tagungsband Kölner Tage IT-Recht 2016/Grützmacher, S. 247, 280 f. Ausf. hierzu Grützmacher/Heckmann, CR 2019, 553, 558 f. 49 So allg. für fingierte Erklärungen Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 67. So wohl auch Grützmacher/Heckmann, CR 2019, 553, 559. 50 Zu den AGB-rechtlichen Grenzen dieser Ausgestaltung ausf. Groß, InTer 2018, 4, 4 ff.

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Inhaltskontrolle

Rz. 16 § 307 BGB

2. Transparenzpflicht (§ 307 Abs. 1 Satz 2) Durch das sog. Transparenzgebot wird der Verwender verpflichtet, die Klauseln in seinen AGB inhalt- 15 lich klar, präzise und durchschaubar darzustellen.51 Abzustellen ist bei der notwendigen Transparenz auf den typischen Durchschnittskunden und nicht auf die Erkenntnismöglichkeiten des konkreten Vertragspartners oder eines Fachmanns.52 Im Unterschied zur übrigen Inhaltskontrolle gilt die Transparenzpflicht auch für Klauseln zu Preisen und Leistungen, vgl. Abs. 3 Satz 2.53 Bei der Transparenzkontrolle haben sich nach der bisherigen Rechtsprechung drei Fallgruppen54 herausgebildet, aus denen eine Unwirksamkeit durch Intransparenz folgen kann: Die äußere Gestaltung (z.B. versteckte55 oder aufgespaltene56 Klauseln), die Unbestimmtheit (z.B. unkonkrete57 oder ausfüllungsbedürftige58 Klauseln), eine irreführende Darstellung der Rechtslage59 oder eine Kombination mehrerer dieser Kriterien. Die Rspr. zur Transparenz von Klauseln ist allerdings nicht immer widerspruchsfrei, was schon daraus resultiert, dass die Verständnisgrenzen für den Durchschnittkunden höchst unterschiedlich angesetzt werden. Vielfach wird deshalb zu Recht auch von der „Intransparenz der … Transparenzrechtsprechung“ gesprochen.60 Zur Verwendung von fremdsprachigen AGB in IT-Verträgen vgl. § 305 Rz. 17. 3. Regelbeispiele unangemessener Benachteiligung (§ 307 Abs. 2) a) Vermutungswirkung des § 307 Abs. 2 Abs. 2 ist eine Konkretisierung der allgemeinen Regelung des Abs. 1 mit wiederrum generalklauselartiger Formulierung.61 Die Nr. 1 und Nr. 2 kommen nebeneinander zur Anwendung, wobei sich gleichwohl die vorrangige Anwendung von Nr. 1 bei gesetzlich geregelten Vertragstypen und die Anwendung von Nr. 2 bei gesetzlich nicht geregelten Vertragstypen anbietet.62 Abs. 2 begründet eine Vermutungswirkung für die unangemessene Benachteiligung. Dies führt dazu, dass den Verwender die Beweisund Begründungslast trifft, wenn er das Fehlen einer unangemessenen Benachteiligung geltend machen will, während bei Abs. 1 nach allgemeinen Regeln der Vertragspartner die Beweislast trägt.63 Eine Widerlegung der Vermutungswirkung kommt z.B. in Betracht, wenn ein überwiegendes Interesse des

51 BGH v. 11.9.2013 – IV ZR 303/12, NJW 2014, 377, 377 f.; BGH v. 12.3.2014 – IV ZR 295/13, NJW 2014, 1658, 1660; BGH v. 9.12.2015 – VIII ZR 349/14, NJW 2016, 2101, 2103; BGH v. 4.4.2018 – IV ZR 104/17, NJW 2018, 1544, 1545 ff.; BGH v. 7.2.2019 – III ZR 38/18, NJW-RR 2019, 942, 943; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 21. 52 BGH v. 24.11.1988 – III ZR 188/87, NJW 1989, 222, 224; BGH v. 23.5.1995 – XI ZR 129/94, NJW 1995, 2286; BGH v. 3.12.2015 – VII ZR 100/15, NJW 2016, 401, 402; BGH v. 4.4.2018 – IV ZR 104/17, NJW 2018, 1544, 1546. 53 OLG Celle v. 15.3.1995 – 3 U 86/94, NJW-RR 1995, 1133; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 236; Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 67. 54 So die Fallgruppen-Bildung von MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 59 ff. 55 Vgl. LG Saarbrücken v. 27.3.2002 – 11 S 200/01, NJW-RR 2002, 915 zu versteckten Aboverträgen. 56 Vgl. BGH v. 23.2.2005 – IV ZR 273/03, NJW-RR 2005, 902, 903; BGH v. 13.1.2016 – IV ZR 38/14, NJW 2016, 1646, 1647 f. 57 Vgl. BGH v. 13.12.2006 – VIII ZR 25/06, NJW 2007, 1054, 1055 zu unkonkreten Berechnungsfaktoren für Preisanpassungen. 58 Vgl. BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 121/04, NJW-RR 2005, 1496, 1505 = CR 2006, 228 = ITRB 2006, 102; BGH v. 9.12.2015 – VIII ZR 349/14, NJW 2016, 2101, 2103 zur Verwendung von „Kardinalspflicht“ und „vertragswesentlichen Regelungen“. Anders aber für die Nutzung des Begriffs „Aufenthaltsort“ in Versicherungsbedingungen BGH v. 4.4.2018 – IV ZR 104/17, NJW 2018, 1544, 1545 f. 59 Vgl. BGH v. 10.2.2016 – VIII ZR 137/15, NJW 2016, 1308, 1309 über den Inhalt von Betriebskosten; BGH v. 15.6.1989 – VII ZR 205/88, NJW 1989, 2750, 2751 zur Irreführung über den Anspruchsinhaber. 60 OLG Bremen v. 18.3.1991 – 6 U 4/91, NJW 1991, 1837, 1838. So auch MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 59. 61 BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 52. 62 Ähnl. Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 33; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 97. 63 Vgl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 100 ff.

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BGB § 307 Rz. 16 Inhaltskontrolle Verwenders, eine zu vernachlässigende Benachteiligung oder ein angemessener Ausgleich durch andere Regelungen dargelegt werden kann.64 b) Wesentliche Grundgedanken der gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 2 Nr. 1) 17

Nach Abs. 2 Nr. 1 ist eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist. Dies erfordert eine Prüfung in drei Schritten: Zunächst muss überhaupt eine gesetzliche Regelung vorliegen, wozu neben materiellen Gesetzen auch Richterrecht und Rechtsgrundsätze gehören (zur Problematik bei IT-Verträgen, vgl. Rz. 19).65 Im zweiten Schritt muss es sich bei der betroffenen Regelung um einen wesentlichen Grundgedanken handeln, was nach der st. Rspr. dann der Fall ist, wenn die Regelung nicht bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen dient, sondern eine Ausprägung des Gerechtigkeitsgebots ist.66 Im dritten Schritt muss die Klausel hiervon unvereinbar abweichen, was zumindest dann der Fall ist, wenn die Klausel sich inhaltlich nicht nur geringfügig, sondern weit von der gesetzlichen Regelung entfernt.67 c) Einschränkung wesentlicher Rechte und Pflichten (§ 307 Abs. 2 Nr. 2)

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Nach Abs. 2 Nr. 2 ist eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel anzunehmen, wenn durch die Klausel vertragswesentliche Rechte und Pflichten in einer den Vertragszweck gefährdenden Intensität verändert werden. Es ist also auch hier dreistufig vorzugehen: Im ersten Schritt muss der Vertragszweck ermittelt werden, d.h. es ist danach zu fragen, was die Parteien mit dem Vertragsschluss erreichen wollten. Im zweiten Schritt muss durch die Klausel von wesentlichen Rechten und Pflichten abgewichen werden, d.h. bei typisierten Vertragstypen i.d.R. von den Hauptleistungspflichten und bei nicht typisierten Verträgen kommt es darauf an, was die Parteien eines solchen Vertrages typischerweise (nicht im konkreten Fall) als Kardinalspflichten ansehen.68 Im dritten Schritt muss diese Abweichung den zuvor ermittelten Vertragszweck gefährden, was nach der h.M. bereits dann der Fall ist, wenn die wesentlichen Rechte und Pflichten erheblich beeinträchtigt werden.69 d) Problematik im IT-Recht: Vertragstypus

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Für die Regelbeispiele des Abs. 2 ist es nach dem zuvor gesagten essentiell, vor der Prüfung zunächst die vertragstypologische Einordnung des jeweiligen IT-Vertrages vorzunehmen. Denn ohne die Bestimmung der anwendbaren gesetzlichen Regelungen fehlt es an dem für die Inhaltskontrolle notwendigen Vergleichsmaßstab.70 Die vertragstypologische Einordnung von IT-Verträgen ist seit jeher lebhaft umstritten und kann daher an dieser Stelle nicht ausführlich erörtert werden.71 Vielmehr kann hier auf die Kommentierung an anderer Stelle in diesem Werk verwiesen werden (vgl. insb. Vor §§ 433 ff. Rz. 1 ff.).

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Angesichts der Schwierigkeiten bei der vertragstypologischen Einordnung wird teilweise vorgeschlagen, bei typengemischten Verträgen und insb. bei Verträgen aus den Bereichen IT und neue Medien stets auf Nr. 2 und nicht gezwungenermaßen auf den Typenkatalog des BGB i.V.m. Nr. 1 zurückzugreifen, also unabhängig von gesetzlichen Regelungen die wesentlichen Rechte und Pflichten aus

64 Vgl. BGH v. 19.1.2016 – XI ZR 388/14, NJW 2016, 1382, 1384; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 103 m.w.N. 65 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 105 ff. 66 BGH v. 9.5.1996 – III ZR 209/95, NJW-RR 1996, 1009 m.w.N. Krit. hingegen Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 117. 67 Vgl. BGH v. 17.1.1990 – VIII ZR 292/88, NJW 1990, 2065 = CR 1990, 718; BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 68 BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 67 f. 69 Vgl. nur Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Pfeiffer, § 307 BGB Rz. 145. Ähnl. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 307 BGB Rz. 262. 70 Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 33 ff. 71 Einen Gesamtüberblick gibt Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, M. Rz. 85 ff.

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Inhaltskontrolle

Rz. 23 § 307 BGB

dem Vertrag zu ermitteln.72 Dies liefe auf die Annahme eines Vertrages sui generis hinaus, wofür zweifelsohne Vor- als auch Nachteile sprechen. Da die Rechtsprechungspraxis aber unisono alle IT-Verträge in die Vertragstypen des BGB eingliedert und grds. keine Verträge sui generis annimmt, haben diese Vorschläge für die Praxis der Inhaltskontrolle (bislang) keine Bedeutung. Für die AGB-Problematik schafft die Annahme eines Vertrages sui generis aber auch keine Abhilfe, da zu prüfen bleibt, ob (einzelne) Regeln des BGB oder seiner Nebengesetze über vergleichbare Vertragstypen direkt oder analog anzuwenden sind und damit als Leitgedanken für die Inhaltskontrolle dienen können.73 4. Unangemessen benachteiligende Klauseln in IT-Verträgen Im Bereich der IT-Verträge liegt der Schwerpunkt der Klauselkontrolle besonders häufig im Bereich 21 des § 307. Denn für den Bereich der Software-Verträge ist hier häufig auf die gesetzlichen Leitgedanken des UrhG zurückzugreifen (vgl. hierzu Rz. 40).74 Nachfolgend wird die Kommentierung unterteilt in Klauseln, die häufig in IT-Verträgen auftreten (hierzu Rz. 22 ff.) und AGB-Regelungen, die sich in spezifischen IT-Verträgen wiederfinden (hierzu Rz. 36 ff.). a) IT-übergreifende Klauseln aa) Vertragstypisierungsklauseln Den Einstieg in die Inhaltskontrolle kann unter Umständen schon die Überschrift des Vertrages bil- 22 den, also bspw. die Bezeichnung als Werkvertrag. Eine solche, vom Verwender vorgenommene vertragstypologische Einordnung des jeweiligen IT-Vertrages durch Vertragstypisierungs-Klauseln soll zumindest einer Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 unterliegen.75 Intransparent und dadurch unwirksam soll demnach bspw. eine Klausel sein, die einen Software-Kaufvertrag als Lizenzvertrag oder einen Systemvertrag als Werkvertrag einordnet, weil der Vertragspartner dadurch über seine Rechte irregeführt werde.76 Dem ist nicht zuzustimmen: Die Eigenqualifikation eines Vertrages hat nämlich keine Auswirkungen auf die vertragstypologische Einordnung, sondern stellt nur einen unverbindlichen Subsumtionsvorschlag dar77 und bedarf deshalb richtigerweise auch nicht der Transparenzkontrolle. Stellt sich der Vertrag nach Auslegung der Willenserklärungen und dem wirtschaftlichen Gehalt der Leistungen als Werkvertrag dar, ändert eine Klausel oder Überschrift, nach der es sich um einen Dienstvertrag handeln soll, hieran nichts. Vertragstypisierungsklauseln haben in ITVerträgen damit so oder so keine durchgreifende Wirkung.78 bb) Vorkasse-Klauseln Häufig vorzufinden sind in IT-Verträgen Vorleistungs- oder Vorkasse-Klauseln, deren Beurteilung 23 eng mit der vertragstypologischen Einordnung des jeweiligen IT-Vertrages einhergeht: Bei kaufrechtlichen IT-Verträgen (z.B. dauerhafte Softwareüberlassungsverträge; Hardware-Kauf) sind die Hauptpflichten des § 433 Zug um Zug abzuwickeln.79 Eine Vorleistungsklausel kehrt damit die gesetzliche Regelung zumindest nicht ins Gegenteil um, und verstößt daher nicht per se gegen Abs. 2 Nr. 1. Erfor-

72 So z.B. BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 66; Graf von Westphalen, NJW 2002, 12, 18 f. Ähnl. Spindler/Schuster/ Schuster, § 307 Rz. 33 ff. 73 Vgl. MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 26. 74 Zu den Leitgedanken des UrhG und § 307 Wille, ZUM 2011, 206. 75 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226; Kremer/Sander, CR 2015, 146, 147. 76 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226; Kremer/Sander, CR 2015, 146, 147. 77 Allg. M., vgl. statt aller BAG v. 21.7.2015 – 9 AZR 484/14, NZA-RR 2016, 344, 346; BGH v. 24.2.2016 – VIII ZR 216/12, juris Rz. 41; OLG München v. 25.9.2015 – 34 Wx 121/15, NJW-RR 2016, 340, 341; OLG Düsseldorf v. 18.7.1997 – 22 U 3/97, CR 1997, 732; Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D. Rz. 58. Vgl. ausf. Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 98 m.w.N. 78 Ähnl. Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, G. Rz. 103. A.A. offenbar MüllerHengstenberg, NJW 2010, 1181, 1184. 79 Vgl. nur MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 65.

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BGB § 307 Rz. 23 Inhaltskontrolle derlich ist aber ein berechtigtes Interesse des Verkäufers.80 Ein solches liegt z.B. vor, wenn eine Zugum-Zug-Erfüllung praktisch ausscheidet (z.B. Software-Kauf per Download) und damit ein Teil zwingend vorleistungspflichtig werden muss.81 24

Bei als Werkvertrag einzuordnenden IT-Verträgen (z.B. Softwareerstellungsverträgen, Pflege- und Wartungsverträge) hielt der BGH in einer Entscheidung Vorleistungsklauseln trotz der gesetzlichen Regelung des § 641 für wirksam, sofern ein berechtigtes Interesse des Verwenders erkennbar ist.82 Ein berechtigtes Interesse soll vorliegen, wenn der überwiegende Teil der Gesamtleistung bei Vertragsbeginn erbracht werden muss oder eine Ratenzahlung „einen nicht unerheblichen buchhalterischen Aufwand bereitet“.83 Dem kann nicht gefolgt werden: § 641 Abs. 1 bestimmt ausdrücklich, dass die Vergütung mit der Abnahme fällig wird – der Unternehmer also eine Vorleistungspflicht hat. Eine Vorleistungsklausel für den Besteller widerspricht völlig diesem gesetzlichen Grundgedanken und ist daher nach Abs. 2 Nr. 1 jedenfalls bei Verträgen mit einem Verbraucher unwirksam. Zulässig sind nur Klauseln, die die Höhe einer „Vorauszahlung“ an den Wert der bereits erbrachten Leistungen koppeln und damit nicht als Vorleistung, sondern als Abschlagszahlung i.S.d. § 632a zu qualifizieren sind.84 Dass die Nutzung von Abschlags- oder Ratenzahlungen für den Verwender „Aufwand bereitet“, ist kein berechtigtes Interesse, da er auch die gesetzliche Regelung des § 641 in Kauf nehmen kann. In Verträgen mit Verbrauchern sind solche Klauseln jedenfalls ohnehin nach dem neuen § 309 Nr. 15 unwirksam.85

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Bei Hardware- und Software-Mietverträgen ist eine Vorleistungspflicht hingegen auch in AGB möglich und stellt nach h.M. keine unangemessene Benachteiligung dar, vgl. nur § 547 Abs. 1.86 Etwas anderes soll gelten, wenn die Fälligkeit nicht mit der Überlassung der Mietsache, sondern bereits mit der Mitteilung der Betriebsfähigkeit des IT-Systems eintreten soll.87 Dass allein die Verwendung eines abweichenden Begriffs (Betriebsbereitschaft statt Überlassung) zu einem Auseinanderfallen der Zahlungszeitpunkte und in der Folge zur Unwirksamkeit der Klausel führen soll, erscheint allerdings mehr als zweifelhaft. cc) Mitwirkungsklauseln

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Unter Mitwirkungsklauseln sind Regelungen in AGB zu verstehen, nach denen die Mitwirkung des Kunden am EDV-Projekt eine Hauptpflicht sein soll. Hierdurch kann – im Gegensatz zu einer Obliegenheit – ein Schadensersatzanspruch (§§ 280 ff.) bei Verletzung der Pflicht entstehen. Für den Werkvertrag sieht § 642 allerdings bereits eine Mitwirkungsobliegenheit vor. Daher ist eine Klausel gegenüber einem Verbraucher nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam, die die dem Kunden zugewiesene Obliegenheit zu einer Hauptpflicht erhebt.88 Gegenüber einem Unternehmer soll eine solche Klausel hingegen wirksam sein, weil der Mitwirkung bei EDV-Projekten im Vergleich zu anderen Verträgen besondere Bedeutung zukommt.89 Kommt der Mitwirkung tatsächlich im Einzelfall eine besonders 80 BGH v. 10.3.1999 – VIII ZR 204/98, NJW 1999, 2180, 2182; BGH v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292, 294; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Klauseln (V) Rz. V 501 ff. 81 Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 2 BGB Rz. 17; Redeker/Stögmüller, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.16 Rz. 109. Ähnl. schon BT-Drucks. 7/3919, 28. 82 So ausdrückl. für diverse Vertragstypen BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, CR 2010, 327 m. Anm. Hilber/Rabus. Zustimmend Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Klauseln (W) Rz. W 16. 83 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, CR 2010, 327, 330. 84 So z.B. BGH v. 10.10.1991 – VII ZR 289/90, NJW 1992, 1107. In neuerer Zeit auch BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, MDR 2013, 508, 509 und hierzu Kremer, jurisPR-ITR 10/2013 Anm. 6 mit den Auswirkungen für ITVerträge. Wie hier auch Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing in Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Vertragsrecht“, „Vorleistungsklauseln“, Rz. 8; BeckOK BGB/Voit, § 632a Rz. 30. A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, Teil 2 (61) Rz. 3. Unklar OLG München v. 22.11.1988 – 25 U 5810/86, CR 1989, 283, 285. Zur Prüfung von Vorleistungsklauseln am Maßstab von § 309 Nr. 2 Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 2 BGB Rz. 13 ff. 85 Vgl. § 309 Rz. 90 ff. 86 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 93 f. 87 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 93; Schneider/Backu/Bayer, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl., F. Rz. 262. Offen gelassen Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, O. Rz. 350. 88 Redeker/Witte, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.4 Rz. 46. 89 Redeker/Witte, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.4 Rz. 46.

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Inhaltskontrolle

Rz. 28 § 307 BGB

hohe Bedeutung zu, wird sich eine Mitwirkungspflicht allerdings auch ohne Klausel durch Auslegung begründen lassen.90 Eine entsprechende Klausel ist in diesem Fall wirksam, wenn sie die ohnehin bestehende Mitwirkungspflicht konkret benennt; ist dann aber rein deklaratorischer Natur. Bestehen Zweifel an der Einordnung als Pflicht oder Obliegenheit und kommt es den Parteien entscheidend hierauf an, können sie Mitwirkungspflichten individualvertraglich festlegen. Eine pauschale Erhebung von Mitwirkungsobliegenheiten zu Mitwirkungspflichten ist jedoch unwirksam. In eine ähnliche Richtung geht und deshalb ebenfalls unzulässig ist eine Klausel, die den Kunden zur Abberufung von unfähigen Projektleitern berechtigt und verpflichtet, um ihm hierdurch die Erfolgsverantwortung aufzubürden.91 Soweit es sich um einen Kaufvertrag handelt, der keine § 642 entsprechende Regelung vorsieht, können Mitwirkungspflichten hingegen auch in AGB bis zur Grenze des Überraschungsmoments zulässig (vgl. § 305c Rz. 10) vereinbart werden, soweit dies zur vertragsgemäßen Durchführung des IT-Projekts erforderlich ist.92 Zu Klauseln zur Datensicherungspflicht vgl. § 309 Rz. 41. dd) Gewährleistungs- und Haftungsklauseln Zu Haftungsbeschränkungs-Klauseln – auch im unternehmerischen Verkehr – vgl. § 309 Nr. 7 (§ 309 27 Rz. 31 ff.). Zu Gewährleistungsausschlüssen bei kauf- und werkvertraglichen IT-Projekten – auch ggü. Unternehmern – vgl. § 309 Nr. 8 (§ 309 Rz. 44 ff.). Für die Anwendung von § 307 bleibt bei Kaufund Werkverträgen im Wesentlichen nur Raum für den Fall, dass die Gewährleistungsrechte vom Verwender (= Käufer/Auftraggeber) ausgedehnt werden. Dies betrifft insb. IT-Einkaufsbedingungen93 von großen Unternehmen aber auch die ergänzenden Vertragsbedingungen für die Beschaffung von IT-Leistungen (EVB-IT)94 der öffentlichen Hand. Nach einem vom BGH95 entschiedenen Fall soll es danach unwirksam sein, wenn der Verwender die Vermutung für einen Sachmangel bei Gefahrübergang auf 12 Monate verlängert oder den Rückgriffanspruch aus § 478 Abs. 1 auf sämtliche Verträge erstrecken will. Ebenso unwirksam ist eine Klausel, nach der dem IT-Einkäufer in dringenden Fällen ein erstattungspflichtiges Selbstvornahmerecht zusteht.96 Eine solche Klausel ist nur wirksam, wenn sie die Voraussetzungen der Entbehrlichkeit der Frist (§ 323 Abs. 2) und Verhältnismäßigkeit der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 3) berücksichtigt.97 Insb. für Software-Verträge relevant ist auch eine Klausel, die eine Einstandspflicht für unverschuldete Rechtsmängel vorsieht. Soweit eine solche Klausel als Beschaffenheitsvereinbarung i.S.d. §§ 434 Abs. 1, 633 Abs. 2 eingeordnet werden kann, handelt es sich faktisch um eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung in Form einer Garantiehaftung, die nach Abs. 2 Nr. 1 mit dem gesetzlichen Leitbild der verschuldensabhängigen Haftung nicht zu vereinbaren ist.98 Unwirksam sind aus dem gleichen Grund Verfügbarkeitsgarantien in Softwareund Wartungsverträgen, soweit diese kontrollfähig sind (vgl. Rz. 76) und es sich um eine Beschaffenheitsvereinbarung mit der Folge einer verschuldensunabhängigen Haftung handelt.99 Bei mietvertraglichen IT-Verträgen, also insb. der Software- oder Hardwareüberlassung auf Zeit und 28 dem IT-Leasing richtet sich die Wirksamkeit von Gewährleistungsausschlüssen hingegen ausschließlich nach § 307, da § 309 Nr. 8 Buchst. b keine Anwendung findet.100 Im Grundsatz gilt hier, dass jede grundlegende Abweichung von den gesetzlichen Mängelrechten der §§ 536 ff. eine unvereinbare Abweichung von gesetzlichen Grundgedanken darstellt und damit nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam ist. Es verleibt damit letztlich nur noch Raum für „kosmetische“ Änderungen der Mieterrechte. Dies gilt unabhängig davon, ob die Klauseln gegenüber Verbrauchern oder Unternehmern eingesetzt werden.101 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Vgl. auch Kappellmann, NZBau 2011, 193 ff., der aus § 642 generell eine Mitwirkungspflicht ziehen will. Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D. Rz. 470 ff. Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 68. Vgl. hierzu ausf. Bartsch, CR 2015, 345. Vgl. hierzu in neuerer Zeit Bischof/Intveen, ITRB 2015, 295; Bischof/Intveen, ITRB 2016, 17. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. So auch Bartsch, CR 2015, 345, 346 mit Klauselvorschlag. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 m. Anm. Redeker; Schneider/Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, K. Rz. 21 f.; Redeker, ITRB 2004, 84, 86. 99 Ähnl. Schneider/Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, K. Rz. 23 f. 100 Gilt nur für Kauf- und Werkverträge, vgl. § 309 Rz. 47. A.A. Söbbing, ITRB 2010, 236, 237 f. 101 So auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1809 i.V.m. Rz. 1813.

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BGB § 307 Rz. 28 Inhaltskontrolle Wirksam ist danach eine Klausel, durch die dem Mieter die Kosten (nicht aber die Vornahme) für einzelne, konkret benannte Instandhaltungspflichten übertragen werden, wenn sie nur den bei Wohnraummietverträgen bekannten Kleinstreparaturen102 entsprechen.103 Ebenso wirksam ist es, das Kündigungsrecht aus § 543 Abs. 2 Nr. 1 vom Fehlschlagen einer Nachbesserung abhängig zu machen.104 Möglich ist es auch, in einem ASP-/Saas-Vertrag den einzelnen Software-Bestandteilen und inkludiertem Speicherplatz anteilige Werte an der Gesamtvergütung für Fälle der Minderung zuzuweisen, da dies nur das Minderungsrecht aus § 536 konkretisiert.105 Ein Gewährleistungsausschluss mit einer Abtretung der Gewährleistungsansprüche gegen den Lieferanten ist in Fällen des IT-Leasing zulässig, soweit die Abtretung der Gewährleistungsansprüche uneingeschränkt, unbedingt und vorbehaltlos erfolgt.106 Unzulässig ist aber eine Klausel, in denen sich der Leasinggeber eine eigene Rechtsverfolgung vorbehält, weil dies gegen die zuvor genannten Kriterien und damit § 307 verstößt.107 Unwirksam ist aber in jedem Fall eine vollständige Übertragung der Erhaltungspflicht108 oder die Verpflichtung zum Abschluss eines gesonderten Wartungsvertrages für Erhaltungsmaßnahmen i.S.d. § 535 Abs. 1 Satz 2,109 ein vollständiger Ausschluss der Mängelrechte,110 eine Begrenzung auf bestimmte Mängel,111 ein Ausschluss des Minderungsrechts oder die Verknüpfung dieses Rechts an weitere Bedingungen,112 ein Ausschluss des Selbstvornahmerechts aus § 536a Abs. 2113 und ein Ausschluss der außerordentlichen Kündigung nach § 543 Abs. 2 Nr. 1.114 Ebenfalls unwirksam ist eine Klausel, die die Haftung des Vermieters ausschließt und im Gegenzug eine Haftung des Mieters für Risiken begründet, die „üblicherweise versichert werden können“.115 Zweigeteilt ist die Beurteilung eines Ausschlusses von Schadensersatzansprüchen nach § 536a Abs. 1: Ein genereller Ausschluss von Schadensersatzansprüchen ist hier nicht möglich.116 Von besonderer Bedeutung für Hard- und Software (Stichwort: „Software ist nie fehlerfrei“)117 ist aber die zulässige Möglichkeit, die verschuldensunabhängige Haftung des § 536a Abs. 1 in AGB auszuschließen und von einem Vertretenmüssen abhängig zu machen, weil die verschuldensabhängige Haftung und nicht § 536a Abs. 1 dem gesetzlichen Leitbild entspricht.118 29

Bei Hard- und Software werden zudem Kostenklauseln für die Mangelprüfung relevant. Diese Klauseln sehen vor, dass der Kunde diejenigen Kosten zu tragen hat, die durch die Prüfung von geltend gemachten Mängelansprüchen entstehen, falls kein Mangel festgestellt werden kann.119 Problematisch ist 102 Vgl. hierzu und insb. zu der auch im IT-Recht notwendigen Differenzierung zw. Vornahme- und Kostenklauseln Schmidt-Futterer/Langenberg, MietR, § 538 Rz. 52 ff. m.w.N. 103 Ähnl. Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 244. 104 Marly, Softwarerecht, Rz. 1811; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Hau, Klauseln (M) Rz. M 40. 105 A.A. Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 174. 106 BGH v. 27.4.1988 – VIII ZR 84/87, CR 1988, 656, 659; OLG Koblenz v. 26.2.2015 – 3 U 812/14, MMR 2015, 512; Söbbing, ITRB 2010, 236, 237 f. 107 BGH v. 27.4.1988 – VIII ZR 84/87, CR 1988, 656, 659. Im Ergebnis unter Anwendung von § 309 Nr. 8 Buchst. b aa auch Söbbing, ITRB 2010, 236, 237 f. 108 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 245. 109 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 246; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, M. Rz. 402. Vgl. hierzu auch Rz. 66. Etwas anderes soll jedoch für das EDV-Leasing gelten, vgl. Redeker/ Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 86. 110 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 245; Marly, Softwarerecht, Rz. 1809; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 234. 111 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 245; Marly, Softwarerecht, Rz. 1809. 112 BGH v. 12.3.2008 – XII ZR 147/05, NJW 2008, 2254; Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 172; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Hau, Klauseln (M) Rz. M 35; Marly, Softwarerecht, Rz. 1809. 113 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 250. 114 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Hau, Klauseln (M) Rz. M 40; Marly, Softwarerecht, Rz. 1811. A.A. Schmidt-Futterer/ Blank, MietR, § 543 Rz. 214. 115 BGH v. 1.4.1992 – XII ZR 100/91, CR 1992, 717. 116 Marly, Softwarerecht, Rz. 1810. 117 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, A. Rz. 1362 ff. 118 BGH v. 27.1.1993 – XII ZR 141/91, NJW-RR 1993, 519, 520; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Hau, Klauseln (M) Rz. M 38; Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 267. 119 So z.B. der Vorschlag von Bartsch in Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, G. 2., Allgemeine Vertragsbedingungen für den Verkauf von Standardsoftware, § 9 Abs. 6.

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Inhaltskontrolle

Rz. 31 § 307 BGB

hier, dass der Kunde von Hard- und Softwareprodukten häufig gar nicht einschätzen kann, ob die Leistung mangelhaft ist oder die Umstände zur üblichen Beschaffenheit zählen (man denke nur an Reaktionszeiten von ERP-Systemen oder fehlende Schnittstellen). Ohne eine solche Klausel kann ein unberechtigtes Mangelbeseitigungsverlangen einen Schadensersatzanspruch begründen, soweit den Kunden ein Verschulden trifft, er also erkannt oder fahrlässig nicht erkannt hat, dass ein Mangel nicht vorliegt.120 Ein Verschulden scheidet aus, wenn für den Kunden nach Ausschöpfung seiner Möglichkeiten ungewiss ist, ob ein Mangel vorliegt.121 Eine Klausel, die diese gesetzliche Regelung weiter aufweicht (z.B. jede Falschbedienung ausreichen lässt), ist nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam, weil sie vom gesetzlichen Grundgedanken der verschuldensabhängigen Haftung unvereinbar abweicht.122 Wirksam ist demnach nur eine Klausel, die eine Kostentragung für den Fall vorsieht, dass der Kunde vorsätzlich oder fahrlässig nicht erkannt hat, dass kein Mangel vorliegt.123 ee) Mängelrügepflichten und -fristen Große Bedeutung haben Klauseln zu Mängelrügepflichten und Ausschlussfristen für Mängelan- 30 zeigen. Gegenüber Verbrauchern bemisst sich die Zulässigkeit nach § 309 Nr. 8 (vgl. § 309 Rz. 55). Gegenüber Unternehmern sind hingegen § 307 und – soweit es sich um ein beidseitiges Handelsgeschäft124 handelt – die gesetzlichen Leitgedanken des § 377 HGB maßgeblich. Auf die sonst übliche Indizwirkung der §§ 308, 309 kommt es hier also ausnahmsweise nicht an. Bei Verschärfungen gegenüber den gesetzlichen Regelungen des § 377 HGB gilt im Grundsatz, dass diese nur dann keine unangemessene Benachteiligung nach Abs. 1, 2 Nr. 1 darstellen, wenn hierfür ein berechtigtes Interesse des Verwenders erkennbar ist; die Klausel also nicht nur den Zweck verfolgt, dem Kunden möglichst viele „Steine in den Weg zu legen“.125 Hieraus folgt, dass eine Klausel wirksam ist, die vom Kunden verlangt, die Symptome der Soft- und Hardwareprobleme detailliert zu beschreiben.126 Unwirksam ist hingegen eine Klausel, die vom Kunden vor dem Tätigwerden eine konkrete Benennung der Mängelursache verlangt, da dies häufig erst mit vertieften IT-Kenntnissen möglich ist.127 Zur Schaffung von Formerfordernissen für die Mängelanzeige vgl. § 309 Rz. 83. Bei Verkürzungen gegenüber den gesetzlichen Regelungen des § 377 HGB gilt im Grundsatz, dass diese im Regelfall keine unangemessene Benachteiligung nach Abs. 1, 2 Nr. 1 darstellen, soweit die Untersuchungs- und Rügepflicht nicht gänzlich abbedungen wird oder faktisch komplett aufgehoben wird.128 ff) Verjährungsregelungen Für Klauseln, die zu einer Verkürzung der Verjährung führen, spielt § 307 nur in den Fällen eine Rol- 31 le, in denen § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ff (vgl. § 309 Rz. 53) keine Anwendung findet, also im B2BVerkehr (Kommentierung bei § 309 Nr. 8, § 309 Rz. 45) und bei Verträgen, die nicht als Kauf- oder Werkvertrag einzuordnen sind oder die Verjährung verlängern. Nach einer Auffassung soll eine Verlängerung der Verjährung (z.B. von zwei auf drei Jahre) in AGB generell nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam sein, weil die Gewährleistungsfristen durch die Schuldrechtsreform bereits zugunsten des Kunden 120 BGH v. 23.1.2008 – VIII ZR 246/06, CR 2008, 278 = ITRB 2008, 74. 121 BGH v. 23.1.2008 – VIII ZR 246/06, CR 2008, 278, 280 = ITRB 2008, 74. 122 Ähnl. OLG Hamm v. 27.9.1999 – 13 U 71/99, VuR 2000, 181; Marly, Softwarerecht, Rz. 1814 ff.; Schneider/ Kahlert/Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl., J. Rz. 248 f. A.A. Redeker/Brandi-Dohrn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.2 Rz. 192. 123 A.A. OLG Düsseldorf v. 21.10.1999 – 6 U 161/98, CR 2000, 153, wonach eine Klausel die auch einfache Fahrlässigkeit erfasst, in Hard- und Software-Verträgen wegen der Vielzahl möglicher Fehlerquellen unwirksam sei. 124 Zu den möglichen Handelsgeschäften im Zusammenhang mit Software-Verträgen vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1884. 125 In diese Richtung auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1892 f. 126 Marly, Softwarerecht, Rz. 1893; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 103. 127 Marly, Softwarerecht, Rz. 1893; Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 103; Redeker/ Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 103. Vgl. auch BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 276/13, CR 2014, 568 = ITRB 2014, 198. Ebenso für die Pflicht zur Reproduktion von Fehlern Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 92. 128 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1896; Bartsch, CR 2015, 345, 349.

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BGB § 307 Rz. 31 Inhaltskontrolle großzügig ausgedehnt wurden.129 Zuzustimmen ist hier jedoch dem BGH, der eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf 36 Monate bei Kaufverträgen zumindest gegenüber einem Unternehmer für wirksam hält.130 Nach demselben BGH-Urteil131 soll es hingegen unwirksam sein, wenn die Verjährungsfrist bei Rechtsmängeln auf 10 Jahre verlängert wird und für Fälle der Nacherfüllung generell und ausnahmslos ein Neulauf der Verjährung vorgesehen ist. Während die Unwirksamkeit einer 5-fachen Verjährungsfrist bei Rechtsmängeln auf der Hand liegt, kann dem BGH hinsichtlich des Verjährungsneulaufs bei Nacherfüllung nicht gefolgt werden.132 Denn der Neulauf der Verjährung ist bei der Nacherfüllung und hier insb. bei der Nachlieferung der Regelfall, so dass die Klausel beiden Parteien Rechtssicherheit in den Fällen bietet, in denen ausnahmsweise völlig unklar ist, ob die Nacherfüllung zugleich ein konkludentes Anerkenntnis i.S.d. § 212 Abs. 1 Nr. 1 darstellt.133 gg) Schriftform, Rechtswahl, Gerichtsstand und sonstige Schlussbestimmungen 32

Schriftformklauseln tauchen wohl in allen Arten von IT-Verträgen formularvertraglich auf und unterscheiden sich bei ihrer rechtlichen Bewertung nur nach der Art der Schriftformklausel, aber nicht hinsichtlich des konkreten IT-Vertrages. Sie sind zu unterscheiden von Klauseln, die für Anzeigen und Erklärungen eine bestimmte Form vorschreiben, vgl. hierzu § 309 Nr. 13 (§ 309 Rz. 81). In der Praxis gibt es drei Arten von Schriftformklauseln: Einfache Schriftformklauseln, die für Änderungen und Erweiterungen der vertraglichen Vereinbarungen die Schriftform vorsehen, qualifizierte Schriftformklauseln die die Wirksamkeit von Vertragsänderungen von weiteren Erfordernissen, also insb. Beurkundungs- oder Zugangserfordernissen abhängig machen und doppelte Schriftformklauseln die nicht nur für Vertragsänderungen die Schriftform vorschreiben, sondern auch für die Abänderung der Schriftformklausel selbst. Die Wirksamkeit solcher Klauseln wird seit jeher sowohl von Gerichten als auch der Literatur lebhaft diskutiert, wobei stets festgehalten wird, dass Schriftformklauseln „nicht schlechthin unzulässig“ seien.134 Im Ergebnis zeigt sich dann aber doch, dass den Klauseln entweder ihre Wirksamkeit135 oder zumindest ihre Wirkung136 abgesprochen wird. Zusammenfassend sind dadurch Schriftformklauseln jeder Art wegen Abweichung vom gesetzlichen Grundgedanken des § 305b nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 unwirksam.137 Denn eine Schriftformklausel hat letztlich immer das Ziel, mündliche Individualvereinbarungen zu unterlaufen.138 Selbst wenn man von einer Wirksam-

129 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 124; Bartsch, CR 2015, 345, 347. 130 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. Zustimmend auch Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. b ff BGB Rz. 56. 131 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 132 Kritisch auch Bartsch, CR 2015, 345, 347. 133 Zur schwierigen Abgrenzung beim Neulauf durch Nacherfüllung Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Klauseln (E), Rz. E 107. Es scheint schon fast unmöglich nach BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 zu bestimmen, ob der Verkäufer „nicht nur aus Kulanz …, sondern in dem Bewusstsein handelt, zur Mängelbeseitigung verpflichtet zu sein“. Hat der Verkäufer aber zum Ausdruck gebracht, nur aus Kulanz zu handeln und besteht tatsächlich auch kein Nacherfüllungsanspruch, ist die Klausel nach ihrem Wortlaut ohnehin nicht einschlägig. 134 So z.B. BGH v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292 f. Eine gute Übersicht über alle Entscheidungen und Literaturstimmen enthält Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (41) Rz. 7 ff. 135 Vgl. statt aller BGH v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292 f. bzgl. einfacher Schriftformklausel. 136 Vgl. speziell für Softwareverträge Marly, Softwarerecht, Rz. 1978 sowie allgemein BGH v. 23.1.2013 – VIII ZR 47/12, NJW 2013, 2745, 2746, wo nicht die Wirksamkeit der Klausel diskutiert wird, sondern sogleich der Vorrang der Individualabrede nach § 305b festgestellt wird. 137 Wie hier: Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (41) Rz. 7 ff. Ähnl. BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, NJW 2009, 316, 319; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Lindacher/Hau, § 305b BGB Rz. 34. So auch für IT-Projekte Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 28; Karger, ITRB 2009, 18, 19; Redeker, ITRB 2006, 15, 17. A.A. Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 157; Spindler/Schuster/Schuster, § 305b Rz. 3 f. 138 Vgl. BGH v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292 f. sowie LG München v. 14.8.2003 – 12 O 2393/03, CR 2004, 221, 224 = ITRB 2004, 75 die Schriftformklauseln immer dann für unwirksam halten, wenn sie nach Vertragsschluss getroffene Individualvereinbarungen unterlaufen sollen.

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keit ausgeht, hat aber selbst eine doppelte Schriftformklausel im Ernstfall nach Auffassung des BGH keinerlei Wirkung.139 Die vorstehenden Erwägungen dürften auch für Schriftformklauseln gelten, die im Rahmen von formularmäßigen Change-Request-Verfahren (CR) niedergelegt sind.140 Letztlich handelt es sich bei dem Bedürfnis nach einer Schriftformklausel – insb. bei IT-Projekten – vor allem um ein Problem, dass die Vertretungsbefugnis betrifft. Hiermit soll dem berechtigten Interesse Rechnung getragen werden, dass nicht Mitarbeiter auf unterster Hierarchie-Ebene mündlich Änderungen an Teilen des IT-Projekts vornehmen und diese z.B. wegen Grundsätzen der Duldungs- und Anscheinsvollmacht wirksam sind. Die Aufnahme einer Schriftformklausel birgt hier, auch wenn sie „nicht schlechthin unwirksam“ ist, stets das Risiko, dass der Verwender sich auf die Unwirksamkeit dieser Klausel im Nachhinein nicht berufen kann, weil die Inhaltskontrolle nicht dem Schutz des Verwenders dient.141 Im ungünstigsten Falle schafft der Verwender mit der Schriftformklausel daher eine nur ihn selbst einseitig belastende Regelung. Dies macht Klauseln zum Verfahren von Leistungsänderungen und nachträglichen Vertragsänderungen aber nicht überflüssig: Der gewünschte Effekt einer Schriftformklausel lässt sich effektiv auch mit einer Vertreterklausel erreichen. Eine solche Klausel sollte Änderungsberechtigte (Projektleiter) benennen und die Grundsätze der Duldungs-, Anscheinsoder Handlungsvollmacht nach § 54 Abs. 3 HGB einschränken. Eine solche Gestaltung ist – auch nach Auffassung des BGH – wirksam142 und damit anzuraten.143 Rechtswahlklauseln sind gerade bei internationalen IT-Projekten an der Tagesordnung. Hierbei be- 33 stimmt sich die Zulässigkeit der Klausel gem. Art. 3 Abs. 5, 10 Abs. 1 Rom-I-VO nach dem Recht, das nach dieser Verordnung anzuwenden wäre, wenn die Bestimmung wirksam wäre. Ist also die Geltung ausländischen Rechts vereinbart, scheidet eine Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. eigentlich aus. Für Verbraucherverträge bestimmt jedoch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Rom-I-VO, dass die Rechtswahl nicht dazu führen darf, dass dem Verbraucher der Schutz zwingender Vorschriften entzogen wird, wozu indirekt auch § 307 zählen soll.144 Hieraus ergibt sich, dass eine Rechtswahlklausel in AGB gegenüber Verbrauchern wegen Abs. 1 unwirksam ist, wenn hierdurch deutsche Vorschriften abbedungen werden, die bei Anwendung deutschen Rechts nicht durch AGB hätten abbedungen werden können.145 Dies wird in aller Regel der Fall sein, so dass Klauseln zur Anwendung ausländischen Rechts gegenüber Verbrauchern (fast) immer unwirksam sind.146 Gegenüber Unternehmern findet Art. 6 Rom-I-VO keine Anwendung, so dass die Rechtswahl wirksam ist und für eine Inhaltskontrolle nur dann Raum bleibt, wenn die Rechtswahl auf deutsches Recht fällt.147 Auch letzterer Fall dürfte keinen Bedenken begegnen. Ähnliches gilt für Gerichtsstandsklauseln: Eigentlich existieren hier mit den §§ 29, 38 ZPO und Art. 23 EuGVVO bereits Regelungen zur Zulässigkeit solcher Klauseln. Dennoch entspricht es allgemeiner Meinung, dass Gerichtsstandsklauseln der Inhaltskontrolle unterliegen.148 Sie stellen aber im unternehmerischen Verkehr keine unangemessene Benachteiligung i.S.d. Abs. 1 dar und sind da-

139 BGH v. 25.1.2017 – XII ZR 69/16, NJW 2017, 1017, 1018. 140 A.A. Schneider, CR 2000, 27, 30, der dies als Teil des kontrollfreien Bereichs von § 307 Abs. 3 ansieht. 141 OLG Koblenz v. 3.3.2011 – 6 U 943/10, BeckRS 2011, 05667; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (41) Rz. 11. 142 BGH v. 14.7.1994 – VII ZR 186/93, NJW-RR 1995, 80, 81; OLG Hamm v. 22.1.1982 – 20 U 274/81, ZIP 1982, 594; MünchKomm/Basedow, § 305b BGB Rz. 18; Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 305b BGB Rz. 40 ff. 143 So auch Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 18 ff.; Redeker, ITRB 2006, 15, 16 f. mit Formulierungsvorschlägen. Ähnl. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 170, wonach unwirksamen Schriftformklauseln eine psychologische Wirkung zukommt. 144 BGH v. 19.7.2012 – I ZR 40/11, MMR 2013, 501, 503 f. = CR 2013, 228; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Teil „Vertragsrecht“, „Rechtswahlklauseln“, Rz. 38. Kritisch hierzu Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (36) Rz. 12. 145 Vgl. BGH v. 19.7.2012 – I ZR 40/11, MMR 2013, 501, 503 f. = CR 2013, 228. 146 Vgl. BGH v. 19.7.2012 – I ZR 40/11, MMR 2013, 501, 503 f. = CR 2013, 228. 147 Marly, Softwarerecht, Rz. 2011; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Teil „Vertragsrecht“, „Rechtswahlklauseln“, Rz. 23 ff. 148 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (21) Rz. 3 m.w.N.

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BGB § 307 Rz. 34 Inhaltskontrolle her i.d.R. wirksam.149 Dies gilt auch dann, wenn die Klausel keine Klarstellung enthält, dass sie nicht gegenüber Verbrauchern oder Nicht-Kaufleuten gilt.150 Denn gegenüber Letzteren sind solche Klauseln bereits unabhängig vom AGB-Recht (§ 38 ZPO) unwirksam. 35

Zur Wirksamkeit sog. salvatorischer Klauseln, einschließlich Vertragswirksamkeitsklauseln, Relativierungsklauseln, und Klauseln mit Ersetzungsbefugnis vgl. § 306 Rz. 7. Zu Klauseln, die einen einheitlichen Vertrag in zwei Verträge trennen wollen – sog. Trennungs- oder Entkopplungsklauseln – vgl. Rz. 60. Schieds-, Mediations- und Schlichtungsklauseln in IT-Verträgen vgl. § 309 Nr. 14 (§ 309 Rz. 87). b) Hardware-Verträge

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AGB-rechtlich bestehen bei Hardware-Verträgen kaum spezifische Besonderheiten, da bspw. der Kauf von Hardware im Wesentlichen jedem beliebigen anderen Sachkauf entspricht. Hinsichtlich § 307 sind daher nur folgende Problemkreise von Relevanz:

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Nach § 17 Abs. 1 ElektroG ist der Verkäufer beim Verkauf von Elektro- und Elektronikgeräten – also insb. auch Hardware – an private Haushalte verpflichtet, Altgeräte unentgeltlich zurückzunehmen. Beim Verkauf an Unternehmer trifft die Rücknahmepflicht nach § 19 Abs. 1 ElektroG nur den Hersteller (und nicht den Verkäufer), der nach § 19 Abs. 2 ElektroG ebenfalls die Kosten der Entsorgung zu tragen hat. Für AGB von Hardware-Verträgen folgt hieraus: Gegenüber Verbrauchern ist eine Entsorgungskosten-Klausel, nach denen der Kunde die Kosten der Altgeräte-Entsorgung zu tragen hat, wegen Abweichung vom gesetzlichen Grundgedanken des § 17 Abs. 1, 5 ElektroG gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1 unwirksam.151 Gegenüber Unternehmern trifft die Rücknahmepflicht ohnehin nur den Hersteller. Soweit hier Verkäufer und Hersteller zusammenfallen, dürfte eine Überwälzung der Kosten oder der Entsorgungspflicht auf Unternehmer mit Blick auf § 19 Abs. 1 Satz 4 ElektroG wirksam sein.152

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Bei der Hardware-Miete sind Klauseln stets daraufhin zu prüfen, ob sie mit dem von den Parteien vorgesehenen vertragsmäßigen Gebrauch der Mietsache vereinbar sind, da die Klausel ansonsten gem. Abs. 2 Nr. 2 unwirksam ist.153 Unwirksam soll es danach sein, wenn der Vermieter von Hardware das zwingend erforderliche Betriebssystem nicht oder nur auf Grundlage eines weiteren Vertrages liefern will.154 Dies kann jedoch nur gelten, soweit die Hardware ohne die Software wertlos ist. Unzulässig soll auch eine Klausel sein, nach der die Überlassungspflicht des Vermieters sich in AGB nur auf die Bereitstellung des technischen Anschlusses ohne die Herbeiführung der Betriebsbereitschaft beschränkt.155 Da der Vermieter nach § 535 Abs. 1 Satz 2 zu Erhaltungsmaßnahmen verpflichtet ist, treffen den Mieter diesbezüglich einige Duldungspflichten, insb. den Zugang zur gemieteten Hardware zu ermöglichen: Ein formularvertragliches Recht auf einen jederzeitigen Vor-Ort-Zugang – unabhängig von Geschäfts- und Öffnungszeiten – ist jedoch nach Abs. 1 unwirksam, es sei denn, der Vermieter ist nach der Leistungsbeschreibung zu derartigen Reaktionszeiten verpflichtet.156 Handelt es sich um ein Recht auf Fernwartung, muss die Klausel den Vermieter zumindest verpflichten, dem Mieter Beginn und Ende der Fernwartung anzuzeigen.157 Die Möglichkeit zu Änderungen und Umgestaltungen an Hardware-Systemen durch den Mieter können nur insoweit eingeschränkt wer149 H.M., vgl. statt aller Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (21) Rz. 4; Redeker/Stadler, Handbuch der ITVerträge, Kap. 1.3 Rz. 172 jeweils m.w.N. Kritisch Marly, Softwarerecht, Rz. 2026, der berechtigtes Interesse für Wahl des Gerichtsstands fordert, das über Erleichterung eigener Rechtsverfolgung hinausgeht. 150 Marly, Softwarerecht, Rz. 2026; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (21) Rz. 5 m.w.N. A.A. offenbar Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 149. 151 Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 44; Schneider/Backu/Bayer, Handbuch EDVRecht, 4. Aufl., F. Rz. 190a. 152 Vgl. Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 44 f. mit Klauselvorschlag. 153 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 60. 154 So noch in der alten Auflage Redeker/Karger, Handbuch der IT-Verträge, 29. EL 2016, Kap. 1.8 Rz. 62. A.A. wohl Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 62. 155 So noch in der alten Auflage Redeker/Karger, Handbuch der IT-Verträge, 29. EL 2016, Kap. 1.8 Rz. 74. 156 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 167; A.A. offenbar noch Redeker/Karger, Handbuch der IT-Verträge, 29. EL 2016, Kap. 1.8 Rz. 167. 157 Ähnl. Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 168.

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den, als sie sich außerhalb des vertragsgemäßen Gebrauchs der Mietsache bewegen: Zulässig ist hier ein Erlaubnisvorbehalt durch den Vermieter, nicht jedoch ein genereller Ausschluss, weil dem Mieter u.U. ein Anspruch auf Änderungen – z.B. der Anbindung an andere Hardware und Schnittstellen – zustehen kann.158 Bei der Mindestvertragslaufzeit einer Hardware-Miete gilt das zur SoftwareMiete gesagte (vgl. Rz. 55) entsprechend: Entscheidend ist, ob die Hardware individuell für den Kunden zusammengestellt und bei einer Vertragsbeendigung faktisch wertlos ist und damit ein Amortisierungsinteresse des Vermieters zum Tragen kommt.159 In diesem Fall dürfte eine Vertragslaufzeit bis zu 5 Jahren wirksam in AGB vorgegeben werden können.160 Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Vermieter zur Aktualisierung der Hardware berechtigt oder verpflichtet ist und dies mit einem Neubeginn der Vertragslaufzeit einhergehen soll.161 Zum Änderungs- und Austauschrecht von Hardware im Zusammenhang mit der Erhaltungspflicht des Vermieters vgl. § 308 Rz. 33.

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c) Software-Verträge aa) Weitergabe-Klauseln Uneingeschränkte Weiterveräußerungsverbote sind in Verträgen zur dauerhaften Softwareüberlas- 40 sung gem. Abs. 2 Nr. 1 unwirksam.162 Hieran dürfte – spätestens mit den Urteilen des EuGH163 und BGH164 zur Zulässigkeit von „gebrauchter Software“ – kein Zweifel mehr bestehen. Denn dieses Verbot verstößt gegen das grundlegende, in § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG niedergelegte Prinzip der Erschöpfung des Weiterverbreitungsrechts.165 Selbst wenn die Software ausnahmsweise nicht urheberrechtsfähig sein sollte, verstößt ein solches Weiterveräußerungsverbot aber zumindest gegen die grundlegenden Rechte des Kunden aus § 433 Abs. 1 bzw. § 631 Abs. 1, nicht nur Eigentum an einer Programmkopie verschafft zu bekommen, sondern sie auch wie ein Eigentümer nutzen zu können, vgl. § 903.166 In eine ähnliche Richtung gehen Klauseln zur Weitergabe mit Zustimmungsvorbehalt, also etwa: „Die Weitergabe der Software bedarf in jedem Fall der schriftlichen Zustimmung des Anbieters.“. Häufig findet sich dann noch der Zusatz „Name und Anschrift des neuen Nutzers müssen mitgeteilt werden“ oder „Der neue Nutzer muss sich zur Einhaltung der für die Software geltenden Lizenzbestimmungen ver-

158 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 175 ff. 159 Ähnl. BGH v. 13.2.1985 – VIII ZR 154/84, NJW 1985, 2328. 160 A.A. BGH v. 13.2.1985 – VIII ZR 154/84, NJW 1985, 2328; OLG Düsseldorf v. 31.7.2003 – 10 U 171/02, NJW-RR 2003, 1496 für Telefonanlagen (10 Jahre), was sich jedoch nicht auf EDV-Verträge übertragen lassen dürfte. 161 OLG Köln v. 21.1.1994 – 19 U 223/93, CR 1994, 289; Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 294. 162 H.M., vgl. nur OLG Frankfurt v. 25.6.1996 – 11 U 4/96, NJW-RR 1997, 494; OLG Frankfurt v. 12.11.2013 – 11 U 32/12, juris Rz. 30; OLG Hamburg v. 30.4.2013 – 5 W 35/13, CR 2013, 700 = ITRB 2013, 251; OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 217; OLG Nürnberg v. 20.6.1989 – 3 U 1342/88, CR 1990, 118, 121; Redeker/Brandi-Dohrn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.2 Rz. 138; Ulmer/Brandner/Hensen/ Ernst, Teil 2 (44) Rz. 53; Schwartmann/Gennen, Praxishandbuch Medien-, IT- und UrheberR, 4.21 Rz. 138; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 66; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 17 ff.; Marly, Softwarerecht, Rz. 1604 ff.; Niebling/Härting, AnwaltKommentar AGB, Teil 2 IT- und EDV-Verträge Rz. 1234; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/ Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 87; Hilty, GRUR 2018, 865, 877; Plath, CR 2007, 345, 348; Polley, CR 1999, 345, 354; Redeker, ITRB 2013, 68, 69; Schumacher, CR 2000, 641, 648. Krit. Erben/Kubert/Zahrnt, IT-Verträge, S. 70 f. (mit Blick auf § 69g Abs. 2 UrhG); Bräutigam/Wiesemann, CR 2010, 215 (mit Blick auf § 307 Abs. 3); Buss, CR 2018, 78, 80 (mit Blick auf die BGH-Rechtsprechung zu Gebrauchtsoftware). 163 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft I. 164 BGH v. 17.7.2013 – I ZR 129/08, CR 2014, 168 = ITRB 2014, 75 – UsedSoft II; BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, CR 2015, 429 – UsedSoft III; BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, CR 2015, 711 = ITRB 2015, 277 – GreenIT. 165 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 17; Marly, Softwarerecht, Rz. 1614; Koch, CR 2002, 629, 630. 166 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 19 f.; Plath, CR 2007, 345, 348; Redeker, ITRB 2013, 68, 69.

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BGB § 307 Rz. 40 Inhaltskontrolle pflichten“. Auch solche Zustimmungsvorbehalte widersprechen unvereinbar den gesetzlichen Leitgedanken aus § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG und sind daher gem. Abs. 2 Nr. 1 unwirksam.167 Zudem verstoßen sie gegen die Transparenzpflicht (Abs. 1 Satz 2), weil für den Kunden völlig unklar bleibt, wann die Zustimmung verweigert werden kann.168 Zusammenfassend sind Regelungen, die die Weitergabe von Software ausschließen, beschränken oder von Bedingungen abhängig machen i.d.R. nicht mehr klauselmäßig möglich.169 Dies gilt unabhängig davon, ob die Software auf einem Datenträger oder per Download erworben wurde.170 41

Weitergabeverbote können aber immer dann der Inhaltskontrolle standhalten, wenn sie den Bereich des Mietrechts berühren: Bei einer Softwareüberlassung auf Zeit ist daher ein Weiterveräußerungsverbot wirksam.171 Denn bei der mietweisen Überlassung kann zum einen mangels Veräußerung keine Erschöpfung i.S.d. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG eintreten und zum anderen entspricht es schon dem Grundgedanken von § 540 Abs. 1, das eine Überlassung an Dritte dem Mieter grds. verboten ist. Ebenso hält auch ein (pauschales)172 Weitervermietungsverbot einer Inhaltskontrolle regelmäßig stand bzw. fällt sogar unter Abs. 3 Satz 1, da die Erschöpfungswirkung nach § 69c Nr. 3 Satz 2 a.E. UrhG ausdrücklich nicht die Weitervermietung erfasst und daher nicht von einer gesetzlichen Regelung abgewichen wird, sondern – wie nach materiellem Recht – die Zustimmung des Rechteinhabers notwendig bleibt.173 Unzulässig sind hingegen Klauseln, die explizit ein Verleihverbot vorsehen.174 bb) Klauseln zur Art und Weise der Software-Nutzung

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Eine vom Gesetz abweichende Art und Weise der Software-Nutzung kann dem Kunden durch AGB im Grundsatz nicht wirksam vorgeschrieben werden, da dies i.d.R. gegen gesetzliche Leitgedanken i.S.d. Abs. 2 Nr. 1 verstößt.175 Letztlich kommt es hier darauf an, die gesetzlichen Leitgedanken der urheberrechtlichen Regelungen herauszuarbeiten und auf die Klausel anzuwenden. Dies betrifft insb. folgende Fälle:

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Bei einer CPU-Klausel handelt es sich um eine Bestimmung in einem Software-Überlassungsvertrag, nach der der Kunde die erworbene Software nur auf einem spezifischen Gerät oder mit spezifischer 167 Wie hier OLG Frankfurt v. 5.11.2013 – 11 U 92/12, ZUM 2014, 803, 804 f.; LG Hamburg v. 25.10.2013 – 315 O 449/12, CR 2014, 15, 16 f. m. Anm. Huppertz; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226; Redeker, ITRB 2013, 68, 69 f.; Schumacher, CR 2000, 641, 649. Differenzierend Marly, Softwarerecht, Rz. 1633 ff., der die Zulässigkeit – wenig nachvollziehbar – von Kaufpreisen ab 100 t abhängig macht, sowie dem zustimmend Redeker/Stögmüller, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.16 Rz. 105; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 69 ff. hält zumindest Mitteilungspflicht für zulässig. A.A. Redeker/BrandiDohrn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.2 Rz. 139; Erben/Kubert/Zahrnt, IT-Verträge, S. 73 f.; Bartsch, CR 2015, 345, 353. 168 So auch LG Hamburg v. 25.10.2013 – 315 O 449/12, CR 2014, 15, 17 m. Anm. Huppertz = ITRB 2014, 9. 169 So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 53. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 68 will bei „ganz gewichtigen wirtschaftlichen Gründen“ Ausnahmen zulassen, z.B. für Testversionen. 170 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 66; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226. Koch, CR 2002, 629, 631 weist aber zutreffend daraufhin, dass die Software nicht ihrerseits per Download veräußert werden darf, weil hierdurch zwei Kopien existieren (= Vervielfältigung). 171 LG Köln v. 2.6.2010 – 28 O 77/06, CR 2010, 576, 577 = ITRB 2010, 250; Redeker/Gerlach, Handbuch der ITVerträge, Kap. 1.8 Rz. 140; Marly, Softwarerecht, Rz. 1621 ff.; Leupold/Glossner/von dem Bussche/Schelinski, MAH IT-Recht, Teil 1 Rz. 360; Hilty, GRUR 2018, 865, 877; Plath, CR 2007, 345, 348; Polley, CR 1999, 345, 354; Schumacher, CR 2000, 641, 648. 172 Krit. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 69 sowie Marly, Softwarerecht, Rz. 1655 mit Blick auf das Verleihen und ohne Erwerbszwecke erfolgende Vermieten. Ein pauschales Weitervermietungsverbot kann aber wohl immer dahingehend ausgelegt werden, dass hiermit nur die Vermietung i.S.d. § 17 Abs. 3 UrhG gemeint ist. 173 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 21 ff.; Marly, Softwarerecht, Rz. 1646; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226; Polley, CR 1999, 345, 354. 174 Vgl. ausf. Marly, Softwarerecht, Rz. 1660 ff. A.A. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 58. 175 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 228.

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Inhaltskontrolle

Rz. 45 § 307 BGB

Hardware einsetzen darf, die z.B. durch eine Seriennummer konkretisiert wird.176 Eine solche Klausel ist bei einer dauerhaften Überlassung nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam, weil sie zum einen von der durch § 69c Nr. 3 UrhG garantierten freien Nutzungsmöglichkeit unvereinbar abweicht und zum anderen im Widerspruch zu der Eigentumsverschaffungspflicht der §§ 433 Abs. 1 Satz 1, 631 Abs. 1 steht.177 Das Risiko der Mehrfachnutzung und die Verfolgung von Softwarepiraterie sind keine durchgreifenden Interessen des Verwenders, da er diesem berechtigten Interesse auch durch Programmschlüssel und deren Abgleich Geltung verschaffen kann. Bei einer zeitlich befristeten Softwareüberlassung ist eine solche CPU-Klausel nach Auffassung des BGH aber wirksam.178 Dies wird in der Literatur teilweise mit Blick auf die Kardinalspflicht der Gebrauchsgewährung bezweifelt, weil die Einschränkung durch die CPU-Klausel i.S.d. Abs. 2 Nr. 2 schon die Erreichung des Vertragszwecks gefährde.179 Eine Untersagung der Nutzung von Software in Netzwerken durch sog. Netzwerkklauseln soll nach 44 Abs. 2 Nr. 1 unwirksam sein, weil dem Softwareanbieter nach § 69c Nr. 4 UrhG nur die Verwertungsrechte in öffentlichen Netzen zustehen, wozu jedenfalls lokale Netzwerke (LAN) nicht gehörten.180 Jedenfalls stelle eine solche Klausel aber eine den Vertragszweck gefährdende Einschränkung der Verpflichtung zur Eigentumsverschaffung dar und sei deshalb zumindest nach Abs. 2 Nr. 2 unwirksam.181 Demgegenüber halten andere derartige Klauseln für unbedenklich, weil eine zulässige Beschränkung des Nutzungsrechts nach § 31 Abs. 1 Satz 2 UrhG vorläge, die nicht zu einer Abweichung i.S.d. Abs. 2 Nr. 1 führen könne.182 Entscheidend dürfte hier einzig der Umstand der tatsächlichen Mehrfachnutzung sein: Eine Klausel ist unwirksam, wenn sie die Nutzung in einem Netzwerk oder die Freigabe einer Rechner-Software für das Netzwerk pauschal verbietet. Eine Klausel ist auch dann unwirksam, wenn sie die Nutzung innerhalb eines Netzwerks nur für den Fall verbietet, dass hierdurch eine Mehrfachnutzung „ermöglicht“ wird, da das bloße Risiko der parallelen Mehrfachnutzung es nicht rechtfertigt, auch die zulässige Einfachnutzung einzuschränken.183 Eine Klausel ist nur dann wirksam, wenn sie die tatsächliche, parallele Mehrfachnutzung in einem Netzwerk verbietet, die Anzahl gleichzeitiger Nutzer (sog. concurrent user) beschränkt oder die parallele Mehrfachnutzung von einer Sondervergütung (meist auf Basis der Nutzerzahl) abhängig macht.184 Auf die Berücksichtigung der tatsächlichen Mehrfachnutzung (vgl. Rz. 44) kommt es auch bei Klauseln an, die das „wer“ und „wo“ des Softwareeinsatzes regeln wollen: Danach sind Klauseln un176 Der Begriff CPU-Klausel ist daher eigentlich irreführend, weil häufig gar keine Festlegung auf eine konkrete CPU erfolgt. Ausf. hierzu Marly, Softwarerecht, Rz. 1665, der deshalb von „Systemvereinbarung“ spricht. 177 OLG Frankfurt v. 10.3.1994 – 6 U 18/93, CR 1994, 398, 399 m. Anm. Hoeren; Redeker/Brandi-Dohrn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.2 Rz. 79; Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 55; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 51; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 27; Marly, Softwarerecht, Rz. 1677; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 228; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 53; Grützmacher, ITRB 2003, 279, 281. Differenzierend Scholz/Haines, CR 2003, 393, 397 f. A.A. Metzger, NJW 2003, 1994, 1995. 178 BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, CR 2003, 323, 324 f. m. Anm. Wiebe/Neubauer = ITRB 2003, 262. Zustimmend z.B. Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 56; Leupold/Glossner/von dem Bussche/Schelinski, MAH IT-Recht, Teil 1 Rz. 360 sowie Metzger, NJW 2003, 1994, der hieraus die Übertragbarkeit der Rspr. auf den Softwarekauf ableitet. 179 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 52; Marly, Softwarerecht, Rz. 1684 f.; Bartsch, CR 1994, 667, 669. 180 Vgl. hierzu ausf. Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 33, wonach bei einem Unternehmen aber die persönliche Verbundenheit fehle und daher eine differenzierende „Netzwerkklausel“ wirksam sein soll. 181 Schumacher, CR 2000, 641, 649 f. 182 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.9 Rz. 177 f.; Marly, Softwarerecht, Rz. 1700 ff.; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 228. Für Softwaremiete Leupold/Glossner/von dem Bussche/Schelinski, MAH IT-Recht, Teil 1 Rz. 360. 183 Dies gilt insb. vor dem Hintergrund, dass der Hersteller die Möglichkeit hat, durch technische Programmsperren die Mehrfachnutzung zu unterbinden. A.A. Marly, Softwarerecht, Rz. 1702. Ähnl. wie hier aber Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren in Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 33; Polley, CR 1999, 345, 353 f. 184 Ähnl. wie hier Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 53; Polley, CR 1999, 345, 353 f. Ähnl. wohl auch Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 54. Zu „preisgebundenen Netzwerkklauseln“ auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1707.

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BGB § 307 Rz. 45 Inhaltskontrolle zulässig, die die Nutzung der Software im Wege des Outsourcings auch für Fälle verbieten wollen, in denen der Outsourcing-Anbieter die Software nur für den Software-Käufer nutzt und der SoftwareKäufer die Nutzung für diesen Zeitraum aufgibt.185 Genauso verhält es sich mit Site- oder GebäudeLizenzen, die den Ort der Software-Nutzung festlegen wollen, ohne dass hiermit notwendigerweise eine Mehrfachnutzung einhergeht.186 In eine ähnliche Richtung gehen Klauseln, die an die sog. „indirekte Nutzung“ anknüpfen, also Fälle in denen eine Drittanbietersoftware in irgendeiner Form (häufig über eine Schnittstelle) auf die eigentliche Software (i.d.R. eine ERP-Software) zugreift, mit dieser zusammenwirkt oder Daten aus deren Datenbank importiert.187 Solche Klauseln werden zumindest dann nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 69d Abs. 1 UrhG unwirksam sein, wenn sie generell die Nutzung von Drittanwendungen verbieten oder unter eine weitere Vergütungspflicht stellen.188 Etwas anderes soll jedoch gelten, wenn ohnehin ein named-user-Modell vereinbart wurde.189 Dies setzt aber natürlich voraus, dass ein solches named-user-Modell wirksam in AGB vereinbart werden kann – was überwiegend bejaht wird.190 46

Die Rechte zur Umgestaltung und Fehlerbeseitigung (§ 69d Abs. 1 UrhG) werden in AGB häufig mit sog. Programmänderungsverboten belegt. Es besteht Einigkeit, dass generelle Programmänderungsverbote nach Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 unwirksam sind.191 Hier ist deshalb zu differenzieren zwischen den einzelnen Verbotsklauseln192: Wirksam in AGB verkürzt werden können soll das Recht zur Fehlerbeseitigung, soweit der Softwareanbieter einen zuverlässigen Update- und Pflegedienst anbietet.193 Dies kann jedoch allenfalls gelten, wenn dieser Dienst bereits mit dem Kaufpreis abgegolten ist und nicht zusätzlich gebucht werden muss. Ist letzteres der Fall, ist eine Beschränkung unwirksam, weil es an einer die Einschränkung kompensierenden Klausel fehlt. Ein Verbot der Programmänderung soll aber wirksam sein, wenn es sich auf kommerziell arbeitende Dritte bezieht.194 Zulässig ist auch eine Klausel, die eine Änderung von Seriennummern und Urheberhinweisen verbietet.195 Die Wirksamkeit eines Klauselverbots zur Entfernung eines Dongle-Schutzes hängt maßgeblich von der Frage ab, ob die Benutzung ohne Dongle bzw. Entfernung des Dongle unter § 69d Abs. 1 UrhG fällt (vgl. hierzu § 69d UrhG Rz. 13). Eindeutig ist hingegen die Einordnung des Rechts auf Sicherungskopie (§ 69d Abs. 2 UrhG): Die Untersagung dieses Rechts ist schon nach § 69g Abs. 2 UrhG unwirksam und deshalb auch nach Abs. 2 Nr. 1.196 Es macht auch keinen Unterschied, ob dem Kunden Alternativen (z.B. Zweitkopie bei Defekt) angeboten werden.197 Gleiches gilt für §§ 69d Abs. 3, 69e UrhG, vgl. § 69g Abs. 2 UrhG.198 Teilweise wird es mit Blick auf § 69e UrhG aber für zulässig gehalten, die Möglichkeit der Dekompilierung von weiteren Voraussetzungen abhängig zu machen.199

185 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 55; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 56; Grützmacher, CR 2011, 697, 704. 186 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 55; Redeker/Witte, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.4 Rz. 77. 187 Ausf. hierzu Metzger/Hoppen, CR 2017, 625, 625 ff. 188 Metzger/Hoppen, CR 2017, 625, 632 ff. 189 So bspw. Scholz, CR 2019, 417, 423 m.w.N. 190 So zuletzt Redeker, ITRB 2017, 44, 45 m.w.N., der deshalb auch Klauseln zur indirekten Nutzung für zulässig hält. 191 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 56; Marly, Softwarerecht, Rz. 1724. 192 Ausf. hierzu Marly, Softwarerecht, Rz. 1709 ff. 193 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 31 f. 194 Marly, Softwarerecht, Rz. 1725. A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 56 und Wolf/Lindacher/ Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 227 mit Blick auf BGH v. 24.2.2000 – I ZR 141/97, CR 2000, 656 = GRUR 2000, 866. 195 Marly, Softwarerecht, Rz. 1726 u. 1730; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 56. 196 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 33. 197 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 227. 198 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 73; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 35. 199 Redeker/Brandi-Dohrn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.2 Rz. 95; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 66.

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Rz. 49 § 307 BGB

Vor allem bei älterer Software häufig anzutreffen sind sog. OEM (Original Equipment Manufactu- 47 rer) Klauseln, nach denen Software nur mit einer spezifischen Hardware und nicht isoliert vertrieben werden darf. In eine ähnliche Richtung gehen Klauseln, die die Nutzung auf Bildungseinrichtungen, Studenten oder Schüler beschränken sollen, sog. „Schulversionen“. Der BGH hat zumindest für OEM-Versionen entschieden, dass hieraus keine dingliche Beschränkung der Erschöpfungswirkung folgt.200 Zur AGB-rechtlichen Zulässigkeit dieser Beschränkung hat sich der BGH allerdings – entgegen häufig anderslautender Zitierung – nicht eingelassen. Es ist zu differenzieren: Gegenüber Softwarezwischenhändlern und Endkunden dürfte eine solche Klausel als Folge der BGH-Entscheidung nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam sein, da der BGH mit seiner Entscheidung das Verbot einer beschränkten Erschöpfungswirkung faktisch zum gesetzlichen Leitgedanken erklärt hat.201 Der Endkunde kann die Software also auch dann (weiter) nutzen, wenn er nicht (mehr) Student ist, nicht zu den benannten Bildungseinrichtungen gehört oder die Software ohne Hardware weiterverkauft. Nur das zur Vervielfältigung berechtigte Unternehmen (sog. authorized replicator) kann wirksam zur Abgabe an bestimmte Personenkreise durch AGB verpflichtet werden, weil nur durch weisungsgemäßes Handeln überhaupt die Erschöpfungswirkung eintritt.202 Aktivierungs- und Registrierungsklauseln verstoßen gegen den Erschöpfungsgrundsatz des § 69c 48 Nr. 3 Satz 2 UrhG und bei Software-Käufen gegen die Verfügungsfreiheit des Eigentümers und sind daher nach Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 unwirksam.203 Das bringt dem Kunden allerdings wenig, wenn die Aktivierung nicht nur rechtlich, sondern – wie im Regelfall – auch technisch implementiert ist und ein Starten der Software verhindert. Interessanter ist dann die Frage, ob die Aktivierungs- bzw. Registrierungspflicht einen Sachmangel darstellt. Nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam sein sollen – zumindest bei werkvertraglichen Softwareerstellungsverträgen – Klauseln, die eine Nutzung erst mit vollständiger Zahlung der vereinbarten Vergütung erlauben bzw. die Nutzungsrechte erst unter der aufschiebenden Bedingung der Zahlung erteilen wollen, weil das Werkvertragsrecht eine Nutzung mit der Abnahme zulassen müsse.204 cc) Audit-Klauseln Besonders häufig anzutreffen sind sog. Audit-Klauseln,205 mit denen sich der Software-Hersteller als AGB-Verwender das Recht einräumt, die vertragsgerechte Nutzung und Lizenzierung der verwendeten Software zu überprüfen. Der Umfang solcher Auditklauseln variiert erheblich und reicht von einer Selbstauditierung des Kunden bis hin zur Vor-Ort-Untersuchung durch den Software-Hersteller mit Vorlage- und Mitwirkungspflichten. Nach h.M. sind zumindest Klauseln mit einem anlasslosen, umfassenden Vor-Ort-Auditrecht – unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung – eine unangemessene Benachteiligung i.S.d. Abs. 2 Nr. 1, weil sie von den wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelungen im Urheberrecht abweichen und hiermit nicht zu vereinbaren sind.206 Im Übrigen ist aber umstritten, ob nicht zumindest anlassbezogene Auditrechte,207 Auditrechte mithilfe 200 BGH v. 6.7.2000 – I ZR 244/97, NJW 2000, 3571, 3573 = CR 2000, 651 m. Anm. Witte = CR 2000, 738 m. Anm. Chrocziel. 201 Ähnl. Schwartmann/Gennen, Praxishandbuch Medien-, IT- und UrheberR, 4.21 Rz. 138; Wandtke/Bullinger/ Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 127 ff. Zudem kann eine Geltung schon häufig daran scheitern, dass die AGB des Softwareherstellers gar nicht wirksam einbezogen wurden, vgl. § 305 Rz. 19 ff. 202 BGH v. 6.7.2000 – I ZR 244/97, NJW 2000, 3571, 3573 = CR 2000, 651 m. Anm. Witte = CR 2000, 738 m. Anm. Chrocziel. 203 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 61; Marly, Softwarerecht, Rz. 1748. 204 Grützmacher, ITRB 2019, 88, 92; Redeker, ITRB 2005, 70, 71. 205 Vgl. nur der Formulierungsvorschlag von Grapentin/Schug, Beck’sche Online-Formulare Vertrag, Ziff. 9.1.2 (Software-Lizenzvertrag (Kauf)) § 6. 206 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 64; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 159; Marly, Softwarerecht, Rz. 1764 f.; Leupold/ Glossner/von dem Bussche/Schelinski, MAH IT-Recht, Teil 1 Rz. 247; Hoeren, CR 2008, 409 ff.; Hoeren/Spittka, MMR 2009, 583, 586; Intveen, ITRB 2012, 208, 211; Intveen/Karger, ITRB 2014, 39; Kubach/Hunzinger, CR 2016, 14, 15; Moos, CR 2006, 797 ff.; Strittmatter/Harnos, CR 2013, 621; Schneider, CR 2015, 413. 207 Leupold/Glossner/von dem Bussche/Schelinski, MAH IT-Recht, Teil 1 Rz. 363; Huppertz/Schneider, ZD 2013, 427.

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BGB § 307 Rz. 49 Inhaltskontrolle von Wirtschaftsprüfern208 oder Pflichten zur Selbstauditierung209 zulässigerweise vereinbart werden können. Im Urheberrecht hat der Gesetzgeber allerdings gerade von einem verdachtsunabhängigen Einsichtsrecht abgesehen und solche Rechte nur für den Fall einer nachgewiesenen (§ 101 UrhG) oder hinreichend wahrscheinlichen (§ 101a UrhG) Urheberrechtsverletzung vorgesehen.210 Diese gesetzlichen Regelungen stellen bereits eine restriktiv auszulegende, großzügige Durchbrechung der allgemeinen Problematik dar, dass dem Rechtsinhaber die zur Geltendmachung seines Anspruchs notwendigen Informationen fehlen und stellen hierzu den Inhaber von Urheberrechten über alle anderen Anspruchsinhaber.211 Sie enthalten zudem ein ausgewogenes Regelungsgeflecht zur Interessenabwägung und zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.212 Mit der Auditklausel soll der Software-Käufer hingegen regelmäßig verpflichtet werden, die für ihn geltenden Rechtsgrundsätze zu brechen.213 Deshalb stellt nach hier vertretener Auffassung jede weitergehende Auflockerung der §§ 101, 101a UrhG durch AGB eine mit gesetzlichen Grundgedanken nicht zu vereinbarende Abweichung i.S.d. Abs. 2 Nr. 1 dar. Im Zusammenhang mit der Audit-Klausel wird regelmäßig auch geregelt, welche Folgen die Feststellung einer Unterlizenzierung hat. Häufig wird hierbei in AGB der Nachkauf nach dem sog. Listenpreis verlangt. Eine solche Ausgestaltung ist mit Blick auf die in § 97 Abs. 2 Satz 3 UrhG vorgesehene Lizenzanalogie grds. möglich. In der Praxis sind solche Klauseln dennoch häufig intransparent und damit nach § 307 Abs. 1 unwirksam, weil bspw. der konkrete Listenpreis nicht ersichtlich wird, sondern die Festlegung der Höhe dynamisch in das Belieben des Verwenders gestellt wird und zusätzlich dieser Listenpreis keinerlei Bezug zu der üblicherweise verlangten oder ausgewiesenen Vergütung aufweist.214 dd) Quellcode-Klauseln 50

Mit sog. Quellcode-Klauseln sind Bestimmungen in AGB gemeint, die die Überlassung des Quellcodes im Rahmen der Softwareüberlassung ausschließen. Solche Klauseln werden teilweise bei Standard-Software für wirksam und bei Software, bei der der Erwerber auf den Quellcode angewiesen ist, nach Abs. 2 Nr. 2 für unwirksam gehalten.215 Ebenso wird eine Klausel des Käufers für unwirksam gehalten, die den Verkäufer zur Herausgabe oder zumindest zur Hinterlegung des Quellcodes in AGB verpflichtet.216 Nach hier vertretener Auffassung kommt eine Inhaltskontrolle aber nicht in Betracht: Entweder ergibt sich nach Auslegung (§§ 133, 157) eine vorrangige Individualabrede hinsichtlich des Kaufgegenstandes (§ 305b) oder die Klausel stellt eine kontrollfreie Leistungsbeschreibung dar (Abs. 3). Im letzteren Fall ist der Kunde dadurch ausreichend geschützt, dass eine Quellcode-Klausel nicht im „Kleingedruckten“ versteckt sein darf, weil sie ansonsten nach § 305c Abs. 1 überraschend ist.217

208 Redeker, IT-Recht, Rz. 87a; Bierekoven, ITRB 2008, 84, 88. 209 Kotthoff/Wieczorek, MMR 2014, 3, 7. Die Selbstauditierung soll hierbei nur die erste Stufe sein, die ggf. um weitere Stufen bis hin zur Vor-Ort-Auditierung erweitert werden können soll. Fraglich bleibt aber, wie in einem solchen Stufenverhältnis die nächste Stufe erreicht werden kann, wenn der Kunde der Selbstauditierung nachkommt. 210 Zu diesen Verfahren bei der Rechtekette von Gebrauchtsoftware Kubach/Hunzinger, CR 2016, 14 ff. 211 Wandtke/Bullinger/Ohst, UrhR, § 101a UrhG Rz. 4. 212 Deshalb erscheint eine Klauselerstellung, die auch diese gesetzlichen Leitgedanken ausreichend berücksichtigt, faktisch nicht wirksam umsetzbar. A.A. aber ohne Klauselvorschläge Kotthoff/Wieczorek, MMR 2014, 3, 7. 213 Eine Aufstellung an Normen enthält Kotthoff/Wieczorek, MMR 2014, 3, 8. Zu nennen sei hier nur die mögliche Strafbarkeit nach § 203 StGB und die fehlende Erlaubnisnorm (Art. 6 DSGVO) für die (personenbezogene) Datenübermittlung an den Softwarehersteller. 214 Vgl. in diesem Zusammenhang OLG München v. 11.4.2019 – 29 U 3773/17, CR 2019, 491. 215 LG Köln v. 15.4.2003 – 85 O 15/03, CR 2003, 484 = ITRB 2003, 238; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 226. 216 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 50. 217 Vgl. hierzu die Kommentierung zu § 305c Rz. 9.

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Inhaltskontrolle

Rz. 53 § 307 BGB

ee) Rückgabe- und Löschungspflichten Die Rückgabepflicht aus § 546 Abs. 1 muss bei der Software-Miete nach allgemeiner Meinung durch 51 die Rückgabe der physischen Kopien gekoppelt mit der Abgabe einer eidesstattlichen Erklärung, wonach die Software gelöscht wurde und die Nutzung fortan unterlassen wird, erfüllt werden. Zulässig soll es aber in AGB auch sein, die Löschung der Software vom Vermieter vor Ort überwachen zu lassen.218 Die gesetzliche oder AGB-feste Rückgabepflicht kann zudem mit einer Vertragsstrafe gesichert werden,219 wobei die Höhe sich an der Dauer des Verzugs und der ursprünglichen Lizenzgebühr zu orientieren hat. Eine zeitunabhängige Vertragsstrafe verstößt gegen das gesetzliche Leitbild von § 546a Abs. 1 und ist daher gem. Abs. 2 Nr. 1 unwirksam.220 ff) Softwareerstellungs-Klauseln Bei Softwareerstellungsverträgen ist fraglich, ob der Softwareentwickler die Kosten für die Erstellung eines Pflichtenheftes durch AGB auf den Kunden übertragen kann. Eine solche Klausel könnte eine nach Abs. 2 Nr. 1 unvereinbare Abweichung vom gesetzlichen Grundgedanken des § 632 Abs. 3 und deshalb unwirksam sein.221 Nach vorzugswürdiger Auffassung ist die Erstellung des Pflichtenheftes aber nicht vergleichbar mit dem Kostenanschlag, was zur Wirksamkeit einer solchen Klausel führt, weil sie die gesetzliche Regelung des § 632 Abs. 3 nicht berührt.222 Es kommt also nur darauf an, ob überhaupt die Regelung des § 632 Abs. 3 als dispositives Recht Anwendung finden würde, was bei einem Pflichtenheft grds. zu verneinen ist, weil es nicht die Kosten der Softwareerstellung, sondern im Kern beschreibt, wie und womit die Anforderungen an das zu erstellende Programm umgesetzt werden.223 Gleiches dürfte erst recht für das Lastenheft gelten, dass grds. ohnehin vom Auftraggeber beizubringen ist.224

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Das Kündigungsrecht aus § 649 kann in AGB nicht wirksam ausgeschlossen werden, weil dies gegen 53 gesetzliche Grundgedanken verstößt (Abs. 2 Nr. 1).225 Andererseits darf sich der Auftraggeber einer Softwareerstellung auch nicht in seinen AGB ein seiner freien Entscheidung unterliegendes Kündigungsrecht ohne Vergütungspflicht einräumen.226 Ein Ausschluss der Vergütungspflicht aus § 649 soll aber möglich sein, wenn die Parteien die Bezahlung und Fertigstellung in diverse Teilabschnitte aufgesplittet haben.227 Möglich soll es auch sein, § 649 Satz 3 dahingehend zu ändern, dass vermutet wird, dass dem Unternehmer statt der gesetzlich vorgesehenen 5 % nunmehr 50 % der Vergütung für noch nicht erbrachte Teile zustehen.228 Tatsächlich scheitert eine solche Regelung nicht an Abs. 2 Nr. 1, weil § 649 Satz 3 kein gesetzliches Leitbild, sondern nur eine Beweiserleichterung für den Unternehmer darstellt.229 Letztlich kommt es für die Wirksamkeit solcher und ähnlicher Klauseln zur Vergütung bei Kündigung jedoch auf § 308 Nr. 7 an (vgl. § 308 Rz. 47 ff.). 218 LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, NJW 1988, 2476 = CR 1989, 606; Redeker/Gerlach, Handbuch der ITVerträge, Kap. 1.8 Rz. 321. 219 LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, NJW 1988, 2476 = CR 1989, 606; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 170; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 242 ff.; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 129. 220 Ähnl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 242 ff. A.A. LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, CR 1989, 606. 221 Vgl. BGH v. 3.12.1981 – VIII ZR 368/80, NJW 1982, 765; OLG Karlsruhe v. 29.12.2005 – 19 U 57/05, NJWRR 2006, 419. 222 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 149. 223 Zur Abgrenzung zum Lastenheft vgl. Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, G. Rz. 153. Vgl. ferner OLG Nürnberg v. 18.2.1993 – 12 U 1663/92, CR 1993, 553; Alpert, CR 2001, 213, 219 f. 224 Zur Abgrenzung zum Pflichtenheft Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, G. Rz. 153. 225 BGH v. 8.7.1999 – VII ZR 237/98, NJW 1999, 3261, 3262. 226 BGH v. 4.3.1997 – X ZR 141/95, NJW 1997, 2043, 2044 f. = CR 1997, 470 m. Anm. Lehmann; Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D. Rz. 450. 227 Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D. Rz. 451. 228 Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D. Rz. 441 f. u. 519. 229 BGH v. 5.5.2011 – VII ZR 161/10, CR 2011, 639, 640.

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BGB § 307 Rz. 54 Inhaltskontrolle 54

Umstritten sind sog. Buy-out-Klauseln, durch die der Urheber verpflichtet wird, gegen eine Pauschalvergütung alle seine Rechte an der erstellten Software – also insb. sämtliche denkbaren Nutzungsrechte und -arten – preiszugeben.230 Nach der vorzugswürdigen h.M. sind solche Klauseln wegen Abs. 3 kontrollfrei, zumindest aber sind die §§ 11 Satz 2, 31 Abs. 5, 32 UrhG keine gesetzlichen Leitgedanken.231 Der Gesetzgeber beabsichtigte, vollständige Buy-Outs zurückzudrängen, und hat hierzu den neuen § 40a UrhG eingeführt, wodurch der Urheber zumindest durch die neu eingeführte zehnjährige Maximaldauer des Exklusivrechts geschützt wird.232 gg) Laufzeitklauseln

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Die Vorschrift des § 309 Nr. 9 gilt nur bei Kauf-, Werk- und Dienstverträgen (vgl. 309 Rz. 63). Sie gilt daher nicht bei mietvertraglich einzuordnenden Softwareüberlassungsverträgen. Für solche Laufzeitklauseln ist daher sowohl gegenüber Unternehmern als auch Verbrauchern § 307 maßgeblich.233 Problematisch ist indes, dass die gesetzliche Regelung des § 544 auch Laufzeiten von über 30 Jahren für unproblematisch hält und deshalb hieraus keine Wertung i.S.d. Abs. 2 Nr. 1 gewonnen werden kann.234 Entscheidend sind daher nach § 307 Abs. 1 die berechtigten Interessen des Verwenders und des Kunden, wobei hier insb. das Amortisierungsinteresse des Software-Anbieters in den Vordergrund tritt235: Eine Laufzeitklausel ist danach eine unangemessene Benachteiligung, wenn sie über den Zeitrahmen hinausgeht, der für die Amortisation der Softwareentwicklungskosten erforderlich ist.236 Dies kann jedoch nur für mietweise überlassene Individualsoftware gelten.237 Für mietweise überlassene Standard-Software dürfte – entsprechend § 309 Nr. 9 Buchst. a – gegenüber Verbrauchern eine Vertragslaufzeit von mehr als zwei Jahren eine unangemessene Benachteiligung darstellen, weil es zum wirtschaftlichen Risiko des Software-Anbieters gehört, dass sich für die Standard-Software im normalen Innovationszyklus nicht genug Kunden zur Amortisation finden. Gegenüber einem Unternehmer ist eine unangemessene Benachteiligung hingegen erst bei Laufzeiten ab fünf Jahren anzunehmen, soweit diese Laufzeit nicht nur dem Interesse des Verwenders, sondern auch dem der anderen Partei entspricht.238

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In jedem Fall besteht bei Laufzeitklauseln stets das Risiko, dass die Vertragslaufzeit für den Kunden intransparent und die Klausel daher nach Abs. 1 Satz 2 unwirksam ist. So liegt es bspw. bei einer Klausel in einem Softwarebetreuungsvertrag, nach der „die Mindestlaufzeit … zwei Jahre [beträgt] und … im Anschluss mit einer Frist von sechs Monaten zum Ende eines Kalenderjahres mit eingeschriebenem

230 Ausf. hierzu Dorner, MMR 2011, 780. 231 BGH v. 31.5.2012 – I ZR 73/10, GRUR 2012, 1031 = IPRB 2012, 199; LG München I v. 12.8.2010 – 7 O 10769/10, ZUM 2010, 825, 827; Dorner, MMR 2011, 780; Wille, ZUM 2011, 206. A.A. OLG Hamburg v. 1.6.2011 – 5 U 113/09, GRUR-RR 2011, 293; OLG München v. 21.4.2011 – 6 U 4127/10, ZUM 2011, 576; KG v. 26.3.2010 – 5 U 66/09, ZUM 2010, 799. 232 Vgl. zum Gesetzgebungsverfahren Osiek, CR 2016, R54; zum neuen § 40a in der jetzigen Fassung LucasSchloetter, GRUR 2017, 235, 238. 233 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.9 Rz. 339; Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 723. 234 Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 723. A.A. offenbar BGH v. 24.2.2016 – XII ZR 5/15, NJW 2016, 1441, 1444 für Mobilfunkmasten. 235 So auch die Argumentation von OLG Düsseldorf v. 13.7.2006 – 10 U 145/05, NJW-RR 2007, 1710 für die Angemessenheit einer 10-jährigen Laufzeit bei der Vermietung einer Telefonanlage. Vgl. aber ferner BGH v. 24.2.2016 – XII ZR 5/15, NJW 2016, 1441, 1444, wonach auch die langfristige Planungssicherheit ein berechtigtes Interesse beim Bau von Mobilfunkmasten darstellen soll und der Amortisierungszeitraum dahinter zurücktreten kann. 236 Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 724. Kritisch Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.9 Rz. 339 ff. 237 A.A. Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 724, wonach bei Standard-Software die Kosten anteilig zu berücksichtigen sein sollen. Dies würde aber voraussetzen, dass der Verwender vor Vertragsabschluss bereits positiv weiß, wie viele Verträge er noch abschließen wird. 238 Ähnl. OLG Köln v. 25.7.2003 – 19 U 22/03, CR 2004, 173, 175: 5 Jahre; Gräfin von Merveldt, CR 2006, 721, 727: unter 5 Jahren.

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Inhaltskontrolle

Rz. 58 § 307 BGB

Brief zu kündigen [ist]“.239 Eine solche Klausel verstößt gegen das Transparenzgebot, weil unklar bleibt, ob die Vertragslaufzeit zwei Jahre oder zwei Jahre und sechs Monate beträgt.240 hh) Open-Source-Bedingungen Da Open-Source-Bedingungen als AGB zu qualifizieren sind, findet auch eine Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. statt, soweit deutsches Recht Anwendung findet (vgl. hierzu § 305 Rz. 8). Die Mehrzahl von Open-Source-Klauseln sind jedoch unproblematisch wirksam oder weichen nicht von den Überlegungen zu anderen Software-Klauseln ab.241 Problematisch sind hier vor allem die Gewährleistungsund Haftungsausschlüsse (vgl. hierzu § 309 Rz. 61) und die „any later version“-Klausel (vgl. hierzu § 308 Rz. 37).

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Kontrovers diskutiert wird im Zusammenhang mit § 307 die Zulässigkeit sog. Copyleft-Klauseln, 58 nach denen Weiterentwicklungen nur unter denselben Lizenzbedingungen weitergegeben werden dürfen.242 Folge soll hiernach sein, dass auch für „abgeleitete Software“ („derivative work“) der Quellcode zugänglich gemacht und eine Unterwerfung unter die Open Source Bedingungen notwendig ist, der sog. virale Effekt.243 Als auflösende Bedingung (§ 158) zulässig sein soll zumindest Ziff. 4 der GPLv2, nach der das gewährte Nutzungsrecht automatisch an den Urheber zurückfällt, wenn der Nutzer gegen die Lizenzbedingungen (z.B. gegen die Copyleft-Klausel) verstößt.244 Teilweise werden aber die Copyleft-Klauseln selbst (vgl. Ziff. 2 der GPLv2) als unvereinbare Abweichung vom Erschöpfungsgrundsatz angesehen und daher nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 für unwirksam gehalten.245 Nach vorzugswürdiger Auffassung ist eine solche Klausel aber wegen des besonderen Wesens von Open-Source-Software wirksam, zumal der Lizenzvertrag ansonsten wohl nach § 306 Abs. 3 gänzlich unwirksam wäre, weil ein Festhalten am Vertrag ohne diesen Copyleft-Effekt eine unzumutbare Härte darstellen würde.246 Die Copyleft-Klausel verstößt auch nicht gegen das Transparenzgebot, nur weil unbestimmt ist, was unter einem „derivative work“ zu verstehen ist. Denn die Anforderungen an den Grad der Konkretisierung einer Klausel dürfen nicht überspannt werden, weil AGB flexibel bleiben müssen, um allen denkbaren Fallgestaltungen Rechnung tragen zu können.247 Bei den Copyleft-Klauseln erscheint insoweit eine transparentere Beschreibung nicht möglich und kann daher auch nicht gefordert werden.248 Allerdings kann sich aus der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 eine kundenfreundliche Auslegung ergeben (vgl. hierzu § 305c Rz. 14).249 Mittlerweile gehen einige Anbieter von Open-Source Software jedoch über die regulären Copyleft-Klauseln hinaus und versuchen, die kommerzielle Nutzung der Software durch AGB generell mit einem Copyleft-Effekt für jegliche hieran angebundene Software belegen zu wollen – eine solche Klausel ist zumindest überraschend und damit nach § 305c Abs. 1 unwirksam.250

239 LG Dortmund v. 2.7.2014 – 10 O 14/14, BeckRS 2014, 15674. 240 LG Dortmund v. 2.7.2014 – 10 O 14/14, BeckRS 2014, 15674. Zustimmend Junker, jurisPR-ITR 10/2015 Anm. 5. 241 Ähnl. Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 184. 242 Zum Begriff Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 45 ff. 243 Vgl. Funk/Zeifang, CR 2007, 617, 619. 244 LG Frankfurt/M. v. 6.9.2006 – 2-6 O 224/06, CR 2006, 729, 731 f. m. Anm. Grützmacher = ITRB 2006, 273; LG München v. 19.5.2004 – 21 O 6123/04, CR 2004, 774, 775 m. Anm. Hoeren u. Metzger = ITRB 2004, 242. A.A. Czychowski, GRUR-RR 2018, 1, 4 f.; Galetzka, MMR 2019, 455, 457 f., die hierin einen Verstoß gegen § 309 Nr. 4 und den Grundgedanken von § 314 sehen. 245 Funk/Zeifang, CR 2007, 617, 619; Plaß, GRUR 2002, 670, 679 f. Krit. auch Hoeren, CR 2004, 776, 777. 246 Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 186; Spindler, Rechtsfragen open source, S. 91 ff. mit ausf. Begründung. Offenbar von der Wirksamkeit ausgehend Suchomski, ITRB 2016, 90, 94. 247 So auch allg. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 307 BGB Rz. 341, der zudem zutreffend in Rz. 331 darauf hinweist, dass auch eine intransparente Klausel nicht automatisch zu einer unangemessenen Benachteiligung führt. 248 Str., wie hier Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 188. A.A. Schneider/Graf von Westphalen/Fechtner, Software-Erstellungsverträge, A. Rz. 359; Spindler, Rechtsfragen open source, S. 120 f.; Determann, GRURInt. 2006, 645, 652 f. 249 Suchomski, ITRB 2016, 90, 94. 250 So bspw. Section 13 der Server Side Publice License v1 für MongoDB, die bisher auf der GPLv3 beruhte und nur mit Blick auf diesen Copyleft-Effekt abweichend ausgestaltet wurde.

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BGB § 307 Rz. 59 Inhaltskontrolle ii) Gewährleistungsklauseln 59

Zu Klauseln in Bezug auf Gewährleistungsrechte bei dauerhaften Softwareüberlassungsverträgen vgl. ausf. § 309 Rz. 54 ff. Zu Gewährleistungsklauseln im Bereich der Software-Miete vgl. Rz. 28. d) EDV-System-Verträge

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Insb. in AGB von System-Verträgen können Trennungsklauseln (auch Entkopplungsklauseln) relevant werden, wonach einzelne Teile des IT-Projektes, also z.B. Hard- und Software, als getrennte Verträge zu betrachten sind. Das Bedürfnis solcher Klauseln rührt daher, dass IT-Projekte häufig aus rechtlich und tatsächlich völlig verschiedenen Abschnitten bestehen und daher bspw. die Teilnichtigkeit (§ 139) und ein Rücktrittsrecht (§ 346) nicht das gesamte IT-Projekt betreffen sollen. Solche Klauseln haben indes keine durchgreifende Wirkung: Handelt es sich tatsächlich um mehrere, getrennte Verträge – was nach dem Parteiwillen zu bestimmen ist – entspricht es dem dispositiven Recht, dass Mängel an dem einen Vertrag in der Regel keine durchgreifende Wirkung auf den anderen Vertrag haben. Ergibt die Ermittlung des Parteiwillens aber, dass es sich um einen einheitlichen Vertrag handelt, dann kann eine solche Trennungsklausel diesen Vertrag nicht wirksam aufspalten.251 Denn handelt es sich tatsächlich um einen einheitlichen Vertrag, dann würde hierdurch der vom Gesetz vorgesehene Gesamtrücktritt unmöglich gemacht, die Möglichkeit der Gesamtnichtigkeit genommen und das Leistungsverweigerungsrecht aus § 320 eingeschränkt (vgl. § 309 Nr. 2 Buchst. a), weshalb eine solche Klausel stets nach Abs. 2 Nr. 2 unwirksam ist.

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Kaufvertraglich einzuordnende System-Verträge sehen häufig Klauseln vor, nach denen eine Nacherfüllung/Wartung auch im Wege der Fernwartung erfolgen kann und der Kunde die hierfür notwendigen technischen Voraussetzungen auf eigene Kosten zu schaffen hat. Eine solche Klausel ist nach Abs. 2 Nr. 1 unwirksam, da sie mit dem gesetzlichen Grundgedanken des § 439 Abs. 2 unvereinbar von dieser Regelung abweicht. Zulässig kann eine solche Klausel aber sein, wenn der Kunde wahlweise eine Fernwartung verlangen kann.252 e) ASP-/SaaS-/Cloud-/Outsourcing-Verträge

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Für die Art und Weise der ASP-/SaaS/Outsourcing-Nutzung gilt das zur Software-Miete gesagte (vgl. Rz. 42 ff.), soweit die Anwendung nicht ohnehin ausschließlich auf Rechnern des Anbieters läuft. Besondere Bedeutung kommt einem Weitergabeverbot für Software bei Outsourcing-Verträgen zu. Dies betrifft zwei Fallrichtungen: Zum einen den Fall, dass der Auftraggeber dem Outsourcing-Anbieter seine Software für die Erbringung der Outsourcing-Leistungen überlassen will; eine solche Weitergabe ist unproblematisch möglich, da generelle Zustimmungsvorbehalte oder Weitergabeverbote unwirksam sind und damit aufgrund des Erschöpfungsgrundsatzes grds. keine Zustimmung des Softwarelieferanten erforderlich ist.253 Zum anderen ist umgekehrt auch der Outsourcing-Anbieter nicht durch Weitergabeverbote gehindert, seine kaufvertraglich erworbene Software auf einen Auftraggeber zu übertragen.254 Entscheidend ist nur, dass Auftraggeber und Outsourcing-Anbieter nicht zeitgleich ein und dieselbe Lizenz verwenden. Bei ASP-/SaaS-Verträgen ist es zulässig, das Nutzungsrecht auf eine bestimmte Anzahl von Nutzern zu beschränken.255 Auch ein Weitergabe- oder Untervermietungsverbot an Dritte ist bei Cloud-Verträgen zulässig.256 Eine mit dem gesetzlichen Grundgedanken unvereinbare Abweichung soll es aber darstellen, die Nutzung einer SaaS-Anwendung durch Arbeitnehmer des Kunden auszuschließen.257 251 BGH v. 19.9.1985 – III ZR 214/83, NJW 1986, 43 ff.; Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 119; Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 69; Marly, Softwarerecht, Rz. 855 ff.; Graf von Westphalen, CR 1987, 477; Redeker, ITRB 2014, 193, 195. Vgl. auch OLG Köln v. 4.11.2002 – 19 U 27/02, CR 2003, 246 für die Annahme einer „Gesamtlösung“ bei zwei Verträgen. 252 Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 98. 253 Fritzemeyer/Schoch, CR 2003, 793, 798. 254 Fritzemeyer/Schoch, CR 2003, 793, 798. 255 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 204. 256 Niebling/Härting, AnwaltKommentar AGB, Teil 2 IT- und EDV-Verträge Rz. 1236. 257 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 205.

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Inhaltskontrolle

Rz. 65 § 307 BGB

Insb. bei ASP-, Outsourcing- und Cloud-Verträgen werden häufig Verfügbarkeitsquoten vereinbart, die häufig auch Bestandteil von Service Level Agreements (SLA) sind. Dies geschieht i.d.R. durch prozentuale Angaben, z.B. 98,5 % oder 99,9 %. Ob solche Klauseln überhaupt der Inhaltskontrolle unterliegen, ist umstritten und von den übrigen Zusicherungen abhängig (vgl. hierzu ausführlich Rz. 76). Soweit die Klauseln zum kontrollfreien Bereich gehören, verbleibt dann nur noch eine Transparenzkontrolle (vgl. hierzu ebenfalls Rz. 76).258

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Soweit ASP-, SaaS- und Cloud-Verträge als Mietvertrag einzuordnen sind, findet hier für Gewährleis- 64 tungsbeschränkungen § 309 Nr. 8 keine Anwendung (vgl. hierzu schon Rz. 28). Klauseln, die die Gewährleistungsrechte beschränken, sind daher an § 307 zu messen. Über die allgemein beschränkenden Klauseln (vgl. Rz. 28) hinaus sind hier insb. folgende Fallgruppen relevant: Bei ASP- und SaaS-Verträgen ist die überlassene Software-Applikation mangelhaft, wenn sie von Viren und/oder Malware befallen ist.259 Daher stellt es eine unangemessene Benachteiligung dar, wenn der Anbieter die Rechte bei Schadsoftware generell ausschließt oder auf bereits bekannte Viren beschränkt.260 Der ASP-/SaaSAnbieter kann gegenüber dem Kunden wirksam ausschließen oder von einer Vergütung abhängig machen, ihn mit den neusten Updates und Software-Versionen zu versorgen; das Ausschlussrecht endet jedoch dort, wo die Erhaltungspflicht aus dem Mietverhältnis (§ 535 Abs. 1 Satz 2) beginnt.261 Häufiger ist jedoch der umgekehrte Fall, also eine Klausel des Anbieters, die den Kunden zur Nutzung der jeweils neuesten Version verpflichtet (vgl. hierzu § 308 Rz. 33). Da ASP-/SaaS-/Cloud-/OutsourcingVerträge i.d.R. nicht nur aus einer einzelnen Anwendung bestehen, sondern verschiedene Elemente (z.B. eine SaaS-Lösung mit inkludiertem Cloud-Speicherplatz) enthalten, ist bei einem Mangel der anteilige Wert einer Minderung nach § 536 BGB nur schwer zu ermitteln. Während ein Ausschluss des Minderungsrechts hier unwirksam ist,262 sollte es dem Verwender aber zumindest möglich sein, die einzelnen Leistungsbestandteile mit einem angemessenen Gewichtungsmodell für die Minderung in AGB einzuteilen, da dies auch zur Klarstellung im Interesse des Kunden liegt.263 Vereinbarungen über die Entgeltlichkeit von Pflege- und Wartungsleistungen im Rahmen des ASP-Konzepts sind hingegen in AGB i.d.R. nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 unwirksam, weil dies der Erhaltungspflicht aus § 535 Abs. 1 widerspricht.264 Soweit man einen ASP-Vertrag als Werkvertrag einordnet, soll zudem eine Laufzeitklausel mit einer Mindestvertragslaufzeit von 48 Monaten unwirksam sein, weil hiermit das Kündigungsrecht des § 648 unzulässigerweise ausgeschlossen werde.265 Von besonderer Bedeutung sind sog. Sperrklauseln, die dem Anbieter die Möglichkeit geben, die ASP-/Cloud-/Outsourcing-Dienste einzustellen, falls sich der Kunde im Zahlungsrückstand befindet oder gegen gewisse Pflichten verstößt. Schon nach dem dispositiven Recht dürfte eine solche Sperrung auf Grundlage der Zurückbehaltungsrechte (§§ 320, 273) nach Treu und Glauben (§ 242) nur eingeschränkt möglich sein, wenn die Leistungserbringung für den Kunden eine existenzielle Bedeutung hat.266 Daher stellt eine Sperrklausel eine unangemessene Benachteiligung i.S.d. Abs. 1 dar, wenn sie jeglichen Zahlungsrückstand oder jegliche Vertragsverletzung für ein Sperrrecht ausreichen lässt.267 Wirksam dürfte eine Sperrklausel nur dann sein, wenn sie zum einen eine vorausgehende Sperrandrohung vorsieht (analog § 45k Abs. 2 TKG) und dem Kunden ein Veto-Recht für den Fall zulässt, dass die hierdurch drohenden Schäden außer Verhältnis zum (umstrittenen) Zahlrückstand stehen.268

258 Vgl. speziell zu SLA in ASP/SaaS Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 134 ff. 259 LG Kleve v. 29.6.1995 – 7 O 17/95, CR 1996, 292; LG Regensburg v. 17.6.1997 – 2 S 168/96, NJW-RR 1998, 1353. 260 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 99. 261 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 104; Gräfin von Westerholt/Berger, CR 2002, 81, 85 f. Vgl. Rz. 28. 262 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 172. 263 A.A. Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 174. 264 Gräfin von Westerholt/Berger, CR 2002, 81, 85. 265 LG Essen v. 16.12.2016 – 16 O 174/16, CR 2017, 427. 266 Vgl. hierzu Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 283 f. 267 Ähnl. OLG Koblenz v. 30.9.2010 – 2 U 1388/09, CR 2011, 471, 473 f. = ITRB 2011, 55 (für einen Hosting-Vertrag); Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 71; Redeker, IT-Recht, Rz. 1019. 268 A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 71: Sperrung bei allen „nicht ganz geringfügigen Rückständen“.

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BGB § 307 Rz. 66 Inhaltskontrolle f) Pflege- und Wartungs-Verträge 66

Bei Vergütungs-Klauseln stellen sich eine Reihe von Fragen, die so oder ähnlich auch aus Pflegeund Wartungsverträgen abseits des IT-Rechts bekannt sind: So sind Regelungen, die eine Vergütung nach Stunden vorsehen, wirksam und wiedersprechen nicht dem Grundgedanken des Werkvertrages.269 Denn auch wenn die Erfolgsbezogenheit beim Werkvertrag im Vordergrund steht, muss dem Unternehmer ein Spielraum bei der Preisberechnung bleiben, weil er gerade bei IT-Wartungen häufig nicht abschätzen kann, wie viel Arbeitsaufwand er ansetzen muss. Dies berechtigt aber nicht zugleich zu Klauseln wie „Fahrzeiten gelten als Arbeitszeiten“. Solche Regelungen sind nach Abs. 1 unwirksam, wenn für die Fahrzeiten nicht zumindest ein ermäßigter Stundensatz vorgesehen ist, weil es dem gesetzlichen Leitbild des Werkvertrages entspricht, das für Nebenleistungen nur die tatsächlich entstandenen Kosten in Rechnung gestellt werden können.270 Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Anbieter zur Fernwartung berechtigt ist und das Problem hierüber auch hätte gelöst werden können.271 Problematisch sind Klauseln, die eine Vergütungspflicht für Wartungs- und Pflegeleistungen vorsehen, die ohnehin aufgrund der Gewährleistungsrechte des Kunden beim selben Vertragspartner zu beseitigen wären. Denn eine solche Klausel führt im Falle ihrer Unwirksamkeit zu Rückzahlungsansprüchen.272 Eine solche Klausel ist daher nur dann wirksam, wenn sich die Vergütungspflicht auf über die Gewährleistungsrechte hinausgehende Leistungspflichten bezieht oder die Vergütungspflicht erst mit Ablauf der Gewährleistungsrechte einsetzt.273 Ansonsten verstößt sie gegen Abs. 1 Satz 2 (auch wenn man sie als kontrollfreie Leistungsbeschreibung einstuft, vgl. Abs. 3 Satz 2) bzw. Abs. 2 Nr. 1 und § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. cc. Es reicht daher nicht aus, wenn die Vergütungspflicht drei Monate nach Ablieferung eintritt.274

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Problematisch ist die Zulässigkeit von Vorauszahlungs-Klauseln bei Pflege- und Wartungsverträgen. Entsprechend Abs. 2 Nr. 1 kommt es hier auf das gesetzliche Leitbild an. Soweit der Wartungs- oder Pflegevertrag als Werkvertrag einzuordnen ist, soll eine Pflicht zur jährlichen Vorkasse wegen unvereinbarer Abweichung von § 651 Abs. 1 unwirksam sein, zumal dem Kunden dadurch jegliches Druckmittel genommen werde.275 Der BGH hält Vorkasse-Klauseln mitunter zwar für zulässig, wenn der überwiegende Teil der Leistung bereits zu Vertragsbeginn erbracht wird.276 Dies dürfte bei Pflege- und Wartungsverträgen aber regelmäßig nicht der Fall sein, weil die Leistung typischerweise gleichbleibend über einen längeren Zeitraum erbracht wird. Zumindest im B2B-Bereich soll aber eine Pflicht zur vierteljährlichen Vorauszahlung in AGB wirksam vereinbart werden können.277 M.E. sind jedoch nur Klauseln zulässig, die die Höhe einer „Vorauszahlung“ an den Wert der bereits erbrachten Leistungen koppeln und damit nicht als Vorleistung, sondern als Abschlagszahlung i.S.d. § 632a zu qualifizieren sind (vgl. zu Vorkasse-Klauseln Rz. 23).

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Bei sog. Verfügbarkeitsgarantien oder Reaktionszeiten wird der Auftragnehmer durch die AGB des Auftraggebers verpflichtet, die Betriebsbereitschaft des betreffenden Systems im Falle eines auftretenden Fehlers ab Eingang der Störungsmeldung nach einer gewissen Zeitspanne wieder hergestellt zu haben. Bei solchen Klauseln, die häufig in Service Level Agreements (SLA) eingebettet sind, ist zunächst 269 OLG Stuttgart v. 2.11.1990 – 2 U 271/89, NJW-RR 1991, 252; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Klauseln (W) Rz. W 14; Marly, Softwarerecht, Rz. 1066. 270 BGH v. 5.6.1984 – X ZR 75/83, NJW 1984, 2160; OLG Frankfurt v. 22.4.1983 – 6 U 90/82, WRP 1983, 626. A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, Teil 2 (61) Rz. 3; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Klauseln (W) Rz. W 14. Letztlich entscheidet sich die Frage danach, ob die Klausel überhaupt kontrollfähig ist oder nach Abs. 3 kontrollfrei ist. Grds. handelt es sich wohl um eine kontrollfähige Preisnebenabrede, im Einzelfall kann aber auch ein Fall von § 307 Abs. 3 vorliegen, vgl. BGH v. 19.11.1991 – X ZR 63/90, NJW 1992, 688. 271 LG Cottbus v. 28.8.2003 – 4 O 361/02, CR 2004, 260; Marly, Softwarecht, Rz. 1066. 272 Vgl. BGH v. 11.11.2008 – VIII ZR 265/07, CR 2009, 210 m. Anm. Bischof/Schneider. Ebenso Marly, Softwarerecht, Rz. 1051 m.w.N. 273 Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 108 ff.; Schneider, ITRB 2001, 242, 244 f. Vgl. auch Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 246. 274 So aber Bartsch, NJW 2002, 1526, 1528. 275 OLG München v. 8.11.1990 – 29 U 3410/90, CR 1992, 401 m. Anm. Zahrnt. Krit. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 115 ff. 276 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, CR 2010, 327, 330. 277 OLG München v. 22.11.1988 – 25 U 5810/86, CR 1989, 283, 285; Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, S. Rz. 374 ff.

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Inhaltskontrolle

Rz. 72 § 307 BGB

fraglich, ob diese überhaupt nach Abs. 3 kontrollfähig sind (vgl. hierzu Rz. 76). Die wenige Rspr. hat sich mit deren Kontrollfähigkeit bei Pflege- und Wartungsverträgen bislang – soweit ersichtlich – nicht beschäftigt. Nach Ansicht des OLG Köln soll eine (offenbar kontrollfähige) Klausel in AGB des Auftraggebers, die den Pflege-Anbieter verpflichtet, innerhalb einer Zeitspanne von „maximal 24 Zeitstunden“ die Betriebsbereitschaft wiederherzustellen, aber keine unangemessene Benachteiligung darstellen und deshalb wirksam sein.278 In einem Vollwartungsvertrag ist eine Klausel, nach der die Instandhaltung, d.h. insb. die vorbeugende Wartung nur „auf Abruf des Auftraggebers“ erfolgt, wirksam und stellt keine unangemessene Benachteiligung dar.279 Werden fest inkludierte Zeitkontingente vereinbart, soll zusätzlich auch eine Verfallklausel, nach der die Vergütung auch ohne Abruf fällig wird, wirksam sein.280 Eine solche Klausel bedarf zu ihrer Wirksamkeit richtigerweise aber einer Regelung, nach der entweder Abzüge von der Vergütung vorzunehmen sind oder Kontingente auf spätere Abrechnungsperioden übertragen werden können.

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Häufig im Zusammenhang mit Wartungs- und Pflegeverträgen sind Update-Klauseln, nach denen der Kunde für die Beibehaltung der Pflege und Wartung verpflichtet ist, jeweils die neuste SoftwareVersion zu nutzen. Eine pauschale Update-Pflicht dürfte nach Abs. 1 unwirksam sein, da dies die berechtigten Interessen des Kunden völlig unberücksichtigt lassen würde. Wirksam können solche Klauseln aber dann sein, wenn darin Ausnahmen in Form von Übergangs- oder Zumutbarkeitsregelungen vorgesehen sind.281 Wird dem Kunden eine neue Programmversion im Rahmen des Pflegevertrages aufgespielt, beinhaltet dies zugleich auch die notwendigen Nutzungsrechte hieran. Eine unangemessene Benachteiligung stellt hier deshalb eine Klausel dar, nach der das Nutzungsrecht an den aufgespielten Programmversionen enden soll, wenn der Pflegevertrag beendet wird.282

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Zu Gewährleistungsrechten vgl. § 309 Rz. 54 ff. Zur maximal zulässigen Vertragslaufzeit von War- 71 tungs- und Pflegeverträgen und Teilkündigungsrechten nach § 649 vgl. § 309 Rz. 67. Aufgrund des Interesses des Kunden an einer möglichst langen Pflegedauer wird teilweise eine Klausel für unwirksam gehalten, die eine Mindestvertragslaufzeit von fünf Jahren unterschreitet.283 Hierfür fehlt es jedoch an jeglichem AGB-rechtlichen Anknüpfungspunkt,284 fraglich ist vielmehr, ob sich eine Pflegepflicht konstruieren lässt.285

III. Schranken der Inhaltskontrolle (§ 307 Abs. 3) 1. Allgemeines Nach Abs. 3 Satz 1 unterliegen nur solche Klauseln der Inhaltskontrolle, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Obwohl der Wortlaut der Regelung insoweit nicht eindeutig ist, besteht Einigkeit, dass der durch Abs. 3 definierte, kontrollfreie Bereich zwei Bereiche umfasst: Zum einen unterliegen – entsprechend dem Wortlaut – solche Klauseln nicht der Inhaltskontrolle, die lediglich den Inhalt einer ohnehin geltenden, gesetzlichen Regelung wiedergeben (sog. deklaratorische Klauseln).286 Zum anderen unterliegen aber auch solche

278 OLG Köln v. 31.1.2003 – 19 U 151/02, K&R 2003, 573. Zustimmend Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 48. 279 OLG Hamm v. 10.4.1989 – 31 U 162/88, CR 1989, 815. A.A. noch die Vorinstanz LG Münster v. 20.4.1988 – 10 O 541/87, CR 1989, 815 („überraschende Klausel“). Wie hier auch Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, Teil 2 (61) Rz. 2; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Klauseln (W) Rz. W 16. 280 Für den Hotlinevertrag Redeker/Roth-Neuschild, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.19 Rz. 83. 281 Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 112. 282 Vgl. BGH v. 26.3.2009 – I ZR 153/06, CR 2009, 767 = ITRB 2010, 4; LG Köln v. 16.11.2005 – 28 O 349/05, BeckRS 2007, 15111. 283 Zahrnt, Computervertragsrecht, Kap. 14.2.3. (2.1). 284 So auch zutreffend OLG Koblenz v. 12.1.2005 – 1 U 1009/04, CR 2005, 482 = ITRB 2005, 152. 285 Vgl. hierzu ausf. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 284 f. 286 BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 73.

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BGB § 307 Rz. 72 Inhaltskontrolle Klauseln nicht der Inhaltskontrolle, die unmittelbar Leistung und Gegenleistung festlegen und dadurch zu einer Kontrolle eines „angemessenen“ Preises führen würden.287 73

Die Abgrenzung zwischen kontrollfreiem und kontrollbedürftigem Bereich ist nicht immer einfach und wird je nach Klausel auch häufig nicht einheitlich beurteilt. Im Grundsatz gilt, dass eine kontrollfreie Leistungsbeschreibung nur bei solchen Klauseln vorliegt, die Art, Umfang und Güte der geschuldeten Leistung festlegen, nicht aber bei solchen, die das Hauptleistungsversprechen einschränken, verändern, ausgestalten oder modifizieren.288 Zum anderen unterliegen auch Preis- und Leistungsnebenabreden der Inhaltskontrolle, d.h. alle Leistungen und Gegenleistungen, die nicht als essentialia negotii für den Vertragsschluss notwendig sind, sondern auch durch dispositives Gesetzesrecht ersetzt werden können.289

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Durch die Regelung in Abs. 3 Satz 2 wird klargestellt, dass das Transparenzgebot, anders als die übrigen Vorschriften des AGB-Rechts, auf alle Klauseln Anwendung findet, d.h. unabhängig davon, ob sie den Gesetzestext wiedergeben oder Preis und Leistung regeln, weil sich eine mangelnde Transparenz z.B. auch durch versteckte oder nur teilw. wiedergegebene gesetzliche Regelungen ergeben kann.290 2. Kontrollfreier Bereich bei IT-Verträgen

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Buy-out-Klauseln, durch die der Urheber verpflichtet wird, gegen eine Pauschalvergütung alle seine Rechte an der erstellten Software – also insb. sämtliche denkbaren Nutzungsrechte und -arten – preiszugeben, beschreiben nur Leistung und Gegenleistung und sind daher nach Abs. 3 kontrollfrei.291

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Service Level Agreements (kurz: SLA) bzw. Verfügbarkeitsregelungen spielen sowohl bei ASP-, SaaS- und Outsourcing-Verträgen als auch bei Wartungs- und Pflegeverträgen eine große Rolle. Hier stellt sich regelmäßig die Frage, ob es sich um einen Teil der nach Abs. 3 kontrollfreien Leistungsbeschreibung handelt oder um eine kontrollfähige Klausel, die im Zweifelsfall nach § 307 eine unangemessene Beschränkung der Erhaltungspflicht (§ 535) bzw. der Sachmängelhaftung (§§ 434, 633) darstellt. Die möglichen Regelungen in SLA sind so vielschichtig, dass eine generelle Aussage nur schwer möglich ist. Jedenfalls sollten aber typische SLA-Bestimmungen (Verfügbarkeit, Antwortzeit, Reaktionszeit) unter den kontrollfreien Bereich des Abs. 3 fallen.292 Die andere Vertragspartei ist hier ausreichend dadurch geschützt, dass auch für den kontrollfreien Bereich die Transparenzkontrolle (Abs. 1 Satz 2) und Überraschungskontrolle (§ 305c) greift,293 und damit Regelungen, die das Hauptleistungsversprechen des Verwenders faktisch erheblich aushöhlen, intransparent, überraschend oder zumindest widersprüchlich sind. Von dieser allgemeinen Auffassung gibt es allerdings eine entscheidende Ausnahme: Wird in einer – insb. individuellen – Leistungsbeschreibung eine Verfügbarkeit „rund um die Uhr“ oder „24/7“ angegeben, ist eine dies einschränkende Regelung in AGB (auch wenn sie als SLA bezeichnet werden) einer Inhaltskontrolle unterworfen.294

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Bezogen auf einzelne SLA-Bestimmungen gilt danach folgendes: Verfügbarkeitsregelungen (98,5 % statt 100 %) konkretisieren nur die Hauptleistungspflicht des Anbieters, indem sie eine zeitliche Begrenzung der Leistung vorsehen, so dass darin eine kontrollfreie Leistungsbeschreibung zu sehen ist.295 Entsprechendes gilt für die Festlegung von Maximal- bzw. Minimalwerten bei Round Trip De287 BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 79. 288 BGH v. 13.11.2012 – XI ZR 500/11, NJW 2013, 995, 996; BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 80. 289 BGH v. 12.5.2010 – I ZR 37/09, NJW-RR 2011, 257, 258; BGH v. 12.6.2001 – XI ZR 274/00, NJW 2001, 2635, 2636 = CR 2001, 596. 290 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 307 BGB Rz. 324; Jauernig/Stadler, § 307 BGB Rz. 13. 291 Str., wie hier z.B. BGH v. 31.5.2012 – I ZR 73/10, GRUR 2012, 1031 = IPRB 2012, 199; Wille, ZUM 2011, 206, 208 f. Vgl. ausf. Rz. 54. 292 A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 47. 293 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 132; Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 41; Peter, CR 2005, 404, 411. Zur Anwendbarkeit des Umgehungsverbots auf SLA vgl. § 306a Rz. 4. 294 So auch Hoeren/Sieber/Holznagel/Redeker, Handbuch Multimedia-Recht, Teil 12 Rz. 24. 295 Bräutigam, CR 2004, 248, 250; Gräfin von Westerholt/Berger, CR 2002, 81, 87; Peter, CR 2005, 404, 410 f.; Pohle/ Ammann, CR 2009, 273, 275; Röhrborn/Sinhart, CR 2001, 69, 72; Schuster, CR 2009, 205, 206. Für den TK-und Webhosting-Bereich Hoeren/Sieber/Holznagel/Redeker, Handbuch Multimedia-Recht, Teil 12 Rz. 24; Jessen, ZUM 1998, 282, 287; Schmitz, MMR 2001, 150, 155. A.A. soweit keine Beschränkung auf unverschuldete Aus-

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Inhaltskontrolle

Rz. 79 § 307 BGB

lay, Jitter, Paketverlusten und im Allgemeinen Antwortzeiten.296 Unter die kontrollfreie Leistungsbeschreibung fallen auch Regelungen, die statt oder neben einer prozentualen Verfügbarkeit Ausfallzeiten für geplante oder ungeplante Wartungsarbeiten vorsehen, solange transparent bleibt (Abs. 1 Satz 2), auf welche Maximalausfallzeit sich der Kunde einstellen muss.297 Angesichts der „kontrollfreudigen“298 Rspr.-Praxis muss jedoch im Zweifelsfall davon ausgegangen werden, dass auch Regelungen, die die Parteien übereinstimmend als Teil der Leistungsbeschreibung angesehen haben, der Inhaltskontrolle unterliegen.299 Denn nach dem BGH unterliegen faktisch nur die essentialia negotii eines Vertrages dem kontrollfreien Bereich.300 Der BGH geht allerdings in einer neueren Entscheidung ebenfalls davon aus, dass die Angabe einer Einschränkung der Verfügbarkeit bei einem Internet-Provider als eingeschränktes Leistungsversprechen einzuordnen und daher einer AGBrechtlichen Überprüfung gem. § 307 Abs. 3 entzogen ist.301 Auf der anderen Seite soll aber eine Klausel, nach der eine Online-Bank sich eine Beschränkung des Zugangs zum Onlinebanking für Wartungsarbeiten vorbehält, nach § 309 Nr. 7 unwirksam sein, weil sie die Haftung für diese Zeit ausschließt.302 Allerdings lag dieser Entscheidung auch die in Rz. 76 genannte Ausnahme zugrunde. Das LG Karlsruhe hält hingegen Verfügbarkeitsklauseln generell für kontrollfähig und als verdeckten Haftungsausschluss für unwirksam.303

78

Problematisch ist bei Verfügbarkeitsregelungen aber in jedem Fall die Transparenzkontrolle und hier 79 insb. die Berechnung der Ausfallzeit: Bei einer Verfügbarkeitsregelung von 99,5 % fehlt es an einem Bezugszeitraum und bei dem Zusatz „im Jahresmittel“ muss der Kunde zunächst selbst die berechtigten Ausfallszeiten berechnen. Der erste Fall ist mangels Transparenz nach Abs. 1 Satz 2 unstreitig unwirksam.304 Die zweite Konstellation ist hingegen umstritten: Nach einer Auffassung ist die Klausel unwirksam, weil der Kunde entweder mit der Berechnung derartiger Verfügbarkeiten überfordert wird oder weil auch der Referenzzeitraum „im Jahresmittel“ intransparent sei.305 Nach der vorzugswürdigen Gegenauffassung kann hingegen vom Kunden erwartet werden, sich im Zweifelsfall die Verfügbarkeitszeiten auszurechnen, zumal es sich nur um Grundrechenarten handelt.306 Zur Klarstellung sollte eine solche Klausel aber den Zusatz enthalten, dass sich das Jahresmittel auf das Kalenderjahr bezieht. Der Forderung, den Bezugszeitraum zur Transparenz auf unter einen Monat festzulegen, kann insoweit nicht gefolgt werden.307 Transparenz- und Widersprüchlichkeitsprobleme (§ 305c Abs. 2) treten insb. auch dort auf, wo eine prozentuale Verfügbarkeit mit zeitlich undefinierten Ausfallrechten (z.B. wegen Wartungsarbeiten) kombiniert wird: Es kann also nicht einerseits eine Verfügbarkeit von 99,99 % zugesichert und an anderer Stelle zusätzlich die Haftung für „kurzfristige Ausfälle“ und „regelmäßige Wartungsarbeiten“ ausgeschlossen werden.308

296 297 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308

fälle LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396, 397 = ITRB 2007, 106; Redeker/Gennen/ Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 135 ff.; Redeker/Roth-Neuschild, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.19 Rz. 62. Schuster, CR 2009, 205, 207; Stiemerling/Schneider, CR 2011, 345, 351. Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 134; Stögmüller, CR 2001, 183, 184. Ähnl. TK- bzw. Webhosting-Bereich OLG Düsseldorf v. 31.10.1996 – 6 U 206/95, NJW-RR 1997, 374, 378; Jessen, ZUM 1998, 282, 287. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 230. So auch Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 230. BGH v. 12.5.2010 – I ZR 37/09, NJW-RR 2011, 257, 258; BGH v. 19.11.1991 – X ZR 63/90, NJW 1992, 688. Gräfin von Westerholt/Berger, CR 2002, 81, 87; BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181 = ITRB 2001, 76; Röhrborn/Sinhart, CR 2001, 69, 72. BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181 m. Anm. Stögmüller = ITRB 2001, 76. LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396, 397 = ITRB 2007, 106. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 231. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Schmidt, Klauseln (S) Rz. S 231; Spindler, CR 2004, 203, 208. Peter, CR 2005, 404, 411. So aber Spindler, CR 2004, 203, 208. Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 202. A.A. Hoeren/Sieber/Holznagel/Redeker, Handbuch Multimedia-Recht, Teil 12 Rz. 27.

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BGB § 307 Rz. 80 Inhaltskontrolle

IV. Unternehmerischer Geschäftsverkehr 80

Nach § 310 Abs. 1 Satz 1 finden die § 308 Nr. 1, 2 bis 8 und § 309 keine Anwendung im unternehmerischen Geschäftsverkehr. Daher kommt der Regelung des § 307 im unternehmerischen Verkehr besondere Bedeutung zu. § 310 Abs. 1 Satz 2 bestimmt etwas verklausuliert, dass die Nichtanwendbarkeit der Regelungen in §§ 308, 309 nicht dazu führt, dass die Klausel nicht dennoch nach § 307 unwirksam sein kann (vgl. hierzu ausf. § 310 Rz. 3). Für die Praxis der Inhaltskontrolle sollte auch bei einer Verwendung von AGB ggü. Unternehmern zunächst eine Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 308, 309 erfolgen und – soweit ein Klauselverbot einschlägig ist – geprüft werden, ob ausnahmsweise besondere Interessen im unternehmerischen Geschäftsverkehr dennoch zu einer Angemessenheit führen können, vgl. § 310 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2.309

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IT-Verträge spielen vor allem auch im unternehmerischen Verkehr eine Rolle, weshalb an dieser Stelle keine getrennte Darstellung von Klauseln gegenüber Unternehmern erfolgt, sondern auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann, wo auch die Verwendung im unternehmerischen Verkehr berücksichtigt wird.

§ 308 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit In Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist insbesondere unwirksam 1. (Annahme- und Leistungsfrist) eine Bestimmung, durch die sich der Verwender unangemessen lange oder nicht hinreichend bestimmte Fristen für die Annahme oder Ablehnung eines Angebots oder die Erbringung einer Leistung vorbehält; ausgenommen hiervon ist der Vorbehalt, erst nach Ablauf der Widerrufsfrist nach § 355 Absatz 1 und 2 zu leisten; 1a. (Zahlungsfrist) eine Bestimmung, durch die sich der Verwender eine unangemessen lange Zeit für die Erfüllung einer Entgeltforderung des Vertragspartners vorbehält; ist der Verwender kein Verbraucher, ist im Zweifel anzunehmen, dass eine Zeit von mehr als 30 Tagen nach Empfang der Gegenleistung oder, wenn dem Schuldner nach Empfang der Gegenleistung eine Rechnung oder gleichwertige Zahlungsaufstellung zugeht, von mehr als 30 Tagen nach Zugang dieser Rechnung oder Zahlungsaufstellung unangemessen lang ist; 1b. (Überprüfungs- und Abnahmefrist) eine Bestimmung, durch die sich der Verwender vorbehält, eine Entgeltforderung des Vertragspartners erst nach unangemessen langer Zeit für die Überprüfung oder Abnahme der Gegenleistung zu erfüllen; ist der Verwender kein Verbraucher, ist im Zweifel anzunehmen, dass eine Zeit von mehr als 15 Tagen nach Empfang der Gegenleistung unangemessen lang ist; 2. (Nachfrist) eine Bestimmung, durch die sich der Verwender für die von ihm zu bewirkende Leistung abweichend von Rechtsvorschriften eine unangemessen lange oder nicht hinreichend bestimmte Nachfrist vorbehält; 3. (Rücktrittsvorbehalt) die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, sich ohne sachlich gerechtfertigten und im Vertrag angegebenen Grund von seiner Leistungspflicht zu lösen; dies gilt nicht für Dauerschuldverhältnisse; 4. (Änderungsvorbehalt) die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, wenn nicht die Vereinbarung der Änderung oder Abweichung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar ist; 309 Ähnl. Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 74; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 79.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 1 § 308 BGB

5. (Fingierte Erklärungen) eine Bestimmung, wonach eine Erklärung des Vertragspartners des Verwenders bei Vornahme oder Unterlassung einer bestimmten Handlung als von ihm abgegeben oder nicht abgegeben gilt, es sei denn, dass a) dem Vertragspartner eine angemessene Frist zur Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung eingeräumt ist und b) der Verwender sich verpflichtet, den Vertragspartner bei Beginn der Frist auf die vorgesehene Bedeutung seines Verhaltens besonders hinzuweisen; 6. (Fiktion des Zugangs) eine Bestimmung, die vorsieht, dass eine Erklärung des Verwenders von besonderer Bedeutung dem anderen Vertragsteil als zugegangen gilt; 7. (Abwicklung von Verträgen) eine Bestimmung, nach der der Verwender für den Fall, dass eine Vertragspartei vom Vertrag zurücktritt oder den Vertrag kündigt, a) eine unangemessen hohe Vergütung für die Nutzung oder den Gebrauch einer Sache oder eines Rechts oder für erbrachte Leistungen oder b) einen unangemessen hohen Ersatz von Aufwendungen verlangen kann; 8. (Nichtverfügbarkeit der Leistung) die nach Nummer 3 zulässige Vereinbarung eines Vorbehalts des Verwenders, sich von der Verpflichtung zur Erfüllung des Vertrags bei Nichtverfügbarkeit der Leistung zu lösen, wenn sich der Verwender nicht verpflichtet, a) den Vertragspartner unverzüglich über die Nichtverfügbarkeit zu informieren und b) Gegenleistungen des Vertragspartners unverzüglich zu erstatten. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die einzelnen Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Annahme- und Leistungsfrist (§ 308 Nr. 1) . a) Annahme- und Ablehnungsfristen . . . . . b) Leistungsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . c) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zahlungsfrist (§ 308 Nr. 1a) . . . . . . . . . . a) Unangemessen lange Zahlungsfrist . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überprüfungs- und Abnahmefrist (§ 308 Nr. 1b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nachfrist (§ 308 Nr. 2) . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rücktrittsvorbehalt (§ 308 Nr. 3) . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2 2 5 7 10 12 13 15 17 20 20 22 23 24

b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Änderungsvorbehalt (§ 308 Nr. 4) . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Hardware-/Software-Miete/ASP, SaaS bb) Hardware-/Software-Kauf . . . . . . . cc) Open Source Software . . . . . . . . . 7. Fingierte Erklärungen (§ 308 Nr. 5) . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Fiktion des Zugangs (§ 308 Nr. 6) . . . . . . 9. Abwicklung von Verträgen (§ 308 Nr. 7) . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Nichtverfügbarkeit der Leistung (§ 308 Nr. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

26 28 29 32 33 36 37 38 39 42 45 47 48 50

. 54

Literatur: Feuerborn/Hoeren, Abnahme und Ablieferung von DV-Anlagen, CR 1991, 513.

I. Allgemeines Die Norm ist eine Konkretisierung der Generalklauseln des § 307.1 Die Wertungen des § 307 sind daher auch bei der Prüfung der Tatbestände des § 308 heranzuziehen.2 Im Unterschied zu § 309 stel1 BGH v. 4.12.1986 – VII ZR 354/85, NJW 1987, 837, 838; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Vor §§ 308, 309 BGB Rz. 1. 2 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NJW 2005, 1820, 1821.

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BGB § 308 Rz. 1 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit len die Tatbestände des § 308 aber keine echten Regelbeispiele dar. Es handelt sich vielmehr um eine Auflistung von Klauseln, deren Wirksamkeit davon abhängt, ob sie – nach einer (richterlichen) Wertung – bspw. unangemessen (§ 308 Nr. 1b) oder zumutbar (§ 308 Nr. 4) sind. Es handelt sich bei § 308 also um eine Orientierungshilfe für häufig, aber nicht immer gegen § 307 verstoßende Regelungen.3 Ergibt sich nach der vorzunehmenden Wertung die Unzulässigkeit der Klausel, ist diese insgesamt unwirksam und es findet – sofern vorhanden – gem. § 306 Abs. 2 die gesetzliche Regelung Anwendung.4

II. Die einzelnen Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit 1. Annahme- und Leistungsfrist (§ 308 Nr. 1) 2

Zweck der Vorschrift ist es, den Vertragspartner des Verwenders in seiner Dispositionsfreiheit und vor einem nachteiligen Schwebezustand zu schützen.5 Dabei ist es grds. unbedenklich, wenn Annahme- und Leistungsfristen in AGB vorgesehen sind, bedenklich ist vielmehr nur eine überlange Dauer solcher Fristen.6 Denn bei einer langen Annahmefrist ist es dem Vertragspartner i.d.R. nicht möglich, ein ähnliches Angebot erneut abzugeben, Rechte aus Verzug geltend zu machen oder auf die unverzügliche Leistungserbringung zu bestehen.

3

In den § 308 Nr. 1a und 1b befinden sich vorrangige Sonderregelungen zu Zahlungsfristen für Entgeltforderungen und Überprüfungs- und Abnahmefristen, die im Zuge der Umsetzung der europäischen Zahlungsrichtlinie 2011/7/EU eingeführt wurden. Die Sonderregelungen finden jedoch nur Anwendung bei „unangemessen langen“ Fristen; bei „nicht hinreichend bestimmten“ Fristen findet Nr. 1 weiterhin Anwendung.7

4

Annahme- und Leistungsfristen müssen über §§ 310 Abs. 1, 307 auch im kaufmännischen Verkehr angemessen und hinreichend bestimmt sein. Zwar gilt auch hier, dass die Besonderheiten des Handelsverkehrs zu berücksichtigen sind und ggf. längere Fristen als in B2C-Verträgen rechtfertigen können.8 Im Regelfall dürften hier aber keine anderen Interessen zum Tragen kommen als gegenüber Verbrauchern, so dass die nachfolgenden Erwägungen auch auf den Geschäftsverkehr grds. Anwendung finden. a) Annahme- und Ablehnungsfristen

5

Um eine Wertung vornehmen zu können, ob eine klauselmäßige Annahme- bzw. Ablehnungsfrist (sog. Vertragsabschlussklausel)9 unangemessen lange ist, muss im ersten Schritt die gesetzliche Annahmefrist ermittelt werden: Die gesetzliche Annahmefrist bei einem Angebot unter Anwesenden endet „sofort“ (§ 147 Abs. 1) und unter Abwesenden, sobald mit einer Annahme „unter regelmäßigen Umständen“ (§ 147 Abs. 2) nicht mehr gerechnet werden kann. Im zweiten Schritt ist eine Interessenabwägung erforderlich, die sich an den für den Vertragsgegenstand typischen Umständen zu orientieren hat.10 Soweit die in AGB vorgesehene Frist von der gesetzlichen Frist wesentlich abweicht (sog. Wesentlichkeitsschwelle), müssen schutzwürdige Interessen die Verlängerung dieser gesetzlichen Annahmefrist rechtfertigen.11 Da sowohl die gesetzliche Frist als auch die AGB-Kontrolle nur sehr 3 So auch Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 1; MünchKomm/Wurmnest, § 308 BGB Rz. 2. 4 H.M., vgl. nur BGH v. 19.9.1983 – VIII ZR 84/82, NJW 1984, 48, 49; BGH v. 26.1.1983 – VIII ZR 342/81, NJW 1983, 1320, 1321; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 56; Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 2. A.A. MünchKomm/Wurmnest, § 308 BGB Rz. 5, der offenbar eine geltungserhaltende Reduktion auf ein angemessenes Maß präferiert. 5 Vgl. BT-Drucks. 7/3919, 24; BGH v. 7.6.2013 – V ZR 10/12, NJW 2013, 3434, 3435. 6 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 1. 7 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 1a; MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 13. 8 Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 17. 9 Vgl. ausf. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 8. 10 BGH v. 7.6.2013 – V ZR 10/12, NJW 2013, 3434, 3435; BGH v. 13.9.2000 – VIII ZR 34/00, NJW 2001, 303; Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 5; MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 5 ff. 11 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 11a.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 9 § 308 BGB

schwer bestimmbar sind, wird immer wieder die Zulässigkeit absoluter oder relativer Obergrenzen diskutiert: Absolute Obergrenzen losgelöst von der Bestimmung der Frist nach § 147 scheiden jedoch aus, weil ansonsten nicht bestimmt werden kann, ob die Dauer unangemessen lange ist.12 Auch bei einer relativen Obergrenze war der BGH bislang zurückhaltend und hat lediglich festgehalten, dass bei „einer vierwöchigen gesetzlichen Frist […] eine Überschreitung um 50 % oder mehr als wesentlich anzusehen“ ist.13 Mittlerweile kann nach dem BGH aber im Grundsatz davon ausgegangen werden, dass Bindungsfristen von mehr als sechs Wochen bei Fällen von § 147 Abs. 2 unwirksam sind.14 Eine „nicht hinreichend bestimmte“ Frist liegt vor, wenn für den Vertragspartner des Verwenders nicht ohne weiteres ersichtlich ist, welche konkrete Frist gilt, weil er hierfür zunächst komplizierte Überlegungen machen oder Rechtsrat einholen müsste.15 Solche Klauseln werden häufig mit „ca.“, „ungefähr“ oder „in der Regel“ eingeleitet. Andere Beispiele sind Annahmefristen, die von einer Bedingung abhängig gemacht werden, also z.B. erst mit der „Bearbeitung des Antrags“ durch den Verwender oder dem „Eingang aller Unterlagen“ beim Verwender beginnen sollen.16 Theoretisch kann auch eine unbestimmte Frist durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein; Beispiele aus der Rspr. existieren hierzu aber – soweit ersichtlich – nicht.17

6

b) Leistungsfristen Eine Leistungsfrist i.S.d. Nr. 1 kann jede dem Verwender obliegende Leistungspflicht betreffen, also 7 nicht nur Hauptleistungs- sondern auch Nebenleistungspflichten.18 Soweit die Leistungsfrist eine Entgeltforderung oder Überprüfungs- und Abnahmefristen betrifft, sind aber die vorrangigen Sonderregelungen der Nr. 1a und 1b zu beachten (vgl. Rz. 12 ff.). Soweit es um eine Frist geht, die der Verwender seinem Vertragspartner für Leistungspflichten setzt, findet § 307 Anwendung, da der Wortlaut von Nr. 1 diese Konstellation nicht erfasst.19 Das Klauselverbot gilt zudem nicht für Fälle, in denen sich der Verwender den Ablauf der Widerrufs- oder Rückgabefrist nach § 355 vorbehält.20 Für die unangemessen lange Leistungsfrist ist – entsprechend der Annahmefrist (vgl. Rz. 5) – eine In- 8 teressenabwägung vorzunehmen.21 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach der gesetzlichen Regelung grds. sofort zu leisten ist, vgl. § 271 Abs. 1. Die Angemessenheit der Leistungsfrist wird sich aber häufig dann bejahen lassen, wenn sie der Üblichkeit der jeweiligen Branche für die Beschaffungs-, Herstellungs- und Versandzeit entspricht. Beispiele: Bei einem Kfz-Kauf ist nach h.M. eine unechte Nachfrist von 6 Wochen in AGB im Anschluss an einen unverbindlichen Liefertermin wirksam.22 Im Versandhandel darf eine Lieferfrist i.d.R. 14 Tage nicht überschreiten.23 Die nicht hinreichend bestimmte Leistungsfrist spielt eine größere Bedeutung, weil der Verwender häufig nicht den exakten Liefertermin abschätzen kann und sich daher in AGB häufig nur auf ungenaue Lieferangaben einlässt. Nr. 1b schreibt insoweit vor, dass der Verwender die Lieferfrist zumindest hinreichend bestimmen muss, der Kunde muss also wissen, (1) wie die Frist zu berechnen ist, (2) wann er die Leistung danach verlangen und (3) der Verwender in Verzug gesetzt werden kann. Unwirksam 12 So auch BGH v. 17.1.2014 – V ZR 5/12, NJW 2014, 857, 858; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 11a. A.A. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 11 (ein bis zwei Tage bzw. 20 % regelmäßig unbedenklich); Graf von Westphalen, NJW 2017, 2237, 2242 (vier Wochen bei § 147 Abs. 2). 13 BGH v. 17.1.2014 – V ZR 5/12, NJW 2014, 857, 858. 14 So BGH v. 26.2.2016 – V ZR 208/14, NJW 2016, 2173, 2174. 15 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 14. 16 Vgl. OLG Hamm v. 24.2.1992 – 31 U 142/91, NJW-RR 1992, 1075. Weitere Bsp. bei Wolf/Lindacher/Pfeiffer/ Dammann, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 21. 17 So auch Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 23. 18 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 17. 19 Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 11. 20 Zur Problematik insb. im Hinblick auf den Widerrufsfristbeginn Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 30. 21 Ausf. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 38 ff. 22 BGH v. 7.10.1981 – VIII ZR 229/80, NJW 1982, 331, 333; BGH v. 25.10.2006 – VIII ZR 23/06, NJW 2007, 1198, 1200. Zu Recht kritisch Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 22a. 23 Vgl. KG v. 3.4.2007 – 5 W 73/07, NJW 2007, 2266, 2268 = CR 2007, 682 = ITRB 2008, 12; BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 1 Rz. 21.

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BGB § 308 Rz. 9 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit sind daher Klauseln, nach denen die Lieferung „so schnell wie möglich“, „nach Herstellung der Ware“, „in der Regel innerhalb von X Tagen“ oder „acht Wochen nach Aufmaß“ erfolgen soll.24 c) IT-Verträge 10

Im Hinblick auf Annahme- und Ablehnungsfristen ist bei IT-Verträgen stets die Komplexität der Anschaffung bei der vorzunehmenden Interessenwahrnehmung zu berücksichtigen. Bei einem komplexen IT-Systemvertrag aus vielen verschiedenen Hardware- und Softwarekomponenten kann daher auf Seiten des Auftragnehmers eine längere Annahmefrist gerechtfertigt sein, weil die notwendige Kalkulation und die Prüfung der Verfügbarkeit und Lieferbarkeit der einzelnen Komponenten viel Zeit in Anspruch nimmt.25 Selbst im Rahmen eines Change Request-Verfahren dürfte eine Annahmefrist von sieben Tagen nicht zu beanstanden sein.26 Beim EDV-Leasing ist eine dem Leasinggeber eingeräumte Annahmefrist von einem Monat in der Regel wirksam.27 Beim Software-Kauf über das Internet soll – im Hinblick auf eine absolute Höchstfrist von Alltagsgeschäften28 – eine Annahmefrist von 14 Tagen möglich sein.29 Da absolute Obergrenzen aber nicht definierbar sind (vgl. Rz. 5), bestehen hieran zumindest im nichtkaufmännischen Verkehr über Standardsoftware erhebliche Bedenken.

11

Auch bei der angemessenen Länge von Leistungsfristen in AGB kommt es auf die jeweilige IT-Leistung an. Während die Leistungsfrist bei Standard-Software und -Hardware in der Regel nur wenige Tage betragen darf, um nicht unangemessen lang zu sein, können sich bei komplexen IT-Systemen und Individualsoftware durchaus mehrmonatige Leistungsfristen als angemessen erweisen, sofern es der Üblichkeit entspricht (vgl. Rz. 8). Die Rspr. wird i.d.R. jedoch nur mit nicht hinreichend bestimmten Leistungsfristen beschäftigt und ist nicht immer einheitlich. Während das OLG München30 die Angabe einer Lieferzeit von „ca. 2 – 4 Werktage“ für keinen Verstoß gegen Nr. 1 hält, soll nach Ansicht des OLG Bremen31 die Angabe „Voraussichtliche Lieferzeit: 1–3 Werktage“ unwirksam sein. Unwirksam – auch im kaufmännischen Geschäftsverkehr über § 307 – ist jedoch in jedem Fall eine Klausel, die die Lieferzeit als „unverbindlich“ festlegt, weil der Kunde dann über keinerlei Maßstab mehr verfügt, um beurteilen zu können, ab wann er den Verwender in Verzug setzen kann.32 2. Zahlungsfrist (§ 308 Nr. 1a)

12

Bei Nr. 1a handelt es sich um eine speziellere, strengere und damit vorrangige Regelung zu § 271a, soweit es um vorformulierte Zahlungsfristen in AGB geht (vgl. § 271a Abs. 6) und zudem auch um eine Spezialvorschrift gegenüber § 308 Nr. 1 (vgl. Rz. 3). Leitbild für die Inhaltskontrolle bleibt nach dem Willen des Gesetzgebers trotz § 271a weiterhin § 271 Abs. 1, d.h. die im Regelfall sofortige Zahlungsverpflichtung.33 Wichtig ist, dass die Regelung nach § 310 Abs. 1 Satz 1 ausdrücklich und vor allem gegenüber Unternehmern Anwendung findet.

24 Vgl. KG v. 3.4.2007 – 5 W 73/07, NJW 2007, 2266, 2268 = CR 2007, 682 = ITRB 2008, 12; OLG Frankfurt v. 27.7.2011 – 6 W 55/11, MMR 2011, 800 = CR 2012, 59; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 24. 25 Vgl. allg. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 11. 26 Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 100. 27 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 97. 28 Str. So bspw. OLG München v. 23.3.2011 – 20 U 4468/10, BeckRS 2011, 07814; BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 1 Rz. 8. Ablehnend Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1 BGB Rz. 13. 29 Redeker/Stögmüller, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.16 Rz. 74. 30 OLG München v. 8.10.2014 – 29 W 1935/14, CR 2015, 199. 31 OLG Bremen v. 5.10.2012 – 2 U 49/12, CR 2012, 798 = ITRB 2013, 4. 32 Vgl. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 48; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 38 ff. 33 Vgl. BT-Drucks. 18/1309, 20; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1a BGB Rz. 10.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 18 § 308 BGB

a) Unangemessen lange Zahlungsfrist Aus den gesetzlichen Wertungen in Nr. 1a Halbs. 2 und § 286 Abs. 3 Satz 1 ergibt sich, dass jedenfalls eine Zahlungsfrist bis zu 30 Tagen grds. angemessen und damit wirksam ist.34 Nur, soweit es sich bei Verwender und Schuldner der Forderung um einen Unternehmer oder die öffentliche Hand handelt, findet bei Zahlungsfristen über 30 Tagen die Regelung der Nr. 1a Halbs. 2 Anwendung.35 Danach wird bei einer Zahlungsfrist von über 30 Tagen die Unangemessenheit vermutet.36 Die Norm erleichtert damit die Feststellung der Unangemessenheit einer Zahlungsfrist und halbiert die ansonsten zulässige 60-tägige Frist nach § 271a Abs. 1.37 Diese Erleichterung gilt nicht für den (seltenen) Fall, dass ein Verbraucher Verwender und Schuldner der Forderung ist; hier verbleibt es bei der „normalen“ Angemessenheitskontrolle nach Nr. 1a Halbs. 1. Eine wichtiges Kombinationsverbot besteht im Zusammenhang mit dem Klauselverbot in § 308 Nr. 1b: Eine isoliert wirksame 30-tägige Zahlungsfrist darf nicht mit einer isoliert wirksamen 15-tägigen Abnahmefrist kombiniert werden, d.h. es darf nicht eine Abnahmefrist von 15 Tagen und eine Zahlungsfrist von 30 Tagen ab Abnahme (= max. 45 Tage) vorgesehen werden.38

13

Ist die Zahlungsfrist unwirksam, tritt an ihre Stelle die gesetzliche Regelung, d.h. im Regelfall § 271 Abs. 1, beim Verbrauchsgüterkauf zudem § 474 Abs. 3 Satz 1 und bei Werkverträgen § 641.

14

b) IT-Verträge Da die Regelung in Nr. 1a für sämtliche Verträge gleichermaßen gilt, ergeben sich hier keine Besonderheiten bei IT-Verträgen. Eine Zahlungsfrist von mehr als 30 Tagen ist damit auch bei IT-Verträgen regelmäßig unwirksam. Spezielle Rechtfertigungsgründe für längere Zahlungsfristen bei IT-Verträgen sind nicht ersichtlich, zumal an die Rechtfertigung besonders strenge Maßstäbe anzulegen sind.39

15

Hinzuweisen ist noch darauf, dass § 310 Abs. 1 Satz 3 die VOB/B-Verträge ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Nr. 1a ausnimmt.40 Andere vorformulierte Vertragsbedingungen der öffentlichen Hand sind dort nicht aufgeführt, so dass EVB-IT-Verträge (vgl. hierzu § 310 Rz. 11) keine Zahlungsfrist von mehr als 30 Tagen vorsehen dürfen.41

16

3. Überprüfungs- und Abnahmefrist (§ 308 Nr. 1b) Die Regelung stellt – ebenso wie Nr. 1a – eine vorrangige Spezialvorschrift zu § 271a und § 308 Nr. 1 dar (vgl. Rz. 3). Sie gilt nur für Überprüfungs- und Abnahmefristen, durch die der gesetzliche Fälligkeitszeitpunkt für die Entgeltforderung hinausgeschoben wird.

17

Für gesetzliche Überprüfungsfristen ist die Regelung bedeutungslos, da keine gesetzliche Regelung existiert, die die Fälligkeit einer Entgeltforderung von einer Überprüfung abhängig macht; solche Vorschriften – insb. § 377 HGB – dienen nur der Erhaltung von Gewährleistungsrechten und sind für Fälligkeiten von Entgelt bedeutungslos.42 Notwendig ist für eine Inhaltskontrolle also (1) eine Regelung in AGB oder Individualvertrag, die die Gegenleistung von einer Überprüfung abhängig macht und (2) für diese Überprüfung eine Frist einräumt. Bei bis zu 15 Tagen ist eine solche Frist i.d.R. angemessen, mehr als 15 Tage sind hingegen regelmäßig unangemessen, wenn Verwender und Schuldner der Forderung kein Verbraucher ist.43

18

34 So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1a BGB Rz. 17. 35 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1a BGB Rz. 17. 36 Es handelt sich zwar um keine echte Beweislastregel wie in § 280 Abs. 1 Satz 2, aber in der Praxis wird das Regelbeispiel wohl zu einer nur schwer zu widerlegenden Vermutung avancieren. 37 So auch die Intention des Gesetzgebers, vgl. BT-Drucks. 18/1309, 21. 38 Allg. M., vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1a BGB Rz. 23 m.w.N. 39 Vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1a BGB Rz. 22. 40 Nach BT-Drucks. 18/1309, 21 soll nur die Privilegierung der VOB/B sichergestellt werden. 41 Vgl. zur (ausgeschlossenen) Übertragbarkeit von Grundsätzen der VOB/B auf BVB/EVB BGH v. 27.11.1990 – X ZR 26/90, CR 1991, 273. 42 Vgl. BT-Drucks. 18/1309, 17; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1b BGB Rz. 10. 43 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 1b BGB Rz. 13.

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BGB § 308 Rz. 19 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit 19

Größere Bedeutung – auch und gerade bei IT-Verträgen – hat die Abnahmefrist. Denn mit § 641 Abs. 1 Satz 1 ist hier die Fälligkeit der Vergütung schon gesetzlich an die Abnahme gebunden ist. Bei komplexeren IT-Verträge, bspw. Individualsoftware oder individuell angepassten ERP-Systemen, wird regelmäßig umfassend die Abnahme mit einer vorangehenden Testphase geregelt.44 Denn Fehler lassen sich hier i.d.R. erst nach einem eingehenden Test identifizieren. Daher dürften hier auch Abnahmefristen von mehr als 15 Tagen häufig gerechtfertigt sein.45 Eine Abnahmefrist von sechs Monaten wird jedoch auch bei komplexen IT-Systemen regelmäßig zu lang sein.46 Vgl. hierzu auch die Kommentierung zu § 640 Rz. 29 und zu § 641 Rz. 8. 4. Nachfrist (§ 308 Nr. 2) a) Allgemeines

20

Die Vorschrift gilt für Fälle, in denen das Gesetz das Setzen einer (angemessenen) Nachfrist verlangt. Dies betrifft im Wesentlichen die Fälle des Schadensersatzes und Rücktritts nach §§ 281 Abs. 1 und 323 Abs. 1, auf die bspw. §§ 437, 634 und 637 Bezug nehmen. Es soll damit verhindert werden, dass der Vertragspartner erst nach einer unangemessen langen Nachfrist Schadensersatz verlangen oder sich vom Vertrag lösen kann. Auch wenn die Vorschrift im kaufmännischen Verkehr keine direkte Anwendung findet (§ 310 Abs. 1 Satz 1), können die Wertungen i.d.R. vollständig auf die Prüfung nach § 307 übertragen werden.47

21

Wie auch bei § 308 Nr. 1 kommt es für die Frage, ob eine unangemessen lange oder nicht hinreichend bestimmte Nachfrist vorliegt, auf eine Interessenabwägung an (vgl. Rz. 8).48 Generell gilt hier der Grundsatz, dass eine angemessene Nachfrist eine kurze Frist sein muss, die wesentlich kürzer ist als die Leistungsfrist, weil hiermit nur Gelegenheit gegeben werden soll, eine Leistung abzuschließen und nicht erstmalig zu erbringen.49 I.d.R. noch angemessen ist eine Klausel, die eine Nachfrist von 14 Tagen vorsieht; jede darüber hinausgehende Frist bedarf einer besonderen Rechtfertigung.50 b) IT-Verträge

22

Bei IT-Verträgen ist zu unterscheiden zwischen der Art der geschuldeten Leistung. Hierbei kommt es für die Bestimmung einer noch angemessenen Nachfrist besonders darauf an, welche Bedeutung die Leistung für den Vertragspartner hat. Denn die zulässige Höchstfrist wird umso kürzer, je dringlicher die Leistung.51 So wird bei einem ERP-System, dessen ordnungsgemäßes Funktionieren für den gesamten Betrieb eines Unternehmens von maßgeblicher Bedeutung ist, eine sonst regelmäßig zulässige Frist von 14 Tagen unangemessen sein. Ähnliches kann sich für sensible ASP- oder Outsourcing-Projekte ergeben. Der Klauselverwender muss sich vor diesem Hintergrund stets fragen, welche Bedeutung die von ihm veräußerten IT-Leistungen haben. Die betreffende Klausel sollte zu Ihrer Wirksamkeit zudem immer Ausnahmen vorsehen, die auch die Entbehrlichkeitstatbestände des §§ 281 Abs. 2, 323 Abs. 2 abbilden.52

44 Zu allen denkbaren Regelungen einer Abnahmeklausel Bartsch, CR 2006, 7. 45 Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 49. Vgl. auch Ulmer/Brandner/Hensen/ Schmidt, § 308 Nr. 1b BGB Rz. 18, der 15 Tage für „knapp bemessen“ hält. 46 Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 49. 47 So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 2 BGB Rz. 10 m.w.N. 48 Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 19. 49 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 2 BGB Rz. 4; Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 19. 50 Vgl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 2 BGB Rz. 15. 51 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 2 BGB Rz. 15. 52 Vgl. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 2 BGB Rz. 15; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 2 BGB Rz. 8.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 25 § 308 BGB

5. Rücktrittsvorbehalt (§ 308 Nr. 3) Das Klauselverbot aus Nr. 3 gilt für alle auf Auflösung des Vertrages gerichteten Gestaltungsrechte, also für Kündigungs-, Widerrufs-, Anfechtungs-, und Rücktrittsrechte.53 Hierunter fallen aber auch sog. Selbstbelieferungs- oder Lieferfähigkeitsklauseln, die eine auflösende Bedingung für den Fall vorsehen, dass der Verwender von seinem Lieferanten im Stich gelassen wird.54 Insoweit ist die Überschrift „Rücktrittsvorbehalt“ irreführend. Da nach Halbs. 2 aber Dauerschuldverhältnisse von dem Klauselverbot ausgenommen sind, kommt dem Rücktrittsvorbehalt letztlich die größte Bedeutung zu.55 Bei AGB gegenüber Unternehmern ist das Klauselverbot nach Nr. 3 zwar gem. § 310 Abs. 1 nicht direkt anwendbar, aber die Wertungen sind bei der Prüfung nach § 307 zu berücksichtigen, d.h. es ist ein großzügigeres Lösungsrecht möglich, aber erforderlich ist auch hierfür stets ein sachlicher Grund.56

23

a) Allgemeines Unwirksam ist ein Lösungsrecht stets dann, wenn die Klausel gar keinen Grund (z.B. „Lieferung frei- 24 bleibend“) angibt, weshalb sich der Verwender vom Vertrag lossagen darf.57 Ebenso unwirksam ist die Knüpfung des Lösungsrechts an völlig unbestimmte Gründe, also z.B. einen „zwingenden Grund“58 oder einen „sachlich gerechtfertigten Grund“.59 Für die Bestimmung, ob ein sachlich gerechtfertigter Grund im Vertrag angegeben ist, ist der Grundsatz pacta sunt servanda zu berücksichtigen, d.h. die Wirksamkeit der Befreiungsklausel kann nur die Ausnahme bilden.60 Lösungsrechte aus Gründen in der Sphäre des Verwenders (z.B. Lieferschwierigkeiten, Verteuerung, Arbeitskampf) scheiden daher i.d.R. aus.61 Für Lösungsrechte aus Gründen in der Sphäre des Vertragspartners ist die Rspr. ebenfalls restriktiv;62 wirksam soll aber bspw. ein Lösungsrecht für den Fall sein, dass ein reparierter Gegenstand innerhalb einer angemessenen Frist nicht abgeholt wird.63 Die Regelung sollte sich in jedem Fall möglichst nah an den gesetzlichen Leitbildern der §§ 321, 323 orientieren.64 Zur Abgrenzung zu § 308 Nr. 4 dürfte entscheidend sein, ob eine vertragliche Pflicht durch eine andere ersetzt wird (= Änderung, Nr. 4) oder ob die vertragliche Pflicht ersatzlos wegfällt (= Lösung, Nr. 3). Ob es sich um eine komplette oder teilweise Lösung von der Hauptleistungspflicht handelt, ist unerheblich.65 Das Klauselverbot des § 308 Nr. 8 findet hingegen kumulativ zu § 308 Nr. 3 Anwendung.66 Nach Halbs. 2 gilt das Klauselverbot nicht für Dauerschuldverhältnisse; diese Ausnahme gilt aber nach allg. Meinung nicht, wenn das Lösungsrecht sich auf eine Zeit vor Beginn der Vertragsabwicklung bezieht.67

53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 3. MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 5. Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 23. So ausdr. BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, NJW 2009, 575, 576 = CR 2009, 79 = ITRB 2009, 126. BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 3 Rz. 6. OLG Köln v. 28.2.1997 – 19 U 194/95, CR 1998, 82. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 10. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 11. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 12. Vgl. nur BGH v. 17.1.1990 – VIII ZR 292/88, NJW 1990, 2065 = CR 1990, 718 (Rücktritt bei Verzug); OLG Frankfurt v. 8.9.2011 – 16 U 43/11, NJW-RR 2012, 51 (Lösungsrecht bei fehlender Kreditkarte am Flughafenschalter). Vgl. BGH v. 19.11.1991 – X ZR 28/90, NJW 1992, 1628, 1629. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 15. Str., zum Meinungsstand vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 3a m.w.N. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 16a. Vgl. nur BGH v. 10.12.1986 – VIII ZR 349/85, NJW 1987, 831; BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, CR 2009, 79 = ITRB 2009, 126; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 10.

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BGB § 308 Rz. 26 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit b) IT-Verträge 26

Das OLG Köln68 hielt bei einem Vertrag über die Beschaffung von Software im kaufmännischen Verkehr eine Klausel für unwirksam, nach der der Auftragnehmer nur zur Geltendmachung seiner bis zum Rücktritt tatsächlich aufgewendeten Kosten berechtigt ist „falls eine Gesellschaft der C. Computer AG aus zwingenden Gründen vom Auftrag zurücktritt“. Denn zum einen werde hieraus nicht deutlich, wann sich der Verwender vom Vertrag lösen dürfe und zum anderen zwingende Gründe auch vorliegen können, in denen ein Verschulden des Verwenders vorliegt.69

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Der BGH70 hatte über eine Klausel in einem EDV-Leasingvertrag über die Überlassung, Anpassung und Implementierung einer ERP-Systemlösung im unternehmerischen Verkehr zu entscheiden, nach der der Leasinggeber zum Rücktritt berechtigt sein sollte, wenn „der Gegenstand (Systemlösung oder im Vertrag vereinbarte selbständig nutzungsfähige Systemmodule) bis zum vereinbarten spätesten Fertigstellungszeitpunkt nicht ordnungsgemäß erstellt und von dem Kunden abgenommen oder zuvor – gleich aus welchen Gründen“ scheitert. Da es auch im unternehmerischen Verkehr eines sachlich gerechtfertigten Grundes bedarf, kam der BGH hier zu Recht zur Unwirksamkeit, weil ein Vertretenmüssen des Lieferanten nicht in der Sphäre des Kunden liegt, sondern der Lieferant häufig sogar Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers ist. Der BGH hat zudem klargestellt, dass für das EDV-Leasing auch nicht die Ausnahme für Dauerschuldverhältnisse greift, soweit das Lösungsrecht die Zeit vor Beginn der Vertragsabwicklung betrifft.71 6. Änderungsvorbehalt (§ 308 Nr. 4)

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Ebenso wie § 308 Nr. 3 dient auch § 308 Nr. 4 dem Schutz des Grundsatzes pacta sunt servanda.72 Die Norm schließt einen Änderungsvorbehalt nicht per se aus, sondern will die andere Vertragspartei nur vor unzumutbaren Änderungen des Vertragsinhalts schützen.73 Im Gegensatz zu § 308 Nr. 3 gilt § 308 Nr. 4 für Dauerschuldverhältnisse in gleicher Weise wie für alle anderen Schuldverhältnisse.74 Der Grundgedanke von § 308 Nr. 4 kommt auch bei Verträgen mit Unternehmern vollständig zum Tragen, so dass zumindest ein nicht die Interessen der Vertragsparteien berücksichtigender, voraussetzungsloser Änderungsvorbehalt hier stets unwirksam ist.75 a) Allgemeines

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Eine Inhaltskontrolle nach § 308 Nr. 4 setzt voraus, dass die Klausel es dem Verwender gestattet, eine versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen. Bei der versprochenen Leistung kann es sich sowohl um Haupt- als auch Nebenpflichten, aber auch um Erfüllungsmodalitäten wie die Leistungszeit oder den Leistungsort handeln.76 Unerheblich ist auch, woraus sich die versprochene Leistung ergibt, d.h. die versprochene Leistung/Pflicht kann sich ausdrücklich aus dem Vertrag, im Wege der (ergänzenden) Vertragsauslegung ergeben oder aus einer gesetzlichen Pflicht folgen.77 Nach h.M. soll § 308 Nr. 4 nur dann anwendbar sein, wenn es sich um eine vom Verwender versprochene Leis-

68 69 70 71 72 73 74

OLG Köln v. 28.2.1997 – 19 U 194/95, CR 1998, 82. OLG Köln v. 28.2.1997 – 19 U 194/95, CR 1998, 82. BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, CR 2009, 79, 81 = ITRB 2009, 126. BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, CR 2009, 79, 81 = ITRB 2009, 126. BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 4 Rz. 2 m.w.N. BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 4 Rz. 2 m.w.N. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 4: „Zu einer teleologischen Reduktion … besteht … kein Anlass.“ 75 Vgl. OLG München v. 6.2.2008 – 7 U 3993/07, NJW-RR 2009, 458, 460; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 12. Vgl. zur Indizwirkung der §§ 308, 309 auch BGH v. 10.9.2014 – XII ZR 56/11, NJW 2014, 3722, 3726. 76 Allg. M., vgl. BGH v. 30.6.2009 – XI ZR 364/08, NJW-RR 2009, 1641, 1642 f.; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 7; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 4. 77 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 10.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 33 § 308 BGB

tung handelt, die abgeändert werden soll. Die Kontrolle nach Nr. 4 soll danach ausscheiden, wenn es sich um eine Leistungspflicht des Vertragspartners handelt, die abgeändert werden soll.78 Ob ein Änderungsvorbehalt für den Vertragspartner zumutbar ist, ist eine Frage der Interessenabwägung im Einzelfall, bei der nicht die tatsächlich vorgenommene Änderung zu beurteilen ist, sondern welche Änderungen die Klausel ihrem Inhalt nach erlaubt.79 Die Unzumutbarkeit des Änderungsvorbehaltes kann sich danach im Wesentlichen aus drei Gestaltungen ergeben: Es wird eine Änderung einer versprochenen Leistung dahingehend vorgesehen, dass dadurch das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung (Äquivalenzprinzip) zu Lasten des Verwendungsgegners verschoben wird.80 Ein unzumutbarer Änderungsvorbehalt kann sich aber auch daraus ergeben, dass das Äquivalenzprinzip zwar gewahrt oder sogar zu Gunsten des Verwendungsgegners verschoben wird (z.B. Lieferung einer höherwertigen Sache), der Kunde aber ein gesteigertes Interesse an der ursprünglich versprochenen Leistung hat.81 Zuletzt kann sich eine Unwirksamkeit auch daraus ergeben, dass die Klausel abstrakt gehalten ist und nicht hinreichend konkret erkennen lässt, wie die Zumutbarkeit der Änderung geprüft werden kann.82

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Da ein zu weitgehender Änderungsvorbehalt nicht auf das noch zumutbare Maß zurückgeführt werden kann (Verbot der geltungserhaltenden Reduktion), schuldet der Verwender bei Unwirksamkeit seines Änderungsvorbehaltes die versprochene Leistung ohne die Möglichkeit einer Änderung oder Abweichung.83

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b) IT-Verträge Änderungsvorbehalte sind für IT-Verträge gegenüber Unternehmern häufig noch bedeutsamer als bei 32 Verträgen mit Verbrauchern. Während in den meisten Fällen der Unternehmer weniger schutzbedürftig ist, hat er im Gegensatz dazu bei IT-Verträgen sogar ein gesteigertes Interesse daran, keine andere als die versprochene Leistung zu bekommen, weil er – anders als i.d.R. der Verbraucher – seine EDV aufeinander abstimmen und die notwendigen Schnittstellen gewährleisten muss. Die nachfolgenden Überlegungen lassen sich daher auf AGB gegenüber Unternehmern vollständig übertragen.84 aa) Hardware-/Software-Miete/ASP, SaaS Bei der klassischen Hardware- und Software-Miete sind hier Klauseln relevant, die dem Vermieter im 33 Hinblick auf seine Erhaltungspflicht aus § 535 Abs. 1 Satz 2 das Austauschrecht geben, bspw. Hardwarekomponenten wie Datenträger oder Arbeitsspeicher zu wechseln oder bei Software Patches, Up78 H.M., vgl. BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, NJW 2006, 3303, 3305; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 6a; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 4 m.w.N., die u.a. darauf abstellen, dass BT-Drucks. 7/3919, 25 keine derartigen Bsp. nennt, was jedoch kein durchgreifendes Argument sein dürfte (sollen nur genannte Bsp. der Norm unterfallen?), zumal der Wortlaut der Norm offen formuliert ist. Die h.M. kommt aber über § 307 zu ähnlichen Ergebnissen. 79 BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 847/07, NZA 2011, 634, 636; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 22. 80 Bsp.: BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, NJW-RR 2008, 134, 136 = CR 2008, 104 = ITRB 2008, 57 (Leistungsänderungsvorbehalt bei Internetzzugang); BGH v. 20.12.2007 – III ZR 144/07, NJW 2008, 987, 988 (Chefarztvertrag muss Vertreter nennen, der gebührenrechtlich angenähert ist); BGH v. 10.12.2013 – X ZR 24/13, NJW 2014, 1168, 1170 (Flugzeiten). 81 Bsp.: BGH v. 21.9.2005 – VIII ZR 284/04, NJW 2005, 3567, 3569 = CR 2006, 74 („Qualitativ und preislich gleichwertiger Ersatzartikel); OLG Koblenz v. 13.3.1981 – 2 U 244/80, ZIP 1981, 509, 510 („Nachfolgemodell“); BGH v. 23.6.2005 – VII ZR 200/04, NJW 2005, 3420 (Vorbehalt „gleichwertiger Bauausführung, der Material- bzw. Baustoffauswahl“). 82 Vgl. BGH v. 15.11.2007 – III ZR 247/06, NJW 2008, 360, 362 f. = CR 2008, 178 (Entgelterhöhungen bei PayTV); BGH v. 13.4.2010 – XI ZR 197/09, NJW 2010, 1742 („jeweils gültiger Zinssatz“). M.E. handelt es sich aber um eine Frage der Transparenz (§ 307 Abs. 1 Satz 2). So auch BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104 f. = ITRB 2008, 57 (Internetzugang), wonach Intransparenz auch für den Fall anzunehmen ist, dass die Klausel nur „zumutbare Änderungen“ vorbehält. 83 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 11. 84 Vgl. Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 174.

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BGB § 308 Rz. 33 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit dates oder Funktionsänderungen zu installieren. Eine Klausel mit Änderungsvorbehalt ist auch und insb. bei ASP- und SaaS-Verträgen relevant, da hier häufig eine Software von vielen Kunden verwendet wird (sog. One-to-many-Modell). Der Anbieter will hier die Möglichkeit haben, den Kunden die jeweils neueste Software-Version verpflichtend anzubieten, um nicht mehrere, teilweise veraltete Versionen parallel betreiben zu müssen. Da § 308 Nr. 4 im Gegensatz zu § 308 Nr. 3 auch auf Dauerschuldverhältnisse Anwendung findet, müssen solche Änderungsvorbehalte für den Kunden zumutbar sein.85 34

Wann ein solches Änderungsrecht für den anderen Vertragsteil bei einem IT-Vertrag zumutbar ist, richtet sich im Kern danach, welche Folgen dies für Funktionsumfang, Performance und Kompatibilität des gemieteten IT-Systems bzw. der Software oder Hardware hat.86 Entscheidend ist aber auch, inwieweit der Vertragspartner abstrakt, also nicht im konkreten Fall, ein Interesse am Erhalt einer schlechter ausgestatteten Hard- oder Software haben könnte. In Betracht kommt hier bspw. die Inkompatibilität neuer Hard- oder Software mit anderen EDV-Systemen des Kunden, da allein die Bereitstellung einer höherwertigen oder besseren EDV nicht per se zur Zumutbarkeit führt (vgl. Rz. 30). Auf Seiten des Verwenders wird aber auch zu berücksichtigen sein, dass der Parallelbetrieb bei einem One-to-many-Modell zu einem Verlust der Wirtschaftlichkeit führen kann. Im Hinblick auf die Vielzahl möglicher Fallgestaltungen und dem schnellen technischen Wandeln erscheint für die Vertragspraxis eine detaillierte Beschreibung und Ausgestaltung einer solchen Klausel schwierig. Es kann schlichtweg nicht für jeden Hardware-Baustein und jede Software-Funktion eine eigene Regelung getroffen werden.

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Vorgeschlagen wird hier deshalb eine Art „Generalklausel“, die das Austauschrecht entsprechend dem Wortlaut von Nr. 4 allgemein an die Zumutbarkeit für den Kunden knüpft.87 Im Hinblick auf die von der h.M.88 verlangte Konkretisierungspflicht – nach der schon eine Wiedergabe des Gesetzeswortlautes zur Unwirksamkeit führen soll – dürfte ein solcher Änderungsvorbehalt in IT-Verträgen aber unwirksam sein. Unwirksam ist ferner eine Klausel, die den Kunden verpflichtet, jedes Update ohne Ankündigung akzeptieren zu müssen oder eine Updateverpflichtung mit einer zusätzlichen Vergütungspflicht zu koppeln.89 Teilweise wird deshalb vertreten, ein pauschaler Änderungsvorbehalt könne dadurch wirksam eingebaut werden, dass die Klausel eine generelles Update/Upgrade-Einverständnis vorsieht, aber dem Kunden ein § 308 Nr. 5 entsprechendes Widerspruchs- bzw. Kündigungsrecht einräumt.90 Aber auch einer solchen Konstruktion hat der BGH – mit Blick auf § 307 Abs. 1 – trotz des „großen, unvorhersehbaren technischen Wandels“ eine Absage erteilt.91 Wirksam dürfte daher – zumindest gegenüber Verbrauchern – nur ein Änderungsvorbehalt in AGB sein, der Gegenstand, Voraussetzungen und Umfang der Änderungsbefugnis konkret spezifiziert.92 bb) Hardware-/Software-Kauf

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Die gleiche Problematik stellt sich beim Hardware-Kauf. Bedingt durch den schnellen technischen Wandel kann hier in der Zeit zwischen Vertragsabschluss und vereinbarten Liefertermin bereits ein Nachfolgemodell (z.B. ein neuer CPU) erschienen oder ein höherwertiges Modell durch den schnellen Preisverfall im Einkauf günstiger sein als das ursprünglich Vereinbarte. Im Hinblick auf die

85 Vgl. Rz. 25. So auch zu Hard- und Softwaremiete Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 173. 86 Vgl. Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 172 f. 87 Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 169 u. 173; Schoengarth, Application Service Providing, S. 189 f. 88 Vgl. BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104, 105 = ITRB 2008, 57; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 24; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 9a jeweils m.w.N. 89 Schoengarth, Application Service Providing, S. 177. 90 Vgl. Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 92, 109; Schoengarth, Application Service Providing, S. 190. 91 BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104, 106 = ITRB 2008, 57 für Internet-Verträge mit Hardwarekauf. Ähnl. LG München I v. 17.1.2019 – 12 O 1982/18, ITRB 2019, 111, 112 für Pay-TV-Pakete. 92 Rössel, ITRB 2008, 57, 58.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 39 § 308 BGB

Rspr.93 zu Ersatzlieferungs- und Nachfolgemodell-Klauseln dürften pauschale Änderungsvorbehalte für gleichwertige Hardware-Bauteile und Hardware-Nachfolgemodelle aber generell unwirksam sein.94 Ebenfalls nach Nr. 4 unwirksam ist eine Klausel in einem EDV-Vertrag, die den Verwender ohne Voraussetzungen und Gründe zu „Teillieferungen berechtigt“.95 Denn ohne eine ausdrückliche Individualvereinbarung ist die „versprochene Leistung“ auch bei größeren IT-Projekten eine Gesamtlieferung, vgl. § 266.96 Ein Recht zur Teillieferung ist dem Kunden auch über § 242 i.d.R. nicht zumutbar.97 Selbstredend unwirksam ist eine Klausel in AGB von Apple, nach der die versprochenen Leistungen für eine Hardware-Garantie jederzeit ohne Grund geändert werden können, ohne Rücksicht darauf, ob dies dem Kunden zumutbar ist.98 cc) Open Source Software Bei Open Source Software erlangt § 308 Nr. 4 Bedeutung bei der sog. „any later version“-Klausel in 37 der GPL-Lizenz, nach der die Software automatisch auch unter den Bedingungen einer neuen GPLVersion stehen soll, sobald die Free Software Foundation eine solche herausgegeben hat. Die Klausel stellt damit nicht auf die Zumutbarkeit der Änderung für den Vertragspartner ab. Entscheidend ist in der Klausel aber der Zusatz „or (at your opinion)“: Der Lizenznehmer erhält dadurch die (Wahl-)Möglichkeit, es auch bei den bisherigen Lizenzbedingungen zu belassen. Daher stellt diese Klausel keinen Verstoß gegen § 308 Nr. 4 dar.99 7. Fingierte Erklärungen (§ 308 Nr. 5) Obwohl eine Erklärungsfiktion für den Verwendungsgegner mit besonders gravierenden Nachteilen verbunden sein kann, hat der Gesetzgeber mit § 308 Nr. 5 diese Möglichkeit in AGB nicht per se verboten, sondern mit Rücksicht auf die Verkehrssitte und die Interessen im Massengeschäft (z.B. bei Banken und Versicherungen) unter Einhaltung einer Erklärungsfrist und Hinweispflicht für grds. zulässig erklärt.100 Auf den geschäftlichen Verkehr ist die § 308 Nr. 5 nicht direkt anwendbar (vgl. § 310 Abs. 1 Satz 1). Da hier die Herbeiführung klarer Verhältnisse von größerem Interesse ist und auch außerhalb des AGB-Bereichs entsprechende Fiktionen weitergehender sind (vgl. nur Grundsätze des kaufmännischen Bestätigungsschreibens, § 377 HGB) ist im Rahmen der Prüfung nach § 307 hier keine Indizwirkung anzunehmen, sondern wesentlich großzügiger zu verfahren und eine Einhaltung der Anforderungen von Nr. 5 nicht generell zu verlangen.101

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a) Allgemeines Voraussetzung ist zunächst, dass nach der Klausel eine Erklärung des Vertragspartners als abgegeben 39 oder nicht abgegeben gilt. Daran fehlt es, wenn die Klausel nur gesetzliche Erklärungsfiktionen (z.B. §§ 177 Abs. 2, 632, 640 Abs. 2 BGB, §§ 362 Abs. 1, 377 Abs. 2 HGB) wiederholt102 oder eine Vermutung für den Zugang oder den Inhalt einer tatsächlich oder fingiert abgegebenen Willenserklärung

93 Vgl. BGH v. 21.9.2005 – VIII ZR 284/04, NJW 2005, 3567, 3569 = CR 2006, 74 („Qualitativ und preislich gleichwertiger Ersatzartikel); OLG Koblenz v. 13.3.1981 – 2 U 244/80, ZIP 1981, 509, 510 („Nachfolgemodell“); BGH v. 23.6.2005 – VII ZR 200/04, NJW 2005, 3420 (Vorbehalt „gleichwertiger Bauausführung, der Material- bzw. Baustoffauswahl“). 94 Ähnl. Rössel, ITRB 2008, 57, 58. 95 OLG Stuttgart v. 6.5.1994 – 2 U 275/93, CR 1995, 269, 271; Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDVRecht, O. Rz. 152. 96 Ausf. zu Teilleistungen bei IT-Projekten Stögmüller, CR 2015, 424. 97 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, O. Rz. 150; Stögmüller, CR 2015, 424, 427. 98 LG Berlin v. 28.11.2014 – 15 0 601/12, CR 2015, 74, 77 m. Anm. Redeker. 99 Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 190; Funk/Zeifang, CR 2007, 617, 617 f.; Koglin, CR 2008, 137, 142. 100 Vgl. BT-Drucks. 7/5422, 7. 101 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 70; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 15. A.A. BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 5 Rz. 27. 102 Die Inhaltskontrolle ist aber eröffnet, sobald die Klausel die gesetzliche Erklärungsfiktion verschärft.

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BGB § 308 Rz. 39 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit aufstellt.103 Die inhaltliche Angemessenheit der fingierten Erklärung unterliegt insoweit der Kontrolle nach § 307.104 Ebenso findet die Vorschrift grds. keine Anwendung, wenn es sich um eine fingierte Erklärung eines Dritten oder des Verwenders handelt.105 40

Für die Wirksamkeit einer Klausel mit Erklärungsfiktion ist zum einen erforderlich, dass eine angemessene Frist für die Abgabe einer ausdrücklichen Erklärung, also dem wirklichen Willen, gesetzt wird. Die Angemessenheit der Frist hängt von der Art des Geschäfts und der Erklärung ab: Im Regelfall wird eine Frist von zwei Wochen ausreichen, wenn keine eingehende Prüfung der Sache notwendig ist.106 Jedenfalls eine Klausel, die eine sofortige oder unverzügliche Erklärung fordert, dürfte jedoch stets unwirksam sein.107

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Die Klausel muss zu ihrer Wirksamkeit dem Verwender ferner eine Hinweispflicht aufbürden. Der Verwender muss den Vertragspartner nach der Klausel also bei Beginn der Frist auf die Bedeutung seines Verhaltens hinweisen. Hierbei ist jeweils zu trennen zwischen dem Inhalt der Klausel und der Einhaltung der Klausel: Wird in der Klausel keine Hinweispflicht übernommen, ist die Klausel unwirksam, auch wenn später tatsächlich ein Hinweis übernommen wird.108 Enthält die Klausel eine Hinweispflicht, wird aber tatsächlich kein Hinweis erteilt, bleibt die Klausel wirksam, aber die Fiktionswirkung der Klausel tritt – obwohl nicht ausdrücklich im Gesetz angelegt – nach allgemeiner Meinung nicht ein.109 b) IT-Verträge

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Bei IT-Verträgen kommt der Norm besonders im Zusammenhang mit Änderungsvorbehalten bei ASP- und SaaS-Verträgen im One-to-many-Modell Bedeutung zu. Hier hat der Verwender ein Interesse daran, mögliche Neuerungen, Updates und damit einhergehende Funktionsänderungen gegenüber allen Kunden durchzusetzen. Da an eine wirksame Änderungsvorbehaltsklausel hohe Anforderungen hinsichtlich der Konkretisierung gestellt werden (vgl. Rz. 35), der Verwender aber andererseits möglichst große Flexibilität benötigt, wird häufig empfohlen, stattdessen für sämtliche Veränderungen der versprochen Leistungen eine Klausel aufzunehmen, die zur Leistungsänderung nach einer angemessenen Erklärungsfrist und einen dementsprechenden Hinweis berechtigt.110 Soweit eine solche Klausel den Anforderungen von § 308 Nr. 5 entspricht, unterliegt sie aber dennoch einer Inhaltskontrolle nach § 307 und ist nach Auffassung des BGH zumindest gegenüber Verbrauchern unwirksam.111 Dies gilt vor allem deshalb, weil ansonsten auch die Vergütung für einzelne Leistungsbestandteile und sogar für Nebenpflichten angehoben werden könnte.112 Insb. bei ASP- und SaaSVerträgen mit kurzen Laufzeiten dürfte es jedoch geboten sein, eine entsprechende Klausel zumindest mit Blick auf einzelne Leistungsbestandteile zuzulassen, weil der Provider ansonsten häufig den Weg der Änderungskündigung wird gehen müssen, was i.d.R. den Interessen beider Parteien widersprechen dürfte. Dies muss erst recht im unternehmerischen Verkehr gelten, zumal hier die Voraussetzungen von Nr. 5 keine Anwendung finden (vgl. Rz. 38). Bindet sich der Verwender aber selbst mit

103 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 14, 31; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 5. 104 Vgl. BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104, 106 = ITRB 2008, 57; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 38. § 308 Nr. 5 stellt insoweit nur die Mindestvoraussetzungen für die Wirksamkeit einer solchen Klausel auf. 105 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 23 ff. 106 So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 11 m.w.N., die von 1 – 6 Wochen reichen. 107 Str., wie hier Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 41. A.A. OLG Koblenz v. 21.6.2002 – 10 U 1116/01, NJOZ 2003, 364, 368 sowie Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 11 m.w.N. 108 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 44 f. 109 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 44 f.; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 12 m.w.N. 110 Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 92, 109; Schoengarth, Application Service Providing, S. 190. 111 BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104, 106 = ITRB 2008, 57. Vgl. auch Rz. 35. 112 LG Berlin v. 28.1.2014 – 15 O 300/12, K&R 2014, 284 zu Online-Services.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 46 § 308 BGB

langen Laufzeiten, besteht kein schutzwürdiges Interesse für einen derart weitgehenden, faktischen Änderungsvorbehalt. Bei als Werkvertrag einzuordnen IT-Verträgen, also z.B. Softwareerstellungsverträgen oder War- 43 tungs- und Pflegeverträgen mit Erfolgsausrichtung, kommt § 308 Nr. 5 bei einer Klausel mit Abnahmefiktion zur Anwendung. Zwar kennt hier schon § 640 Abs. 2 die gesetzliche Möglichkeit einer Abnahmefiktion. Unwirksam ist hier aber eine darüber hinausgehende Klausel, die eine Abnahmefiktion für den Fall der auch nur kurzzeitigen Ingebrauchnahme nach Leistungserbringung vorsieht.113 Deshalb ist eine Klausel unwirksam, nach der „die Software […] bei Einsatz durch den Kunden als abgenommen“ gilt.114 Aus der Klausel muss sich zumindest (ausdrücklich) erkennen lassen, dass mit dem „Einsatz durch den Kunden“ das Verstreichen einer der Komplexität der Software angemessenen Erprobungsphase gemeint ist.115 Bei einem kompletten IT-System soll hierfür eine Frist von 4 Wochen ab erfolgreichem Abschluss des Probebetriebs ausreichen.116 Zumindest bei Software wird im Regelfall eine Frist von 4 Wochen ausreichen.117 Bei komplexer Hard- oder Software wird jedenfalls eine Frist von nur 14 Tagen oder weniger regelmäßig zu kurz sein.118 Zur möglichen Bedeutung von § 308 Nr. 5 im Zusammenhang mit automatisierten Vertragsschlüssen (M2M) im Bereich Industrie 4.0 vgl. § 307 Rz. 14.

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8. Fiktion des Zugangs (§ 308 Nr. 6) Nach der Vorschrift ist eine Klausel unwirksam, die eine Zugangsfiktion für Erklärungen des Verwen- 45 ders von besonderer Bedeutung für den anderen Vertragsteil annimmt. Klauseln über Zugangsfiktionen für Erklärungen ohne besondere Bedeutung und zum Zugangsverzicht richten sich nach § 307.119 Erklärungen des Verwenders sind immer dann von besonderer Bedeutung für den anderen Vertragsteil, wenn sie mit nachteiligen Rechtsfolgen verbunden sind.120 Durch dieses weite Verständnis der „besonderen Bedeutung“ fallen damit nur vorteilhafte oder neutrale Erklärungen nicht unter das Klauselverbot. Auch im unternehmerischen Verkehr sind über § 307 Zugangsfiktionen für Erklärungen von besonderer Bedeutung unzulässig.121 Das Tatbestandsmerkmal der „besonderen Bedeutung“ kann hier aber enger ausgelegt werden, so dass auch Erklärungen mit nachteiligen Rechtsfolgen zulässig sein können.122 In AGBs von IT-Verträgen sind damit bspw. Klauseln in AGB des Kunden unwirksam, die eine Zu- 46 gangsfiktion für die Fristsetzung123 zur Nacherfüllung bei einem Software- und Hardwarekauf, die Abmahnung124 bei einem als Dienstvertrag einzuordnenden Wartungs- oder Pflegevertrag oder die Kündigung125 nach § 648 bei einem Softwareerstellungsvertrag vorsehen. In AGB eines ASP- oder SaaS-Anbieters sind Klauseln unwirksam, die eine Zugangsfiktion für eine Rechnung annehmen, sobald diese im Online-Portal des Anbieters hinterlegt wird.126 Bei IT-Verträgen gegenüber Unternehmern dürfte die letztgenannte Regelung – egal ob Papier- oder Online-Rechnung – jedoch wirksam 113 BGH v. 10.11.1983 – VII ZR 373/82, NJW 1984, 725, 726; LG Hildesheim v. 11.6.2014 – 5 O 13/14, BauR 2015, 1190; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 5 BGB Rz. 53. 114 OLG Hamm v. 12.12.1988 – 31 U 104/87, CR 1989, 385, 386. 115 OLG Hamm v. 12.12.1988 – 31 U 104/87, CR 1989, 385, 386. 116 Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 45. 117 Feuerborn/Hoeren, CR 1991, 513, 518 f. Vgl. auch den Vertragsentwurf von Witzel, ITRB 2008, 160, 164: 6 Wochen. 118 Ähnl. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, O. Rz. 165. 119 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 6 BGB Rz. 1; Erman/Roloff, § 308 BGB Rz. 55. 120 H.M., vgl. OLG Düsseldorf v. 29.1.2015 – I-6 U 166/13, MMR 2015, 472, 473 zur Klausel zum Zugang einer Online-Rechnung im Mobilfunkbereich, sowie Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 6 BGB Rz. 7 m.w.N. A.A. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 6 BGB Rz. 4: „nicht jeder noch so geringfügige Nachteil“. 121 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 6 BGB Rz. 1. 122 Ähnl. Erman/Roloff, § 308 BGB Rz. 57; Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 53. 123 Vgl. Erman/Roloff, § 308 BGB Rz. 53. 124 Vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 6 BGB Rz. 7. 125 Vgl. BGH v. 22.6.1989 – III ZR 72/88, NJW 1989, 2383; MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 6 BGB Rz. 6. 126 Vgl. OLG Düsseldorf v. 29.1.2015 – I-6 U 166/13, MMR 2015, 472, 473.

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BGB § 308 Rz. 46 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit sein, soweit es sich um eine widerlegliche Vermutung handelt. Gleiches dürfte für die Zugangsfiktion von Mitteilungen gegenüber Unternehmern gelten, mit denen der Anbieter die Beseitigung einer Störung anzeigt, die für die Berechnung der Einhaltung von Service Levels relevant ist. 9. Abwicklung von Verträgen (§ 308 Nr. 7) 47

§ 308 Nr. 7 gilt für alle Zahlungsansprüche des Verwenders in den Fällen eines Rücktritts oder der Kündigung des Vertrages, egal ob diese Zahlungsansprüche sich dem Grunde nach aus dem Gesetz oder dem Vertrag ergeben.127 Die Vorschrift will aber vor allem die grobe Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften, also bspw. zum Rücktritt aus §§ 346 ff. und zur Kündigung nach §§ 628, 648, 648a sichern.128 Demgegenüber gelten die § 309 Nr. 5, 6 abschließend für Vertragsstrafen und pauschalierten Schadensersatz.129 Auch im unternehmerischen Verkehr sind unangemessene Vergütungs- oder Aufwendungsersatzklauseln über § 307 unwirksam.130 Wegen der häufig vorkommenden Branchenüblichkeit und Handelsbräuchen ist hier jedoch für die Unangemessenheit großzügiger zu verfahren, weshalb der Norm keine Indizwirkung zukommt.131 Zudem darf im Geschäftsverkehr mit Unternehmern auch die Möglichkeit des Gegenbeweises (vgl. zum Gegenbeweis allgemein Rz. 49) ausgeschlossen sein.132 a) Allgemeines

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Der Anwendungsbereich der Norm umfasst alle Entgeltansprüche, die im Zusammenhang mit einem Rücktritt oder Kündigung erhoben werden unabhängig davon, ob das Kündigungs- bzw. Rücktrittsrecht als solches bezeichnet oder von einer Stornierung, Annullierung oder einem Widerruf gesprochen wird.133 Anerkannt ist auch, dass die Vorschrift nicht auf Entgeltansprüche bei fortlaufenden Verträgen oder die einvernehmliche Vertragsaufhebung anwendbar ist.134 Daneben ist die Norm über ihren Wortlaut hinaus aber nach h.M. auch auf andere gesetzliche (z.B. §§ 119, 123 BGB, §§ 41, 42 UrhG) oder vertragliche Beendigungsgründe anwendbar, mit Ausnahme der Widerrufsfolgen aus §§ 355 ff., vgl. § 361.135

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Für die Angemessenheit der durch die Klausel vorgesehenen Vergütung bzw. des Aufwendungsersatzes gilt im Grundsatz, dass eine vorgesehene Vergütungspauschale (1) der durch das Gesetz zu beanspruchenden Vergütung angenähert sein muss und (2) dem Vertragspartner durch die Klausel die Möglichkeit des Gegenbeweises i.S.d. § 309 Nr. 5 Buchst. b eröffnet wird.136 Für eine Klauselkontrolle muss daher die aus dem Gesetz folgende Vergütung bei einer typischen Sachlage137 vorzeitiger Vertragsbeendigung ermittelt und als Richtschnur138 genommen werden. Für die Berechnung nach § 648 ist zu beachten, dass § 648 Satz 3 keine Leitbildfunktion zukommt.139 Existiert keine gesetzliche Regelung, sondern folgt der Anspruchsgrund ebenfalls aus der Klausel, muss geprüft werden, inwiefern überhaupt ein Interesse des Verwenders an dem Entgelt zum Tragen kommt; fehlt es hieran – wie z.B. 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139

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Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 54. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 3. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 4 f. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 80. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 80; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 24. Vgl. BGH v. 27.10.1998 – X ZR 116/97, NJW 1999, 418, 420. A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 24. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 6. BGH v. 14.4.1992 – XI ZR 196/91, NJW 1992, 1751, 1752; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 7. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 12 ff.; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 10. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 16. BGH v. 5.5.2011 – VII ZR 181/10, NJW 2011, 1954, 1956; BGH v. 10.3.1983 – VII ZR 301/82, NJW 1983, 1491, 1492. BGH v. 3.2.2005 – III ZR 268/04, NJW-RR 2005, 642, 643. BGH v. 5.5.2011 – VII ZR 181/10, NJW 2011, 1954, 1956; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 18a.

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Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit

Rz. 53 § 308 BGB

bei Deaktivierungsgebühren bei Mobilfunkverträgen – ist die Klausel schon unabhängig von der vom Verwender vorgesehenen Anspruchshöhe unwirksam.140 Soweit die Klausel dem typischerweise bestehenden gesetzlichen Anspruch nahe kommt, muss die Klausel nach der h.M. zudem in entsprechender Anwendung von § 309 Nr. 5 Buchst. b die Möglichkeit des Gegenbeweises eröffnen.141 b) IT-Verträge Auch bei IT-Verträgen muss die Angemessenheit des Entgelts nicht anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls, sondern entsprechend der Rspr. nach der typischen Sachlage bei vorzeitiger Beendigung derartiger Verträge beurteilt werden. Problematisch ist hier, dass der Verwender einer solchen Klausel im IT-Bereich diese gerade im Hinblick darauf aufnehmen wird, dass eine Berechnung nach den gesetzlichen Maßstäben extreme Schwierigkeiten bereitet. Dem Verwender ist daher wenig geholfen, wenn er die Wirksamkeit seiner Klausel z.B. daran messen soll, was er typischerweise bei einem Rücktritt von einem Kaufvertrag über Software nach §§ 346 ff. oder der Kündigung eines Softwareerstellungsvertrages nach § 648 verlangen kann.142

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Bei der Berechnung der gesetzlichen Nutzungsentschädigung bei der Rückabwicklung eines Soft- 51 ware-Kaufvertrages (§ 346) ist bspw. unklar, ob sich diese nach der Abschreibungsdauer oder der üblichen Nutzungsdauer berechnet. Für den Hardware- und Software-Bereich wird hier teilweise auf die übliche Nutzungsdauer abgestellt.143 Da aber auch die „übliche Nutzungsdauer“ viele Unwägbarkeiten mit sich bringt, dürfte hier zumindest eine Klausel wirksam sein, nach der die Nutzungsentschädigung nach der Abschreibungsdauer berechnet wird.144 In einem IT-Schulungsvertrag soll eine Regelung wirksam sein, nach der eine Stornierung wenige 52 Tage vor Kursbeginn zur Geltendmachung der vollen Kursgebühr berechtigen soll, wenn dem Auftraggeber der Nachweis eines geringeren Aufwendungsersatzes gestattet bleibt.145 Da nach Auffassung des BGH146 eine wirksame Klausel aber stets voraussetzt, dass auch den ersparten Auslagen durch die Klausel Rechnung getragen wird und beim IT-Schulungsvertrag damit zumindest Fahrtkosten und Kursmaterial nicht anfallen, dürfte zumindest ein prozentualer Abschlag – z.B. um 10 % auf 90 % – zur Wirksamkeit vorgenommen werden müssen. Der Regelung des § 648 Satz 2, 3 kommt besondere Bedeutung bei allen werkvertraglichen IT-Verträgen zu. Möglich soll es bei einem Softwareerstellungsvertrag sein, § 648 Satz 3 dahingehend zu ändern, dass vermutet wird, dass dem Unternehmer statt der gesetzlich vorgesehenen 5 % nunmehr 50 % der Vergütung für noch nicht erbrachte Teile zustehen.147 Begründet wird dies mit der vom BGH148 verneinten Leitbildfunktion von § 648 Satz 3. Einer solchen Regelung ist zuzugeben, dass gerade bei großen Softwareerstellungsverträgen im unternehmerischen Verkehr häufig keine Aufwendungen erspart werden und auch die Arbeitskraft nicht ohne weiteres für ein ähnliches, weil in der Regel nicht vorhandenes, Software-Projekt eingesetzt werden kann. Daher dürfte eine solche Klausel zumindest im unternehmerischen Verkehr wirksam sein. Der BGH ist bei derart hohen Prozent-Beträgen allerdings zurückhaltend.149 Grundsätzlich kann jedenfalls bei IT-Verträgen der Vergütungsanspruch nach § 648

140 Vgl. BGH v. 18.4.2002 – III ZR 199/01, CR 2002, 658 = ITRB 2002, 175; OLG München v. 22.6.2006 – 29 U 2294/06, CR 2006, 613; LG München v. 17.2.2000 – 7 O 11900/99, CR 2000, 833 = ITRB 2001, 10; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 22. 141 BGH v. 5.5.2011 – VII ZR 181/10, NJW 2011, 1954, 1956; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 7 BGB Rz. 4. Weitergehend OLG Celle v. 3.7.2008 – 13 U 68/08, BeckRS 2008, 13972. 142 Ähnl. Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 59. 143 LG Stuttgart v. 26.8.1998 – 2 KfH O 141/97: 4 Jahre Nutzungsdauer bei Hardware und 8 Jahre bei Software; AG Hildesheim v. 11.3.2008 – 43 C 192/07, BeckRS 2008, 12083: 6 Jahre Nutzungsdauer bei einem Laptop. 144 So auch Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 59. 145 Redeker/Bischof/Witzel, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.18 Rz. 154. 146 BGH v. 25.10.1984 – VII ZR 11/84, NJW 1985, 633. 147 Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D. Rz. 441 f. 148 BGH v. 5.5.2011 – VII ZR 161/10, CR 2011, 639, 640. 149 BGH v. 10.10.1996 – VII ZR 250/94, NJW 1997, 259, 260: 60 % bei einem Architektenvertrag unwirksam.

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BGB § 308 Rz. 53 Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit Satz 2 in AGB durch pauschale Kürzung der geschuldeten Vergütung um einen Betrag X berechnet werden, soweit dem Kunden der Gegenbeweis weiterhin ermöglicht wird.150 10. Nichtverfügbarkeit der Leistung (§ 308 Nr. 8) 54

Die Vorschrift ergänzt § 308 Nr. 3: Diese vor allem für sog. Selbstbelieferungsklauseln und Vorratsklauseln151 relevante Inhaltskontrolle setzt das kumulative Vorliegen der Voraussetzungen von § 308 Nr. 3 und 8 zur Wirksamkeit voraus.152 Soweit die Klausel also schon § 308 Nr. 3 nicht genügt, kommt es auf § 308 Nr. 8 gar nicht mehr an. Andernfalls muss die Klausel darüber hinaus eine Pflicht zur unverzüglichen Information über die Nichtverfügbarkeit und zur unverzüglichen Erstattung der Gegenleistung vorsehen. An die Formulierung der Klausel werden hier keine großen Anforderungen gestellt: Für die Wirksamkeit reicht aus, den Gesetzeswortlaut zu übernehmen.153 Fehlt dieser Zusatz, ist die Klausel auch dann unwirksam, wenn die Information und Erstattung in der Praxis tatsächlich durchgeführt wird.154 Im unternehmerischen Verkehr findet die Klausel keine Anwendung (§ 310 Abs. 1 Satz 1) und entfaltet auch keine Indizwirkung.155

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Im Bereich der IT-Verträge findet das Klauselverbot des Nr. 8 bspw. Anwendung bei einem Kaufvertrag über Hardware mit einer Selbstbelieferungsklausel. Die „Nichtverfügbarkeit der Leistung“ erfasst aber nicht Fälle, in denen eine Regelung zur prozentualen Verfügbarkeit einer ASP- oder SaaS-Lösung innerhalb einer gewissen Zeitspanne gewährleistet wird.156 Ein Lösungsrecht des Verwenders für diese Fälle würde ohnehin nur Sinn machen, wenn der Kunde AGB-Verwender ist und die Nichtverfügbarkeit der Anwendung des Anbieters im Raum steht. In diesen Fällen wäre der Vertragspartner (= Anbieter) dann aber Unternehmer, Nr. 8 damit nicht anwendbar und die Klausel würde zudem das Fristsetzungserfordernis aushebeln (§ 309 Nr. 4).

§ 309 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit Auch soweit eine Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zulässig ist, ist in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam 1. (Kurzfristige Preiserhöhungen) eine Bestimmung, welche die Erhöhung des Entgelts für Waren oder Leistungen vorsieht, die innerhalb von vier Monaten nach Vertragsschluss geliefert oder erbracht werden sollen; dies gilt nicht bei Waren oder Leistungen, die im Rahmen von Dauerschuldverhältnissen geliefert oder erbracht werden; 2. (Leistungsverweigerungsrechte) eine Bestimmung, durch die a) das Leistungsverweigerungsrecht, das dem Vertragspartner des Verwenders nach § 320 zusteht, ausgeschlossen oder eingeschränkt wird oder b) ein dem Vertragspartner des Verwenders zustehendes Zurückbehaltungsrecht, soweit es auf demselben Vertragsverhältnis beruht, ausgeschlossen oder eingeschränkt, insbesondere von der Anerkennung von Mängeln durch den Verwender abhängig gemacht wird;

150 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 152. 151 So auch die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 14/2658, 51. 152 Allg.M., vgl. nur Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 8 BGB Rz. 1. 153 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 8 BGB Rz. 5 f. 154 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 308 Nr. 8 BGB Rz. 7. 155 BT-Drucks. 14/2658, 51; MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 8 BGB Rz. 8. 156 So auch Spindler/Schuster/Schuster, § 308 Rz. 65.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

§ 309 BGB

3. (Aufrechnungsverbot) eine Bestimmung, durch die dem Vertragspartner des Verwenders die Befugnis genommen wird, mit einer unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderung aufzurechnen; 4. (Mahnung, Fristsetzung) eine Bestimmung, durch die der Verwender von der gesetzlichen Obliegenheit freigestellt wird, den anderen Vertragsteil zu mahnen oder ihm eine Frist für die Leistung oder Nacherfüllung zu setzen; 5. (Pauschalierung von Schadensersatzansprüchen) die Vereinbarung eines pauschalierten Anspruchs des Verwenders auf Schadensersatz oder Ersatz einer Wertminderung, wenn a) die Pauschale den in den geregelten Fällen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden oder die gewöhnlich eintretende Wertminderung übersteigt oder b) dem anderen Vertragsteil nicht ausdrücklich der Nachweis gestattet wird, ein Schaden oder eine Wertminderung sei überhaupt nicht entstanden oder wesentlich niedriger als die Pauschale; 6. (Vertragsstrafe) eine Bestimmung, durch die dem Verwender für den Fall der Nichtabnahme oder verspäteten Abnahme der Leistung, des Zahlungsverzugs oder für den Fall, dass der andere Vertragsteil sich vom Vertrag löst, Zahlung einer Vertragsstrafe versprochen wird; 7. (Haftungsausschluss bei Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit und bei grobem Verschulden) a) (Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit) ein Ausschluss oder eine Begrenzung der Haftung für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit, die auf einer fahrlässigen Pflichtverletzung des Verwenders oder einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflichtverletzung eines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen des Verwenders beruhen; b) (Grobes Verschulden) ein Ausschluss oder eine Begrenzung der Haftung für sonstige Schäden, die auf einer grob fahrlässigen Pflichtverletzung des Verwenders oder auf einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Pflichtverletzung eines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen des Verwenders beruhen; die Buchstaben a und b gelten nicht für Haftungsbeschränkungen in den nach Maßgabe des Personenbeförderungsgesetzes genehmigten Beförderungsbedingungen und Tarifvorschriften der Straßenbahnen, Obusse und Kraftfahrzeuge im Linienverkehr, soweit sie nicht zum Nachteil des Fahrgasts von der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen vom 27. Februar 1970 abweichen; Buchstabe b gilt nicht für Haftungsbeschränkungen für staatlich genehmigte Lotterie- oder Ausspielverträge; 8. (Sonstige Haftungsausschlüsse bei Pflichtverletzung) a) (Ausschluss des Rechts, sich vom Vertrag zu lösen) eine Bestimmung, die bei einer vom Verwender zu vertretenden, nicht in einem Mangel der Kaufsache oder des Werkes bestehenden Pflichtverletzung das Recht des anderen Vertragsteils, sich vom Vertrag zu lösen, ausschließt oder einschränkt; dies gilt nicht für die in der Nummer 7 bezeichneten Beförderungsbedingungen und Tarifvorschriften unter den dort genannten Voraussetzungen; b) (Mängel) eine Bestimmung, durch die bei Verträgen über Lieferungen neu hergestellter Sachen und über Werkleistungen aa) (Ausschluss und Verweisung auf Dritte) die Ansprüche gegen den Verwender wegen eines Mangels insgesamt oder bezüglich einzelner Teile ausgeschlossen, auf die Einräumung von Ansprüchen gegen Dritte beHunzinger

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BGB § 309 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit schränkt oder von der vorherigen gerichtlichen Inanspruchnahme Dritter abhängig gemacht werden; bb) (Beschränkung auf Nacherfüllung) die Ansprüche gegen den Verwender insgesamt oder bezüglich einzelner Teile auf ein Recht auf Nacherfüllung beschränkt werden, sofern dem anderen Vertragsteil nicht ausdrücklich das Recht vorbehalten wird, bei Fehlschlagen der Nacherfüllung zu mindern oder, wenn nicht eine Bauleistung Gegenstand der Mängelhaftung ist, nach seiner Wahl vom Vertrag zurückzutreten; cc) (Aufwendungen bei Nacherfüllung) die Verpflichtung des Verwenders ausgeschlossen oder beschränkt wird, die zum Zweck der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen nach § 439 Absatz 2 und 3 oder § 635 Absatz 2 zu tragen oder zu ersetzen; dd) (Vorenthalten der Nacherfüllung) der Verwender die Nacherfüllung von der vorherigen Zahlung des vollständigen Entgelts oder eines unter Berücksichtigung des Mangels unverhältnismäßig hohen Teils des Entgelts abhängig macht; ee) (Ausschlussfrist für Mängelanzeige) der Verwender dem anderen Vertragsteil für die Anzeige nicht offensichtlicher Mängel eine Ausschlussfrist setzt, die kürzer ist als die nach dem Doppelbuchstaben ff zulässige Frist; ff) (Erleichterung der Verjährung) die Verjährung von Ansprüchen gegen den Verwender wegen eines Mangels in den Fällen des § 438 Abs. 1 Nr. 2 und des § 634a Abs. 1 Nr. 2 erleichtert oder in den sonstigen Fällen eine weniger als ein Jahr betragende Verjährungsfrist ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn erreicht wird; 9. (Laufzeit bei Dauerschuldverhältnissen) bei einem Vertragsverhältnis, das die regelmäßige Lieferung von Waren oder die regelmäßige Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen durch den Verwender zum Gegenstand hat, a) eine den anderen Vertragsteil länger als zwei Jahre bindende Laufzeit des Vertrags, b) eine den anderen Vertragsteil bindende stillschweigende Verlängerung des Vertragsverhältnisses um jeweils mehr als ein Jahr oder c) zu Lasten des anderen Vertragsteils eine längere Kündigungsfrist als drei Monate vor Ablauf der zunächst vorgesehenen oder stillschweigend verlängerten Vertragsdauer; dies gilt nicht für Verträge über die Lieferung als zusammengehörig verkaufter Sachen sowie für Versicherungsverträge; 10. (Wechsel des Vertragspartners) eine Bestimmung, wonach bei Kauf-, Darlehens-, Dienst- oder Werkverträgen ein Dritter anstelle des Verwenders in die sich aus dem Vertrag ergebenden Rechte und Pflichten eintritt oder eintreten kann, es sei denn, in der Bestimmung wird a) der Dritte namentlich bezeichnet oder b) dem anderen Vertragsteil das Recht eingeräumt, sich vom Vertrag zu lösen; 11. (Haftung des Abschlussvertreters) eine Bestimmung, durch die der Verwender einem Vertreter, der den Vertrag für den anderen Vertragsteil abschließt, a) ohne hierauf gerichtete ausdrückliche und gesonderte Erklärung eine eigene Haftung oder Einstandspflicht oder b) im Falle vollmachtsloser Vertretung eine über § 179 hinausgehende Haftung auferlegt;

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

§ 309 BGB

12. (Beweislast) eine Bestimmung, durch die der Verwender die Beweislast zum Nachteil des anderen Vertragsteils ändert, insbesondere indem er a) diesem die Beweislast für Umstände auferlegt, die im Verantwortungsbereich des Verwenders liegen, oder b) den anderen Vertragsteil bestimmte Tatsachen bestätigen lässt; Buchstabe b gilt nicht für Empfangsbekenntnisse, die gesondert unterschrieben oder mit einer gesonderten qualifizierten elektronischen Signatur versehen sind; 13. (Form von Anzeigen und Erklärungen) eine Bestimmung, durch die Anzeigen oder Erklärungen, die dem Verwender oder einem Dritten gegenüber abzugeben sind, gebunden werden a) an eine strengere Form als die schriftliche Form in einem Vertrag, für den durch Gesetz notarielle Beurkundung vorgeschrieben ist oder b) an eine strengere Form als die Textform in anderen als den in Buchstabe a genannten Verträgen oder c) an besondere Zugangserfordernisse; 14. (Klageverzicht) eine Bestimmung, wonach der andere Vertragsteil seine Ansprüche gegen den Verwender gerichtlich nur geltend machen darf, nachdem er eine gütliche Einigung in einem Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung versucht hat; 15. (Abschlagszahlungen und Sicherheitsleistung) eine Bestimmung, nach der der Verwender bei einem Werkvertrag a) für Teilleistungen Abschlagszahlungen vom anderen Vertragsteil verlangen kann, die wesentlich höher sind als die nach § 632a Absatz 1 und § 650m Absatz 1 zu leistenden Abschlagszahlungen, oder b) die Sicherheitsleistung nach § 650m Absatz 2 nicht oder nur in geringerer Höhe leisten muss. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die einzelnen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . 1. Kurzfristige Preiserhöhungen (§ 309 Nr. 1) a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Preiserhöhungsklauseln und § 307 . . . . c) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leistungsverweigerungsrechte (§ 309 Nr. 2) 3. Aufrechnungsverbot (§ 309 Nr. 3) . . . . . . 4. Mahnung, Fristsetzung (§ 309 Nr. 4) . . . . 5. Pauschalierung von Schadensersatzansprüchen (§ 309 Nr. 5) . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Pauschalierung . . . . . . . . . . . . . bb) Gegenbeweis . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vertragsstrafe (§ 309 Nr. 6) . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertragsstrafen und § 307 . . . . . . . . . c) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Haftungsausschluss bei Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit und bei grobem Verschulden (§ 309 Nr. 7) . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftungsausschlüsse und § 307 . . . . . .

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. 2 . 2 . 2 . 5 . 6 . 8 . 9 . 12 . . . . . . . . .

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c) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Restriktive Auslegung bei IT-Verträgen? . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Haftungsausschlüsse bei Pflichtverletzung (§ 309 Nr. 8) . . . . . . . . . . . . . a) Schutz des Lösungsrechts (Nr. 8 Buchst. a) b) Gewährleistungsrechte (Nr. 8 Buchst. b) . . c) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . bb) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . Laufzeit bei Dauerschuldverhältnissen (§ 309 Nr. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechsel des Vertragspartners (§ 309 Nr. 10) . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung des Abschlussvertreters (§ 309 Nr. 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweislast (§ 309 Nr. 12) . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form von Anzeigen und Erklärungen (§ 309 Nr. 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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36 37 39 44 46 47 54 54 55 63 63 66 70 70 73 74 75 75 78 81

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BGB § 309 Rz. 1 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit a) Allgemeines . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . 14. Klageverzicht (§ 309 Nr. 14) a) Allgemeines . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . .

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15. Abschlagszahlungen und Sicherheitsleistung (§ 309 Nr. 15) . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) IT-Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90 90 94

Literatur: Bauer/Witzel, Nacherfüllung beim Kauf von Standardsoftware, ITRB 2003, 109; Brandi-Dohrn, Die Besonderheiten von Haftungsklauseln in IT-Verträgen, CR 2014, 417; Deike, Open Source Software: IPR-Fragen und Einordnung ins deutsche Rechtssystem, CR 2003, 9; Gaul, Standardsoftware: Veränderung von Gewährleistungsansprüchen durch AGB, CR 2000, 570; Hecht, Wertsicherungsklauseln in IT-Verträgen, ITRB 2006, 118; Jaeger, Haftungsausschluß und Haftungsbegrenzung durch AGB im Bereich der EDV, MDR 1992, 96; Koch, Nacherfüllung – Hat der Kunde eine Wahl?, ITRB 2003, 87; Lapp, § 326 BGB a.F. in Anbieter-AGB: Alte Liebe rostet nicht, ITRB 2004, 262; Meier/Wehlau, Die zivilrechtliche Haftung für Datenlöschung, Datenverlust und Datenzerstörung, NJW 1998, 1585; Redeker, Wirksame Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Mängelhaftung, ITRB 2004, 163; Schmitt, Schadenspauschalierungen und Vertragsstrafen in AGB der öffentlichen Hand, insbesondere in BVB und EVB-ITCR 2010, 693; Schneider, Nacherfüllung bei IT-Verträgen, ITRB 2007, 24; Wicker, Haftungsbegrenzung des Cloud-Anbieters trotz AGB-Recht?, MMR 2014, 787.

I. Allgemeines 1

Die Norm ist – ebenso wie § 308 – eine Konkretisierung der Generalklauseln des § 307.1 Im Gegensatz zu § 308 enthält § 309 aber keine unbestimmten Rechtsbegriffe, die ausgelegt werden müssen, weshalb diese Klauselverbote „ohne Wertungsmöglichkeit“ sind. Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind jedoch § 309 Nr. 5 („gewöhnlich“, „wesentlich“), Nr. 8 Buchst. b Buchst. cc („erforderlich“), Nr. 8 Buchst. b Buchst. dd („unverhältnismäßig“) und die neue Nr. 15 („wesentlich höher“). Im Verhältnis zu § 307 ist bedeutsam, dass eine Unwirksamkeit nach § 309 nicht durch eine Interessenabwägung „geheilt“ werden kann, anders herum aber eine nach § 309 wirksame Klausel gleichwohl nach § 307 zur Unwirksamkeit führen kann.2

II. Die einzelnen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit 1. Kurzfristige Preiserhöhungen (§ 309 Nr. 1) a) Allgemeines 2

Das Klauselverbot gilt für alle entgeltlichen Verträge, unabhängig davon ob das Entgelt in Form eines Geldbetrages oder einer Sachleistung erfolgt und auch unabhängig davon, ob die Höhe des Entgelts auf einer vertraglichen, taxmäßigen oder üblichen Grundlage berechnet wird.3 Das Klauselverbot gilt nur für zukünftige Preiserhöhungen. Rückwirkende Preiserhöhungen scheitern vielmehr an § 305c oder zumindest an § 307.4 Das Klauselverbot greift ferner nicht für indirekte Preiserhöhungen in der Form, dass der Preis zwar beibehalten, aber dafür der Leistungsumfang gekürzt wird; diesen Fall regelt § 308 Nr. 4.5 Gegenüber Unternehmern findet die Norm weder direkt Anwendung, noch entfaltet sie Indizwirkung.6 Zu den Grundsätzen bei Unternehmern vgl. Rz. 5.

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Klassische Preiserhöhungsklauseln nach § 309 Nr. 1 sind Gleit- und Spannungsklauseln.7 Bei einer Gleitklausel soll sich die Entwicklung des geschuldeten Entgelts nach dem Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes richten. Bei einer Spannungsklausel soll sich das Entgelt an der Entwick1 BGH v. 4.12.1986 – VII ZR 354/85, NJW 1987, 837, 838; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, Vor §§ 308, 309 BGB Rz. 1. 2 MünchKomm/Wurmnest, § 309 BGB Rz. 3 ff. mit zahlreichen Beispielen. 3 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 12. 4 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 12. 5 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 18; MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 11. 6 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 161. 7 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 19.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 6 § 309 BGB

lung des Wertes von ähnlichen Gütern richten, also z.B. die Kopplung des Gaspreises an den Ölpreis. Eine Preiserhöhungsklausel liegt gegenüber einem Verbraucher aber auch vor, wenn das geschuldete Entgelt sich nach der aktuell gültigen Mehrwertsteuer richten soll, da gem. § 1 Abs. 1 PAngV gegenüber Letztverbrauchern das Entgelt stets einschließlich Umsatzsteuer als Gesamtpreis anzugeben ist.8 Genauso verhält es sich mit Klauseln, nach denen das Entgelt gem. §§ 315 ff. einseitig bestimmt werden kann, der angegebene Preis nur „freibleibend“ bzw. „unverbindlich“ sein soll oder bei Irrtümern berichtigt werden darf.9 § 309 Nr. 1 enthält jedoch zwei wichtige Ausnahmen, durch die Preiserhöhungsklauseln nicht per se 4 unwirksam sind: Zum einen betrifft das Klauselverbot nur Fälle, in denen die Leistung, für die das Entgelt bezahlt wird, innerhalb von vier Monaten ab Vertragsschluss zu erbringen ist, sog. Viermonatsfrist. Soweit eine Leistungszeit nicht vertraglich festgelegt wurde, ist die Leistung sofort zu erbringen (§ 271 Abs. 1) und damit das Klauselverbot einschlägig; auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Leistungserbringung kommt es nicht an.10 Zum anderen sind von dem Klauselverbot ausdrücklich alle Dauerschuldverhältnisse ausgenommen, d.h. es findet z.B. auf Miet-, Pacht- und Leasingverträge keine Anwendung.11 Da hiermit die Mehrzahl der Verträge und insb. solche, bei denen ein besonderes Interesse an Preiserhöhungen entstehen kann, aus dem Anwendungsbereich von § 309 Nr. 1 herausfallen, kommt hier der Klauselkontrolle nach § 307 besondere Bedeutung zu. b) Preiserhöhungsklauseln und § 307 Die Klauselkontrolle nach § 307 ist damit für alle Preiserhöhungsklauseln relevant, die gegenüber 5 Unternehmern eingesetzt werden oder die im Rahmen von Dauerschuldverhältnissen Anwendung finden. Die Kasuistik hierzu ist vielschichtig.12 Diese lässt sich auf zwei Grundsätze zusammenführen: Eine Preiserhöhungsklausel bei einem Dauerschuldverhältnis, das in unter vier Monaten abgewickelt werden soll, ist in Anlehnung an § 309 Nr. 1 i.d.R unwirksam.13 In allen anderen Fällen ist eine Preiserhöhungsklausel nur wirksam, wenn kumulativ vier Voraussetzungen14 erfüllt sind: (1) Es wird das Äquivalenzprinzip gewahrt und kein zusätzlicher Verwendergewinn durch die Klausel begehrt, (2) die Klausel berechtigt nicht nur zur Preiserhöhung, sondern verpflichtet auch zur Preissenkung, (3) für den Vertragspartner sind Voraussetzungen und Berechnung der Preisanpassung transparent und nachvollziehbar und (4) der Vertragspartner hat ein Kündigungsrecht bei unzumutbaren Preiserhöhungen. Die kumulative Einhaltung dieser Voraussetzungen durch AGB-Klauseln ist schwierig, wie bspw. die Pay-TV-Abo-Entscheidung des BGH zeigt.15 Bei Verträgen mit Unternehmern gelten die vier Voraussetzungen zwar im Grundsatz ebenfalls, müssen aber nicht zwingend kumulativ vorliegen; sie sind aber zumindest Indiz für eine unangemessene Klausel.16 c) IT-Verträge § 309 Nr. 1 findet im Zusammenhang mit IT-Verträgen z.B. auf Kaufverträge über Hard- und/oder Software oder die einmalige Reparatur von Hardware Anwendung.17 Preiserhöhungsklauseln sind bei 8 BGH v. 28.1.1981 – VIII ZR 165/79, NJW 1981, 979, 980. 9 BGH v. 6.12.1984 – VII ZR 227/83, NJW 1985, 855, 856; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 20 ff. 10 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 23 f. 11 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 26. 12 Vgl. die Bsp. bei Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 28 ff. 13 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 26; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 27. A.A. aber gleiches Ergebnis durch direkte Anwendung von § 309 Nr. 1 auf „kurzfristige Dauerschuldverhältnisse“ BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 1 Rz. 14; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 3. 14 Nach BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 1 Rz. 17 ff. m.w.N. Speziell für Verträge mit Unternehmern Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 160 ff. 15 BGH v. 15.11.2007 – III ZR 247/06, NJW 2008, 360, 361 = CR 2008, 178. Ähnl. für die Problematik bei Flugtickets LG Berlin v. 14.2.2017 – 16 O 11/16, MMR 2017, 422. 16 BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 1 Rz. 37 ff. Vgl. hierzu ausf. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 160 ff. 17 Hecht, ITRB 2006, 118, 122.

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BGB § 309 Rz. 6 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit IT-Verträgen aber vor allem bei Pflege- und Wartungsverträgen verbreitet, auf die § 309 Nr. 1 wegen des Dauerschuldcharakters aber keine Anwendung findet (vgl. Rz. 4).18 So sieht bspw. Ziff. 10.6 der EVB-IT Instandhaltungs-AGB (Ver. 2.0) eine Möglichkeit zur Preiserhöhung von maximal 3 % alle 12 Monate vor. Eine entsprechende Möglichkeit zur einseitigen Preiserhöhung enthält ferner Ziff. 8.5 der EVB-IT Pflege-AGB (Ver. 2.0). Diese Klauseln sind auch nicht nach § 307 kontrollfähig, weil der Verwender der AGB (öffentliche Hand) nicht derjenige ist, der die Preiserhöhung vornimmt; die Klauseln gelten zugunsten der anderen Partei. 7

Bei einem Hardware-Wartungsvertrag mit einem Verbraucher ist in jedem Fall eine Klausel nach § 307 unwirksam, nach der allgemein ein Recht zur Preiserhöhung „bei Eintritt von Kostensteigerungen“ vorgesehen ist.19 Denn hierdurch wird keine der genannten Voraussetzungen für zulässige Preiserhöhungsklauseln bei Dauerschuldverhältnissen (vgl. Rz. 5) eingehalten. Für einen Wartungsvertrag mit Unternehmern wird vorgeschlagen, eine Preiserhöhungsklausel vorzusehen, nach der eine „angemessene Erhöhung von maximal 10 %, bezogen auf die Wartungspauschale und die Tages-/Stundensätze“ ohne Lösungsrecht des Kunden zulässig sein soll, wenn sich „die die Leistungserbringung beeinflussenden Kostenfaktoren ändern“.20 Eine solche prozentuale Erhöhung dürfte noch zulässig sein, wenngleich höchstrichterlich nicht geklärt ist, ob und wenn ja ab welcher Preiserhöhung bei Unternehmern ein Lösungsrecht zu gewähren ist.21 Es wird darüber hinaus aber wohl zu fordern sein, dass die prozentuale Erhöhung nur im Verhältnis der Kostensteigerung erfolgen darf, da ansonsten unzulässige Gewinnerhöhungen22 möglich wären. In jedem Fall unwirksam ist jedoch eine Klausel, nach der sich die Vergütung für die Wartungs- bzw. Pflegeleistungen nach der „jeweils gültigen Preisliste“ richten sollen, weil sich hierdurch die Möglichkeit zur Preiserhöhung ohne Gründe oder Begrenzungen ergeben würde.23 Vorsicht ist auch bei gemischten Verträgen geboten, wenn die Preiserhöhungsklausel neben dem Dauerschuldverhältnis als Hauptleistung auch einen dem vorausgehenden Hardware-Kauf erfasst. Obwohl die Klausel hinsichtlich des Dauerschuldverhältnisses nicht der Kontrolle nach § 309 Nr. 1 unterliegt, kann ihre Geltung für den Hardware-Kauf hier zur Unwirksamkeit führen, weil die Hardware i.S.d. § 309 Nr. 1 „innerhalb von vier Monaten nach Vertragsschluss geliefert“ wird.24 2. Leistungsverweigerungsrechte (§ 309 Nr. 2)

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§ 309 Nr. 2 verbietet Klauseln, die ein Leistungsverweigerungsrecht oder Zurückbehaltungsrecht des Vertragspartners ausschließen oder einschränken. Auch wenn es aus dem Wortlaut nicht eindeutig deutlich wird, erfasst dies ausschließlich das Leistungsverweigerungsrecht aus § 320 und das Zurückbehaltungsrecht aus § 273. Auf andere Zurückbehaltungsrechte (§§ 1000, 1160, 1161) findet das Klauselverbot keine Anwendung.25 Eine Kommentierung erfolgt daher bei § 320 (vgl. § 320 Rz. 13 f.) und § 273 (vgl. § 273 Rz. 9 ff.). 3. Aufrechnungsverbot (§ 309 Nr. 3)

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Die Vorschrift verbietet den formularmäßigen Ausschluss der Aufrechnung mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderungen. Die Indizwirkung von § 309 Nr. 3 kommt über § 307 bei Aufrechnungsverboten im kaufmännischen Geschäftsverkehr voll zum Tragen. Eine Klausel in AGB

18 19 20 21 22 23 24 25

Hecht, ITRB 2006, 118, 122. Gleiches gilt damit für die Hard- und Softwaremiete. OLG Celle v. 1.2.1984 – 13 U 160/83, MDR 1984, 493. Redeker/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.10 Rz. 130 (§ 9 Abs. 7) sowie Rz. 152 ff. Vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 48. Für Notwendigkeit eines Lösungsrechts bei mehr als 5 % Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 165. Vgl. zur Unwirksamkeit von gewinnerhöhenden Klauseln Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 1 BGB Rz. 173. Speziell zur Wartungs- und Pflegeverträgen Bartl, CR 1985, 13, 19, 21; Grützmacher, ITRB 2011, 133 (Fn. 1). Allg. BGH v. 20.5.1985 – VII ZR 198/84, NJW 1985, 2270. OLG Frankfurt v. 8.2.2007 – 1 U 184/06, OLGReport Frankfurt 2007, 755. Offen lassend BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104, 105 = ITRB 2008, 57. Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 2 BGB Rz. 6 f.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 14 § 309 BGB

gegenüber einem Unternehmer ist daher stets unwirksam, wenn sie die Aufrechnung mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Forderungen ausschließt.26 Umfang und Voraussetzungen für die Klauselgestaltung ergeben sich bereits aus der Vorschrift selbst: Zulässig ist eine Klausel, nach der eine Aufrechnung nur mit unbestrittenen oder rechtskräftigen Forderungen möglich ist. Da eine rechtskräftige Forderung nach allgemeiner Meinung ein Unterfall der unbestrittenen Forderung ist, ist eine Klausel aber auch wirksam, wenn sie nur eine Aufrechnung mit unbestrittenen Forderungen nennt.27 Unbestritten ist eine Forderung nur dann, wenn ihr kein erhebliches und schlüssiges Gegenvorbringen entgegensteht.28

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Ein Aufrechnungsverbot mit Ausnahme von unbestrittenen und rechtskräftig festgestellten Forderun- 11 gen ist auch im IT-Vertragsrecht ein Klassiker. Besonderheiten bestehen hier nicht. Vereinzelt wird vorgeschlagen, vom Aufrechnungsverbot beim IT-Kauf nicht nur „unbestrittene, rechtskräftig festgestellte“ Forderungen auszunehmen, sondern darüber hinaus auch „entscheidungsreife“ Gegenforderungen.29 Eine solche Gestaltung ist zulässig, weil sie großzügiger ist, als von § 309 Nr. 3 vorgesehen. 4. Mahnung, Fristsetzung (§ 309 Nr. 4) Die Vorschrift will sicherstellen, dass dem Verwender ein Schadensersatzanspruch oder ein Rücktrittsrecht nicht durch AGB gewährt werden kann, wenn der „unentbehrliche Mosaikstein“30 der Fristsetzung bzw. Mahnung als Tatbestandsvoraussetzung ausgeschlossen wird. Über § 307 Abs. 2 Nr. 1 ist auch gegenüber Unternehmern stets eine Klausel unwirksam, nach der auf eine Mahnung oder Fristsetzung verzichtet werden kann, wenn sie Voraussetzung für die Rechte auf Rücktritt oder Schadensersatz ist.31

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Die Vorschrift statuiert insb., dass die Voraussetzungen der §§ 281 Abs. 1 Satz 1, 286 Abs. 1, 323 13 Abs. 1 nicht abdingbar sind.32 Dem Verwender steht es frei, in AGB die gesetzlichen Ausnahmen (z.B. § 281 Abs. 2) zu wiederholen, aber hierhinter zurückbleiben darf die Klausel nicht. Daher sind auch Klauseln unwirksam, die zwar nicht ausdrücklich auf eine Mahnung oder Fristsetzung verzichten wollen, aber Rechtsfolgen vorschreiben, die verdeckt diese Voraussetzungen abbedingen (Bankübliche Zinsen, wenn keine Zahlung bei Lieferung; X % Zinsen ab zwei Wochen nach Lieferung; Mahnkosten schon für die erste Mahnung).33 Für die Abmahnung bei Dauerschuldverhältnissen soll sich die Zulässigkeit nach § 307 und nicht § 309 Nr. 4 richten, wobei die Abbedingung im Regelfall hier ebenfalls zur Unwirksamkeit der Klausel führt.34 Im Bereich der IT-Verträge dürfte eine solche Klausel vor allem den verdeckten Mahnungsverzicht für 14 Entgeltansprüche betreffen (vgl. Rz. 13), wofür insoweit keine Besonderheiten bestehen. Da die AGB bei IT-Verträgen i.d.R. vom Softwareersteller, Hardwareverkäufer oder IT-Dienstleister vorgegeben werden, dürfte der umgekehrte Fall, in denen der Kunde in seinen IT-Einkaufsbedingungen die Frist für die Nacherfüllung (z.B. der Fehlerbehebung bei Software oder Hardware) ausschließt, selten vorkommen. Dementsprechende IT-Einkaufsbedingungen werden regelmäßig gegenüber den IT-Anbietern als Unternehmern eingesetzt und sind dementsprechend am Maßstab von § 307 zu prüfen. Ein Beispiel hierfür ist eine Klausel, nach der dem Kunden ohne Nachfristsetzung ein Selbstvornahmerecht zustehen soll.35 Zur Wirksamkeit einer solchen Klausel ist stets erforderlich, dass auf die Nachfristset26 BGH v. 27.6.2007 – XII ZR 54/05, NJW 2007, 3421, 3422 f.; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 19. 27 BGH v. 18.4.1989 – X ZR 31/88, NJW 1989, 3215, 3216; Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 3 BGB Rz. 11. 28 BGH v. 26.11.1984 – VIII ZR 217/83, NJW 1985, 1556, 1558; Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 3 BGB Rz. 3. 29 Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 166. 30 Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 4 BGB Rz. 1. 31 Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 4 BGB Rz. 11. A.A. BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 4 Rz. 8 f. (keine Geltung für Mahnung); MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 4 BGB Rz. 12 ff. (generell nicht übertragbar). 32 Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 4 BGB Rz. 4. 33 BGH v. 31.10.1984 – VIII ZR 226/83, NJW 1985, 320, 324; Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 4 BGB Rz. 8. 34 Ulmer/Brandner/Hensen/Schäfer, § 309 Nr. 4 BGB Rz. 9. 35 BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, CR 2006, 221 m. Anm. Redeker.

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BGB § 309 Rz. 14 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit zung nur in Fällen verzichtet wird, in denen auch das Gesetz eine Fristsetzung für entbehrlich hält (§ 281 Abs. 2).36 Vgl. zu Erweiterungen von Gewährleistungsrechten durch IT-Einkaufsbedingungen im Übrigen § 307 Rz. 27. 5. Pauschalierung von Schadensersatzansprüchen (§ 309 Nr. 5) 15

Die Vorschrift regelt den pauschalierten Schadens- und Wertminderungsersatz. Dabei will das Klauselverbot die Pauschalisierung nicht per se verbieten, sondern durch die Voraussetzungen nach Buchst. a und b nur verhindern, dass der Vertragspartner hierdurch unangemessen benachteiligt wird.37 a) Allgemeines

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Besonders wichtig ist bei § 309 Nr. 5 die Abgrenzung zu anderen Vorschriften: Während § 309 Nr. 5 nur die Pauschalierung von Schadensersatz und Wertminderung betrifft, gilt § 308 Nr. 7 nur für „unangemessen hohe“ Vergütungen für erbrachte Leistungen. Wird diese Vergütung pauschaliert, werden die Kriterien von § 309 Nr. 5 aber für die Prüfung der Unangemessenheit herangezogen (vgl. § 308 Rz. 48 ff.).38 Besonders hohe Bedeutung – insbesondere bei IT-Verträgen – hat die Abgrenzung zur Vertragsstrafe nach § 309 Nr. 6, da diese im Gegensatz zur Pauschalierung von Schadensersatz gänzlich verboten ist. Die Abgrenzung hat hier nach dem Parteiwillen zu erfolgen, wobei der Bezeichnung im Vertrag nur Indizwirkung zukommt.39 Von einer Vertragsstrafe ist dann auszugehen, wenn die Klausel die doppelte Zwecksetzung verfolgt, zum einen als Druckmittel zur Leistungserbringung zu dienen und zum anderen den Schadensbeweis entbehrlich machen will.40 Von einer Schadenspauschalierung ist hingegen auszugehen, wenn die Klausel den Beweis für die Schadenshöhe entbehrlich machen soll, um tatsächlich entstandene Schäden vereinfacht regulieren zu können.41 Eine trennscharfe Einordnung im Einzelfall ist nahezu unmöglich und wird dadurch erschwert, dass die Rspr. bei Unklarheit teilweise über § 305c Abs. 2 zu Lasten des Verwenders von einer Vertragsstrafe ausgeht.42 Im Hinblick auf das strikte Verbot einer Beweislastumkehr nach § 309 Nr. 12 ist zu berücksichtigen, dass die Regelung des § 309 Nr. 5 als lex specialis eine Ausnahme hiervon für die genaue Höhe des Schadensersatzes zulässt.43

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Gegenüber Unternehmern finden die Rechtsgedanken von § 309 Nr. 5 über § 307 nach h.M. dergestalt Anwendung, dass die Voraussetzungen von Buchst. a vollumfänglich erfüllt sein müssen und hinsichtlich Buchst. b zwar kein Hinweis erfolgen muss, aber auch kein Ausschluss des Gegenbeweises vorgesehen sein darf.44 aa) Pauschalierung

18

Die Pauschale nach Nr. 5 Buchst. a darf entsprechend dem Wortlaut von § 252 Satz 2 nicht höher als derjenige Schaden oder diejenige Wertminderung sein, der/die „nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge“ zu erwarten ist. Es kommt also auf den Durchschnittsschaden oder bei § 252 auf den Durchschnittsgewinn an, ohne hierbei besonders hohe Gewinnspannen des Verwenders oder Kosten der Schadensabwicklung einzubeziehen.45 Eine absolute oder relative Grenze für die Pauschale verbietet

36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

So auch Bartsch, CR 2015, 345, 346 mit Klauselvorschlag. Ähnl. Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 24. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 10. OLG Düsseldorf v. 16.8.2007 – 10 U 6/07, NJOZ 2008, 411, 413. BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1808 = CR 2003, 647; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 11; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 27. BGH v. 27.11.1974 – VIII ZR 9/73, NJW 1975, 163, 164; MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 5. OLG Nürnberg v. 5.2.2002 – 1 U 2314/01, NJW-RR 2002, 917. BGH v. 8.10.1987 – VII ZR 185/86, NJW 1988, 258; MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 7. BGH v. 28.5.1984 – III ZR 231/82, NJW 1984, 2941 f.; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 33 ff.; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 33. BGH v. 16.1.1984 – II ZR 100/83, NJW 1984, 2093, 2094; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 21; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 28.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 21 § 309 BGB

sich hier; es kommt auf den Einzelfall an.46 Nach h.M. darf der Verwender sich aber vorbehalten, im Einzelfall einen höheren, tatsächlichen Schaden geltend zu machen.47 Die pauschale Wertminderung hat eine wesentlich geringere Bedeutung, da die Vorschrift nicht auf §§ 441, 638, sondern nur auf §§ 292, 357, 812, 818 Abs. 4, 989 Anwendung findet.48 bb) Gegenbeweis Nr. 5 Buchst. b verlangt, dass die Klausel einen ausdrücklichen Hinweis enthält, dass dem Vertragspartner der Nachweis gestattet ist, es sei kein oder ein wesentlich geringerer Schaden entstanden. Für die Klauselgestaltung reicht es aber nach h.M. aus, wenn diese nur den „Nachweis eines wesentlich geringeren Schadens“ zulässt, ohne ausdrücklich auf Möglichkeit eines „fehlenden Schadens“ hinzuweisen.49 Als Anhaltspunkt für die Wesentlichkeit des geringeren Schadens kann im Regelfall eine Abweichung von 10 % gegenüber der Pauschale herangezogen werden.50 Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nicht eingewandt werden kann, der entgangene Gewinn ist wesentlich geringer ausgefallen, weil der Verkäufer die Sache einem zweiten Käufer hat verkaufen können (sog. Deckungsverkauf), da dem Verkäufer dann zumindest der entsprechende Gewinn aus diesem Zweitgeschäft entgangen ist.51

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b) IT-Verträge Im Rahmen von IT-Verträgen spielt die Pauschalierung von Schadensersatzansprüchen insb. im Zu- 20 sammenhang mit Service Level Agreements (SLA) eine Rolle. Der pauschalierte Schadensersatz wird hierbei häufig an die fehlende Einhaltung gewisser Verfügbarkeiten (z.B. 98,5 %) gekoppelt. Während diese Verfügbarkeitsvereinbarung als Leistungsbeschreibung nicht der Inhaltskontrolle unterliegt (vgl. § 307 Rz. 76), ist der hieran gekoppelte pauschalierte Schadensersatz kontrollfähig, soweit es sich um eine vorformulierte Regelung (§ 305) handelt. Die Abgrenzung zur Vertragsstrafe ist bei SLA besonders schwierig, zumal die Eigenbezeichnung im Vertrag nicht maßgeblich ist.52 Zur Klarstellung wird deshalb vorgeschlagen, in den SLA die Kalkulation und Motivation der Parteien für die Pauschalierung deutlich darzulegen.53 Ohne eine solche Auslegungshilfe ist bspw. bei einem Software-Lizenzvertrag, der für den Fall der verspäteten Rückgabe „Schadensersatz in Höhe der 12-fachen monatlichen Lizenzgebühr“ vorsieht, von einer Vertragsstrafe auszugehen.54 Der Schaden nach dem „gewöhnlichen Lauf der Dinge“ i.S.d. Nr. 5 Buchst. a lässt sich bei IT-Verträ- 21 gen typischerweise nur schwer bestimmen. Denn häufig lassen sich beim Ausfall eines IT-Systems oder einer Software gerade keine konkreten Umsatz- und Gewinnausfälle benennen, die dazu auch noch gewöhnlich eintreten.55 Dies hat bei einer Klausel zum pauschalierten Schadensersatz im ITVertrag dann ggf. die Unwirksamkeit zur Folge, wenn die Pauschale den in den geregelten Fällen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Schaden übersteigen sollte.56 46 Eine Auflistung von Fällen aus der Rspr. enthält z.B. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 36. 47 BGH v. 16.6.1982 – VIII ZR 89/81, NJW 1982, 2316, 2317; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 31. A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 31. 48 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 15. 49 BGH v. 14.4.2010 – VIII ZR 123/09, NJW 2010, 2122, 2123; BGH v. 5.5.2011 – VII ZR 161/10, CR 2011, 639, 640. A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 27. 50 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 29. Für 5 % ab 50.000 bzw. 100.000 t BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 5 Rz. 38; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 5 BGB Rz. 93. 51 BGH v. 29.6.1994 – VIII ZR 317/93, NJW 1994, 2478; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 31. 52 Vgl. nur OLG Koblenz v. 12.11.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, zu einem „pauschalierten Schadensersatz“ als Vertragsstrafe, allerdings ohne AGB-Problematik. LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, NJW 1988, 2476 zur Abgrenzung bei Zahlungen wg. verspäteter Rückgabe von Softwarelizenzen. Zur Problematik insgesamt Schuster, CR 2009, 205 ff. 53 Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 624; Schuster, CR 2009, 205, 209. 54 LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, NJW 1988, 2476 = CR 1989, 606. 55 So auch Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 624; Schreibauer/Taraschka, CR 2003, 557, 561. 56 Schreibauer/Taraschka, CR 2003, 557, 561.

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BGB § 309 Rz. 22 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit 22

Die EVB-IT Überlassung Typ A (Ziff. 6.3), der EVB-IT Instandhaltung (Ziff. 7.1.1) und der EVBIT Kauf (Ziff. 3.3) sahen nach ihrem Wortlaut in den ersten Fassungen einen pauschalierten Schadensersatz vor. Hiergegen wurde zu Recht eingewandt, dass die Klauseln den „gewöhnlichen Schadensverlauf“ nicht abbilden, weil es im IT-Vergabewesen zum einen keinen einheitlichen Durchschnittsgewinn gibt und zum anderen durch die Vielzahl öffentlicher Auftraggeber und Anbieter keine typischen Schadenshöhen ermitteln lassen.57 Die Klauseln sind daher nach § 309 Nr. 5 bzw. über § 307 unwirksam oder als Vertragsstrafe auszulegen.58 Mittlerweile gehen die EVB-IT aber in den aktuellen Fassungen selbst von einer Vertragsstrafe aus (vgl. z.B. EVB-IT Überlassung-AGB (Typ A) Ver. 2.0 Ziff. 5.3), deren Zulässigkeit nach § 309 Nr. 6 bzw. § 307 zu beurteilen ist (vgl. hierzu Rz. 23 ff.). 6. Vertragsstrafe (§ 309 Nr. 6)

23

Das Klauselverbot will dem Umstand Rechnung tragen, dass die Vertragsstrafe – im Gegensatz zum pauschalierten Schadensersatz nach § 309 Nr. 5 – keine Entstehung eines tatsächlichen Schadens oder eines Anspruchsgrundes voraussetzt. Die Regelung verfolgt demgemäß den Zweck, den Verwender an der Generierung ungerechtfertigter Gewinne ohne anerkennenswertes Interesse zu hindern und eine über § 309 Nr. 5 hinausgehende Erleichterung zu unterbinden.59 Gegenüber Unternehmern entfaltet § 309 Nr. 6 keine Indizwirkung, da hier ein erhöhtes Interesse an Vertragsstrafen auf beiden Seiten anerkannt wird.60 Ebenso wie in den vom Wortlaut von § 309 Nr. 5 nicht erfassten Fällen, richtet sich die Zulässigkeit von Vertragsstrafen hier vielmehr nach den allgemeinen Voraussetzungen von § 307. a) Allgemeines

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Der Kreis von Klauseln, die unter das Verbot von § 309 Nr. 6 fallen, ist durch mehrere Umstände stark eingeschränkt. Zum einen muss es sich bei der Klausel tatsächlich um eine Vertragsstrafe handeln, was häufig nur schwer zu bestimmen ist, weil derartige Klauseln häufig nicht ausdrücklich diesen Begriff verwenden (sondern z.B. „Reugeld“ oder „Abstand“) und eine Abgrenzung zum pauschalierten Schadensersatz vorzunehmen ist (vgl. Rz. 16). Keine Vertragsstrafen sondern nach § 307 zu prüfen sind zudem Verfallklauseln und Vorfälligkeitsklauseln, da diese eine „besondere Ausformung einer Vertragsbeendigungsregelung“ darstellen.61 Zum anderen erfasst die Klausel nur Vertragsstrafen für ganz bestimmte, namentlich genannte Leistungsstörungen, nämlich die Nichtabnahme oder verspätete Annahme der Leistung, den Zahlungsverzug und die Lösung vom Vertrag.62 Fällt eine Klausel unter diesen engen Anwendungsbereich, ist sie vollständig unwirksam, d.h. auch eine Herabsetzung nach § 343 kommt nicht in Betracht.63 b) Vertragsstrafen und § 307

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Im Anwendungsbereich von Vertragsstrafen außerhalb von § 309 Nr. 6 (vgl. Rz. 24) richtet sich die Wirksamkeit nach § 307. Hierbei ist zwischen Verträgen mit Verbrauchern und Unternehmern zu unterscheiden:

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Bei Verträgen mit Verbrauchern lassen sich drei Grundsätze aufstellen: (1) Die Vertragsstrafe muss hinreichend bestimmt sein, d.h. es muss für den Vertragspartner erkennbar sein, welche konkrete Pflichtverletzung zu welcher konkreten Strafe führen soll.64 (2) Die Vertragsstrafe ist zwingend erforderlich, weil für den Verwender keine Möglichkeit besteht, eine Schadenspauschalierung vorzuneh57 Schmitt, CR 2010, 693, 697 f. 58 Schmitt, CR 2010, 693, 697 f. Vgl. zu BVB-Überlassung BGH v. 27.11.1990 – X ZR 26/90, CR 1991, 273, 275 f. 59 Vgl. BT-Drucks. 7/3919, 30. 60 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 35. 61 BGH v. 19.9.1985 – III ZR 213/83, NJW 1986, 46, 48 = CR 1985, 83; BGH v. 24.4.1991 – VIII ZR 180/90, NJW-RR 1991, 1013, 1015; OLG Celle v. 19.10.1994 – 13 U 38/94, NJW-RR 1995, 370, 371. 62 Zu den Grenzbereichen der Fallgruppen vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 21 ff. 63 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 26. 64 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 27.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 30 § 309 BGB

men.65 (3) Die Höhe der Vertragsstrafe steht in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Pflichtverletzung für den Verwender und enthält eine Obergrenze.66 Da bei Verträgen mit Unternehmern § 309 Nr. 6 keine Anwendung findet und Unternehmer weniger schutzbedürftig sind als Verbraucher, beschränkt sich die Angemessenheitsprüfung einer Vertragsstrafe nach § 307 im Wesentlichen auf die Höhe der Strafe und elementare Grundsätze des Schadensrechts.67 Unwirksam ist hier eine Vertragsstrafe deshalb grds. nur dann, wenn sie entgegen § 339 verschuldensunabhängig entstehen soll68 oder außer Verhältnis zum möglichen Schaden bzw. der Bedeutung des Verstoßes für den Verwender steht.69 Dass die Vertragsstrafe aber generell oberhalb des typischerweise zu erwartenden Schadens liegt, ist unschädlich.70

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c) IT-Verträge Vertragsstrafen kommen in IT-Verträgen häufig vor, da Schäden nur schwer konkret zu bemessen sind (vgl. zur Abgrenzung zum pauschalierten Schadensersatz Rz. 24). Wirksam kann eine Klausel aber im Regelfall nur gegenüber Unternehmern sein, weil sonst § 309 Nr. 6 direkt greift. Rspr. hierzu im IT-Bereich ist bislang trotz des häufigen Vorkommens rar. Nach dem LG Lüneburg ist eine Vertragsstrafe in Höhe der 12-fachen monatlichen Lizenzgebühr bei einer Software-Miete für den Fall der verspäteten Rückgabe nach Vertragsende nicht zu beanstanden, weil der Kunde die Rückgabefrist leicht einhalten könne und für den Software-Vermieter eine hohes Missbrauchsrisiko bestehe.71 Dem kann nicht gefolgt werden, weil die Klausel sämtliche Grundsätze des Schadensrecht missachtet, da dem Verwender – wie das LG Lüneburg selbst feststellt – „durch die Nichtrückgabe der Unterlagen … nur ein Minimalschaden entstehen [kann], der bei weitem nicht das 12fache der monatlichen Lizenzgebühr“72 erreicht.

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In der Literatur wird eine Vertragsstrafe von 5 % der Auftragssumme für eine verzögerte Fertigstellung des IT-Projekts gegenüber Unternehmern für grds. zulässig gehalten.73 Dem ist im Hinblick auf eine vergleichbare Entscheidung des BGH zu Bauverträgen zuzustimmen.74 Unwirksam dürfte hingegen eine Klausel in SLA sein, nach der unabhängig vom Auftragswert ein fixer Betrag zu zahlen ist, der minütlich, täglich oder wöchentlich mehrfach ohne Obergrenze anfallen kann, weil hierdurch die Auftragssumme im Zweifelsfall schnell übertroffen wird.75 Möglich ist es aber, mit einer Klausel nach dem sog. Hamburger Brauch die Höhe der Vertragsstrafe in das Ermessen des Verwenders zu stellen und mit einer Obergrenze zu kombinieren,76 wobei dann allerdings die Ermessensausübung der gerichtlichen Kontrolle unterliegen wird.

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Auch bei den EVB-IT sind Vertragsstrafen üblich. So sieht bspw. der EVB-IT Überlassung-AGB (Typ A) Ver. 2.0 Ziff. 5.3 eine Vertragsstrafe bei Verzug i.H.v. 0,2 % pro Kalendertag, höchstens jedoch 5 % der Vergütungssumme, vor. Da die EVB-IT nur gegenüber Unternehmern zur Anwendung kommen, findet § 309 Nr. 6 hier keine Anwendung, sondern es gelten die großzügigeren Maßstäbe des

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65 Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 27. 66 BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 287; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 28. 67 BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 287; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 36. 68 BGH v. 20.3.2003 – I ZR 225/00, NJW-RR 2003, 1056, 1060; BGH v. 21.3.2013 – VII ZR 224/12, NJW 2013, 2111, 2113. 69 BGH v. 12.3.1981 – VII ZR 293/79, NJW 1981, 1509 f.; BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 387; BGH v. 7.5.1997 – VIII ZR 349/96, NJW 1997, 3233, 3234; BGH v. 3.4.1998 – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600, 2602; BGH v. 13.11.2013 – I ZR 77/12, NJW 2014, 2180 f.; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 287. 70 BGH v. 13.11.2013 – I ZR 77/12, NJW 2014, 2180, 2181. 71 LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, NJW 1988, 2476 = CR 1989, 606. 72 LG Lüneburg v. 3.6.1988 – 4 S 25/88, NJW 1988, 2476 = CR 1989, 606. 73 Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 153; Schneider, CR 2003, 651, 653. 74 Vgl. BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, CR 2003, 647, 650 m. Anm. Schneider. A.A. Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 93: 10 % bei Software-Verträgen wg. geringem Material-Anteil. 75 Schneider, CR 2003, 651, 653. 76 So Redeker/Grützmacher, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.7 Rz. 100 für Quell-Code-Hinterlegungen.

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BGB § 309 Rz. 30 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit § 307. Dennoch begegnen diese Klauseln einem Unwirksamkeitsrisiko, weil sie zu pauschal formuliert sind.77 Allein die fehlende Berücksichtigung des Einzelfalls kann hier schon die Unangemessenheit der Klausel begründen.78 7. Haftungsausschluss bei Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit und bei grobem Verschulden (§ 309 Nr. 7) 31

Haftungsausschlüssen kommt in der Praxis eine erhebliche Bedeutung zu. Die Vorschrift des § 309 Nr. 7 schränkt diese Möglichkeit in AGB für zwei Fälle ohne Wertungsmöglichkeit ein: Zum einen kann die Haftung für Körperschäden (Nr. 7 Buchst. a) generell nicht durch AGB ausgeschlossen werden und zum anderen ist eine Freizeichnung bei allen anderen Schäden für grobes Verschulden (Nr. 7 Buchst. b) nicht möglich. Die Freizeichnung für Vorsatz wird in der Vorschrift nicht ausdrücklich erwähnt, weil auch individualvertraglich die Haftung nicht für Vorsatz ausgeschlossen werden kann, vgl. §§ 276 Abs. 3, 444. Das Klauselverbot des § 309 Nr. 7 gilt im Übrigen nur für echte Haftungsausschlüsse, also den Ausschluss von Schadensersatzansprüchen79 und den damit zusammenhängenden Aufwendungsersatz nach § 284,80 während § 309 Nr. 8 – entgegen seiner irreführenden Überschrift – nur bei Gewährleistungsbeschränkungen greift. Zu beachten ist, dass die Vorschrift nicht nur den vollständigen Ausschluss, sondern auch jede Begrenzung der Haftung bei Körperschäden und grobem Verschulden erfasst.81

32

Für den Bereich des unternehmerischen Verkehrs wendet die Rspr. die Grundsätze von § 309 Nr. 7 und zum Ausschluss von Kardinalspflichten nach § 307 (vgl. Rz. 35) weitgehend entsprechend an.82 Gerade letzteres ist in der Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen.83 Eine „Privilegierung“ für den unternehmerischen Geschäftsverkehr lässt sich nach der Rspr. nur noch für Fälle annehmen, in denen eine summenmäßige Haftungsbegrenzung vorgesehen wird oder eine Begrenzung auf vertragstypisch vorhersehbare Schäden erfolgt.84 a) Allgemeines

33

Das Verbot eines Haftungsausschlusses für die Verletzung von Leben, Körper und Gesundheit nach Buchst. a erfasst alle schuldhaften Pflichtverletzungen, also jede Art von Fahrlässigkeit.85 Ein Haftungsausschluss, der diese drei elementaren Schutzgüter nicht ausnimmt, ist per se unwirksam. Für die Auslegung der Begriffe Leben, Körper und Gesundheit gelten die Ausführungen von Rspr. und Literatur zu § 823 entsprechend.86

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Nach Buchst. b ist ein Haftungsausschluss unwirksam, der die Haftung bei allen sonstigen Rechtsgütern für grob fahrlässige Pflichtverletzungen ausschließt. Grob fahrlässig handelt nach allgemeiner Meinung, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und nicht dasjenige beachtet, was sich im gegebenen Fall jedem hätte aufdrängen müssen.87 77 Schmitt, CR 2010, 693, 698 f. In diese Richtung auch für pauschalierten Schadensersatz nach dem BVB-Überlassung BGH v. 27.11.1990 – X ZR 26/90, CR 1991, 273, 275 f. 78 BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, CR 2016, 285, 287. 79 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 10. 80 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 10. 81 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 26. 82 BGH v. 5.12.1995 – X ZR 14/93, NJW-RR 1996, 783, 788; BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 121/04, NJW-RR 2005, 1496 = CR 2006, 228 = ITRB 2006, 102 für Kardinalspflichten nach § 307; BGH v. 19.9.2007 – VIII ZR 141/06, NJW 2007, 3774, 3775 für § 309 Nr. 7. 83 Vgl. nur Berger, NJW 2010, 465, sowie eine Übersicht mit allen kritischen Stimmen in Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 43. 84 Vgl. OLG Köln v. 15.11.2012 – 19 U 124/12, CR 2013, 153 für TK-Verträge sowie Ulmer/Brandner/Hensen/ Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 46 m.w.N. Für die Unwirksamkeit bei Verträgen mit Verbrauchern BGH v. 4.7.2013 – VII ZR 249/12, NJW 2013, 2502. 85 OLG Brandenburg v. 17.10.2013 – 12 U 55/13, r + s 2015, 41 = BeckRS 2013, 18227. 86 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 23; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 41. 87 BGH v. 29.9.1992 – XI ZR 265/91, NJW 1992, 3235, 3236; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 24.

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Rz. 38 § 309 BGB

b) Haftungsausschlüsse und § 307 Aus einer Einhaltung der Anforderungen von § 309 Nr. 7, 8 kann allerdings nicht im Umkehrschluss geschlossen werden, dass jede andere Haftungsbeschränkung zulässig ist, auch wenn die Vorschriften diesen Eindruck erwecken.88 Sie sind dann am Maßstab von § 307 zu messen, der von der Rspr. häufig für die Unwirksamkeit einer Haftungsfreizeichnung herangezogen wird. Eine unangemessene Benachteiligung durch die Haftungsfreizeichnung liegt nach st. Rspr. immer dann vor, wenn durch die Klausel wesentliche Rechte und Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben – sog. Kardinalspflichten – eingeschränkt werden und dadurch die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wird.89 Unwirksam ist deshalb jede Klausel, die zwar die Anforderungen von § 309 Nr. 7, 8 einhält, aber im Übrigen die Haftung für schuldhafte – also auch einfach fahrlässige – Pflichtverletzungen pauschal ausschließt.90 Es soll auch nicht ausreichen, von der Haftungsbeschränkung ausdrücklich den Fall auszunehmen, dass es sich bei der verletzten Pflicht um eine Kardinalpflicht handelt, weil ein juristischer Laie nicht transparent (§ 307 Abs. 1 Satz 2) nachvollziehen könne, was hierunter zu verstehen sein soll.91 Zulässig soll der Haftungsausschluss aber sein, wenn eine abstrakte Erläuterung des Begriffs der Kardinalpflicht nach der Definition der Rspr. vorgenommen wird.92

35

c) IT-Verträge Haftungsausschlüsse sind in AGB von IT-Unternehmen ein Klassiker, zumal häufig immer noch offen- 36 sichtlich unwirksame Klauseln (vor allem) bei ausländischen Software-Anbietern zum Einsatz kommen.93 Ein Musterbeispiel eines unwirksamen Haftungsausschlusses in AGB hatte das LG Berlin zu entscheiden.94 Im Übrigen wird hier aber vor allem relevant, ob bei IT-Verträgen generell ein anderer Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen ist (vgl. Rz. 37 f.) oder ob in konkreten Einzelfällen ein Haftungsausschluss möglich ist (hierzu Rz. 39 ff.). aa) Restriktive Auslegung bei IT-Verträgen? Es wird immer wieder diskutiert, ob Haftungsklauseln in IT-Verträgen nicht generell einer großzügi- 37 geren Inhaltskontrolle unterfallen, die zumindest dazu führt, dass die zu anderen Vertragsgegenständen ergangene Rechtsprechung nicht 1:1 übertragen werden kann.95 Diese Problematik wird insb. unter dem Stichwort „Software ist nie fehlerfrei“96 verortet, da ein Software-Ersteller nie ausschließen kann, fahrlässig Fehler in der Software zu integrieren. Letztlich entspricht es aber der h.M., dass IT-Verträgen zumindest keine generelle Haftungserleichterung zukommt, sondern eine solche Generalität nur bei gesetzlichen Haftungserleichterungen (z.B. §§ 8 ff. TMG) möglich ist.97 Klauseln, die die Haftung für grobes Verschulden, Körperschäden oder Kardinalspflichten generell ausschließen, sind daher auch in IT-Verträgen – sowohl im B2C- als auch B2B-Bereich – nach §§ 309 Nr. 7, 307 Abs. 2 Nr. 2 unwirksam. Im Hinblick auf die Klauselgestaltung stellt sich die Frage, ob ein Haftungsausschluss zwingend ausdrücklich klarstellen muss, dass die in Nr. 7 Buchst. a genannten Fälle ausgenommen sind. Dies 88 So auch BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 7 Rz. 20; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 7 BGB Rz. 3. 89 BGH v. 17.1.1985 – VII ZR 375/83, NJW 1985, 1165, 1166; BGH v. 5.12.1995 – X ZR 14/93, NJW-RR 1996, 783, 788; BGH v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292, 302; BGH v. 24.10.2001 – VIII ARZ 1/01, NJW 2002, 673, 674. 90 Redeker/Stögmüller, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.16 Rz. 131. 91 BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 121/04, CR 2006, 228 = ITRB 2006, 102. 92 BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 121/04, CR 2006, 22, 229 = ITRB 2006, 102. Klauselvorschlag z.B. bei Redeker/ Stögmüller, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.16 Rz. 119 i.V.m. Rz. 131. 93 Zahlreiche Praxisbeispiele enthält Marly, Softwarerecht, S. 753 ff. 94 LG Berlin v. 28.11.2014 – 15 0 601/12, CR 2015, 74, 77 m. Anm. Redeker. 95 In neuerer Zeit Brandi-Dohrn, CR 2014, 417 ff. Vgl. ferner Lehmann/Schmidt, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, Kap. XV Rz. 64. 96 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, A. Rz. 1362 ff. 97 Lehmann/Schmidt, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, Kap. XV Rz. 64; Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 425. Krit. aber Heussen, CR 2004, 1, 9 f.

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38

BGB § 309 Rz. 38 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit wird teilweise für Software-Verträge mit dem Argument verneint, dass Software i.d.R. nicht die dort genannten Rechtsgüter verletzen kann und daher nicht zu den „normalen Fallkonstellationen“ eines Haftungsfalls gehöre.98 Da es aber bei der AGB-Kontrolle um eine generelle Betrachtung geht, die alle denkbaren Fallkonstellationen erfasst, kann es hierauf nicht ankommen. Sollte es nämlich ausnahmsweise doch zu dem Fall einer Verletzung von Rechtsgütern nach Nr. 7 Buchst. a kommen, würde sich dann die Frage stellen, ob die Klausel auch hierfür gilt. Eine Unwirksamkeit im Einzelfall kennt die Klauselkontrolle nicht. bb) Einzelfälle 39

Für den Bereich der IT-Verträge werden die nachfolgenden Einzelfälle einer klauselmäßigen Haftungsbegrenzung diskutiert:

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Im Bereich der mietrechtlichen IT-Verträge ist von besonderer Bedeutung, dass die verschuldensunabhängige Haftung des § 536a Abs. 1 in AGB für Hard- und Software wirksam ausgeschlossen und von einem Vertretenmüssen abhängig gemacht werden kann, weil die verschuldensabhängige Haftung und nicht § 536a Abs. 1 dem gesetzlichen Leitbild entspricht.99

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Häufig diskutiert wird auch die Zulässigkeit von sog. Datensicherungs-Klauseln. Danach soll eine Haftung des Verwenders für einen Datenverlust ausscheiden, wenn der Kunde nicht regelmäßig Sicherungen (Backups) durchführt. Eine solche Klausel soll nach einer Ansicht wirksam sein, weil hiermit auch der EDV-unerfahrene Kunde auf seine Vorsorgemaßnahmen hingewiesen werde und die Klausel damit nur konkretisiere, was sich ohnehin aus den Mitwirkungspflichten ergebe.100 Eine solche Klausel verstößt aber gegen Nr. 7 Buchst. b und ist damit unwirksam, weil sie ein Mitverschulden (§ 254) von 100 % auch in Fällen annimmt, in denen dem Verwender grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist.101 Selbst eine bloße prozentuale Beschränkung der Haftung scheidet aus, da in der Rspr. sogar Fälle anerkannt sind, in denen das Mitverschulden einer Partei an der Schadensentstehung völlig unberücksichtigt gelassen werden kann.102 Eine solche Klausel würde dieses gesetzliche Leitbild damit ins Gegenteil umkehren und im Grundsatz von einem 100%igen Mitverschulden ausgehen. Dabei ist selbst in Fällen, in denen dem Verwender für den Datenverlust nur einfache Fahrlässigkeit zur Last zu legen ist, nicht zwangsläufig ein Mitverschulden von 100 % zu folgern. Eine solche Klausel stellt damit faktisch einen unzulässigen Haftungsausschluss dar und ist daher unwirksam.103 Zulässig ist nur eine Klausel, die konkretisiert, dass die Nichtvornahme von Sicherungen zu einem Mitverschulden führt.104 Unwirksam ist ferner in den AGB eines Cloud-Anbieters ein genereller Haftungsausschluss für einen Datenverlust, da der sorgfältige Umgang mit den Daten des Cloud-Kunden zu seinen Kardinalspflichten gehört.105

42

Aufgrund des bei IT-Verträgen besonders virulenten Haftungsrisikos wird immer wieder diskutiert, ob nicht zumindest Haftungshöchstsummen unter der Geltung von § 309 Nr. 7 bzw. § 307 zulässigerweise vereinbart werden können.106 Die Rspr. hat dieser Begrenzung der Höhe nach bei Verträgen gegenüber Verbrauchern immer wieder eine Absage erteilt und entsprechende Klauseln für unwirksam er98 Marly, Softwarerecht, Rz. 1849. 99 BGH v. 27.1.1993 – XII ZR 141/91, NJW-RR 1993, 519, 520; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Hau, Klauseln (M) Rz. M 38; Redeker/Gerlach, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.8 Rz. 267. 100 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 137 f.; Lehmann/Schmidt, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, Kap. XV Rz. 61; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 157 f.; Jaeger, MDR 1992, 96, 100. 101 Ähnl. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 158; Auer-Reinsdorff/Conrad/ Redeker, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 16 Rz. 111. 102 Vgl. BGH v. 20.1.1998 – VI ZR 59/97, NJW 1998, 1137. 103 Ähnl. OLG Hamm v. 10.5.1999 – 13 U 95/98, CR 2000, 289, 290, wonach ein Haftungsausschluss für einen Datenverlust unwirksam ist, weil es sich um eine Kardinalspflicht handelt, soweit die EDV eine Datensicherungs- bzw. Backup-Funktion enthält. Ähnl. auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1857. 104 So auch Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 103 u. 106. 105 Wicker, MMR 2014, 787, 788. 106 Lehmann/Schmidt, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, Kap. XV Rz. 60; Schneider/ Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, K. Haftungsfreizeichnung Rz. 60 ff.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 45 § 309 BGB

klärt.107 In Anbetracht dessen, dass es dem IT-Anbieter bei komplexen IT-Projekten nahezu unmöglich ist, die Haftungsrisiken vorab zu bewerten, dürfte eine summenmäßige Begrenzung der Haftung für leichte Fahrlässigkeit sowohl gegenüber Verbrauchern als auch Unternehmern grds. zulässig sein und nicht gegen § 307 verstoßen.108 Unwirksam ist die Klausel aber nach § 309 Nr. 7, wenn die Haftungshöchstsumme auch für grobes Verschulden, Vorsatz oder Körperschäden gelten soll. Hinsichtlich der Abwägung der zulässigen Höhe der Haftungssumme dürfte es auf den Einzelfall, namentlich das konkrete IT-Projekt, die damit einhergehenden Haftungsrisiken und die Versicherbarkeit, ankommen. Eine generelle Zulässigkeit einer Begrenzung auf die Auftragssumme erscheint nicht sachgerecht.109 Insb. bei einem Cloud-Anbieter dürfte eine Begrenzung der Haftung für einen Datenverlust auf die Auftragssumme regelmäßig zu niedrig sein.110 Bei Open Source Software ist zu beachten, dass die Haftung – soweit es sich um eine Schenkung handelt – ohnehin bereits über § 521 auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist; eine darüber hinausgehende Beschränkung in AGB ist unwirksam.111

43

8. Sonstige Haftungsausschlüsse bei Pflichtverletzung (§ 309 Nr. 8) Entgegen der irreführenden Überschrift behandelt die Vorschrift keine echten Haftungsausschlüsse (hierfür gilt Nr. 7), sondern Beschränkungen der Gewährleistungsansprüche aus den §§ 437, 634. Die Vorschrift ist unterteilt in Klauselverbote betreffend Lösungsrechte (also insb. Kündigungs- und Rücktrittsrechte) in Buchst. a und Beschränkungen von Mängelrechten (also insb. der Nacherfüllung) in Buchst. b.

44

Die Vorschriften – mit Ausnahme von Buchst. b Buchst. ee – sind alle auf den Geschäftsverkehr zwi- 45 schen Unternehmen über § 307 entsprechend anwendbar.112 Für die Mängelrügefristen ergibt sich hingegen schon aus § 377 HGB, dass die Bestimmungen auf den Geschäftsverkehr nicht übertragen werden können.113 Hier gilt vielmehr der Grundsatz, dass Klauseln für erkennbare Mängel sich am gesetzlichen Leitbild von § 377 HGB orientieren müssen (vgl. hierzu § 307 Rz. 30) und Klauseln für nicht erkennbare Mängel allenfalls im Umfang von Nr. 8 Buchst. b Buchst. ff möglich sind.114

107 Vgl. nur BGH v. 28.4.1983 – VII ZR 267/82, BB 1983, 2015; BGH v. 11.11.1992 – VIII ZR 238/91, NJW 1993, 335; BGH v. 19.2.1998 – I ZR 233/95, NJW-RR 1998, 1426, 1429; BGH v. 21.1.1999 – III ZR 289/97, NJW 1999, 1031; BGH v. 4.7.2013 – VII ZR 249/12, NJW 2013, 2502; OLG München v. 2.3.1994 – 7 U 5918/93, NJW-RR 1994, 742. Zu mittelbaren Schäden und Folgeschäden OLG Stuttgart v. 22.4.1988 – 2 U 219/87, NJW-RR 1988, 1082. 108 So auch Lehmann/Schmidt, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, Kap. XV Rz. 60; Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 425 f. A.A. Schneider/Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, K. Haftungsfreizeichnung Rz. 62, der aber zu einem Individualvertrag gelangt, wenn die Klausel für die Höchstbegrenzung ein Leerfeld vorsieht, das von den Parteien ausgefüllt wird. 109 Vgl. BGH v. 4.7.2013 – VII ZR 249/12, NJW 2013, 2502. A.A. Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 425 f. 110 Meier/Wehlau, NJW 1998, 1585, 1587; Wicker, MMR 2014, 787, 788. 111 Redeker/Jaeger, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.20 Rz. 104; Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 224 ff. 112 Zusammenfassend BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 8 Rz. 19. Im Einzelnen BGH v. 20.3.2003 – I ZR 225/00, NJW-RR 2003, 1056, 1059 f. für Buchst. a; BGH v. 12.1.1994 – VIII ZR 165/92, NJW 1994, 1060, 1066 für Buchst. b Buchst. aa; BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2438 = CR 1993, 681 für Buchst. b Buchst. bb; BGH v. 9.4.1981 – VII ZR 194/80, NJW 1981, 1510 für Bucht. b Buchst. cc; BGH v. 18.9.19867 – VII ZR 52/65, NJW 1968, 44, 45 für Buchst. b Buchst. dd; BGH v. 8.3.1984 – VII ZR 349/82, NJW 1984, 1750, 1751 für Buchst. b Buchst. ff. Kritisch zur Indizwirkung von Nr. 8 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/ Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. a BGB Rz. 60, § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa Rz. 72. 113 H.L., vgl. nur Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 97; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ee BGB Rz. 73 jeweils m.w.N. A.A. BGH v. 28.10.2004 – VII ZR 385/02, NJW-RR 2005, 247, der eine Indizwirkung auch in Fällen annehmen will, in denen § 377 HGB ausdrücklich anwendbar ist. 114 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ee BGB Rz. 74 ff. Ähnl. mit Ausn. für Einzelfälle Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 97.

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BGB § 309 Rz. 46 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit a) Schutz des Lösungsrechts (Nr. 8 Buchst. a) 46

Das Klauselverbot gilt für alle Arten von Verträgen, bei Werk- und Kaufverträgen ist jedoch Nr. 8 Buchst. bb lex specialis.115 Danach ist jede Klausel unwirksam, die das Lösungsrecht für Fälle schuldhafter Pflichtverletzungen des Verwenders ausschließt oder einschränkt. Lösungsrechte sind insb. Rücktrittsrechte des Kunden nach §§ 323, 324 und 326 Abs. 5 und Kündigungsrechte nach §§ 314, 543.116 Durch die Beschränkung auf schuldhafte Pflichtverletzungen liegt kein Verstoß vor, wenn gesetzliche Lösungsrechte für den Fall unverschuldeter Pflichtverletzungen ausgeschlossen werden; § 307 bleibt aber anwendbar.117 Ein Ausschluss des Lösungsrechts liegt bspw. vor, wenn nach der Klausel eine Kündigungsmöglichkeit nur bei höherer Gewalt gewährt werden soll.118 Ein Fall der Einschränkung ist anzunehmen, wenn das Lösungsrecht von zusätzlichen, gesetzlich nicht vorgesehenen Voraussetzungen abhängig gemacht wird (z.B. einer Mahnung oder Nachfrist) oder die Ausübung des Lösungsrechts zu nachteiligen Rechtsfolgen führt.119 b) Gewährleistungsrechte (Nr. 8 Buchst. b)

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Die Vorschrift erfasst lediglich Kaufverträge über neu hergestellte Sachen und Werkleistungen, also vor allem Werkverträge. Denn „Lieferung“ meint nur die Überlassung zum Zweck der Übereignung und sollte nach dem Willen des Gesetzgebers nicht zur Erstreckung auf sämtliche Gebrauchsüberlassungsverträge (z.B. das IT-Leasing) führen.120 Handelt es sich um einen Verbrauchsgüterkauf, sind hier die zwingenden Vorschriften der §§ 474 ff. vorrangig zu beachten, so dass letztlich nur ein relativ kleiner Anwendungsbereich verbleibt. Für alle anderen Vertragstypen und bei gebrauchten Kaufsachen ist die Zulässigkeit entsprechender Klauseln anhand von § 307 zu prüfen.121 Zur Frage, ob und wann Software eine „neu hergestellte Sache“ ist, vgl. Rz. 54.

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Nach Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa sind zum einen sog. Ausschlussklauseln unwirksam, durch die die Mängelansprüche des Kunden insgesamt oder bzgl. einzelner Teile ausgeschlossen werden. Hiermit sind insb. die Ansprüche aus den §§ 437, 634 adressiert. Einen Ausschluss von Mängelansprüchen kann nicht nur ausdrücklich erfolgen, sondern auch dadurch entstehen, dass die Geltendmachung von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht wird, also z.B. die Kaufsache nicht vom Käufer beschädigt oder geöffnet worden sein darf 122 oder Werkleistungen nicht von einem Dritthandwerker nachbearbeitet werden dürfen.123 Ferner erfasst die Vorschrift sog. Verweisungsklauseln, durch die der Verwender die Mängelansprüche durch Rechte gegen Dritte ersetzt. Dies umfasst in der Praxis fast ausschließlich Leasingverträge, auf die die Vorschrift aber keine Anwendung findet.124 Die dritte Fallgruppe umfasst die sog. Subsidiaritätsklauseln, nach denen Mängelansprüche von der vorherigen gerichtlichen Inanspruchnahme Dritter abhängig gemacht werden. Aus dem Umkehrschluss zum Wortlaut ergibt sich, dass eine Klausel wirksam ist, nach der zuvor eine außergerichtliche Inanspruchnahme Dritter notwendig ist, soweit durch die Klausel deutlich wird, dass dies nicht die Inanspruchnahme von Rechtsmitteln verlangt.125

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Nach Nr. 8 Buchst. b Buchst. bb ist eine Klausel unwirksam, soweit eine Beschränkung auf ein Recht der Nacherfüllung erfolgt, ohne ausdrücklich das Recht vorzubehalten, die Vergütung zu mindern oder vom Vertrag zurückzutreten. Die Vorschrift ist insoweit irreführend, als der Ausschluss von Rücktritt und Minderung ohnehin nach Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa unwirksam und daher nicht Gegenstand der

115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

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Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 51. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. a BGB Rz. 12. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. a BGB Rz. 17. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. a BGB Rz. 31. Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. a BGB Rz. 32 ff. BGH v. 24.4.1985 – VIII ZR 65/84, NJW 1985, 1547, 1549; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 22; MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 14. A.A. Söbbing, ITRB 2010, 236, 237 f. MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 13. BGH v. 28.11.1979 – VIII ZR 317/78, NJW 1980, 831. OLG Karlsruhe v. 29.7.1983 – 15 U 85/83, ZIP 1983, 1091. MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 28. MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 29 ff.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 53 § 309 BGB

Regelung ist.126 Positiv formuliert will die Vorschrift festhalten, dass die Beschränkung auf eine Art der Nacherfüllung (Nachlieferung bzw. Nachbesserung) zulässig ist, soweit nach dem Fehlschlagen dieser Art der Nacherfüllung ein Rücktritt bzw. eine Minderung möglich ist und hierauf ausdrücklich in der Klausel hingewiesen wird.127 Nach Nr. 8 Buchst. b Buchst. cc ist eine Klausel unwirksam, nach der die Kosten der Nacherfüllung ganz oder teilweise nicht vom Verwender zu tragen sein sollen. Während die Vorschrift früher nur einzelne Kosten der Nacherfüllung aufführte (z.B. Transportkosten, Arbeitskosten) werden in der Fassung seit 1.1.2018 in AGB abweichende Regelungen konkret in Bezug auf die §§ 439 Abs. 2, 3 und § 635 Abs. 2 ausgeschlossen.128 Für den Umfang der erforderlichen Nacherfüllungsaufwendungen kommt es daher auf den Umfang nach diesen Normen an (vgl. § 439 Rz. 9 sowie § 635 Rz. 14 ff.).129

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Durch Nr. 8 Buchst. b Buchst. dd wird eine Klausel unwirksam, die die Nacherfüllung von der voll- 51 ständigen Zahlung des Entgelts oder eines unverhältnismäßig hohen Teils davon abhängig macht. Das Klauselverbot hat in der Praxis keine Bedeutung, weil die Vorschrift nicht den Fall erfasst, dass der Kunde den Kaufpreis oder die Vergütung bereits voll vorgeleistet hat (Vorleistungspflicht). Hat er den Kaufpreis hingegen noch nicht gezahlt, wird er i.d.R in einem gegen ihn gerichteten Prozess die Mangelhaftigkeit über § 320 einwenden und ist hier bereits durch § 309 Nr. 2 ausreichend geschützt.130 Soweit es auf den „unverhältnismäßig hohen Teil des Entgelts“ doch einmal ankommt, ist hier § 320 Abs. 2 als Richtschnur für die Abwägung heranzuziehen.131 Gemäß Nr. 8 Buchst. b Buchst. ee darf dem Kunden für die Anzeige von nicht offensichtlichen Mängeln keine Ausschlussfrist unterhalb der maximal zulässigen Verjährungsverkürzung nach Nr. 8 Buchst. b Buchst. ff gesetzt werden. Die Vorschrift enthält damit zunächst die positive Aussage, dass Ausschlussfristen für offensichtliche Mängel in den Grenzen von § 307 grds. zulässig sind.132 Im Ergebnis hat die Norm aber fast keinen praktischen Anwendungsbereich: Handelt es sich um einen Verbrauchsgüterkauf, ist eine Ausschlussfrist sowohl für offensichtliche als auch nicht offensichtliche Mängel ohnehin nach den §§ 474 ff. unzulässig.133 Handelt es sich um einen Vertrag mit einem Unternehmer, ist die Klausel direkt nicht (§ 310 Abs. 1) und über § 307 nur eingeschränkt anwendbar (vgl. Rz. 45). Für den verbleibenden Anwendungsbereich erzielt der Verwender den gleichen Effekt, wenn er die Verjährung verkürzt, da die Norm auf die Länge von Nr. 8 Buchts. b Buchst. ff verweist.134

52

Die Vorschrift Nr. 8 Buchst. b Buchst. ff verbietet zum einen generell die Verkürzung der fünfjähri- 53 gen Verjährung bei Bauwerken aus § 438 Abs. 1 Nr. 2 und § 634a Abs. 1 Nr. 2 und zum anderen in den sonstigen Fällen eine weniger als ein Jahr betragende Verjährungsfrist ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn. Mit den „sonstigen Fällen“ sind ebenfalls nur die Verjährungsregeln der §§ 438, 634a gemeint.135 Unzulässig sind neben der ausdrücklichen Bestimmung einer kürzeren Verjährungsfrist auch indirekte Klauseln, die den Beginn der Verjährung vor den in § 438 Abs. 2, 3, 634a Abs. 2, 3 bezeichneten Zeitpunkt legen (z.B. den Bereitstellungszeitpunkt)136 oder die Verjährungshemmung nach § 203 BGB ausschließen.137 Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Verkürzung der Verjährung häufig auch zu einer unwirksamen Haftungsbegrenzung nach Nr. 7 in zeitlicher Hinsicht führen kann.138

126 Erman/Roloff, § 309 BGB Rz. 100. 127 Erman/Roloff, § 309 BGB Rz. 100. Zur Frage, wann die Nacherfüllung fehlgeschlagen ist, vgl. Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 59 ff. 128 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 54. 129 Ferner BeckOK BGB/Faust, § 439 Rz. 42 ff. 130 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 81. 131 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 84. 132 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 88. 133 BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, NJW 2013, 1431, 1434. 134 So im Ergebnis auch Erman/Roloff, § 309 BGB Rz. 113. 135 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 100. 136 LG Karlsruhe v. 22.10.1990 – 10 O 210/90, VuR 1991, 129. 137 BGH v. 27.9.2000 – VIII ZR 155/99, NJW 2001, 292, 301. 138 Vgl. hierzu BGH v. 15.11.2006 – VIII ZR 3/06, CR 2007, 351, 352 f.; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 130.

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BGB § 309 Rz. 54 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit c) IT-Verträge aa) Anwendungsbereich 54

Nr. 8 Buchst. b erfasst nach seinem Wortlaut nur „neu hergestellte Sachen“. Insoweit stellt sich hier die Frage, ob auch Software – insb. wenn sie nicht auf einem Datenträger verkörpert ist – vom Anwendungsbereich der Norm erfasst wird. Es entspricht allerdings mittlerweile allgemeiner Meinung, dass der Sachbegriff des Gewährleistungsrechts und damit auch des § 309 Nr. 8 nicht streng an §§ 90, 90a festzumachen ist, sondern u.a. auch immaterielle Rechtsgüter erfasst sind. Daher gehört auch Standardsoftware zu den „neu hergestellten Sachen“.139 Eine Individualsoftware ist i.d.R. eine Werkleistung und fällt bereits schon deshalb unter den Anwendungsbereich der Norm.140 Fraglich ist aber, ob auch Gebrauchtsoftware eine „neu hergestellte Sache“ ist. Entscheidend dürfte hier nicht sein, ob die Software bereits einmal genutzt wurde, da Software keine Abnutzungserscheinungen kennt. Vielmehr muss es darauf ankommen, ob der Erwerber seine Nutzungsrechte direkt vom Urheber ableitet oder von einem vom Urheber unabhängigen Dritten, also z.B. dem Ersterwerber.141 Für „gebrauchte“ Open Source Software bedeutet dies, dass diese stets eine „neu hergestellte Sache ist“, weil der Veräußerer sein Nutzungsrecht nicht aufgibt und der Erwerber sein Nutzungsrecht direkt vom Urheber ableitet.142 Für klassische, kommerzielle Gebrauchtsoftware scheidet hingegen eine Anwendung von Nr. 8 Buchst. b aus, da das Nutzungsrecht nicht vom Urheber erworben wird. Die Zulässigkeit von Gewährleistungsbeschränkungen richtet sich dann nach § 307. bb) Einzelfragen

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Ausschlussfristen und bestimmte Mängelanzeigepflichten sind in IT-Verträgen mit Verbrauchern i.d.R. unzulässig. Für Ausschlussfristen für nicht offensichtliche Mängel bei Kauf- und Werkverträgen folgt dies direkt aus § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ee. Im Übrigen gilt dies darüber hinaus aber für alle Arten von Mängeln beim Verbrauchsgüterkauf durch § 476.143 Bei Rüge- und Ausschlussfristen beim IT-Leasing findet § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ee zwar keine direkte Anwendung (Mietrecht), die Vorschrift ist aber über § 307 entsprechend anwendbar.144 Keine Anwendung findet § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ee hingegen auf den für IT-Verträge relevanteren Teil der Anforderungen an die Mängelanzeige, da es sich hierbei um keine Ausschlussfrist, sondern nur um ein „Hindernis“ für die Mängelanzeige handelt. Die Zulässigkeit richtet sich hier nach § 307: Angesichts der Komplexität von Hard- und Software kann vom Verbraucher durch AGB nicht verlangt werden, dass er die Mangelursache benennt oder den Mangel an der Hard- oder Software exakt bezeichnet.145 In AGB darf vielmehr nur verlangt werden, dass die Symptome, sowie die angezeigten Fehlermeldungen und Fehlernummern der Hard- und Software bei der Mängelanzeige präzise geschildert werden müssen.146 Unwirksam nach § 307 ist auch im unternehmerischen Verkehr eine Klausel, die vom Kunden vor dem Tätigwerden eine konkrete Benennung der Mängelursache oder einen reproduzierbaren Mangel verlangt, da dies häufig erst mit vertieften IT-Kenntnissen möglich ist, dadurch eine deutliche Verschärfung gegenüber § 377 HGB darstellt und damit die Gewährleistungsrechte faktisch ausgeschlossen werden könnten.147 Für Formerfordernisse vgl. ferner Rz. 81 ff. 139 Grundlegend BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, NJW 1988, 406 = CR 1988, 994 m. Anm. Ruppelt m.w.N. der älteren Literatur; speziell zur Vorgängernorm § 11 Nr. 10 AGBG OLG Frankfurt v. 18.8.1998 – 5 U 145/97, CR 1999, 73, 74; Erman/Roloff, § 309 BGB Rz. 87; MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 14; Deike, CR 2003, 9, 14. 140 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 8 BGB Rz. 21 Fn. 59. 141 Ähnl. Deike, CR 2003, 9, 14. 142 Deike, CR 2003, 9, 14. 143 LG Hamburg v. 5.9.2003 – 324 O 224/03, CR 2004, 136, 138 m. Anm. Föhlisch; Marly, Softwarerecht, Rz. 1898. 144 Marly, Softwarerecht, Rz. 1913. 145 Marly, Softwarerecht, Rz. 1899. 146 Ähnl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1899. 147 Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 92; Marly, Softwarerecht, Rz. 1893; Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 83; Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 103; Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 103. Vgl. auch BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 276/13, CR 2014, 568 = ITRB 2014, 198.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 58 § 309 BGB

Im Hinblick auf Nr. 8 Buchst. b Buchst. cc ist fraglich, inwieweit der Auftragnehmer bei einem Pfle- 56 ge- oder Wartungsvertrag berechtigt ist, durch AGB Reisekosten und Spesen für einen Vor-OrtEinsatz vorzusehen. Teilweise wird eine solche Klausel für unwirksam gehalten, weil die Mangelbeseitigung die Hauptpflicht des Pflegevertrages sei bzw. beim Softwareüberlassungsvertrag zu den Kosten der Nacherfüllung nach § 439 Abs. 2 gehöre.148 Richtigerweise sind hier die zwei Verträge getrennt zu betrachten: Ein Verstoß gegen Nr. 8 Buchst. b Buchst. cc liegt nicht vor, weil der Pflegevertrag kein Kauf- oder Werkvertrag, zumindest aber die Mängelbeseitigung Hauptpflicht des Vertrages ist. Eine Unwirksamkeit kommt damit nur in Betracht, wenn Softwareüberlassungs- und Pflegevertrag einen einheitlichen Vertrag bilden und die Regelung dadurch zwingend auch für die Nacherfüllungsansprüche gilt.149 Handelt es sich hingegen um einen reinen Software-Überlassungsvertrag, ist eine Klausel, nach der die Nacherfüllungskosten (§ 439 Abs. 2, 3) vom Kunden zu tragen sind, unwirksam.150 Das gilt grundsätzlich auch bei Verträgen mit Unternehmern.151 Problematisch im Hinblick auf Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa sind sog. Fehlerumgehungsklauseln.152 57 Diese regeln die Problematik, dass insb. bei einer Standardsoftware bei einzelnen Anwendern Fehler auftreten können, ohne dass der Softwareersteller in der Lage ist, für jeden einzelnen Fehler unmittelbar ein Patch oder Update i.R.d. Nacherfüllung zur Verfügung zu stellen. Eine solche Klausel sieht deshalb vor, dass auch die Problemlösung, die zwar nicht den Fehler beseitigt, aber einen Einsatz im alltäglichen Ablauf zulässt (= Fehlerumgehung), als Nacherfüllung zu qualifizieren ist. Teilweise wird eine solche Klausel für zulässig gehalten, weil sie letztlich eine für den Kunden zumutbare Mängelbeseitigung darstelle.153 Richtigerweise kann hierin aber je nach Ausgestaltung ein Verstoß gegen Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa liegen.154 Denn soweit die Fehlerumgehung dazu führt, dass die Software weder funktionelle noch sicherheitsrelevante Auffälligkeiten in der Verwendung zeigt, stellt dies eine – auch ohne Klausel – zulässige Art der Nacherfüllung dar, weil die Software sich dann nicht mehr unter den Mangelbegriff des § 434 Abs. 1 subsumieren lässt. Soll die Klausel diese Rechte hingegen dahingehend erweitern, dass die Fehlerumgehung als Nacherfüllung „gilt“,155 kann dies nach § 305c Abs. 2 zu Lasten des Verwenders auch dahingehend ausgelegt werden, dass auch Fehlerumgehungen als Nacherfüllung gelten sollen, die den Mangel nicht beheben. Die Klausel verstößt dann aber gegen Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa. Zulässig gegenüber Unternehmern wegen Branchenüblichkeit – nicht hingegen gegenüber Verbrauchern – dürften Klauseln sein, die die Fehlerumgehung der eigentlichen Nacherfüllung vorschalten wollen.156 Fraglich ist, ob wegen der besonderen Komplexität bei IT-Verträgen der klauselmäßige Ausschluss des Wahlrechts aus § 439 Abs. 1 möglich ist. Vielfach wird argumentiert, eine Klausel, die das Wahlrecht dem Verkäufer gebe, sei wirksam und interessengerecht, weil nur dieser das erforderliche Knowhow zur Beurteilung der besten Art der Mängelbeseitigung habe.157 Zwar ist zuzugeben, dass der Verkäufer von Hardware in der Regel besser beurteilen kann, ob nur eine defekte Komponente der Hardware repariert oder direkt die komplette Hardware ausgetauscht werden sollte. Allerdings lässt sich diese Argumentation faktisch auf jedes Produkt übertragen. Teilweise wird eine solche Klausel außerhalb des unternehmerischen Verkehrs daher für generell unwirksam gehalten, weil sie faktisch die Mängelansprüche in Teilen ausschließt.158 Im Ergebnis zeigen sich hier aber keine Unterschiede zu anderen Waren: Außerhalb des unternehmerischen Verkehrs ist nach Nr. 8 Buchst. b Buchst. bb ein Ausschluss des Wahlrechts zulässig, soweit dem Kunden ausdrücklich das Recht vorbehalten wird, bei 148 In diese Richtung Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 122; Schneider/ Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, P. Rz. 246. Ähnl. Bartl, CR 1985, 13, 19. 149 A.A. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, P. Rz. 246, die dies für den Regelfall halten. 150 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 103; Hoeren, CR 2017, 281, 282. 151 Hoeren, CR 2017, 281, 282. 152 Vgl. hierzu ausf. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 113. 153 Redeker, ITRB 2004, 163, 164. 154 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl., D. Rz. 604 ff. 155 So das Klauselbeispiel bei Redeker, ITRB 2004, 163, 164. 156 Ähnl. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 113. 157 So Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 109; Auer-Reinsdorff/Conrad/Redeker, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 16 Rz. 55 f.; Roth, ITRB 2003, 231, 233. 158 Koch, ITRB 2003, 87, 88.

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BGB § 309 Rz. 58 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit Fehlschlagen der Nacherfüllung zu mindern oder zurückzutreten (vgl. Rz. 49). Handelt es sich bei dem Vertragspartner um einen Verbraucher, führt hier allerdings § 475 gleichwohl zur Unwirksamkeit.159 Ob es dem Verwender eines IT-Vertrages über Hard- oder Software besser möglich ist, die effektivste Nacherfüllungsalternative auszuwählen, ist insoweit unerheblich. Gegenüber Unternehmern dürfte angesichts der Wertungen von Nr. 8 Buchst. b Buchst. bb über § 307 Abs. 2 Nr. 1 nichts anderes gelten. Der Ausschluss des Wahlrechts ist zulässig, soweit dem Kunden bei Fehlschlagen der Nacherfüllung die Möglichkeit zu Rücktritt und Minderung offen bleibt.160 Hierauf muss jedoch, im Gegensatz zu Verträgen mit Verbrauchern, nicht ausdrücklich hingewiesen werden.161 Die Unwirksamkeit kann sich aber auch hier aus § 478 Abs. 4, 5 ergeben, wenn die Lieferkette für die EDV bei einem Verbraucher endet. 59

Teilweise wird empfohlen, bei IT-Verträgen in AGB eine Nachfristsetzung mit Ablehnungsandrohung verpflichtend vorzusehen. Dies soll dazu führen, dass der Kunde nur dann vom Vertrag zurücktreten oder Schadensersatz verlangen kann, wenn er dies dem AGB-Verwender spätestens zum Zeitpunkt der Fristsetzung mitgeteilt hat. Mit einer solchen Konstruktion wird versucht, die Rechtslage des alten Schuldrechts nach § 326 Abs. 1 a.F. zu retten. Eine solche Klausel ist wegen Verstoß gegen Nr. 8 Buchst. a und Buchst. b Buchst. aa bzw. gegenüber Unternehmern nach § 307 unwirksam, da – auch bei Software-Verträgen162 – kein erkennbares, schützenswertes Interesse hieran besteht, dem Kunden Hürden vor Geltendmachung seiner Rechte zu stellen.163 Unwirksam dürften ferner vergleichbare Regelungen sein, wie bspw. die Geltendmachung von Sekundärrechten von weiteren Fristsetzungen abhängig zu machen.164

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Unter dem Stichwort „Software ist nie fehlerfrei“165 werden sowohl bei der dauerhaften als auch befristeten Softwareüberlassung Klauseln diskutiert, nach denen der Kunde die Software als „ordnungsgemäß“, „zweckentsprechend“ oder „zum vertragsgemäßen Gebrauch tauglich“ anerkennt oder bestätigt, dass ihm bekannt ist, dass „Software naturgemäß mit Fehlern behaftet ist“ und deshalb hieraus keine Rechte hergeleitet werden können. Solche Klauseln stellen eine faktische Gewährleistungsbeschränkung dar und sind daher sowohl bei Softwaremiete166 (§ 307 Abs. 2) als auch Softwarekauf 167 (§ 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. bb) unwirksam.

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Die meisten Open-Source-Lizenzbedingungen sehen einen pauschalen und vollständigen Gewährleistungsausschluss vor, zum Teil auch einen Ausschluss jeglicher Haftung (vgl. z.B. Nr. 11 GPLv2). Dieser Ausschluss stellt nach ganz h.L. einen Verstoß gegen Nr. 8 Buchst. b Buchst. aa und im unternehmerischen Verkehr einen Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 dar.168 Denn zwar handelt es sich beim Open-Source-Vertrag nach h.M. um eine Schenkung. Der Verwender wird hier jedoch bereits durch die Beschränkung der Gewährleitungsrechte nach §§ 523, 524 ausreichend geschützt. Eine weitergehende Einschränkung ist daher nicht interessengerecht und damit unwirksam.169

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Bei als Kauf- und Werkvertrag einzuordnen IT-Verträgen wird im unternehmerischen Verkehr eine Verkürzung der Verjährung auf ein Jahr mit Blick auf die Indizwirkung der Mindestverjährung in

159 Koch, ITRB 2003, 87, 88. 160 Ähnl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Redeker, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 16 Rz. 50 i.V.m. Rz. 55; Bauer/Witzel, ITRB 2003, 109, 110; Redeker, ITRB 2004, 163, 164 mit dem Hinweis, dass dies allerdings „nicht zum empfehlen“ ist, weil sich der Verwender dadurch ggf. nicht mehr auf § 439 Abs. 3 berufen kann. A.A. Auer-Reinsdorff/Conrad/Schneider/Conrad, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 112; Koch, ITRB 2003, 87, 88 f. 161 Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. cc BGB Rz. 56. 162 A.A. wohl Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 123 Fn. 3. 163 Ähnl. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 123 ff. m.w.N.; Lapp, ITRB 2004, 262, 263 f.; Schneider, ITRB 2007, 24, 27. 164 A.A. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 124 ff. 165 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, A. Rz. 136 ff. 166 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 165. 167 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 45. 168 Jaeger/Metzger, Open Source Software, Rz. 220 ff.; Brandi-Dohrn, CR 2014, 417, 426 jeweils m.w.N. 169 Redeker/Jaeger, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.20 Rz. 97.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 65 § 309 BGB

§ 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ff noch für wirksam gehalten.170 Zu beachten ist aber bei der Formulierung das Risiko einer indirekten und nach § 309 Nr. 7 unzulässigen Haftungsbegrenzung. Die Verkürzung auf eine einjährige Verjährungsfrist ist aber nach § 307 unwirksam, wenn ein Mangel nach § 438 Abs. 1 Nr. 1 vorliegt.171 Hierzu dürfte auch die Fallgruppe gehören, dass (Gebraucht-)Software mangelhaft ist, weil ein Dritter (i.d.R. der Urheber) Urheberrechtsansprüche nach den §§ 97 ff. UrhG geltend macht.172 Eine generelle Verkürzung der Verjährung auf ein Jahr würde damit regelmäßig dazu führen, dass kein Gewährleistungsanspruch bei einer später auftretenden, urheberrechtlichen Inanspruchnahme des Software-Kunden möglich ist. Vor diesem Hintergrund ist eine pauschale Verkürzung der Verjährung auf ein Jahr bei Softwareüberlassungsverträgen unwirksam, wenn sie nicht Fälle des § 438 Abs. 1 Nr. 1 ausnimmt. Für Klauseln, die eine Verlängerung der Verjährung vorsehen, vgl. § 307 Rz. 31. 9. Laufzeit bei Dauerschuldverhältnissen (§ 309 Nr. 9) a) Allgemeines Die Überschrift suggeriert, dass die Vorschrift Maximallaufzeiten für sämtliche Dauerschuldverhältnisse vorschreibt. Tatsächlich erfasst sind hingegen nur die in der Norm ausdrücklich aufgezählten, womit das Klauselverbot im Umkehrschluss keine Anwendung auf klassische Dauerschuldverhältnisse wie z.B. Miete, Pacht oder Leasing findet.173 Die Vorschrift findet zudem keine Anwendung auf Gebrauchsüberlassungsverträge, bei denen das mietvertragliche Element überwiegt.174

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Auf den unternehmerischen Verkehr lässt sich § 309 Nr. 9 weder direkt noch indirekt über § 307 anwenden.175 Denn die Vorschrift dient ausschließlich dem Schutz der Verbraucher und will keine Indizwirkung für alle Rechtsgeschäfte entfalten.176 Die Angemessenheit der Vertragslaufzeit ist hier über § 307 vielmehr autonom zu bestimmen anhand von wirtschaftlichen Kriterien, wobei hier insb. das Amortisationsinteresse im Vordergrund stehen wird.177

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Das Klauselverbot enthält mit den Buchst. a bis c insgesamt drei kumulativ geltende Regelungen: Die 65 erste Vertragslaufzeit darf zwei Jahre nicht überschreiten (Buchst. a). Hat der Kunde ein Wahlrecht bei der Laufzeit, dürfte die Zwei-Jahresfrist gleichwohl Anwendung finden, wenn die kürzere Laufzeit mit anderen Konditionen verbunden ist.178 Die erste und jede weitere Vertragslaufzeit darf sich stillschweigend nicht um mehr als ein Jahr verlängern (Buchst. b).179 Zudem darf die Kündigungsfrist nicht mehr als drei Monate betragen (Buchst. c). Dies erfasst neben der ersten und der stillschweigend verlängerten Vertragslaufzeit über eine analoge Anwendung auch Verträge ohne feste Laufzeit (= unbefristete Ver-

170 Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 121. 171 BT-Drucks. 14/6040, 159; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 8 Buchst. b Buchst. ff BGB Rz. 34. 172 Bislang gerichtlich ungeklärt. Wie hier Jauernig/Berger, § 438 BGB Rz. 6; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 13; Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 218. 173 BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 9 Rz. 7. 174 BGH v. 4.12.1996 – XII ZR 193/95, NJW 1997, 739; BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 9 Rz. 12. 175 BGH v. 15.3.2018 – III ZR 126/17, NJW-RR 2018, 683, 686; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 22; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 69. 176 BGH v. 8.12.2011 – VII ZR 111/11, NJW-RR 2012, 626, 627; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 22. Vgl. speziell zu Pflegeverträgen OLG Koblenz v. 12.1.2005 – 1 U 1009/04, CR 2005, 482 = ITRB 2005, 152. 177 BGH v. 8.12.2011 – VII ZR 111/11, NJW-RR 2012, 626, 627; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 22. 178 BGH v. 12.3.2009 – III ZR 142/08, NJW 2009, 1738, 1740 deutet eine kontrollfreie Individualvereinbarung an. Ähnl. wie hier BGH v. 15.3.2018 – III ZR 126/17, NJW-RR 2018, 683, 686 für eine Regelung gegenüber Unternehmern. Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 13 hält Anwendbarkeit für gegeben, soweit vorformulierte Auswahlalternativen. Ähnl. wie hier Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 65. 179 Ausf. zu Verlängerungsklauseln auch mit Blick auf §§ 308 Nr. 5, 307, 305c Müller/Schmitt, NJW 2017, 1991.

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BGB § 309 Rz. 65 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit träge) und Klauseln, die zwar eine Kündigungsfrist von drei Monaten, aber nur zu bestimmten Terminen (z.B. 30.3.) zulassen.180 b) IT-Verträge 66

Unter einen Vertrag über die „regelmäßige Lieferung von Waren“ kann auch Software subsumiert werden und zwar auch dann, wenn diese nicht auf einem Datenträger verkörpert ist.181 Denn der Begriff „Ware“ meint nicht nur körperliche (§ 90), sondern auch unkörperliche Gegenstände.182 Allerdings dürfte der Anwendungsbereich dennoch überschaubar bleiben, da eine „regelmäßige Lieferung“ von Software i.d.R. mietvertraglich als SaaS- bzw. ASP-Modell ausgestaltet sein wird, wo § 309 Nr. 9 keine Anwendung findet (vgl. hierzu Rz. 63 sowie zur Laufzeit bei Softwaremiete § 307 Rz. 55).

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Bedeutendster Anwendungsfall für § 309 Nr. 9 sind im Bereich des IT-Rechts wohl Wartungs- und Pflegeverträge. § 309 Nr. 9 findet hier Anwendung, weil es sich stets um die regelmäßige Erbringung von Dienst- oder Werkleistungen handelt.183 Zwar findet neben der Kontrolle nach § 309 Nr. 9 grds. auch eine Inhaltskontrolle nach § 307 statt, die zur Unwirksamkeit von Nr. 9 entsprechenden Laufzeiten führen kann, wenn die Natur des Vertragsverhältnisses ausnahmsweise für eine kürzere Laufzeit spricht.184 Eine solche Besonderheit kann bei Wartungs- und Pflegeverträgen jedoch nicht angenommen werden, so dass § 309 Nr. 9 entsprechende Klauseln, z.B. bei einem Full-Service-Wartungsvertrag über eine gelieferte EDV-Anlage, stets wirksam sind.185 Bei Pflege- und Wartungsverträgen mit einem Unternehmer dürfte hingegen – weil nur eine Kontrolle nach § 307 erfolgt – auch eine Vertragslaufzeit von drei Jahren zulässig sein, weil dies noch im Rahmen der Mindestnutzungsdauer von Hard- und Software liegt.186 Aus dem Klauselverbot des § 309 Nr. 9 darf aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass eine Laufzeit von deutlich über zwei Jahren für einen Pflegevertrag, nämlich für die „Lebensdauer“ der Software, für den Verwender verpflichtend ist.187

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In jedem Fall besteht bei Laufzeitklauseln aber stets das Risiko, dass die Vertragslaufzeit für den Kunden intransparent und die Klausel daher nach § 307 Abs. 1 Satz 2 unwirksam ist. Unwirksam ist beispielsweise eine Klausel in einem Softwarebetreuungsvertrag, nach der „die Mindestlaufzeit […] zwei Jahre [beträgt] und […] im Anschluss mit einer Frist von sechs Monaten zum Ende eines Kalenderjahres mit eingeschriebenem Brief zu kündigen [ist]“.188 Eine solche Klausel stellt einen Verstoß gegen das Transparenzgebot dar, weil unklar bleibt, ob die Mindestvertragslaufzeit zwei Jahre oder zwei Jahre und sechs Monate beträgt.189 Ferner besteht das Risiko, dass die Laufzeitklausel das Recht zur Kündigung nach § 648 ohne ausdrückliche Regelung nicht ausschließt.190 Es finden sich daher Regelungen in Pflegeverträgen, nach denen eine Teilkündigung ausgeschlossen und nur eine Gesamtkündigung nach 180 KG v. 20.3.2009 – 9 W 49/09, NJW-RR 2009, 1212, 1213; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 18. 181 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 10; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 64. 182 Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 10. 183 OLG Koblenz v. 12.1.2005 – 1 U 1009/04, CR 2005, 482 = ITRB 2005, 152; Marly, Softwarerecht, Rz. 1053 f. Kritisch zur Anwendbarkeit mit Verweis auf fehlende BGH-Rspr. Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, I. Softwarepflege Rz. 311. 184 BGH v. 29.4.1987 – VIII ZR 251/86, NJW 1987, 2012, 2013. Noch weitergehend Wolf/Lindacher/Pfeiffer/ Dammann, § 309 Nr. 9 BGB Rz. 106 ff. 185 So ausdrücklich OLG Oldenburg v. 29.5.1992 – 6 U 22/92, CR 1992, 722, 723. Ähnl. Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, Teil 2 (61) Rz. 5; Redeker/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.10 Rz. 218 ff. 186 Str.: BGH v. 17.12.2002 – X ZR 220/01, NJW 2003, 886 (zumindest 10 Jahre unangemessen); OLG Stuttgart v. 18.3.1993 – 19 U 248/92, NJW-RR 1994, 952 (10 Jahre angemessen); Graf von Westphalen/Thüsing/Hoeren, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Teil „Klauselwerke“, „IT-Verträge“, Rz. 121 (i.d.R. max. zwei Jahre); Redeker/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.10 Rz. 218 ff. (drei Jahre); Marly, Softwarerecht, Rz. 1055 (Einzelfallabwägung); Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, I. Softwarepflege Rz. 311 ff. (Einzelfallabwägung). 187 OLG Koblenz v. 12.1.2005 – 1 U 1009/04, CR 2005, 482 = ITRB 2005, 152. Vgl. zu diesem Problemkreis auch Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 284 ff. 188 LG Dortmund v. 2.7.2014 – 10 O 14/14. 189 LG Dortmund v. 2.7.2014 – 10 O 14/14. Zustimmend Junker, jurisPR-ITR 10/2015 Anm. 5. 190 OLG Oldenburg v. 5.11.2009 – 14 U 61/09, NJW-RR 2010, 1030.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 73 § 309 BGB

Ablauf der Mindestvertragslaufzeit möglich ist.191 Eine solche Klausel ist i.d.R. nach § 307 unwirksam, weil Softwarepflegeverträge häufig nach der Anzahl der Softwarelizenzen vergütet werden und damit auch für völlig unabhängige Nachkäufe ein Ausschluss des Kündigungsrechts für den gesamten Pflegevertrag einhergehen würde.192 Nr. 9 findet auch Anwendung auf IT-Schulungsverträge, da diese nach h.M. als Dienstvertrag einzuordnen sind, d.h. auch hier darf die Mindestvertragslaufzeit nicht über zwei Jahre hinausgehen.193 Auch wenn eine Mindestvertragslaufzeit von bis zu zwei Jahren u.U. nach § 307 Abs. 1 unwirksam sein kann,194 dürfte diese Fallgruppe für IT-Schulungsverträge keine Bedeutung haben, da es hier an der notwendigen, gesteigerten Persönlichkeits- und Vertrauenskomponente fehlt, so dass eine Mindestvertragslaufzeit von zwei Jahren regelmäßig nicht zu beanstanden ist.195

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10. Wechsel des Vertragspartners (§ 309 Nr. 10) a) Allgemeines Das Klauselverbot soll verhindern, dass der Verwender einen dem Kunden unbekannten Dritten in den Vertrag eintreten lässt. Es gilt aber nur für die in § 309 Nr. 10 ausdrücklich aufgezählten Vertragstypen. Gebrauchsüberlassungsverträge (insb. Miete, Pacht und Leasing) sind vom Klauselverbot nicht erfasst, sondern nach § 307 zu beurteilen.196

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Auf den kaufmännischen Geschäftsverkehr entfaltet § 309 Nr. 10 keine Indizwirkung.197 Hier 71 kommt aber eine Unzulässigkeit nach § 307 immer dann in Betracht, wenn die Klausel ein einseitiges Austauschrecht vorsieht198 oder der Vertrag auf einem persönlichen Vertrauensverhältnis basiert.199 Eine Klausel zum Wechsel des Vertragspartners ist zum einen nach Buchst. a zulässig, wenn der Dritte 72 in der Klausel namentlich benannt wird, was neben seinem Namen auch die vollständige Anschrift umfasst.200 Zum anderen ist eine solche Klausel nach Buchst. b zulässig, wenn der Dritte zwar nicht benannt ist, aber dem Kunden ein Rücktritts- bzw. Kündigungsrecht (= Lösungsrecht) für diesen Fall eingeräumt wird, das zeitlich unbegrenzt gilt und nicht Strafzahlungen oder ähnliche Nachteile zur Folge hat.201 b) IT-Verträge Gegenüber Verbrauchern greifen bei IT-Verträgen hier keine Besonderheiten. Gegenüber Unterneh- 73 mern muss zwischen den verschiedenen Vertragstypen und dem notwendigen Vertrauensverhältnis unterschieden werden: Bei einer kaufvertraglichen Überlassung von Standard-Hardware oder -Software kann ein Wechsel des Vertragspartners noch wirksam sein, weil es dem Käufer nicht auf den Vertragspartner ankommt. Erforderlich ist aber, dass die Klausel dieses Recht für beide Parteien gewährt.202 Immer wenn auch dienst- oder werkvertragliche Elemente erfüllt werden müssen, scheidet eine Klausel zur Vertragsübertragung aber aus, da es hier gerade auf das besondere Vertrauensverhältnis ankommt. Unwirksam ist daher eine Klausel zur Vertragsübertragung bei Pflege- und Wartungsverträgen.203 Gleiches dürfte für Softwareerstellungsverträge und IT-Schulungsverträge gel191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203

Vgl. Grützmacher, ITRB 2011, 133. Grützmacher, ITRB 2011, 133, 135. Redeker/Bischof/Witzel, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.18 Rz. 145. Vgl. BGH v. 28.2.1985 – IX ZR 92/84, MDR 1985, 668. Redeker/Bischof/Witzel, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.18 Rz. 145. BGH v. 9.6.2010 – XII ZR 171/08, NJW 2010, 3708; Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 10 BGB Rz. 5. BGH v. 9.6.2010 – XII ZR 171/08, NJW 2010, 3708, 3708 f. m.w.N. BGH v. 9.6.2010 – XII ZR 171/08, NJW 2010, 3708, 3708 f. m.w.N. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 10 BGB Rz. 15. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 10 BGB Rz. 9. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 10 BGB Rz. 11. BGH v. 9.6.2010 – XII ZR 171/08, NJW 2010, 3708, 3708 f. OLG Bamberg v. 1.10.1985 – 5 U 57/85, CR 1986, 366; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, Teil 2 (61) Rz. 2; Redeker/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.10 Rz. 235 ff.

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BGB § 309 Rz. 73 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit ten. Das schließt es aber natürlich nicht aus, Subunternehmer zur Leistungserbringung einzusetzen.204 11. Haftung des Abschlussvertreters (§ 309 Nr. 11) 74

Das Klauselverbot soll verhindern, dass derjenige, der als Vertreter einen Vertrag zwischen dem Vertretenen und dem Verwender schließt, durch die AGB unerwartet mit in die Haftung genommen wird. Buchst. a erfasst insoweit Fälle des Vertreters mit Vertretungsmacht, wonach eine Haftung oder Einstandspflicht in AGB nicht möglich ist, sondern ausdrücklich und gesondert erklärt werden muss. Buchst. b erfasst hingegen den Vertreter ohne Vertretungsmacht und verbietet eine Abweichung von § 179. Bei Verträgen mit Unternehmen findet die Vorschrift über § 307 zur Unwirksamkeit.205 Für ITVerträge ergeben sich hier keine Besonderheiten. 12. Beweislast (§ 309 Nr. 12) a) Allgemeines

75

Die Vorschrift konstituiert ein allgemeines Verbot der Beweislaständerung zum Nachteil des Kunden. Das Klauselverbot findet aber keine Anwendung, soweit es sich um die hiervon schwer abzugrenzende Erklärungsfiktion nach § 308 Nr. 5 (vgl. § 308 Rz. 38) oder Zugangsfiktion nach § 308 Nr. 6 (vgl. § 308 Rz. 45) handelt.206

76

Gegenüber Unternehmern findet Nr. 12 Buchst. a über § 307 ohne Einschränkung Anwendung.207 Hinsichtlich Nr. 12 Buchst. b wird im Wesentlichen das Gleiche gelten müssen.208

77

Die unter § 309 Nr. 12 fallenden Klauselgestaltungen sind vielschichtig.209 Denn erforderlich ist nicht, dass die Klausel die Beweislast ausdrücklich nennt, sondern ob der Kunde durch die Klausel faktisch die Beweislast auferlegt bekommt.210 Die Nr. 12 Buchst. a und Buchst. b sind insoweit nur Fallbeispiele. Die hier genannten Tatsachenbestätigungen betreffen bspw. Klauseln, nach denen ein „Auftrag ordnungsgemäß erledigt“ wurde oder die AGB „ausgehandelt“ wurden.211 Zulässige Tatsachenbestätigungen sind nach dem Wortlaut dann nur noch Empfangsbekenntnisse, also Quittungen (vgl. § 368), die jedoch gesondert handschriftlich oder elektronisch unterschrieben sein müssen.212 b) IT-Verträge

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Unzulässig sind durch § 309 Nr. 12 in IT-Verträgen sog. Abnahme- und Mängelfreiheitsbestätigungen. Dies betrifft bspw. Klauseln, mit denen der Kunde eines Softwareerstellungsvertrages oder -überlassungsvertrages die Software mit Übergabe als mangelfrei anerkennt.213 Das gleiche gilt, wenn bei einer Hardware- oder Software-Miete mit Übernahme der Mietsache die Mangelfreiheit klauselmäßig festgestellt sein soll.214 Dabei spielt es keine Rolle, ob der Vertrag mit einem Verbraucher oder einem Unternehmer (dann Unwirksamkeit über § 307, vgl. Rz. 83) geschlossen wurde.

79

In Service Level Agreements (SLA, vgl. § 307 Rz. 76) finden sich häufig Regelungen dazu, wie die Einhaltung der SLA-Kriterien gemessen wird und wer für die Messung verantwortlich ist. Durch ei204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214

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So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 10 BGB Rz. 6. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 11 BGB Rz. 15. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 12 BGB Rz. 4. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47, 49 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker; BGH v. 6.2.2014 – VII ZR 160/12, NJW-RR 2014, 456, 457 f. OLG Düsseldorf v. 2.11.2005 – 15 U 117/04, NJW-RR 2006, 1074, 1075 f.; Marly, Softwarerecht, Rz. 1920; Krit. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 11 BGB Rz. 27. Alle denkbaren Fallgruppen enthält Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 309 Nr. 12 BGB Rz. 11 ff. BGH v. 28.1.1987 – IVa ZR 173/85, NJW 1987, 1634, 1635; Spindler/Schuster/Schuster, § 309 Rz. 74. BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 12 Rz. 8 m.w.N. BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 12 Rz. 9. OLG Nürnberg v. 14.7.1994 – 8 U 2851/93, CR 1995, 343; Marly, Softwarerecht, Rz. 1916; Gaul, CR 2000, 570, 575 f. Marly, Softwarerecht, Rz. 1916.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 82 § 309 BGB

ne Klausel, die bestimmt, wer die Messung vorzunehmen und zu dokumentieren hat, verändert sich faktisch auch die Beweislast.215 Wirksam dürfte hier stets die Gestaltung in den AGB des Anbieters sein, dass der Anbieter für die Messung verantwortlich ist, weil sich hierdurch die Beweislast nicht zum Nachteil, sondern zum Vorteil des Kunden verschiebt.216 Handelt es sich hingegen um die AGB des Kunden, kann eine derartige Gestaltung wegen Verstoß gegen § 309 Nr. 12 unwirksam sein, weil dann der Anbieter entgegen allgemeiner Beweislastgrundsätze beweisen müsste, dass keine Pflichtverletzung (§ 280) vorliegt.217 Aufgrund der Vielzahl von Einstellungsmöglichkeiten an Hard- und Software wird vorgeschlagen, 80 dem Kunden durch AGB-Klauseln die Beweislast dafür zu übertragen, dass aufgetretene Mängel nicht auf eigenmächtige Änderungen an der EDV, also z.B. der Aufrüstung des Arbeitsspeichers oder Programmänderungen an der Software, zurückzuführen sind.218 In die gleiche Richtung geht der Vorschlag für Klauseln in Pflegeverträgen, nach der der Auftraggeber darzulegen und nachzuweisen hat, dass nach Beendigung des Vertrages keine Änderungen an dem Programm und dessen Arbeitsumgebung vorgenommen worden sind, auf denen der Mangel beruhen kann.219 Ein Verstoß gegen Nr. 12 sei nicht erkennbar, da Programmänderungen durch den Auftraggeber nicht in den Verantwortungsbereich des Auftragnehmers fielen.220 Dem kann nicht gefolgt werden: Eine solche Klausel dürfte gegenüber einem Verbraucher schon wegen §§ 475, 476 unzulässig sein. Die Unwirksamkeit dürfte aber auch aus § 309 Nr. 12 folgen und über § 307 auch gegenüber Unternehmern die Folge sein, weil dem Kunden hierdurch eine Vermutungswirkung auferlegt wird, dass seine Eingriffe für den Mangel ursächlich sind, was er häufig nicht wird widerlegen können. Der Kunde müsste hierdurch also ohne Anlass eine Negativtatsache (auch: Negativum) nachweisen. Dies widerspricht nicht nur gesetzlichen Leitgedanken des Gewährleistungsrechts, sondern auch prozessualen Grundsätzen zur Beweislast bei Negativtatsachen.221 13. Form von Anzeigen und Erklärungen (§ 309 Nr. 13) a) Allgemeines Anzeigen und Erklärungen i.S.d. Vorschrift sind z.B. Kündigungs- oder Rücktrittserklärungen, aber 81 auch Fristsetzungen oder Mahnungen.222 Die Vorschrift wurde mit Wirkung zum 1.10.2016 dahingehend geändert, dass im Regelfall – notarielle Beurkundungen ausgenommen – von einer Klausel keine strengere Form als die Textform nach § 126b für Anzeigen oder Erklärungen vorgeschrieben werden darf. Konnte bisher auf der Grundlage dieser Vorschrift und §§ 126, 127 noch eine eigenhändige Unterschrift des Kunden vorgeschrieben werden, ist nunmehr jede Erklärung ausreichend, in der die Person des Erklärenden genannt ist und die auf einem dauerhaften Datenträger abgegeben werden wird (vgl. § 126b). Wie bisher darf zudem kein besonderes Zugangserfordernis (z.B. Einschreiben)223 vorgeschrieben werden. Auf Verträge mit Unternehmern entfaltet die Vorschrift keine Indizwirkung.224 Dies ist bislang zwar höchstrichterlich nicht entschieden, dürfte nach der Gesetzänderung zum 1.10.2016 aber umso mehr gelten, als die Eigenheiten des Geschäftsverkehrs regelmäßig strengere Formen als die Textform erfordern.

215 216 217 218 219 220 221 222 223 224

Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 622. Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 622. Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 622. Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 128. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 137. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 137. Vgl. BGH v. 8.10.1992 – I ZR 220/90, NJW-RR 1993, 746, 747. Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 13 BGB Rz. 4. BGH v. 28.2.1985 – IX ZR 92/84, NJW 1985, 2585, 2587 a.E. BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 13 Rz. 15; Ulmer/Brandner/Hensen/Habersack, § 309 Nr. 13 BGB Rz. 12.

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BGB § 309 Rz. 83 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit b) IT-Verträge 83

Formerfordernisse in IT-Verträgen mit Unternehmern betreffen häufig die Rügepflicht nach § 377 HGB. Hier ist jedes Formerfordernis zulässig, dass noch den Gewohnheiten des Handelsverkehrs entspricht und sich mit einem anerkennenswerten Interesse des Verwenders begründen lässt, da § 309 Nr. 13 keine Anwendung findet und auch keine Indizwirkung entfaltet. Zulässig ist daher eine Klausel, die die Mängelanzeige auf einem vom Softwarelieferanten vorgesehenen, speziellen Formular verlangt, das Symptome und Auswirkungen des Programmmangels abfragt.225 Zulässig wird es auch sein, den Zugang der Mängelanzeige bei einer speziellen Abteilung, etwa dem Kunden-Support, vorauszusetzen.226 Für das Verlangen eines eingeschriebenen Briefs wird sich hingegen regelmäßig kein anerkennenswertes Interesse begründen lassen.227 Zulässig dürfte es auch nach neuer Rechtslage sein, bei IT-Verträgen generell für die Nachfristsetzung, für die Erklärung des Rücktritts sowie für die Geltendmachung von Schadenersatz die Schriftform vorzusehen.228

84

Gegenüber Verbrauchern sind alle oben dargestellten Konstellationen, also insb. auch der Formularzwang des Anbieters oder die Bestimmung einer speziellen Art der Form außerhalb der Textform (z.B. Beschränkung auf Eingabemaske auf der Webseite oder per E-Mail) wegen § 309 Nr. 13 unwirksam, auch wenn gerade im Bereich von Software-Verträgen häufig ein anerkennenswertes Interesse an standardisierten Fehlermeldungen bestehen mag.229 14. Klageverzicht (§ 309 Nr. 14) a) Allgemeines

85

Die Vorschrift verbietet alle verpflichtenden, vorrangigen obligatorischen Verfahren zur Streitbeilegung. Dies umfasst vor allem Schlichtungs- und Mediationsklauseln.230 Nach ihrem Wortlaut erfasst die Vorschrift nur außergerichtliche Streitbeilegungen, die zu einem vorübergehenden – dilatorischen – Klageverzicht bis zum Ende des außergerichtlichen Verfahrens führen. Darüber hinaus findet die Vorschrift aber erst recht Anwendung auf Fälle, in denen eine außergerichtliche Streitbelegung eine endgültige Entscheidung herbeiführen soll und damit einen dauerhaften Klageverzicht bewirkt.231 Dies betrifft insb. Schiedsklauseln. Für die Unwirksamkeit aller dieser Klauseln ist es nunmehr zudem nicht entscheidend, wie angemessen das außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren konkret ausgestaltet ist oder ob es dem Kunden Vorteile gegenüber dem gerichtlichen Verfahren bietet.232

86

Gegenüber Unternehmern kann die Vorschrift nicht direkt angewendet werden und entfaltet auch keine Indizwirkung.233 Denn die Vorschrift wurde nur im Zuge der verbraucherschützenden RL über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und der VO über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten eingeführt und dient damit nur dem Verbraucherschutz. Daher sind auch obligatorische außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren gegenüber Unternehmern in AGB möglich.234 b) IT-Verträge

87

Der Bereich der IT-Verträge ist einer der Rechtsbereiche, in denen besonders häufig der Einsatz von sog. Schiedsklauseln empfohlen wird, weil die Durchdringung der Materie häufig Experten- und 225 Marly, Softwarerecht, Rz. 1892; Gaul, CR 2000, 570, 573. Kritisch wohl Redeker/Schneider, Handbuch der ITVerträge, Kap. 1.1 Rz. 98 ff. 226 Marly, Softwarerecht, Rz. 1892; Gaul, CR 2000, 570, 573. 227 Gaul, CR 2000, 570, 573. A.A. wohl Marly, Softwarerecht, Rz. 1892. 228 Redeker/Stadler, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.3 Rz. 117a. 229 Marly, Softwarerecht, Rz. 1900; Gaul, CR 2000, 570, 574. In diese Richtung wohl auch Redeker/Schneider, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.1 Rz. 98 ff. 230 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 309 Nr. 14 BGB Rz. 9. 231 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 309 Nr. 14 BGB Rz. 15. 232 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 309 Nr. 14 BGB Rz. 14. So aber noch die h.M. vor Einführung von § 309 Nr. 14. 233 Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 309 Nr. 14 BGB Rz. 18. 234 A.A. Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, § 309 Nr. 14 BGB Rz. 18.

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Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit

Rz. 91 § 309 BGB

Fachkenntnisse erfordert, die die Gerichte im Regelfall naturgemäß nicht haben.235 Besonders DISund ICC-Schiedsklauseln haben sich im IT-Bereich etabliert. Daneben besteht zudem eine speziell für das IT-Recht geschaffene Schlichtungsstelle IT der DGRI, die auch eine entsprechende Schlichtungsklausel vorsieht. Durch § 309 Nr. 14 sind Schlichtungsklauseln (z.B. der DGRI) gegenüber Verbrauchern unwirksam, aber wohl auch zuvor schon unüblich. Schiedsgerichtsklauseln sind ebenfalls generell unwirksam, weil sie den freien Zugang zu den Gerichten unangemessen einschränken.236 Auch die unter altem Recht diskutierte Ausnahme für den Fall, dass die Schiedsgerichtsklausel im vollen Umfang den §§ 1025 ff. ZPO entspricht,237 ist hiermit hinfällig.

88

Im unternehmerischen Verkehr der IT-Verträge ist eine solche Klausel aber (weiterhin) wirksam, so- 89 weit tatsächlich unparteiische Dritte als Schiedsrichter benannt werden.238 Eine Unwirksamkeit kann sich nur aus der inhaltlichen Ausgestaltung der Schieds-, Mediations- bzw. Schlichtungsklausel ergeben. So ist bspw. eine Klausel unwirksam, die einen ausländischen Schiedsort bei einem reinen Inlandsgeschäft vorsieht239 oder nur dem Verwender ein Wahlrecht zwischen Schiedsgericht und staatlichem Gericht einräumt.240 Eine Schiedsgutachterklausel, mit der ein Schiedsgutachter z.B. über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Mangels oder Schadens entscheiden soll, soll keine unangemessene Benachteiligung darstellen, soweit ein verständiger Vertragspartner dem dort genannten Schiedsgutachter auch aus freien Stücken zugestimmt hätte und das Bestimmungsrecht des Schiedsgutachters nicht bis zur Grenze der offenbaren Unbilligkeit (§ 319 Abs. 1) ausgedehnt wird.241 Dies kann – im Hinblick auf den neuen § 309 Nr. 14 – wohl nur im unternehmerischen Verkehr gelten; gegenüber Verbrauchern ist jede Regelung unwirksam, die den Schiedsgutachter darüber hinaus zwingend vorschreibt und nicht den Rechtsweg (selbständiges Beweisverfahren) für die Frage offen lässt. 15. Abschlagszahlungen und Sicherheitsleistung (§ 309 Nr. 15) a) Allgemeines Die neu eingeführte Vorschrift gilt nur für Klauseln, die von einem Werkunternehmer als Verwender 90 gestellt werden.242 Denn geschützt werden soll durch die Vorschrift der Besteller vor Einschränkungen der ihn schützenden § 632a und § 650m.243 Die Vorschrift ist in § 309 dogmatisch falsch aufgehoben, weil sie Wertungsmöglichkeiten zulässt („wesentlich höher“) obwohl § 309 nur Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeiten enthalten soll (vgl. Rz. 1). Auch sonst hat die Vorschrift erhebliche Kritik erfahren, weil die Vorschrift jedenfalls für § 650m Abs. 1 keinen eigenen Anwendungsbereich hätte, wenn § 650m Abs. 1 seinerseits als nicht abdingbar eingestuft wird.244 Nr. 15 Buchst. a verbietet Klauseln, die „wesentlich höhere“Abschlagszahlungen verlangen als vom Gesetz in den §§ 632a Abs. 1, 650m Abs. 1 vorgesehen. Wann eine Abschlagszahlung „wesentlich höher“ ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Als Faustformel lässt sich jedoch festhalten, dass die Klausel jedenfalls dann unwirksam ist, wenn die verlangten Abschlagszahlungen nicht zumindest annähernd dem Vertragswert der Teilleistungen entsprechen.245 Teilweise werden auch feste prozentuale Werte vor-

235 So für das IT-Outsourcing Mann, MMR 2012, 499, 502. 236 So schon nach altem Recht Marly, Softwarerecht, Rz. 2034; Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (40) Rz. 4. 237 So wohl BGH v. 13.1.2005 – III ZR 265/03, NJW 2005, 1125, 1126 f. Offen lassend EuGH v. 3.4.2014 – C-342/13, BeckRS 2014, 81587. Ablehnend Ulmer/Brandner/Hensen/Schmidt, Teil 2 (40) Rz. 4. 238 BGH v. 10.10.1991 – III ZR 141/90, NJW 1992, 575, 576 f.; Marly, Softwarerecht, Rz. 2034; Ulmer/Brandner/ Hensen/Schmidt, Teil 2 (40) Rz. 3; Hecht, ITRB 2008, 184. 239 MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 265. 240 BGH v. 24.9.1998 – III ZR 133/97, NJW 1999, 282. 241 BGH v. 9.7.1981 – VII ZR 139/80, NJW 1981, 2351, 2353; Marly, Softwarerecht, Rz. 2035; Ulmer/Brandner/ Hensen/Schmidt, Teil 2 (40) Rz. 1. 242 BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 15 Rz. 2. 243 BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 15 Rz. 2. 244 BeckOK BGB/Becker, § 309 Nr. 15 Rz. 3 ff. 245 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 15 BGB Rz. 13.

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91

BGB § 309 Rz. 91 Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit geschlagen, d.h. dass bei einer Abweichung von mehr als 5, 10 oder 20 % im Vergleich zur gesetzlichen Abschlagszahlung von einer Unwirksamkeit ausgegangen werden soll.246 92

Nr. 15 Buchst. b schließt generell eine Abweichung von § 650m Abs. 2 in AGB gegenüber einem Verbraucher aus. Durch die absolute Formulierung ist nicht nur eine Klausel unwirksam, die die Sicherheitsleistung ausschließt oder der Höhe nach begrenzt, sondern jede auch nur geringfügige Abweichung von der gesetzlichen Regelung.247

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Da die Vorschrift mit § 650m eine Regelung des Verbraucherrechts adressiert, kann sie jedenfalls in diesem Umfang keine Indizwirkung für Verträge mit Unternehmern haben.248 Hinsichtlich der „wesentlich höheren“Abschlagszahlung nach § 632a Abs. 1 mag man eine Indizwirkung annehmen.249 Dies hat aber letztlich keine größere Bedeutung, weil bereits vor Bestehen dieser Vorschrift eine Unwirksamkeit – insbesondere von Vorkasse-Klauseln – nach § 307 diskutiert wurde (vgl. § 307 Rz. 23 f.). b) IT-Verträge

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In IT-Verträgen haben insbesondere Vorkasse-Klauseln in Pflege- bzw. Wartungsverträgen eine größere Bedeutung. Während bei Verträgen mit Verbrauchern solche Klausel nun eindeutig nach Nr. 15 unwirksam sind, weil sie die Zahlungen nicht an den Vertragswert von Teilleistungen koppeln, lässt sich bei Verträgen mit Unternehmern weiterhin diskutieren, ob und inwieweit solche Klauseln nach dem Maßstab von § 307 zulässig sind (vgl. § 307 Rz. 23 f.).

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Weitere Besonderheiten sind im Bereich der IT-Verträge bislang nicht zu beobachten.

§ 310 Anwendungsbereich (1) § 305 Absatz 2 und 3, § 308 Nummer 1, 2 bis 8 und § 309 finden keine Anwendung auf Allgemeine Geschäftsbedingungen, die gegenüber einem Unternehmer, einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder einem öffentlich-rechtlichen Sondervermögen verwendet werden. § 307 Abs. 1 und 2 findet in den Fällen des Satzes 1 auch insoweit Anwendung, als dies zur Unwirksamkeit von in § 308 Nummer 1, 2 bis 8 und § 309 genannten Vertragsbestimmungen führt; auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche ist angemessen Rücksicht zu nehmen. In den Fällen des Satzes 1 finden § 307 Absatz 1 und 2 sowie § 308 Nummer 1a und 1b auf Verträge, in die die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil B (VOB/B) in der jeweils zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden Fassung ohne inhaltliche Abweichungen insgesamt einbezogen ist, in Bezug auf eine Inhaltskontrolle einzelner Bestimmungen keine Anwendung. (2) Die §§ 308 und 309 finden keine Anwendung auf Verträge der Elektrizitäts-, Gas-, Fernwärmeund Wasserversorgungsunternehmen über die Versorgung von Sonderabnehmern mit elektrischer Energie, Gas, Fernwärme und Wasser aus dem Versorgungsnetz, soweit die Versorgungsbedingungen nicht zum Nachteil der Abnehmer von Verordnungen über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung von Tarifkunden mit elektrischer Energie, Gas, Fernwärme und Wasser abweichen. Satz 1 gilt entsprechend für Verträge über die Entsorgung von Abwasser. (3) Bei Verträgen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher (Verbraucherverträge) finden die Vorschriften dieses Abschnitts mit folgenden Maßgaben Anwendung: 1. Allgemeine Geschäftsbedingungen gelten als vom Unternehmer gestellt, es sei denn, dass sie durch den Verbraucher in den Vertrag eingeführt wurden; 2. § 305c Abs. 2 und die §§ 306 und 307 bis 309 dieses Gesetzes sowie Artikel 46b des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche finden auf vorformulierte Vertragsbedingungen 246 247 248 249

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MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 15 BGB Rz. 13 m.w.N. MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 15 BGB Rz. 15. MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 15 BGB Rz. 17 f. Str. Vgl. MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 15 BGB Rz. 18 m.w.N.

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Anwendungsbereich

Rz. 4 § 310 BGB

auch dann Anwendung, wenn diese nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind und soweit der Verbraucher auf Grund der Vorformulierung auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte; 3. bei der Beurteilung der unangemessenen Benachteiligung nach § 307 Abs. 1 und 2 sind auch die den Vertragsschluss begleitenden Umstände zu berücksichtigen. (4) Dieser Abschnitt findet keine Anwendung bei Verträgen auf dem Gebiet des Erb-, Familienund Gesellschaftsrechts sowie auf Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Bei der Anwendung auf Arbeitsverträge sind die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen; § 305 Abs. 2 und 3 ist nicht anzuwenden. Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen stehen Rechtsvorschriften im Sinne von § 307 Abs. 3 gleich. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verträge zwischen Unternehmern (§ 310 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verträge mit Verbrauchern (§ 310 Abs. 3) . . .

1 2 5

3. Bereichsausnahmen und -einschränkungen (§ 310 Abs. 2, 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. Besonderheiten bei IT-Verträgen . . . . . . . 10

Literatur: Vgl. zu normenübergreifender Literatur zu den §§ 305 ff. die Aufstellung bei § 305.

I. Allgemeines Die Vorschrift verändert den Anwendungsbereich und die Klauselkontrolle für bestimmte Vertragstypen und Vertragsparteien. § 310 Abs. 1, 2 und 4 schränkt den Anwendungsbereich ein, während § 310 Abs. 3 für Verträge mit Verbrauchern die Klauselkontrolle erweitert.

1

1. Verträge zwischen Unternehmern (§ 310 Abs. 1) Die Vorschrift schließt die Anwendbarkeit von § 305 Abs. 2 und 3, § 308 Nr. 1, 2 bis 8 und § 309 bei Verträgen mit Unternehmern und der öffentlichen Hand aus. Der Begriff des Unternehmers entspricht demjenigen von § 14 und geht damit deutlich über den Kaufmannsbegriff (§§ 1 ff. HGB) hinaus.1 Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind nicht nur Bund, Länder und Gemeinden, sondern bspw. auch öffentlich-rechtliche Hochschulen, Rundfunkanstalten oder Sozialversicherungsträger.2

2

§ 310 Abs. 1 Satz 2 stellt etwas verklausuliert klar, dass der Ausschluss der Anwendbarkeit von §§ 308, 309 nicht per se zur Wirksamkeit entsprechender Bestimmungen gegenüber Unternehmern führt. Die Unwirksamkeit kann sich – muss aber nicht – vielmehr aus § 307 ergeben (vgl. § 307 Rz. 80 f.). Während bei der Einführung des AGBG die Erstreckung auf Unternehmer heftig umstritten war, geht die Tendenz in der Rspr. heute dahin, aus der Unwirksamkeit nach den §§ 308, 309 i.d.R. auch eine Unwirksamkeit ggü. Unternehmern nach § 307 zu folgern.3 Die Indizwirkung wird damit faktisch zur nur schwer widerleglichen Vermutungswirkung.4 Für die Praxis der Inhaltskontrolle folgt hieraus, dass auch bei einer Verwendung von AGB ggü. Unternehmern zunächst eine Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 308, 309 erfolgen und – soweit ein Klauselverbot einschlägig ist – geprüft werden muss, ob ausnahmsweise besondere Interessen im unternehmerischen Geschäftsverkehr dennoch zu einer Angemessenheit führen können, vgl. § 310 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2.5

3

Zu den im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuchen nimmt die Vorschrift faktisch Bezug auf die Handelsbräuche nach § 346 HGB. Kann ein Handelsbrauch festgestellt werden, entfal-

4

1 BeckOK BGB/Becker, § 310 Rz. 3. 2 BeckOK BGB/Becker, § 310 Rz. 4. 3 Vgl. nur BGH v. 8.3.1984 – VII ZR 349/82, NJW 1984, 1750, 1751; BGH v. 8.10.2008 – XII ZR 84/06, NJW 2008, 3772, 3775; BGH v. 19.6.2013 – VIII ZR183/12, NJW 2014, 211, 213; BGH v. 10.9.2014 – XII ZR 56/11, NJW 2014, 3722, 3726. 4 Krit. zur Indizwirkung BeckOK BGB/Schmidt, § 307 Rz. 98. 5 Ähnl. Spindler/Schuster/Schuster, § 307 Rz. 74; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 79.

Hunzinger

607

BGB § 310 Rz. 4 Anwendungsbereich tet dies eine Indizwirkung für die Zulässigkeit der Klausel.6 Dies gilt auch, wenn die Klausel nicht nur gegenüber Kaufleuten, sondern auch sonstigen Unternehmern verwendet wird.7 2. Verträge mit Verbrauchern (§ 310 Abs. 3) 5

Die Vorschrift gilt ausschließlich für Verträge zwischen einem Unternehmer (§ 14) und einem Verbraucher (§ 13) – sog. B2C-Verträge oder Verbraucherverträge – und erweitert den Anwendungsbereich der Inhaltskontrolle in drei Teilbereichen:

6

Durch Nr. 1 gelten AGB als vom Unternehmer gestellt. Dies führt dazu, dass den Unternehmer die Beweislast dafür trifft, dass der Verbraucher die AGB eingeführt hat.8 Praktische Bedeutung hat Fiktion damit insb. in Fällen, in denen die AGB von einem Dritten erstellt bzw. vorgegeben wurden. Vom Unternehmer gestellt gelten dadurch bspw. AGB, die durch Rechtsanwälte, Notare oder Steuerberater entworfen wurden.9

7

Durch Nr. 2 findet die Inhaltskontrolle – im Widerspruch zur Regelung des § 305 – auch dann Anwendung, wenn die Vertragsbedingungen nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind. Auch dies betrifft häufig den Fall von von Rechtsanwälten oder Notaren vorformulierten Vertragsbedingungen.10

8

Durch Nr. 3 wird festgelegt, dass bei B2C-Verträgen nicht allein der Wortlaut der Klausel, sondern auch die Begleitumstände des Vertragsschlusses für die Prüfung der Angemessenheit heranzuziehen sind. Die Vorschrift nimmt hiermit – ohne dies ausdrücklich zu benennen – Bezug auf Art. 4 und den Anhang der RL 93/13/EWG.11 Begleitumstände sind danach bspw. das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien und die Einwirkungsmöglichkeiten auf den Verbraucher.12 3. Bereichsausnahmen und -einschränkungen (§ 310 Abs. 2, 4)

9

Die Bereichsausnahme des Abs. 2 gilt für Verträge mit der Versorgungswirtschaft, also Verträge über Strom, Gas oder Wasser. Schon für diese Verträge ist die Bedeutung – trotz des weitreichenden Wortlauts – nur sehr begrenzt.13 Für IT-Verträge besitzt sie daher gar keine praktische Bedeutung. Die Ausnahmen und Einschränkungen des Abs. 4 gelten nur für das Erb- und Familienrecht, Gesellschaftsund Arbeitsrecht und sind damit für die Kommentierung nicht von Bedeutung.

II. Besonderheiten bei IT-Verträgen 10

Besonderheiten bei IT-Verträgen zu § 310 sind bislang nicht bekannt. Insb. haben die Abs. 2 und 4 für IT-Verträge bislang keine praktische Bedeutung. Für das IT-Recht könnten sich allenfalls aus dem Bereich des Arbeitsrechts Besonderheiten für Mitarbeiter- und Beraterverträge im IT-Bereich durch Abs. 4 ergeben.14 IT-Spezifische Besonderheiten des Arbeitsrechts, die Einfluss auf die Inhaltskontrolle haben könnten, sind hier jedoch bislang nicht bekannt.

11

Der Inhaltskontrolle in großen Teilen entzogen sind nach Satz 3 Verträge, die die für Bauleistungen geltende VOB/B vollständig einbeziehen. Die Vorschrift geht zurück auf die Rspr. des BGH, wonach es sich bei der VOB/B um einen ausgewogenen Ausgleich der beteiligten Interessen handelt.15 Es ließe sich erwägen, diese Grundsätze auch auf die Ergänzenden Vertragsbedingungen für die Beschaffung von IT-Leistungen (EVB-IT) zu übertragen, da es sich hierbei, ebenso wie bei der VOB/B, um vorformulierte Vertragsbedingungen handelt, die öffentliche Auftraggeber verpflichtend einsetzen müssen 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

BeckOK BGB/Becker, § 310 Rz. 5. Str., BeckOK BGB/Becker, § 310 Rz. 5 m.w.N. BGH v. 15.4.2008 – X ZR 126/06, NJW 2008, 2250; MünchKomm/Basedow, § 310 BGB Rz. 97. MünchKomm/Basedow, § 310 BGB Rz. 92 ff. BGH v. 15.4.2008 – X ZR 126/06, NJW 2008, 2250; BeckOK BGB/Becker, § 310 Rz. 18. Ulmer/Brandner/Hensen/Ulmer/Schäfer, § 310 BGB Rz. 94 f. Ausf. hierzu MünchKomm/Basedow, § 310 BGB Rz. 107 ff. So MünchKomm/BGB/Basedow, § 310 Rz. 41. Vgl. hierzu Redeker/Kather, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 5.1 Rz. 1 ff. BGH v. 16.12.1982 – VII ZR 92/82, NJW 1983, 816, 818.

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Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse

§ 311 BGB

(vgl. z.B. Ziff. 4.3 zu § 55 VV BHO). Dies wurde vom BGH jedoch für die Vorgänger-Vertragsbedingungen – die Besonderen Vertragsbedingungen für die Beschaffung von DV-Leistungen (BVB) – ausdrücklich abgelehnt, weil es hier an der Ausgewogenheit der Vertragsgestaltung und der „jahrzehntelangen Anerkennung bei allen beteiligten Verkehrskreisen“ fehlt.16 Hinsichtlich der zeitlichen Komponente (inkl. BVB seit 1972) dürften heute keine Bedenken mehr bestehen. Allerdings haben sich EVB-IT – im Gegensatz zu VOB/B – bis heute nicht außerhalb der öffentlichen Hand als Vertragswerk durchgesetzt.17 Zudem hat zwar an den neuen EVB-IT auch der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) mitgewirkt, so dass auch die Interessen der Wirtschaft bei der Gestaltung berücksichtigt wurden. Industrieverbände waren aber auch an der Erstellung der BVB beteiligt. Die Rspr. des BGH zu den BVB dürfte sich daher auch auf die EVB-IT übertragen lassen. Die Bereichsausnahme für die VOB/B kann daher auf EVB-IT nicht entsprechend angewendet werden.18

§ 311 Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse (1) Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. (2) Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 entsteht auch durch 1. die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, 2. die Anbahnung eines Vertrags, bei welcher der eine Teil im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Möglichkeit zur Einwirkung auf seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen gewährt oder ihm diese anvertraut, oder 3. ähnliche geschäftliche Kontakte. (3) Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 kann auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Ein solches Schuldverhältnis entsteht insbesondere, wenn der Dritte in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss erheblich beeinflusst. I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begründung eines Schuldverhältnisses (§ 311 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vorvertragliche Pflichten (§ 311 Abs. 2) . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorvertragliche Pflichten im IT-Bereich . . a) Absichtserklärungen und Vorverträge . . b) Vorvertragliche Beratungspflichten beim IT-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beratungspflichten . . . . . . . . . . . bb) Entstehung einer vorvertraglichen Beratungspflicht . . . . . . . . . . . . (1) Wissensgefälle . . . . . . . . . . . . . .

1 2

. . . .

4 4 5 6

. .

8 8

. 10 . 14

(2) Erkennbarkeit und Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schutzwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . (4) Abwägung und Risikoverteilung . . . . cc) Beratungspflicht in Form von Ermittlungs- und Erkundigungspflicht . . . . dd) Lastenheft als Teil der Beratungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gescheiterte Vertragsverhandlungen im IT-Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 18 19 23 25 26

IV. Schuldverhältnis mit Dritten (§ 311 Abs. 3) . 29 V. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Literatur: Hörl, Beratungshaftung im IT-Bereich nach neuem Schuldrecht, ITRB 2004, 39; Roth/Dorschel, Das Pflichtenheft in der IT-Vertragsgestaltung, ITRB 2008, 189; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflich16 BGH v. 27.11.1990 – X ZR 26/90, CR 1991, 273, 275 m. Anm. Schmidt u. Müller-Hengstenberg. 17 So auch Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 77; Schmidt, CR 1991, 276, 277 für die BVB. 18 Ulmer/Brandner/Hensen/Ernst, Teil 2 (44) Rz. 77. Kritisch hierzu schon zu BVB Müller-Hengstenberg, CR 1991, 277.

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BGB § 311 Rz. 1 Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse ten beim IT-Vertrag – Teil I: vorvertragliche Beratungspflichten, CR 2015, 209; Söbbing, Der Letter of Intent (LoI), ITRB 2005, 240; Zahrnt, Die Rechtsprechung zu Aufklärungs- und Beratungspflichten vor Computer-Beschaffungen, NJW 1995, 1785.

I. Einführung 1

Die Vorschrift regelt die Begründung von Schuldverhältnissen, die durch Vertrag, Gesetz oder einseitiges Rechtsgeschäft entstehen können.1 Abs. 1 ist eine allgemeine Norm, die Vielzahl der Verträge in der Praxis richtet sich nach den Vorschriften der §§ 433 ff. in direkter oder analoger Anwendung. Dementsprechend wird die große Zahl der denkbaren Schuldverträge unter vielfältigen Gesichtspunkten eingeteilt.2 Abs. 2 regelt das vorvertragliche Verhältnis, das durch Aufnahme von Vertragsverhandlungen und vergleichbare Fälle entsteht, und umfasst auch das früher außergesetzlich anerkannte Rechtsinstitut des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen (culpa in contrahendo).3 Abs. 3 erweitert dieses vorvertragliche Schuldverhältnis in bestimmten Ausnahmefällen auf Dritte.4

II. Begründung eines Schuldverhältnisses (§ 311 Abs. 1) 2

Abs. 1 liegt der Grundsatz der Vertragsfreiheit zugrunde. Dieser, auch verfassungsrechtlich gewährleistete5 Grundsatz beinhaltet wiederum als wesentliche Bestandteile die positive und negative Abschlussfreiheit sowie die inhaltliche Gestaltungsfreiheit.6 Die Abschlussfreiheit ist die Freiheit, sowohl über das „ob“ eines Schuldverhältnisses als auch das „mit wem“ frei entscheiden zu können. Die Gestaltungsfreiheit ist demgegenüber die Freiheit, über das „wie“ eines Schuldverhältnisses, also die vertragliche Ausgestaltung, frei entscheiden zu können. Allerdings wird die Vertragsfreiheit nicht unbegrenzt gewährleistet, sondern wird durch zahlreiche Schranken eingegrenzt. Hinsichtlich der Abschlussfreiheit ist hier beispielsweise der in engen Grenzen bestehende Kontrahierungszwang zu nennen. Im Rahmen der Gestaltungsfreiheit ist die bekannteste Schranke wohl das AGB-Recht.

3

Eine Beschränkung der durch Abs. 1 garantierten Vertragsfreiheit durch einen Kontrahierungszwang wird im IT-Bereich im Rahmen der Softwarepflege diskutiert. Dies betrifft i.d.R. die Konstellation, dass nur ein Softwareüberlassungsvertrag geschlossen wurde und der Kunde erst später den Wunsch entwickelt, die Softwarepflege durch den Anbieter übernehmen zu lassen, was dieser aber verweigert. In diesen Fällen könnte sich ein Kontrahierungszwang aus § 33 GWB i.V.m. §§ 19, 20 GWB ergeben (s. auch § 20 GWB Rz. 10). Nach hier vertretener Auffassung ergibt sich die Pflegepflicht eines Softwareanbieters als Nebenpflicht nach § 241 Abs. 2 (s. § 241 Rz. 22 ff.).

III. Vorvertragliche Pflichten (§ 311 Abs. 2) 1. Allgemeines 4

Für die Begründung vorvertraglicher Pflichten ist ausschließlich § 311 Abs. 2 maßgeblich. Die Norm ist die gesetzliche Fixierung der vorvertraglichen Sonderverbindung der culpa in contrahendo. Erfasst werden danach Fälle, die mit der Inanspruchnahme und Gewährung eines besonderen Vertrauens einhergehen.7 Dabei regelt § 311 Abs. 2 streng genommen nur das „Ob“ für die Begründung vorvertraglicher Pflichten, während das „Wie“, also Inhalt und Umfang der einzelnen Pflichten, aus § 241 Abs. 2

1 2 3 4 5

Vgl. BeckOK BGB/Gehrlein, § 311 Rz. 1. S. dazu mit vielerlei Kategorisierungen MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 5. S. dazu MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 35 ff. Vgl. BeckOK BGB/Sutschet, § 311 Rz. 118. Vgl. nur BVerfG v. 19.10.1983 – 2 BvR 298/81, NJW 1984, 476; BVerfG v. 7.9.2010 – 1 BvR 2160/09, 1 BvR 851/10, NJW 2011, 1339 jeweils m.w.N. 6 MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 1; BeckOK BGB/Gehrlein, § 311 Rz. 2; Jauernig/Stadler, § 311 BGB Rz. 3 ff. 7 MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. Rz. 41.

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Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse

Rz. 8 § 311 BGB

folgt.8 Die Aufnahme von Vertragsverhandlungen (Abs. 2 Nr. 1) ist letztlich nur ein Unterfall von Abs. 2 Nr. 2, also der Vertragsanbahnung.9 Die Tatbestand der Vertragsanbahnung (Abs. 2 Nr. 2) ist grundsätzlich weit auszulegen.10 Die Fallgruppe der ähnlichen geschäftlichen Kontakte (Abs. 2 Nr. 3) ist so weitgehend formuliert, dass fast eine Uferlosigkeit der Anwendungsbereiche möglich erscheint. Letztlich bleiben als anerkannte relevante Fallgruppen aber einzig die Vertragsvorbereitung und die Gefälligkeitsverhältnisse übrig.11 2. Vorvertragliche Pflichten im IT-Bereich Vorvertragliche Pflichten haben im Bereich der IT-Verträge in Form der Beratungspflichten eine besonders große Bedeutung. Zum einen besteht zwischen dem Kunden und dem Anbieter häufig ein großes Wissensgefälle. Zum anderen resultiert hieraus, dass schon in der Vorvertragsphase umfangreicher Zugriff auf vertrauliche Daten ggü. dem Anbieter und ggf. auch sachverständigen Dritten gewährt wird, um die Anforderungen und den Bedarf beim Kunden ermitteln zu können.

5

a) Absichtserklärungen und Vorverträge Solche vorvertraglichen Pflichten sind abzugrenzen ggü. den häufig verwendeten Absichtserklärun- 6 gen in Form eines sog. Letter of Intent (LOI) oder Memorandum of Understanding (MOU). Während es sich beim LOI auch um eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung handeln kann, wird das MOU von den beabsichtigten Vertragspartnern gemeinschaftlich unterzeichnet.12 Die Begriffe werden jedoch häufig synonym verwendet. Gemein ist beiden Absichtserklärungen aber, dass sie kein Vertragsangebot i.S.d. § 145 darstellen und auch keinen eigenständigen Vorvertrag bilden sollen. Welche Überschrift die Absichtserklärung letztlich bekommt, ist für die daraus folgenden Rechtspflichten aber ohne Belang. Entscheidend für die Pflichten aus der Absichtserklärung ist der Inhalt der Vereinbarung. Bei einem klassischen LOI oder MOU ist grds. nicht von einem Rechtsbindungswillen auszugehen.13 I.d.R. ist Zweck einer solchen Vereinbarung aber dennoch die Herbeiführung einer gewissen Bindungswirkung, so dass dementsprechend ggf. auch detaillierte Pflichten vereinbart werden.14 Da LOI und MOU keine anerkannten Vertragstypen des BGB sind und daher stets die Möglichkeit besteht, dass die Vereinbarung als Vorvertrag ausgelegt wird, wird bei den einzelnen Klauseln i.d.R. deutlich festgelegt, wo nur eine Absichtsbekundung gegeben werden soll und wo die Vertragsparteien gebunden werden sollen.15 Abzugrenzen ist die bloße Absichtserklärung vom Vorvertrag. Denn mit dem Vorvertrag verpflichten sich die Parteien, einen anderen schuldrechtlichen Vertrag, also den Hauptvertrag, in Zukunft abzuschließen.16 Es handelt sich dann aber nicht mehr um einen Fall von Abs. 2, sondern um einen eigenständigen Vertrag, der einen (vertraglichen) Kontrahierungszwang begründet.

7

b) Vorvertragliche Beratungspflichten beim IT-Vertrag aa) Beratungspflichten Die vorvertragliche Beratungspflicht i.S.v. Abs. 2 ist – unabhängig von ihrem Umfang (dazu Rz. 20 ff.) – abzugrenzen von der „freiwilligen“ Beratung und einem eigenständigen Beratungsvertrag. Der erste Fall betrifft die Konstellation, dass der Anbieter von sich aus beratend tätig wird, ohne dass ihn hierzu eine vorvertragliche Beratungspflicht trifft. Der Kunde fragt also eine Beratung an und der Anbieter könnte diese Beratung verweigern oder den Kunden auf einen eigenen Beratungsvertrag verwei8 9 10 11 12 13 14 15 16

BeckOK BGB/Sutschet, § 311 Rz. 39. MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 42. MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 45. Vgl. MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 48 f. m.w. Einzelfällen. Söbbing, ITRB 2005, 240. S. dazu auch Palandt/Ellenberger, vor § 145 BGB Rz. 18. Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 36. Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, Kap. G Rz. 23. BGH v. 17.12.1987 – VII ZR 307/86, NJW 1988, 1261 f.; jurisPK BGB/Seichter, 7. Aufl. 2014, § 463 Rz. 14.

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BGB § 311 Rz. 8 Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse sen. Grundlegend hierfür ist eine Entscheidung des BGH 1984 zum Leasing einer EDV-Anlage, wonach i.E. auf die Prüfung des Bestehens einer Beratungs- oder Aufklärungspflicht verzichtet werden kann, wenn tatsächlich „eine eingehende Beratungstätigkeit vorausgegangen ist“.17 Sobald der Anbieter also tatsächlich eine Beratungstätigkeit durchführt, haftet er für die Richtigkeit seiner Aussagen und macht sich ggf. schadensersatzpflichtig.18 Dogmatisch lässt sich auch diese Pflicht unter die Voraussetzungen für die Entstehung einer Beratungs- und Aufklärungspflicht subsumieren (s. dazu Rz. 10 ff.): Denn mit der Nachfrage des Kunden nach einer Beratungsleistung hat dieser sein Wissensgefälle für den Anbieter erkennbar vorgetragen. Die Abwägung der Risikoverteilung fällt stets zugunsten des Kunden aus, da der Anbieter durchaus die Möglichkeit hatte, die Beratung zu verweigern, aber hiervon keinen Gebrauch gemacht hat.19 9

Davon zu trennen ist die Frage, ob die vorvertragliche Beratungstätigkeit nicht als eigenständiger Beratungsvertrag eingeordnet werden kann.20 Diese schließt die Einstufung als vorvertragliche Pflicht i.S.d. § 311 Abs. 2 i.V.m. § 241 Abs. 2 aus. Zwar können auch solche Beratungsverträge konkludent geschlossen werden, Rspr. und Literatur zum IT-Vertrag sind bei der Annahme eines eigenständigen Beratungsvertrages gleichwohl sehr zurückhaltend. Soweit nicht ausdrücklich vertraglich geregelt, wird die Beratungsleistung nicht als selbstständiger Vertrag, sondern als Leistungsbestandteil des Hauptauftrages angesehen.21 Selbst wenn der Kunde seinen Pflichten nicht nachkommt, d.h. z.B. kein Lastenheft erstellt, und der Anbieter dadurch einen umfassenden Beratungsaufwand hat, soll dies nicht die Annahme eines eigenständigen Beratungsvertrages rechtfertigen.22 Unerheblich für die Einstufung als eigenständiger Beratungsvertrag ist auch, ob der Kunde explizit Beratungsbedarf geäußert hat oder nicht.23 Der konkludente bzw. stillschweigende Abschluss eines Beratungsvertrages ist damit eine Ausnahme. Will der Anbieter daher die Einstufung der Beratung als vorvertragliche Pflicht verhindern, muss er ausdrücklich einen gesonderten Beratungsvertrag abschließen.24 bb) Entstehung einer vorvertraglichen Beratungspflicht

10

In der IT-Praxis, zumal der Rspr., spielen die vorvertraglichen Beratungspflichten eine wesentliche Rolle. Allerdings wird der Begriff „Beratungspflicht“ in der Literatur und Rspr. zum IT-Recht häufig synonym sowohl für Beratungspflichten als auch Aufklärungs- und Erkundigungspflichten genutzt. Man könnte auch von einer „Beratungspflicht im weiteren Sinne“ sprechen.25 Dies überrascht nicht, sind doch die Grenzen zwischen den drei genannten Pflichten fließend und eine trennscharfe Unterscheidung damit nicht immer möglich und nötig.26 Gleichwohl ist grundsätzlich eine Unterscheidung zwischen den drei Arten vorzunehmen, da zumindest eine Erkundigungspflicht nur die absolute Ausnahme sein kann. Eine „Beratung im engeren Sinne“ ist danach nur die Beantwortung von ausdrücklich vom Kunden erbetenen Informationen, während die Aufklärung eine ungefragte Informierung des Kunden darstellt.27 Eine Erkundigung ist demgegenüber die eigen initiierte Ermittlung von Informationen als Vorfrage für eine anschließende Aufklärung und Beratung.28 Vereinzelt wird auch noch von

17 BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, NJW 1984, 2938 f. 18 Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Kap. D Rz. 12; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 239; vgl. hierzu auch allgemein MünchKomm/Bachmann/Roth, 6. Aufl. 2012, § 241 BGB Rz. 132, die dies unter die Fallgruppe der „positiven Falschinformation“ zusammenfassen. 19 S. dazu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. 20 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. 21 Schneider/Graf von Westphalen/Schneider, Software-Erstellungsverträge, Kap. C Rz. 256 ff.; Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. 22 Vgl. OLG Köln v. 22.9.1994 – 19 U 65/94, CR 1996, 22; ähnlich auch BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, NJW 1984, 2938 ff. 23 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. 24 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212 f. 25 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 210. 26 Ähnlich Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 228; vgl. auch MünchKomm/Bachmann/ Roth, 6. Aufl. 2012, § 241 BGB Rz. 131, die insoweit den Oberbegriff der „Informationspflichten“ bilden. 27 Vgl. Hörl, ITRB 2004, 39 m.w.N. 28 In diese Richtung auch Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 299 ff.

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Rz. 14 § 311 BGB

einer Hinweispflicht gesprochen, die aber ihrem Kern nach eine Aufklärung darstellt und damit keine eigene Fallgruppe bildet. Eine generelle Beratungs-, Aufklärungs- oder Erkundigungspflicht ist zivilrechtlichen Verträgen, und damit auch dem IT-Vertrag, fremd. Vielmehr ist stets im Einzelfall zu klären, ob eine solche Pflicht besteht. Dies wird im Grundsatz auch von Rspr. und Literatur so gesehen.29 Eine andere Auffassung würde den Abschluss eines entgeltlichen Beratungsvertrages obsolet machen und den Anbieter über Gebühr belasten. Insb. die Rspr. tendiert aber dazu, umfangreiche Beratungs- und Aufklärungspflichten bei IT-Verträgen ohne eine nähere Begründung anzunehmen und führte dadurch in den letzten Jahren faktisch eine generelle Pflicht zur Beratung und Aufklärung im IT-Recht ein.30 Dies hatte zur Folge, dass für die Frage des „Ob“ und „Wie“ von Beratungspflichten beim IT-Vertrag keine dogmatische Herleitung mehr vorgenommen, sondern lediglich auf die umfangreiche Kasuistik hierzu zurückgegriffen wird.

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Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Beratungs- und Aufklärungspflicht grundsätzlich immer dann angenommen werden kann, wenn dies für die Ermittlung der für den Kunden geeigneten EDV-Anlage (ggf. mit dazugehöriger Software) erforderlich ist und der Anbieter Kenntnis von den konkreten Wünschen des Kunden hat. Hieraus folgt zugleich, dass eine Beratungs- oder Aufklärungspflicht allenfalls eingeschränkt bestehen kann, wenn der Anbieter keine Kenntnis von den Wünschen des Kunden hat. So hat auch schon das OLG Frankfurt31 im Jahre 1990 prägnant dahingehend zusammengefasst, dass eine Hinweispflicht auf drohende Schwierigkeiten dem Auftragnehmer nur obliegt, wenn er Kenntnis von den relevanten Schwierigkeiten erlangt.

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Das Vorliegen einer Beratungspflicht ist anhand eines Prüfungsschemas zu ermitteln. Anhand der umfangreichen Rspr. zu Aufklärungs- und Beratungspflichten im Zivilrecht sind grundsätzliche Voraussetzungen festzulegen, nach denen dann bestimmt werden kann, ob eine solche Pflicht anzunehmen ist. Olzen32 hat hierzu fünf Prüfungspunkte entwickelt, die sich auch auf den IT-Vertrag übertragen lassen:33 (1) Bestehen eines Wissensgefälles, (2) Erkennbarkeit des Wissensgefälles für die wissende Partei, (3) Entscheidungserheblichkeit für die nichtwissende Partei, (4) Schutzwürdigkeit der nichtwissenden Partei und (5) Abwägung der Risikoverteilung.

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(1) Wissensgefälle Wichtigstes Kriterium für das Bestehen einer Beratungspflicht ist das Wissensgefälle und dessen Erkennbarkeit für die wissende Partei.34 Das „Gefälle“ bezeichnet die erforderliche Differenz zwischen dem Wissen des Anbieters und das des Kunden. Das Wissensgefälle kann sich dabei aufseiten des Anbieters aus einer überlegenen Sachkunde über die DV-Technik an sich, die Möglichkeiten seiner Hardund Software, die häufig vorkommenden Umsetzungsprobleme oder auch den für die Bearbeitung des Auftrags notwendigen Unterlagen und Darstellungen ergeben.35 Die konkreten technischen Bedingungen beim Kunden sind hingegen für die Beurteilung des Wissensgefälles unmaßgeblich, zumindest soweit der Anbieter hierüber keine Kenntnis hat, was etwa bei vorgelagerter Anfertigung durch eine ISTAnalyse (s. dazu § 631 Rz. 41) durch den Anbieter anders sein kann. Es kann zudem sein, dass seine Pflicht dahingehend besteht, den Kunden darüber zu informieren, dass er Kenntnis über diese Umstän-

29 Vgl. allgemein für Rechtsgeschäfte BGH v. 13.7.1983 – VIII ZR 112/82, NJW 1983, 2697 und speziell für ITVerträge Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 236; Zahrnt, NJW 1995, 1785. 30 Ähnlich Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 5, wonach nur noch der Umfang von Beratungs- und Aufklärungspflichten streitig ist. 31 OLG Frankfurt v. 15.6.1988 – 13 U 151/87, CR 1990, 127 ff. 32 Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 447 ff. i.V.m. Rz. 485. 33 Hierzu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 211 ff. 34 Vgl. hierzu nur BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, NJW 1984, 2938; Hörl, ITRB 2004, 39 f. 35 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 211 ff.

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BGB § 311 Rz. 14 Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse de für die Bearbeitung des Auftrags braucht.36 Bei der Beurteilung des Wissens aufseiten des Anbieters kommt es im Übrigen aber auch nicht zwingend auf das tatsächlich vorhandene Wissen an. Wirbt der Anbieter offensiv mit seiner hohen Beratungskompetenz und seinem überlegenen Wissen, wird es auf sein tatsächliches Wissen nicht mehr ankommen.37 15

Aufseiten des Kunden ist hingegen maßgeblich, ob dieser gerade im Hinblick auf das konkrete Projekt fachkundig ist.38 Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, dass durch die weite Verbreitung von EDV-Anlagen in Privathaushalten mittlerweile von einem hohen Sachverstand der Kunden auszugehen ist,39 ist das mit Blick auf IT-Projekte nicht relevant. Denn die Nutzung eines Heim-PCs zu Surf- und Recherchezwecken lässt keine Rückschlüsse auf den Sachverstand bei der Installation einer komplexen EDV-Anlage (etwa einer aufwendigen Server- bzw. Active Directory-Installation) und passender Individualsoftware zu. Daher kann für die Beurteilung des Wissensgefälles aufseiten des Kunden allein die Sachkunde hinsichtlich des konkreten Projekts maßgeblich sein. Ein Wissensgefälle kann folglich auch dann anzunehmen sein, wenn der Unternehmenskunde sich ausschließlich mit einer speziellen Software beschäftigt oder eine eigene EDV-Abteilung unterhält, aber für das betreffende Projekt gleichwohl keine Sachkunde besitzt.40 Hat der Kunde also eine gewisse Sachkunde in Bezug auf das konkrete Projekt und ist die Wissensdifferenz daher gering, können auch allenfalls nur schwach ausgeprägte Beratungs- und Aufklärungspflichten entstehen.41 Hat der Kunde sogar eine Sachkunde auf Anbieterniveau, fehlt es komplett an einer Differenz zwischen dem Wissen des Anbieters und des Kunden und damit an der Voraussetzung des Wissensgefälles. Eine Beratungs- oder Aufklärungspflicht kann in diesem Fall nicht entstehen.42 (2) Erkennbarkeit und Entscheidungserheblichkeit

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Nicht ausreichend ist, ob der Kunde objektiv als „Laie“ einzustufen ist.43 Denn eine Beratungs- oder Aufklärungspflicht kann nach dem obigen Schema nur bei einer Erkennbarkeit des Wissensgefälles entstehen. Diese kann im vorvertraglichen Bereich daher erst ab dem Zeitpunkt angenommen werden, ab dem der Anbieter Kenntnis von dem Wissensgefälle erlangt.44 Allerdings kann der Anbieter sich nicht stets mit dem Argument exkulpieren, er hätte von einem Wissensgefälle nichts gewusst.45 Vielmehr muss der Anbieter im EDV-Bereich wohl grundsätzlich von einer Wissensdifferenz ausgehen.46 Will er die Erkennbarkeit erschüttern, wird ihn hierfür wohl zumindest eine gesteigerte Darlegungslast im Prozess treffen.47

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Ist hiernach ein erkennbares Wissensgefälle gegeben, scheidet eine Beratungs- und Aufklärungspflicht dennoch aus, wenn die Schließung der Wissenslücke für die Entscheidung des Kunden unerheblich ist,48 es mit anderen Worten an der Kausalität fehlt.49 Hätte der Kunde seine Anforderungen an das ITProjekt nach Schließung der Wissenslücke nicht geändert, besteht kein Grund, den Anbieter für spätere Schäden durch die Annahme einer Aufklärungs- und Beratungspflicht haften zu lassen. Allerdings wird hier – ähnlich wie bei der Beratung des Mandanten durch den Rechtsanwalt50 – grundsätzlich von einem beratungsgerechten Verhalten auszugehen sein, sofern bei pflichtgemäßer Beratung nur eine ein36 A.A. insoweit Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 567, wonach die fehlende Kenntnis des Anbieters über die Gegebenheiten beim Kunden das Argument der überlegenden Sachkunde zum „Mythos“ mache. 37 Ähnlich Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 568. 38 Schneider/von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 6. 39 Vgl. Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, Nr. 30, Rz. 21, mit der Einschränkung, dass eine solche Sachkenntnis aber nicht vorausgesetzt werden dürfe. 40 So auch Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 6. 41 Vgl. OLG Köln v. 29.7.2005 – 19 U 4/05, OLGR Köln 2005, 642 ff. 42 Vgl. Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, Nr. 30, Rz. 25. 43 S. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 211 f. 44 So zutreffend OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, CR 1994, 212. 45 Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 211 f. 46 Ähnlich Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, Nr. 30, Rz. 21. 47 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. 48 Vgl. hierzu ausführlich Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 452. 49 S. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. 50 Vgl. zur dieser st. Rspr. nur BGH v. 10.5.2012 – IX ZR 125/10, NJW 2012, 2439.

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Rz. 20 § 311 BGB

zige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte. Der Anbieter muss dementsprechend beweisen, dass eine Beratung bzw. Aufklärung keine Auswirkungen auf die Entscheidung des Kunden gehabt hätte.51 (3) Schutzwürdigkeit Der Prüfungspunkt der Schutzwürdigkeit entfaltet für den IT-Vertrag i.d.R. keine größere Bedeutung, da es hier nur um die Ablehnung einer Aufklärungs- und Beratungspflicht bei Umständen geht, die grundrechtlichen Schutz genießen.52

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(4) Abwägung und Risikoverteilung Der schwierigste Punkt der Prüfung des Vorliegens einer Beratungspflicht ist die Abwägung der Risiko- 19 verteilung. Hier geht es um die Prüfung der Zumutbarkeit der Informationsweitergabe in Form einer Interessenabwägung,53 also letztlich um das „Wie“ von Beratungs- und Aufklärungspflichten, während die vorherigen Punkte das „Ob“ einer solchen Pflicht klären. Dabei handelt es sich zwar um eine Entscheidung des Einzelfalls, generell kann sich die Pflicht zur Beratung und Aufklärung aber auf folgende typischen Umstände beziehen:54 – Art und Weise der Verwendung im konkreten Unternehmen – Technische Ausgestaltung des IT-Systems und der Software – Anforderungen an vorhandene IT55 – Kompatibilitätsprobleme – Kapazitätsprobleme56 – Modellwechsel beim beabsichtigten Liefergegenstand – Umsetzungshindernisse bei den Wünschen des Kunden57 – Kosten und Folgekosten des IT-Auftrages58 – Günstigere Umsetzungsmöglichkeiten.59 Die letztgenannte, vom OLG Köln60 angenommene Aufklärungspflicht über eine günstigere Möglichkeit, das geplante Projekt umzusetzen, ist im entschiedenen Fall zwar zutreffend, man wird aber differenzieren müssen. Die Abwägung fällt dann zugunsten einer Aufklärungs- und Beratungspflicht aus, wenn der Gegenstand der Information für den Kunden gravierende, besonders bedeutsame Umstände betrifft.61 Der eigentliche Preis eines Produkts ist für den Kunden zwar ein bedeutsamer Umstand, verliert aber an Bedeutung, wenn der Kunde die Möglichkeit hat, sich über die Preise ähnlicher IT-Verträge bei Konkurrenten zu informieren.62 Unterlässt er dies, fehlt es an einem schutzwürdigen Interesse bzgl. des günstigsten Preises. Daher kann jedenfalls dann keine Pflicht zur Aufklärung über einen günstigeren Preis bestehen, wenn der vereinbarte Preis dem Marktwert entspricht.63 Etwas anderes ist aber dann der Fall, wenn der Anbieter unter Ausnutzung seines überlegenen Wissens den Kunden nicht darüber informiert, dass es eine preiswertere Lösung für seinen Wunsch bzw. für sein Problem gibt. Bietet 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 212. Vgl. hierzu im Einzelnen Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 453. Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 454. S. dazu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 213. OLG Frankfurt v. 15.6.1988 – 13 U 151/87, CR 1990, 127. OLG Karlsruhe v. 30.9.1994 – 15 U 89/94, CR 1995, 397. Müglich/Lapp, CR 2004, 801, 803. OLG Köln v. 21.2.1992 – 19 U 220/91, CR 1992, 468. OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, CR 1994, 212. OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, CR 1994, 212. Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 455. So auch OLG Naumburg v. 24.4.2014 – 2 U 28/13, CR 2014, 739, 740 für die Kosten eines IT-Systemvertrages. 63 Vgl. BGH v. 13.7.1983 – VIII ZR 142/82, NJW 1983, 2493, 2494, der eine Aufklärungspflicht über die Senkung des Herstellerlistenpreises verneint.

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BGB § 311 Rz. 20 Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse der Dienstleister etwa die Überarbeitung der schlecht gemachten Programmierung einer Internetpräsenz für 200.000 Euro an und rechnet diese ab, obwohl er weiß, dass eine Neuprogrammierung nur 50.000 Euro kosten würde, so dürfte hierin im Regelfall eine Verletzung seiner Beratungspflicht liegen.64 21

Auch in den übrigen Fallgruppen lässt sich festhalten, dass der Umfang von Beratungspflichten sowohl von der Art und Tiefe der Vorgespräche als auch den Kenntnissen des Anbieters von den Wünschen des Kunden abhängt. Gibt es also keine Vorgespräche und hat der Anbieter dementsprechend keine Kenntnisse von den Einsatzzwecken des Kunden, kann sich auch keine dementsprechende Beratungsoder Aufklärungspflicht ergeben.65 Gleichwohl ist eine Aufklärungspflicht in diesen Fällen nicht gänzlich ausgeschlossen. So hat der Anbieter stets darauf hinzuweisen, wenn die gewünschte EDV-Anlage nicht den an den Kunden adressierten gesetzlichen Anforderungen entspricht.66

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Auch über häufig vorkommende Probleme bei der Umsetzung des IT-Auftrages ist durch den Anbieter unabhängig von der Tiefe der Vorgespräche bei Vorliegen eines Wissensgefälles aufzuklären.67 Haben Gespräche zwischen Kunde und Anbieter stattgefunden, ist wiederum entscheidend, auf welche Art und Weise der Kunde seine Wünsche spezifiziert hat. Hat der Kunde konkrete Vorgaben an die einzusetzenden Produkte und deren Versionen gemacht (also z.B. die Angabe, er möchte Windows Server 2012 installiert haben), besteht kein Bedürfnis für eine ungefragte Beratungspflicht.68 Erklärt der Kunde hingegen nur, dass das Produkt den speziellen Anforderungen seines Unternehmens genügen müsse, hat der Anbieter die Pflicht zur umfassenden Beratung (also z.B. welche Vor- und Nachteile die verschiedenen Server-Lösungen haben) oder muss den Kunden auf einen eigenständigen Beratungsvertrag verweisen.69 Genauso trifft den Anbieter die Pflicht, darüber aufzuklären, wenn bestimmte Daten, Unterlagen oder Leistungsbeschreibungen für die Bearbeitung des Auftrages fehlen.70 Insoweit kann die Erfüllung der Beratungs- und Aufklärungspflichten auch durchaus dazu führen, dass die dem Anbieter daraufhin vom Kunden erteilten Informationen weitere Pflichten auslösen. Die Aufklärungspflicht kann dann auch nur Vorstufe für eine daraufhin eintretende Beratungspflicht sein.71 cc) Beratungspflicht in Form von Ermittlungs- und Erkundigungspflicht

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Die Rspr. hat häufig nicht nur verlangt, dass der Kunde im Rahmen des Kenntnisstandes des Anbieters aufzuklären und zu beraten ist, sondern auch zu eigenständigen Ermittlungs- und Erkundigungspflichten tendiert, d.h. genau die Informationen selbstständig beim Kunden einzuholen, die spätere Aufklärungs- und Beratungspflichten auslösen. I.E. wird damit das Problem der fehlenden Kenntnis des Anbieters über die Wünsche des Kunden und die bei ihm vorliegenden Gegebenheiten, die der Annahme einer Aufklärungs- oder Beratungspflicht entgegenstehen, durch die Konstruktion einer Erkundigungs- und Ermittlungspflicht kompensiert.72 Das OLG Köln73 ist insoweit der Ansicht, dass den Anbieter die Pflicht zur Ermittlung der betrieblichen Bedürfnisse beim Kunden treffe. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2005 formulierte es sogar noch umfassender, dass den Anbieter die Pflicht träfe, „dass er von sich aus die innerbetrieblichen Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen ermittelt, für ihn erkennbare Unklarheiten aufklärt, bei der Formulierung der Bedürfnisse hilft und Organisationsvorschläge zur Problemlösung unterbreitet“.74 Etwas anderes solle nur dann gelten, wenn der Kunde genügend eigene Sachkunde habe oder präzise Vorgaben gemacht habe.75

64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Schuster/Hunzinger, CR 2015, 213. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 213. Vgl. BGH v. 16.011985 – VIII ZR 317/83, NJW 1985, 1769, 1771. Ähnlich Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 253. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 213. Vgl. Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 246. Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 11. Hörl, ITRB 2004, 39, 40. Kritisch dazu bereits Schuster/Hunzinger, CR 2015, 214. OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, CR 1994, 212. OLG Köln v. 29.7.2005 – 19 U 4/05, OLGR Köln 2005, 642. OLG Köln v. 29.7.2005 – 19 U 4/05, OLGR Köln 2005, 642.

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Rz. 26 § 311 BGB

Eine solche Ermittlungs- und Erkundigungspflicht ist i.E. abzulehnen.76 Sie lässt sich weder dogma- 24 tisch begründen noch entspricht dies der Pflichten- und Risikoverteilung beim IT-Vertrag. Denn es gehört zu den Pflichten des Kunden, seine Anforderungen, Bedürfnisse und Wünsche zu formulieren. Auch unter Zugrundelegung des Wissensgefälles lässt sich nicht begründen, weshalb diese Pflicht auf den Anbieter übertragen werden sollte. Das Wissensgefälle führt nämlich nicht zu der Unzulänglichkeit, seine Anforderungen und Bedürfnisse abstrakt – ggf. in der Sprache des IT-Laien – formulieren zu können. Sollte es dennoch zu der Konstellation kommen, dass für den Kunden nicht erkennbar war, dass es auf eine Information ankommt, ist dieser ausreichend dadurch geschützt, dass der Anbieter – wie bereits festgestellt – zur Aufklärung darüber verpflichtet ist, dass die betreffenden Informationen für eine korrekte Projektausführung fehlen. Für die Annahme einer darüber hinausgehenden Ermittlungs- und Erkundigungspflicht besteht daher kein schützenswertes Bedürfnis.77 dd) Lastenheft als Teil der Beratungspflicht Schließlich stellt sich die Frage, ob auch die Erstellung des sog. Lastenheftes78 als Teil der Beratungspflicht den Anbieter treffen kann. Die Erstellung des Lastenheftes gehört grundsätzlich zum Pflichtenkreis des Kunden, wobei er diese Pflicht in eigener Verantwortung und auf eigene Kosten zu erfüllen hat (s. § 631 Rz. 50 ff.).79 Sinn und Zweck des Lastenheftes ist es, alle Anforderungen an das Produkt zusammenzufassen und zu beschreiben, was das Produkt bezogen auf Funktion und Leistung erfüllen soll.80 Der Sache nach soll der Kunde seine Anforderungen und Wünsche dem Anbieter mitteilen. Würde diese Pflicht dem Anbieter auferlegt, würde es sich um eine Erkundigungs- und Ermittlungspflicht handeln, die – wie oben festgestellt – abzulehnen ist. Daher kann den Anbieter allenfalls die Aufklärungspflicht treffen, dass eine Bearbeitung des Auftrags ohne die Erstellung eines Lastenheftes nicht sinnvoll möglich ist.81 Ist der Anbieter dieser Pflicht nachgekommen und erstellt der Kunde daraufhin dennoch kein Lastenheft, schuldet der Anbieter nur einen „mittleren Ausführungsstandard“, er ist aber nicht zur eigenständigen Erstellung des Lastenheftes als Teil einer vorvertraglichen Beratungspflicht verpflichtet.82

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c) Gescheiterte Vertragsverhandlungen im IT-Bereich Den Parteien steht es grundsätzlich frei, bis zu einem definitiven Vertragsschluss die Vertragsverhandlungen ohne sachlichen Grund abzubrechen und von einem Vertragsabschluss Abstand zu nehmen.83 Dies hat zur Folge, dass auch Aufwendungen, die eine Partei im Vertrauen auf den erhofften Vertragsschluss tätigt, nicht ersatzfähig sind. Eine Ersatzpflicht beim Abbruch von Vertragsverhandlungen kommt aber ausnahmsweise dann in Betracht, wenn eine Partei den Abbruch ohne triftigen Grund vornimmt und ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, bei der anderen Partei also in zurechenbarer Weise der Eindruck erweckt wurde, dass ein Vertragsabschluss mit Sicherheit zu erwarten ist.84

76 So auch BGH v. 16.6.2004 – VIII ZR 303/03, NJW 2004, 2301, 2302; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 299 ff. 77 S. dazu Schuster/Hunzinger, CR 2015, 214. 78 Zu dem Problem der Verwirrung über die Abgrenzung zu Pflichten und dem Umstand, dass eigentlich streng zwischen Pflichten- und Lastenheft unterschieden werden sollte, vgl. ausf. Roth/Dorschel, ITRB 2008, 189 f. sowie § 631 Rz. 45 ff. 79 H.M., vgl. nur BGH v. 24.9.1991 – X ZR 85/90, NJW-RR 1992, 557; Kilian/Heussen/Moritz, ComputerrechtsHandbuch, Nr. 30, Rz. 16. 80 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Sarre, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 2. Aufl. 2016, § 1 Rz. 448 ff.; Roth/ Dorschel, ITRB 2008, 189 f. 81 Vgl. OLG Stuttgart v. 18.10.1988 – 6 U 64/88, CR 1989, 598 m. Anm. Breidenbach; Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D. Rz. 8; Hörl, ITRB 2004, 39, 40. 82 Vgl. BGH v. 24.9.1991 – X ZR 85/90, NJW-RR 1992, 557; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 308. 83 H.M., vgl. nur BGH v. 29.3.1996 – V ZR 332/94, NJW 1996, 1884, 1885; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. Rz. 1; BeckOK BGB/Sutschet, § 311 Rz. 57 jeweils m.w.N. 84 BGH v. 28.3.1977 – VIII ZR 242/75, WM 1977, 618; BGH v. 22.2.1989 – VIII ZR 4/88, NJW-RR 1989, 627; BeckOK BGB/Sutschet, § 311 Rz. 58; Jauernig/Stadler, § 311 BGB Rz. 61 jeweils m.w.N.

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BGB § 311 Rz. 27 Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse 27

Bei IT-Verträgen kommt es besonders häufig vor, dass der Anbieter bereits vor dem Abschluss des Vertrages umfangreiche Aufwendungen tätigt. Insb. Beratungsleistungen werden dann aber nicht als selbstständiger Vertrag, sondern i.d.R. als vorvertraglicher Leistungsbestandteil des Hauptauftrages angesehen.85 Allerdings kann es gerade im Bereich der Software-Erstellung vorkommen, dass der Anbieter bereits mit der Umsetzung des geplanten Vertrages noch vor der Unterzeichnung anfängt, weil nur so eine sinnvolle Präsentation der angedachten Software möglich ist. Die daraus resultierenden Ergebnisse sind für den Kunden in diesen Fällen auch bei Abbruch der Vertragsverhandlungen verwertbar, so dass in diesen Fällen ausnahmsweise ein konkludent geschlossener Vertrag angenommen werden kann.86 Ein günstigeres Angebot eines anderen Anbieters oder beispielsweise die Verschlechterung der durch den Vertrag beabsichtigten Einsatzmöglichkeiten von Hard- und Software reicht für die Annahme eines triftigen Grundes aus. Ändert der Kunde also innerbetrieblich seine Organisation und wird eine geplante Hard- oder Softwareanschaffung dadurch entbehrlich, wird ein Ersatzanspruch für Aufwendungen abzulehnen sein.87

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Ist ein Ersatzanspruch wegen Abbruch der Vertragsverhandlungen zu bejahen, ist zu beachten, dass nur solche Aufwendungen ersatzfähig sind, die nach Entstehung des Vertrauenstatbestandes entstanden sind. Hat der Anbieter also umfangreiche Präsentationen erstellt und hierfür zuvor den Bedarf anhand der bestehenden Hard- und Software des Kunden abgesteckt, sind die angefallenen Aufwendungen nicht ersatzfähig, wenn der Kunde sich noch eine Wahl unter mehreren Anbietern vorbehalten hat und bei dem Anbieter noch kein schützenswertes Vertrauen durch die Ernennung zum einzigen möglichen Vertragspartner erweckt wurde.88 Darüber hinaus lässt sich eine Ersatzfähigkeit nur für solche Aufwendungen bejahen, die im konkreten Fall erforderlich waren und mit denen die andere Partei rechnen musste und konnte. Daher sind i.d.R. nur Kosten für die Abklärung des Bedarfs beim Kunden ersatzfähig, die für spätere Durchführung der Arbeiten nach Vertragsschluss erforderlich sind. Die Beschaffung von Hardware, Software, Lizenzen und die Schulung von Mitarbeitern des Kunden gehören hingegen nicht mehr zur Bedarfsabklärung und damit auch nicht zu den ersatzfähigen Kosten im Rahmen eines Anspruchs über Abs. 2.89 In diesen Fällen kann jedoch ggf. ein konkludenter Vertragsschluss anzunehmen sein.

IV. Schuldverhältnis mit Dritten (§ 311 Abs. 3) 29

Abs. 3 ist eine Durchbrechung des Grundsatzes der Relativität der Schuldverhältnisse.90 Er stellt nämlich klar, dass ein Schuldverhältnis mit den Pflichten aus § 241 Abs. 2 ausnahmsweise auch zu Dritten entstehen kann, die nicht Vertragspartei werden sollen. Die Vorschrift regelt damit faktisch die Haftung Dritter nach vertraglichen Vorschriften. Von der Eigenhaftung Dritter i.S.d. Abs. 3 – etwa des Vertreters oder Verhandlungsgehilfen eines Vertragspartners91 – ist der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte abzugrenzen. Dabei handelt es sich um einen, schon seit ersten Entscheidungen des Reichsgerichts anerkannten, Vertrag sui generis mit Schutz- und Rücksichtnahmepflichten ggü. Dritten.92 Dogmatisch hergeleitet wird dieser Anspruch aus § 328; Abs. 3 ist hingegen nicht die gesetzliche Grundlage für diesen Vertrag.93 Dies ergibt sich bereits aus der Gesetzesbegründung.94

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Die sog. Sachverständigen- oder Sachwalterhaftung (Expertenhaftung) nach Abs. 3 Satz 2 kann auch im IT-Bereich Bedeutung erlangen, etwa wenn zur Beurteilung der Einsatzmöglichkeiten von Hard85 S. dazu Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. E Rz. 11 ff.; Schneider/Graf von Westphalen/ Schneider, Software-Erstellungsverträge, Kap. C Rz. 256 ff. 86 OLG Nürnberg v. 18.2.1993 – 12 U 1663/92, CR 1993, 553, 555; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 4. Aufl. 2009, Kap. O Rz. 253; Alpert, CR 2001, 213, 219. 87 So auch Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 26. 88 Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Kap. D Rz. 30. 89 Vgl. LG Stuttgart v. 22.3.2002 – 8 O 420/99, CR 2002, 646. 90 Jauernig/Stadler, § 311 BGB Rz. 49. 91 S. MünchKomm/Gottwald, § 328 BGB Rz. 171. 92 Vgl. zur Entwicklung seit RG (RGZ 91, 21, 24) ausf. BeckOK BGB/Janoschek, 34. Ed. 2015, § 328 Rz. 46. 93 H.M., vgl. nur Staudinger/Feldmann/Löwisch, § 311 BGB Rz. 199 ff.; MünchKomm/Gottwald, § 328 BGB Rz. 166 m.w.N.; a.A. aber Kilian, NZV 2004, 489, 494 m.w.N. 94 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, 163.

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§ 313 BGB

Störung der Geschäftsgrundlage

und Software auf Veranlassung der Gegenseite (also des Auftragnehmers) ein Drittunternehmen eingesetzt wird, auf dessen unabhängige, sachkundige Stellungnahme der Kunde (Auftraggeber) vertraut.95 Das gleiche gilt, wenn bei Problemen, Mängeln oder Schäden von IT-Systemen Dritte als neutrale Sachverständige zur Lösung oder auch gütlichen Einigung beigezogen werden.

V. Rechtsfolgen Die Rechtsfolgen bei einer Verletzung gegen Aufklärungs- oder Beratungspflichten ergeben sich aus § 280 Abs. 1, so dass der Geschädigte grundsätzlich verlangen kann, so gestellt zu werden, wie er ohne die vorvertragliche Pflichtverletzung gestanden hätte.96 Das gilt auch für Ansprüche nach Abs. 2.97 Gerade bei Aufklärungspflichten ist die erforderliche Kausalität festzustellen, deren Beweis im Einzelnen schwierig sein kann.98 Im Übrigen gelten die bei § 280 dargestellten Grundsätze (s. § 280 Rz. 1 ff.).

§ 313 Störung der Geschäftsgrundlage (1) Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. (2) Einer Veränderung der Umstände steht es gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen. (3) Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten. An die Stelle des Rücktrittsrechts tritt für Dauerschuldverhältnisse das Recht zur Kündigung. I. 1. 2. II.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . . 3 Tatbestand: Wegfall bzw. Fehlen der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Umstände bzw. wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind . . 7 2. Schwerwiegende Änderung von Umständen . . 12 3. Unzumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

4. Risikoverteilung – Abgrenzung der Risikosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 5. Hypothetischer Parteiwille . . . . . . . . . . . . 23 6. Besonderheiten im IT-Bereich . . . . . . . . . . 25 III. 1. 2. 3.

Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . Vertragsanpassung . . . . . . . . Vertragsauflösung (§ 313 Abs. 3) Verhältnis zu anderen Normen .

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Literatur: Backu, Die Behandlung von Software bei Umwandlungen nach dem UmwG – Grundlagen, Risiken und Schutzmechanismen für Rechtsträger und Vertragspartner, ITRB 2009, 213; Bräutigam, IT-Outsourcing und CloudComputing, 3. Aufl. 2013 (zitiert: Bräutigam/Bearbeiter, IT-Outsourcing); Determann/Weigl, Auswirkungen russischer Datenvorhaltungspflichten auf Cloud- und Internetdienste, CR 2015, 510; Farris/Katzenstein, Trump Executive Order Puts Privacy Shield’s Future in Doubt, The National Law Review, 2017, http://www.natlawreview.com/ article/trump-executive-order-puts-privacy-shield-s-future-doubt; Fumy, Quantencomputer und die Zukunft der Kryptographie, DuD 2017, 13; Grützmacher, Unternehmens- und Konzernlizenzen – Zur Einräumung urheberrechtlicher Nutzungsrechts an Software bei Unternehmens- und Konzernlizenzen, ITRB 2004, 204; Hecht, Wert95 S. dazu auch MünchKomm/Gottwald, § 328 BGB Rz. 174. 96 S. MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 201 ff. mit weiteren Einzelheiten zum Streit, inwieweit das negative oder positive Interesse verlangt werden kann. 97 BeckOK BGB/Sutschet, § 311 Rz. 126. 98 Ausführlich dazu etwa MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 207 ff.

Schuster und Duisberg/Wieser

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BGB § 313 Rz. 1 Störung der Geschäftsgrundlage sicherungsklauseln in IT-Verträgen, ITRB 2006, 118; Koch, IT-Change Management nach ITIL und ISO/IEC 20000, ITRB 2008, 61; Mann, Vertragsgestaltung beim IT-Outsourcing – Besonderheiten und Fallstricke, MMR 2012, 499; Rössel, Risikomanagement beim Softwarepflegevertrag – Pflegeausschluss bei atypischen Mängeln?, ITRB 2004, 189; Schneider, Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017 (zitiert: Schneider/Bearbeiter, Handbuch EDV-Recht); Schneider/ Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, 2. Aufl. 2014 (zitiert: Schneider/Graf von Westphalen/Bearbeiter, Software-Erstellungsverträge); Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing: Recht, Strategie, Prozesse, IT, Steuern und Cloud Computing, 4. Aufl. 2015 (zitiert: Söbbing/Bearbeiter, Handbuch IT-Outsourcing); Söbbing, MAC-Klauseln in IT-Verträgen – Veränderungen im Projekt erkennen und Rechtsfolgen vertraglich regeln, ITRB 2008, 257; Söbbing, Russland: Neue Anforderungen zur Lokalisierung der Verarbeitung von Personendaten, MR-Int 2015, 36.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

§ 313 normiert eine schon vor seiner Einführung 2002 anerkannte1 Einschränkung des Grundsatzes „pacta sunt servanda“2 als besondere Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242).3 Demnach kann der Vertrag geändert oder aufgehoben werden, wenn die Geschäftsgrundlage des Vertrags von vornherein fehlt (Abs. 2) oder später wegfällt (Abs. 1).4 Nach st. Rspr. wird die Geschäftsgrundlage eines Vertrages gebildet durch die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, aber bei Vertragsschluss zutage getretenen gemeinschaftlichen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien sich aufbaut.5

2

Rspr. und Lehre unterscheiden zwischen objektiver Geschäftsgrundlage (objektive Gesichtspunkte wie z.B. Äquivalenz- oder Zweckstörungen – § 313 Abs. 1) und subjektiver Geschäftsgrundlage (Vorstellungen der Parteien, gemeinsamer Irrtum – § 313 Abs. 2).6 Daneben wird zwischen großer Geschäftsgrundlage (grundlegende politische, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen des Vertrags, die sich durch allgemeine Katastrophen wie Krieg oder Naturkatastrophen verändern) und kleiner Geschäftsgrundlage (übrige Fälle mit geringeren Auswirkungen) unterschieden.7 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

3

§ 313 findet auf alle schuldrechtlichen Verträge, damit auch auf alle denkbaren IT-Verträge Anwendung,8 wobei die in der Praxis berichteten Fälle bislang verschwindend gering sind. § 313 kommt dabei nur zur Anwendung, soweit die gewünschten Folgen eines Ereignisses nicht durch Vertragsauslegung ermittelt werden können.9

4

Zwar ist § 313 nach seinem Wortlaut nicht auf Dauerschuldverhältnisse beschränkt; Hauptanwendungsbereich sind jedoch langfristige Verträge, bei denen im Laufe der Zeit unvorhergesehene Um-

1 Zur Entstehungsgeschichte der Norm ausführlich MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 20 ff. 2 Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 1; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 1; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 2. 3 BT-Drucks. 14/6040, 174; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 1. 4 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 1, 19: Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 2; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 313 BGB Rz. 27. 5 BGH v. 29.4.1982 – III ZR 154/80, NJW 1982, 2184; BGH v. 1.2.2012 – VIII ZR 307/10; BT-Drucks. 14/6040, 174. 6 BT-Drucks. 14/6040, 174; gegen diese Unterscheidung MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 12 ff. 7 BT-Drucks. 14/6040, 174; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 17; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 3. 8 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 47; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 6; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 23. 9 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 5; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 8; Dauner-Lieb/Langen/ Krebs, § 313 BGB Rz. 10.

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Störung der Geschäftsgrundlage

Rz. 8 § 313 BGB

stände eintreten,10 während zumindest eine Leistungspflicht noch nicht erfüllt ist.11 Eine Anpassung bereits vollständig erfüllter Verträge kann, wenn überhaupt, wohl nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen.12 Derartige Fälle sind im Bereich der IT-Verträge kaum denkbar. § 313 ist abdingbar. Die Parteien können die Umstände vereinbaren, unter denen eine Vertragsanpassung möglich sein soll, oder eine solche ganz ausschließen. Auch eine solche Vereinbarung kann als Teil des Vertrags jedoch korrekturbedürftig i.S.v. § 313 sein.13

5

IT-Verträge weisen typischerweise eine vertragsinhärente Flexibilität und Anpassungsmöglichkei- 6 ten, etwa in Form von Change Management Regeln auf, so dass für einen Rückgriff auf § 313 kein Raum ist (vgl. Rz. 24). Im Ergebnis bleibt für § 313 in der Praxis daher nur ein geringer Anwendungsbereich, der insbesondere dort relevant wird, wo Change Management Regeln fehlen oder nicht ausreichen. Insbesondere Outsourcing-Verträge und ähnliche, auf komplexe Kundenanforderungen ausgerichtete Leistungsbeziehungen, die sich ggf. über Zeit wandeln, werden typischerweise durch Change Request Klauseln abgesichert. Damit nehmen die Parteien zum einen den Bedarf an neu hinzutretenden Kundenbedürfnissen vorweg. Zum anderen adressieren sie mit zum Teil sehr ausgefeilten Regelungen zum Verfahren der Vertragsanpassung auch die Justierung des wechselseitigen Äquivalenzinteresses einschließlich der entsprechenden Bepreisung – entweder im Rahmen der Change Request Regelung selbst, oder auch im Rahmen von Benchmarking-Regelungen, die der Überprüfung der vertraglichen Balance und ggf. nachträglicher Preisanpassungen dienen.14 Solche privatautonomen Regelungen entsprechen der praktischen Vertragsvernunft. Sie erzielen typischerweise bessere und stärker kalibrierte Ergebnisse. Auf der Tatbestandsebene wirken sie sich auf die Beurteilung des hypothetischen Parteiwillens aus (vgl. Rz. 23 ff.). Haben Change Management Regeln Eingang in den Vertrag gefunden, kann für die von ihnen erfassten Themenstellungen gerade nicht davon ausgegangen werden, dass die Parteien gem. 313 Abs. 1 „den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen [hätten], wenn sie diese Veränderungen vorausgesehen hätten“. Auch die Hinzunahme von Schiedsgutachtern, Mediatoren oder Sachverständigen, die im Rahmen einer vorher vereinbarten „Expert Determination“ ggf. schiedsgutachterliche Entscheidungen als vorab vereinbarte, verbindliche Regelungen zur Behebung von Äquivalenzstörungen bzw. Teilaspekte einer Äquivalenzstörung treffen, erweitern das Spektrum einer Streiterledigung innerhalb einer bestehenden Vertragsbeziehung in einer Weise, wie dies – was oft genug die Sachkunde im Umgang mit komplexen Technologieprojekten, aber auch den engen Korridor der antragsgebundenen Streiterledigung betrifft – den ordentlichen Gerichten kaum möglich ist.

II. Tatbestand: Wegfall bzw. Fehlen der Geschäftsgrundlage 1. Umstände bzw. wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind Zwischen den Parteien muss ein wirksamer Vertrag bestehen.15 Die Umstände, die die Geschäftsgrundlage bilden, dürfen aber nicht selbst zum eigentlichen Vertragsinhalt geworden sein.16 IT-Verträge enthalten typischerweise bereits sehr detaillierte Spezifikationen im Vertrag selbst, so dass diesbezüglich ein Rückgriff auf § 313 ausscheidet. Teilweise regeln sog. „Force Majeure“-Klauseln die Leistungsbeziehung bei gänzlich unvorhergesehenen, außerhalb der Risikosphäre der Parteien liegenden Ereignissen (z.B. die COVID-19-Epidemie). Soweit die Klauseln Kündigungsrechte vorsehen, engt dies den Rückgriff auf § 313 ein.

7

Nach § 313 Abs. 2 steht es einer Veränderung der Umstände gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen. Hauptanwendungsfall ist

8

10 11 12 13

Vgl. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 6. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 48. Beispiele bei MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 48; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 4. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 51 mit Hinweis auf die dann weitaus strengeren Anforderungen an die Beweislast. 14 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 63 ff., explizit Teil 13 Rz. 66. 15 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 12. 16 St. Rspr., vgl. BGH v. 29.4.1982 – III ZR 154/80, NJW 1982, 2184; BT-Drucks. 14/6040, 174.

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BGB § 313 Rz. 8 Störung der Geschäftsgrundlage der gemeinschaftliche Irrtum, während einseitige Erwartungen einer Partei unbeachtlich sind.17 Die Vorstellungen müssen sich auf das Geschäft, insbesondere dessen Gegenstand, Voraussetzungen und Zweck beziehen und dürfen nicht selbst Vertragsinhalt geworden sein.18 Insbesondere für IT-Verträge, deren vertragliche Einordnung nicht eindeutig zu treffen ist, ist zu beachten, dass auch der gemeinschaftliche Irrtum über die Rechtsnatur des Vertrages zu einem Anpassungsrecht führen kann.19 Bei Outsourcing-Verträgen kann dies beispielsweise die Annahme beider Parteien hinsichtlich der Kompatibilität der bestehenden IT-Infrastruktur des Auftraggebers mit neu hinzukommenden Systemen und Tools des Auftragnehmers betreffen, die diese im Rahmen der Transition und Transformation der zu erbringenden Dienstleistungen einsetzen. Gehen die Parteien, ohne ausreichende vertragliche Regelung, fälschlicherweise von einer Kompatibilität aus, kann dies einen Anspruch auf Vertragsanpassung auslösen (vgl. Rz. 34). 9

Eine Zweckstörung oder Zweckverfehlung führt nur zu einer Störung der Geschäftsgrundlage, wenn der Vertragszweck (z.B. eine bestimmte Verwendung des Leistungsgegenstandes)20 beiden Parteien bekannt oder zumindest erkennbar war und sie die Kalkulation des Geschäfts darauf gegründet haben.21

10

Ebenfalls unter § 313 Abs. 2 fällt der gemeinschaftliche Motiv- oder Kalkulationsirrtum der Parteien,22 der beispielsweise durch (unverschuldete) Falschaussagen einer Partei vor bzw. bei Vertragsschluss hervorgerufen wird.23

11

Die Präambel eines Vertrags bietet wichtige Hinweise, welche Vorstellungen der Parteien bzw. welche Zwecke, mithin welche Geschäftsgrundlage dem Vertrag zugrunde liegt.24 Daneben können die Parteien auch Dokumente außerhalb des Vertrags, wie etwa Präsentationen, Protokolle oder Zusicherungen ausdrücklich zur Geschäftsgrundlage erheben.25 Bei Outsourcing-Verträgen kann letzteres für die regelmäßig vom Auftragnehmer (oder beiden Parteien gemeinsam) vor Vertragsschluss durchgeführte Due Diligence zutreffen, mit der der Ist-Zustand der vorhandenen Systemlandschaft sowie des laufenden Betriebs einschließlich der zugrunde liegenden Steuerungsprozesse erfasst und in einer separaten Dokumentation oder – im Regelfall eher – in nicht spezifisch dokumentierten Besprechungen und Workshops aufgearbeitet wird. Auch objektive Umstände können die Parteien ausdrücklich als Geschäftsgrundlage des Vertrags definieren.26 Soweit Informationen hingegen in Vertragsanlagen enthalten sind, sind sie i.d.R. selbst Teil des Vertrags, so dass für einen Rückgriff auf § 313 kein Raum ist. 2. Schwerwiegende Änderung von Umständen

12

Eine Vertragsanpassung oder subsidiär eine Kündigung gem. § 313 kommt nur dann in Betracht, wenn sich Umstände, die zur Vertragsgrundlage geworden sind (vgl. Rz. 7 ff.), nach Vertragsschluss schwerwiegend geändert haben. Die Änderung muss eine solche Erheblichkeit erreichen, dass sie als schwerwiegend einzustufen ist; nur geringfügige Änderungen genügen nicht, wobei sich keine metrische Betrachtung vornehmen lässt.27 Die Änderung muss jedenfalls so schwer wiegen, dass sie eine Fortführung des unveränderten Vertrags unzumutbar erscheinen lässt (vgl. Rz. 17).28 17 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 18; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 57; Jauernig/ Stadler, § 313 BGB Rz. 25. 18 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 18; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 9. 19 So BAG v. 9.7.1986 – 5 AZR 44/85, NJW 1987, 918 im Fall eines Arbeitsverhältnisses, das beide Parteien als Gesellschaftsvertrag angesehen haben. 20 BT-Drucks. 14/6040, 174. 21 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 25; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 39. 22 Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 38 f.; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 26; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 39. 23 Beispiel bei Söbbing/Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, 3. Kap., Rz. 924 und Söbbing, ITRB 2008, 257, 259: Falschaussage über die Anzahl von Clients. 24 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 17 f.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer, Handbuch ITund Datenschutzrecht, § 19 Rz. 57 f. 25 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Witzel, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 18 Rz. 98. 26 Vgl. Bräutigam/Grapentin, IT-Outsourcing, Teil 3 Rz. 105. 27 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 58; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 18; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 42. 28 Gegen pauschale Richtwerte auch MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 58.

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Störung der Geschäftsgrundlage

Rz. 16 § 313 BGB

Eine schwerwiegende Änderung der Umstände nach Vertragsschluss kann auch darin liegen, dass Umstände ganz entfallen oder nicht eintreten, obwohl die Parteien den Eintritt erwartet haben.29

13

Eine schwerwiegende Änderung der tatsächlichen Umstände kann beispielweise in (neuen) Export- 14 oder Importbeschränkungen, grundlegenden technischen Entwicklungen oder unvorhergesehen behördlichen Maßnahmen (z.B. Ausgangssperren anlässlich der COVID-19-Epidemie) liegen, die die ursprünglich von den Parteien intendierte Leistungserbringung schwerwiegend beeinträchtigen. Bei grenzüberschreitenden Leistungsbeziehungen können z.B. zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses unvorhergesehene Sanktionsbestimmungen (wie z.B. im Verhältnis der EU zu Russland)30 oder grundlegende Veränderungen der Rahmenbedingungen zu einer solch schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, wie sie auch der Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU mit sich bringen dürfte. Zudem ist an fundamentale technologische Veränderungen zu denken, wie sie z.B. von der QuantenComputertechnologie ausgehen, die die Belastbarkeit herkömmlicher Krypto-Technologie und damit der gesamten hergebrachten Cyber-Sicherheitsarchitektur grundlegend in Frage stellen wird.31 Es können aber auch Einzeländerungen der Gesetzeslage oder Rspr. – wie dies z.B. bei grundlegenden 15 Änderungen im Datenschutzrecht zunehmend der Fall ist – eine schwerwiegende Änderung der Umstände darstellen und zu einer Anpassung des Vertrages führen, soweit die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Einführung der DS-GVO und damit die europaweite Einführung von Regelungen zum Umgang mit Datensicherheitspannen kann wesentliche Veränderungen in der operativen Durchführung bereits geschlossener Verträge erfordern, die zu nicht einkalkulierten, erheblichen Mehraufwänden führen. Noch deutlicher gilt dies für die Auswirkungen des Safe Harbor-Urteils32 und etwaiger Folgeurteile zu Datentransfers nach den EU-Standardvertragsklauseln;33 auch sie können gravierende Auswirkungen auf die Durchführbarkeit ausgelagerter Dienstleistungen haben. Ähnliches gilt für gesetzgeberische Entscheidungen in Drittstaaten, die zur Datenlokalisierung zwingen (z.B. gemäß russischer Datenschutzgesetzgebung),34 ebenso wie administrative Entscheidungen – wie z.B. bezüglich bestimmter Dekrete des US Präsidenten, die für die Auslegung des EU-US-Privacy-Shield-Abkommens maßgeblich sind.35 Solche von den Parteien nicht zu kontrollierende Änderungen der Rahmenbedingungen können erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Kalkulation und Konfiguration eines Leistungspaketes in IT-Verträgen haben. Auch eine nur vorübergehende Störung eines Dauerschuldverhältnisses kann je nach ihrer Dauer schwerwiegend sein, wenn sie akut und länger der Leistungserbringung entgegenstehen – wie etwa behördliche Allgemeinverfügungen und Ausgangsbeschränkungen anlässlich der COVID-19-Epidemie.36 Ferner kann eine schwerwiegende Änderung der Geschäftsgrundlage beispielsweise gegeben sein, wenn ein zweiter Vertrag, der in engem wirtschaftlichen oder rechtlichen Zusammenhang zum Hauptvertrag steht, wegfällt oder nicht zustande kommt (vgl. Rz. 27).37 Nach st. Rspr. des BGH ist beispielsweise der Fortbestand des Kaufvertrags über den Leasinggegenstand Geschäftsgrundlage des Leasingvertrags.38 29 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 13; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 25. 30 Vgl. die Beschlüsse des EU-Rats zu den Russland-Sanktionen infolge der Krim-Annexion: EU-Rats-VO 833/2014; 2014/512/GASP; 2016/2315 GASP; dazu ausführlich Schwendinger in ExportManager 2014 Ausgabe 7, Wirtschaftssanktionen gegen Russland, http://www.exportmanager-online.de/2014/ausgabe-7-2014/ wirtschaftssanktionen-gegen-russland/. 31 S. dazu näher Post-Quantum Cyptography/Hallgren/Vollmer, S. 17 f.; Fumy, DuD 2017, 13 f. 32 EuGH v. 6.10.2015 – C-362/14, CR 2015, 633 m. Anm. Härting. 33 Verfahren Irland zur Überprüfung der EU Standardvertragsklauseln: „Data Protection Commissioner v. Facebook Ireland Limited & Maxmilian Schrems“, Irish High Court CRRN 2016/4809P. 34 Förderales Russisches Bundesgesetz Nr. 242-FZ v. 21.7.2014; Determann/Weigl, CR 2015, 510 f.; Söbbing, MRInt. 2015, 36. 35 Executive Order „Enhancing Public Safety in the Interior of the United States“, Section 14; The National Law Review/Farris/Katzenstein, Trump Executive Order Puts Privacy Shield’s Future in Doubt (31.1.2017), http:// www.natlawreview.com/article/trump-executive-order-puts-privacy-shield-s-future-doubt. 36 Vgl. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 58; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, 313 BGB Rz. 42. 37 BGH v. 22.5.1970 – V ZR 203/68, DNotZ 70, 540; OLG Bdb. v. 13.2.2008 – 7 U 158/07. 38 BGH v. 10.11.1993 – VIII ZR 119/92, CR 1994, 605 = NJW 1994, 576 m.w.N.; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 264; speziell zum Softwareleasing vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 772 f., 790; zum Hardwareleasing Auer-Reinsdorff/Conrad/Stadler/Kast, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 15 Rz. 91.

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16

BGB § 313 Rz. 17 Störung der Geschäftsgrundlage 3. Unzumutbarkeit 17

Eine Anpassung des Vertrags kommt nur infrage, wenn infolge der veränderten Umstände bzw. ausgebliebenen Vorstellungen ein so krasses Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung entsteht, dass einer Partei die Fortführung des unveränderten Vertrags nicht mehr zumutbar ist.39 Die Anpassung bzw. Auflösung des Vertrags kann daher für die betroffene Partei nur ultima ratio sein.40

18

Ob ein Festhalten am Vertrag unzumutbar ist, muss anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Dabei sind insbesondere die vertraglichen oder gesetzlichen Risikosphären zu berücksichtigen (vgl. Rz. 19 ff.). Soweit die Änderung der Umstände in den Risikobereich einer Partei fällt, kann sich diese nicht auf eine Störung der Geschäftsgrundlage berufen.41 Das Beispiel der Änderungen gesetzlicher bzw. administrativer Rahmenbedingungen im Bereich des Datenschutzrechts mit Folgewirkungen, eine etwaige Lokalisierung der Datenhaltung vorzunehmen, verdeutlicht dies besonders anschaulich, wenn damit z.B. der Rückgriff auf global aufgesetzte Cloud-Technologien mit unverhältnismäßigen Kostenfolgen ausgeschlossen wird und damit ein krasses Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (bis hin zur Unrentabilität der Vertragsdurchführung ausgelöst wird. Auch Veränderungen im Bereich der gesetzlichen bzw. behördlichen Anforderungen an IT-Sicherheit aufgrund des IT-Sicherheitsgesetzes und seiner Durchführungsverordnungen bzw. aufgrund der NISRichtlinie42 kann zu kalkulatorisch und technologisch unverhältnismäßigen Veränderungen der Rahmenbedingungen bzw. hin zu einer Unzumutbarkeit der Fortführung des Vertragsverhältnisses unter den bei Vertragsschluss getroffenen Annahmen führen. 4. Risikoverteilung – Abgrenzung der Risikosphären

19

§ 313 ist nicht anwendbar, wenn die Veränderung der Umstände dem Risiko oder Einflussbereich derjenigen Partei zuzuordnen ist, die sich auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage beruft. Außerdem scheidet eine Vertragsanpassung nach § 313 aus, wenn eine Partei die Veränderung der Umstände oder die Fehlvorstellung selbst bewirkt hat. Gleiches gilt für Veränderungen, die eine Partei vorsätzlich herbeigeführt hat oder die während des Verzugs einer Partei eingetreten sind.43 Haben die Parteien die Risikozuweisung nicht – ausdrücklich oder konkludent – vertraglich geregelt,44 so folgt sie i.d.R. allgemeinen Prinzipien, die sich auch auf IT-Verträge übertragen lassen (vgl. Rz. 21).

20

Soweit sich in den veränderten Umständen das einer Partei zuzuschreibende Risiko verwirklicht, kommt eine Anpassung oder gar Aufhebung des Vertrags nach § 313 nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, wenn sich durch die Veränderung extreme Äquivalenzstörungen ergeben, die die Grenze des übernommenen Risikos deutlich überschreiten.45

21

Ganz allgemein trägt grundsätzlich der Geschäftsinhaber das Risiko für die Erfolgsaussichten eines Geschäfts.46 Leistungserschwerungen sowie das Beschaffungsrisiko sind grundsätzlich vom Schuldner einer Sachleistung zu tragen.47 Gleichermaßen trägt der Geldschuldner das Risiko der Finanzierung.48 Der Gläubiger einer Geldschuld trägt hingegen das Risiko der Geldentwertung bzw. Preiskalkulation;49 39 Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 32; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 8; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 23. 40 Bräutigam/Grapentin, IT-Outsourcing, Teil 3 Rz. 104. 41 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 16; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 59; DaunerLieb/Langen/Krebs, § 313 BGB Rz. 50. 42 RL zum Sicherheitsniveau von Netz- und Informationssystemen (EU) 2016/1148. 43 Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 22. 44 Dazu ausführlich MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 61. 45 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 24; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 16; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 25. 46 Vgl. z.B. BGH v. 21.9.2005 – XII ZR 66/03, NJW 2006, 899, 901. 47 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 16, 23; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 69: Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 22. 48 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 69; Jauernig/Stadler, § 313 BGB Rz. 22; Schulze/Dörner/Ebert u.a./ Schulze, § 313 BGB Rz. 24. 49 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 16, 24; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 19, 26; Jauernig/ Stadler, § 313 BGB Rz. 22.

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Störung der Geschäftsgrundlage

Rz. 24 § 313 BGB

der Gläubiger einer Sachleistung das Risiko der Entwertung bzw. Verwertbarkeit der Leistung.50 Diese Grundsätze gelten ebenso für Werk- oder Dienstverträge und das entsprechende Beschaffungs- bzw. Leistungsrisiko. Bei Outsourcing-Verträgen trägt grundsätzlich der Auftragnehmer das Risiko eines erhöhten Aufwandes während des Projekts (zur Ausnahme vgl. Rz. 20). Der Gläubiger einer Leistung trägt grundsätzlich auch das Risiko der Verwendung bzw. der Verwertbarkeit der empfangenen Leistung.51

22

5. Hypothetischer Parteiwille Neben einer Veränderung der tatsächlichen Umstände setzt § 313 Abs. 1 voraus, dass die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderungen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses52 vorausgesehen hätten. Eine Anpassung über § 313 kommt daher nicht in Betracht, soweit die Parteien eine mögliche Änderung der Umstände im Vertrag bereits berücksichtigt und entsprechende Regelungen getroffen haben.

23

In komplexen IT-Verträgen sind Regelungen zur Durchführung von Änderungen („change manage- 24 ment“), etwa aufgrund einseitiger Änderungswünsche einer Partei („change request“),53 oder sog. MAC (Material Adverse Change)-Klauseln, die ebenfalls eine vertragliche Konkretisierung von § 313 darstellen,54 nahezu die Regel. Auch Wertsicherungsklauseln,55 Benchmarking- und/oder Preisanpassungsklauseln weisen darauf hin, dass die Parteien Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zukünftige Preisentwicklungen vorausgesehen haben. In diesen Fällen scheidet grundsätzlich ein Rückgriff auf § 313 jedenfalls dann aus, wenn das vorgesehene Verfahren zur Vertragsanpassung greift bzw. den Tatbestandsvoraussetzungen nach greifen sollte. In diesen Fällen haben die Parteien mit Änderungen der Umstände gerechnet und hätten den Vertrag daher auch dann abgeschlossen, wenn sie die Änderungen als sicher vorhergesehen hätten. Zu Schwierigkeiten kommt es dann, wenn der Anbieter sich einem Anpassungsbegehren widersetzt, weil ggf. die Anpassungskosten höher sind als dies der Anpassungsmechanismus vorsieht (Beispiel: die ursprünglich vereinbarten Zeitund Materialaufwände sind aufgrund von Marktveränderungen zu niedrig bemessen) oder er einen prohibitiv hohen Anpassungspreis ansetzt. Hier ist der Kunde grundsätzlich auf die Leistungsklage angewiesen bzw. muss er die vertraglichen Mechanismen zur Überprüfung der Preiskalkulation des Anbieters nutzen. Eine Vertragsanpassung über § 313 kommt jedoch immer noch in Betracht, wenn die Vertragsparteien trotz Durchführung der vertraglich vorgesehenen Anpassungsmechanismen keine Einigung erzielen.56 Zudem betreffen Klauseln zur Vertragsanpassung zukünftige, unvorhersehbare Änderungen. Verlangt eine Partei eine Vertragsanpassung, weil sich nachträglich herausstellt, dass die Parteien (gemeinsam) von falschen Umständen ausgegangen sind, kann ein Anspruch aus § 313 trotz Anpassungsmechanismus im Vertrag gegeben sein. Es bedarf mithin einer genauen Prüfung des Einzelfalls, ob die Parteien, trotz Möglichkeit der Vertragsanpassung, den Vertrag auch dann abgeschlossen hätten, wenn sie gewusst hätten, dass sich nachträglich wesentliche Umstände als falsch herausstellen würden (§ 313 Abs. 2) (vgl. Rz. 8). Eine benachteiligte Partei kann sich auch dann nicht auf § 313 berufen, wenn die Änderung für sie vorhersehbar war, wie dies z.B. bei bevorstehenden Gesetzesänderungen der Fall sein kann.57 Ein 50 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 69; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 16. 51 BGH v. 1.6.1979 – V ZR 80/77, NJW 1979, 1818, 1819 m.w.N.; BGH v. 21.9.2005 – XII ZR 66/03, NJW 2006, 899, 901. 52 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 14; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 56. 53 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 125 ff. Eine Anwendung von § 313 kommt jedoch in Betracht, wenn sich die Parteien nicht über die Durchführung der Änderung einigen können; Koch, ITRB 2008, 61. 54 Söbbing, ITRB 2008, 257. 55 Speziell zu IT-Verträgen vgl. Hecht, ITRB 2006, 118. 56 Für das Change Request Verfahren vgl. OLG Koblenz v. 12.11.2015 – 1 U 1331/13, NJOZ 2016, 98, 108 = CR 2016, 424. 57 OLG Saarbrücken v. 4.10.2012 – 8 U 391/11-106, NJW 2012, 3731, 3733; vgl. aber auch BGH v. 28.9.1990 – V ZR 109/89, NJW 1991, 830, 831, wonach voraussehbare Entwicklungen Ansprüche nach § 313 nicht per se ausschließen, sondern es darauf ankomme, ob die Parteien das Risiko bewusst in Kauf genommen haben.

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BGB § 313 Rz. 24 Störung der Geschäftsgrundlage Festhalten am Vertrag wird zumindest dann zumutbar sein, wenn die Parteien Vorkehrungen hätten treffen können.58 6. Besonderheiten im IT-Bereich 25

Über die bereits oben erwähnten Fälle hinaus, sind einige Konstellationen gesondert hervorzuheben: Fällt ein Softwarelizenzvertrag weg, so entfällt i.d.R. auch die Geschäftsgrundlage für den Softwarepflegevertrag für diese Software, da eine Weiterführung des Softwarepflegevertrages nutzlos ist, wenn die zu pflegende Software dem Betroffenen nicht mehr zur Verfügung steht.59 Umgekehrt kann ausnahmsweise aber auch der Wegfall des Pflegevertrags die Geschäftsgrundlage des Softwarelizenzvertrags entfallen lassen, wenn die unveränderte Fortführung des Lizenzvertrags nach den Umständen des Einzelfalls für den Lizenznehmer nicht zumutbar ist.60 Dazu ist im Wege der Vertragsauslegung und anhand der weiteren Umstände insbesondere auf die Stärke der Verbundenheit des Pflegevertrags und des Software-Überlassungsvertrags abzustellen.61 Eine solche enge Verbindung muss über das üblicherweise verbundene Angebot eines Softwarelizenzvertrages und eines Softwarepflegevertrages allerdings hinausgehen.

26

Insbesondere bei komplexen IT-Projektverträgen besteht typischerweise eine solche enge Verbindung, wenn z.B. ein gemeinsamer Rahmenvertrag) die verschiedenen Leistungselemente von Software- oder Hardware-Beschaffung, Softwareerstellung und Verträgen zu Implementierung, Softwarepflege oder Training verbindet. Wenn diese Leistungselemente in Einzelverträgen geregelt sind, so kann durchaus der Wegfall des Beschaffungsvertrags oder Scheitern der Softwareerstellung ohne weiteres zum Wegfall der Geschäftsgrundlage auch für die übrigen Verträge führen und ein eigenes Kündigungsrecht begründen – selbst wenn der Rahmenvertrag oder die betroffenen Einzelverträge kein ausdrückliches Kündigungsrecht für diesen Fall vorsehen.62 Im umgekehrten Fall führt die Kündigung oder sonstige Aufhebung eines oder mehrerer Einzelverträge i.d.R. nicht zum Wegfall der Geschäftsgrundlage hinsichtlich des zugrundliegenden Rahmenvertrags.63

27

Auch Hardware- und Softwareverträge können eine solche Einheit bilden, dass die Geschäftsgrundlage des Hardware-Überlassungsvertrags entfällt, wenn der Software-Vertrag gekündigt oder in sonstiger Weise beendigt wird.64 Schwieriger zu begründen ist dies für einen Hardware-Wartungsvertrag, der zwar gleichzeitig, aber dennoch getrennt neben einem Software-Nutzungsvertrag abgeschlossen wird.65 Wenn es auch hier immer maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls ankommt, wird man in der Praxis vor allem darauf abstellen müssen, ob im Rahmen der Vertragsverhandlungen einschließlich der begleitenden Umstände der Vertragsanbahnung deutlich wurde, dass es nach einer objektiven Betrachtung für den Kunden maßgeblich darauf ankam, wirtschaftlich und technologisch ein einheitliches Gesamtgeschäft abzuschließen, von dem die Hardware-Wartung ein wesentlicher Bestandteil war. Ebenso kann im Einzelfall auch das Scheitern einer Projektplanung hinsichtlich eines übergeordneten Gesamtprojekts zum Wegfall der Geschäftsgrundlage für das darauf aufsetzende IT-Projekt führen. Entsprechend können etwa bei Softwareerstellungsverträgen nicht nur die Preiskalkulation,66 son-

58 BT-Drucks. 14/6040, 175 f. 59 LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 415 = ITRB 2004, 173; Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. S Rz. 458; Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Teil I Rz. 136. 60 Vgl. LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414 = ITRB 2004, 173, das hier jedoch das Institut der Geschäftsgrundlage nicht ausdrücklich diskutierte; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 628; Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Teil I Rz. 137. 61 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 494. 62 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 593. 63 Mann, MMR 2012, 499, 500. 64 Vgl. etwa LG München I v. 12.8.1980 – 12 O 5462/80, BB 1980, 1552. 65 Das OLG München zog hier einen Wegfall der Geschäftsgrundlage in Betracht (verneint aus anderen Gründen), OLG München v. 22.5.1985 – 7 U 5343/84, CR 1985, 138; kritisch dazu die Anm. von Etter, CR 1985, 139, sowie Marly, Softwarerecht, Rz. 886. 66 BGH v. 26.10.1999 – X ZR 54/97, NJW-RR 2000, 1219.

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Störung der Geschäftsgrundlage

Rz. 33 § 313 BGB

dern auch einzelne Arbeitsschritte bzw. Module, die zugehörigen Leistungen und/oder der Zeitplan (etwa in Form von Meilensteinen) Geschäftsgrundlage sein.67 Soweit diese Änderungen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses objektiv nicht vorhersehbar waren, 28 kann die Geschäftsgrundlage wegfallen, wenn sich Gesetze68 oder Rspr.69 ändern, die dem Vertrag zugrunde liegen, eine erwartete behördliche Genehmigung oder Förderung ausbleibt70 oder eine Leistung wegen der Änderung technischer Normen nicht mehr verkäuflich ist.71 Dazu gehören im IT-Bereich auch Änderungen der Gesetzeslage und Rspr. im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten.72 Die notwendige Umstellung einer gemieteten Software auf den Euro wies das LG Wuppertal der Risikosphäre des Vermieters zu, der diese im Rahmen der Instandhaltung schulde.73 § 313 kam hier nicht zur Anwendung.

29

Ebenso können atypische Softwaremängel, die bei der Behebung im Rahmen des Pflegevertrags er- 30 höhten Aufwand erfordern, eine Anpassung nach § 313 nicht begründen, da das Risiko der Behebung programmtechnisch lösbarer Probleme regelmäßig dem Auftragnehmer der Softwarepflege zuzuordnen ist.74 Bei Lizenzverträgen kann das Vorhandensein und Bestehenbleiben des Patentschutzes als Grundlage des Geschäftes gelten, so dass ein Wegfall der Patentfähigkeit auch die Geschäftsgrundlage entfallen lässt.75

31

Das Kostenrisiko trägt grundsätzlich der Auftraggeber. Allerdings kann die gemeinsame Erwartung der Parteien, Arbeiten im Rahmen eines Softwareerstellungsvertrags würden sich im Rahmen des geplanten Budgets halten, Geschäftsgrundlage sein, so dass bei einem Überschreiten des Budgets ein Anspruch auf Vertragsanpassung nach § 313 besteht.76 Beruht jedoch die Berechnung einer (Mindest-)Lizenzgebühr auf der beiderseitigen Erwartung hoher Umsätze, so kann der nicht vorhersehbare Wegfall der entsprechenden Märkte zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führen.77 Auch Mengenangaben, die der Berechnung eines Pauschalpreises zugrunde liegen, können unter Umständen Geschäftsgrundlage sein.78

32

Da das Risiko der Preiskalkulation grundsätzlich dem Lizenzgeber zuzuweisen ist, besteht auch bei massiver Zunahme der Nutzerzahlen des Lizenznehmers unter einer unbegrenzten Unternehmenslizenz kein Grund zur Anpassung oder gar Aufhebung eines Lizenzvertrags, soweit die Preiskalkulation nicht ausnahmsweise in den gemeinschaftlichen Willen der Parteien aufgenommen wurde.79

33

67 68 69 70 71 72

73 74 75 76 77 78 79

Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 11 Rz. 83. BGH v. 15.12.1983 – III ZR 226/82, NJW 1984, 2947; BGH v. 8.2.1984 – VIII ZR 254/82, NJW 1984, 1746. BGH v. 2.5.1972 – VI ZR 47/71, NJW 1972, 1577. BGH v. 1.2.1990 – VII ZR 176/88, NJW-RR 1990, 601; OLG Saarbrücken v. 4.10.2012 – 8 U 391/11-106, NJW 2012, 3731. BGH v. 12.3.1997 – VIII ZR 303/95, WM 1997, 1030. Als Beispiele seien genannt das Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten in Russland, demzufolge seit September 2015 personenbezogene Daten russischer Bürger ausschließlich auf russischem Staatsgebiet gespeichert und verarbeitet werden dürfen, oder das Safe-Harbor-Urteil des EuGH v. 6.10.2015 – C-362/14, CR 2015, 633 m. Anm. Härting = NJW 2015, 3151. LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7. Rössel, ITRB 2004, 189. BGH v. 12.4.1957 – I ZR 1/56, NJW 1957, 1317. BGH v. 26.10.1999 – X ZR 54/97, NJW-RR 2000, 1219. BGH v. 6.4.1995 – IX ZR 61/94, DtZ 1995, 285, 289 f. für den Wegfall osteuropäischer Märkte infolge der Einführung der Deutschen Mark. So insbesondere, wenn der Auftragnehmer davon ausgehen darf, der Auftraggeber habe eine gewisse Gewähr für eine verlässliche Kalkulationsgrundlage geben wollen; BGH v. 30.6.2011 – VII ZR 13/10, NJW 2011, 3287, 3289. Grützmacher, ITRB 2004, 204, 207. Zur Absicherung des Lizenzgebers sollte der Lizenzvertrag daher die berechtigten Unternehmen genau bezeichnen und die Anzahl der berechtigten Nutzer eingrenzen, vgl. Backu, ITRB 2009, 213, 215.

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BGB § 313 Rz. 34 Störung der Geschäftsgrundlage 34

Im Rahmen von Outsourcing-Verträgen vereinbaren die Parteien typischerweise Vertragsstrafen zu Lasten des Auftragnehmers sowohl für die Phase der Transition als auch die spätere Betriebsphase. Diese können – je nach Höhe und Häufigkeit – die Wirtschaftlichkeit des zugrunde liegenden Business Case gefährden oder – insbesondere in der Frühphase des Outsourcing-Vertrages – das gesamte Vorhaben in eine (für beide Parteien!) bedrohliche Schieflage führen. So kann die Änderung von Umständen dazu führen, dass der Auftragnehmer seinen Verpflichtungen aus dem Outsourcing-Vertrag nicht – oder nicht rechtzeitig – nachkommen kann, und damit die Vertragsstrafe ausgelöst wird. Fraglich ist dann, ob mit Blick auf die Unzumutbarkeit (vgl. Rz. 17 f.) auch die Höhe der verwirkten Vertragsstrafe selbst in die Bewertung einzubeziehen ist. Gegen eine Einbeziehung spricht, dass sich der Auftragnehmer der Vertragsstrafe freiwillig vertraglich unterworfen und diese damit bewusst übernommen hat. Realisiert sich das vom Auftragnehmer zu tragende Risiko der Leistungserschwerung (vgl. Rz. 21), ist die Vertragsstrafe einerseits nur eine Konsequenz, für die der Auftragnehmer selbst verantwortlich ist und auf deren vereinbarte Höhe der Auftragnehmer sich im Rahmen seines Kalkulationsrisikos eingelassen hat. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass es gerade durch die Änderung von Umständen (wie beispielsweise neuer technischer Anforderungen im Rahmen von OutsourcingLeistungen) zu einer Pflichtverletzung des Dienstleisters und damit zur Verwirkung der Vertragsstrafe gekommen sein kann. Eine Einbeziehung der Vertragsstrafe ist insbesondere dann zu rechtfertigen, wenn die Geltendmachung der Vertragsstrafe gegen Treu und Glauben (§ 242) verstößt, wenn zugleich der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung im Raum steht.80 Daran ist beispielsweise zu denken, wenn die uneingeschränkte Einforderung bzw. Durchsetzung der Vertragsstrafe den Auftragnehmer in einen existenzielle Schieflage führen würde. Wenn mithin eine Vertragsstrafe im Einzelfall bereits so hoch ist, dass ihrer Geltendmachung der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht, muss mit den gleichen Argumenten auch eine Unzumutbarkeit bejaht und ein Anspruch auf Anpassung (zumindest) der Vertragsstrafenregelung gewährt werden.

III. Rechtsfolge 1. Vertragsanpassung 35

Als Rechtsfolge der Störung der Geschäftsgrundlage hat jede der Parteien Anspruch auf Anpassung des Vertrags,81 „soweit“ dies aus Zumutbarkeitsgesichtspunkten geboten ist. Die Änderung der bisherigen vertraglichen Regelung soll möglichst gering ausfallen,82 mindestens aber die Vertragserfüllung unter Beachtung der vertraglichen und/oder gesetzlichen Risikoverteilung wieder zumutbar machen.83

36

Der Anspruch kann beiden Parteien zustehen; im Gegensatz zu Abs. 3 ist er nicht auf die benachteiligte Partei beschränkt.84

37

Die Möglichkeiten der Anpassung sind vielfältig und werden sich i.d.R. an dem orientieren, was die Parteien vereinbart hätten, wenn sie die Änderung vorhergesehen hätten.85 Kommt es durch behördliche Anordnungen zu Leistungserschwerungen (z.B. anlässlich der COVID-19-Epidemie), kann bspw. eine Vertragsanpassung zu den Zeitläufen eines IT-Projekts erforderlich sein. Neben einer Anpassung der gegenseitigen Leistungen selbst kommt auch eine Art der Leistungserbringung infrage.86 Auch eine teilweise Vertragsauflösung kommt als Anpassungsmaßnahme in Betracht.87

80 81 82 83 84 85 86 87

BGH v. 18.9.1997 – I ZR 71/95, NJW 1998, 1144. Eine automatische Anpassung erfolgt nicht. Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 19; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 313 BGB Rz. 79. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 89; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 40; zur Zumutbarkeit vgl. Rz. 17 f. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 85; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 41. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 89; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 19. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 90. So MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 91 mit Verweis auf die Rspr. zum alten Recht.

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Störung der Geschäftsgrundlage

Rz. 44 § 313 BGB

2. Vertragsauflösung (§ 313 Abs. 3) Nur wenn eine Vertragsanpassung nicht möglich oder einer Partei nicht zumutbar ist, kommt als letztes Mittel die Vertragsauflösung durch Rücktritt bzw. Kündigung in Betracht (Abs. 3).88 Im Gegensatz zum Anspruch auf Vertragsanpassung (vgl. Rz. 35) steht dieses Recht nur der benachteiligten Partei zu.

38

Die Vertragsanpassung ist unmöglich, wenn sie von der Rechtsordnung verboten, nicht durchführbar oder sinnlos ist.89

39

Die Vertragsanpassung ist nicht schon allein deshalb unzumutbar, weil die benachteiligte Partei den 40 Vertrag unter den tatsächlichen Umständen nicht geschlossen hätte; es müssen vielmehr weitere Faktoren hinzutreten.90 Gänzlich unvorhersehbare Ereignisse wie etwa behördliche Ausgangssperren aufgrund der COVID-19-Epidemie können im Einzelfall dazu führen; die bloße Leistungsverzögerung als solche indiziert aber noch nicht die Unzumutbarkeit der Vertragsanpassung. Die Weigerung der von einer Störung der Geschäftsgrundlage begünstigten Partei, trotz entsprechender (und berechtigter) Aufforderung an einer Vertragsanpassung mitzuwirken, begründet noch kein Rücktritts- bzw. Kündigungsrecht, da der Anpassungsanspruch gerichtlich durchgesetzt werden kann.91 3. Verhältnis zu anderen Normen Spezielle Kündigungstatbestände (z.B. § 490, § 543, § 626, § 723) verdrängen § 313 als leges speciales; ein Rückgriff auf § 313 darf nicht zu einer Umgehung der Voraussetzungen dieser Vorschriften führen.92 Zum Verhältnis zur Kündigung nach § 314 vgl. § 314 Rz. 2.

41

Im Anwendungsbereich der Sachmängelhaftung scheidet ein Rückgriff auf § 313 aus.93 Dies gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen der Mängelhaftung im Einzelfall nicht vorliegen oder Gewährleistungsrechte vertraglich abbedungen sind.94

42

Das Verhältnis von § 313 zu den Irrtumsregelungen des § 119 ist umstritten.95 Lediglich in Fällen gemeinschaftlichen Motivirrtums, der nach § 119 unbeachtlich ist, kann wohl eindeutig von einem Vorrang des § 313 ausgegangen werden.96

43

Soweit § 275 anwendbar ist, geht er § 313 vor, da eine Anpassung des Vertrags nur dann infrage kommt, wenn der Schuldner nicht schon nach § 275 von der Leistung befreit ist.97 Ist die Leistungserbringung hingegen noch möglich, aber durch einen Wegfall des Interesses (Zweckstörung)98 oder wirtschaftliche Schwierigkeiten gestört (wirtschaftliche Unmöglichkeit), so kommt eine Anwendung des § 313 in Betracht.99

44

88 BT-Drucks. 14/6040, 175; PWW/Medicus/Stürner, § 313 BGB Rz. 28. Für eine Gleichrangigkeit von Anpassung und Auflösung MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 100 ff., 105. 89 Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 42; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 115. 90 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 20; dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des Abs. 1. 91 BGH v. 30.9.2011 – V ZR 17/11, NJW 2012, 373, 375. 92 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 171. 93 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 166, BGH v. 30.9.2011 – V ZR 17/11, NJW 2012, 373, 374. 94 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 166; Palandt/Grüneberg, § 313 BGB Rz. 12; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 10. 95 Ausführliche Darstellung der verschiedenen Meinungen bei MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 146 ff. 96 Vgl. MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 151; Palandt/Grüneberg, § 119 BGB Rz. 30; für einen Vorrang des § 313 auch beim gemeinschaftlichen Eigenschaftsirrtum Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 6. 97 BT-Drucks. 14/6040, 176; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 7; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 313 BGB Rz. 13. 98 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 7; MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 159. 99 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 313 BGB Rz. 8; differenziert MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 160 ff.

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BGB § 314 Rz. 1 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund

§ 314 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund (1) Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. (2) Besteht der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Vertrag, ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. Für die Entbehrlichkeit der Bestimmung einer Frist zur Abhilfe und für die Entbehrlichkeit einer Abmahnung findet § 323 Abs. 2 Nr. 1 und 2 entsprechende Anwendung. Die Bestimmung einer Frist zur Abhilfe und eine Abmahnung sind auch entbehrlich, wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Kündigung rechtfertigen. (3) Der Berechtigte kann nur innerhalb einer angemessenen Frist kündigen, nachdem er vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat. (4) Die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, wird durch die Kündigung nicht ausgeschlossen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . II. 1. 2. 3. 4.

Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . Dauerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . Wichtiger Grund . . . . . . . . . . . . . . Abmahnung/Abhilfefrist (§ 314 Abs. 2) . Angemessene Frist (§ 314 Abs. 3) . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

1 1 3 6 6 11 18 21

III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kündigung/Beendigung . . . . . . . . . . . . . 2. Schadenersatz (§ 314 Abs. 4) . . . . . . . . . .

22 22 23

IV. 1. 2. 3. 4.

24 25 29 30 32

Keine Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . Kündigungsgrund (§ 314 Abs. 1) . . . . . Abmahnung (§ 314 Abs. 2) . . . . . . . . . Frist zur Geltendmachung (§ 314 Abs. 3) . Schadenersatz (§ 314 Abs. 4) . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

Literatur: Bräutigam, IT-Outsourcing und Cloud-Computing, 3. Aufl. 2013 (zitiert: Bräutigam/Bearbeiter, IT-Outsourcing); Grützmacher, Unternehmens- und Konzernlizenzen – Zur Einräumung urheberrechtlicher Nutzungsrechts an Software bei Unternehmens- und Konzernlizenzen, ITRB 2004, 204; Mann, Vertragsgestaltung beim ITOutsourcing – Besonderheiten und Fallstricke, MMR 2012, 499; Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Lieferung 39 (Oktober 2019) (zitiert: Redeker/Bearbeiter, Handbuch der IT-Verträge); Rössel, Risikomanagement beim Softwarepflegevertrag – Pflegeausschluss bei atypischen Mängeln?, ITRB 2004, 189; Schneider/Graf von Westphalen, Software-Erstellungsverträge, 2. Aufl. 2014 (zitiert: Schneider/Graf von Westphalen/Bearbeiter, Software-Erstellungsverträge); Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing: Recht, Strategie, Prozesse, IT, Steuern und Cloud Computing, 4. Aufl. 2015 (zitiert: Söbbing/Bearbeiter, Handbuch IT-Outsourcing).

I. Allgemeines 1. Einführung 1

§ 314 gewährt ein Recht zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund. Zweck dieser Regelung ist es, unter gewissen Voraussetzungen eine vorzeitige Auflösung langfristig angelegter Rechtsbeziehungen zu ermöglichen.1 § 314 normiert damit einen bereits vor seiner Einführung 2002 in der Rspr. anerkannten Rechtsgrundsatz.

1 BT-Drucks. 14/6040, 176; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 1; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 1; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 314 BGB Rz. 3.

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Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund

Rz. 7 § 314 BGB

Im Fall der Konkurrenz mit § 313 hat die Anpassung des Vertrags nach der Wertung des § 313 Abs. 3 Vorrang; § 314 tritt dem gegenüber zurück.2 Die nach § 313 Abs. 3 Satz 2 mögliche Kündigung steht hingegen selbständig neben § 314.3 Soweit § 314 mit § 323 konkurriert, geht § 314 in seinem Anwendungsbereich dem § 323 vor.4 Ein Rücktritt kann jedoch auch bei bereits in Vollzug gesetzten Dauerschuldverhältnissen in Betracht kommen, wenn eine Rückabwicklung der gegenseitigen Leistungen möglich und sachgerecht ist.5

2

2. Bedeutung und Anwendungsbereich § 314 gilt als allgemeine Vorschrift über die außerordentliche Kündigung für alle Dauerschuldverhältnisse, soweit nicht Sondervorschriften als leges speciales vorgehen.6 Sonderregelungen bestehen beispielsweise für den Darlehensvertrag, (§ 490), für die Miete (§§ 543, 569), für den Dienstvertrag (§ 626) und für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§ 723).

3

Demzufolge sind für IT-Verträge, die sich den genannten Vertragsarten zuordnen lassen, die Sondervorschriften der jeweiligen Vertragsart vorrangig einschlägig. Darunter fallen beispielsweise die Hardware-Miete sowie als Mietverträge zu klassifizierende Formen der Software-Überlassung (§ 543), Verträge über Pflege, Wartung und Support von (Standard- oder Individual-)Software (Dienstvertrag, § 626) oder – in seltenen Fällen der Konsortial-Entwicklung – auch Verträge über die Software-Entwicklung, bei denen eine gesellschaftsrechtliche Struktur Anwendung findet (§ 723).

4

Häufig werden IT-Verträge auch Elemente verschiedener Vertragstypen vereinen. Bei typengemischten Verträgen ist grundsätzlich jeder Vertragsteil nach dem Recht des auf ihn zutreffenden Vertragstypus zu beurteilen.7 Stellt der Gesamtvertrag gleichzeitig ein Dauerschuldverhältnis dar, so kann für eine Kündigung des Gesamt- bzw. Rahmenvertrags im Einzelfall § 314 herangezogen werden.

5

II. Tatbestand 1. Dauerschuldverhältnis Dauerschuldverhältnisse sind Schuldverhältnisse, aus denen während der gesamten Laufzeit immer neue Leistungs- und Schutzpflichten entstehen und bei denen das Zeitelement wesentliche Bedeutung hat.8 Bei einem Dauerschuldverhältnis wird der Umfang der vertraglichen Hauptleistungspflicht erst im Laufe der Zeit ersichtlich und die Parteien können den geschuldeten Leistungsumfang sowie die Umstände der Leistungserbringung nicht von vornherein absehen.9

6

Zu den Dauerschuldverhältnissen zählen u.a. Miet-, Dienst-, Gesellschafts-, Pacht-, Leih-, Verwahrungs- und Versicherungsverträge, sowie atypische Vertragsverhältnisse wie z.B. Leasing- oder Bezugsverträge.10 Auch Rahmenverträge, unter denen die Parteien Einzelverträge abschließen, sind Dauerschuldverhältnisse.11

7

2 BT-Drucks. 14/6040, 177. Für ein selbständiges Nebeneinander beider Vorschriften Schulze/Dörner/Ebert u.a./ Schulze, § 314 BGB Rz. 2. 3 MünchKomm/Finkenauer, § 313 BGB Rz. 170. Für ein selbständiges Nebeneinander beider Vorschriften auch Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 2. 4 BT-Drucks. 14/6040, 177; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 2; PWW/Medicus/Stürner, § 314 BGB Rz. 19. 5 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 3; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 2. 6 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 2; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 2; PWW/Medicus/Stürner, § 314 BGB Rz. 17. 7 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394, 2395 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55; Marly, Softwarerecht, Rz. 704, 1134. 8 BT-Drucks. 14/6040, 177; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 2; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 2; PWW/Medicus/Stürner, § 314 BGB Rz. 4. 9 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 5. 10 BT-Drucks. 14/6040, 177; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 3. 11 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 7; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 314 BGB Rz. 10.

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BGB § 314 Rz. 8 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund 8

Softwarelizenzverträge sind Dauerschuldverhältnisse i.S.d. § 314,12 jedenfalls soweit sie nicht auf den einmaligen Erwerb zeitlich unbefristeter Nutzungsrechte angelegt sind. Meist lassen sich Lizenzverträge einem BGB-Vertragstyp zuordnen, so dass die Sondervorschriften der jeweiligen Vertragsart vorrangig sind. Lizenzverträge, die eine dauerhafte Nutzungsrechtseinräumung vorsehen, unterfallen i.d.R. Kauf- oder Werkvertragsrecht. Soweit Lizenzverträge wiederkehrende Leistungen (etwa eine monatliche/jährliche Zahlung von Lizenzgebühren bzw. regelmäßige Updates) zum Gegenstand haben, können sie Mietvertragsrecht zugeordnet werden, so dass die dort geregelten Kündigungsvorschriften Vorrang haben.13

9

Softwarepflegeverträge sind Dauerschuldverhältnisse i.S.d. § 314, sofern es sich nicht lediglich um eine einmalige Pflegeleistung handelt.14 Je nach Schwerpunkt der Leistungspflicht können Pflegeverträge aber als Dienstverträge zu qualifizieren sein,15 so dass die Kündigungsregelungen dieses Vertragstyps Anwendung finden.16 Auch eine Einordnung als Werkverträge (sog. „Dauerwerkverträge“)17 kommt in Betracht.18 Nach st. Rspr. besteht in länger andauernden werkvertraglichen Beziehungen, etwa im Rahmen von komplexen Softwareerstellungsverträgen, ein Kündigungsrecht aus § 314 neben den gesetzlichen Rücktrittsrechten.19

10

IT-Outsourcing-Verträge wie „Application Service Providing“ (ASP)- und „Software as a Service“ (SaaS)-Verträge sind auch bei nutzungsabhängiger Entgeltregelung als Dauerschuldverhältnis i.S.d. § 314 zu qualifizieren.20 Weitere typische Dauerschuldverhältnisse im IT-Bereich sind etwa Beraterverträge, Verträge zur (agilen) Software-Entwicklung, Software-Vertriebsverträge21 oder Verträge zur Nutzung von Plattformen. Häufig können auch diese Verträge einem der BGB-Vertragstypen zugeordnet werden, so dass ein Rückgriff auf § 314 nicht notwendig bzw. unzulässig ist.22 2. Wichtiger Grund

11

Ein wichtiger Grund setzt nach § 314 Abs. 1 Satz 2 voraus, dass dem Kündigenden die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses unter Berücksichtigung aller Umstände und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen unzumutbar ist. Abhängig von den Umständen des Einzelfalls kann beispielsweise bei einer schweren Störung der Vertrauensgrundlage oder bei vergleichbaren sonstigen Gefährdungen der Durchführung des Vertrages sowie bei einer weitreichenden Verletzung von Schutzpflichten ein Kündigungsrecht bestehen.23

12

Ein Verschulden des anderen Vertragspartners ist weder erforderlich noch ausreichend.24 Ebenso schließt ein Verschulden des Kündigenden das Kündigungsrecht nicht zwangsläufig aus.25 Die Unzumutbarkeit darf nicht nur für den Kündigenden selbst bestehen, sondern muss die Interessen bei-

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Marly, Softwarerecht, Rz. 704. Marly, Softwarerecht, Rz. 1357. Marly, Softwarerecht, Rz. 1081. Vgl. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 8 m.w.N., s. hier auch zur Annahme eines Mietvertrags oder Vertrags sui generis. A.A. wohl Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Teil I Rz. 347, der bei Pflegeverträgen von einer Kündigung nach § 314 ausgeht und alternativ nur (verneinend) Mietrecht, nicht jedoch Dienstvertragsrecht andenkt. Marly, Softwarerecht, Rz. 1071 m.w.N. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.12 Rz. 8 ff. Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, Teil D Rz. 443 m.w.N.; Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 87. Marly, Softwarerecht, Rz. 1133. Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1098 ff., 1111. Vgl. aber Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 290 ff., die trotz der grundsätzlichen Einordnung als Mietvertrag (vgl. Redeker/Gennen/Laue, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.17 Rz. 57 ff.) das Recht zur außerordentlichen Kündigung auf § 314 stützen. Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 3; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 5. BT-Drucks. 14/6040, 177; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 7; PWW/Medicus/Stürner, § 314 BGB Rz. 8. BT-Drucks. 14/6040, 177; MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 10; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 314 BGB Rz. 26.

632

Duisberg/Wieser

Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund

Rz. 17 § 314 BGB

der Parteien berücksichtigen.26 Bei der Interessenabwägung sind insb. auch die Besonderheiten des jeweiligen Vertragstyps zu beachten.27 Das Vorliegen eines wichtigen Grundes setzt grundsätzlich voraus, dass die Umstände, die der Kündigung zugrunde liegen, der Risikosphäre des Kündigungsgegners zuzuordnen sind, während Umstände aus der Risikosphäre des Kündigenden selbst die Kündigung nur in Ausnahmefällen begründen können.28

13

Sind Kündigungsgründe nicht ausdrücklich vereinbart (s. Rz. 25), können sie daher auch durch eine Abgrenzung der Risikobereiche identifiziert bzw. gesteuert werden.

14

Ein Kündigungsrecht kann in folgenden Fällen bejaht werden:

15

Kündigung eines Softwarepflegevertrags wegen gravierender Verstöße gegen den Softwarelizenzvertrag in einer Weise, die „für die Fortsetzung der vertraglichen Beziehung zwischen den Parteien insgesamt von Bedeutung“ ist (hier: Durchführung entgeltlicher, softwarebasierter Schulungen ohne entsprechende Nutzungsberechtigung an betroffenen Produktgruppen),29 soweit nicht das Zuwarten bis zum Ablauf bzw. nächstmöglichen Kündigungstermin des Pflegevertrags zumutbar ist;30 Kündigung eines Softwarepflegevertrags wegen häufiger und wesentlicher Überschreitung der vereinbarten Reaktionszeit;31 Kündigung eines Softwarepflegevertrags, wenn der Auftragnehmer die Berechtigung verliert, die vereinbarten Mangelbehebungsleistungen zu erbringen;32 Kündigung bei Zahlungsverzug (mangelnde Vergütung trotz mangelloser Leistung);33 Kündigung wegen Nichterbringung der erforderlichen Mitwirkungsleistungen durch den Kunden oder Verhinderung der Leistungserbringung des Providers, sofern der Provider darlegen kann, dass hierin ein wichtiger Grund liegt;34 Kündigung eines Lizenzvertrags wegen Missachtung von Abrechnungspflichten durch den Lizenznehmer;35 Kündigung eines Vertrags zur Nutzung eines Internetforums durch den Betreiber wegen Verstoßes gegen die Vertragspflichten (hier: Anmeldung und Veröffentlichung von Beiträgen unter falschem Namen);36 schwerwiegende und wiederholte Verstöße gegen Kooperations- oder Mitwirkungspflichten z.B. im Rahmen von IT-Projektverträgen.37

16

Atypische Softwaremängel, die bei der Behebung im Rahmen des Pflegevertrags erhöhten Aufwand erfordern, stellen hingegen keinen Grund zur Kündigung eines Softwarepflegevertrags durch den Anbieter dar.38 Ein Grund zur Kündigung eines Lizenzvertrags besteht nicht bei massiver Zunahme der Nutzerzahlen des Lizenznehmers unter einer unbegrenzten Unternehmenslizenz.39 Drittverträge im

17

26 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 3; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 5; MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 10. 27 BT-Drucks. 14/6040, 178; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 7; Dauner-Lieb/Langen/Krebs, § 314 BGB Rz. 27. 28 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 10 m.w.N.; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 3. 29 LG Köln v. 14.9.2011 – 28 O 482/05, CR 2012, 77 = ITRB 2012, 57. Das LG Köln argumentierte, diese Vertragsverletzung habe auch Auswirkungen auf den Softwarepflegevertrag, da aus der unberechtigten Nutzung der Software auch vertragliche Ansprüche für die Softwarepflege resultierten. Eine derartige Pflichtverletzung sei also nicht nur für die Fortgeltung der Lizenzvereinbarungen, sondern insgesamt für die vertraglichen Beziehungen der Parteien von Bedeutung („Vertragstreue“). Vgl. auch Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Teil I Rz. 134 ff. Beide gehen davon aus, dass Softwarepflegeverträge Dauerschuldverhältnisse i.S.v. § 314 sind. 30 Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Teil I Rz. 137. 31 Marly, Softwarerecht, Rz. 704, 1085 m.w.N. 32 Vgl. Ziff. 4.3 EVB-IT Pflege S; Fassung vom 13.2.2003, gültig ab 1.3.2003; in der aktuellen Fassung vom 16.7.2015 ist dieser Grund nicht mehr explizit geregelt. 33 Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. 191 mit Verweis auf die Parallele zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3. 34 Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. 192. 35 Bezogen auf einen Lizenzvertrag über Filmprodukte, OLG München v. 9.7.2009 – 29 U 5479/08. 36 LG München I v. 25.10.2006 – 30 O 11973/05, CR 2007, 264. 37 Vgl. OLG Düsseldorf v. 31.1.2012 – 23 U 20/11, BauR 2012, 970 für einen Bauträgervertrag. 38 Rössel, ITRB 2004, 189. 39 Grützmacher, ITRB 2004, 204, 207.

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BGB § 314 Rz. 17 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund Rahmen eines Outsourcing-Projekts können nicht allein deshalb gekündigt werden, weil die Leistung des Dritten nicht mehr benötigt wird.40 3. Abmahnung/Abhilfefrist (§ 314 Abs. 2) 18

Für den Fall, dass der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Vertrag (leistungsbezogene Haupt- und Nebenpflichten, aber auch Schutzpflichten i.S.v. § 241)41 besteht, muss der Kündigende den anderen Teil nach § 314 Abs. 2 grundsätzlich zunächst abmahnen bzw. dem anderen Teil eine Abhilfefrist setzen.

19

Die Abmahnung darf nicht lediglich das vertragswidrige Verhalten rügen, sondern muss dem Schuldner auch deutlich machen, dass im Falle eines weiteren Vertragsverstoßes die vertragliche Zusammenarbeit auf dem Spiel steht.42

20

Die Entbehrlichkeit der Abmahnung bzw. Abhilfe regelt § 314 Abs. 2 durch Verweisung auf § 323 weitgehend parallel zu den Rücktrittsregelungen. Die Abmahnung bzw. Abhilfefrist ist entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert (§ 323 Abs. 2 Nr. 1), der Schuldner die Leistung bis zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer im Vertrag bestimmten Frist nicht bewirkt, obwohl die termin- oder fristgerechte Leistung nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder aufgrund anderer den Vertragsabschluss begleitenden Umstände für den Gläubiger wesentlich ist (§ 323 Abs. 2 Nr. 2), oder wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Kündigung rechtfertigen (§ 314 Abs. 2 Satz 3). 4. Angemessene Frist (§ 314 Abs. 3)

21

Mit der Ausschlussfrist des § 314 Abs. 3 soll zum einen Klarheit darüber geschaffen werden, ob die berechtigte Partei von ihrer Kündigungsmöglichkeit Gebrauch macht. Zum anderen dient sie als Anhaltspunkt dafür, ob der kündigenden Partei die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses tatsächlich nicht zumutbar ist, was bei längerem Zuwarten nicht mehr angenommen werden kann.43 Eine feste Frist gibt das Gesetz wegen der Vielgestaltigkeit der Dauerschuldverhältnisse nicht vor.44 Eine Frist von 2 Monaten dürfte nach den Beispielen der Rspr. aber – jedenfalls sofern es sich nicht um hochkomplexe Regelungen handelt – i.d.R. angemessen sein.45

III. Rechtsfolge 1. Kündigung/Beendigung 22

Bei Vorliegen der Voraussetzungen kann das Dauerschuldverhältnis mit sofortiger Wirkung („ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist“) beendet werden. Dabei bleibt es dem Kündigungsberechtigten un-

40 Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. 922. 41 Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 5; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 26; MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 11. 42 BGH v. 12.10.2011 – VIII ZR 3/11, NJW 2012, 53 Rz. 17; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 8; Dauner-Lieb/ Lange/Krebs, § 314 BGB Rz. 13. 43 BGH v. 25.11.2010 – Xa ZR 48/09, NJW 2011, 1438 Rz. 28 = IPRB 2011, 100; BT-Drucks. 14/6040, 178; MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 20. 44 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 20; BT-Drucks. 14/6040, 178; Schulze/Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 314 BGB Rz. 5. 45 LG Köln v. 14.9.2011 – 28 O 482/05, CR 2012, 77 = ITRB 2012, 57: Frist von 2 Monaten bei Verstoß gegen einen Lizenzvertrag angemessen; OLG Köln v. 31.1.2003 – 19 U 151/02, K & R 2003, 573: bei Verstoß gegen ITWartungsvertrag mit 24 Stunden-Verfügbarkeitsgarantie Verwirkung nicht vor Ablauf von 2 Monaten; weitere Beispiele für angemessene Kündigungsfristen außerhalb von IT-Verträgen z.B. bei MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 20.

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Duisberg/Wieser

Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund

Rz. 26 § 314 BGB

benommen, der anderen Partei eine Auslauffrist einzuräumen.46 Die Kündigung wirkt ex nunc; eine Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen erfolgt nicht; ebenso bleiben bereits fällige, aber noch nicht erbrachte Leistungspflichten bestehen.47 Lediglich geschuldete Vorleistungen sind auszugleichen.48 2. Schadenersatz (§ 314 Abs. 4) Abs. 4 stellt klar, dass Schadenersatzansprüche von der Kündigung unberührt bleiben. Dazu gehört auch der Ersatz des „Kündigungsschadens“, wenn der Kündigungsgegner durch eine schuldhafte Verletzung seiner vertraglichen Pflichten den Kündigungsgrund herbeigeführt hat (§ 281).49

23

IV. Keine Abdingbarkeit Die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund ist im Kern zwingendes Recht 24 und kann durch Allgemeine Geschäftsbedingungen nicht zulasten des Kündigungsberechtigten abbedungen oder eingeschränkt werden.50 Sofern die Parteien die Voraussetzungen des Kündigungsrechts in Allgemeinen Geschäftsbedingungen konkretisieren, muss das Kündigungsrecht beiden Parteien gleichermaßen zustehen.51 In Individualvereinbarungen kann das Kündigungsrecht zwar eingeschränkt, jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden.52 Eine Erweiterung des Kündigungsrechts ist aber in Grenzen möglich (s. unter Rz. 26). 1. Kündigungsgrund (§ 314 Abs. 1) Die Parteien können die Gründe, die zur Kündigung berechtigen sollen, im Sinne eines „Störungskatalogs“ im Vertrag vereinbaren.53 Dieser Katalog kann auch abschließend sein;54 eine Beschränkung bzw. Konkretisierung der Kündigungsgründe darf jedoch nicht zu einer unzumutbaren Erschwerung der Vertragsbeendigung führen.55 Zulässig ist der Ausschluss einzelner Kündigungsgründe aus Gründen der Risikoverteilung.56

25

Führt die Vereinbarung eines Störungskatalogs zu einer (begrenzten) Erweiterung des Kündigungsrechts (etwa eine Vereinbarung, nach der bestimmte Ereignisse immer einen wichtigen Grund zur Kündigung darstellen)57, so ist dies grundsätzlich zulässig, sofern nicht der Kündigungsgegner im Einzelfall besonders schutzbedürftig ist.58

26

46 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 22; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 10; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 8. 47 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 23; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 10; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 8. 48 Über §§ 812 ff. (so z.B. Bamberger/Roth/Lorenz, § 314 BGB Rz. 25) oder § 628 Abs. 1 Satz 3 analog (so z.B. MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 23, jeweils m.w.N.). 49 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 24; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 11; Schulze/Dörner/Ebert u.a./ Schulze, § 314 BGB Rz. 6. 50 BT-Drucks. 14/6040, 176; BGH v. 26.5.1986 – VIII ZR 218/85, NJW 1986, 3134; BGH v. 8.2.2012 – XII ZR 42/10, NJW 2012, 1431. 51 Marly, Softwarerecht, Rz. 1113. 52 Marly, Softwarerecht, Rz. 1085. 53 Mann, MMR 2012, 499, 501; Beispiele bei Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.5 Rz. 9, 89; Kap. 1.10 Rz. 215, 225; Kap. 1.12 Rz. 15, 188 ff. (Softwarepflege); Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. 191 f. 54 Vgl. OLG Frankfurt v. 17.9.2014 – 4 U 97/14, GWR 2014, 505. 55 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 4 m.w.N.; BGH v. 8.2.2012 – XII ZR 42/10, NJW 2012, 1431. 56 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 4; Jauernig/Stadler, § 314 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 3. 57 Bamberger/Roth/Lorenz, § 314 BGB Rz. 26. 58 MünchKomm/Gaier, § 314 Rz. 4; Bamberger/Roth/Lorenz, § 314 BGB Rz. 26.

Duisberg/Wieser

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BGB § 314 Rz. 27 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund 27

Häufig anzutreffen sind etwa Kündigungsrechte bei regelmäßiger oder schwerer Verletzung von KPI/ SLA,59 Wechsel des Mehrheitsgesellschafters (Change of Control)60 oder bei Ereignissen im Rahmen drohender Insolvenz.61

28

Unzulässig ist hingegen eine Erweiterung auf Kündigungsgründe, die allein der Risikosphäre des Kündigenden entstammen und dessen Willkür ausgesetzt sind, da dies dem Grundgedanken des § 314 wiederspricht.62 2. Abmahnung (§ 314 Abs. 2)

29

Die Parteien können Form- und Fristbestimmungen hinsichtlich der Abmahnung und des Abhilfeverlangens treffen.63 Bei Verträgen mit Verbrauchern ist § 309 Nr. 13 zu beachten. 3. Frist zur Geltendmachung (§ 314 Abs. 3)

30

Eine Vereinbarung über formale Anforderungen zur Kündigung darf nicht zu einer unzumutbaren Erschwerung der Vertragsbeendigung führen.64 Bei Verträgen mit Verbrauchern ist zudem § 309 Nr. 13 zu beachten.

31

Als angemessene Ausschlussfrist für den Zeitraum zwischen Kenntnis und Kündigung kann etwa bei IT-Outsourcing Verträgen eine Monatsfrist oder 2-Monatsfrist vereinbart werden.65 4. Schadenersatz (§ 314 Abs. 4)

32

Für Vereinbarungen über den Ausschluss oder die Beschränkung des Schadenersatzanspruchs gelten die allgemeinen Regelungen, insb. § 276 Abs. 3 sowie die Regelungen des AGB-Rechts.

§ 315 Bestimmung der Leistung durch eine Partei (1) Soll die Leistung durch einen der Vertragschließenden bestimmt werden, so ist im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist. (2) Die Bestimmung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil. (3) Soll die Bestimmung nach billigem Ermessen erfolgen, so ist die getroffene Bestimmung für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht. Entspricht sie nicht der Billigkeit, so wird die Bestimmung durch Urteil getroffen; das Gleiche gilt, wenn die Bestimmung verzögert wird. I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einräumung eines einseitigen Bestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 60 61 62

1 1 6 11 11

a) Bestimmungsrecht einer Partei . . . . b) Einräumung des Bestimmungsrechts c) Gegenstand des Bestimmungsrechts . d) Bestimmungsberechtigter . . . . . . . 2. Bestimmungsmaßstab . . . . . . . . . . . a) Billiges Ermessen . . . . . . . . . . . . b) Freies Ermessen und freies Belieben .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

11 16 20 22 24 25 29

Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 282, 284. Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 282. Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 285. BGH v. 15.11.2007 – III ZR 247/06, CR 2008, 178 = NJW 2008, 360: unzulässige Vereinbarung eines Rechts zur Kündigung eines Abonnementvertrags durch den Anbieter bei Änderung/Umstrukturierung des Programmangebot und Erhöhung der Abonnementbeiträge durch den Anbieter. 63 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 281. 64 MünchKomm/Gaier, § 314 BGB Rz. 4 m.w.N. 65 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 11 Rz. 281.

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Duisberg/Wieser und Karger

Bestimmung der Leistung durch eine Partei 3. Ausübung des Bestimmungsrechts . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . b) Ausübung durch den Gläubiger . . . c) Ausübung durch den Schuldner . . . 4. Billigkeit der Bestimmung; gerichtliche Billigkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . a) Unverbindlichkeit einer unbilligen Bestimmung . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

31 31 36 39

. . . . 41 . . . . 41

Rz. 4 § 315 BGB

b) Ersetzung durch gerichtliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Ermessensspielraum des Gerichts . . . . . . 47 d) Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . 48 III. Abdingbarkeit und AGB-rechtliche Aspekte . 49 1. Abdingbarkeit von § 315 . . . . . . . . . . . . . 49 2. Vereinbarung einseitiger Leistungsbestimmungsrechte in AGB . . . . . . . . . . . . . . . 52

Literatur: Fechtner/Witzel, Der neue Ansatz des BGH zur Offenlegung von Preiskalkulationen, CR 2016, 808; Frank, Bewegliche Vertragsgestaltung für agiles Programmieren – Ein Vorschlag zur rechtlichen Abschichtung zwischen Planung und Realisierung, CR 2011, 138; Hecht, Schiedsgutachtenklauseln in IT-Verträgen, Vertragsgestaltung und Durchführung des Verfahrens, ITRB 2008, 184; Hoeren/Pinelli, Agile Programmierung – Einführung und aktuelle rechtliche Herausforderungen, MMR 2018, 199; Hoppen/Streitz, Die Tätigkeit des IT-Sachverständigen, CR 2007, 270; Koch, Anforderungsmanagement und die Fortschreibung von Lasten-und Pflichtenheften, ITRB 2009, 160; Kremer, Vertragsgestaltung bei Entwicklung und Vertrieb von Apps für mobile Endgeräte, CR 2011, 769; Schneider, Risikobereiche des Pflege-Vertrags – Wie beeinflusst das neue Schuldrecht den Markt der Software-Pflege, CR 2004, 241; Söbbing, Der agile Festpreisvertrag – Rechtliche Fragen und Antworten zu einem von IT-Beratern neu entwickelten Vertragsmodell, ITRB 2019, 11.

I. Allgemeines 1. Einführung Das wirksame Zustandekommen eines Vertrags setzt gem. § 154 Abs. 1 voraus, dass sich die Parteien 1 über alle wesentlichen Punkte geeinigt haben. Diese Punkte umfassen den Leistungsgegenstand und die Vergütung sowie auch andere wichtige Umstände.1 Die Einigung kann in Gestalt einer ausdrücklichen Vereinbarung oder auch durch konkludentes Verhalten erfolgen. Eine erforderliche Einigung liegt auch vor, wenn die Parteien objektive Maßstäbe oder Rahmenbedingungen vereinbaren, anhand derer die betreffenden Leistungen bestimmbar sind.2 In bestimmten Konstellationen gelingt es aber nicht, einen offenen Punkt so zu regeln, dass eine hinreichende Bestimmbarkeit erzielt werden kann. Dies betrifft vor allem Leistungspflichten oder Umstände, die typischerweise erst im Rahmen der Vertragsdurchführung entstehen.3 In diesem Fall gestatten es die §§ 315 ff., wesentliche Punkte zunächst offen zu lassen und die Bestimmung zu einem späteren Zeitpunkt einer der Vertragsparteien (§§ 315, 316) oder einem Dritten (§§ 317–319) vorzubehalten.4 Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht i.S.d. §§ 315 ff. ist abzugrenzen vom Änderungsvorbehalt. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht ermöglicht es dem Bestimmungsberechtigten, einen Leistungsinhalt erstmals festzulegen.5 Beim Änderungsvorbehalt einigen sich die Parteien hingegen bei Vertragsschluss über den konkreten Leistungsinhalt, jedoch erhält eine der Parteien das Recht, den Leistungsinhalt zu einem späteren Zeitpunkt zu ändern.6

2

Voraussetzung für die Anwendbarkeit von § 315 ist stets eine ausdrückliche oder stillschweigende rechtsgeschäftliche Vereinbarung, wonach eine Vertragspartei durch einseitige Willenserklärung den Inhalt einer Vertragsleistung bestimmen kann.7 Die Bestimmungen der §§ 315 f. ermöglichen es lediglich, eine Vertragslücke zu füllen; sie überbrücken jedoch keinen bewussten Einigungsmangel.8

3

Vereinbaren die Parteien ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht einer Partei nach § 315, so ist die andere Partei damit nicht der Willkür des Bestimmungsberechtigten ausgeliefert. Vielmehr ist die

4

1 2 3 4 5 6 7 8

MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 4. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 1. MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 4 BGB Rz. 7. BeckOGK BGB/Netzer, 1.7.2019, § 315 Rz. 60. BGH v. 25.11.2015 – VIII ZR 360/14, NJW 2016, 936, 938. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 2.

Karger

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BGB § 315 Rz. 4 Bestimmung der Leistung durch eine Partei Entscheidung für die andere Partei nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht. Entspricht sie nicht der Billigkeit oder wird die Entscheidung verzögert, so wird die Bestimmung durch Urteil getroffen. Es findet also eine gerichtliche Billigkeitskontrolle statt. § 315 kommt damit primär Schutzwirkung zugunsten der Partei zu, die sich dem Bestimmungsrecht des Vertragspartners unterwirft.9 Auf diese Weise werden die Interessen beider Vertragsparteien gegeneinander ausbalanciert. 5

Die Norm ermöglicht es, dass die Parteien trotz einer erkannten Vertragslücke vertraglich abgesichert in den Leistungsaustausch eintreten können. Einseitige Leistungsbestimmungen entsprechen damit auch den berechtigten Bedürfnissen des Wirtschaftslebens.10 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

6

Vertragliche Regelungen zu einseitigen Leistungsbestimmungsrechten findet man vor allem im Arbeitsrecht11, im Mietrecht12, im Bereich von Bankleistungen und Kreditsicherheiten13, im Gesellschaftsrecht14 und im Versicherungsrecht15. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Preisgestaltung von Monopolisten im Bereich der Daseinsvorsorge.16

7

Im Bereich der Informationstechnologie finden sich zahlreiche Konstellationen, in denen einseitige Leistungsbestimmungsrechte i.S.v. § 315 zu einer interessengerechten Lösung führen können. Ausgangspunkt ist stets, dass die Parteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses keine hinreichend bestimmte vertragliche Regelung bezüglich eines vertragswesentlichen Punkts treffen können, weil die sich die hierfür erforderlichen Erkenntnisse oder Umstände erst später im Rahmen der Vertragsdurchführung ergeben. Beispielhaft sind folgende Anwendungsfälle zu nennen:

8

Bei Softwareentwicklungsprojekten ist es häufig nicht möglich, das zu erreichende Entwicklungsergebnis zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vollständig in einer Leistungsbeschreibung zu erfassen. Vielmehr werden die einzelnen Arbeitsergebnisse iterativ festgelegt. Viele Verträge sehen hierzu ein Leistungsänderungsverfahren vor, in dem sich die Parteien jeweils einvernehmlich hinsichtlich der einzelnen Punkte einigen müssen. Alternativ hierzu kommt ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht einer der beiden Parteien in Betracht. Die Vereinbarung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts wird bei einem Softwareentwicklungsvertrag in der Abrede gesehen, dass einer der Vertragspartner nach Vertragsschluss das zur Festlegung der Leistung erforderliche Lastenheft erstellt.17 Bestimmungsberechtigt ist danach diejenige Vertragspartei, die das Lastenheft erstellen soll.18 Ein Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers bezüglich der Leistungen setzt allerdings voraus, dass dieser die fachliche Kompetenz dazu hat, die erforderlichen Leistungen ausreichend zu identifizieren und zu beschreiben. Im Regelfall fehlt es dafür aber am erforderlichen Know-how. Ein Leistungsbestimmungsrecht des Auftragnehmers kann dazu führen, dass der Auftraggeber seine Möglichkeiten zur Projektsteuerung weitgehend einbüßt. Aus den vorgenannten Gründen wird das Leistungsbestimmungsrecht in der Praxis oft keiner der beiden Parteien, sondern nach Maßgabe von §§ 317 ff. einem Dritten (Schiedsgutachter) übertragen.19

9

Agile Projekte sind dadurch gekennzeichnet, dass die Merkmale der zu erstellenden Anwendung bei Vertragsschluss nicht hinreichend konkret bestimmbar sind und deshalb – bei werkvertraglicher Ausgestaltung – eine Beschaffenheitsvereinbarung i.S.v. § 633 Abs. 2 Satz 1 nicht getroffen werden kann.20 Die schrittweise Bestimmung des Leistungsgegenstandes erfordert einen „fließenden Vertragsschluss“, für den sich ein Leistungsänderungsverfahren bzw. ein Change-Request-Verfahren nur schlecht eig9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 6. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 1. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 31 ff.; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 63 ff. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 83. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 84 ff. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 30; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 87. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 88. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 12, 25 ff.; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 23 f. Koch, ITRB 2009, 160, 164. Koch, ITRB 2009, 160, 164. S. hierzu Hecht, ITRB 2008, 184. Frank, CR 2011, 138, 139.

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Bestimmung der Leistung durch eine Partei

Rz. 12 § 315 BGB

net.21 Hier bietet sich ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Bestellers als Lösung an. Dies wird aber in der Praxis von der Entwicklerseite oft abgelehnt, insb. in den Fällen, in denen Zeitplan und Vergütung unverändert bleiben.22 Gegen einseitige Leistungsbestimmungsrechte in agilen Projekten wird auch vorgebracht, dass hier die Kommunikation zwischen den Parteien im Vordergrund stehe und Leistungsbestimmungsrechte das Risiko bergen, ein agiles Projekt in Rechtszwängen zu ersticken.23 Bei Software-Pflegeverträgen behält sich der Anbieter meist vor, nach eigener Entscheidung Aktualisierungen der Software zur Verfügung zu stellen. Diese Aktualisierungen werden vom Anbieter je nach Umfang und Inhalt unterschiedlich bezeichnet. Geläufig sind die Begriffe Patches, Updates, Upgrades und Releases. In den Verträgen ist dabei meist bestimmt, dass Aktualisierungen, die lediglich Fehlerbeseitigungen enthalten und in geringfügigem Umfang neue Funktionalitäten enthalten, vom Pflegevertrag bzw. von der Pflegevergütung abgedeckt sind. Aktualisierungen größeren Umfangs sind nicht mehr Vertragsgegenstand und müssen vom Anwender gegen gesonderte Vergütung bezogen werden. Hierbei bleibt dem Anbieter die Bestimmung vorbehalten, wie eine entsprechende Aktualisierung entsprechend der von ihm vorgegebenen Nomenklatur qualifiziert wird. Oft richtet sich die Einordnung auch nach der Zählweise der Versionsnummern der Softwarestände.24 Dadurch bestimmt der Anbieter alleine, ob die Lieferung einer Aktualisierung unter den Pflegevertrag fällt oder gegen gesonderte zusätzliche Vergütung erfolgt. Entsprechende Regelungen sind als einseitige Leistungsbestimmungsrechte zugunsten des Anbieters zu qualifizieren, die jedenfalls als Formularklauseln keinen Bestand haben.25

10

II. Norminhalt 1. Einräumung eines einseitigen Bestimmungsrechts a) Bestimmungsrecht einer Partei § 315 setzt die Einräumung eines einseitigen Bestimmungsrechts voraus. Erforderlich ist, dass die Leistungsbestimmung in das Ermessen nur einer der Parteien gestellt werden soll.26 An einem solchen einseitigen Gestaltungsrecht27 und dem entsprechenden Ermessenspielraum fehlt es, wenn die Parteien den Gegenstand der Leistung bereits rahmenmäßig vereinbart28 haben oder wenn der Gegenstand oder Umfang der Leistung durch objektive Beurteilungsmaßstäbe29 festgelegt ist.

11

Nach einer Entscheidung des LG Frankfurt liegt eine rahmenmäßige Vereinbarung vor, wenn ein Soft- 12 ware-Pflegevertrag die Verpflichtung des Anbieters enthält, auf „Wunsch des Anwenders“ die jeweils „generell angebotenen“ Updates für die überlassene Software zu liefern.30 In diesem Fall haben die Parteien durch den Verweis auf das Erfordernis eines „generellen Angebots“ der Software bereits im Pflegevertrag selbst abstrakt umschrieben, welche neuen Versionen von der Lieferpflicht des Anbieters umfasst sein sollen. Enthielt die ursprünglich dem Anwender überlassene Software keine hardwaregebundenen Produktaktivierungsschlüssel, so hat der Anbieter kein Leistungsbestimmungsrecht i.S.d. § 315 dahingehend, dass er im Rahmen der Update- Verpflichtung nur ein Update mit hardwaregebundenem Produktaktivierungsschlüssel liefern müsste. Dies gilt insb. dann, wenn zum betreffenden Zeitpunkt auch ein Update ohne Produktaktivierungsschlüssel im Markt verfügbar ist. Auch die Formulierung, dass das Update „auf Wunsch“ des Anwenders zu liefern ist, stellt klar, dass dem Anbieter

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Frank, CR 2011, 138, 139. Frank, CR 2011, 138, 139. Hoeren/Pinelli, MMR 2018, 199, 201. Schneider, CR 2004, 241, 244. Schneider, CR 2004, 241, 244. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 4. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 4. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 3. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 4; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 6. LG Frankfurt a.M. v. 30.3.2012 – 3/12 O 24/11.

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BGB § 315 Rz. 12 Bestimmung der Leistung durch eine Partei gerade kein Entscheidungsspielraum darüber eröffnet ist, welche Software er zur Verfügung stellt und welche nicht.31 13

Objektive Beurteilungsmaßstäbe im vorgenannten Sinne finden sich im Hinblick auf die dienstund werkvertragliche Vergütung in den §§ 612 Abs. 2, 632 Abs. 2.32 Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist danach bei dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. In IT-Projekten werden diese Bestimmungen häufig relevant. Oft beginnen die Parteien mit dem Projekt und dem Austausch von Leistungen weit bevor der schriftliche Projektvertrag ausverhandelt und abgeschlossen ist. In diesem vermeintlich „vertragslosen“ Zustand ist der Vergütungsanspruch des Auftragnehmers nach §§ 612 Abs. 2, 632 Abs. 2 abgesichert.33 Zu leisten ist damit eine Vergütung, die für vergleichbare Leistungen im Markt üblich ist.

14

In diesen Fallgestaltungen ist die Vergütung nach objektiven Maßstäben zu beurteilen und für die meisten Leistungen auch ermittelbar; für eine Anwendung von § 315 bleibt kein Raum, sofern die Parteien nicht etwas abweichendes vereinbaren.34 Etwas anderes kann aber dann gelten, wenn es an einer Üblichkeit der Vergütung fehlt.35 So sind etwa Fallgestaltungen insb. im Bereich neuer Technologien und bei Spezialprojekten denkbar, in denen entsprechende Leistungen im Markt nicht oder nicht als Standardleistungen verfügbar sind und es deshalb an Vergleichsmaßstäben fehlt. In diesen Fällen dürfte die einseitige Bestimmung der Vergütung nach §§ 315, 316 dem Parteiwillen entsprechen.36

15

Eine bereits im Vertrag erfolgte Bestimmung der Leistung, die der Anwendung des § 315 vorgeht, liegt auch vor, wenn die Vertragsparteien objektive Maßstäbe, namentlich etwa bestimmte Berechnungsfaktoren für eine Preisanpassung, vereinbaren, aus denen sich die Kriterien für die danach zu bestimmende Leistung ohne Öffnung von Ermessensspielräumen unmittelbar ableiten lassen.37 b) Einräumung des Bestimmungsrechts

16

Die Einräumung eines einseitigen Bestimmungsrechts kann durch Vertrag oder durch Gesetz erfolgen. Eine entsprechende rechtsgeschäftliche Vereinbarung kann ausdrücklich oder stillschweigend getroffen werden.38

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Vereinbaren die Parteien eine „angemessene Vergütung“, so sind die §§ 315 ff. im Regelfall anwendbar.39 Aus dieser Formulierung wird abgeleitet, dass dem Auftragnehmer hinsichtlich der Vergütung ein entsprechendes Bestimmungsrecht zusteht. Auch die Formulierung „Preis freibleibend“ begründet ein einseitiges Bestimmungsrecht des Anbieters.40 Eine entsprechende Klausel kann allerdings nur im Wege einer Individualabrede wirksam vereinbart werden.41 Klauseln, in denen sich der Verwender eine Preisänderung vorbehält, sind im Zweifelsfall ebenfalls als Vereinbarung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts auszulegen.42

18

Fehlt es an einer ausdrücklichen Abrede, so kann das einseitige Bestimmungsrecht durch Auslegung zu ermitteln sein. So kann ein einseitiges Bestimmungsrecht zur Schließung von Vertragslücken vorliegen, wenn sich die Parteien trotz eines offenkundigen Einigungsmangels erkennbar vertraglich binden wollen.43 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

LG Frankfurt a.M. v. 30.3.2012 – 3/12 O 24/11. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 4; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 6. Vgl. Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, Kap. G Rz. 308 f. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 56. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 56; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 6. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 56; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 6. BGH v. 25.11.2015 – VIII ZR 360/14, NJW 2016, 936, 938. BGH v. 25.11.2015 – VIII ZR 360/14, NJW 2016, 936, 938; Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 8; MünchKomm/ Würdinger, § 315 BGB Rz. 4. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 6. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 6; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 13; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 9. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 6. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 24. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 8, Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 4.

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Bestimmung der Leistung durch eine Partei

Rz. 24 § 315 BGB

Was die Einräumung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts durch Gesetz anbelangt, so kommt im Hinblick auf IT-rechtliche Sachverhalte im Wesentlichen nur § 12 Abs. 3 ArbErfG44 im Kontext patentfähiger Arbeitsergebnisse in Betracht. Danach hat der Arbeitgeber unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, die Vergütung des Arbeitnehmers nach Inanspruchnahme einer Diensterfindung festzusetzen. Relevanz kommt dieser Vorschrift vor allem im Rahmen der Softwareentwicklung zu. Die Änderungsbefugnis gem. § 39 UrhG ist kein Fall der Leistungsbestimmung.45

19

c) Gegenstand des Bestimmungsrechts Nach dem Wortlaut des § 315 bezieht sich das Bestimmungsrecht alleine auf die Leistung als solche.46 20 Der Anwendungsbereich der Vorschrift reicht aber weit über den Wortlaut hinaus.47 Je nach Inhalt der zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarung kann sich das Bestimmungsrecht auf Art und Umfang der Leistung48 und Leistungsmodalitäten, insb. auf Leistungszeit und Leistungsort und Qualität,49 den Verzicht auf eine Leistung,50 die Ergänzung der Vertragsbedingungen,51 die Anpassung des Vertrags an veränderte Verhältnisse,52 wesentliche Vertragspflichten oder auf Nebenpunkte53 sowie auf Vertragsstrafen54 beziehen. Das Leistungsbestimmungsrecht kann auch die Befugnis mitumfassen, die Aufrechnung mit Gegenforderungen und das Zurückbehaltungsrecht der anderen Partei auszuschließen.55 § 315 soll nicht auf untergeordnete Modalitäten der Leistung anwendbar sein, beispielsweise auf die Stunde der Leistung, wenn der Tag feststeht.56 Im Zweifel sollen untergeordnete Leistungsmodalitäten dem „freien Belieben“ des Schuldners überlassen sein.57

21

d) Bestimmungsberechtigter Die Parteien haben festzulegen, ob das einseitige Bestimmungsrecht dem Schuldner oder dem Gläubiger zusteht.58 Ist der Berechtigte nicht festgelegt, so greift § 316 ein.59 Nach dieser Auslegungsregel steht das Bestimmungsrecht im Zweifelsfall dem Gläubiger der betreffenden Leistung zu.

22

Ergibt sich aus dem Wortlaut der Vereinbarung oder aus der Auslegung, dass der Gegenstand der Bestimmung einvernehmlich von beiden Parteien festgelegt werden soll, so fehlt es an der Einseitigkeit des Leistungsbestimmungsrechts. In diesem Fall ist § 315 nicht anwendbar.60

23

2. Bestimmungsmaßstab Soll die Leistung durch einen der Vertragschließenden bestimmt werden, so ist nach § 315 Abs. 1 im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist. Die Regelung „im Zweifel“ indiziert, dass auch andere Maßstäbe Anwendung finden können.61 Diesbezüglich kommen

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 4. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 90. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 24; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 24; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 11. Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 11. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 11. BGH v. 30.9.1993 – I ZR 54/91, NJW 1994, 45, 46; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 27; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 17. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 40; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 10. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 26. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 26. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 9. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 9. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 9. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 21; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 29.

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24

BGB § 315 Rz. 24 Bestimmung der Leistung durch eine Partei als zulässige Maßstäbe das freie Ermessen und das freie Belieben in Betracht.62 Demgegenüber darf die nach §§ 134, 138 unzulässige Willkür nicht als Maßstab herangezogen werden.63 a) Billiges Ermessen 25

Kann der Berechtigte sein Bestimmungsrecht nach billigem Ermessen ausüben, so steht ihm ein durch das Merkmal der Billigkeit begrenzter Entscheidungsspielraum zu.64 Hierbei sind die Interessen beider Parteien und das in vergleichbaren Fällen Übliche zu berücksichtigen.65 Zu berücksichtigen sind alle tatsächlichen Umstände.66 Unter dem Aspekt der Billigkeit soll „Austauschgerechtigkeit“ im Einzelfall erreicht werden.67 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Ausübung des Ermessens ist der Zeitpunkt der Ausübung des Bestimmungsrechts.68

26

Der Berechtigte muss die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigen.69 Als zu beachtende Kriterien kommen u.a. in Betracht:70 Der Geschäftszweck, vertragliche Regelungen, die Risikoverteilung zwischen den Parteien, die Bedürfnisse der Parteien, die Dauer der Rechtsbeziehung, Art und Umfang der Gegenleistung, die Preiskalkulation, Preise konkurrierender Anbieter, die aufgewendete Zeit und Mühe, die wirtschaftlichen Interessen, später eintretende Umstände und ggf. das Verschulden einer oder beider Parteien. Bei der Erbringung von Dienstleistungen sind als Kriterien die Schwierigkeit, die Ungewöhnlichkeit, der Zeitaufwand und die wirtschaftliche Bedeutung zu berücksichtigen.71

27

Ein Preis ist danach „billig“ i.S.v. § 315, wenn die Vergütung im Rahmen des Marktüblichen liegt und dem entspricht, was regelmäßig als Vergütung für eine vergleichbare Leistung verlangt wird.72

28

Insgesamt kann der Berechtigte den ihm danach eingeräumten Ermessensspielraum voll ausschöpfen und bis an die durch das Billigkeitskriterium gezogene Grenze gehen.73 Er darf ggf. zwischen mehreren Entscheidungsalternativen wählen, weil nicht nur eine Entscheidung zwingend richtig sein muss.74 b) Freies Ermessen und freies Belieben

29

Die Parteien können individualvertraglich vereinbaren, dass das Bestimmungsrecht nach freiem Ermessen ausgeübt werden darf.75 In diesem Fall hat der Berechtigte einen deutlich weiteren Spielraum als im Falle des billigen Ermessens. Die Leistungsbestimmung ist dann erst bei offenbarer Unbilligkeit unwirksam; Grenzen der Bestimmung sollen dann nur die §§ 138, 242 sein.76 In AGB kann allerdings der Maßstab des billigen Ermessens gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1 nicht zulasten des Vertragspartners durch das freie Ermessen ersetzt werden.77

30

Aus § 319 Abs. 2 ergibt sich, dass auch eine Bestimmung nach freiem Belieben zulässig sein kann.78 Bei freiem Belieben ist der Berechtigte in seinem Ermessen nicht an den Maßstab der Billigkeit ge-

62 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 21; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 33 f.; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 5. 63 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 5. 64 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 30; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 10. 65 Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 10. 66 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 32. 67 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 32. 68 Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 10. 69 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 19. 70 S. die Auflistung bei MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 32, in der neben den hier wiedergegebenen Kriterien noch weitere Kriterien genannt sind. 71 BGH v. 4.4.2006 – X ZR 122/05, NJW 2006, 2472, 2474; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 10. 72 BGH v. 2.10.1991 – VIII ZR 240/90, NJW-RR 1992, 183, 184; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 30. 73 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 31. 74 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 19; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 33. 75 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 21; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 33. 76 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 32. 77 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 21. 78 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34.

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Bestimmung der Leistung durch eine Partei

Rz. 35 § 315 BGB

bunden.79 Hierzu wird teilweise vertreten, dass die Bestimmung nicht dem freien Belieben einer Partei überlassen werden darf; beim Bestimmungsrecht des Schuldners würde es an einer vertraglichen Verpflichtung fehlen, beim Bestimmungsrecht des Gläubigers sei der Vertrag nach § 138 Abs. 1 nichtig.80 Nach anderer Auffassung ist in solchen Fallgestaltungen jedenfalls die Frage zu stellen, ob die Parteien wirklich eine vertragliche Bindung eingehen wollen.81 Jedenfalls ist die in das freie Belieben einer Partei gestellte Bestimmung bei offenbarer Unbilligkeit unverbindlich.82 Im Übrigen kann bei freiem Belieben auch leicht die Grenze zur Willkür überschritten sein. Sofern der zur Leistungsbestimmung berechtigten Partei gestattet wird, nach reiner Willkür zu verfahren, ist die Vereinbarung wegen Verstoßes gegen § 138 nichtig.83 3. Ausübung des Bestimmungsrechts a) Allgemeines Das Recht zur einseitigen Leistungsbestimmung ist ein Gestaltungsrecht.84 Die Ausübung des Bestim- 31 mungsrechts erfolgt gem. § 315 Abs. 2 durch Erklärung ggü. dem anderen Teil. Erforderlich ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung.85 Sofern die Parteien hierfür keine Form vereinbart haben, ist sie formlos gültig. Sie kann deshalb auch durch konkludentes Handeln ausgeübt werden.86 Die Erklärung muss hinreichend bestimmt sein, so dass die andere Partei ohne Nachforschung und Berechnung weiß, was sie schuldet.87 Durch Ausübung der Bestimmung wird der Leistungsinhalt endgültig konkretisiert; sie ist unwiderruflich.88 Das Bestimmungsrecht ist als einmaliges Recht mit der Ausübung verbraucht.89 Das Bestimmungsrecht ist nicht in seiner Gänze bedingungsfeindlich;90 als zulässig werden Bedingungen erachtet, deren Eintritt der Erklärungsempfänger selbst herbeiführen oder feststellen kann.91

32

Es besteht grundsätzlich keine Begründungspflicht.92 Allerdings kann eine Begründung nach den Um- 33 ständen des Einzelfalles erforderlich sein, damit die Bestimmung dem Erklärungsempfänger hinreichend verständlich ist.93 Der Bestimmung kann eine Wirkung ex tunc oder ex nunc zukommen. Sofern es an einer ausdrücklichen Vereinbarung zum Zeitpunkt der Wirkung fehlt, ist der ursprüngliche Vertrag auszulegen.94 Geht es um eine Erstbestimmung, also die Bestimmung der ursprünglichen Leistung, so wirkt diese im Zweifel ex tunc.95 Geht es um eine Anpassungsbestimmung, z.B. um eine Preisklausel, so wirkt diese im Regelfall ex nunc.96

34

Der Berechtigte ist nach h.M.verpflichtet, die Bestimmung vorzunehmen. Erfolgt die Festlegung nicht innerhalb angemessener Frist, so kann die andere Partei auf Bestimmung durch Urteil klagen, ohne

35

79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 21. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 5. Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 5. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 35. Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 11. BGH v. 25.11.2015 – VIII ZR 360/14, NJW 2016, 936, 938; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 11. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 35; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 11. BGH v. 20.12.2001 – V ZR 260/00, NJW 2002, 1424; Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 14; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 11. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 36. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 14. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 38. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 15; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 39. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 15; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 39. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 16; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 37. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 16; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 37 Palandt/Grüneberg, § 315 Rz. 11. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 16; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 37; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 11.

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BGB § 315 Rz. 35 Bestimmung der Leistung durch eine Partei dass es auf Verschulden ankommt; der Begriff der Verzögerung setzt im Gegensatz zum Verzug ein Verschulden nicht voraus.97 b) Ausübung durch den Gläubiger 36

Ist dem Gläubiger das einseitige Bestimmungsrecht eingeräumt, so ist er verpflichtet, das Bestimmungsrecht auszuüben, wenn der Schuldner ein Interesse an der Vertragsabwicklung hat.98 Übt er das Leistungsbestimmungsrecht nicht oder verzögert aus, d.h. nicht innerhalb einer objektiv angemessenen Zeit, kann der Schuldner den Bestimmungsberechtigten nicht gerichtlich auf Abgabe einer Bestimmungserklärung in Anspruch nehmen. § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 gibt ihm jedoch die Möglichkeit, eine Klage auf Leistungsbestimmung durch das Gericht zu erheben.99

37

Dies kann in IT-Projekten von Relevanz sein, wenn der Auftragnehmer auf entsprechende Festlegungen des Auftraggebers angewiesen ist, um die Projektarbeit fortsetzen zu können. Erfolgt dies nicht zeitnah, entstehen für den Auftragnehmer Probleme für die Planung seiner Personalressourcen. Des Weiteren sind in diesem Fall oft die Einhaltung des Projekt-Zeitplans und das Erreichen von Milestones gefährdet, an die für den Auftragnehmer häufig wichtige Zahlungsschritte gekoppelt sind.

38

Erklärt sich der Schuldner zur Leistung bereit und fordert er den Gläubiger zur Bestimmung der Leistung auf, so gerät letzterer nach § 295 in Annahmeverzug.100 Solange der Gläubiger sein Bestimmungsrecht nicht ausgeübt hat, gerät der Schuldner wiederum nicht in Schuldnerverzug.101 c) Ausübung durch den Schuldner

39

Ist das einseitige Bestimmungsrecht dem Schuldner eingeräumt, so konkretisiert er mit dessen Ausübung seine eigenen Vertragspflichten.102 Die Bestimmung ist Teil seiner Leistungspflicht.103 Gerät der Schuldner mit der Ausübung des Bestimmungsrechts in Verzug, so haftet er für den hieraus entstehenden Schaden nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286.104 Ein Verzug mit der Leistung selbst ist aber erst dann gegeben, wenn die Leistung durch das Gericht bestimmt ist.105

40

Durch Auslegung nach § 157 kann sich ergeben, dass das Bestimmungsrecht dem Gläubiger zufallen soll, wenn der Schuldner mit der Ausübung in Verzug gerät. Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn das Bestimmungsrecht nur die Leistungszeit betrifft.106 4. Billigkeit der Bestimmung; gerichtliche Billigkeitskontrolle a) Unverbindlichkeit einer unbilligen Bestimmung

41

Soll die Bestimmung nach billigem Ermessen erfolgen, so ist die getroffene Bestimmung für den anderen Teil gem. § 315 Abs. 3 Satz 1 nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht. Ist dies nicht der Fall, so wird die Bestimmung gem. § 315 Abs. 3 Satz 2 durch Urteil getroffen. Die Vorschrift ist entsprechend anwendbar, wenn die Bestimmung nicht nach billigem Ermessen, sondern nach freiem Ermessen erfolgen soll.107

42

Überschreitet der Berechtigte die Grenzen des billigen Ermessens, so ist die Bestimmung gleichwohl für den Erklärenden wirksam; sie bindet ihn bis zu einer anderweitigen gerichtlichen Bestim97 98 99 100 101 102 103 104 105 106

BGH v. 9.5.2012 – XII ZR 79/10, NJW 2012, 2187, 2189; Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 17. BGH v. 9.5.2012 – XII ZR 79/10, NJW 2012, 2187, 2189; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 12. BGH v. 9.5.2012 – XII ZR 79/10, NJW 2012, 2187, 2189. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 40; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 12. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 40; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 12. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 42. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 42; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 13. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 17. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 17; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 13. BGH v. 14.7.1983 – VII ZR 306/82, NJW 1983, 2934; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 42; Palandt/ Grüneberg, § 315 BGB Rz. 13. 107 Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 15.

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Bestimmung der Leistung durch eine Partei

Rz. 48 § 315 BGB

mung.108 Umstritten ist, ob die Bestimmung vorläufig auch die andere Vertragspartei bindet. Nach einer Auffassung ist die Bestimmung bis zur gerichtlichen Entscheidung wirksam.109 Nach der Gegenmeinung entspricht dies nicht dem Gesetz, eine diesbezügliche Klagelast für die andere Vertragspartei wird abgelehnt, weil sonst die bestimmungsberechtigte Partei aus einer unbilligen Bestimmung Rechte herleiten könnte, die sie bei gesetzmäßigem Verhalten nicht hätte.110 b) Ersetzung durch gerichtliche Entscheidung Sofern die andere Partei gegen eine unbillige Leistungsbestimmung Klage erhebt, erfolgt die Bestimmung gem. § 315 Abs. 3 Satz 2 durch gerichtliches Urteil. Das gleiche gilt, wenn die Bestimmung verzögert wird. Eine Verzögerung liegt vor, wenn die Handlung des Bestimmungsberechtigten nicht innerhalb objektiv angemessener Zeit vorgenommen wird; ein Verzug mit der Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts ist nicht erforderlich.111

43

Sofern nicht etwas anderes vereinbart ist, muss die andere Partei eine Klage auf Leistungsbestimmung durch das Gericht erheben; ein Recht, wegen der unbilligen Leistungsbestimmung vom Vertrag zurückzutreten, steht ihr nicht zu.112 Die Klage ist nicht fristgebunden, eine Ausschlussfrist für die Erhebung der Klage besteht nicht, das Klagerecht kann allerdings verwirkt werden.113

44

Trifft der Gläubiger eine unbillige Leistungsbestimmung oder bleibt die Leistungsbestimmung durch den Gläubiger aus, so kann sich der Schuldner auf die Unbilligkeit bzw. auf das Ausbleiben der Leistungsbestimmung berufen und es auf eine Leistungsklage des Gläubigers ankommen lassen.114 Eine Widerklage ist nicht erforderlich.115

45

Der Gläubiger kann gem. § 315 Abs. 3 Satz 2 unmittelbar auf Erfüllung einer der Billigkeit entsprechenden Leistung klagen.116 Eine vorangehende Klage auf Feststellung, was billigem Ermessen entspricht, ist nicht erforderlich.117

46

c) Ermessensspielraum des Gerichts Das Gericht überprüft, ob die einseitige Leistungsbestimmung der Billigkeit entspricht. Kommt es zur Überzeugung, dass dies nicht der Fall ist, nimmt das Gericht die Leistungsbestimmung im Wege einer eigenen Ermessensentscheidung selbst vor.118 Allerdings darf das Gericht seinen Ermessensspielraum nicht bis zu dessen Grenzen zugunsten des Bestimmungsberechtigten ausschöpfen; es muss sich vielmehr „in der Mitte halten“.119 U.U. hat das Gericht sogar den Ermessensspielraum zugunsten des anderen Teils auszunutzen.120

47

d) Darlegungs- und Beweislast Die Partei, die das Leistungsbestimmungsrecht für sich in Anspruch nimmt, muss zum einen beweisen, dass ihr dieses Recht eingeräumt wurde,121 zum anderen, dass die getroffene Bestimmung der

108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121

MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 45. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 22; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 16. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 45. BGH v. 9.5.2012 – XII ZR 79/10, NJW 2012, 2187, 2189; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 18. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 46. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 48; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 17. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 48. Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 17. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 22; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 17. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 48. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 22. MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 31; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 19. Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 19. Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 23; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 54; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 20.

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645

48

BGB § 315 Rz. 48 Bestimmung der Leistung durch eine Partei Billigkeit entspricht.122 Geht es um die Billigkeit der Bestimmung der Vergütung, kann die Partei zur Offenlegung ihrer Kalkulation verpflichtet sein.123

III. Abdingbarkeit und AGB-rechtliche Aspekte 1. Abdingbarkeit von § 315 49

§ 315 ist dispositiv124 und kann individualvertraglich in den Grenzen der §§ 134, 138 abgeändert werden. Der Maßstab des billigen Ermessens kann individualvertraglich grundsätzlich durch den Maßstab des freien Ermessens ersetzt werden.

50

Umstritten ist allerdings, ob die Leistungsbestimmung auch ins freie Belieben einer Partei gestellt werden darf. Bei freiem Belieben ist der Berechtigte in seinem Ermessen nicht an den Maßstab der Billigkeit gebunden.125 Nach einer im Schrifttum vertretenen Auffassung ist eine Vereinbarung, wonach eine der Parteien die Leistungsbestimmung nach freiem Belieben treffen kann, nicht von vornherein unwirksam. Zur Begründung wird auf den Wortlaut von § 319 Abs. 2 verwiesen.126 Allerdings sei bei solchen Fallgestaltungen die Frage zu stellen, ob die Parteien wirklich eine vertragliche Bindung eingehen wollten.127 Erhalte die Partei aber ein Recht zur freien Entscheidung, könne die sich aus §§ 134, 138, und 242 ergebende Grenze leicht überschritten werden und die Vereinbarung nichtig sein.128 Nach anderer Auffassung darf die Bestimmung nicht dem freien Belieben einer Partei überlassen werden; bei einem entsprechenden Bestimmungsrecht des Schuldners fehle es an einer vertraglichen Verpflichtung, bei einem entsprechenden Bestimmungsrecht des Gläubigers sei der Vertrag nach § 138 Abs. 1 nichtig.129

51

Formularvertraglich kann der Bestimmungsmaßstab des „billigen Ermessens“ wegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 nicht wirksam abbedungen bzw. verschärft werden.130 2. Vereinbarung einseitiger Leistungsbestimmungsrechte in AGB

52

Nach der Rechtsprechung des BGH darf sich ein Verwender ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht in AGB grundsätzlich nur vorbehalten, wenn dafür ein berechtigtes Interesse besteht. Das setzt voraus, dass gewichtige (Sach-)Gründe dies rechtfertigen, dass die Voraussetzungen und der Umfang des Leistungsbestimmungsrechts tatbestandlich hinreichend konkretisiert sind und dass die berechtigten Belange des anderen Teils ausreichend gewahrt werden.131

53

An einer hinreichenden tatbestandlichen Konkretisierung der Voraussetzungen und des Umfangs des Leistungsbestimmungsrechts fehlt es, wenn ungeregelt bleibt, ob das Leistungsbestimmungsrecht nach freiem Belieben oder nach freiem Ermessen ausgeübt wird oder ob der Verwender an den Maßstab der Billigkeit gebunden sein soll. Die Bindung an den Maßstab der Billigkeit gem. § 315 ist für eine AGB-rechtliche Zulässigkeit unabdingbar.132

122 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 23; MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 55; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 20. 123 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 23. 124 Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 3. 125 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. 126 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. 127 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. 128 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. 129 Erman/Hager, § 315 BGB Rz. 21. 130 MünchKomm/Würdinger, § 315 BGB Rz. 34. 131 BGH v. 18.1.2017 – VIII ZR 263/15, NJW 2017, 1301, 1303 ff.; BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 121/04, NJW-RR 2005, 1496 = CR 2006, 228 = ITRB 2006, 102. 132 BGH v. 18.1.2017 – VIII ZR 263/15, NJW 2017, 1301, 1304.

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Bestimmung der Gegenleistung

Rz. 4 § 316 BGB

§ 316 Bestimmung der Gegenleistung Ist der Umfang der für eine Leistung versprochenen Gegenleistung nicht bestimmt, so steht die Bestimmung im Zweifel demjenigen Teil zu, welcher die Gegenleistung zu fordern hat. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Bestimmung des Umfangs der Gegenleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

2. Keine Festlegung des Bestimmungsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine abweichenden Vereinbarungen . 4. Anwendung der Auslegungsregel . . . 5. Darlegungs- und Beweislast . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. 7 . 9 . 10 . 11

3

Literatur: S. die Kommentierung zu § 315.

I. Allgemeines 1. Einführung § 316 enthält eine Auslegungsregel für den Fall, dass der Umfang der Gegenleistung offengeblieben ist und die Parteien nicht festgelegt haben, wer diesbezüglich bestimmungsberechtigt sein soll. Im Zweifelsfall ist danach diejenige Partei zur Bestimmung des Umfangs der Gegenleistung berechtigt, die die Gegenleistung zu fordern hat. Bei der in Betracht kommenden Gegenleistung geht es im Regelfall um die Vergütung, also um den Kaufpreis, den Werklohn, die Miete oder auch ein Gutachterhonorar.1

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich § 316 gilt primär für gegenseitige Verträge i.S.d. §§ 320 ff.2 Die Vorschrift setzt voraus, dass zwar die Leistung des einen Teils nach Art und Umfang, die Gegenleistung der anderen Partei jedoch nur nach der Art, nicht aber nach dem Umfang bestimmt ist.3 § 316 findet nach h.M. aber analoge Anwendung, wenn nicht der Umfang der Gegenleistung, sondern die Art oder die Qualität der Gegenleistung offen sind.4

2

II. Norminhalt 1. Keine Bestimmung des Umfangs der Gegenleistung Bei der Gegenleistung i.S.v. § 316 handelt es sich im Regelfall um den Vergütungsanspruch des Anbieters aus einem synallagmatischen Vertrag. Relevant sind insb. Kaufverträge, Arbeitsverträge, Gutachterverträge, Beratungsverträge, Werkverträge und Mietverträge.5

3

Die Vorschrift ist allerdings nur anwendbar, wenn die Gegenleistung „nicht bestimmt“ ist. Lässt sich der Umfang der Gegenleistung durch Auslegung ermitteln, so scheidet eine Anwendung von § 316 aus.6 Eine Anwendung scheidet auch dann aus, wenn sich der Umfang der Gegenleistung nach einem objektiven Maßstab ermitteln lässt. Dies ist im Hinblick auf dienst-und werkvertragliche Vergütungsansprüche der Fall, wenn die Höhe der Vergütung nach §§ 612 Abs. 2, 632 Abs. 2 ermittelbar ist.7 Dies

4

1 2 3 4 5 6 7

MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 315 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 316 BGB Rz. 11; MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 4. Erman/Hager, § 316 BGB Rz. 2; MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 1. Erman/Hager, § 316 BGB Rz. 4; MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 316 BGB Rz. 5.

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BGB § 316 Rz. 4 Bestimmung der Gegenleistung wird auf viele IT-Verträge dienst- oder werkvertraglichen Charakters zutreffen. Der Anwendungsbereich der Norm ist allerdings eröffnet, wenn die übliche Vergütung nicht ermittelbar ist.8 5

Hingegen ist § 316 anwendbar, wenn die Parteien den Vertrag fest geschlossen haben und die Abrede treffen, über den Umfang der Leistung werde man sich schon einigen9, oder wenn die Parteien aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Vertrauensverhältnisses keine Vereinbarung zur Bestimmung der Vergütung treffen.10

6

§ 316 greift auch ein, wenn die Gegenleistung zunächst bestimmt, aber zeitlich befristet war und nach Fristablauf der Vertrag zwar weiterläuft, über die Gegenleistung aber keine Einigung erzielt werden kann.11 Dies kann z.B. auf unbefristete Wartungs- und Pflegeverträge zutreffen, in denen die Vergütung nur für eine bestimmte Mindestlaufzeit festgelegt ist, die aber keine Vergütungsregelungen im Falle der automatischen Vertragsverlängerung bei ausbleibender Kündigung vorsehen. 2. Keine Festlegung des Bestimmungsberechtigten

7

Die Anwendbarkeit des § 316 setzt des Weiteren voraus, dass offen ist, welche Partei zur Bestimmung berechtigt ist.12 Dies ist nicht der Fall, wenn der Bestimmungsberechtigte durch Auslegung ermittelt werden kann.13

8

§ 316 ist ferner dann unanwendbar, wenn die Parteien klargestellt haben, dass keiner Seite ein Bestimmungsrecht zusteht;14 dies ist insb. dann der Fall, wenn vereinbart wurde, dass die Vergütung „einvernehmlich angepasst“ werden soll. 3. Keine abweichenden Vereinbarungen

9

Bei § 316 handelt es sich lediglich um eine Auslegungsregel. Die Parteien können hierzu Abweichungen vereinbaren. So kann zulässigerweise vereinbart werden, dass das Bestimmungsrecht nicht dem Gläubiger, sondern dem Schuldner der Gegenleistung zustehen soll.15 4. Anwendung der Auslegungsregel

10

Ist § 316 ohne Einschränkung anwendbar, so steht dem Gläubiger der Gegenleistung, im Regelfall also dem Anbieter, das Bestimmungsrecht zu. Hinsichtlich Inhalt, Ausübung und Rechtsfolgen der Leistungsbestimmung findet § 315 Anwendung.16 5. Darlegungs- und Beweislast

11

Die Partei, die sich auf die Befugnis zur Bestimmung beruft, trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass keine ausdrückliche oder stillschweigende Einigung über den Umfang der Gegenleistung besteht und dass die gesetzlichen Regelungen der §§ 612 Abs. 2, 632 Abs. 2 nach dem Parteiwillen nicht eingreifen.17

8 Erman/Hager, § 316 BGB Rz. 5; MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 3. 9 BGH v. 6.5.1988 – V ZR 32/87, NJW-RR 1988, 971; MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 5; Palandt/Grüneberg, § 316 BGB Rz. 3. 10 MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 3. 11 MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 3. 12 MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 1. 13 MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 2. 14 MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 3. 15 MünchKomm/Würdinger, § 316 BGB Rz. 6. 16 Palandt/Grüneberg, § 316 BGB Rz. 4. 17 Erman/Hager, § 316 BGB Rz. 13.

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Bestimmung der Leistung durch einen Dritten

Rz. 3 § 317 BGB

§ 317 Bestimmung der Leistung durch einen Dritten (1) Ist die Bestimmung der Leistung einem Dritten überlassen, so ist im Zweifel anzunehmen, dass sie nach billigem Ermessen zu treffen ist. (2) Soll die Bestimmung durch mehrere Dritte erfolgen, so ist im Zweifel Übereinstimmung aller erforderlich; soll eine Summe bestimmt werden, so ist, wenn verschiedene Summen bestimmt werden, im Zweifel die Durchschnittssumme maßgebend. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überlassung der Bestimmung an einen Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmung der Leistung durch den Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bestimmung durch mehrere Dritte . . . 4. Schiedsgutachtenvertrag . . . . . . . . .

. . .

8

. . .

8

. . . 12 . . . 15 . . . 17

a) Arten des Schiedsgutachtenvertrags . . . . . aa) Schiedsgutachtenvertrag im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirksamkeit des Schiedsgutachtenvertrags c) Inhalt des Schiedsgutachtenvertrags . . . . d) Verfahrensrechtliche Fragen . . . . . . . . . 5. Schiedsgutachtervertrag . . . . . . . . . . . . .

17 22 23 26 27 28 32

III. Abdingbarkeit und AGB-rechtliche Aspekte . 36

Literatur: Fechtner/Witzel, Der neue Ansatz des BGH zur Offenlegung von Preiskalkulationen, CR 2016, 808; Frank, Bewegliche Vertragsgestaltung für agiles Programmieren – Ein Vorschlag zur rechtlichen Abschichtung zwischen Planung und Realisierung, CR 2011, 138; Hecht, Schiedsgutachtenklauseln in IT-Verträgen, Vertragsgestaltung und Durchführung des Verfahrens, ITRB 2008, 184; Hoeren/Pinelli, Agile Programmierung – Einführung und aktuelle rechtliche Herausforderungen, MMR 2018, 199; Hoppen/Streitz, Die Tätigkeit des IT-Sachverständigen, CR 2007, 270; Koch, Anforderungsmanagement und die Fortschreibung von Lasten-und Pflichtenheften, ITRB 2009, 160; Kremer, Vertragsgestaltung bei Entwicklung und Vertrieb von Apps für mobile Endgeräte, CR 2011, 769; Redeker, Handbuch der IT-Verträge, 39. EL Oktober 2019; Schneider, Risikobereiche des Pflege-Vertrags – Wie beeinflusst das neue Schuldrecht den Markt der Software-Pflege, CR 2004, 241; Söbbing, Der agile Festpreisvertrag – Rechtliche Fragen und Antworten zu einem von IT-Beratern neu entwickelten Vertragsmodell, ITRB 2019, 11; Witzel, Risiken und Fallstricke unvollständiger Leistungsbeschreibungen bei Outsourcing, CR 2017, 557.

I. Allgemeines 1. Einführung Die Bestimmung der Leistung kann einer der Parteien oder auch einem Dritten überlassen werden. 1 Wird die Bestimmung einem Dritten überlassen, so sieht § 317 Abs. 1 vor, dass dieser die Bestimmung der Leistung im Zweifel nach billigem Ermessen zu treffen hat. Bei § 317 handelt es sich um eine Auslegungsregel. Ähnlich wie § 315 können die Parteien vertraglich auch einen anderen Bestimmungsmaßstab wie insb. das freie Ermessen vereinbaren. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Der wichtigste Anwendungsfall von § 317 in IT-rechtlichen Sachverhalten ist die Beauftragung eines Sachverständigen durch beide Parteien als Schiedsgutachter. Damit wird die Bestimmung der Leistung bzw. die Bestimmung anderer vertragswesentlicher Punkte einem neutralen Dritten übertragen, der über das erforderliche Fachwissen verfügt und dem beide Parteien vertrauen. Je nach Umfang und Inhalt des erteilten Auftrags entscheidet der Schiedsgutachter über tatsächliche und rechtliche Fragen.

2

Gegenstand der Begutachtung im IT-rechtlichen Kontext kann eine Vielzahl von Themen sein:1 In Betracht kommen u.a. die Feststellung von Verfügbarkeitsgraden von Hard- oder Software, die Fest-

3

1 S. zu den gängigen Untersuchungsgegenständen im Bereich der Informationstechnologie Hoppen/Streitz, CR 2007, 270.

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BGB § 317 Rz. 3 Bestimmung der Leistung durch einen Dritten stellung der Fehlerhaftigkeit oder Fehlerfreiheit von Hard- oder Softwarekomponenten oder die Höhe, Marktüblichkeit oder Angemessenheit einer zu leistenden Vergütung.2 Andere Themen betreffen beispielsweise die Klärung der Frage, ob eine vom Kunden verlangte Leistung Bestandteil der vertraglich vereinbarten Leistung ist oder eine gesondert zu beauftragende und zu vergütende Zusatzleistung darstellt, ob ein Mangel oder ein Anwendungsfehler vorliegt, ob die vertraglich vereinbarte Leistung technisch überhaupt realisierbar ist oder wer für die in einem Projekt auftretenden Probleme verantwortlich ist.3 Bei vielen komplexen IT-Verträgen fehlt es auch an einer hinreichenden Leistungsbeschreibung,4 so dass entsprechende Lücken durch Beiziehung eines neutralen Sachverständigen als Schiedsgutachter geschlossen werden können. Bei werkvertraglichen Leistungen kann es auch um die Fragen gehen, ob und inwieweit der Kunde zur Mitwirkung verpflichtet ist oder ob das erstellte Werk Abnahmereife hat. In IT-Projekten haben sich Schiedsgutachtenklauseln in der Praxis bewährt.5 4

Je nach Fallgestaltung kann die Schiedsgutachtenabrede bereits von Anfang an in dem betreffenden IT-Vertrag enthalten sein oder beim Auftreten konkreter Streitigkeiten als gesonderte Abrede ad hoc vereinbart werden.6 Schiedsgutachtenklauseln sind häufig Bestandteil eines mehrstufigen Konfliktmanagements, bei dem erst am Ende eine gerichtliche oder schiedsrichterliche Entscheidung steht.7

5

Das schiedsgutachterliche Verfahren unterscheidet sich von der Schlichtung bzw. von der Mediation dadurch, dass der Schiedsgutachter nicht auf eine Einigung der Parteien zu der strittigen Frage hinwirkt oder einen unverbindlichen Lösungsvorschlag vorlegt, sondern die betreffenden Fragen selbst entscheidet.8 Das schiedsgutachterliche Verfahren weist Ähnlichkeiten zum Schiedsverfahren auf, wobei aber der Schiedsgutachter die zu klärenden Fragen zwar mit einer gewissen Verbindlichkeit, jedoch nicht endgültig und unter Ausschluss der ordentlichen Gerichte entscheiden soll.9 Ein Schiedsvertrag i.S.v. §§ 1025 ff. ZPO liegt vor, wenn der Dritte anstelle des staatlichen Gerichts abschließend entscheidet; der Schiedsspruch steht dann gem. § 1055 ZPO einem rechtskräftigen Urteil gleich.10 Die Übergänge zwischen Leistungsbestimmung, Schiedsgutachten und Schiedsvertrag sind fließend, weswegen eine Abgrenzung oft Schwierigkeiten bereitet.11 Die Bezeichnung durch die Parteien erlaubt vielfach keine zuverlässige Zuordnung.12 Die entscheidende Frage ist, ob die von dem Gutachter getroffene Bestimmung nach dem Willen der Parteien gerichtlich überprüfbar sein soll.13 Im Zweifelsfall wird nur eine streitvermeidende Entscheidung ohne völligen Ausschluss des Rechtswegs, also ein Schiedsgutachten und nicht ein Schiedsvertrag gewollt sein.14

6

Je nach Gegenstand der Parteiabrede ist terminologisch zwischen verschiedenen Verträgen zu unterscheiden:

7

Beauftragen die Parteien den Schiedsgutachter mit der Bestimmung der Leistung oder einzelner Leistungsmodalitäten, so wird der Vertragsinhalt durch die Bestimmung rechtsgestaltend ergänzt; in diesem Fall handelt es sich um einen Schiedsgutachtenvertrag im weiteren Sinne, auf den die §§ 317 ff. unmittelbar Anwendung finden. Bezieht sich der Auftrag an den Schiedsgutachter darauf, bestimmte Tatsachen oder Tatbestandsmerkmale verbindlich festzustellen, handelt es sich um einen Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne; hierauf sind die §§ 317 ff. entsprechend anzuwenden. Der Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne ist vom Schiedsvertrag i.S.d. §§ 1025 ff. ZPO abzugrenzen. Des Weiteren ist zwischen dem, von den streitenden Parteien geschlossenen Schiedsgutachtenvertrag und dem Schiedsgutachtervertrag zu unterscheiden, der zwischen den streitenden Parteien auf der einen

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Hecht, ITRB 2008, 184, 185. Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 1, 36. EL 2018. S. zu dieser Problematik bei Outsourcing Witzel, CR 1997, 557. Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 2, 36. EL 2018. Hecht, ITRB 2008, 184, 185. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 28. Hecht, ITRB 2008, 184, 185. Hecht, ITRB 2008, 184, 185. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 12. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 13; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 8. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 8. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 12. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 12; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 12.

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Bestimmung der Leistung durch einen Dritten

Rz. 13 § 317 BGB

Seite und dem Schiedsgutachter auf der anderen Seite abgeschlossen wird und in dem u.a. der Gegenstand der Tätigkeit des Gutachters und die wirtschaftlichen Konditionen hierfür festgelegt werden.

II. Norminhalt 1. Überlassung der Bestimmung an einen Dritten Erforderlich ist eine Einigung der Parteien über die Person des Dritten.15 Die Person des Dritten muss bestimmt oder zumindest bestimmbar sein.16

8

Es ist ausreichend, wenn die Benennung des bestimmungsberechtigten Dritten einer vierten Person17 9 oder einer neutralen Stelle übertragen wird.18 In Betracht kommt u.a. die Auswahl durch den Präsidenten eines OLG, durch die IHK, durch die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) oder durch die Deutsche Gesellschaft für Recht und Informatik (DGRI).19 Tauglicher Dritter ist jede natürliche oder juristische Person,20 die nicht Vertragspartei ist.21 Während die Übertragung von Bestimmungsrechten an ein Schiedsgericht zulässig ist, kann ein staatliches Gericht innerhalb seiner gesetzlichen Zuständigkeit grundsätzlich22 nicht Dritter i.S.v. §§ 317 ff. sein.23 Grund hierfür ist, dass der gesetzlich bestimmte Aufgabenbereich der staatlichen Gerichte nicht zur Disposition der Vertragsparteien steht.24

10

Das Rechtsverhältnis der Vertragsparteien zu dem Dritten richtet sich nach dem allgemeinen Vertragsrecht (Auftrag, Geschäftsbesorgung, Dienstvertrag oder Werkvertrag).25 § 317 enthält hierzu keine Regelung. Nach diesem Vertrag bestimmt sich, ob der Dritte berechtigt oder verpflichtet ist, die Leistung zu bestimmen und nach welchem Maßstab er für seine Entscheidung haftet.26

11

2. Bestimmung der Leistung durch den Dritten Ist die Bestimmung dem Dritten übertragen, so hat er im Rahmen des ihm erteilten Auftrags nach der Auslegungsregel des § 317 Abs. 1 im Zweifel nach billigem Ermessen zu entscheiden. Hierfür gelten die gleichen Maßgaben wie bei für das billige Ermessen gem. § 315 Abs. 1.27 Wie sich aus § 319 Abs. 2 ergibt, können die Parteien aber auch einen anderen Bestimmungsmaßstab vereinbaren; nach § 319 Abs. 2 ist es möglich, dass der Dritte die Bestimmung nach freiem Belieben trifft. In diesem Fall unterliegt seine Bestimmung keiner Billigkeitskontrolle.28

12

Die Bestimmung erfolgt gem. § 318 Abs. 1 durch Erklärung ggü. einem der Vertragsschließenden. Es handelt sich dabei um eine einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung.29 Hierbei ist es nicht erforderlich, dass die Bestimmungsentscheidung beiden Parteien zugeht; die Abgabe ggü. einer der Parteien ist ausreichend.30

13

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 1; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 14. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 2. Hecht, ITRB 2008, 184, 186; s. auch das Vertragsmuster zum Schiedsgutachten von Redeker/von Bodenhausen/ Brödermann, Handbuch der IT-Verträge Kap. 8.2 Rz. 18, § 2 Abs. 2, 36. EL 2018. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 14. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 2. Zu Ausnahmen s. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 16; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 16; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 1. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 4. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 21. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 21. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 9; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 22. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 1.

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BGB § 317 Rz. 14 Bestimmung der Leistung durch einen Dritten 14

Der Schiedsgutachtenvertrag begründet keine Schiedseinrede gem. § 1033 Abs. 1 ZPO; er enthält aber stillschweigend ein pactum de non petendo, wonach der Gläubiger bis zur Vornahme der Leistungsbestimmung bzw. bis zur Vorlage des entsprechenden Schiedsgutachtens seine Forderung gegen den Schuldner nicht einklagen werde; die Verjährung ist für diese Zeit gem. § 205 bzw. gem. § 203 Satz 1 gehemmt.31 3. Bestimmung durch mehrere Dritte

15

Soll eine Bestimmung durch mehrere Dritte erfolgen, so ist nach § 317 Abs. 2 im Zweifel Übereinstimmung, also Einstimmigkeit, erforderlich. Wird die Einstimmigkeit nicht erreicht, ist die Leistungsbestimmung gem. § 319 Abs. 1 Satz 2 durch Urteil vorzunehmen.32 Da der Einstimmigkeitsgrundsatz wenig zweckmäßig ist, wird er in der Praxis häufig durch ein Mehrheitsprinzip ersetzt.33

16

Sofern die Dritten über die Höhe einer Summe zu bestimmen haben und Einstimmigkeit nicht erzielt wird, ist nach § 317 Abs. 2 Halbs. 2 im Zweifel die Durchschnittssumme maßgebend. Diese Regel versagt, wenn die bestimmten Summen so weit auseinander liegen, dass eine Durchschnittsbildung nicht der Billigkeit entspricht.34 In diesem Fall erfolgt die Bestimmung ebenfalls gem. § 319 Abs. 1 Satz 2 durch Urteil.35 4. Schiedsgutachtenvertrag a) Arten des Schiedsgutachtenvertrags

17

Die Befugnis des Dritten zur Bestimmung kann sich auf die Leistung selbst oder auf einzelne Modalitäten der Leistung beziehen; in diesem Fall wird durch die Bestimmung der Vertragsinhalt rechtsgestaltend ergänzt. Zu den betreffenden Leistungsmodalitäten zählen u.a. Zeit, Ort und Qualität der Leistung. In diesem Fall sind die §§ 317 ff. unmittelbar anwendbar.36

18

Die Befugnis des Dritten kann sich aber auch darauf beziehen, bestimmte Umstände, Tatsachen oder Tatbestandsmerkmale für die Parteien verbindlich festzustellen; in diesem Fall sind die §§ 317 ff. entsprechend anwendbar.37

19

Obwohl es sich hierbei um zwei unterschiedliche Fallgruppen handelt, werden beide im allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch als „Schiedsgutachten“ bezeichnet.38

20

Soll nach der zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarung eine rechtsgestaltende Bestimmung erfolgen, so handelt es sich um ein Schiedsgutachten im weiteren Sinne;39 soll der Dritte dagegen Tatsachen und Tatbestandsmerkmale verbindlich feststellen, spricht man von einem Schiedsgutachten im engeren Sinne.40

21

Gegenstand des Schiedsgutachtenvertrags im weiteren Sinne ist damit die Vornahme einer rechtsgestaltenden „billigen“ Bestimmung; Gegenstand des Schiedsgutachtenvertrags im engeren Sinne ist hingegen die Vornahme einer rechtsfeststellenden „richtigen“ Bestimmung.41

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 26. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 24; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 10. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 24; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 10. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 25; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 10. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 25. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 30 f.; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 32 f.; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 8; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3.

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Bestimmung der Leistung durch einen Dritten

Rz. 27 § 317 BGB

aa) Schiedsgutachtenvertrag im weiteren Sinne Die Bestimmung bzw. das Schiedsgutachten im weiteren Sinne ergänzt den Vertragswillen der Partei- 22 en.42 Es erfolgt eine rechtsbegründende bzw. rechtsgestaltende Ergänzung des Vertragsinhalts.43 Als Beispiele hierfür sind u.a. die Ausfüllung von Vertragslücken hinsichtlich der Vergütung oder der Vertragslaufzeit zu nennen.44 Praxisrelevant ist auch die Anpassung des Vertragsinhalts an veränderte Umstände.45 Beim Schiedsgutachten im weiteren Sinne hat die Bestimmung durch den Dritten nach der Auslegungsregel des § 317 Abs. 1 der Billigkeit zu entsprechen. bb) Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne Beim Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne wird dem Dritten die Aufgabe übertragen, einzelne Umstände klarzustellen, sowie Tatsachen und Tatbestandsmerkmale und das Vorliegen tatsächlicher Anspruchsvoraussetzungen verbindlich festzustellen.46

23

Anders als beim Schiedsgutachten im weiteren Sinne, bei dem die Bestimmung der Billigkeit zu entsprechen hat, gelten beim Schiedsgutachten im engeren Sinne nicht die Kategorien „billig“ oder „unbillig“, sondern die Kategorien „richtig“ oder „falsch“.47

24

Zu den Schiedsgutachten im engeren Sinne zählen die klassischen Sachverständigengutachten.48 Hier besteht die Aufgabe des Sachverständigen darin, als Schiedsgutachter aufgrund seiner Sachkunde Feststellungen zu treffen und Bewertungen vorzunehmen.49 Es handelt sich dabei um Beweisgutachten oder um tatsachenfeststellende Schiedsgutachten, z.B. zu Kausalzusammenhängen, zur Schadenshöhe, zu Mängeln oder zu voraussichtlichen Herstellungs- oder Reparaturkosten.50

25

b) Wirksamkeit des Schiedsgutachtenvertrags Der Abschluss des Schiedsgutachtenvertrags ist formfrei.51 Er kann von den Parteien angefochten, einvernehmlich aufgehoben und bei Dauerbindungen gekündigt werden.52 In entsprechender Anwendung von § 319 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 wird der Vertrag unwirksam, wenn der Dritte die Bestimmung nicht treffen kann, nicht treffen will oder sie objektiv verzögert.53

26

c) Inhalt des Schiedsgutachtenvertrags Je nach Konstellation können die Parteien gehalten sein, im Schiedsgutachtenvertrag Regelungen zu 27 folgenden Punkten zu treffen: Beschreibung des Begutachtungsgegenstands;54 Festlegung, ob der Schiedsgutachter neben reinen Tatsachenfeststellungen auch eine rechtliche Bewertung der Fakten vornehmen soll;55 Klarstellung, ob sich die Gutachtenabrede auf sämtliche Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Vertragsverhältnis bezieht oder nur auf einen abgrenzbaren Sachverhalt oder einzelne

42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 5. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 30; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 5. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 5. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 7; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 31; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 6. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 8; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 32. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 33. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 33. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 33. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 34. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 34. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 34. Hecht, ITRB 2008, 184, 185; Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 32, 36. EL 2018. Hecht, ITRB 2008, 184, 186; Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 32, 36. EL 2018.

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BGB § 317 Rz. 27 Bestimmung der Leistung durch einen Dritten Vertragsleistungen;56 Regelung wesentlicher Punkte des Verfahrens,57 insb. zur Pflicht der Parteien, den Sachverhalt darzulegen und Unterlagen vorzulegen sowie zur Anhörung der Parteien;58 ausdrückliche Regelung zu einem pactum de non petendo;59 klarstellende Regelung zur Hemmung der Verjährung trotz § 204 Abs. 1 Nr. 8;60 Verpflichtung des Gutachters, die der Entscheidung zugrunde liegenden wesentlichen Gründe und Sachverhaltsfeststellungen nachvollziehbar darzulegen.61 d) Verfahrensrechtliche Fragen 28

Der Schiedsgutachter ist in der Ausgestaltung des Verfahrens grundsätzlich frei.62 Nach wohl herrschender Meinung handelt es sich beim Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne ebenso wie beim Schiedsgutachtenvertrag im weiteren Sinne um einen rein materiell-rechtlichen Vertrag, auf den die §§ 1025 ff. ZPO weder direkt noch analog anwendbar sind.63 Der Schiedsgutachtenvertrag bedarf deshalb nicht der Form des § 1031 ZPO; er kann folglich auch konkludent abgeschlossen werden, indem die Parteien eine Sachverständigenprüfung vereinbaren.64

29

Umstritten ist, ob der Gutachter dazu verpflichtet ist, den Parteien rechtliches Gehör zu gewähren.65 Eine entsprechende Pflicht des Gutachters besteht jedenfalls dann, wenn im Schiedsgutachtenvertrag ausdrücklich die Anhörung der Parteien vereinbart wurde.66 Die vertragliche Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs erscheint unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten geboten67 und ist auch im Interesse beider Parteien, weil eine sachgerechte Entscheidung besser zu treffen ist, wenn sämtliche Aspekte des Falles bekannt und vorgetragen sind.

30

Der Schiedsgutachter muss immer unparteiisch sein.68 Aufgrund dieses Gebotes der Unabhängigkeit darf etwa ein IT-Sachverständiger, der als Gutachter benannt ist, während der Durchführung des Schiedsgutachtenverfahrens keiner Partei zusätzlich als Berater zur Seite stehen.69 Auch eine Vorbefassung des Schiedsgutachters mit dem Sachverhalt, etwa als Berater einer Partei im Rahmen eines der Beauftragung vorangehenden Ausschreibungsverfahrens, stellt die Unparteilichkeit infrage.

31

Umstritten ist, ob den Parteien das Recht zusteht, den Gutachter wegen Befangenheit abzulehnen.70 Das Ablehnungsrecht kann jedenfalls durch Vereinbarung begründet werden.71 Verstößt der Schiedsgutachter gegen die Pflicht zur Unparteilichkeit, kommt eine Kündigung des Schiedsgutachtervertrags aus wichtigem Grund gem. § 626 in Betracht.72 Des Weiteren ist die Entscheidung eines befangenen Schiedsgutachters unverbindlich.73

56 Hecht, ITRB 2008, 184, 185. 57 Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 11; Hecht, ITRB 2008, 184, 186; Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 34 ff., 36. EL 2018. 58 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 34 ff., 36. EL 2018. 59 Hecht, ITRB 2008, 184, 187. 60 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 41, 36. EL 2018. 61 Hecht, ITRB 2008, 184, 187. 62 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 54; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7. 63 Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 11; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 41; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7. 64 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 43. 65 Keine Pflicht zu Gewährung rechtlichen Gehörs: BGH v. 18.2.1955 – V ZR 110/53, NJW 1955, 665; Palandt/ Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7; für die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs: Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 11 und MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 44. 66 Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7. 67 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 36, 36. EL 2018. 68 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 45. 69 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 28, 36. EL 2018. 70 S. Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 11; für ein Ablehnungsrecht analog § 1036 Abs. 2 ZPO MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 55. 71 Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7. 72 Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 11; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 46. 73 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 45.

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Bestimmung der Leistung durch einen Dritten

Rz. 37 § 317 BGB

5. Schiedsgutachtervertrag Vom Schiedsgutachtenvertrag ist der Schiedsgutachtervertrag zu unterscheiden.74 Der Schiedsgutach- 32 tenvertrag wird zwischen den streitenden Parteien abgeschlossen. Demgegenüber wird der Schiedsgutachtervertrag zwischen den streitenden Parteien auf der einen Seite und dem Gutachter auf der anderen Seite abgeschlossen.75 Die Parteien können in der Schiedsgutachtenabrede auch vereinbaren, dass nur eine der Parteien die Beauftragung des Schiedsgutachters vornimmt.76 In zeitlicher Hinsicht geht der Abschluss des Schiedsgutachtenvertrags zumeist dem Abschluss des Schiedsgutachtervertrags voraus.77 Der Schiedsgutachtervertrag ist ein Geschäftsbesorgungsvertrag i.S.v. § 675 mit dienst- bzw. werkver- 33 traglichen Elementen.78 Gegenstand des Schiedsgutachtervertrags ist die Abrede, dass der Schiedsgutachter bestimmte Umstände verbindlich festzustellen hat; als Regelungsgegenstände kommen die Beschreibung der Aufgabe, die Bestimmung des Honorars, eine Verpflichtung zur Vertraulichkeit sowie Vereinbarungen zur Haftung in Betracht.79 Die Beschreibung der Aufgabe des Schiedsgutachters kann dadurch erfolgen, dass die Schiedsgutachtenabrede in den Schiedsgutachtervertrag mit einbezogen wird.80 Die Parteien tragen die Kosten des Schiedsgutachters im Zweifelsfall je zur Hälfte.81

34

Der Schiedsgutachter haftet für Schäden, die aus Pflichtverletzungen resultieren; ein solches Haftungsrisiko besteht insb., wenn sein Gutachten offenbare Unrichtigkeiten aufweist.82 Das Spruchrichterprivileg gem. § 839 Abs. 2 ist nicht anwendbar.83 Der Schiedsgutachter haftet nicht nur ggü. der Partei, mit der er den Schiedsgutachtervertrag abgeschlossen hat, sondern auch ggü. der hieran nicht beteiligten Partei.84 Beim Schiedsgutachtervertrag ist ein solcher Drittschutz anzunehmen, wenn Gegenstand des Auftrags die Erstellung eines Gutachtens für beide Parteien ist und nicht ein Parteigutachten für nur eine der Parteien.85

35

III. Abdingbarkeit und AGB-rechtliche Aspekte § 317 ist individualvertraglich abdingbar. Die Vereinbarung einer Schiedsgutachtenklausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist zwar grundsätzlich möglich, jedoch müssen im Hinblick auf § 307 für ihre Wirksamkeit strenge Voraussetzungen gewahrt sein:86 Die Unparteilichkeit des Gutachters muss sichergestellt sein; dies kann entweder durch die Auswahl des Gutachters durch eine, auch aus Sicht des Gegners vertrauenswürdige Stelle oder durch Einräumung eines Ablehnungsrechts erfolgen. Dem Verwendungsgegner muss ein Anspruch auf rechtliches Gehör zustehen. Das Recht des Verwendungsgegners, das Schiedsgutachten wegen offenbarer Unrichtigkeit anzufechten, darf nicht eingeschränkt werden und die Nachteile, die dem Verwendungsgegner aus einem möglicherweise unrichtigen Gutachten entstehen können, dürfen nicht unverhältnismäßig sein.

36

Die formularvertragliche Einräumung eines Bestimmungsrechts an einen Dritten ist gem. § 307 unwirksam, wenn dessen Neutralität nicht gegeben ist; das ist insb. dann der Fall, wenn der Dritte dem

37

74 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 10, 36. EL 2018. 75 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 53; Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 41, 36. EL 2018. 76 Hecht, ITRB 2008, 184, 187. 77 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 11, 36. EL 2018. 78 Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 14. 79 Redeker/von Bodenhausen/Brödermann, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 8.2 Rz. 10 f., 36. EL 2018. 80 Hecht, ITRB 2008, 184, 187. 81 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 53; Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 7. 82 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 55. 83 Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 14; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 55. 84 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 56. 85 MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 53. 86 S. Palandt/Grüneberg, § 307 BGB Rz. 130 m.w.N.

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BGB § 317 Rz. 37 Bestimmung der Leistung durch einen Dritten Verwender nahesteht, weil er mit diesem zusammenarbeitet oder zu diesem ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.87

§ 318 Anfechtung der Bestimmung (1) Die einem Dritten überlassene Bestimmung der Leistung erfolgt durch Erklärung gegenüber einem der Vertragschließenden. (2) Die Anfechtung der getroffenen Bestimmung wegen Irrtums, Drohung oder arglistiger Täuschung steht nur den Vertragschließenden zu; Anfechtungsgegner ist der andere Teil. Die Anfechtung muss unverzüglich erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat. Sie ist ausgeschlossen, wenn 30 Jahre verstrichen sind, nachdem die Bestimmung getroffen worden ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

1. Erklärung der Leistungsbestimmung . . . . . 2. Anfechtung der Bestimmungserklärung . . . .

2 5

Literatur: S. die Kommentierung zu § 317.

I. Allgemeines 1

§ 318 ergänzt § 317 im Hinblick auf die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts durch den Dritten. Dies erfolgt gem. § 318 Abs. 1 durch Erklärung ggü. einem der Vertragschließenden. Des Weiteren regelt § 318 Abs. 2 die Anfechtbarkeit der Bestimmungserklärung. Damit wird teilweise von den allgemeinen Anfechtungsregeln abgewichen.

II. Norminhalt 1. Erklärung der Leistungsbestimmung 2

Die Leistungsbestimmung erfolgt gem. § 318 Abs. 1 durch eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung. Dabei ist es ausreichend, wenn die Bestimmungserklärung nur ggü. einer der Parteien abgegeben wird.1 Die Erklärung ist nicht formbedürftig.2 Der Dritte ist verpflichtet, die Bestimmung selbst zu treffen, sie darf nur dann an einen anderen delegiert werden, wenn dies dem Dritten ausdrücklich gestattet ist.3

3

Mit ihrem Zugang wird die Bestimmungserklärung Inhalt des Rechtsgeschäfts.4 Die Erklärung ist unwiderruflich.5 Eine Änderung durch den Dritten ist nicht möglich; dies gilt auch dann, wenn er nach Abgabe der Bestimmungserklärung Fehler bemerkt.6 Auch bei Schiedsgutachten im engeren Sinn sind nachträgliche Änderungen durch den Schiedsgutachter ausgeschlossen.7 Eine Berichtigung offensicht-

87 1 2 3 4 5 6 7

BGH v. 18.5.1983 – VIII ZR 83/82, NJW 1983, 1854, 1855; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 35. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 1.

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Unwirksamkeit der Bestimmung; Ersetzung

§ 319 BGB

licher Versehen analog § 319 ZPO soll aber möglich sein.8 Es steht den Parteien im Übrigen frei, Korrekturmöglichkeiten zu vereinbaren.9 § 318 Abs. 1 ist auf Schiedsgutachten entsprechend anzuwenden; somit wird das Schiedsgutachten mit seiner Abgabe verbindlich und unwiderruflich.10

4

2. Anfechtung der Bestimmungserklärung Nach § 318 Abs. 2 kann die Bestimmungserklärung angefochten werden. Anfechtungsberechtigt sind 5 allerdings nur die vertragsschließenden Parteien, insb. die durch die Bestimmung nachteilig betroffene Partei.11 Der Dritte, bzw. der Schiedsgutachter haben kein Recht zur Anfechtung.12 Die Anfechtung ist gem. § 318 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 ggü. der anderen Vertragspartei und damit nicht ggü. dem Dritten zu erklären. Es gelten grundsätzlich die allgemeinen Anfechtungsregeln, insb. die §§ 119, 120, 123.13 Allerdings ist § 123 Abs. 2 unanwendbar.14 Gem. § 318 Abs. 2 Satz 2 muss bei Täuschung und Drohung unverzüglich nach Kenntniserlangung des Anfechtungsgrundes angefochten werden; die Jahresfrist des § 124 Abs. 1 gilt nicht.15 Wird die Bestimmungserklärung wirksam angefochten, so ist sie rückwirkend (ex tunc) nichtig. Es bedarf dann einer erneuten Bestimmung durch den Dritten.16 Ist im Hinblick auf den Anfechtungsgrund eine erneute Bestimmung durch den Dritten für eine Partei oder für beide Parteien unzumutbar, so sind beide Parteien gehalten, sich auf einen anderen Dritten zu verständigen. Gelingt dies nicht, erfolgt die Bestimmung gem. § 319 Abs. 1 Satz 2 durch Urteil.17

§ 319 Unwirksamkeit der Bestimmung; Ersetzung (1) Soll der Dritte die Leistung nach billigem Ermessen bestimmen, so ist die getroffene Bestimmung für die Vertragschließenden nicht verbindlich, wenn sie offenbar unbillig ist. Die Bestimmung erfolgt in diesem Falle durch Urteil; das Gleiche gilt, wenn der Dritte die Bestimmung nicht treffen kann oder will oder wenn er sie verzögert. (2) Soll der Dritte die Bestimmung nach freiem Belieben treffen, so ist der Vertrag unwirksam, wenn der Dritte die Bestimmung nicht treffen kann oder will oder wenn er sie verzögert. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung der Leistung durch den Dritten nach billigem Ermessen . . . . . . . . . . . . . a) Schiedsgutachtenvertrag im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne

1 2 2 4 6

2. Offenbare Unbilligkeit oder offenbare Unrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . 4. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . 5. Ersetzung durch Urteil . . . . . . . . . . . . . 6. Fehlende Bestimmung nach freiem Belieben

. . . . .

10 15 16 17 18

III. Abdingbarkeit und AGB-rechtliche Aspekte . 20

Literatur: S. die Kommentierung zu § 317.

8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 3. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 3. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 4. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 5; Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 5; Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 318 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 9. MünchKomm/Würdinger, § 318 BGB Rz. 9.

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BGB § 319 Rz. 1 Unwirksamkeit der Bestimmung; Ersetzung

I. Allgemeines 1

Sofern die Bestimmung der Leistung einem neutralen Dritten zugewiesen wird, hat sie eine höhere Richtigkeitsgewähr als die Bestimmung der Leistung durch eine der Parteien.1 Aus diesem Grund wird dem Dritten ein größerer Entscheidungsspielraum eingeräumt. Soll der Dritte die Leistung nach billigem Ermessen bestimmen, so ist die getroffene Bestimmung für die Parteien nicht verbindlich, wenn Sie offenbar unbillig ist. Bei der Bestimmung durch eine der Parteien genügt gem. § 315 Abs. 3 hingegen bereits die einfache Unbilligkeit. Zweck der Vorschrift ist es damit, die Bestimmung durch den Dritten kleinlichen Beanstandungen zu entziehen2 und ihr einen höheren Bestandsschutz zu verleihen.3

II. Norminhalt 1. Bestimmung der Leistung durch den Dritten nach billigem Ermessen 2

Erforderlich für die Anwendbarkeit von § 319 Abs. 1 ist zunächst, dass die Bestimmung der Leistung einem Dritten überlassen ist. Diesbezüglich ist auf die Kommentierung zu § 317 zu verweisen. Des Weiteren muss die Leistungsbestimmung nach dem Willen der Parteien nach billigem Ermessen des Dritten erfolgen. Bei Anwendbarkeit von § 317 Abs. 1 ist mangels einer anderweitigen Vereinbarung der Parteien im Zweifel anzunehmen, dass die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist. Haben die Parteien dagegen vereinbart, dass die Leistungsbestimmung nach freiem Belieben getroffen werden kann, so ist § 319 Abs. 2 anwendbar.

3

Gem. § 319 Abs. 1 Satz 1 ist die getroffene Bestimmung unverbindlich, wenn sie offenbar unbillig ist. Bei Schiedsgutachtenverträgen ist bezüglich des Beurteilungsmaßstabs zwischen Schiedsgutachten im engeren Sinne und Schiedsgutachten im weiteren Sinne zu unterscheiden. a) Schiedsgutachtenvertrag im weiteren Sinne

4

Auf Schiedsgutachtenverträge im weiteren Sinne findet § 319 Abs. 1 unmittelbare Anwendung. Bei einem Schiedsgutachten im weiteren Sinne wird der Vertragswille der Parteien ergänzt; der Gutachter hat die Befugnis, die Leistung oder Leistungsmodalitäten zu bestimmen und dadurch den Vertragsinhalt rechtsgestaltend zu ergänzen.4

5

Gegenstand der Prüfung und Beurteilungsmaßstab hinsichtlich der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der gutachterlichen Bestimmung ist damit, ob die Bestimmung offenbar unbillig ist.5 Offenbare Unbilligkeit ist gegeben, wenn die Leistungsbestimmung in so grober Weise gegen Treu und Glauben verstößt, dass sich die Unrichtigkeit bei einer sachkundigen Prüfung aufdrängt.6 Hierfür genügt, dass die Bestimmung objektiv offenbar unbillig ist; ein Verschulden des Dritten ist nicht erforderlich.7 „Offenbar“ ist nicht gleichbedeutend mit „offensichtlich“; bei komplexen Sachverhalten kann auch erst eine vertiefte Prüfung notwendig sein, um die offenbare Unbilligkeit zu erkennen.8 b) Schiedsgutachtenvertrag im engeren Sinne

6

Beim Schiedsgutachten im engeren Sinne geht es hingegen um die Feststellung von Tatsachen und Tatbestandsmerkmalen. Anders als beim Schiedsgutachten im weiteren Sinne, bei dem die Bestim-

1 2 3 4 5 6

MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 1. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 317 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 3. BGH v. 26.4.1991 – V ZR 61/90, NJW 1991, 2761; MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 3. 7 MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 3. 8 MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 7.

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Unwirksamkeit der Bestimmung; Ersetzung

Rz. 13 § 319 BGB

mung der Billigkeit zu entsprechen hat, gelten beim Schiedsgutachten im engeren Sinne nicht die Kategorien „billig“ oder „unbillig“, sondern die Kategorien „richtig“ oder „falsch“.9 Auf Schiedsgutachten im engeren Sinne ist § 319 deshalb nur entsprechend anwendbar.10 Beurteilungsmaßstab hinsichtlich der Wirksamkeit der Bestimmung bzw. der Verbindlichkeit des Gutachtens ist nicht das Kriterium der offenbaren Unbilligkeit, sondern – da es um die Feststellung von Tatsachen geht – die Entscheidung, ob das Gutachten offenbar unrichtig ist.11

7

Eine offenbare Unrichtigkeit liegt vor, wenn sich die Unrichtigkeit dem sachkundigen und unbefangenen Beobachter, wenn auch möglicherweise erst nach gründlicher Prüfung, aufdrängt.12

8

Ein Schiedsgutachten im engeren Sinne muss eine nachprüfbare Begründung enthalten, da es sonst nicht auf seine Richtigkeit überprüft werden kann.13 Eine offenbare Unrichtigkeit i.S.v. § 319 kann schon dann vorliegen, wenn die Ausführungen des Sachverständigen so lückenhaft sind, dass selbst ein Fachmann das Ergebnis aus dem Zusammenhang des Gutachtens nicht zu überprüfen vermag.14

9

2. Offenbare Unbilligkeit oder offenbare Unrichtigkeit Grundsätzlich kommt es bei der Beurteilung der Unbilligkeit bzw. Unrichtigkeit nur auf das Ergebnis 10 an, nicht aber auf die Art und Weise des Zustandekommens des Gutachtens.15 Allerdings führen schwere Mängel im Verfahren oder auch bei der Begründung des Schiedsgutachtens zu einer offenbaren Unbilligkeit bzw. Unrichtigkeit i.S.v. § 319 Abs. 1.16 Mangelnde Gewährung des rechtlichen Gehörs oder mangelnde Neutralität des Gutachters sind jedenfalls erhebliche Indizien für eine offenbare Unbilligkeit oder Unrichtigkeit.17 Setzt ein Gutachter zur Beurteilung der Mangelhaftigkeit eines IT-Systems ein Diagnoseprogramm ein, unterlaufen ihm aber beim Einsatz des Diagnoseprogramms Fehler, so ist die auf diese fehlerhafte Diagnose gestützte Feststellung des Gutachters wegen offenbarer Unrichtigkeit unverbindlich; dies gilt auch dann, wenn sich die Beurteilung der Mängelfrage durch den Gutachter aus anderen Gründen letztlich doch als richtig herausstellt.18

11

Eine offenbare Unrichtigkeit kann beispielsweise dann gegeben sein, wenn der Gutachter im Hinblick auf vermeintliche Fehler der Software von einem grundlegenden Architektur- bzw. Design-Mangel ausgeht, während in Wirklichkeit nur ein Bedienungsfehler gegeben war.19

12

Ein Schiedsgutachten über ein Software-Dienstleistungsprojekt, das in technischer, methodischer und verfahrensmäßiger Hinsicht schwerwiegende Mängel aufweist, so dass es sich für den Zweck seiner Erstellung als unbrauchbar darstellt, ist offenbar unrichtig und daher unbillig.20 Mängel, die die offenbare Unrichtigkeit eines solchen Schiedsgutachtens begründen, liegen beispielsweise in Folgendem: Das Gutachten weist einen methodischen Fehler auf, indem es sich bei der Beantwortung von Rechtsfragen nicht darauf beschränkt, Rechtstatsachen festzustellen, sondern darüber hinaus reine Rechtsfragen beantwortet, indem der Gutachter etwa feststellt, eine Rücktrittsdrohung sei unwirksam, Rücktrittsgründe seien nicht gegeben oder eine Partei habe einen generellen Anspruch auf Schadensersatz;21 das Gutachten beruht auf einem Verfahrensverstoß, da nicht alle Parteien zur Teilnahme an Ortsterminen geladen wurden und dadurch der Anspruch der betreffenden Parteien auf rechtliches Gehör erheb-

13

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Erman/Hager, § 317 BGB Rz. 8; MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 32. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 4. Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 7. BGH v. 17.1.2013 – III ZR 10/12, NJW 2013, 1296; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 4. BGH v. 16.11.1987 – II ZR 111/87, NJW-RR 1988, 506, 507; Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 8. Vgl. BGH v. 27.6.2001 – VIII ZR 235/00, NJW 2001, 3775, 3777; Hecht, ITRB 2008, 184, 187. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 8; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 5. Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 4; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 5a. MünchKomm/Würdinger, § 317 BGB Rz. 19. OLG Köln v. 29.11.1996 – 19 U 59/96, NJW-RR 1997, 1412 = CR 1997, 211. Vgl. zu einem ähnlichen Beispiel Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 4: Annahme eines Konstruktionsfehlers, wenn tatsächlich nur ein Bedienungsfehler vorliegt. 20 OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 428. 21 OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 428.

Karger

659

BGB § 319 Rz. 13 Unwirksamkeit der Bestimmung; Ersetzung lich verletzt wurde;22 das Gutachten weist einen erheblichen systematischen Fehler auf, weil bezüglich der vom Schiedsgutachter zu untersuchenden Software nicht ersichtlich ist, welcher exakte Versionsstand der Software bei mehreren in Betracht kommenden Versionsständen geprüft wurde und es deshalb an der Nachvollziehbarkeit des Gutachtens fehlt;23 das Gutachten weist methodische Fehler lauf, die darin liegen, dass der Schiedsgutachter die zu begutachtende Software nicht in Ihrer Zielumgebung, sondern isoliert auf seinem Notebook überprüft hat,24 dass er bei zwei zu überprüfenden Software-Versionen nicht überprüft hat, ob beide die gleichen Fehler aufweisen25 und dass das Gutachten aufgrund unklarer Verweisungen und mangelnder bzw. teilweiser fehlender Dokumentation nicht nachvollziehbar ist.26 14

Ist das Schiedsgutachten offenbar unbillig bzw. unrichtig, so können beiden Parteien Schadensersatzansprüche gegen den Gutachter zustehen.27 Wird der Schiedsgutachtervertrag mit dem Gutachter von nur einer Partei abgeschlossen, können bei Erstellung eines offenbar unrichtigen Gutachtens auch der anderen Partei unmittelbare (werk-)vertragliche Schadensersatzansprüche gegen den Schiedsgutachter zustehen; dem Eintritt eines ersatzfähigen Schadens steht nicht entgegen, dass von dem Auftraggeber des Schiedsgutachters gem. § 319 Abs. 1 die gerichtliche Neubestimmung der Leistung verlangt werden kann.28 3. Maßgeblicher Zeitpunkt

15

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Leistungsbestimmung offenbar unbillig ist, ist der Zeitpunkt der Abgabe der Bestimmungserklärung bzw. der Zeitpunkt der Abgabe des Gutachtens.29 Danach eingetretene oder bekannt gewordene Tatsachen sind grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähig.30 Maßgeblich ist der Sach- und Streitstand, den die Parteien dem Dritten unterbreitet haben.31 4. Darlegungs- und Beweislast

16

Derjenige, der sich auf die offenbare Unbilligkeit bzw. Unrichtigkeit beruft, trägt für deren Voraussetzungen die Darlegungs- und Beweislast.32 Beim Streit über die Unbilligkeit bzw. die Unrichtigkeit eines Schiedsgutachtens sind dessen Mängel schlüssig darzulegen, damit das Gericht hierüber Beweis erheben kann.33 5. Ersetzung durch Urteil

17

Ist die Bestimmung durch den Dritten offenbar unbillig bzw. unrichtig, so ist sie gem. § 319 Abs. 1 Satz 1 für die Vertragschließenden nicht verbindlich. Stattdessen erfolgt die Bestimmung durch Urteil. Entsprechendes gilt gem. § 319 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2, wenn der Dritte die Bestimmung nicht treffen kann oder will oder wenn er sie verzögert. Diese Umstände sind objektiv zu bestimmen, der Grund hierfür ist nicht relevant.34

22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 428. OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 429. OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 429. OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 429. OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427, 429. BGH v. 17.1.2013 – III ZR 10/12, NJW 2013, 1296. BGH v. 17.1.2013 – III ZR 10/12, NJW 2013, 1296. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 10; Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 6. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 10. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 6. Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 10; MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 12. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 12; zur Würdigung eines in vielen Punkten schwerwiegend fehlerhaften Schiedsgutachtens in einer IT-rechtlichen Streitigkeit s. OLG Köln v. 11.1.2013 – 19 U 81/07, CR 2014, 427. 34 Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 11; MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 21.

660

Karger

Einrede des nicht erfüllten Vertrags

§ 320 BGB

6. Fehlende Bestimmung nach freiem Belieben Soll der Dritte die Bestimmung nach freiem Belieben treffen, so ist der Vertrag gem. § 319 Abs. 2 unwirksam, wenn der Dritte die Bestimmung nicht treffen kann oder will oder wenn er sie verzögert. In diesem Fall sieht das Gesetz keine Leistungsbestimmung durch das Gericht vor; der Vertrag ist unwirksam.35 Allerdings dürfte der Maßstab des „freien Beliebens“ nur in seltenen Ausnahmefällen vereinbart werden, da der Entscheidungsspielraum des Schiedsgutachters damit nahe an die Grenze zur Willkür heranreicht. Nach der Auslegungsregel des § 317 Abs. 1 gilt im Zweifelsfall, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist. Dies bedeutet, dass der Maßstab des freien Beliebens nur dann gilt, wenn er zweifelsfrei vereinbart wurde.36

18

Diejenige Partei, die sich darauf beruft, dass dem Dritten ein Bestimmungsrecht nach freiem Belieben eingeräumt wurde, trägt hierfür die Beweislast.37

19

III. Abdingbarkeit und AGB-rechtliche Aspekte § 319 Abs. 1 kann abbedungen werden.38 Individualvertraglich können die Parteien eine Anfechtung wegen offenbarer Unbilligkeit bzw. wegen offenbarer Unrichtigkeit ausschließen; formularvertraglich ist dies nicht wirksam.39

20

Die Parteien können den Entscheidungsmaßstab in zwei Richtungen modifizieren:40 § 319 Abs. 1 Satz 1 kann dahingehend modifiziert werden, dass das Gericht die Bestimmung nicht auf eine offensichtliche Unbilligkeit, sondern auf jede Unbilligkeit hin überprüft.41 Andererseits soll es zulässig sein, dass sich die Parteien im Wege der Individualabrede im Voraus einer offenbar unbilligen Bestimmung unterwerfen.42 In Bezug auf Schiedsgutachten können die Parteien vereinbaren, dass die Bestimmung durch den Schiedsgutachter absolut bindend ist, selbst wenn die Feststellungen sich als offenbar unrichtig erweisen.43

21

Auch § 319 Abs. 2 ist abdingbar.44 Die Parteien können vereinbaren, dass bei fehlender Bestimmung durch den Dritten der Vertrag nicht unwirksam sein soll und das Gericht eine Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen hat.45

22

§ 320 Einrede des nicht erfüllten Vertrags (1) Wer aus einem gegenseitigen Vertrag verpflichtet ist, kann die ihm obliegende Leistung bis zur Bewirkung der Gegenleistung verweigern, es sei denn, dass er vorzuleisten verpflichtet ist. Hat die Leistung an mehrere zu erfolgen, so kann dem einzelnen der ihm gebührende Teil bis zur Bewirkung der ganzen Gegenleistung verweigert werden. Die Vorschrift des § 273 Abs. 3 findet keine Anwendung. (2) Ist von der einen Seite teilweise geleistet worden, so kann die Gegenleistung insoweit nicht verweigert werden, als die Verweigerung nach den Umständen, insbesondere wegen verhältnismäßiger Geringfügigkeit des rückständigen Teils, gegen Treu und Glauben verstoßen würde 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 9. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 28. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 30. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 10. Palandt/Grüneberg, § 319 BGB Rz. 10. Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 2. Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 2; MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 3. Erman/Hager, § 319 BGB Rz. 2. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 3. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 29. MünchKomm/Würdinger, § 319 BGB Rz. 29.

Karger und Stögmüller

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BGB § 320 Rz. 1 Einrede des nicht erfüllten Vertrags I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . Nichterfüllung durch den anderen Teil Keine Vorleistungspflicht . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

1

. . . .

4 4 9 11

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Parteivereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 14

IV. Einzelne IT-Vertragsarten . . . . . . . . . . . 15 1. Überlassung von Hardware und Standardsoftware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2. 3. 4. 5. 6.

Softwareerstellung . . . . . . . . . . . . . IT-Projektvertrag und Systemvertrag . . Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . . . . ASP/SaaS/Cloud Computing . . . . . . . Wartungs-, Pflege- und Supportverträge

. . . . .

. . . . .

. . . . .

17 18 19 21 23

V. 1. 2. 3.

Rechtsfolgen . . . . . . . . . Leistungsverweigerungsrecht Teilleistungen (§ 320 Abs. 2) Schuldnerverzug . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

26 26 27 29

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Literatur: Redeker, Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts im Wartungs- und Pflegevertrag, CR 1995, 385; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II: Nachvertragliche Pflichten, CR 2015, 277.

I. Allgemeines 1

§ 320 Abs. 1 Satz 1 normiert für jede Partei eines gegenseitigen Vertrages ein Leistungsverweigerungsrecht (Einrede des nicht erfüllten Vertrags), wonach jede Partei die ihr obliegende Leistung bis zur vollständigen und ordnungsgemäßen Bewirkung der Gegenleistung seitens des anderen Teils verweigern darf.1 Hiernach kann der Gläubiger die Leistung nicht schlechthin, sondern nach § 322 Abs. 1 nur Zug-um-Zug gegen Erbringung der ihm obliegenden Gegenleistung fordern, d.h. nur einen Leistungsaustauch verlangen.2 Der durch die Norm verfolgte Zweck ist zum einen, dass die in Anspruch genommene Partei ihrerseits auf die andere Partei Druck ausüben kann, die geschuldete Gegenleistung ebenfalls zu erbringen, andererseits hat sie eine Sicherungsfunktion, die verhindern soll, dass der Schuldner einer Vertragsleistung gezwungen wird, seine eigene Leistung zu erbringen und seiner Forderung „hinterherlaufen“ zu müssen.3 § 320 gibt kein Befriedigungsrecht.4

2

Der Anwendungsbereich des § 320 betrifft als lex specialis ggü. § 273 die Leistungspflichten der Parteien aus einem wirksamen gegenseitigen Vertrag, die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, wohingegen für andere Pflichten § 273 anstelle von § 320 Anwendung findet.5

3

Die Anwendung von § 320 erfordert als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die eigene Vertragstreue des Schuldners, d.h. dessen eigene Erfüllungsbereitschaft.6

II. Norminhalt 1. Gegenseitigkeit 4

§ 320 gilt nur für Pflichten, die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen; wegen anderer Pflichten ist ggf. das Zurückbehaltungsrecht nach § 273 auszuüben.7 Die Einrede des nicht erfüllten Vertrags kann nur zur Sicherung und Durchsetzung einer im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Forderung erhoben werden, so dass es nicht genügt, wenn einzelne Ansprüche aus verschiedenen Verträgen gegenüberstehen.8

1 2 3 4 5 6 7 8

MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 1. Jauernig/Stadler, § 320 BGB Rz. 1. MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 1; Erman/Westermann, § 320 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 1; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 1. MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 2; MünchKomm/Krüger, § 273 BGB Rz. 2. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158. Erman/Westermann, § 320 BGB Rz. 3. Erman/Westermann, § 320 BGB Rz. 4.

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Stögmüller

Einrede des nicht erfüllten Vertrags

Rz. 10 § 320 BGB

Das Gegenseitigkeitsverhältnis erstreckt sich auf alle Hauptleistungspflichten sowie auf alle sons- 5 tigen vertraglichen Pflichten, die nach dem Vertragszweck von wesentlicher Bedeutung sind.9 Hauptleistungspflichten sind zum einen die den Vertragstyp bestimmenden Pflichten, die im Austauschverhältnis mit den korrespondierenden Pflichten der anderen Seite stehen (vgl. §§ 433, 535, 611, 631), aber auch z.B. die Pflicht zur vertragsgemäßen Herstellung des Werks oder die Abnahmepflicht des Bestellers nach § 640.10 Zu den Hauptleistungspflichten zählen auch sonstige Pflichten, die nach dem Willen der Parteien für die Durchführung des Vertrages von wesentlicher Bedeutung sind.11 Dies kann z.B. die Verpflichtung zur Montage und Inbetriebnahme einer Anlage sein, wenn die Montage der Anlage von wesentlicher Bedeutung für den Auftraggeber ist, weil erst diese den Auftraggeber in die Lage versetzt, die Anlage für ihre betrieblichen Zwecke zu nutzen, und auch hierfür eine Zahlung geschuldet wird.12

6

Ein Gegenseitigkeitsverhältnis liegt allerdings nicht vor, wenn der Auftragnehmer unter einem Liefervertrag Hardware oder Software geliefert und über diese Systeme einen gesonderten Wartungs- und Pflegevertrag geschlossen hat und aus diesem Vertrag die Pflegeleistungen zurückhalten will, weil das Entgelt für die Lieferung der Software bzw. Hardware noch nicht vollständig beglichen worden ist; § 320 ist nicht anwendbar.13

7

Ein Rahmenvertrag, der bestimmte Bedingungen für abzuschließende Einzelverträge der Parteien festlegt, begründet ebenso wie ein Sukzessiv- oder Dauerlieferungsvertrag Gegenseitigkeit zwischen den wechselseitigen Leistungspflichten aus den verschiedenen Einzelverträgen und damit ein Leistungsverweigerungsrecht hinsichtlich noch ausstehender Teilleistungen.14 Bei Sukzessiv- oder Ratenlieferungsverträgen werden im Voraus festgelegte Teilleistungen des Unternehmers in einem einheitlichen Vertrag festgelegt, mit der Folge, dass ein Gegenseitigkeitsverhältnis nicht nur zwischen den einzelnen Teilleistungen und den darauf bezüglichen Raten der Gegenleistung besteht, sondern grundsätzlich zwischen allen beiderseits ausgetauschten Einzelleistungen, die durch den einheitlichen Vertrag i.S.d. § 320 miteinander verknüpft werden. Für § 320 ergibt sich daraus, dass der Auftraggeber bei Verzug, Nichterfüllung oder Schlechterfüllung des Auftragnehmers hinsichtlich einzelner Teilleistungen grundsätzlich die Bezahlung anderer offener Raten für bereits ordnungsgemäß erbrachte Leistungen verweigern kann, bis der Auftragnehmer die Folgen seiner Vertragsverletzung beseitigt hat. Dasselbe gilt umgekehrt zugunsten des Auftragnehmers, solange der Auftraggeber bereits erbrachte Teillieferungen noch nicht bezahlt hat.15

8

2. Nichterfüllung durch den anderen Teil Die Gegenleistung darf auch nicht bewirkt sein, wobei die Gründe für die Nichterfüllung gleichgültig sind und ein Verschulden des anderen Teils nicht erforderlich ist.16

9

Die Gegenforderung muss voll wirksam und fällig sein, so dass ein Leistungsverweigerungsrecht i.d.R. ausgeschlossen ist, wenn der Schuldner vorleistungspflichtig ist.17 Das Gesetz sieht eine Beschränkung des Leistungsverweigerungsrechts auf einen dem noch ausstehenden Teil der ihm geschuldeten Gegenleistung entsprechenden Teil grundsätzlich nicht vor.18 Unerheblich ist daher, in welchem Umfang die Gegenleistung noch aussteht, so dass der Schuldner seine Leistung grundsätzlich – d.h. unter der Beschränkung des § 320 Abs. 2 – voll zurückhalten kann, auch wenn die Gegenleistung bereits teilweise erbracht worden ist.19

10

9 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 4; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 23. 10 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 14; Jauernig/Stadler, § 320 BGB Rz. 7; BGH v. 22.7.1998 – VIII ZR 220/97, NJW 1998, 3197, 3199. 11 BGH v. 22.7.1998 – VIII ZR 220/97, NJW 1998, 3197, 3199. 12 BGH v. 22.7.1998 – VIII ZR 220/97, NJW 1998, 3197, 3199. 13 Redeker, CR 1995, 385, 386; zur Ausübung des Zurückbehaltungsrechts in diesem Falle s. § 273 Rz. 7. 14 BGH v. 24.10.2006 – X ZR 124/03, NJW-RR 2007, 325, 328. 15 MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 4. 16 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 7. 17 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 5; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 26. 18 BGH v. 13.7.1970 – VII ZR 176/68, NJW 1970, 2019, 2021. 19 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 8.

Stögmüller

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BGB § 320 Rz. 11 Einrede des nicht erfüllten Vertrags 3. Keine Vorleistungspflicht 11

Falls eine Vorleistungspflicht besteht, entfällt für den Vorleistungspflichtigen das Leistungsverweigerungsrecht des § 320.20 Eine Vorleistungspflicht kann sich aus Gesetz ergeben, wie z.B. nach § 614 für den Dienstverpflichteten und nach § 641 für den Werkunternehmer hinsichtlich der Herstellung des Werkes und der Nacherfüllung bis zur Abnahme; nach der Abnahme ist die Beseitigung von Mängeln und die Zahlung des restlichen Werklohns Zug um Zug abzuwickeln.21

12

Insb. bei Wartungs-, Pflege- und Supportverträgen aber auch bei der zeitlich befristeten Softwareüberlassung wird häufig vereinbart, dass die Pflegegebühr für die jeweilige Pflegeperiode bzw. die Lizenzgebühr für die jeweilige Lizenzdauer im Vorhinein zu entrichten sind, so dass für die entsprechende Pflegeperiode bzw. Lizenzzeitraum kein Leistungsverweigerungsrecht des Auftraggebers besteht.22

III. Abdingbarkeit 1. Parteivereinbarung 13

§ 320 kann durch Individualvereinbarung abbedungen werden, insb. durch Vereinbarung einer Vorleistungspflicht.23 Der vertragliche Ausschluss von Zurückbehaltungsrechten erstreckt sich auch auf die Einrede des nicht erfüllten Vertrags nach § 320.24 2. AGB

14

Einschränkungen des Leistungsverweigerungsrechts nach § 320 sind gem. § 309 Nr. 2 Buchst. a in AGB unwirksam.25

IV. Einzelne IT-Vertragsarten 1. Überlassung von Hardware und Standardsoftware 15

Beim Kauf einer aus Hard- und Software bestehenden Computeranlage gehört die Lieferung einer Bedienungsanleitung (auch als Dokumentation oder Handbuch bezeichnet) zur Hauptleistungspflicht, auch wenn sie nicht im Vertragstext als geschuldeter Gegenstand erwähnt ist.26 Das Fehlen eines Handbuchs stellt eine teilweise Nichterfüllung dar.27 Wird das Handbuch nicht geliefert, steht dem Käufer die Einrede nach § 320 zu.28

16

Sofern eine kaufweise erworbene Hardware oder Software an den Käufer übergeben worden ist, ist umstritten, ob im Falle der Mangelhaftigkeit § 320 Anwendung findet oder §§ 434 ff. Sonderregelungen enthalten.29 Im Falle der Unzulänglichkeit des überlassenen Quellcodes und einer fehlenden Quellcodedokumentation können ab Übergabe der Software nur noch kaufvertragliche Gewährleistungsrechte geltend gemacht werden, nicht jedoch das Leistungsverweigerungsrecht aus § 320.30

20 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 17. 21 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 16; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 14. 22 Vgl. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. P Rz. 288, der vorschlägt, quartalsweise, nicht das gesamte Vertragsjahr umfassende Vorauszahlungen zu vereinbaren, da dies üblich sei. 23 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 3; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 17. 24 BGH v. 26.3.2003 – XII ZR 167/01, NJW-RR 2003, 873, 874. 25 Palandt/Grüneberg, § 273 BGB Rz. 13; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Zurückbehaltungsklauseln“ Rz. 8. 26 BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 165/91, NJW 1993, 461, 462 = CR 1993, 203. 27 BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 165/91, NJW 1993, 461, 462 = CR 1993, 203. 28 BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, NJW 1989, 3222, 3224 = CR 1990, 189 m. Anm. Bokelmann. 29 Vgl. näher MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 3. ff. 30 OLG Brandenburg v. 7.11.2007 – 7 U 142/06.

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Stögmüller

Einrede des nicht erfüllten Vertrags

Rz. 19 § 320 BGB

2. Softwareerstellung In Bezug auf die – dem Werkvertragsrecht unterfallende31 – Entwicklung und Erstellung von Individualsoftware kann der Unternehmer Abnahme und Zahlung grundsätzlich erst nach Fertigstellung des vertragsgemäßen Werks verlangen, so dass der Besteller im Falle der Mangelhaftigkeit der Software nach § 320 Abs. 1 berechtigt ist, Abnahme und Zahlung zu verweigern, bis die Mängel beseitigt sind.32 Aufgrund des Nacherfüllungsanspruchs nach §§ 634 Nr. 1, 635 steht dem Besteller auch nach Abnahme und Fälligkeit der Vergütung das Leistungsverweigerungsrecht gem. § 320 zu. Hinsichtlich der im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Mängelansprüche wird das Leistungsverweigerungsrecht durch § 641 Abs. 3 spezialgesetzlich geregelt, wonach der Besteller mindestens das Doppelte der Nachbesserungskosten zurückhalten darf, und diese Regelung verdrängt § 320.33

17

3. IT-Projektvertrag und Systemvertrag IT-Projektverträge können neben vorbereitenden Planungsleistungen z.B. die Lieferung von Hardware, die Überlassung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware, Customizing, Implementierungs- und Installationsleistungen bis hin zu Beratung, Schulung und Softwarepflege umfassen.34 Der EVB-IT Systemvertrag betrifft ebenfalls komplexe IT-Projekte, bei denen der Auftraggeber eine Hard- und Softwarelösung aus einer Hand wünscht, die ihrerseits aus verschiedenen Modulen besteht, wie etwa Hardwarelieferung, Standardsoftwareüberlassung, Individualsoftwareerstellung, Konfiguration, Customizing, Beratung, Schulung und Support.35 Grundsätzlich wird man davon ausgehen können, dass alle solchen vom Auftragnehmer zu erbringenden Leistungen Hauptleistungspflichten darstellen, da sie nach dem Willen der Parteien für die Durchführung des Vertrages von wesentlicher Bedeutung sind.36 Dies umfasst auch die Pflicht zur Installation der Software und Inbetriebnahme des IT-Systems, wenn hierdurch erst der Auftraggeber in die Lage versetzt wird, das IT-System für seine betrieblichen Zwecke zu nutzen, und auch hierfür eine Zahlung geschuldet wird.37

18

4. Outsourcing Beim Outsourcing ist der Auftraggeber in aller Regel auf die Leistungen des Outsourcing-Anbieters angewiesen, so dass für ihn ein vertraglicher Ausschluss der Einrede des nicht erfüllten Vertrags erhebliche Bedeutung hat. Umgekehrt möchte der Outsourcing-Anbieter sein Druckmittel zur Zahlung der Vergütung ggü. dem Auftraggeber in Form des Leistungsverweigerungsrechts nicht aufgeben. Aus diesem Grunde werden in Outsourcing-Verträgen häufig Regelungen des Zurückbehaltungsrechts und Leistungsverweigerungsrechts individuell verhandelt und können beispielsweise vorsehen, dass der Outsourcing-Anbieter dieses erst ab einem bestimmten offenen Betrag geltend machen darf oder dass der Auftraggeber die Ausübung durch eine vertraglich näher ausgestaltet Sicherheitsleistung (etwa Hinterlegung auf einem Treuhandkonto) abwenden darf.

31 Vgl. zur Vertragstypologisierung z.B. Marly, Softwarerecht, Rz. 690. 32 MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 13a; a.A. wohl OLG Brandenburg v. 4.6.2008 – 4 U 167/07, CR 2008, 763, 765 = ITRB 2009, 5, wonach für den Fall, dass der Leasingnehmer bei einem durch den Lieferanten zu erstellenden Werk durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt, dass er dieses als vertragsgerecht akzeptiere, davon auszugehen sei, dass der Leasinggeber seine primäre Pflicht zur Überlassung des Leasinggegenstandes erfüllt habe, selbst wenn dieser Mängel aufweisen sollte, und der Leasingnehmer in einem solchen Fall auf die Geltendmachung von Gewährleistungsrechten beschränkt ist und sich nicht auf die Einrede des nicht erfüllten Vertrages gem. § 320 berufen kann. 33 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 11 und Palandt/Sprau, § 641 BGB Rz. 13; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 13. 34 Stögmüller, CR 2015, 424; Redeker/Schmidt, IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 2. 35 Hinweise für die Nutzung der EVB-IT System, abzurufen unter http://www.cio.bund.de/Web/DE/IT-Beschaf fung/EVB-IT-und-BVB/Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_node.html#doc4623280bodyText2, S. 9 f. (zuletzt abgerufen am 1.12.2019). 36 BGH v. 22.7.1998 – VIII ZR 220/97, NJW 1998, 3197, 3199. 37 BGH v. 22.7.1998 – VIII ZR 220/97, NJW 1998, 3197, 3199.

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BGB § 320 Rz. 20 Einrede des nicht erfüllten Vertrags 20

Sofern bei einem Outsourcingvertrag nach Vertragsbeendigung die Datenherausgabe und deren Rückübertragung an den Kunden geschuldet wird, steht diese Pflicht nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis mit der Vergütungspflicht für die Outsourcingtätigkeiten, so dass der Outsourcing-Anbieter ggü. dem Datenherausgabeanspruch wegen ausstehender Vergütung kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 320 geltend machen kann.38 Etwas anderes kann gelten, wenn die Parteien die Datenherausgabe vertraglich in den Rang einer Hauptleistungspflicht erhoben haben.39 5. ASP/SaaS/Cloud Computing

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Bei Application Service Providing (ASP), Software as a Service (SaaS) und Cloud Computing wird Software lediglich zeitweise überlassen und der entsprechende Vertrag unterliegt i.d.R. dem Mietvertragsrecht.40 Der Mieter kann nach § 320 vorgehen, wenn der Vermieter seinen Hauptleistungspflichten aus § 535 Abs. 1 nicht nachkommt, insb., wenn er Mängel nicht beseitigt, wobei das Zurückbehaltungsrecht des Mieters dann denjenigen Teil der Miete betrifft, der nicht schon infolge des § 536 Abs. 1 durch die Minderung herabgesetzt ist, wodurch ein zusätzlicher Druck auf den Vermieter zur Beseitigung der Mängel ausgeübt werden soll.41 Hiernach kann der Kunde ggü. dem ASP- oder Cloud-Anbieter im Falle der Schlechtleistung nicht nur die Vergütung mindern, sondern die Zahlung der Vergütung insgesamt bis zur Wiederherstellung des vertragsgemäßen Gebrauchs nach § 320 verweigern.

22

Allerdings kann sich gem. § 320 Abs. 2 je nach den Umständen des Einzelfalles aus Treu und Glauben etwas anderes ergeben, so dass häufig der Betrag, den der Mieter zurückbehalten darf, auf das Drei- bis Fünffache des Minderungsbetrages oder des jeweils zur Reparatur erforderlichen Betrages beschränkt wird.42 6. Wartungs-, Pflege- und Supportverträge

23

Bei Wartungs-, Pflege- und Supportverträgen stehen die Wartungs- bzw. Pflegeleistungen einerseits und das dafür geschuldete Entgelt andererseits in einem Gegenseitigkeitsverhältnis, so dass grundsätzlich ein Leistungsverweigerungsrecht besteht.43 Entscheidend ist hierbei, welche der Parteien vorleistungspflichtig ist. Meist wird eine Vorauszahlungspflicht des Auftraggebers für eine bestimmte Pflegeperiode vereinbart, so dass der Auftragnehmer seine Pflegeleistung bis zur Zahlung der vereinbarten Vergütung für die laufende Pflegeperiode verweigern darf.44 Ohne eine entsprechende Vereinbarung ist wohl eine Vorleistungspflicht des Auftragnehmers für die jeweilige Pflegeperiode anzunehmen. Im Falle einer dienstvertraglichen Ausgestaltung des Pflegevertrages ergibt sich diese aus § 614, im Falle einer eher werkvertragsorientierten Ausgestaltung aus § 641.45

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Bei einem Sukzessiv- oder Dauerlieferungsvertrag besteht Gegenseitigkeit zwischen den wechselseitigen Leistungspflichten aus den verschiedenen Einzelverträgen und damit ein Leistungsverweigerungsrecht hinsichtlich noch ausstehender Teilleistungen.46 Gleiches gilt hinsichtlich eines Dauerschuldverhältnisses, das inhaltlich einem Dauerlieferungsvertrag entspricht, bei dem der Auftragnehmer ständig leistungsbereit sein muss, um die einzelnen vom Auftraggeber abzurufenden, vergütungspflichtigen Dienstleistungen zu erbringen, ohne dass diese zuvor genau bestimmt sind, wie es z.B. bei einem Mobilfunkvertrag, aber auch bei einem Wartungs-, Pflege- und Supportvertrag der Fall ist.47 Der Auftraggeber kann bei Verzug, Nichterfüllung oder Schlechterfüllung des Auftragnehmers hinsichtlich einzel38 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 283. 39 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 283. 40 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, MMR 2007, 243 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 117 f. 41 MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 8. 42 MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 8. 43 Redeker, CR 1995, 385. 44 Redeker, CR 1995, 385, 386. 45 Vgl. Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 16; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 409. 46 BGH v. 24.10.2006 – X ZR 124/03, NJW-RR 2007, 325, 328. 47 BGH v. 17.2.2011 – III ZR 35/10, MMR 2011, 520, 522 = CR 2011, 300 = ITRB 2011, 150.

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Einrede des nicht erfüllten Vertrags

Rz. 28 § 320 BGB

ner Teilleistungen grundsätzlich die Bezahlung anderer offener Raten für bereits ordnungsgemäß erbrachte Leistungen verweigern, bis der Auftragnehmer die Folgen seiner Vertragsverletzung beseitigt hat. Dasselbe gilt umgekehrt zugunsten des Auftragnehmers, solange der Auftraggeber bereits erbrachte Teillieferungen noch nicht bezahlt hat.48 Dementsprechend stehen auch bei einem Wartungs-, Pflege- und Supportvertrag Leistung und Gegenleistung unterschiedlicher Zeitperioden im Gegenseitigkeitsverhältnis, so dass der Auftragnehmer das Leistungsverweigerungsrecht nach § 320 geltend machen kann, wenn der Auftraggeber die Vergütung für eine frühere Pflegeperiode nicht bezahlt hat, auch wenn hinsichtlich der gegenwärtigen Pflegeperiode eine Zahlung schon erfolgt oder noch nicht fällig ist.49 Für die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts nach § 320 Abs. 1 hinsichtlich noch zu erbringender Leistungen genügt es, dass die fällige Zahlung für zeitlich nicht korrespondierende vorangegangene zeitliche Abschnitte nicht erbracht worden ist.50 Verpflichtet sich ein Softwarelieferant, beim Vertragspartner vorhandene alte Programmversionen durch kostenlose Lieferungen von Updates auf den neuesten Stand zu bringen, die neue Software zu warten (pflegen) und die Mitarbeiter des Vertragspartners auf dieser Software zu schulen, kann er weder für Wartung bzw. Pflege noch für Schulung das vereinbarte Entgelt verlangen, wenn er die neue Software nicht kostenlos liefert, da der Softwarelieferant hinsichtlich des kostenlosen Austauschs der Software vorleistungspflichtig ist.51 Denn wer von einem Softwarelieferanten eine neue Software samt Schulung bestellt, hat die Schulung nur für den Fall bestellt, dass die neue Software geliefert und eingesetzt wird, denn ohne die Software, die Gegenstand der Schulung sein soll, ist die Schulung sinnlos.52

25

V. Rechtsfolgen 1. Leistungsverweigerungsrecht Die Einrede des nicht erfüllten Vertrags berechtigt grundsätzlich zur vollen Verweigerung der Gegenleistung.53 Soweit bspw. eine EDV-Anlage bestehend aus mehreren Geräten sowie Software zu liefern ist und einige geschuldete PCs nicht geliefert worden sind, ist der Käufer berechtigt, den gesamten Kaufpreis bis zur vollständigen Bewirkung der geschuldeten Leistung nach § 320 Abs. 1 Satz 1 zurückzuhalten und müsste für vorab ausgelieferte Geräte nur dann Teilzahlungen leisten, wenn dies zwischen den Parteien vereinbart wäre.54

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2. Teilleistungen (§ 320 Abs. 2) Nach § 266 ist der Schuldner zu Teilleistungen nicht berechtigt. Bietet eine Vertragspartei eine Teilleis- 27 tung an, so kann die andere Partei diese grundsätzlich zurückweisen und hinsichtlich der ihr obliegenden Gegenleistung die Einrede des nicht erfüllten Vertrags nach § 320 Abs. 1 erheben.55 Nimm diese jedoch die Teilleistung an, kann sie nach § 320 Abs. 2 unter dem Gebot von Treu und Glauben nicht die gesamte Gegenleistung, sondern nur einen Teil der Gegenleistung unter Berufung auf § 320 zurückbehalten.56 Bei Dauerschuldverhältnissen im Verbraucherbereich, die eine ähnliche monatliche Vergütungshöhe wie Telekommunikationsleistungen haben, kann die Wertung des § 45k Abs. 2 Satz 1 TKG57 hinsicht-

48 49 50 51 52 53 54 55

MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 4. Redeker, CR 1995, 385, 386. BGH v. 17.2.2011 – III ZR 35/10, MMR 2011, 520, 522 f. = CR 2011, 300 = ITRB 2011, 150. OLG Köln v. 2.12.1994 – 19 U 85/94, CR 1995, 148, 149. OLG Köln v. 2.12.1994 – 19 U 85/94, CR 1995, 148, 150. Jauernig/Stadler, § 320 BGB Rz. 16. BGH v. 9.6.1993 – VIII ZR 205/92, CR 1994, 347. MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 41a; Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 9; zu Teilleistungen und zur Teilbarkeit von IT-Leistungen s. § 266 Rz. 4. 56 MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 41b. 57 Nach § 45k Abs. 2 Satz 1 TKG darf ein Telekommunikationsanbieter erst dann eine Sperre durchführen, d.h. die Erbringung seiner Leistungen ganz oder teilweise verweigern, wenn der Teilnehmer mit Zahlungsverpflich-

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BGB § 320 Rz. 28 Einrede des nicht erfüllten Vertrags lich der Frage, ab wann das Leistungsverweigerungsrecht ausgeübt werden kann, herangezogen werden;58 dies kann etwa bei Cloud Computing-Diensten der Fall sein, die sich an Verbraucher richten und monatlich abgerechnet werden. 3. Schuldnerverzug 29

Das bloße objektive Bestehen des Leistungsverweigerungsrechts hindert den Eintritt des Schuldnerverzug (§ 286); einer Geltendmachung der Einrede bedarf es dazu – anders als im Falle des Zurückbehaltungsrechts nach § 273 – nicht.59

§ 321 Unsicherheitseinrede (1) Wer aus einem gegenseitigen Vertrag vorzuleisten verpflichtet ist, kann die ihm obliegende Leistung verweigern, wenn nach Abschluss des Vertrags erkennbar wird, dass sein Anspruch auf die Gegenleistung durch mangelnde Leistungsfähigkeit des anderen Teils gefährdet wird. Das Leistungsverweigerungsrecht entfällt, wenn die Gegenleistung bewirkt oder Sicherheit für sie geleistet wird. (2) Der Vorleistungspflichtige kann eine angemessene Frist bestimmen, in welcher der andere Teil Zug um Zug gegen die Leistung nach seiner Wahl die Gegenleistung zu bewirken oder Sicherheit zu leisten hat. Nach erfolglosem Ablauf der Frist kann der Vorleistungspflichtige vom Vertrag zurücktreten. § 323 findet entsprechende Anwendung I. II. 1. 2.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorleistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . Gefährdung durch mangelnde Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

1 2 2

. .

9

3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Leistungsverweigerungsrecht . . . . . . . . b) Rücktrittsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 14

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

I. Allgemeines 1

§ 321 betrifft die Fälle, bei denen die Vertragsparteien nicht Zug-um-Zug die Leistungen austauschen, sondern eine Partei vorleistungspflichtig ist. Das mit einer Vorleistungspflicht verbundene Risiko, seine Leistung erbringen und der Gegenleistung „hinterherlaufen“ zu müssen, soll nicht unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben, sondern bei Gefährdung seines Anspruchs auf die Gegenleistung soll dem Vorleistungspflichtigen doch ein Leistungsverweigerungsrecht zustehen und er soll Druck auf den Vorleistungsberechtigten auf eine Zug-um-Zug-Erfüllung ausüben können.1

II. Norminhalt 1. Vorleistungspflicht 2

§ 321 gilt nur für gegenseitige Verträge, bei denen ein Vertragsteil eine Vorleistungspflicht trifft.2 Hierbei ist gleichgültig, ob sich die Vorleistungspflicht aus dem Gesetz oder aus Vertrag ergibt, sofern es sich um eine Pflicht handelt, die gerade im Austausch- oder Gegenseitigkeitsverhältnis steht, wobei al-

58 59 1 2

tungen von mindestens 75 Euro in Verzug ist und die Sperre mindestens zwei Wochen zuvor schriftlich angedroht worden ist. BGH v. 17.2.2011 – III ZR 35/10, MMR 2011, 520, 523 = CR 2011, 300 = ITRB 2011, 150. Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 12; OLG Düsseldorf v. 21.10.1997 – 24 U 223/96, NJW-RR 1998, 587. Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 1. Jauernig/Stadler, § 321 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 3.

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Unsicherheitseinrede

Rz. 7 § 321 BGB

lerdings durch Parteiabrede auch andere als die gesetzlichen Hauptpflichten zu Hauptpflichten erhoben werden können.3 Eine Vorleistungspflicht kann sich aus Gesetz ergeben, wie z.B. nach § 614 für den Dienstverpflichteten 3 und nach § 641 für den Werkunternehmer hinsichtlich der Herstellung des Werkes und der Nacherfüllung bis zur Abnahme.4 Bei Wartungs-, Pflege- und Supportverträgen, aber auch bei der zeitlich befristeten Softwareüberlassung wird häufig vereinbart, dass die Pflegegebühr für die jeweilige Pflegeperiode bzw. die Lizenzgebühr für die jeweilige Lizenzdauer im Vorhinein zu entrichten sind.5 Hier besteht also eine Vorleistungspflicht des Auftraggebers. Allerdings wird bei Dienstverträgen, sobald sie in Vollzug gesetzt sind, § 321 im Falle der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse eines Teils durch das außerordentliche Kündigungsrecht des anderen aus wichtigem Grunde nach § 626 verdrängt.6 Bei IT-Verträgen, die als Dienstverträge eingestuft werden – wie es etwa bei Beratungsverträgen oder Pflegeverträgen der Fall sein kann, wenn eine auf Dauer angelegte Serviceleistung ohne konkrete Erfolgsausrichtung geschuldet ist7 –, steht dem Dienstleister trotz Vorleistungspflicht somit keine Unsicherheitseinrede nach § 321 zu, falls sich die Vermögensverhältnisse des Auftraggebers verschlechtern. Ist allerdings der Auftraggeber vorleistungspflichtig, etwa in Form einer Abschlagszahlung oder Vorauskasse, und sind die Dienstleistungen angesichts persönlicher Umstände des Verpflichteten in dieser konkreten Durchführung bedroht, ist die Unsicherheitseinrede gegeben.8

4

Dies gilt gleichermaßen bei Werkverträgen wie IT-Projektverträgen, die auf eine längerfristige Zusam- 5 menarbeit angelegt sind und somit den Charakter eines Dauerschuldverhältnisses haben, denn ein solcher Werkvertrag kann nach § 314 bzw. § 648a n.F. aus wichtigem Grund gekündigt werden.9 Bei Dauerschuldverhältnissen bestehen generell Vorbehalte zugunsten spezieller Regelungen über außerordentliche Kündigungsrechte eines Vertragsteils.10 Falls sich die Vermögensverhältnisse des Auftraggebers verschlechtern, wird der Auftragnehmer, wenn er vorleistungspflichtig ist, i.d.R. den Vertrag aus wichtigem Grund kündigen, nicht hingegen die Unsicherheitseinrede nach § 321 geltend machen können. Ist hingegen der Auftraggeber zur Vorauszahlung verpflichtet, steht ihm das Leistungsverweigerungsrecht nach § 321 zu, wenn sein Anspruch auf die Leistung des Auftragnehmers wegen deren vertragswidrigen Beschaffenheit von einigem Gewicht gefährdet ist.11 Bei dem Kaufrecht unterfallenden IT-Verträgen wie der dauerhaften Überlassung von Software oder Hardware kann hiernach der Verkäufer die Einrede nach § 321 geltend machen, sofern er vorleistungspflichtig sein sollte und sich die Vermögensverhältnisse des Käufers verschlechtern. Doch auch ein vorleistungspflichtiger Käufer kann nach § 321 vorgehen, wenn eine mangelhafte Leistung droht, d.h. wenn nach den Umständen mit einer vertragswidrigen Beschaffenheit der zu liefernden Software oder Hardware von einigem Gewicht zu rechnen ist.12

6

Bei Sukzessivlieferungsverträgen bezieht sich § 321 allein auf die Gegenleistung für die einzelne gerade geschuldete Rate, so dass der Verkäufer unter den Voraussetzungen des § 321 Abs. 1 nicht zusätzlich Sicherheit auch für die anderen noch ausstehenden Raten verlangen kann, allerdings kann in dem Ausbleiben der Gegenleistung für frühere Raten zugleich eine Gefährdung der Gegenleistung i.S.d. § 321 hinsichtlich der späteren Raten gesehen werden.13 Die kann z.B. bei einem Rahmenvertrag der Fall sein, dessen Schwerpunkt die Entwicklung, Herstellung und Lieferung einer den besonderen Bedürf-

7

3 Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 3; MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 3. 4 Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 16; MünchKomm/Emmerich, § 320 BGB Rz. 18. 5 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. P Rz. 287 f., die die Vorauszahlung des kompletten Jahresbetrages der Wartungspauschale als unwirksam ansehen, nicht hingegen quartalsweise Vorauszahlungen, da diese üblich seien. 6 BGH v. 7.2.2013 – IX ZR 138/11, NJW 2013, 1591, 1592; MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 6. 7 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 123 und 137. 8 Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 7. 9 Vgl. Palandt/Sprau, § 649 BGB Rz. 13 f.; näher hierzu § 323 Rz. 13. 10 Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 3. 11 MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 13. 12 MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 4. 13 MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 4.

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BGB § 321 Rz. 7 Unsicherheitseinrede nissen und Anforderungen des Auftraggebers entsprechenden Hard- und Software darstellt und bei dem die Vertragsleistungen in zeitlich aufeinanderfolgenden Abrufmengen zu erbringen sind.14 Ist unter einem solchen Rahmenvertrag der Auftragnehmer vorleistungspflichtig, steht ihm nach § 321 ein Leistungsverweigerungsrecht für künftige Abrufmengen zu, wenn Zahlungen für bereits erfolgte Abrufe ausstehen und hiernach sein Zahlungsanspruch wegen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Auftraggebers gefährdet ist. 8

Bei Mietverträgen für bewegliche Sachen ist die Miete nach § 579 Abs. 1 Sätze 1 und 2 am Ende der Mietzeit bzw. am Ende des Zeitabschnitts für die Miete zu entrichten, so dass hiernach der Vermieter vorleistungspflichtig ist. Nach Übergabe der Mietsache wird § 321 allerdings durch die mietrechtlichen Sonderregelungen verdrängt, denn der Vermieter soll dem vorleistungsberechtigten Mieter die Sache nicht unter Berufung auf § 321 bei einer Verschlechterung von dessen Vermögensverhältnissen wieder entziehen können, sondern muss ggf. aus wichtigem Grund kündigen.15 Ist dagegen der Mieter aufgrund entsprechender Vereinbarung vorleistungspflichtig, so kann der Vermieter, wenn der Anspruch auf die Miete gefährdet ist, nur nach § 543 Abs. 1 und 2 Nr. 3 vorgehen und den Mietvertrag bei entsprechenden Zahlungsrückständen fristlos aus wichtigem Grund kündigen.16 Für dem Mietrecht unterliegende IT-Verträge17 wie z.B. zeitlich befristete Softwareüberlassung, Hosting oder ASP/ SaaS/Cloud Computing bedeutet dies, dass dem Softwareanbieter bzw. Provider im Falle einer Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Kunden kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 321 zusteht, sondern vielmehr ggf. ein Kündigungsrecht nach den mietrechtlichen Regelungen. Allerdings kann der vorleistungspflichtige Kunde ggü. dem Softwareanbieter bzw. Provider die Einrede nach § 321 geltend machen, wenn eine mangelhafte Leistung droht, d.h. wenn nach den Umständen mit einer vertragswidrigen Beschaffenheit der zu überlassenden Software bzw. der Leistungen des Providers von einigem Gewicht zu rechnen ist.18 2. Gefährdung durch mangelnde Leistungsfähigkeit

9

Es muss der Anspruch des Vorleistungspflichtigen auf die Gegenleistung durch mangelnde Leistungsfähigkeit des anderen Teils gefährdet sein, die entweder nach Abschluss des Vertrages eingetreten ist oder bereits bei Vertragsabschluss vorhanden war, aber dem Vorleistungspflichtigen bei einer gebotenen Überprüfung der Leistungsfähigkeit des Vorleistungsberechtigten nicht erkennbar war.19 Eine Gefährdung muss tatsächlich gegeben sein. Es darf nicht bloß der Anschein bestehen.20

10

Eine Gefährdung des Anspruchs kann zum einen auf der Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des anderen Teils beruhen, wobei eine wirtschaftliche Beurteilung maßgeblich ist.21

11

Unabhängig von den Vermögensverhältnissen kann sich eine Anspruchsgefährdung auch aus sonstigen drohenden Leistungshindernissen ergeben, wie z.B. durch krankheitsbedingte Ausfälle von zur Leistung notwendiger Mitarbeiter oder des Schuldners selbst oder dem Zusammenbruch von Zulieferern.22 Weitere Beispiele sind die Unterlassung der Beschaffung der für die Erbringung der Gegenleistung nötigen Produktionsmittel oder Lizenzen seitens des Vorleistungsberechtigten sowie die Verwendung offenbar ungeeigneter Materialien oder Produktionsmittel.23 Eine Gefährdung des Anspruchs auf die Gegenleistung liegt auch vor bei einer vertragswidrigen Beschaffenheit der Gegenleistung von einigem Gewicht oder dem Vorliegen von erheblichen Mängeln.24

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Bei IT-Verträgen, bei denen der Auftraggeber vorleistungspflichtig ist, steht ihm die Einrede nach § 321 wegen drohender Leistungshindernisse daher z.B. dann zu, wenn der Auftragnehmer geschul14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. OLG Düsseldorf v. 25.7.2014 – I-22 U 192/13, CR 2015, 215, 217. MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 5; Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 3. MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 5. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 137. Vgl. MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 13. MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 9 f.; Jauernig/Stadler, § 321 BGB Rz. 3. Jauernig/Stadler, § 321 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 5. Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 6; Jauernig/Stadler, § 321 BGB Rz. 5. MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 12. MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 13; Jauernig/Stadler, § 321 BGB Rz. 5.

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Verurteilung zur Leistung Zug-um-Zug

Rz. 1 § 322 BGB

dete Lizenzen nicht beschaffen kann, ihm wichtige Zulieferer wegfallen, für das Projekt wesentliche Mitarbeiter ausfallen oder die geschuldete Leistung mit erheblichen Mängeln behaftet ist. 3. Rechtsfolgen a) Leistungsverweigerungsrecht Dem Vorleistungspflichtigen steht nach § 321 ein Leistungsverweigerungsrecht in Form einer Einrede zu, bis die Leistung bewirkt oder Sicherheit für sie geleistet ist.25 Er kann zudem einen schon in Gang gesetzten Leistungsvorgang unterbrechen und bereits auf dem Transport befindliche Ware zurückrufen (Stoppungsrecht bzw. Anhalterecht).26

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b) Rücktrittsrecht Nach § 321 Abs. 2 kann der Vorleistungspflichtige eine angemessene Frist bestimmen, in welcher der andere Teil Zug-um-Zug die Gegenleistung zu bewirken oder Sicherheit zu leisten hat. Nach erfolglosem Fristablauf kann der Vorleistungspflichtige entsprechend § 323 vom Vertrag zurücktreten.27

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III. Abdingbarkeit § 321 ist abdingbar, allerdings sind Einschränkungen durch AGB nach §§ 307 Abs. 2 Nr. 1, 309 Nr. 2 Buchst. a unwirksam.28 Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 321 durch AGB, etwa durch Ausdehnung der Rechte gesetzlich Vorleistungspflichtiger, kann gegen § 307 verstoßen.29

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§ 322 Verurteilung zur Leistung Zug-um-Zug (1) Erhebt aus einem gegenseitigen Vertrag der eine Teil Klage auf die ihm geschuldete Leistung, so hat die Geltendmachung des dem anderen Teil zustehenden Rechts, die Leistung bis zur Bewirkung der Gegenleistung zu verweigern, nur die Wirkung, dass der andere Teil zur Erfüllung Zug um Zug zu verurteilen ist. (2) Hat der klagende Teil vorzuleisten, so kann er, wenn der andere Teil im Verzug der Annahme ist, auf Leistung nach Empfang der Gegenleistung klagen. (3) Auf die Zwangsvollstreckung findet die Vorschrift des § 274 Abs. 2 Anwendung. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einrede des nicht erfüllten Vertrages . . . . . .

2 2

2. Verurteilung Zug-um-Zug . . . . . . . . . . . . 3. Vorleistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwangsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . .

3 4 8

I. Allgemeines § 322 regelt die verfahrens- und vollstreckungsrechtlichen Folgen der Erhebung der Einrede des nicht erfüllten Vertrags nach § 320.1 § 322 erfasst auch die Unsicherheitseinrede des Vorleistungspflichtigen 25 26 27 28

Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 8; MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 18. Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 8; Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 13. Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 9; MünchKomm/Emmerich, § 321 BGB Rz. 22. Palandt/Grüneberg, § 321 BGB Rz. 2; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, „Zurückbehaltungsklauseln“ Rz. 8. 29 Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 14. 1 Palandt/Grüneberg, § 322 BGB Rz. 1; MünchKomm/Emmerich, § 322 BGB Rz. 1.

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1

BGB § 322 Rz. 1 Verurteilung zur Leistung Zug-um-Zug nach § 321, die ebenfalls ein Leistungsverweigerungsrecht gibt und zu einer Zug-um-Zug-Erfüllung führt.2

II. Norminhalt 1. Einrede des nicht erfüllten Vertrages 2

§ 322 Abs. 1 geht davon aus, dass die Einrede des nicht erfüllten Vertrags vom Schuldner, dem die Gegenleistung nicht, nicht vollständig oder mit Mängeln behaftet erbracht worden ist, erhoben worden ist.3 Sie wird im Prozess nicht von Amts wegen berücksichtigt, sondern muss vom Schuldner geltend gemacht werden, wobei es genügt, wenn sich aus der Gesamtheit seines Vorbringens eindeutig ergibt, dass er sein Leistungsverweigerungsrecht geltend machen will.4 Weder ist im Prozess ein formeller Antrag des Beklagten zur Verurteilung Zug-um-Zug erforderlich, noch ein Antrag des Klägers auf Verurteilung Zug-um-Zug.5 2. Verurteilung Zug-um-Zug

3

Die Erhebung der Einrede im Prozess führt stets – auch bei Teilklagen – zur Verurteilung des Schuldners zur Leistung Zug-um-Zug gegen Erhalt der vollen Gegenleistung, auch wenn der Kläger ausdrücklich vorbehaltlose Verurteilung verlangt; das Urteil bleibt somit hinter dem Antrag zurück.6 3. Vorleistungspflicht

4

Sofern eine Vorleistungspflicht7 einer der Parteien besteht, ist zu unterscheiden:

5

– Klagt der Vorleistungsberechtigte, gelten keine Besonderheiten und der Vorleistungspflichtige ist ohne Einschränkung zur Leistung zu verurteilen.8

6

– Klagt der Vorleistungspflichtige, ist dessen Klage ohne Bewirkung der Vorleistung oder deren Angebot – somit ohne dass sich der Vorleistungsberechtigte im Annahmeverzug befindet – mangels Fälligkeit des Anspruchs abzuweisen.9

7

– Klagt der Vorleistungspflichtige und der Vorleistungsberechtigte befindet sich im Annahmeverzug, ist nach § 322 Abs. 2 der Vorleistungspflichtige berechtigt, „auf Leistung nach Empfang der Gegenleistung“ zu klagen.10 Annahmeverzug kann sich auch daraus ergeben, dass der Gläubiger eine ihm obliegende Mitwirkungshandlung nicht vornimmt.11 § 322 Abs. 2 ist z.B. anwendbar, wenn bei einem dem Werkvertragsrecht unterliegenden IT-Projektvertrag der Auftraggeber nach Fertigstellung die vom Auftragnehmer angebotene Mängelbeseitigung ablehnt, so dass er nach § 295 in Annahmeverzug gerät; der Auftragnehmer kann in diesem Fall gem. § 322 Abs. 2 auf Zahlung des Werklohns „nach Empfang der Mängelbeseitigung“ klagen.12 4. Zwangsvollstreckung

8

Wenn der Beklagte in Annahmeverzug ist, kann der Kläger trotz der nur bedingten Verurteilung des Beklagten Zug-um-Zug gem. § 322 Abs. 1 die Zwangsvollstreckung nach § 322 Abs. 3 i.V.m. § 274 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Erman/Westermann, § 321 BGB Rz. 1 und § 322 BGB Rz. 1. Erman/Westermann, § 322 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 322 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 322 BGB Rz. 2; Erman/Westermann, § 322 BGB Rz. 2; MünchKomm/Emmerich, § 322 BGB Rz. 3 f. Jauernig/Stadler, § 322 BGB Rz. 2. Vgl. zur Vorleistungspflicht bei IT-Verträgen § 320 Rz. 11 und § 321 Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 322 BGB Rz. 4. Jauernig/Stadler, § 322 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 322 BGB Rz. 5. Palandt/Grüneberg, § 322 BGB Rz. 5. MünchKomm/Emmerich, § 322 BGB Rz. 13.

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Stögmüller

§ 323 BGB

Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Abs. 2 ohne vorherige Erbringung der von ihm geschuldeten Gegenleistung betreiben.13 Es empfiehlt sich, dass der Kläger den Annahmeverzug des Beklagten durch Feststellungsurteil ausdrücklich feststellen lässt.14 Ein Urteil auf Leistung nach Empfang der Gegenleistung nach § 322 Abs. 2 wird in der Zwangsvollstre- 9 ckung wie ein Zug-um-Zug-Urteil behandelt, denn vollstreckungsrechtlich sehen Urteile auf Erfüllung Zug-um-Zug (§ 322 Abs. 1) und auf Leistung nach Empfang der Gegenleistung (§ 322 Abs. 2) völlig gleich aus.15 Auch hier empfiehlt sich die Feststellung des Annahmeverzugs des Beklagten im Urteil.16

§ 323 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung (1) Erbringt bei einem gegenseitigen Vertrag der Schuldner eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß, so kann der Gläubiger, wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat, vom Vertrag zurücktreten. (2) Die Fristsetzung ist entbehrlich, wenn 1. der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert, 2. der Schuldner die Leistung bis zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer im Vertrag bestimmten Frist nicht bewirkt, obwohl die termin- oder fristgerechte Leistung nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder auf Grund anderer den Vertragsabschluss begleitenden Umstände für den Gläubiger wesentlich ist, oder 3. im Falle einer nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen. (3) Kommt nach der Art der Pflichtverletzung eine Fristsetzung nicht in Betracht, so tritt an deren Stelle eine Abmahnung. (4) Der Gläubiger kann bereits vor dem Eintritt der Fälligkeit der Leistung zurücktreten, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden. (5) Hat der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Hat der Schuldner die Leistung nicht vertragsgemäß bewirkt, so kann der Gläubiger vom Vertrag nicht zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist. (6) Der Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn der Gläubiger für den Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigen würde, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist oder wenn der vom Schuldner nicht zu vertretende Umstand zu einer Zeit eintritt, zu welcher der Gläubiger im Verzug der Annahme ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines und typische Anwendungsfälle bei IT-Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung zwischen Rücktritt und Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1

. .

1 7

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9

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schlechtleistung . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 20

13 14 15 16

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Aufforderung zur Leistung . . . . Angemessene Fristsetzung . . . . Entbehrlichkeit der Fristsetzung . Fehlschlagen der Leistung oder Nacherfüllung . . . . . . . . . . . Rücktrittserklärung . . . . . . . . Mitwirkungshandlungen . . . . . Behinderungsanzeige . . . . . . . Einzelne IT-Vertragsarten . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 26 33

. . . . .

49 52 55 60 62

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MünchKomm/Emmerich, § 322 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 274 BGB Rz. 4; MünchKomm/Krüger, § 274 BGB Rz. 10. MünchKomm/Emmerich, § 322 BGB Rz. 20. MünchKomm/Emmerich, § 322 BGB Rz. 19 f.

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BGB § 323 Rz. 1 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung a) Kauf von Hardware . . . . . . . . . . . b) Überlassung von Standardsoftware . . c) Softwareerstellung . . . . . . . . . . . . d) IT-Projektverträge und Systemverträge e) Dienstverträge/Beratungsverträge . . . f) Outsourcing . . . . . . . . . . . . . . . . g) ASP/SaaS/Cloud Computing . . . . . . h) Supportverträge . . . . . . . . . . . . . i) Service Level Agreements . . . . . . . . 11. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rücktritt bei Teilleistung (§ 323 Abs. 5 Satz 1) . . . . . . . . . . . . 1. Teilleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsatz: Teilrücktritt . . . . . . . . . . . 3. Ausnahme: Gesamtrücktritt bei Interessewegfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Indizien für einen Interessewegfall . . . . . a) Preisgestaltung . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

62 63 65 70 72 73 74 75 76 77

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78 83 85

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86 91 91

b) c) d) e) f)

Erhebliche Preiserhöhung . . . . . . . . . Unzumutbare Lieferzeiten . . . . . . . . . Erheblicher Aufwand . . . . . . . . . . . . Nichterreichung des Vertragszwecks . . . Unmöglichkeit der Beauftragung Dritter

IV. Ausschluss des Rücktrittsrechts . . . 1. Unerhebliche Pflichtverletzung (§ 323 Abs. 5 Satz 2) . . . . . . . . . . 2. Überwiegende Verantwortlichkeit des Gläubigers (§ 323 Abs. 6, 1. Alt.) . . . 3. Vertragsuntreue des Gläubigers . . . 4. Annahmeverzug des Gläubigers (§ 323 Abs. 6, 2. Alt.) . . . . . . . . .

. . . . .

92 93 94 96 97

. . . . .

98

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98

. . . . . 110 . . . . . 115 . . . . . 116

V. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Parteivereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Literatur: Hoeren, Die Reform des Bauvertragsrechts und das IT-Vertragsrecht, CR 2017, 281; Kapellmann, Die erforderliche Mitwirkung nach § 642 BGB, § 6 VI VOB/B – Vertragspflichten und keine Obliegenheiten, NZBau 2011, 193; Koch, Gesamtrücktritt bei Mangel eines Leistungsteils, ITRB 2004, 157; Mann, Vertragsgestaltung beim IT-Outsourcing – Besonderheiten und Fallstricke, MMR 2012, 499; Peters, Die Kündigung des Werkvertrags aus wichtigem Grund, NZBau 2014, 681; Redeker, Rücktritt vom gescheiterten Softwareprojekt, ITRB 2016, 212; Riehm, Kaufpreisforderung nach Rücktritt, JuS 2016, 839, 840; Schneider, Zwischenbilanz zum Lebensraum der werkvertraglichen „Abnahme“ in IT-Projekten, CR 2016, 634; Schuster, Rechtsnatur der Service Level bei IT-Verträgen, CR 2009, 205, 209; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Schuster, Mitwirkungspflichten bei IT-Verträgen, CR 2016, 627; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil I: vorvertragliche Beratungspflichten, CR 2015, 209; Söbbing, Die rechtliche Betrachtung von IT-Projekten, Rechtliche Fragestellungen in den unterschiedlichen Phasen eines IT-Projekts, MMR 2010, 222; Stögmüller, Teilbarkeit, Teilerfüllung und Teilrücktritt bei IT-Projekten, CR 2015, 424.

I. Allgemeines 1. Allgemeines und typische Anwendungsfälle bei IT-Verträgen 1

§ 323 ist die zentrale Vorschrift für die sog. Vertragsliquidierung beim gegenseitigen Vertrag und die Grundnorm des Rücktrittsrechts des Gläubigers wegen Nicht- oder Schlechtleistung nach §§ 323– 326.1 Die Regelung trägt der synallagmatischen Verknüpfung der durch die Pflichtverletzung gestörten Leistungspflicht mit der Gegenleistungspflicht des Gläubigers Rechnung und räumt dem Gläubiger das Recht ein, durch Rücktritt die Beendigung des Leistungsaustausches herbeizuführen und die seinerseits schon erbrachte Leistung nach § 346 Abs. 1 zurückzuverlangen.2 Die grundlegenden Störungsfälle, die nach § 323 zum Rücktritt berechtigen, sind einerseits die vollständige Vorenthaltung der geschuldeten Leistung („erbringt der Schuldner die fällige Leistung nicht“), andererseits die nicht vertragsgemäße Leistung („oder nicht vertragsgemäß“), wobei unter der „nicht vertragsgemäßen“ Leistung eine erbrachte Leistung gemeint ist, die in qualitativer Hinsicht nicht dem vertraglich Geschuldeten entspricht, also eine mit einem Sachmangel oder Rechtsmangel behaftete Leistung.3 Dementsprechend verweisen im Kaufrecht § 437 Nr. 2 und im Werkvertragsrecht § 634 Nr. 3 auf § 323. Neben dem Rücktritt ist Anspruch auf Schadensersatz (§§ 280, 281) möglich (§ 325).4

1 2 3 4

MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 5. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 1. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 3. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 3.

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Stögmüller

Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 9 § 323 BGB

Der Gläubiger ist auch dann zum Rücktritt berechtigt, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht 2 zu vertreten hat.5 Anders als unter § 326 a.F. ist Voraussetzung für den Rücktritt nur der erfolglose Ablauf einer dem Schuldner gesetzten angemessenen Frist – sofern diese nach Abs. 2 nicht ohnehin entbehrlich ist –, nicht jedoch eine Ablehnungsandrohung.6 Der Rücktritt ist als Gestaltungsrecht konzipiert und führt dazu, dass der auf Leistungsaustausch gerichtete Vertrag ex nunc in ein Rückgewährschuldverhältnis umgewandelt wird, auf das §§ 346 ff. Anwendung finden.7 Bei IT-Verträgen begegnet man der Ausübung des Rücktrittsrechts häufig unter den drei folgenden Fallkonstellationen:

3

(1) Die Leistungen des Auftragnehmers sind mangelhaft und der Auftraggeber übt sein Rücktrittsrecht nach § 437 Nr. 2 oder § 634 Nr. 3 i.V.m. § 323 aus; bei diesen Fallgestaltungen besteht häufig Streit darüber, ob die Leistungen tatsächlich mangelhaft sind.

4

(2) Der Auftragnehmer ist in Verzug und der Auftraggeber erklärt nach Ablauf der von ihm gesetzten Nachfrist den Rücktritt; bei dieser Fallgestaltung ist häufig streitig, ob die Leistung des Auftragnehmers fällig ist oder ob die Parteien nicht vielmehr – ausdrücklich oder konkludent – den Leistungstermin verschoben haben. Hier wird zudem häufig von Seiten des Auftragnehmers eingewendet, der Auftraggeber habe seine Mitwirkungspflichten nicht erfüllt und sei daher dafür verantwortlich, dass der Auftragnehmer seine Leistung nicht fristgerecht erbracht hat, mit der Folge des Ausschlusses des Rücktritts nach Abs. 6.

5

(3) Der Auftraggeber kommt seiner Zahlungsverpflichtung trotz Nachfristsetzung nicht nach und der Auftragnehmer erklärt den Rücktritt. Meist wird der Auftragnehmer in solchen Fällen seine Leistung nach § 273 oder § 320 zurückbehalten bzw. verweigern oder den Auftraggeber auf Zahlung in Anspruch nehmen, jedoch kann – etwa im Falle eines IT-Projektvertrages, bei dem sich im Rahmen der Vertragsdurchführung herausstellt, dass die Parteien unterschiedliche Auffassungen über den Leistungsumfang haben – das Rücktrittsrecht für den Auftragnehmer die Möglichkeit eröffnen, sich bei Nichtzahlung des Auftraggebers von seinen Leistungspflichten zu befreien, sofern der Rücktritt nicht nach Abs. 6 ausgeschlossen ist.

6

2. Anwendbarkeit § 323 gilt grundsätzlich für alle gegenseitigen Verträge wie Kauf, Miete, Dienst- und Werkverträge.8 Nicht erforderlich ist, dass die verletzte Pflicht im Synallagma steht.9 Für die Anwendbarkeit des § 323 spielt es keine Rolle, ob es sich bei der nicht- oder schlechterfüllten Pflicht um eine Haupt- oder Nebenpflicht handelt.10 So können z.B. die Nichtabnahme einer verkauften Sache durch den Käufer, das Versäumen einer geschuldeten Montage oder fehlende Mitwirkungshandlungen des Gläubigers zum Rücktritt berechtigen.11

7

Bei Kauf- und Werkverträgen ist § 323 bis zum Gefahrübergang auch anzuwenden, wenn der Käufer oder Besteller Mängelansprüche geltend macht, nach Gefahrübergang über die Verweisungen in §§ 437 Nr. 2, 440 bzw. §§ 634 Nr. 3, 636.12

8

3. Abgrenzung zwischen Rücktritt und Kündigung Bei vollzogenen Dauerschuldverhältnissen tritt an die Stelle des Rücktrittsrechts das Kündigungsrecht 9 aus wichtigem Grund, weil hier die in die Zukunft wirkende (ex nunc) Kündigung anstelle des rückwir-

5 6 7 8 9 10 11 12

Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 1; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 68. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 3; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 8. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 10; a.A. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 13. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 15. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 5. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 3.

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BGB § 323 Rz. 9 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung kenden (ex tunc) Rücktritts tritt.13 Solche Dauerschuldverhältnisse sind z.B. Pflegeverträge, ASP/ SaaS/Cloud Computing, Hosting- und ggf. Rechenzentrumsverträge oder die dem Mietvertragsrecht unterliegende zeitlich befristete Softwareüberlassung.14 Auch bei schwerwiegenden Vertragsverstößen eines Softwarelizenz- und -pflegevertrages durch den Lizenznehmer wie im Falle einer unberechtigten Nutzung der Software wird eine außerordentliche Kündigung gem. § 314 bejaht.15 Für die Zeit vor Vollzug eines Dauerschuldverhältnisses – z.B. wurde die einem Mietvertrag unterliegende Software noch nicht überlassen – findet § 323 Anwendung.16 10

Fraglich ist die Abgrenzung zwischen Rücktrittsrecht und Kündigungsrecht bei Werkverträgen bis zur Abnahme im Falle der Nichtleistung nach Fristsetzung. Diese Fallgestaltung tritt insb. bei dem Werkvertragsrecht unterliegenden IT-Projektverträgen auf, oder wenn eine – dem Werkvertragsrecht unterfallende17 – Entwicklung und Erstellung von Individualsoftware18 oder die Erstellung und Betreuung einer Website geschuldet wird,19 und die geschuldete Leistung, wie „Go Live“ des IT-Projekts oder Erstellung der Software bzw. Website, nicht fristgerecht erbracht wird. Hier kann ein Rücktritt nach § 323 Abs. 1 mit der Folge eines Rückgewährschuldverhältnisses gem. § 346, eine Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 oder § 648a n.F. oder eine freie Kündigung nach § 648 n.F. (§ 649 a.F.) durch den Auftraggeber denkbar sein.

11

Ein Recht zur außerordentlichen Kündigung kann jedem der beiden Vertragspartner unter dem Gesichtspunkt des § 314 bei Berücksichtigung des Langzeitcharakters des IT-Projektvertrages bzw. des Softwareerstellungsvertrages zustehen.20 Ein den Auftraggeber zur außerordentlichen Kündigung berechtigender wichtiger Grund kann bspw. vorliegen, wenn von vorneherein feststeht, dass der Auftragnehmer eine Frist oder einen Termin aus allein von ihm zu vertretenden Gründen nicht einhalten wird und dem Auftraggeber die Fortsetzung des Vertrages unzumutbar ist.21 Andererseits ist ein Werkvertrag kein Dauerschuldverhältnis i.S.v. § 314.22 Ob ein Werkvertrag nach § 314 aus wichtigem Grund gekündigt werden kann, wird man wohl davon abhängig machen müssen, ob er auf eine längerfristige Zusammenarbeit angelegt ist und den Charakter eines Dauerschuldverhältnisses hat.23 Dies ist z.B. bei einem Internet-System-Vertrag über die Erstellung, die Nutzungsüberlassung, das Hosting und die Betreuung einer Internetpräsenz über eine Laufzeit von 48 Monaten der Fall.24

12

Bei einem IT-Projektvertrag, der z.B. die Lieferung von Hardware, die Überlassung von Standardsoftware, die Erstellung von kundenspezifischer Individualsoftware sowie Implementierungs- und Installationsleistungen umfasst, allerdings mit Abnahme und „Go Live“ erfüllt und somit beendet ist, wird man den Charakter eines Dauerschuldverhältnisses und somit eine Kündigung nach § 314 wohl eher ablehnen müssen, so dass eine Beendigung und Rückabwicklung über § 323 zu erfolgen hat. Für eine Kündigung aus wichtigem Grund eines IT-Projektvertrages nach § 314 kann sprechen, dass der Auftraggeber keine Rückabwicklung des Vertrages wünscht, etwa weil er bereits erbrachte Teilleistungen nutzen will, ihm aber ein weiteres Festhalten am Vertrag nicht zugemutet werden kann.25 Allerdings bietet auch diesbezüglich § 323 Abs. 5 Satz 1 eine Regelung im Rahmen des Rücktrittsrechts, wonach im Falle einer bewirkten Teilleistung der Auftraggeber vom ganzen Vertrag nur zurücktreten kann, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. 13 Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 4; OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, 425; Schuster, CR 2011, 215, 219. 14 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 108 ff.; Schuster, CR 2011, 215, 219. 15 LG Köln v. 14.9.2011 – 28 O 482/05, CR 2012, 77 = ITRB 2012, 57. 16 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 35; Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 4. 17 Vgl. zur Vertragstypologisierung z.B. Marly, Softwarerecht, Rz. 690; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/ von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 72 ff. 18 Vgl. Schneider, CR 2016, 634, 639. 19 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, MMR 2010, 398, 399 = CR 2010, 327 m. Anm. Hilber/Rabus – Internet-System-Vertrag. 20 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 589. 21 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Witzel, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 18 Rz. 343. 22 Peters, NZBau 2014, 681, 682. 23 Vgl. Palandt/Sprau, § 649 BGB Rz. 13 f. 24 BGH v. 8.1.2015 – VII ZR 6/14, MMR 2015, 235 = CR 2015, 187 = ITRB 2015, 83. 25 BeckOK BGB/Voit, § 649 Rz. 21.

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Stögmüller

Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 15 § 323 BGB

Durch das am 1.1.2018 in Kraft getretene „Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts, zur Änderung 13 der kaufrechtlichen Mängelhaftung, zur Stärkung des zivilprozessualen Rechtsschutzes und zum maschinellen Siegel im Grundbuch- und Schiffsregisterverfahren“ vom 28.4.2017 ist im Werkvertragsrecht die bisherige Kündigungsmöglichkeit nach § 649 um die Möglichkeit der Kündigung aus wichtigem Grund nach § 648a n.F. erweitert worden, so dass beide Kündigungsmöglichkeiten nebeneinander bestehen. Hiernach können beide Vertragsparteien den Vertrag aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Nach § 648a Abs. 2 n.F. ist eine Teilkündigung möglich; sie muss sich auf einen abgrenzbaren Teil des geschuldeten Werks beziehen. Damit soll die bisher auf Richterrecht basierende außerordentliche Kündigungsmöglichkeit anerkannt werden und zu mehr Rechtssicherheit für die Praxis führen.26 In der Gesetzesbegründung27 hierzu wird ausgeführt, dass von der Rspr. für den – im Gegensatz zum einfachen Werkvertrag – i.d.R. auf eine längere Erfüllungszeit angelegten Bauvertrag vielfach bisher schon ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund anerkannt und dabei § 314 als Vorbild herangezogen wird. Dies werde damit begründet, dass der Bauvertrag auf eine längere vertrauensvolle Zusammenarbeit der Vertragsparteien ausgelegt und angewiesen ist, weshalb unter bestimmten Umständen eine Fortsetzung des Vertrages nicht mehr zumutbar sein kann. Aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage könne aber auch bei anderen Werkverträgen als Bauverträgen ein Bedürfnis für ein Recht zur außerordentlichen Kündigung bestehen. Dies dürfte insb. dann der Fall sein, wenn der Werkvertrag auf eine längerfristige Zusammenarbeit angelegt ist. Als Beispiele hierfür werden in der Gesetzesbegründung explizit Verträge über Planung und Einrichtung größerer EDV-Anlagen oder die Erstellung eines Computerprogramms nach den besonderen Anforderungen des Bestellers aufgeführt. Zwar wurde in § 648a n.F. von einer Beschränkung des Kündigungsrechts auf Werkverträge, die auf eine längere Dauer der Zusammenarbeit angelegt sind, abgesehen, um die Begründetheit der Kündigung nicht von einem weiteren unbestimmten Rechtsbegriff abhängig zur machen, es wird jedoch in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass bei „kleineren“, schneller abzuwickelnden Werkverträgen häufig die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Vertrages bis zur Fertigstellung des Werks nicht gegeben sein wird und diese schon deshalb nicht in den Anwendungsbereich des Kündigungsrechts aus wichtigem Grund fallen.28 Hiernach wird seit 1.1.2018 nahezu jeder Softwareerstellungsvertrag und IT-Projektvertrag als Langzeitvertrag angesehen, der einem Dauerschuldverhältnis nahekommt und nach § 648a n.F. aus wichtigem Grund gekündigt werden kann.29 Haben die Parteien in einem Vertragsverhältnis mehrere Leistungsbereiche vereinbart, wie z.B. Migration mit anschließendem Rechenzentrums-Betrieb, ist der Rücktritt vom Vertrag so lange möglich, bis der Vertrag in den Leistungsteil übergegangen ist, der einem Dauerschuldverhältnis nahekommt.30 Sofern bei einem Softwareprojektvertrag die Software noch nicht abgenommen bzw. als Erfüllung angenommen wurde, kommt ein Rücktritt nach § 323 Abs. 1 in Betracht, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer eine angemessene Frist zur Fertigstellung seiner Leistung gesetzt hat und diese Frist erfolglos verstrichen ist.31

14

Scheitert ein IT-Projekt, so sind die Erklärungen der Parteien auslegbar. So kann eine Kündigung als 15 Rücktritt und vice versa ein Rücktritt als Kündigung aufzufassen sein. Deutet der Auftraggeber an, die bislang erbrachten Leistungen als vertragsgemäß anerkennen zu wollen, spricht das für eine beabsichtigte Kündigungserklärung, sei es als außerordentliche Kündigung nach § 314 oder als freie Kündigung nach § 649.32 Gibt der Auftraggeber bei seiner als „Kündigung“ überschriebenen Erklärung hingegen zum Ausdruck, dass die vom Werkunternehmer bis zum Zeitpunkt dieser Erklärung erbrachten Leistungen ohne Wert sind, mithin eine Werklohnvergütung hierfür den Werkunternehmer nicht zusteht, ist die in Rede stehende „Kündigung“ als Rücktrittserklärung umzudeuten.33 Zwar steht, so das OLG Düsseldorf, dem Auftraggeber nach der Regelung des § 649 ein jederzeitiges Kündigungsrecht zu, ebenso kann auch im Werkvertragsrecht der Auftraggeber aus wichtigem Grunde eine sofortige Kündigung 26 27 28 29 30 31 32 33

Hoeren, CR 2017, 281, 282. BT-Drucks. 18/8486 v. 18.5.2016, 49. BT-Drucks. 18/8486 v. 18.5.2016, 49 ff. Hoeren, CR 2017, 281, 282. Schuster, CR 2011, 215, 219. Redeker, ITRB 2016, 212. OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, 425 f. OLG Düsseldorf v. 14.4.2015 – 21 U 181/14.

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BGB § 323 Rz. 15 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung aussprechen, doch die ordentliche Kündigung nach § 649 Satz 1 wie auch die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grunde sind für den Auftraggeber im Verhältnis zu der Rücktrittserklärung insoweit nachteilig, als für die bis zur Kündigungserklärung erbrachten Leistungen nach beiden Rechtsinstituten der Auftraggeber die vereinbarte Vergütung verlangen kann, im Falle der Kündigung nach § 649 Satz 1 sogar noch für die nicht erbrachten Leistungen, insoweit jedoch nach Abzug der ersparten Aufwendungen bzw. dessen, was der Auftraggeber durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erworben oder böswillig zu erwerben unterlassen hat, wohingegen die Rechtsfolge des Rücktritts die Umwandlung des Vertragsverhältnisses in ein Rückgewährschuldverhältnis ist, in dem die gem. § 346 Abs. 1 jeweils empfangenen Leistungen zurückzugewähren sind.34 16

Daher werden im Werkvertragsrecht in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich der Rücktritt nach § 323 Abs. 1, die Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 oder § 648a n.F. und eine freie Kündigung nach § 649 (§ 648 n.F.) nebeneinander anwendbar sein und die Erklärung des Auftraggebers ist danach auszulegen, ob er die bislang erbrachten Leistungen als vertragsgemäß anerkennt – dann Kündigung – oder ob sie für ihn ohne Wert sind – dann Rücktritt.

II. Norminhalt 1. Nichtleistung 17

Die Nichtleistung ist das Ausbleiben der Leistung bei Fälligkeit, ohne Rücksicht darauf, ob die Leistung noch nachholbar ist, und auch unabhängig davon, ob der Schuldner die Nichtleistung zu vertreten hat.35

18

Der Anspruch muss vollwirksam und fällig sein, d.h. ihm darf keine dauernde oder aufschiebende Einrede entgegenstehen.36 Um die Einrede des nichterfüllten Vertrags (§ 320) auszuschließen, muss der Gläubiger selbst i.S.v. §§ 294 ff. leistungsbereit und -fähig sein und seine Leistung in einer den Annahmeverzug begründenden Weise anbieten.37 Die bloße Bereitschaft zur Erbringung der Leistung reicht nicht.38

19

Die Fälligkeit richtet sich nach § 271 (näher hierzu § 271 Rz. 2). Sofern vertraglich nicht ausdrücklich geregelt, ist durch Auslegung zu ermitteln bzw. aus den Umständen zu entnehmen, welche Termine für den Schuldner verbindlich sind und die Fälligkeit begründen.39 Bei IT-Projektverträgen und Softwareerstellungsverträgen, in denen die Fälligkeit zwischen den Parteien etwa in Form von Fertigstellungsterminen nicht vertraglich vereinbart wurde, hat der Auftragnehmer nach Vertragsschluss mit der Herstellung alsbald zu beginnen und sie in angemessener Zeit zügig zu Ende zu führen. Dabei ist die für die Herstellung notwendige Zeit in Rechnung zu stellen. Mit Ablauf der angemessenen Fertigstellungsfrist tritt Fälligkeit ein.40 Praktisch ist es in solchen Fällen sinnvoll, dass der Auftraggeber zunächst einen Fertigstellungstermin setzt, mit dem der Auftragnehmer sein Einverständnis erklärt, oder dieser seinerseits einen Termin nennt, zu dem dann die von ihm geschuldete Leistung fällig wird.41 Wenn der Auftraggeber seiner Mitwirkungspflicht nicht rechtzeitig nachgekommen ist oder Änderungs- und Ergänzungswünsche durchgeführt werden, entfallen hingegen selbst fest vereinbarte Termine und es gelten dann angemessene Fristen.42

34 OLG Düsseldorf v. 14.4.2015 – 21 U 181/14; zur Rückzahlung der Vergütung nach vorzeitiger Beendigung eines Internet-System-Vertrages durch freie Kündigung nach § 649 Satz 1 vgl. BGH v. 8.1.2015 – VII ZR 6/14, MMR 2015, 235 = CR 2015, 187 = ITRB 2015, 83. 35 Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 6. 36 Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 11. 37 Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 7; BGH v. 29.11.1995 – VIII ZR 32/95, NJW 1996, 923, 924. 38 Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 15. 39 Vgl. Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 98; Jauernig/Stadler, § 271 BGB Rz. 16. 40 BGH v. 8.3.2001 – VII ZR 470/99, NJW-RR 2001, 806. 41 Redeker, ITRB 2016, 212, 213. 42 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 243.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 22 § 323 BGB

2. Schlechtleistung Die „nicht vertragsgemäße“ Leistung bzw. Schlechtleistung meint eine erbrachte Leistung, die in qualitativer Hinsicht nicht dem vertraglich Geschuldeten entspricht, also eine mit einem Sachmangel oder Rechtsmangel behaftete Leistung.43

20

Auch die Nichtleistung oder Schlechtleistung einer Nebenpflicht kann zum Rücktritt nach § 323 berechtigen, wenn die Pflicht, die als leistungsbezogene Nebenpflicht ausgestaltet ist, im Einzelfall im Vertrag in den Rang eines wesentlichen Teils der Gesamtregelung erhoben ist.44 Bei IT-Verträgen lässt sich eine vorvertragliche Beratungspflicht als Nebenpflicht nach § 241 Abs. 2 bejahen, wenn zwischen den Parteien ein Wissensgefälle besteht, dieses für die wissende Partei erkennbar und für die nichtwissende Partei entscheidungserheblich ist, die nichtwissende Partei schutzwürdig ist und im Rahmen einer Abwägung der Risikoverteilung die Informationsweitergabe zumutbar ist.45 So darf im Rahmen eines Softwareerstellungsvertrages der Werkunternehmer vom Besteller stammende Entwurf und Planung nicht unbesehen ausführen, sondern ist vielmehr gehalten, sie mit dem von ihm nach dem Gegenstand des Vertrages erwarteten Fachwissen zu überprüfen und den Besteller ggf. auf mögliche Bedenken hinzuweisen; versäumt er diese Pflicht, ist er dafür verantwortlich, wenn der Software die Eignung für die individuellen Bedürfnisse des Bestellers fehlt.46 Bei einem Vertrag auf Umstellung einer stark überalterten Software auf eine moderne IT-Lösung im laufenden Geschäftsbetrieb besteht auf Seiten des Auftraggebers ein hohes Informations- und Beratungserfordernis; hier ist es Sache des Auftragnehmers, den – zumeist weniger fachkundigen – Kunden auf die sich bei Nutzung erworbener Software für den Betrieb des Auftraggebers ergebenden Konsequenzen und damit die konkrete Tauglichkeit des Produkts hinzuweisen und sich hierzu entweder selbst ein Bild über die zu bewältigenden innerbetrieblichen Aufgaben zu machen oder den Auftraggeber auf die Notwendigkeit anderweitiger Beratung hinzuweisen.47 Da der Schuldner, der eine Pflicht aus § 241 Abs. 2 verletzt, i.d.R. auch „nicht vertragsgemäß“ leistet, kann der Gläubiger ungeachtet § 324 nach § 323 vom Vertrag zurücktreten.48

21

3. Aufforderung zur Leistung Mit der Fristsetzung muss eine bestimmte und eindeutige Aufforderung zur Leistung enthalten 22 sein, die zwar nicht auf den möglichen Rücktritt hinweisen muss und auch nicht mehr mit einer Ablehnungsandrohung zu ergänzen ist, jedoch mehr sein muss, als ein höfliches Drängen auf Vertragserfüllung.49 Dem Schuldner muss deutlich werden, dass der erfolglose Ablauf einer zeitlich genau bestimmten Frist für ihn ernste Folgen haben kann, ohne dass diese Konsequenzen wie etwa eine Rücktrittsabsicht ausdrücklich erklärt werden müssen.50 Angesichts der für das weitere Schicksal des Vertrags sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen muss der Gläubiger ggü. dem Schuldner unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass jener mit der Aufforderung eine letzte Gelegenheit zur Erbringung der vertraglichen Leistung erhält.51 Die Nacherfüllung stellt den primären Anspruch dar und ist zugleich der den weiteren Rechten des Käufers vorgeschaltete Rechtsbehelf, womit der grundsätzliche Anspruch des Verkäufers auf eine „zweite Andienung“ korrespondiert.52 Sofern der Auftraggeber lediglich telefonische Anfragen wegen Schwierigkeiten im Umgang mit der Software an die Service-Abteilung des Auftragnehmers stellt und lediglich Hilfe bei Problemlösungen anfragt, stellt dies keine Fristsetzung i.S.d. § 323 Abs. 1 dar, denn es fehlt das erforderliche zeitliche Element des für den anderen Teil erkennbaren Willens, dass Konsequenzen im Hinblick auf die weitere Vertragsdurchführung im Raume stehen.53 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 3. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 15; Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 5. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 211 ff. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 292. OLG Schleswig v. 3.6.2016 – 17 U 49/15, CR 2017, 83, 85. Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 1 und 13; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 62. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 13. OLG Köln v. 1.9.2003 – 19 U 80/03, NJOZ 2004, 556, 558. OLG Köln v. 1.9.2003 – 19 U 80/03, NJOZ 2004, 556, 558. OLG Köln v. 1.9.2003 – 19 U 80/03, NJOZ 2004, 556, 558.

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BGB § 323 Rz. 23 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 23

Die Unzulänglichkeit der Leistung muss so beschrieben werden, dass sie individualisiert werden kann, allerdings ist es nicht erforderlich, die Ursachen für die Unzulänglichkeit zu benennen oder gar die zur Nacherfüllung notwendigen Maßnahmen anzugeben.54 Bei einem Werkvertrag etwa kann sich der Besteller, solange er das Werk wegen seiner Mängel noch nicht abgenommen hat, darauf beschränken, Erfüllung durch Lieferung eines mangelfreien Werks zu verlangen, ohne dass er zusätzlich die Beseitigung der im Einzelnen bezeichneten Mängel verlangen muss.55

24

Maßgeblich ist, dass der Schuldner durch die Leistungsaufforderung mit Fristsetzung noch einmal in nachhaltiger Form zur ordnungsgemäßen Erfüllung des Vertrags angehalten wird. Eine Leistungsaufforderung kann diesen Zweck nicht erfüllen und geht ins Leere, wenn der Auftragnehmer die Leistung nach seiner Auffassung vollständig erbracht hat und durch die erhobene Rüge nicht erkennen kann, warum der Auftraggeber sie nicht als vertragsgemäß akzeptiert. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Leistungsaufforderung mit Fristsetzung schon dann unwirksam ist, wenn der Auftraggeber die Defizite der Leistung nicht im Einzelnen aufführt, denn das überspannt die Anforderung an die Leistungsaufforderung, denn dazu ist der Auftraggeber häufig mangels eigener Sachkunde nicht in der Lage. Es reicht vielmehr, wenn er in diesem Fall die fehlende Funktionalität beanstandet, etwa im Wege einer Aufforderung, eine Basisversion einer Software im vereinbarten Umfang fertig zu stellen, ohne dass der Auftraggeber gehalten ist, die etwa vorhandenen Mängel der Software aufzuführen, oder eine Aufforderung, die nach dem Vertrag durch eine Software zu bewirkende Funktion herbeizuführen.56

25

Allerdings mag es Fälle geben, in denen unter Berücksichtigung der besonderen Vertragsverhältnisse und der Probleme bei der Durchführung des Vertrags noch eine weitere Spezifizierung des Erfüllungsverlangens gefordert werden kann.57 Dies kann z.B. der Fall sein, wenn der Auftraggeber den Auftragnehmer aufgefordert hat, alle Schwierigkeiten hinsichtlich einer unzureichenden CAD-Integration innerhalb gesetzter Frist zu beheben, allerdings ggü. dem Auftragnehmer nicht erkennbar gemacht hat, dass er auch weitere Mängel der Software außerhalb der Schwierigkeiten bei der CAD-Integration rügt; hinsichtlich solcher weiterer Mängel kann der Auftraggeber dann im Falle einer fehlenden Nachbesserung nicht vom Vertrag zurücktreten.58 In einem solchen Fall ist daher eine Spezifizierung der unzureichenden Funktionalität in der Leistungsaufforderung erforderlich, um einen Rückgewähranspruch nach Rücktritt auslösen zu können. 4. Angemessene Fristsetzung

26

Der Gläubiger muss ggü. dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt haben. Die Fristsetzung muss besondere Rechtsfolgen weder androhen noch auch nur bezwecken.59 Insb. bedarf es keiner Ablehnungsandrohung.

27

Die Fristsetzung muss nach Fälligkeit und noch vor Undurchsetzbarkeit des Anspruchs erfolgen, so dass sie z.B. nicht mehr nach einer eigenen Mangelbeseitigung durch den Käufer möglich ist.60 Eine Fristsetzung vor Fälligkeit ist unwirksam; das gilt auch dann, wenn bereits vor Fälligkeit ernsthafte Zweifel an der Leistungsfähigkeit oder der Leistungswilligkeit des Schuldners bestehen.61

28

Die Frist zur Leistung oder Nacherfüllung nach § 323 Abs. 1 muss angemessen sein. Die Angemessenheit der Frist bestimmt sich nach den objektiven Umständen des Einzelfalls und wird im Streitfall durch das Gericht nach objektiven Maßstäben bestimmt.62 Die Frist muss hierbei nicht so bemessen werden, dass der Schuldner die noch gar nicht begonnene Leistung erst anfangen und fertig stellen

54 55 56 57 58 59 60 61 62

MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 62. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 62. BGH v. 25.3.2010 – VII ZR 224/08, NJW 2010, 2200, 2201 = CR 2010, 422 = ITRB 2010, 204. BGH v. 25.3.2010 – VII ZR 224/08, NJW 2010, 2200, 2201 = CR 2010, 422 = ITRB 2010, 204. OLG Köln v. 2.2.2012 – 19 U 98/11. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 67; Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 1. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 8. BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 15; Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 8.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 34 § 323 BGB

kann, denn es handelt es sich nicht um eine „Ersatzleistungsfrist“, sondern vielmehr soll ihm eine letzte Gelegenheit gegeben werden, die bereits in Angriff genommene Leistung zu vollenden.63 Bei Zahlungsfristen ist zu berücksichtigen, dass der Schuldner für seine finanzielle Leistungsfähigkeit einzustehen hat, so dass eine Zahlungsfrist von vier Werktagen und wenigen Stunden als angemessen angesehen worden ist.64 Nach § 45k Abs. 2 Satz 1 TKG darf ein Telekommunikationsanbieter erst dann eine Sperre durchführen, d.h. die Erbringung seiner Leistungen ganz oder teilweise verweigern, wenn der Teilnehmer mit Zahlungsverpflichtungen von mindestens 75 Euro in Verzug ist und die Sperre mindestens zwei Wochen zuvor schriftlich angedroht worden ist. Im Verbraucherbereich kann diese Wertung des Gesetzgebers in Bezug auf eine angemessene Zahlungsfrist herangezogen werden, so dass ggü. Verbrauchern eine Fristsetzung zur Zahlung vor Rücktritt mindestens zwei Wochen betragen muss.

29

Für Leistungspflichten – im konkreten Fall zur Übergabe eines Gebrauchtwagens – wurde als Mindestfrist nach § 323 Abs. 1 48 Stunden angesehen.65 Diese Mindestfrist wird man auch für die Übergabe von Standardsoftware oder nicht individuell konfigurierter Hardware sowie der Bereitstellung einer standardisierten ASP-Software zugrundelegen können. Bei komplexeren IT-Verträgen wie einem IT-Projektvertrag, Erstellung von Individualsoftware oder der Transition beim Outsourcing ist darauf abzustellen, dass der Auftragnehmer seine schon im Wesentlichen ins Werk gesetzte und abgeschlossene Leistung nunmehr endlich voll zu erbringen hat, um den Vertrag vor der Gefährdung durch das Rücktrittsrecht des Auftraggebers zu retten, und daher von ihm außerordentliche Anstrengungen erwartet werden dürfen.66 Maßgeblich sind auch hier die objektiven Umstände des Einzelfalls, doch bei einer üblichen Projektlaufzeit zwischen drei Monaten und einem Jahr wird man wohl eine Nachfrist zwischen zwei Wochen und zwei Monaten als angemessen ansehen können.

30

Haben die Parteien vertragliche Abreden über die Nachfrist getroffen, sich über die Dauer der Nachfrist geeinigt oder hat der Schuldner selbst eine bestimmte Nachfrist vorgeschlagen, so gelten diese Abreden, so dass der Schuldner sich auch mit einer Nachfrist einverstanden erklären kann, die kürzer als eine (an sich) angemessene ist; ebenso kann der Gläubiger eine Nachfrist bestimmen, die über das angemessene Maß hinausgeht, darf aber auch in diesem Fall nicht nachträglich einseitig die von ihm bestimmte Nachfrist wieder verkürzen.67

31

Eine zu kurz bemessene Nachfrist ist nicht wirkungslos, sondern durch eine zu knapp bemessene Nachfrist wird i.d.R. eine angemessene Frist in Lauf gesetzt.68

32

5. Entbehrlichkeit der Fristsetzung Nach § 323 Abs. 2 ist die Fristsetzung entbehrlich, wenn a) Nr. 1: „der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert“

33

Die Nachfristsetzung ist nach § 323 Abs. 2 Nr. 1 im Falle einer ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung entbehrlich. Hieran sind strenge Anforderungen zu stellen, das bloße Bestreiten eines Mangels oder einer Leistungspflicht reicht nicht aus.69 Allein die Erklärung des Schuldners, er werde zum Fälligkeitszeitpunkt nicht leisten können, begründet keine ernsthafte und endgültige Leistungsverweigerung i.S.d. § 323 Abs. 2 Nr. 1, denn in diesem Fall bleibt offen, ob der Schuldner innerhalb einer angemessenen Nachfrist seine Leistung noch erbringen wird.70 Der Schuldner muss vielmehr zu erkennen geben, dass er seinen Vertragspflichten nicht nachkommen wird, also seine Leistung nicht mehr, auch nicht nach einer Nachfrist, erbringen will oder kann.71 Insb. kann in dem bloßen Be-

34

63 64 65 66 67 68 69 70 71

Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 14; Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 8. BGH v. 21.6.1985 – V ZR 134/84, NJW 1985, 2640. OLG Karlsruhe v. 24.11.2011 – 9 U 83/11, NJW-RR 2012, 504. Vgl. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 73. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 71. BGH v. 21.6.1985 – V ZR 134/84, NJW 1985, 2640. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 18; Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 18. BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714, 3716. BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 96/12, K&R 2013, 201, 203 = CR 2013, 199; Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 18.

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BGB § 323 Rz. 34 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung streiten von Mängeln eine endgültige Nacherfüllungsverweigerung noch nicht ohne weiteres, sondern nur dann gesehen werden, wenn weitere Umstände hinzutreten, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Schuldner über das Bestreiten von Mängeln hinaus bewusst und endgültig die Erfüllung seiner Vertragspflichten ablehnt und es damit ausgeschlossen erscheint, dass er sich von einer Fristsetzung umstimmen lassen würde.72 35

Bei der Frage einer ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung ist das gesamte Verhalten des Auftragnehmers zu berücksichtigen, auch seine späteren Einlassungen im Prozess. Ein wegen nicht vollständiger Durchführung von Vertragsleistungen vom Auftraggeber erklärter Rücktritt kann daher regelmäßig nicht wegen fehlender Fristsetzung als unwirksam erachtet werden, wenn der Auftragnehmer keine Bemühungen unternommen hat, die Vertragsleistungen vollständig zu erbringen. Denn allein der Umstand, dass der Auftragnehmer auf Werklohn klagt und die Erbringung von zum Vertrag gehörenden Teilleistungen abgelehnt hat bzw. eine diesbezügliche Vertragspflicht auch prozessual weiterhin ausdrücklich ablehnt, lässt regelmäßig den Schluss darauf zu, dass er sich auch zuvor durch eine Fristsetzung nicht noch hätte umstimmen lassen.73 So kann etwa die Erklärung des Auftraggebers, die Leistung unter keinen Umständen mehr abnehmen zu wollen, oder die Forderung höherer Preise oder zusätzlicher sonstiger Zahlungen in Verbindung mit der Ablehnung der Erfüllung, wenn der andere Teil darauf nicht eingeht, als Erfüllungsverweigerung angesehen werden.74

36

Bei Softwareerstellungsverträgen und IT-Projektverträgen kann hiernach eine Erfüllungsverweigerung des Auftraggebers vorliegen, wenn dieser eine Abnahme der Leistung auch im Falle von Änderungen strikt ablehnt, eine Erfüllungsverweigerung seitens des Auftragnehmers, wenn dieser Leistungen als zusätzlich vergütungspflichtig ansieht, die im ursprünglichen Leistungsumfang mit enthalten sind, wie es häufig bei Auseinandersetzungen über den vertraglich vereinbarten Leistungsumfang oder das Vorliegen zusätzlich zu vergütender Änderungsverlangen (sog. Change Requests) der Fall ist. Wenn der Auftragnehmer mit Bestimmtheit seine eigene vertragliche Verpflichtung in gutem Glauben, zur geforderten Leistung nicht oder nur gegen zusätzliche Vergütung verpflichtet zu sein, in Abrede stellt, riskiert er, dass der Auftraggeber den Rücktritt erklärt.75 Ein solcher Fall kann etwa vorliegen, wenn der Auftragnehmer seine vertraglich geschuldeten Leistungen als erbracht ansieht, das Vorliegen von Mängeln kategorisch bestreitet und den Auftraggeber zur Abnahme auffordert.

37

Die Erfüllungsverweigerung muss rechtswidrig sein.76 Steht etwa dem Auftragnehmer ein Zurückbehaltungsrecht zu oder fordert er zu Recht eine zusätzliche Vergütung für die Durchführung von vergütungspflichtigen Change Requests, liegt keine Erfüllungsverweigerung vor. Ebenso kann ein Rücktritt durch den Auftraggeber nicht auf eine Erfüllungsverweigerung des Auftragnehmers gestützt werden, wenn sich der Auftragnehmer zum Abschluss seiner Arbeiten außerstande sieht, weil der Auftraggeber notwendige Mitwirkungshandlungen nicht vorgenommen hat.77

38

b) Nr. 2: „der Schuldner die Leistung bis zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer im Vertrag bestimmten Frist nicht bewirkt, obwohl die termin- oder fristgerechte Leistung nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder auf Grund anderer den Vertragsabschluss begleitenden Umstände für den Gläubiger wesentlich ist“

39

§ 323 Abs. 2 Nr. 2 regelt das einfache Fixgeschäft und formuliert keine Auslegungsregel, sondern begründet bei Terminüberschreitung für den Gläubiger ein gesetzliches Rücktrittsrecht.78

40

Anders als beim absoluten Fixgeschäft (näher hierzu § 271 Rz. 26) tritt beim relativen Fixgeschäft bei Nichteinhaltung der Leistungszeit keine Unmöglichkeit ein, der Gläubiger ist aber nach Maßgabe des § 323 Abs. 2 Nr. 2 berechtigt, vom Vertrag zurückzutreten.79 Ob es sich tatsächlich um einen Fixtermin handelt, muss mit Vorsicht und hohen Anforderungen geprüft werden,80 wobei davon auszuge72 73 74 75 76 77 78 79 80

BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 96/12, K&R 2013, 201, 203 = CR 2013, 199. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 103. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 107. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 106. BGH v. 5.5.1992 – X ZR 115/90, NJW-RR 1992, 1141, 1143 = CR 1993, 85. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 19; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 111. Palandt/Grüneberg, § 271 BGB Rz. 18; MünchKomm/Krüger, § 271 BGB Rz. 14. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 240 f.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 47 § 323 BGB

hen ist, dass fest vereinbarte Termine nicht automatisch zum Fixgeschäft führen, sondern vielmehr klar gewollt sein muss, dass das Geschäft mit der zeitgerechten Leistung steht und fällt. Klauseln wie „fix“, „prompt“ oder „spätestens“ in Verbindung mit einer bestimmten Leistungszeit können auf ein Fixgeschäft hindeuten, jedoch ist auch eine abweichende Auslegung im Einzelfall möglich.81 Durch die seit 13.6.2014 geltende Fassung des § 323 Abs. 2 Nr. 2 wird klargestellt, dass bereits eine ein- 41 seitige Mitteilung des Gläubigers vor Vertragsschluss darüber genügt, dass die termin- oder fristgerechte Leistung wesentlich ist,82 so dass z.B. bereits ein deutlicher Hinweis im Rahmen einer Ausschreibung des Auftraggebers, dass eine termingerechte Leistung von erheblicher Bedeutung ist, ein Fixgeschäft begründen kann und im Falle der Nichteinhaltung dieses Termins eine Nachfristsetzung für den Rücktritt entbehrlich ist. c) Nr. 3: „im Falle einer nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen“

42

§ 323 Abs. 2 Nr. 3 gewährt ein sofortiges Rücktrittsrecht für den Fall, dass besondere Umstände eine 43 Fristsetzung entbehrlich machen, gilt jedoch nur für Schlechtleistungen, nicht jedoch für die Nichterbringung fälliger Leistungen.83 Dies gilt etwa dann, wenn bei einem „Just-in-time-Vertrag“ die Leistung mangelhaft ist oder wenn das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Schuldners entfallen ist.84 Auch kann ein weiteres Nacherfüllungsverlangen unzumutbar sein, wenn sich innerhalb eines kürzeren Zeitraums eine Vielzahl herstellungsbedingter – auch kleiner – Mängel zeigt, die entweder wiederholt oder erstmals auftreten, so dass bei verständiger Würdigung aus Sicht des Käufers das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Herstellung durch die zu Tage getretene Fehleranfälligkeit ernsthaft erschüttert worden ist.85 Bezogen auf Software kann hiernach § 323 Abs. 2 Nr. 3 einschlägig sein, wenn diese zwar lauffähig ist, aber zahlreiche teils kleine, teils große Mängel beinhaltet, so dass erhebliche Zweifel angebracht sind, dass diese vollständig behoben werden und auch keine weiteren Mängel auftreten. Täuscht bei einem Mietkauf über IT-Infrastruktur der vorleistungspflichtige Lieferant den Mietver- 44 käufer über eine in Wirklichkeit noch nicht erfolgte Lieferung des Mietkaufgegenstands an den Mietkäufer und veranlasst er dadurch den Mietverkäufer, an ihn den Kaufpreis in Umkehrung der vertraglichen Leistungspflichten vorzuleisten, ist der Mietverkäufer gem. §§ 323 Abs. 1, 323 Abs. 2 Nr. 3 zum sofortigen Rücktritt vom Kaufvertrag berechtigt.86 Der Gläubiger kann nach Fälligkeit der Leistung ohne Setzen einer Nachfrist gem. § 323 Abs. 2 Nr. 3 sofort zurückzutreten, wenn feststeht, dass die gem. § 323 Abs. 1 dem Schuldner zu setzende angemessene Frist zur Leistung nicht eingehalten werden wird, denn dann wäre das Erfordernis der Nachfrist eine reine Förmelei.87

45

Das Erfordernis der Fristsetzung entfällt zudem bei arglistiger Täuschung über das Vorliegen eines Mangels, denn dem bei Arglist entstehenden Vertrauensverlust wird ein hoher Rang beigemessen.88

46

Ein Gericht kann – so der BGH in einer Entscheidung vom 14.6.2012, die sich allerdings auf § 323 Abs. 2 Nr. 3 in der bis zum 12.6.2014 geltenden Fassung bezieht89 – die Voraussetzungen des § 323 Abs. 2 Nr. 3 nur annehmen, wenn es eine Abwägung der beiderseitigen Interessen vorgenommen hat. Bei dieser Interessenabwägung kann eine Rolle spielen, dass der Gläubiger bereits während der Erfüllungsphase die begründete Besorgnis haben musste, der Schuldner werde die Leistung nicht rechtzeitig fertig stellen, und er ihm deshalb schon eine Nachfrist gesetzt hat. Denn mit diesem Verhalten hat der Gläubiger jedenfalls zum Ausdruck gebracht, dass er – ungeachtet dessen, dass die Voraussetzungen für einen Rücktritt gem. § 323 Abs. 1 nicht wirksam geschaffen worden sind – nicht gewillt ist, erhebliche

47

81 82 83 84 85 86 87 88 89

Marly, Softwarerecht, Rz. 1894. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 12. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 22; Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 13. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 22. BGH v. 23.1.2013 – VIII ZR 140/12, NJW 2013, 1523, 1524 zur Nacherfüllung bei gehäuftem Auftreten von Mängeln bei einem „Montagsauto“. BGH v. 10.3.2010 – VIII ZR 182/08, CR 2010, 432 = NJW 2010, 2503. BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714, 3717. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 49. BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714, 3716.

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BGB § 323 Rz. 47 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung Verzögerungen, die über die Nachfrist hinausgehen, hinzunehmen. Dieses Verhalten muss jedem Schuldner eine deutliche Warnung sein, dass weitere Verzögerungen erhebliche Folgen haben können. Andererseits entbindet dieses Verhalten des Gläubigers die Gerichte nicht von der Verpflichtung, eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, bei der geprüft werden muss, ob das Interesse des Gläubigers am Fortbestand des Vertrags infolge der Verzögerung entfallen ist. Das kann der Fall sein, wenn es dem Gläubiger unter Berücksichtigung des bereits verstrichenen Zeitraums nach Fälligkeit nicht mehr zumutbar ist, noch eine weitere Verzögerung durch eine Nachfrist hinzunehmen.90 48

Für einen Softwareerstellungsvertrag, IT-Projektvertrag oder die Transition Phase im Rahmen des Outsourcing kann das bedeuten, dass für den Fall, dass der Auftragnehmer bereits im Rahmen der Vertragsdurchführung vertraglich vereinbarte Meilensteine nicht erreicht und der Auftraggeber bereits deshalb Nachfristen gesetzt hat, im Falle der Schlechtleistung eine weitere Nachfristsetzung nach § 323 Abs. 2 Nr. 3 entbehrlich ist. 6. Fehlschlagen der Leistung oder Nacherfüllung

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Sofern eine Nachfristsetzung nicht entbehrlich ist, kann der Gläubiger nach § 323 oder über die Verweisungen in §§ 437 Nr. 2, 440 bzw. §§ 634 Nr. 3, 636 den Rücktritt erst erklären, sofern er zunächst Nacherfüllung (§§ 439 bzw. 635) verlangt hat und diese fehlgeschlagen ist.91 Ein Fehlschlagen ist anzunehmen bei objektiver oder subjektiver Unmöglichkeit, Unzulänglichkeit, unberechtigter Verweigerung, ungebührlicher Verzögerung und bei einer misslungenen Nacherfüllung.92

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Voraussetzung für die Rücktrittserklärung ist, dass der Schuldner bis zum Ablauf der vom Gläubiger genannten oder – bei Nennung einer zu kurzen Frist – einer objektiv angemessenen Frist nicht vollständig und mangelfrei geleistet haben.93 Für eine Versäumung der Frist genügt i.d.R. schon eine geringfügige Überschreitung der Frist.94 Die Nachfrist ist gewahrt, wenn der Schuldner die Leistungshandlung innerhalb der Frist vornimmt; dass der Leistungserfolg erst nach Fristende eintritt, ist unschädlich.95 Nach dem fruchtlosen Ablauf der dem Auftragnehmer zur Nacherfüllung gesetzten Frist ist der Auftraggeber nicht verpflichtet, das Angebot des Auftragnehmers zur Mängelbeseitigung anzunehmen.96

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Weist die fristgerecht erfolgte Leistung andere Mängel als die für die Fristsetzung ausschlaggebende auf, muss erneut eine Nachfrist gesetzt werden.97 Dies kann bei IT-Verträgen dazu führen, dass sich sukzessive neue Fehler zeigen, nachdem zuvor gerügte behoben worden sind, so dass der Auftraggeber wiederholt Mängel rügen und Nachfristen setzen muss, bevor er vom Vertrag zurücktreten kann. 7. Rücktrittserklärung

52

Auf das Rücktrittsrecht finden die §§ 346 ff. Anwendung.98 Nach § 349 erfolgt der Rücktritt durch Erklärung ggü. dem anderen Teil. Es handelt sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung des Auftraggebers an den Auftragnehmer, die bereits vorprozessual erklärt werden kann.99 Ein Einverständnis des anderen Teils ist nicht erforderlich.100 Das Rücktrittsrecht ist als Gestaltungsakt bedingungsfeindlich und unwiderruflich, was dem Umstand entspricht, dass nach Erklärung des Rücktritts der Vertrag in ein Rückgewährschuldverhältnis umgewandelt wird.101 Die Bedingungsfeindlichkeit gilt dann nicht, wenn keine für den Schuldner unzumutbare Unsicherheit begründet wird, so dass 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

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BGH v. 14.6.2012 – VII ZR 148/10, NJW 2012, 3714, 3716. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 3; Redeker, ITRB 2016, 214. OLG Köln v. 1.9.2003 – 19 U 80/03, NJOZ 2004, 556, 558. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 24. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 9. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 16; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 86. BGH v. 27.2.2003 – VII ZR 338/01, NJW 2003, 1526. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 9. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 33; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 196. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. X Rz. 57. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 24. Riehm, JuS 2016, 839, 840; Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 24.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 57 § 323 BGB

der Rücktritt vom Gläubiger bereits mit der Fristsetzung für den Fall der dennoch ausbleibenden Leistung des Schuldners erklärt werden kann.102 Ein bei Rücktrittserklärung erheblicher Mangel wird nicht dadurch unerheblich, und der Rücktritt 53 somit unwirksam, dass es im Verlauf der sich anschließenden Auseinandersetzung einem gerichtlich bestellten Sachverständigen gelingt, den Mangel zumindest provisorisch zu beseitigen.103 Das Festhalten des Käufers an dem wirksam erklärten Rücktritt wäre nur dann treuwidrig, wenn der Mangel nachträglich mit seiner Zustimmung beseitigt wird.104 Bei IT-Projektverträgen kann die Situation eintreten, dass der Auftraggeber nur einen Teilrücktritt 54 erklärt und bewirkte Teilleistungen behalten möchte. Erklärt er den Teilrücktritt hinsichtlich des nicht- oder schlechtgeleisteten Teils, kann er sich nicht zugleich eine spätere Erklärung des Gesamtrücktritts nach § 323 Abs. 5 Satz 1 für den Fall vorbehalten, dass sich später herausstellen sollte, dass er an der bewirkten Teilleistung kein Interesse hat. Hat der Auftraggeber beispielsweise im Rahmen eines IT-Projekts Softwarelizenzen erworben, muss er sich bereits bei der Rücktrittserklärung darüber klar werden, ob er diese künftig nutzen kann und daher nur einen Teilrücktritt erklärt, oder hieran nach § 323 Abs. 5 Satz 1 kein Interesse hat und den Gesamtrücktritt erklärt. Die Erklärung eines Gesamtrücktritts nach § 323 Abs. 5 Satz 1 unter der Bedingung, dass er die erworbenen Softwarelizenzen in einem Folgeprojekt nicht einsetzen kann, scheitert hiernach aufgrund der Bedingungsfeindlichkeit des Rücktrittsrechts. 8. Mitwirkungshandlungen Insb. bei IT-Projektverträgen sind die Mitwirkungsleistungen des Auftraggebers für den Projekterfolg 55 von erheblicher Bedeutung. Diese reichen von der Gewährung des Zugriffs auf die IT-Infrastruktur des Auftraggebers über die rechtzeitige Beistellung von Lizenzen bis zur Bereitstellung ausreichend qualifizierter und verfügbarer Ansprechpartner und Entscheidungsträger auf Seiten des Auftraggebers.105 Der Kunde hat dem Softwarelieferanten die zur Realisierung eines EDV-Projektes erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen.106 Fehlende Mitwirkungshandlungen des Auftraggebers können den Auftragnehmer zum Rücktritt berechtigen, allerdings dann nicht, wenn es sich lediglich um unerhebliche Pflichtverletzungen handelt, denn § 323 Abs. 5 Satz 2 wird auf den Fall der Nichterfüllung einer unerheblichen Nebenpflicht entsprechend angewandt.107 Andererseits kann, wenn die verspätete oder mangelhafte Leistung des Auftragnehmers vor allem darauf zurückzuführen ist, dass der Auftraggeber Mitwirkungspflichten verletzt hat, indem er z.B. die von ihm geschuldeten Informationen viel zu spät oder unrichtig erteilt hat, das Rücktrittsrecht des Auftraggebers nach Abs. 6 ausgeschlossen sein.108 Bei IT-Projektverträgen sind hierbei Mitwirkungspflichten nach § 642 i.d.R. nicht nur als bloße Obliegenheiten zu qualifizieren, so dass ein Auftraggeber, der eine Mitwirkungspflicht in einem IT-Projekt nicht erbringt, nicht vom Vertrag zurücktreten kann.109 Schließlich wird die Frage der Verletzung von Mitwirkungspflichten bei IT-Verträgen häufig dann relevant, wenn der Auftraggeber den Rücktritt wegen Ausbleibens der Leistung bei Fälligkeit – ggf. nach Nachfristsetzung – erklärt und der Auftragnehmer einwendet, er habe die Leistung aufgrund fehlender Mitwirkung des Auftraggebers nicht fristgerecht erbringen können. Fraglich ist in solchen Fällen, ob die Parteien einen Fertigstellungstermin vereinbart haben und ob dieser – ggf. konkludent – verschoben wurde.

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Hat der Auftraggeber eine Verzögerung zu vertreten, weil er erforderliche Mitwirkungshandlungen nicht vornimmt, verliert die vertraglich vereinbarte oder infolge des Ablaufs der üblicherweise an-

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102 103 104 105 106 107 108 109

OLG Naumburg v. 24.8.2015 – 1 U 37/15, NJW 2016, 1102; Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 24. BGH v. 5.11.2008 – VIII ZR 166/07, NJW 2009, 508. BGH v. 5.11.2008 – VIII ZR 166/07, NJW 2009, 508. Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 161 ff. BGH v. 28.6.1994 – X ZR 95/92, CR 1995, 265. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 5; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 803. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29. Schuster, CR 2016, 627, 634; ebenso Kapellmann, NZBau 2011, 193, 196, 198 bzgl. Bauverträgen.

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BGB § 323 Rz. 57 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung gemessenen Herstellungszeit eingetretene Fälligkeit der Leistung ihre Verbindlichkeit.110 Wenn der Auftraggeber seiner Mitwirkungspflicht nicht rechtzeitig nachgekommen ist oder Änderungs- und Ergänzungswünsche durchgeführt werden, entfallen selbst fest vereinbarte Termine bzw. es gelten dann angemessene Fristen.111 Sollte der Verzug des Auftraggebers bei der Mitwirkung besonders prägnant sein, etwa weil der die geforderten fachlichen Anforderungen nicht beigebracht hat, lässt dies – Kausalität vorausgesetzt – den Verzug des Auftragnehmers nicht eintreten und schließt dann auch ein Rücktrittsrecht des Auftraggebers wegen Nichtleistung aus.112 58

Wenn vertraglich – wie in einem Projekt- oder Meilensteinplan üblich – nicht besondere feste Termine für die Erbringung der Mitwirkungsleistungen gesetzt sind, hat der Auftragnehmer die Mitwirkungsleistungen des Auftraggebers zunächst einzufordern, was mit einer gewissen Ankündigungs- und Reaktionsfrist für den Auftraggeber unter Hinweis auf die eventuellen Folgen wie z.B. Verzögerung der eigenen Leistung des Auftragnehmers geschehen sollte.113 In der Praxis werden die Mitwirkungsleistungen des Auftraggebers häufig von beiden Seiten vernachlässigt, insb. weil der Auftragnehmer nicht die Chance wahrt, rechtzeitig Mitwirkungsleistungen des Auftraggebers einzufordern und diesen ggf. in Verzug zu setzen.114 Befindet sich im Werkvertragsrecht der Besteller durch das Unterlassen von Mitwirkungshandlungen in Verzug, stehen dem Auftragnehmer ggf. Ansprüche auf Entschädigung nach § 642 und ein Kündigungsrecht nach § 643 zu.

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Wenn sich der Auftragnehmer zum Abschluss seiner Arbeiten außerstande sieht, weil der Auftraggeber notwendige Mitwirkungshandlungen nicht vorgenommen hat, stellt dies keine Erfüllungsverweigerung dar, auf die nach § 323 Abs. 2 Nr. 1 ein Rücktritt des Auftraggebers ohne Fristsetzung gestützt werden kann.115 9. Behinderungsanzeige

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§ 6 Abs. 1 Satz 1 VOB/B normiert die sog. Behinderungsanzeige: „Glaubt sich der Auftragnehmer in der ordnungsgemäßen Ausführung der Leistung behindert, so hat er es dem Auftraggeber unverzüglich schriftlich anzuzeigen.“ Die Behinderungsanzeige dient der Information des Auftraggebers über die Störung; er soll gewarnt und es soll ihm die Möglichkeit gegeben werden, die Behinderung abzustellen.116 Die rechtzeitige und korrekte Behinderungsanzeige erlaubt dem Auftraggeber, Beweise für eine in Wahrheit nicht oder nicht im geltend gemachten Umfang bestehende Behinderung zu sichern.117

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Zwar findet die VOB/B im IT-Recht keine Anwendung, doch da es – insb. bei IT-Projekten – üblich ist, dass während des Projektverlaufs Ergänzungen und Änderungswünsche (Change Requests) erfolgen, und es auch Uneinigkeit darüber geben kann, ob der Auftraggeber seine Mitwirkungspflichten nicht oder nicht rechtzeitig erbracht hat, empfiehlt sich auch hier, über entsprechende Ereignisse Korrespondenz zu führen, Behinderungsanzeigen abzusetzen und die näheren Umstände schriftlich festzuhalten.118 10. Einzelne IT-Vertragsarten a) Kauf von Hardware

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Im Falle eines Kaufvertrages über eine bewegliche Sache wie z.B. Hardware behält sich der Verkäufer häufig bis zur Zahlung des Kaufpreises das Eigentum vor, § 449 Abs. 1. Nach § 449 Abs. 2 kann der Verkäufer die Sache nur herausverlangen, wenn er vom Vertrag zurückgetreten ist. Im Falle des Zah110 Marly, Softwarerecht, Rz. 1414. 111 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 243. 112 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 812; BGH v. 28.6.1994 – X ZR 95/92, CR 1995, 265, 266. 113 Schneider/Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 459. 114 Schneider/Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, 4. Aufl. 2009, Kap. D Rz. 489. 115 BGH v. 5.5.1992 – X ZR 115/90, NJW-RR 1992, 1141, 1143 = CR 1993, 85. 116 BGH v. 21.10.1999 – VII ZR 185/98, NJW 2000, 1336. 117 BGH v. 21.10.1999 – VII ZR 185/98, NJW 2000, 1336, 1337. 118 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. Q Rz. 243.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 68 § 323 BGB

lungsverzugs mit dem Kaufpreis ist der Rücktritt über § 323 möglich und auch erforderlich, damit der Verkäufer seinen Anspruch als Eigentümer aus § 985 durchsetzen kann.119 b) Überlassung von Standardsoftware Beim Softwarekauf gilt nach § 440 Satz 2 eine Nachbesserung nach dem erfolglosen zweiten Versuch 63 als fehlgeschlagen, wenn sich nicht insb. aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen etwas anderes ergibt. Sofern es sich um als Massenprodukt vertriebene Standardsoftware handelt, wird dieser Grundsatz auch hierfür gelten, weil ein Softwareanbieter nicht besser gestellt werden soll als die Verkäufer anderer Massenprodukte.120 Die zeitlich befristete Softwareüberlassung unterliegt dem Mietvertragsrecht121 und stellt ein Dauerschuldverhältnis dar, bei dem – sofern vollzogen – an die Stelle des Rücktrittsrechts das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund tritt.122

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c) Softwareerstellung Ein Vertrag, zu dessen Schwerpunkten individuelle Programmierleistungen wie die Herstellung bzw. 65 Anpassung einer den besonderen Bedürfnissen des Anwenders entsprechenden Software zählen, ist als Werkvertrag zu qualifizieren. Das Recht des Auftraggebers zum Rücktritt vor Abnahme der vertraglichen Werkleistungen folgt unmittelbar aus § 323, denn vor Abnahme ist das Werk nicht mangelhaft i.S.v. § 633 Abs. 1, sondern noch nicht hergestellt.123 Sofern also eine Abnahme noch nicht erfolgt ist und auch die Abnahmefiktion nach § 640 Abs. 1 Satz 3 nicht greift, ist die Berechtigung des Rücktritts des Auftraggebers anhand der allgemeinen Norm des § 323 zu beurteilen. Vor Abnahme ist es nicht erforderlich, bestimmte Mängel oder Schwächen der Software zu rügen, sondern im Rahmen der Nachfristsetzung kann schlicht zur Ablieferung aufgefordert werden. Der Auftragnehmer ist für die Vertragsgemäßheit seiner Leistung ebenso beweisbelastet, wie für die Unerheblichkeit der Schlechtleistung, welche gem. § 323 Abs. 5 Satz 2 den Rücktritt ausschließen würde, so dass sich ein „non liquet“ im Rahmen des § 323 zulasten des Auftragnehmers auswirkt.124

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Eine Zuvielforderung des Gläubigers im Rahmen der Fristsetzung kann dazu führen, dass die Fristsetzung unwirksam ist, wenn sich dieses Verhalten nach den Gesamtumständen als eigenes vertragsuntreues Verhalten des Gläubigers darstellt, wobei im Werkvertragsrecht auf die Besonderheiten dieses Rechtsgebiets Rücksicht zu nehmen ist.125 So kann eine Unwirksamkeit der Fristsetzung grundsätzlich nur in Betracht kommen, wenn die überzogenen Mängelrügen des Bestellers zugleich als Zurückweisung des geschuldeten Maßes der Nachbesserung zu verstehen sind.126 Die Unwirksamkeit der Fristsetzung wird im Bereich des Werkvertragsrechts daher am ehesten in Betracht zu ziehen sein, wenn der Besteller zu Unrecht qualitative Anforderungen an das Gewerk stellt, welche vom Werkunternehmer entweder objektiv überhaupt nicht erbracht werden können oder nach dem Inhalt des Vertragsverhältnisses jedenfalls nicht geschuldet sind.127

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Nach Abnahme erfolgt der Rücktritt über §§ 634 Nr. 3, 323. Der Besteller genügt seiner Darlegungslast, wenn er Mangelerscheinungen, die er der fehlerhaften Leistung des Unternehmers zuordnet, genau bezeichnet, zu den Ursachen der Mangelerscheinung muss der Besteller nicht vortragen.128

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119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

Palandt/Weidenkaff, § 449 BGB Rz. 26; MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 166. Marly, Softwarerecht, Rz. 1314. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 108 ff. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 4; OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, 425; Schuster, CR 2011, 215, 219. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158. OLG Hamburg v. 16.8.2013 – 9 U 41/11, CR 2013, 697, 698. BGH v. 5.10.2005 – X ZR 276/02, ZfBR 2006, 226; OLG Köln v. 10.3.2006 – 19 U 160/05, CR 2006, 440, 442 = ITRB 2006, 203. OLG Köln v. 10.3.2006 – 19 U 160/05, CR 2006, 440, 442 = ITRB 2006, 203. OLG Köln v. 10.3.2006 – 19 U 160/05, CR 2006, 440, 442 = ITRB 2006, 203. BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 276/13, MMR 2014, 591 = CR 2014, 568 = ITRB 2014, 198.

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BGB § 323 Rz. 69 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 69

Falls der Besteller die Abnahme nach § 640 unberechtigt verweigert, kann der Unternehmer nach § 323 vorgehen.129 d) IT-Projektverträge und Systemverträge

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Sofern bei einem IT-Projektvertrag das Projekt noch nicht abgenommen bzw. als Erfüllung angenommen wurde, kommt ein Rücktritt nach § 323 Abs. 1 in Betracht, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer eine angemessene Frist zur Fertigstellung seiner Leistung gesetzt hat und diese Frist erfolglos verstrichen ist.130 Das Recht des Bestellers zum Rücktritt vor Abnahme der vertraglichen Werkleistung folgt unmittelbar aus § 323, denn vor Abnahme ist das Werk nicht mangelhaft, sondern noch nicht hergestellt.131 Den Werkunternehmer trifft – im Falle einer Kündigungs- bzw. Rücktrittserklärung des Auftraggebers – vor Herstellung bzw. Abnahme der Werkleistung die Beweislast dafür, dass er die Werkleistung vollständig und mangelfrei erbracht hat.132

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Nach Übergabe bzw. Abnahme kann der Auftraggeber den Rücktritt nach § 323 über die Verweisungen in §§ 437 Nr. 2, 440 bzw. §§ 634 Nr. 3, 636 erklären, sofern er zunächst Nacherfüllung (§§ 439 bzw. 635) verlangt hat und diese fehlgeschlagen ist.133 So hat das OLG Düsseldorf einen Rahmenvertrag, dessen Schwerpunkt die Entwicklung, Herstellung und Lieferung einer den besonderen Bedürfnissen und Anforderungen des Auftraggebers entsprechenden Hard- und Software darstellt, als Werkvertrag und – da die Vertragsleistungen in zeitlich aufeinanderfolgenden Abrufmengen zu erbringen waren – als echten Sukzessivvertrag angesehen und einen Rücktritt wegen Mängeln der Werkleistung gem. §§ 634, 636, 323 bejaht.134 Allerdings ist bei vorbehaltloser Abnahme in Kenntnis des Mangels der Rücktritt über § 640 Abs. 2 ausgeschlossen.135 e) Dienstverträge/Beratungsverträge

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Nicht- und Schlechtleistungen des Dienstpflichtigen erfasst das Dienstvertragsrecht über die allgemeinen Regeln für Leistungsstörungen, doch der Weg über §§ 280 ff. und §§ 323 ff. kann bei kleineren Mängeln als nicht alltagstauglich angesehen werden, da diese als Rechtsfolge nur den Schadensersatz und den Rücktritt vorsehen, so dass vorgeschlagen wird, in Dienstverträge wie z.B. Beratungsverträge entsprechende Regelungen zu einer Nacherfüllung aufzunehmen.136 Sofern es sich bei einem Dienstvertrag um ein vollzogenes Dauerschuldverhältnis handelt, tritt an die Stelle des Rücktritts die Kündigung.137 f) Outsourcing

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Ein Outsourcing-Vertrag lässt sich als komplexer Managementvertrag bezeichnen, der sich aus einer Fülle einzelner Leistungen zusammensetzt, die – je nach Leistungstypus – dem Kaufrecht, Mietrecht, Werkvertragsrecht oder Dienstvertragsrecht unterfallen.138 Die Durchführung der Transition Phase richtet sich nach dem Transition Plan und der Vertrag ist an dieser Stelle stark projektbezogen, weist deshalb große Ähnlichkeiten zum Softwareerstellungs- oder IT-Projektvertrag auf und ist i.d.R. mit entsprechenden Abnahmeprozessen hinterlegt.139 Für die Zeit bis zur Abnahme der Transition lässt sich somit mangels vertraglicher Regelung argumentieren, dass § 323 Anwendung findet.140 Ab Transition wird sodann ein Kündigungsrecht nach § 314 und kein Rücktrittsrecht bestehen, weil der Ver129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140

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Jauernig/Mansel, § 640 BGB Rz. 5. Redeker, ITRB 2016, 212. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158. OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 160. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 3; Redeker, ITRB 2016, 214. OLG Düsseldorf v. 25.7.2014 – I-22 U 192/13, CR 2015, 215, 217. Marly, Softwarerecht, Rz. 1398. Söbbing, MMR 2010, 222, 223. Schuster, CR 2011, 215, 219. Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 36–38. Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 180–182. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 35; Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 4.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 78 § 323 BGB

trag in den Leistungsteil des Dauerschuldverhältnisses übergegangen ist,141 wobei im Rahmen der Vertragsgestaltung häufig Kündigungsregelungen mit einem festen Störungskatalog erarbeitet werden, die über den Umfang des § 314 hinausgehen und ggf. Ablösebeträge für bestimmte Kündigungsszenarien beinhalten.142 g) ASP/SaaS/Cloud Computing ASP/SaaS/Cloud Computing sind Dauerschuldverhältnisse, bei denen – sofern vollzogen – an die Stelle des Rücktrittsrechts das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund tritt.143

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h) Supportverträge Supportverträge sind Dauerschuldverhältnisse, bei denen – sofern vollzogen – an die Stelle des Rücktrittsrechts das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund tritt.144

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i) Service Level Agreements In diversen IT-Verträgen wie etwa Outsourcing-Verträgen oder ASP-Verträgen sind Service Level 76 Agreements enthalten oder ergänzen diese. In Service Level Agreements finden sich i.d.R. Fehlerkategorisierung, bei denen zwischen wesentlichen und unwesentlichen Fehlern unterschieden wird und an die unterschiedliche Rechtsfolgen – etwa in Bezug auf Fehlerbehebungszeiten und Vertragsstrafen – geknüpft werden.145 Da die Bezeichnung eines Fehlers als „unwesentlich“ in der Praxis z.T. zu erheblichen unterschiedlichen Betrachtungsweisen führt, ist es sinnvoll, bestimmte Fehlerklassen – im Einzelfall auch mit Rechtsfolgen belegt – zu definieren, wobei z.T. bis zu vier Fehlerklassen definiert werden,146 in denen durch Beschreibung des Fehlertyps und dessen Auswirkung eine gegenseitige Abgrenzung vorgenommen wird. Sofern an eine solche Kategorisierung bei Verstößen gegen die Service Levels nicht auch ausdrücklich die Ausübung eines Rücktritts- oder Kündigungsrechts geknüpft wird,147 kann zumindest die vertragliche Einordnung eines Fehlers als unwesentlich ein Indiz dafür sein, dass dieser auch – sofern ein (ggf. vertragliches) Rücktrittsrecht und nicht ein Recht zur außerordentlichen Kündigung aufgrund des Vorliegens eines vollzogenen Dauerschuldverhältnisses vorliegt148 – unerheblich i.S.d. Abs. 5 Satz 2 ist. 11. Rechtsfolge Bei § 323 handelt es sich um ein gesetzliches Rücktrittsrecht, für das §§ 346–352 gelten; bis zur Erklä- 77 rung des Rücktritts nach § 349 bestehen die Erfüllungsansprüche fort.149

III. Rücktritt bei Teilleistung (§ 323 Abs. 5 Satz 1) Nach Abs. 5 Satz 1 kann für den Fall, dass der Schuldner eine Teilleistung bewirkt hat, der Gläubiger vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Abs. 5 Satz 1 regelt ausschließlich die quantitative Teilleistung. 141 Schuster, CR 2011, 215, 219. 142 Mann, MMR 2012, 499, 501. 143 Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 4; OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, 425; Schuster, CR 2011, 215, 219. 144 Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 4; OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, 425. 145 Vgl. z.B. Redeker/Heymann/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 5.4 Rz. 18 Ziffer 6.5.1. des Vertragsmusters „Outsourcing-Vertrag“, in dem zwischen kritischem, wesentlichem und unwesentlichem Leistungsmangel unterschieden wird. 146 Söbbing, MMR 2010, 222, 224 f. 147 Schuster, CR 2009, 205, 209. 148 Vgl. Schuster, CR 2009, 205, 209 f.; Schuster, CR 2011, 215, 219. 149 Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 31.

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BGB § 323 Rz. 79 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 79

Relevant wird die Frage des Teilrücktritts vor allem bei gescheiterten IT-Projektverträgen, denn bei der Beauftragung, Umsetzung und Rückabwicklung von IT-Projekten divergiert die Interessenlage der Parteien:

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– Der Auftragnehmer hat ein Interesse an der Erbringung einzeln abrechenbarer und zu vergütender Teilleistungen. Dies sind etwa vorbereitende Planungsleistungen für die Erstellung einer Projektstudie, die Lizenzierung von Standardsoftware gegen (einmalige oder wiederkehrende) Lizenzgebühren, die Lieferung von Hardware, die Erstellung kundenspezifischer Individualsoftware, Implementierungsleistungen sowie ein eigenständiger Pflegevertrag. Bereits erbrachte Teilleistungen wie z.B. gelieferte Standardsoftware möchte der Auftragnehmer im Falle einer Rückabwicklung des Vertrages nicht rückvergüten. Er wird daher naheliegenderweise versuchen, durch Verwenden getrennter Verträge jeweils eigenständige Leistungen zu vereinbaren und einen Gesamtrücktritt zu vermeiden.150

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– Der Auftraggeber wünscht hingegen regelmäßig eine „Gesamtlösung“ und möchte im Falle eines gescheiterten IT-Projektes – sei es wegen Mangelhaftigkeit einzelner Leistungen oder aufgrund Projektverzögerung – den gesamten Vertrag rückabwickeln und eine bereits gezahlte Vergütung zurückerhalten.

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Komplexe Verträge werden meist individuell ausgehandelt und hierin wird häufig auch die Rechtsfolgenseite bei Verzug und Leistungsstörungen geregelt. So beinhaltet Ziffer 13 EVB-IT System-AGB eine umfassende Regelung der Rechte des Auftraggebers bei Mängeln des Gesamtsystems, die in Ziffern 13.3 und 13.11 auch das Rücktrittsrecht des Auftraggebers vertraglich ausgestaltet. 1. Teilleistung

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Falls keine vertragliche Regelung besteht, ist fraglich, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Rücktrittsrecht bei bewirkten Teilleistungen des Auftragnehmers nur zu einem Teilrücktritt des Auftraggebers bzgl. der mangelhaften oder nicht erfüllten Leistung oder zu einem Gesamtrücktritt vom ganzen Vertrag führt. Hierbei ist zunächst zu prüfen, ob die unter dem IT-Projektvertrag zu erbringenden Leistungen teilbar sind und der Auftragnehmer berechtigt ist, Teilleistungen zu erbringen. Eine Leistung ist teilbar, wenn sie ohne Wertminderung und ohne Beeinträchtigung des Leistungszwecks in Teilleistungen zerlegt werden kann.151 Ob eine – technische oder rechtliche – Unteilbarkeit vorliegt, ist objektiv zu beurteilen (näher hierzu § 266 Rz. 4 ff.).

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Für den Fall, dass teilbare Leistungen vorliegen und auch kein Parteiwille zur rechtlichen Einheit des Vertrages besteht, sind Teilleistungen möglich (näher hierzu § 266 Rz. 4 ff.). Ist dies der Fall und hat der Auftragnehmer eine Teilleistung bewirkt oder hat der Auftraggeber eine Teilleistung des Auftragnehmers entgegen § 266 freiwillig angenommen, stellt dies eine quantitative Teilleistung dar und führt zu einer Teilerfüllung des Vertrages. Fall der Auftraggeber nun von diesem Vertrag nach § 323 Abs. 1 zurücktritt, ist nach § 323 Abs. 5 Satz 1 zu klären, ob das Rücktrittsrecht nur den nicht- bzw. schlechterfüllten Teil des Vertrages betrifft – sog. Teilrücktritt – oder den gesamten Vertrag einschließlich der bereits erbrachten Teilleistung – sog. Totalrücktritt bzw. Gesamtrücktritt.152 2. Grundsatz: Teilrücktritt

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Hat die Teilleistung für den Auftraggeber Interesse, zerfällt der Vertrag in zwei selbstständige Teile.153 Für die bewirkte Teilleistung hat der Auftraggeber einen entsprechenden Teil der Vergütung zu erbringen und kann nur von der ausstehenden Teilleistung zurücktreten.154 Nach § 323 Abs. 5 Satz 1 gilt also als Grundsatz im Falle einer bewirkten Teilleistung, dass der Auftraggeber nur zu einem Teilrücktritt berechtigt ist.

150 151 152 153 154

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Koch, ITRB 2004, 157, 160. Palandt/Grüneberg, § 266 BGB Rz. 3; MünchKomm/Krüger, § 266 BGB Rz. 7. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 201; Koch, ITRB 2004, 157. BGH v. 1.2.1962 – VII ZR 213/60, NJW 1962, 907; Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 25. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 25; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 203.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 90 § 323 BGB

3. Ausnahme: Gesamtrücktritt bei Interessewegfall Nur für den Fall, dass an der bereits bewirkten Teilleistung das Interesse des Auftraggebers weggefallen ist, kann er nach § 323 Abs. 5 Satz 1 vom ganzen Vertrag zurücktreten. Der Auftraggeber muss bei objektiver Beurteilung kein Interesse mehr daran haben, die bereits empfangene Teilleistung für eine entsprechend verminderte Vergütung zu erhalten, namentlich, weil der konkrete Zweck des Auftraggebers mit der erbrachten Leistung auch nicht teilweise verwirklicht werden kann.155 Das Interesse des Auftraggebers muss durch die Teilung über die Entbehrung des vorbehaltenen Leistungsteils hinaus unverhältnismäßig beeinträchtigt sein.156 Zudem muss das Interesse des Auftraggebers gerade wegen der Nichtlieferung eines Teils der geschuldeten Leistung weggefallen sein.157 Dann und nur dann ist der Gesamtrücktritt zulässig, wobei die Darlegungs- und Beweislast für den zum Gesamtrücktritt berechtigenden Interessewegfall und den Ursachenzusammenhang zwischen der teilweisen Nichtleistung bzw. Schlechtleistung und dem Interessewegfall der Auftraggeber trägt.158

86

Der Gläubiger muss sich bei Annahme der Teilleistung nicht das Recht zum Gesamtrücktritt vorbehalten, da sich der Fortfall seines Interesses an der Teilleistung erst später ergeben kann.159

87

Der Gläubiger ist zum Gesamtrücktritt berechtigt, aber nicht verpflichtet, und kann wahlweise auch einen Teilrücktritt erklären; da es sich um die Ausübung eines Gestaltungsrechts handelt, steht dem Gläubiger nach der Erklärung des Rücktritts in der einen oder anderen Form allerdings kein ius variandi zu.160

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Hat der Auftraggeber im Rahmen eines IT-Projektvertrages einen Teilrücktritt etwa in Bezug auf die Erstellung kundenspezifischer Individualsoftware erklärt und sich hierbei vorbehalten, hinsichtlich eines bereits erbrachten Leistungsteils – etwa in Bezug auf gelieferte Standardsoftware – noch den Rücktritt zu erklären, wird dies nur dann möglich sein, wenn hinsichtlich des bereits erbrachten Leistungsteils – hier der Standardsoftware – ein eigenständiger Rücktrittsgrund vorliegt. Denn mit Erklärung des Teilrücktritts hat der Auftraggeber sein Gestaltungsrecht ausgeübt und gerade keinen Gesamtrücktritt erklärt. Stellt er erst später fest, dass er an der bereits empfangenen Teilleistung – hier der Standardsoftware – kein Interesse mehr hat, kann er bzgl. dieser nicht nachträglich den Gesamtrücktritt erklären. Zwar sind für den Fall, dass ein Rücktrittsrecht von mehreren Beteiligten ausgeübt werden muss, die Rücktrittserklärungen nicht gleichzeitig auszuüben,161 doch eine zeitliche Staffelung des Rücktritts dergestalt, zunächst den Teilrücktritt unter Vorbehalt des Gesamtrücktritts zu erklären, um dann später den Gesamtrücktritt zu erklären, erscheint aufgrund der Tatsache, dass dem Auftraggeber kein ius variandi zusteht und die Rücktrittserklärung als Gestaltungsrecht grundsätzlich unwiderruflich und bedingungsfeindlich ist,162 nicht möglich zu sein. Zudem muss im vorliegenden Beispiel das Interesse des Auftraggebers an der Standardsoftware gerade wegen der Nichtlieferung der Individualsoftware weggefallen sein,163 was nicht der Fall sein dürfte, wenn der Auftraggeber zunächst die Standardsoftware behalten und nur hinsichtlich der Individualsoftware den Rücktritt erklärt hat.

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Bereits bei der Fristsetzung ist darauf zu achten, dass für den Fall, dass der Gläubiger nach Fälligkeit 90 der ganzen Leistung nur wegen eines ausstehenden Teils eine Nachfrist setzt, er später nur hinsichtlich des angeforderten Teils zurücktreten kann; der Gläubiger, der plant, wegen der Bewirkung einer bloßen Teilleistung nach Abs. 5 Satz 1 vom ganzen Vertrag zurückzutreten, muss hierauf allerdings hinweisen.164 155 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 205; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 = ITRB 2014, 179. 156 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 205; OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368 f. = ITRB 2014, 179. 157 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 158 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 205 und 207; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 159 Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 26. 160 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 212. 161 OLG München v. 23.5.2012 – 3 U 4494/11. 162 Palandt/Grüneberg, § 349 BGB Rz. 1; MünchKomm/Gaier, § 349 BGB Rz. 2. 163 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 164 Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 14.

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BGB § 323 Rz. 91 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 4. Indizien für einen Interessewegfall a) Preisgestaltung 91

Ein Indiz für das Vorliegen eines Interessewegfalls ist die Vereinbarung über den Erhalt einer „IT-Gesamtlösung“.165 Gerade bei Rahmenverträgen, die nicht oder nicht ausreichend den Bezug zwischen den Einzelverträgen herstellen, kann das Vorliegen einer „Gesamtlösung“ problematisch sein und es kommt u.U. darauf an, ob sich erkennen und beweisen lässt, dass die Einzelleistungen eine Gesamtleistung – wenn auch eventuell stufenweise – bewirken sollen.166 Ob eine Gesamtlösung beauftragt worden ist, lässt sich insb. an der Preisgestaltung erkennen: Wenn der Auftraggeber insgesamt vier Softwaremodule beauftragt hat, die unabhängig voneinander genutzt werden können, und alle Module ausweislich der Auftragsbestätigung nach Aufwand und einzeln nach Abnahme abgerechnet werden und somit auch die Gegenleistung – separate Preise für einzelne Module – teilbar ist, ist dies gem. des OLG Köln Indiz für die Möglichkeit eines Teilrücktritts und spricht daher gegen einen Interessewegfall aus Gründen der Preiskalkulation.167 Ein Rücktritt vom gesamten Vertrag ist daher nach § 323 Abs. 5 Satz 1 nicht möglich, sondern nur ein Teilrücktritt bzgl. der mangelhaften Module. Dies gilt gleichermaßen, wenn der Auftraggeber einen handelsüblichen Computer und Standardsoftware zusammen beim gleichen Lieferanten beschafft und lediglich die Software mangelhaft ist.168 b) Erhebliche Preiserhöhung

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Im Gegenzug bedeutet dies, dass ein Interessewegfall zu bejahen ist, wenn die Parteien einen Gesamtpreis vereinbart haben und aufgrund der Preiskalkulation der Auftraggeber im Falle eines Teilrücktritts die nicht gelieferten Teile von anderen Lieferanten nur zu einem Preis beziehen kann, der zusammen mit der Teilvergütung für die erfüllte Teilleistung erheblich über dem mit dem Auftragnehmer ursprünglich vereinbarten Gesamtpreis liegt.169 c) Unzumutbare Lieferzeiten

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Ein Interessewegfall wird auch bejaht, wenn die nicht gelieferten Teile von anderen Lieferanten nur mit unzumutbaren Lieferzeiten zu erhalten wären.170 d) Erheblicher Aufwand

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Sofern für den Auftraggeber die Beschaffung fehlender Leistungsteile nur mit erheblichem Aufwand möglich ist, wird ebenfalls von einem Interessewegfall auszugehen sein. Ein erheblicher Aufwand für die Beschaffung kann vorliegen, wenn die einzelnen Leistungsteile speziell aufeinander abgestimmt oder speziell für die Bedürfnisse des Auftraggebers konstruiert oder eingerichtet sind und dadurch eine Ersatzbeschaffung auf Schwierigkeiten stößt.171 Dies kann etwa bei der Beschaffung besonderer Hardware der Fall sein, die auf die Software des Auftragnehmers abgestimmt ist, bei der Beschaffung von Standardsoftware, für die der Auftragnehmer individuelle Anpassungsleistungen vornehmen muss, ohne die der Auftraggeber die Standardsoftware nicht sinnvoll einsetzen kann, oder bei Schnittstellenproblematiken im Falle der Beauftragung von Teilleistungen bei einem Dritten.172 165 Vgl. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 369 = ITRB 2014, 179. 166 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 1419. 167 OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 369 = ITRB 2014, 179; vgl. auch BGH v. 16.10.2009 – V ZR 203/08, NJW 2010, 146. 168 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004 = CR 1987, 358. 169 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 170 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 171 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 172 Vgl. BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 98 § 323 BGB

Im Rahmen eines komplexen Werkvertrages über Softwareentwicklung ist es dem Auftraggeber nicht zumutbar, im Rahmen der im Rücktrittszeitpunkt noch ausstehenden und für das Vertragsziel einer insgesamt zweckgerechten und funktionstauglichen Leistung erforderlichen vertraglichen Leistungsteile den laufenden Vertrag aufzusplitten und sich teilweise Drittfirmen zu bedienen, so dass ein Interessewegfall nach § 323 Abs. 5 Satz 1 bejaht werden kann.173

95

e) Nichterreichung des Vertragszwecks Ein Rücktritt vom gesamten Vertrag für den Fall, dass der Gläubiger an der erbrachten Teilleistung 96 kein Interesse hat, wurde vom OLG Frankfurt auch in folgendem Fall bejaht: „Die Beklagte hat ein einheitliches Dokumenten-Management-System der Firma … zur Durchführung eines Tests, nämlich der Eignung für ihre Anforderungen bestellt. Das Web Content Management, also die Niederlegung von Testdokumenten auf den Internetseiten der Beklagten, war davon ein wesentlicher Bestandteil (…). Nachdem die Klägerin diesen Teil dieses Gesamtsystems nicht liefern und installieren kann, ist ein Test des Gesamtsystems nicht möglich. Die besondere Zweckbestimmung des Vertrages, nämlich das Testen eines geschlossenen Systems eines Anbieters, führt dazu, dass schon eine Unvollständigkeit der Module die Durchführung des Gesamtvertrages sinnlos erscheinen lässt. Die Beklagte hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie eine DMS ohne einen Web-Publisher nicht bestellen würde. Wegen des Charakters des Vertrages als Vereinbarung einer Testphase kommt es nicht darauf an, ob die Beklagte die anderen von der Klägerin installierten Bestandteile des Dokumenten Management Systems nutzbringend für sich verwerten könnte. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem, der dem Urteil des Bundesgerichtshofs in NJW 1990, 3011 zugrunde lag. In jenem Fall hat der Bundesgerichtshof das fehlende Interesse des Bestellers einer EDV-Anlage an der Gesamtleistung jedenfalls dann bejaht, wenn die ausgebliebene Software speziell auf die Zwecke des Bestellers zugeschnitten ist. Es kann also offen bleiben, ob dies auch bei einer Standardsoftware der Fall sein kann.“174 f) Unmöglichkeit der Beauftragung Dritter Schließlich liegt ein Interessewegfall vor, wenn die Beauftragung eines Dritten zur Erbringung der fehlenden Leistungen unmöglich ist. Die Unmöglichkeit der Beauftragung eines Dritten kann z.B. vorliegen, wenn der Auftraggeber oder der Dritte nicht über den Quellcode oder die Bearbeitungsrechte verfügen, um die ausstehende Teilleistung zu erbringen, oder diese nur vom Auftragnehmer erhältlich ist.175

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IV. Ausschluss des Rücktrittsrechts 1. Unerhebliche Pflichtverletzung (§ 323 Abs. 5 Satz 2) Nach Abs. 5 Satz 2 kann für den Fall, dass der Schuldner die Leistung zwar bewirkt hat, diese aber nicht 98 vertragsgemäß ist, der Gläubiger vom Vertrag nicht zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist. Für die Frage, wann eine bewirkte Leistung nicht vertragsgemäß ist, ist in erster Linie der konkrete Vertrag maßgeblich.176 Dies bestimmt sich nach den vertraglichen Vereinbarungen und nach den gesetzlichen Regelungen für die einzelnen Vertragsverhältnisse, also für den Kauf nach §§ 434, 435, für die Miete nach §§ 535, 536 und für den Werkvertrag nach § 633. Auch für andere Leistungspflichten, etwa für die Dienstpflicht des Dienstverpflichteten bestehen Anforderungen in der qualitativen Dimension.177 Trotz Ausschluss des Rücktrittsrechts nach Abs. 5 Satz 2 bleibt die Minderung möglich,

173 OLG Düsseldorf v. 14.3.2014 – I-22 U 134/13, CR 2015, 158, 161. 174 OLG Frankfurt v. 22.9.2010 – 4 U 52/10. 175 Vgl. OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 369 = ITRB 2014, 179; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 176 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 245. 177 MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 245.

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BGB § 323 Rz. 98 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung denn nach §§ 441 Abs. 1 Satz 2, 638 Abs. 1 Satz 2 findet der Ausschlussgrund des § 323 Abs. 5 Satz 2 keine Anwendung.178 99

Fehlende Mitwirkungshandlungen des Auftraggebers können den Auftragnehmer dann nicht zum Rücktritt berechtigen, wenn es sich lediglich um unerhebliche Pflichtverletzungen handelt, denn § 323 Abs. 5 Satz 2 wird auf den Fall der Nichterfüllung einer unerheblichen Nebenpflicht entsprechend angewandt.179

100

Die Beurteilung der Frage, ob eine Pflichtverletzung unerheblich i.S.d. § 323 Abs. 5 Satz 2 ist, erfordert eine umfassende Interessenabwägung auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls.180 Zeitlich ist hinsichtlich der Mangelhaftigkeit und der Unerheblichkeit auf den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung abzustellen.181 Ist zu diesem Zeitpunkt die Mangelursache trotz mehrerer vorausgegangener Reparaturversuche nicht bekannt und deswegen nicht absehbar, ob und mit welchem Aufwand der Mangel beseitigt werden kann, wird ein zum Zeitpunkt des Rücktritts erheblicher Mangel nicht zu einem geringfügigen Mangel, wenn sich nachträglich herausstellt, dass der Mangel mit verhältnismäßig geringem Aufwand behoben werden kann.182 Ein bei Rücktrittserklärung erheblicher Mangel wird nicht dadurch unerheblich, dass es im Verlauf der sich anschließenden Auseinandersetzung einem gerichtlich bestellten Sachverständigen gelingt, den Mangel zumindest provisorisch zu beseitigen.183

101

Bei der Bewertung, ob eine Pflichtverletzung nach § 323 Abs. 5 Satz 2 erheblich oder unerheblich ist, sind vor Abgabe der Rücktrittserklärung behobene Mängel im allgemeinen außer Betracht zu lassen; dies folgt als Gegenschluss dazu, dass bei der Interessenabwägung auf den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung abzustellen ist.184

102

Zu unterscheiden ist zunächst, ob der Mangel behebbar oder nicht behebbar ist. Bei einem behebbaren Mangel ist im Rahmen der nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmenden Interessenabwägung von einer Unerheblichkeit der Pflichtverletzung gem. Abs. 5 Satz 2 i.d.R. dann nicht mehr auszugehen, wenn der Mangelbeseitigungsaufwand mehr als 5 % des Kaufpreises beträgt.185 Bei einer Überschreitung dieser Schwelle müssten besondere Umstände vorliegen, die Anlass geben, den Mangel entgegen dieser Regel ausnahmsweise gleichwohl als unerheblich anzusehen.186 Bei einer Mehrheit von Mängeln kommt es auf die Gesamtausbildung an, so dass selbst bei Vorliegen mehrerer jeweils für sich unerheblicher und behebbarer Mängel ein Rücktrittsrecht gegeben sein kann.187

103

Für IT-Verträge bedeutet dies, dass ein Rücktrittsrecht i.d.R. dann ausgeschlossen ist, wenn der Mangel beseitigt werden kann und der Aufwand hierfür höchstens 5 % der vereinbarten Vergütung beträgt. Allerdings scheitert dieser Ansatz, wenn der Schuldner die Mangelbeseitigung abgelehnt hat oder dazu nicht in der Lage ist und der Gläubiger oder Dritte den Mangel nicht beheben können, wie es häufig bei der Softwareerstellung der Fall sein wird, wenn der Quellcode nicht übergeben wird. Dass der Käufer bzw. Besteller in einem solchen Falle zunächst den Objektcode zum Zwecke der Fehlerberichtigung nach §§ 69d Abs. 1, 69e UrhG vor Rücktrittserklärung untersuchen oder dekompilieren muss, weil auf Nachfrage weder Programmhersteller noch Lieferant eine Fehlerbeseitigung oder die zur Fehlerbeseitigung notwendigen Informationen anbieten,188 um zunächst festzustellen, ob der Aufwand zur Mangelbeseitigung die 5 %-Schwelle nicht übersteigt, um sodann je nach Ergebnis dieser Untersuchung den Rücktritt zu erklären oder hiervon aufgrund Abs. 5 Satz 2 abzusehen, wird man wohl nicht fordern dürfen. Auch bei IT-Projektverträgen wird ein Mangel, der mit einem Auf-

178 179 180 181 182 183 184 185 186 187

Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 20. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 803. BGH v. 28.5.2014 – VIII ZR 94/13, NJW 2014, 3229 = CR 2014, 573 = ITRB 2014, 224. BGH v. 28.5.2014 – VIII ZR 94/13, NJW 2014, 3229 = CR 2014, 573 = ITRB 2014, 224. BGH v. 15.6.2011 – VIII ZR 139/09, NJW 2011, 3708. BGH v. 5.11.2008 – VIII ZR 166/07, NJW 2009, 508. BGH v. 4.2.2016 – IX ZR 133/15, CR 2016, 356. BGH v. 28.5.2014 – VIII ZR 94/13, NJW 2014, 3229, 3231 = CR 2014, 573 = ITRB 2014, 224. BGH v. 28.5.2014 – VIII ZR 94/13, NJW 2014, 3229, 3233 f. = CR 2014, 573 = ITRB 2014, 224. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 32; a.A. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 250, der bei mehreren Mängeln vom Grundsatz der Einzelbetrachtung ausgeht. 188 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69d UrhG Rz. 26.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 110 § 323 BGB

wand von höchstens 5 % der vereinbarten Vergütung behoben werden kann, die Ausnahme sein, so dass ein Totalrücktritt selten an Abs. 5 Satz 2 scheitern wird. Bei einem unbehebbaren Mangel, mit dem der Käufer bzw. Besteller also dauerhaft leben muss, wird 104 grundsätzlich von der Erheblichkeit auszugehen sein, es sei denn, die Gebrauchstauglichkeit wird nicht berührt und der Mangel kann im Wege der Minderung bzw. des „kleinen“ Schadensersatzes hinreichend ausglichen werden.189 Bei IT-Verträgen sind unbehebbare und gleichermaßen unerhebliche Mängel allenfalls bei einer Abweichung von der vereinbarten Spezifikation denkbar, die lediglich das Design, aber nicht die Funktionalität der Anwendung betrifft, wie z.B. eine runde anstelle einer eckigen Schaltfläche, die nicht umprogrammiert werden kann. Die Erheblichkeit wird durch den Verstoß gegen eine Beschaffenheitsvereinbarung oder den Mangel ei- 105 nes für den Gläubiger wesentlichen Qualitätsaspekts indiziert.190 Bei IT-Verträgen hat hiernach die Softwarespezifikation oder das Pflichtenheft maßgebliche Bedeutung, ggf. aber auch die Präambel des Vertrages, wenn hierin die für den Auftraggeber wesentlichen Erwartungen an die Geeignetheit und Gebrauchstauglichkeit beschrieben werden. Der Bagatelleinwand greift nicht bei Arglist, so dass keine Unerheblichkeit der Pflichtverletzung vorliegt, wenn der Auftragnehmer über das Vorhandensein eines Mangels arglistig getäuscht bzw. diesen arglistig verschwiegen hat.191

106

Ein Rücktrittsrecht steht wegen Abs. 5 Satz 2 dann nicht zu, wenn ein Mangel innerhalb kurzer Zeit 107 von selbst verschwindet oder ohne besonderen Aufwand vom Gläubiger selbst behoben werden kann oder wenn der Mangel nach einer nicht vollständig gelungenen Nachbesserung unerheblich geworden ist.192 Diese Konstellationen sind auch bei IT-Verträgen denkbar, etwa wenn der Auftraggeber durch die Änderung von Einstellungen einen Mangel beheben kann oder der Auftragnehmer eine Umgehungslösung („work around“) vorgenommen hat, bei welcher der Mangel zwar weiter besteht, sich aber aufgrund anderer Bedienung oder Konfiguration der Software nicht mehr auswirken kann.193 Sollte trotz der Bestimmung des Mangels durch den Gläubiger für den Schuldner dessen Erheblichkeit 108 nicht offenkundig sein, muss der Gläubiger den Schuldner bei der Fristsetzung zur Nacherfüllung darüber aufklären, dass der Mangel – entgegen dem ersten Anschein – für ihn erheblich und daher möglicher Grund für einen Totalrücktritt ist, andernfalls ist der Totalrücktritt ausgeschlossen.194 Die Beweislast dafür, dass der Mangel unerheblich ist, trägt nach § 323 Abs. 5 Satz 2 der Schuldner, also der Rücktrittsgegner.195

109

2. Überwiegende Verantwortlichkeit des Gläubigers (§ 323 Abs. 6, 1. Alt.) Nach Abs. 6, 1. Alt. ist der Rücktritt ausgeschlossen, wenn der Gläubiger für den Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigen würde, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist. Anders als beim Schadensersatzanspruch statt der Leistung (§ 281), bei dem die Mitverantwortlichkeit des Gläubigers gem. § 254 über eine Kürzung des Anspruchs angemessen berücksichtigt werden kann, ist eine solche flexible Lösung beim Rücktritt nicht möglich, denn entweder ist der Gläubiger zum Rücktritt berechtigt, oder das Rücktrittsrecht ist ausgeschlossen und er ist an den Vertrag und an die Verpflichtung zur Gegenleistung gebunden.196 Das Rücktrittsrecht ist hiernach ausgeschlossen, wenn der Gläubiger die rechtzeitige Bewirkung (oder Nachbewirkung) der vollständigen und mangelfreien Leistung verhindert, ohne diese endgültig unmöglich zu machen.197

189 190 191 192 193 194 195 196 197

MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 251. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 32; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 249. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 48. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 32. Auer-Reinsdorff/Conrad/Wiesemann, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 24 Rz. 158; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. X Rz. 56. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 264. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 254. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 269.

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BGB § 323 Rz. 111 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung 111

Für den Ausschluss des Rücktrittsrechts wird eine Verantwortungsquote des Gläubigers von mindestens 80 % bis 90 % gefordert.198 Dies kann der Fall sein, wenn die verspätete oder mangelhafte Leistung des Schuldners vor allem darauf zurückzuführen ist, dass der Gläubiger Mitwirkungspflichten verletzt hat, indem er die von ihm geschuldeten Informationen viel zu spät oder unrichtig erteilt hat.199 Die Verletzung von Mitwirkungspflichten des Gläubigers muss mit der Pflichtverletzung des Schuldners in innerem Zusammenhang stehen.200 Auf der anderen Seite greift Abs. 6, 1. Alt. bei Verletzung einer bloßen Obliegenheit nicht ein.201 Bei IT-Projektverträgen sind Mitwirkungspflichten nach § 642 i.d.R. nicht als bloße Obliegenheiten zu qualifizieren, so dass ein Besteller, der eine Mitwirkungspflicht in einem IT-Projekt nicht erbringt, nicht vom Vertrag zurücktreten kann.202

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Insb. bei IT-Projektverträgen sind die Mitwirkungsleistungen des Gläubigers für den Projekterfolg von erheblicher Bedeutung. Diese reichen von der Gewährung des Zugriffs auf die IT-Infrastruktur des Auftraggebers über die rechtzeitige Beistellung von Lizenzen bis zur Bereitstellung ausreichend qualifizierter und verfügbarer Ansprechpartner und Entscheidungsträger auf Seiten des Auftraggebers.203 Fehlen diesbezügliche vertragliche Regelungen zur Mitwirkung, handelt es sich nur um Obliegenheiten des Kunden, nicht um Hauptpflichten.204

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Ist der Auftragnehmer zur Erbringung seiner Leistungen auf den Zugang zu den Räumen des Auftraggebers und den Zugriff auf den dortigen Datenbestand bzw. die dortige Hardware angewiesen, muss er den Auftraggeber hierauf unbedingt hinweisen, um später die Voraussetzungen des § 323 Abs. 6, 1. Alt. schlüssig vortragen zu können.205

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Es liegt nicht im Verantwortungsbereich des Gläubigers, sondern dem des Schuldners, wenn eine Drittsoftware, die im Rahmen eines Vertrages über die Installation und Anpassung eines Softwaresystems installiert werden soll, seitens des Drittanbieters nicht verfügbar ist, denn den Schuldner einer Gattungsschuld trifft nach dem Zusammenhang der Regelungen der §§ 275, 326 Abs. 2 Satz 1 und 2 grundsätzlich das Risiko der Beschaffung des Leistungsgegenstands am Markt.206 Das Rücktrittsrecht ist in diesem Falle nicht nach § 323 Abs. 6 ausgeschlossen. 3. Vertragsuntreue des Gläubigers

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Das Rücktrittsrecht ist auch dann – zumindest nach § 242 – ausgeschlossen, wenn dem Gläubiger mangelnde Vertragstreue vorzuwerfen ist.207 Dies beruht auf einer verbreiteten Meinung zu § 326 a.F., wonach die Rechte aus § 326 a.F. grundsätzlich nur dem selbst vertragstreuen Gläubiger zustanden,208 und kann z.B. vorliegen, wenn der Gläubiger sich vom Vertrag losgesagt oder sich vorsätzlich außerstande gesetzt hat, die Leistung entgegenzunehmen.209 Bei IT-Verträgen könnte die letztgenannte Fallkonstellation etwa vorliegen, wenn der Auftraggeber die Systemumgebung, auf der die zu erstellende Software implementiert werden soll, einseitig dergestalt geändert hat, dass die vom Auftragnehmer zu erstellende Software dort nicht mehr zur Durchführung der Abnahme installiert werden kann. 4. Annahmeverzug des Gläubigers (§ 323 Abs. 6, 2. Alt.)

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Nach Abs. 6, 2. Alt. ist der Rücktritt ausgeschlossen, wenn der vom Schuldner nicht zu vertretende Umstand, der den Gläubiger zum Rücktritt berechtigen würde, zu einer Zeit eintritt, zu welcher der Gläubiger im Verzug der Annahme ist. Hiernach muss sich zum einen der Gläubiger im Annahme198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

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Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 30. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29. Schuster, CR 2016, 627, 634; ebenso Kapellmann, NZBau 2011, 193, 196, 198 bzgl. Bauverträgen. Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 161 ff. Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 55. OLG Hamburg v. 16.8.2013 – 9 U 41/11, CR 2013, 697, 699. OLG Frankfurt v. 22.9.2010 – 4 U 52/10. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29; MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 268. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 286. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 29.

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Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung

Rz. 121 § 323 BGB

verzug befunden haben, als der zum Rücktritt berechtigende Umstand eintrat, und zum anderen darf der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten haben.210 Grundsätzlich ist der Gläubiger nach § 323 auch dann zum Rücktritt berechtigt, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat,211 im Falle des Annahmeverzugs des Gläubigers aber nur dann, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Im Falle einer Berufung auf Abs. 6, 2. Alt. muss der Schuldner den Entlastungsbeweis führen.212 Ihm kommt hierbei die Haftungserleichterung nach § 300 Abs. 1 zugute, so dass das Rücktrittsrecht bei Annahmeverzug des Gläubigers auch dann entfällt, wenn die Leistungsstörung vom Schuldner leicht fahrlässig verursacht worden ist.213

V. Abdingbarkeit 1. Parteivereinbarung § 323 ist – außer im Falle des Verbrauchsgüterkaufs – dispositiv, so dass er durch Individualvereinbarungen grundsätzlich in jeder Hinsicht abgeändert werden kann; insb. kann namentlich das Erfordernis einer Nachfristsetzung beseitigt oder schon von vornherein im Vertrag die Nachfrist bestimmt werden.214 Im Falle eines Rücktritts wegen Mangelhaftigkeit beim Verbrauchsgüterkauf steht § 475 einer Erschwerung der gesetzlichen Rücktrittsvoraussetzungen entgegen.215

117

Insb. bei Verträgen zur Softwareerstellung sowie bei IT-Projektverträgen werden häufig die Modalitäten der Nachbesserung vertraglich geregelt und hierbei insb. bestimmt, innerhalb welcher Fristen Fehlerbehebung vorzunehmen sind und wie viele Nachbesserungsversuche dem Auftragnehmer zustehen. Im Kaufrecht gilt nach § 440 Satz 2 eine Nachbesserung nach dem erfolglosen zweiten Versuch als fehlgeschlagen, wenn sich nicht insb. aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen etwas anderes ergibt. Zwar sieht das Werkvertragsrecht in § 636 keine entsprechende Regelung vor, doch bietet sie für den Regelfall einen Anhalt,216 so dass sich generell eine vertragliche Festlegung der dem Auftragnehmer zustehenden Nachbesserungsversuche empfiehlt.

118

2. AGB § 323 ist nicht zwingend, jedoch Leitbild i.S.v. § 307 Abs. 2 Nr. 1, so dass Änderungen durch AGB den Beschränkungen der §§ 307 ff. unterliegen.217

119

So können durch AGB und im Verbrauchervertrag das Erfordernis der Fristsetzung nicht (§ 309 Nr. 4) und die Rechte des Gläubigers nur sehr eingeschränkt (§ 309 Nr. 8) zum Nachteil des Kunden/Verbrauchers abbedungen werden.218 Bzgl. der Formerfordernisse für die Rücktrittserklärung ist § 309 Nr. 13 einschlägig. Nach § 308 Nr. 3 ist die formularmäßige Begründung eines Rücktrittsrechts nur wirksam, wenn der Rücktrittsgrund im Vertrag angegeben wird und sachlich gerechtfertigt ist.219

120

Durch die Angabe, dass die Lieferzeit „in der Regel 1-2 Tage“ bei Versand mit einem näher bezeichneten Kurierdienst betrage, ist für den Kunden nicht für alle Fälle mit hinreichender Genauigkeit bestimmbar, wann er dem Verwender eine Nachfrist zur Leistung oder Nacherfüllung setzen und die wei-

121

210 211 212 213 214

215 216 217 218 219

Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 31. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 31. Erman/Westermann, § 323 BGB Rz. 31. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 277; so hatten in BGH v. 28.6.1994 – X ZR 95/92, CR 1995, 265 die Parteien vereinbart, dass für den Fall, dass der Termin für die Gesamtabnahme nicht eingehalten werde, der Auftraggeber eine Nachfrist von vier Wochen setzen und nach deren Ablauf Erfüllung des Vertrages ablehnen und Ersatz des durch die Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen könne. MünchKomm/Ernst, § 323 BGB Rz. 277. Palandt/Sprau, § 636 BGB Rz. 15. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 2; Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 2 f. Jauernig/Stadler, § 323 BGB Rz. 2 f.; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke „Rücktrittsvorbehalt“ Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 323 BGB Rz. 2; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke „Rücktrittsvorbehalt“ Rz. 22.

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BGB § 323 Rz. 121 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung teren Maßnahmen treffen kann, derer es bedarf, um gem. § 323 Abs. 1 vom Vertrag zurückzutreten oder Schadensersatz statt der Leistung verlangen zu können, so dass eine Belehrung über Lieferfristen in Verbraucher-AGB, ohne eine Endfrist zu benennen, unwirksam ist.220

§ 324 Rücktritt wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 Verletzt der Schuldner bei einem gegenseitigen Vertrag eine Pflicht nach § 241 Abs. 2, so kann der Gläubiger zurücktreten, wenn ihm ein Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2

III. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

1. Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 9 12

Literatur: Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Schuster/ Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil I: vorvertragliche Beratungspflichten, CR 2015, 209.

I. Allgemeines 1

§ 324 beruht auf dem Rechtsgedanken, dass ein Rücktrittsrecht auch auf einer durch eine Pflichtverletzung verursachten Gefährdung des Vertragszwecks beruhen kann, aufgrund derer dem Gläubiger ein Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten ist.1 Neben dem Schadensersatzanspruch nach § 282 steht dem Gläubiger im Falle einer solchen Pflichtverletzung nach § 324 zusätzlich das Recht zu, vom Vertrag zurückzutreten, wobei das Rücktrittsrecht auch besteht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.2 Eine Nachfristsetzung kommt nach § 324 nicht in Betracht.3

II. Anwendbarkeit 2

§ 324 erfasst solche Pflichtverletzungen aus gegenseitigen Verträgen, die nicht leistungsbezogen sind, also Schutz- und Obhutspflichten.4 Der Gläubiger erhält zwar die ihm geschuldete Leistung korrekt, es kann ihm jedoch wegen der Verletzung einer nicht leistungsbezogenen Verhaltenspflicht durch den Schuldner nicht zugemutet werden, diese Leistung entgegenzunehmen.5 Die Störungen i.S.d. § 324 betreffen somit das Verhältnis der Vertragsparteien als Personen, nicht dagegen die von ihnen zu erbringenden Leistungen.6

3

§ 323 und § 324 sind nebeneinander anwendbar, doch häufig wird es so sein, dass der Schuldner, der eine Pflicht aus § 241 Abs. 2 verletzt, auch nicht vertragsgemäß i.S.d. § 323 Abs. 1 leistet, so dass es offenbleiben kann, welche der beiden Vorschriften Grundlage des Rücktritts ist.7

220 1 2 3 4 5 6 7

698

OLG Bremen v. 8.9.2009 – 2 W 55/09, CR 2010, 533 = ITRB 2010, 181. Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 1; MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 11. Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 1. Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 1. Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 1; Jauernig/Stadler, § 324 BGB Rz. 3. MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 1.

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Rücktritt wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2

Rz. 7 § 324 BGB

§ 324 gilt für alle gegenseitigen Verträge, doch bei Dauerschuldverhältnissen tritt an die Stelle des 4 Rücktritts die Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314.8 Fraglich ist, ob ein Anwendungsvorrang des § 314 besteht, oder ob § 324 neben § 314 angewandt werden kann. Da es sich bei § 314 um eine mit § 324 verwandte Regelung handelt, werden regelmäßig die Voraussetzungen für das Kündigungsrecht nach § 314 und das Rücktrittsrecht nach § 324 gleichzeitig gegeben (oder gleichzeitig zu verneinen) sein.9 Allerdings wirkt die Kündigung in die Zukunft (ex nunc), der Rücktritt stattdessen rückwirkend (ex tunc), so dass ebenso wie bei § 323 bei vollzogenen Dauerschuldverhältnissen an die Stelle des Rücktrittsrechts das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund tritt.10

III. Norminhalt 1. Pflichtverletzung Zu den schuldrechtlichen Nebenpflichten i.S.d. § 241 Abs. 2 gehören nicht nur die Rücksichtnahmeund Schutzpflichten im engeren Sinne, sondern alle über die Leistung hinausgehenden weiteren Verhaltenspflichten des Schuldners. Der Schuldner hat hiernach insb. solche Verhaltensweisen zu unterlassen, die den Vertragszweck, die Vertragsdurchführung oder das notwendige Vertrauen der Vertragsbeteiligten beeinträchtigen.11 Eine solche Nebenpflichtverletzung kann vorliegen, wenn ein Softwarelieferant in Verkennung der Rechtslage seine vertragliche Leistungspflicht zur Rechteeinräumung in Abrede stellt.12

5

Bei IT-Verträgen lässt sich eine vorvertragliche Beratungspflicht als Nebenpflicht nach § 241 Abs. 2 und somit im Falle der Verletzung ein Rücktrittsrecht nach § 324 bejahen, wenn zwischen den Parteien ein Wissensgefälle besteht, dieses für die wissende Partei erkennbar und für die nichtwissende Partei entscheidungserheblich ist, die nichtwissende Partei schutzwürdig ist und im Rahmen einer Abwägung der Risikoverteilung die Informationsweitergabe zumutbar ist.13 So darf im Rahmen eines Softwareerstellungsvertrages der Werkunternehmer den vom Besteller stammenden Entwurf und dessen Planung nicht unbesehen ausführen, sondern ist vielmehr gehalten, sie mit dem von ihm nach dem Gegenstand des Vertrages erwarteten Fachwissen zu überprüfen und den Besteller ggf. auf mögliche Bedenken hinzuweisen; versäumt er diese Pflicht, ist er dafür verantwortlich, wenn der Software die Eignung für die individuellen Bedürfnisse des Bestellers fehlt.14 Bei einem Vertrag auf Umstellung einer stark überalterten Software auf eine moderne IT-Lösung im laufenden Geschäftsbetrieb besteht auf Seiten des Auftraggebers ein hohes Informations- und Beratungserfordernis; hier ist es Sache des Auftragnehmers, den – zumeist weniger fachkundigen – Kunden auf die sich bei Nutzung erworbener Software für den Betrieb des Auftraggebers ergebenden Konsequenzen und damit die konkrete Tauglichkeit des Produkts hinzuweisen und sich hierzu entweder selbst ein Bild über die zu bewältigenden innerbetrieblichen Aufgaben zu machen oder den Auftraggeber auf die Notwendigkeit anderweitiger Beratung hinzuweisen.15

6

Wird der Auftragnehmer dem nicht gerecht, so haftet er – unabhängig davon, ob auch ein Sachman- 7 gel vorliegt – aus (vor-)vertraglichem Informations- oder Beratungsverschulden, und dies kann, sofern der Vertrag bereits geschlossen wurde und die Verletzung der vorvertraglichen Pflicht erst nach Vertragsschluss aufgedeckt wird, zu einem Rücktrittsrecht des Auftraggebers nach § 324 bzw. vor Vertragsschluss zu einem Recht des Auftraggebers zum Abbruch der Vertragsverhandlungen führen.16 8 Jauernig/Stadler, § 324 BGB Rz. 2 f. 9 MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 3. 10 Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 2, § 323 BGB Rz. 4; OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 424, 425; Schuster, CR 2011, 215, 219; zur Abgrenzung zwischen Rücktrittsrecht und Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 vgl. § 323 Rz. 9 ff. 11 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, NJW-RR 2013, 1136, 1138 = CR 2013, 214. 12 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, NJW-RR 2013, 1136, 1138 = CR 2013, 214. 13 Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 211 ff. 14 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 292. 15 OLG Schleswig v. 3.6.2016 – 17 U 49/15, CR 2017, 83, 85. 16 OLG Schleswig v. 3.6.2016 – 17 U 49/15, CR 2017, 83; Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 4; MünchKomm/ Ernst, § 324 BGB Rz. 6; a.A. Jauernig/Stadler, § 324 BGB Rz. 4, wonach vom Schuldner nicht zu vertretende

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BGB § 324 Rz. 8 Rücktritt wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 8

Als weitere Beispiele für eine Pflichtverletzung nach § 324 werden die Beschädigung des Eigentums des Gläubigers bei der Vertragsdurchführung, Beleidigungen und Kränkungen oder erhebliche Unannehmlichkeiten bei der Nachbesserung genannt.17 Alle diese Pflichtverletzungen können auch bei IT-Verträgen auftreten. So kann es sein, dass die IT-Infrastruktur des Auftraggebers durch den Auftragnehmer beschädigt wird, dass es im Rahmen der Projektarbeit zu Auseinandersetzungen auf der persönlichen Ebene kommt oder dass Nachbesserungen zu einer erheblichen Störung des Geschäftsbetriebs des Auftraggebers führen. 2. Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag

9

Die Pflichtverletzung muss unzumutbar sein, d.h. dem Gläubiger ist das Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten.18 Die Unzumutbarkeit setzt i.d.R. voraus, dass der Schuldner abgemahnt worden ist, wobei die Abmahnung allerdings bei besonders schweren Vertrauensbrüchen entbehrlich ist.19

10

Zur Feststellung, ob die Pflichtverletzung eine Unzumutbarkeit i.S.d. § 324 begründet, sind in jedem Einzelfall die beiderseitigen Interessen abzuwägen, wobei entsprechend dem Ausnahmecharakter des Rücktrittsrechts des § 324, das ohne Verletzung des eigentlichen Leistungsinteresses entsteht, hohe Anforderungen zu stellen sind.20

11

Eine Störung des Leistungsinteresses, die als solche von § 323 erfasst wird, kann zugleich eine Unzumutbarkeit nach § 324 begründen, indem sie das Vertrauen in die Fähigkeit des Schuldners zur korrekten Vertragsdurchführung restlos zerstört, was insb. dann der Fall ist, wenn eine Häufung von Verletzungen des Leistungsinteresses zusammen genommen diese Wirkung hat.21 In diesen Fällen sind § 323, wonach jede Störung einzeln betrachtet und ggf. eine Nachfrist gesetzt werden muss, und § 324 nebeneinander anwendbar.22 Bei IT-Verträgen kann eine solche Situation etwa vorliegen, wenn eine Software oder ein IT-Projekt eine Vielzahl kleinerer Fehler haben, die jeder für sich einzeln behoben werden können, aber das Vertrauen des Auftraggebers darin erschüttert ist, dass die Software bzw. das IT-Projekt schließlich störungsfrei laufen werden. 3. Rechtsfolgen

12

Der Gläubiger kann, muss aber nicht vom Vertrag zurücktreten.23 Nimmt der Gläubiger nach der Pflichtverletzung weitere Leistungen entgegen, verliert er i.d.R. nach § 242 sein Rücktrittsrecht.24

13

§ 324 regelt nicht den Fall, dass die Unzumutbarkeit des Leistungsempfangs eintritt, nachdem bereits ein Teil der Leistung erbracht worden ist. Da nach § 324 dem Gläubiger lediglich die Fortsetzung des Schuldverhältnisses und die Annahme der Leistung von seinem Schuldner nicht mehr zugemutet werden kann, wird bei § 324 der Rücktritt in diesem Fall i.d.R. ein Teilrücktritt für die noch nicht erbrachten Leistungsteile sein, es sei denn, der Gläubiger hat unter entsprechender Anwendung des § 323 Abs. 5 Satz 1 an den erbrachten Leistungen kein Interesse mehr.25

17 18 19 20 21 22 23 24 25

vorvertragliche (Aufklärungs-)Pflichtverletzungen den Gläubiger nicht zum Rücktritt nach § 324 berechtigen. Jauernig/Stadler, § 324 BGB Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 4; MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 7. Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 4; Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 7. MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 7. MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 2. MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 2. Erman/Westermann, § 324 BGB Rz. 8. Palandt/Grüneberg, § 324 BGB Rz. 5; MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 18. MünchKomm/Ernst, § 324 BGB Rz. 14; vgl. § 323 Rz. 86.

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Schadensersatz und Rücktritt

Rz. 6 § 325 BGB

§ 325 Schadensersatz und Rücktritt Das Recht, bei einem gegenseitigen Vertrag Schadensersatz zu verlangen, wird durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Literatur: Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215

I. Allgemeines Nach § 325 kann der Gläubiger Rücktritt und Schadensersatz miteinander kombinieren.1

1

Zwar kann der erklärte Rücktritt als Gestaltungsrecht nicht widerrufen werden, mit der Folge, dass die Erfüllungsansprüche erlöschen, doch hindert ein ggf. voreilig erklärter Rücktritt den Gläubiger nicht daran, Schadensersatz zu verlangen.2 Umgekehrt kann der Gläubiger, der bei Fälligkeit keine oder eine nur mangelhafte Leistung erhalten und deshalb zunächst (nur) Schadensersatzansprüche geltend gemacht hat, später dennoch vom Vertrag zurücktreten (sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für den Rücktritt nach § 323 vorliegen).3 Hat der Gläubiger zunächst Schadensersatz statt der Leistung im vollen Umfang, also nach der Surrogationsmethode, verlangt (und von der Erklärung des Rücktritts abgesehen), so kann er später noch durch Erklärung des Rücktritts zur Differenzmethode überwechseln; hat der Gläubiger zunächst nur den Rücktritt erklärt, kann er jederzeit noch zusätzlich Schadensersatz statt der Leistung nach der Differenzmethode verlangen.4

2

II. Norminhalt Das Nebeneinander von Rücktritt und Schadensersatz wird nicht auf bestimmte Arten von Schadens- 3 ersatzansprüchen beschränkt, sondern gilt für alle auf Schadensersatz gehenden Forderungen wie den Schadensersatz „statt der Leistung“ wegen Nicht- oder Schlechterfüllung, Schadensersatzansprüche wegen Verursachung eines Mangelfolgeschadens und der Verletzung von Nebenpflichten.5 Der Rücktritt lässt auch § 284 unberührt, so dass der Gläubiger Aufwendungsersatz wie insb. Erstattung der Vertragskosten geltend machen kann.6 Zudem kann der Gläubiger trotz Rücktritt den bis zum Rücktritt entstandenen Verzögerungsschaden ersetzt verlangen.7

4

Da es für die Bestimmung des ersatzfähigen Schadens auf einen Gesamtvermögensvergleich ankommt, hat die Ausübung des Rücktrittsrechts Einfluss auf die Schadensbestimmung.8 Bei der Schadensermittlung ist der durch Rücktritt erfolgte Wegfall der Gegenleistungspflicht im Rahmen der schadensrechtlichen Differenzhypothese zu berücksichtigen; in die Differenz ist einzustellen, was der Gläubiger aufgrund des Rücktritts erhält.9

5

Relevant wird das Nebeneinander von Schadensersatz und Rücktritt insb. im Falle eines Rücktritts durch den Auftraggeber von einem IT-Projektvertrag oder Systemvertrag wegen Nichtleistung oder Schlechtleistung des Auftragnehmers (vgl. hierzu § 323 Rz. 17 ff.). Neben der Rückforderung bereits

6

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Palandt/Grüneberg, § 325 BGB Rz. 1; MünchKomm/Ernst, § 325 BGB Rz. 1. Jauernig/Stadler, § 325 BGB Rz. 2. Erman/Westermann, § 325 BGB Rz. 2 und 4. MünchKomm/Ernst, § 325 BGB Rz. 23. Erman/Westermann, § 325 BGB Rz. 3. BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04, NJW 2005, 2848; Jauernig/Stadler, § 325 BGB Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 325 BGB Rz. 3; Erman/Westermann, § 325 BGB Rz. 3. MünchKomm/Ernst, § 325 BGB Rz. 3. Jauernig/Stadler, § 325 BGB Rz. 3.

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BGB § 325 Rz. 6 Schadensersatz und Rücktritt gezahlter Vergütung nach § 346 Abs. 1 kann der Auftraggeber als Schadensersatzpositionen ggf. Aufwendungsersatz für nunmehr nutzlose Lizenzen, Schadensersatz für entgangenen Gewinn, Schäden, die im Rahmen der Rückabwicklung entstanden sind, und Kosten des Deckungsgeschäfts geltend machen.10 Der Rücktritt kann insofern die teuerste Variante für den Schuldner sein, insb. dann, wenn der Schuldner in erhebliche Vorleistungen gegangen ist oder der Gläubiger der Abschreibung unterfallende Wirtschaftsgüter erworben hat, denn dann sind erhebliche Anteile der Vergütung zurückzugewähren.11 Anders als beim Rücktritt, zu dem der Gläubiger auch dann berechtigt ist, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat, muss hinsichtlich des Schadensersatzanspruchs jedoch ein Vertretenmüssen des Schuldners vorliegen.12

III. Abdingbarkeit 7

§ 325 ist dispositives Recht, sodass die Parteien etwas anderes vereinbaren können.13 Sofern hierbei allerdings das Rücktrittsrecht (vgl. hierzu § 323 Rz. 119) oder der Schadensersatzanspruch durch Allgemeine Geschäftsbedingungen beschränkt wird, wird auf §§ 307, 309 Nrn. 7 und 8 verwiesen.

§ 326 Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt beim Ausschluss der Leistungspflicht (1) Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, entfällt der Anspruch auf die Gegenleistung; bei einer Teilleistung findet § 441 Abs. 3 entsprechende Anwendung. Satz 1 gilt nicht, wenn der Schuldner im Falle der nicht vertragsgemäßen Leistung die Nacherfüllung nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu erbringen braucht. (2) Ist der Gläubiger für den Umstand, auf Grund dessen der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten braucht, allein oder weit überwiegend verantwortlich oder tritt dieser vom Schuldner nicht zu vertretende Umstand zu einer Zeit ein, zu welcher der Gläubiger im Verzug der Annahme ist, so behält der Schuldner den Anspruch auf die Gegenleistung. Er muss sich jedoch dasjenige anrechnen lassen, was er infolge der Befreiung von der Leistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. (3) Verlangt der Gläubiger nach § 285 Herausgabe des für den geschuldeten Gegenstand erlangten Ersatzes oder Abtretung des Ersatzanspruchs, so bleibt er zur Gegenleistung verpflichtet. Diese mindert sich jedoch nach Maßgabe des § 441 Abs. 3 insoweit, als der Wert des Ersatzes oder des Ersatzanspruchs hinter dem Wert der geschuldeten Leistung zurückbleibt. (4) Soweit die nach dieser Vorschrift nicht geschuldete Gegenleistung bewirkt ist, kann das Geleistete nach den §§ 346 bis 348 zurückgefordert werden. (5) Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, kann der Gläubiger zurücktreten; auf den Rücktritt findet § 323 mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass die Fristsetzung entbehrlich ist. I. 1. 2. 3.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahrtragungsregel des § 326 Abs. 1 . . . . . Ausnahme des § 326 Abs. 2 . . . . . . . . . . . Gegenleistungspflicht bei Surrogat nach § 326 Abs. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rückzahlungsverpflichtung nach § 326 Abs. 4 10 11 12 13

1 2 3 4 5

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sonderregelungen bei Kauf- und Werkverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wegfall der Gegenleistungspflicht bei Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 1) . . . . . . a) Objektive Unmöglichkeit . . . . . . .

Palandt/Grüneberg, § 325 BGB Rz. 1; Jauernig/Stadler, § 325 BGB Rz. 3 f. Schuster, CR 2011, 215, 219. Erman/Westermann, § 325 BGB Rz. 2. MünchKomm/Ernst, § 325 BGB Rz. 36.

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. . .

6

. . .

7

. . . . . .

9 10

Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt b) Subjektive Unmöglichkeit (Unvermögen) c) Teilunmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . d) Qualitative Unmöglichkeit . . . . . . . . . 3. Aufrechterhaltung der Gegenleistungspflicht (§ 326 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verantwortlichkeit des Gläubigers . . . . .

. 16 . 17 . 19 . 21 . 21

Rz. 5 § 326 BGB

b) Annahmeverzug des Gläubigers . . . . . . . 23 4. Rücktrittsrecht bei Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

I. Allgemeines § 326 Abs. 1 bis 4 regelt das Schicksal der Gegenleistung, wenn der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten braucht.1 Ergänzend zu der an sich ipso iure eintretenden Befreiung von der Gegenleistungspflicht gewährt § 326 Abs. 5 dem Gläubiger zusätzlich die Befugnis, vom Vertrag zurückzutreten.2

1

1. Gefahrtragungsregel des § 326 Abs. 1 § 326 Abs. 1 enthält eine Gefahrtragungsregel, wonach der Schuldner die Vergütungsgefahr trägt, wenn er nach § 275 von seiner Leistungspflicht befreit ist.3 Dies ist Ausdruck der synallagmatischen Verknüpfung der unmöglich gewordenen Leistungspflicht mit der Gegenleistungspflicht. Wird der Schuldner von einer synallagmatischen Leistungspflicht frei, verliert er nach § 326 Abs. 1 den Anspruch auf die Gegenleistung.4

2

2. Ausnahme des § 326 Abs. 2 § 326 Abs. 2 stellt hiervon eine Ausnahme dar und regelt, dass der Gläubiger sich so behandeln lassen 3 muss, wie wenn der Schuldner erfüllt habe, wenn er den Wegfall der Leistungspflicht zu vertreten hat oder er sich bei Eintritt des Umstands nach § 275 Abs. 1 bis 3 im Annahmeverzug befindet, d.h. die Gegenleistungspflicht des Gläubigers bleibt bestehen.5 3. Gegenleistungspflicht bei Surrogat nach § 326 Abs. 3 § 326 Abs. 3 betrifft den Fall, dass der Schuldner ein Surrogat der unmöglich gewordenen Leistung 4 erlangt, hinsichtlich dessen der Gläubiger nach § 285 Herausgabe verlangt. Macht der Gläubiger von diesem Recht Gebrauch, bleibt er nach § 326 Abs. 3 Satz 1 zur Gegenleistung verpflichtet. Hat das Surrogat einen geringeren Wert als der ursprüngliche Leistungsgegenstand, vermindert sich die Gegenleistung im Wertverhältnis zwischen Surrogat und unmöglich gewordener Leistung.6 4. Rückzahlungsverpflichtung nach § 326 Abs. 4 Wird der Gläubiger nach § 326 Abs. 1 Satz 1 von der Gegenleistungspflicht frei, so kann er nach § 326 5 Abs. 4 bereits erbrachte Leistungen nach den Rücktrittsvorschriften (§§ 346 bis 348) zurückverlangen.7 Gem. § 326 Abs. 4 ist der Kaufpreis nach Maßgabe der Vorschriften über den Rücktritt bei bestehender Unmöglichkeit zurückzuzahlen, wenn der Verkäufer die Kaufsache nach § 326 Abs. 1 bis 3, § 275 nicht mehr zu liefern und zu übereignen braucht (§ 326 Abs. 1) und der Käufer dafür nicht verantwortlich ist (§ 326 Abs. 2 Satz 1).8 Solche Fälle sind bei IT-Verträgen vor allem in Bezug auf bereits konkretisier-

1 2 3 4 5 6 7 8

Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 1 und 18; MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 1. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 4. Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 2. Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 16. Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 1. BGH v. 14.12.2016 – V ZR 254/15.

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BGB § 326 Rz. 5 Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt te Hardware denkbar, die vor Lieferung untergeht und für die der Käufer bereits eine Anzahlung geleistet hat.

II. Norminhalt 6

§ 326 gilt grundsätzlich für alle gegenseitigen Verträge und regelt für diese, dass der Gläubiger einer Vertragsleistung zwar nach § 275 die Leistungsgefahr trägt, und zwar auch dann, wenn der Schuldner die Störung zu vertreten hat, wohingegen der Schuldner nach § 326 Abs. 1 die Preisgefahr einschließlich des Investitionsrisikos trägt.9 1. Sonderregelungen bei Kauf- und Werkverträgen

7

Allerdings sind für Kauf- und Werkverträge die Sonderregelungen über den Gefahrübergang der §§ 446, 447, 644 und 645 zu beachten.10 So geht im Werkvertragsrecht die Sondervorschrift des § 645 in ihrem Anwendungsbereich den §§ 323 ff. vor, § 326 Abs. 2 bleibt aber wegen § 645 Abs. 2 im Falle der vom Besteller verschuldeten Unmöglichkeit anwendbar.11

8

§ 645 kann etwa bei dem Werkvertragsrecht unterliegenden Softwareerstellungsverträgen oder ITProjektverträgen vorliegen, bei denen der Auftraggeber für eine von ihm gewünschte Modalität der Ausführung wie etwa einer konkreten Programmierung oder dem Einsatz einer bestimmten Drittsoftware das Risiko übernimmt, indem er trotz Bedenken des Auftragnehmers auf seinem Wunsch beharrt.12 Wird hiernach die geschuldete Leistung – etwa aufgrund entgegenstehender Rechte Dritter – unausführbar, kann der Auftragnehmer nach § 645 Abs. 1 einen Teil der Vergütung verlangen oder aber nach § 645 Abs. 2 i.V.m. § 326 Abs. 2, der neben § 645 Abs. 1 anwendbar ist,13 die volle Gegenleistung (unter Anrechnung der durch den Wegfall der eigenen Leistungspflicht entstehenden Vorteile, § 326 Abs. 2 Satz 2), sofern der Auftraggeber allein oder weit überwiegend verantwortlich ist. 2. Wegfall der Gegenleistungspflicht bei Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 1)

9

§ 326 betrifft den Fall, dass die Leistungspflicht des Schuldners wegen Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 oder nach berechtigter Erhebung der Einrede gem. § 275 Abs. 2 oder Abs. 3 ausgeschlossen ist.14 Auf das Vertretenmüssen des Schuldners kommt es nicht an.15 Mit Wegfall seiner Leistungspflicht aufgrund § 275 Abs. 1 bis 3 verliert der Schuldner den Anspruch auf die Gegenleistung, d.h. es entfällt der Entgeltanspruch des Schuldners einer unmöglich gewordenen Sachleistung, und zwar auch dann, wenn der Schuldner diese Unmöglichkeit nicht zu vertreten hat.16 Bei Eintritt einer von keiner Partei zu vertretenden Unmöglichkeit wird neben dem Schuldner (nach § 275) nach § 326 Abs. 1 Satz 1 auch der Gläubiger von seiner Leistungspflicht frei, das Vertragsprogramm wird automatisch storniert.17 a) Objektive Unmöglichkeit

10

Bei IT-Verträgen, bei denen im wesentlichen geistige Leistungen erbracht werden, die selten objektiv unmöglich werden, ist der Anwendungsbereich der Vorschrift hinsichtlich einer von keiner der Parteien zu vertretenden Unmöglichkeit wohl eher gering. Fälle der objektiven Unmöglichkeit wären etwa folgende Situationen:

9 10 11 12 13 14 15 16 17

Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 2 f.; Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 3; Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 2. BGH v. 24.9.2013 – KZR 62/11, MMR 2013, 783, 784 = CR 2014, 127. Palandt/Sprau, § 645 BGB Rz. 7. Palandt/Sprau, § 645 BGB Rz. 10. Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 4. Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 4. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 2a. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 1.

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Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt

Rz. 17 § 326 BGB

– Bei Hardwareverträgen geht die bereits konkretisierte Hardware vor Lieferung unter, so dass noch kein Gefahrübergang nach §§ 446 f. erfolgt ist.

11

– Bei Softwareüberlassungsverträgen erfolgt der unverschuldete Untergang des Quellcodes der zu liefernden Software, von dem keine Kopie besteht. Von einer Unmöglichkeit wird man hingegen nicht ausgehen können, wenn lediglich ein Vervielfältigungsstück der Software oder ein Lizenzschlüssel verloren geht, da der Lizenzgeber ohne weiteres eine neue Kopie bzw. einen neuen Lizenzschlüssel erstellen kann.

12

– Das Rechenzentrum, in dem vertragsgemäß das Hosting, Housing oder Outsourcing erbracht werden soll, wird zerstört. Kein Fall der Unmöglichkeit wird hingegen vorliegen, wenn das Rechenzentrum nicht spezifiziert ist, sondern der Auftragnehmer generell die Verpflichtung zum Hosting, ASP/SaaS/Cloud Computing oder zum Outsourcing übernommen hat; in solchen Fällen sehen die entsprechenden Verträge häufig Regelungen zum Business Continuity Management in Form einer redundanten Bereitstellung des Serviceangebots über mindestens zwei Rechenzentren mit einer Verfügbarkeit von 99,99 % und einer hochausfallsicheren Infrastruktur vor, wonach der Ausfall eines Rechenzentrums gerade nicht die Leistungserbringung beeinträchtigen soll.18

13

– Die geschuldete Dienst- oder Werkleistung wird unausführbar, da sie auf eine konkrete Person, die vor Erbringung der Leistung stirbt, abgestellt war, wie etwa einen bestimmten Programmierer.19

14

– Ein Fall der rechtlichen Unmöglichkeit kann etwa aufgrund eines behördlichen Verbots der vertragsgegenständlichen Dienstleistung vorliegen.20

15

b) Subjektive Unmöglichkeit (Unvermögen) § 326 regelt aber auch den Fortfall der Gläubigerpflicht zur Erbringung der Gegenleistung in dem Fall, dass die Leistung dem Schuldner unmöglich ist und er dies zu vertreten hat; in diesem Fall besteht gleichzeitig eine Verpflichtung des Schuldners zur Leistung von Schadensersatz statt der Leistung aus § 283.21 Eine subjektive Unmöglichkeit bzw. „Unvermögen“ liegt vor, wenn zwar für den Schuldner das Leistungshindernis unüberwindlich ist, ein Dritter allerdings die Leistung erbringen könnte.22 Dies können tatsächliche Leistungshindernisse sein, wie die dauernde Arbeitsunfähigkeit bei einem Dienstverpflichteten, oder rechtliche Leistungshindernisse wie der Verkauf einer fremden Sache.23 Bei ITVerträgen wäre eine solche Konstellation denkbar, wenn der Auftragnehmer mangels fachlicher Qualifikation auch unter Hinzuziehung externer Expertise nicht zur Erbringung der geschuldeten Leistung in der Lage ist oder entgegenstehende Rechte Dritter der Erstellung oder Lizenzierung der geschuldeten Software entgegenstehen, hingegen ein Dritter die Leistung erbringen kann, nämlich im erstgenannten Beispiel ein ausreichend qualifizierter Auftragnehmer, im letztgenannten Beispiel der Rechteinhaber.

16

c) Teilunmöglichkeit In § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 wird die Teilunmöglichkeit dergestalt behandelt, dass eine Minderung 17 der Gegenleistungspflicht – also der zu zahlenden Vergütung – entsprechend § 441 Abs. 3 erfolgt, also entsprechend der Wertverhältnisse zwischen Teilleistung und Gesamtleistung.24 Allerdings steht eine Teilunmöglichkeit auch bei teilbaren Leistungen nach dem Vertragszweck vielfach einer vollständigen Unmöglichkeit gleich, so dass in einem solchen Fall der Anspruch auf die Gegenleistung im Ganzen entfällt.25 Von einer Teilleistung i.S.d. § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 kann daher nur dann ausgegangen werden, wenn die Leistung teilbar ist und der Gläubiger die Teilleistung angenommen hat, denn grundsätzlich ist der Schuldner nach § 266 zu Teilleistungen nicht berechtigt (vgl. § 266 Rz. 16). Hat 18 19 20 21 22 23 24 25

Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Leupold, Teil 4 Rz. 86. Palandt/Grüneberg, § 275 BGB Rz. 14. BGH v. 24.9.2013 – KZR 62/11, MMR 2013, 783, 784 = CR 2014, 127. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 1. Palandt/Grüneberg, § 275 BGB Rz. 23. Palandt/Grüneberg, § 275 BGB Rz. 24 f. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 5; Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 6. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 5.

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BGB § 326 Rz. 17 Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt der Schuldner eine zulässige Teilleistung bewirkt, aber der Gläubiger daran kein Interesse, kann er nach 326 Abs. 5 i.V.m. § 323 Abs. 5 Satz 1 zurücktreten.26 Macht der Gläubiger von einem ihm hiernach zustehenden Recht zum Gesamtrücktritt keinen Gebrauch, ändert dies nichts am Bestand der restlichen Verpflichtung des Schuldners, die dieser gegen Zahlung der nach § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 i.V.m. § 441 Abs. 3 geminderten Vergütung zu erfüllen hat.27 18

Die in § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 vorgesehene Minderung nach § 441 Abs. 3 ist insb. bei Dauerschuldverhältnissen mit Fixcharakter anwendbar, nämlich dann, wenn die geschuldete Leistung vorübergehend oder für die Zukunft unmöglich wird.28 Ein solcher Fall kann etwa bei einem Softwarepflegevertrag vorliegen, wenn die geschuldete Fernwartung für einen bestimmten Zeitraum aufgrund Stromausfalls im Servicezentrum des Auftragnehmers nicht erbracht werden kann; für diesen Zeitraum des vorübergehenden Leistungshindernisses ist der Auftragnehmer von seiner Leistungspflicht befreit und hierfür entfällt auch die Gegenleistungspflicht,29 d.h. es mindert sich der Vergütungsanspruch des Auftragnehmers. d) Qualitative Unmöglichkeit

19

§ 326 Abs. 1 Satz 2 betrifft den Fall der Schlechtleistung, bei der Mängel nicht behebbar sind (qualitative Unmöglichkeit) oder aufgrund der Einreden gem. § 275 Abs. 2 und 3 nicht erbracht werden müssen.30 Ist die Verpflichtung des Schuldners zur Behebung einer Schlechtleistung (Sach- oder Rechtsmangel) nach § 275 Abs. 1, 2 oder – wohl kaum vorstellbar – Abs. 3 ausgeschlossen, so gilt die automatische Minderungsanordnung des § 326 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 nicht.31 Der Gläubiger kann in diesem Fall zurücktreten oder mindern und u.U. auch Schadensersatz fordern.32

20

Bei einer qualitativen Unmöglichkeit verliert der Schuldner bei Kauf- und Werkverträgen nicht automatisch seinen Anspruch auf die Gegenleistung, sondern dies hängt vielmehr davon ab, welche Rechte der Gläubiger anstelle seines Nacherfüllungsanspruchs geltend macht.33 Bei IT-Verträgen ist hier an Fallkonstellationen zu denken, bei denen eine Mängelbeseitigung ausscheidet, weil der Auftragnehmer auch unter Hinzuziehung externer Expertise nicht über die nötigen fachlichen Kenntnisse verfügt oder die zur Behebung des Rechtsmangels erforderlichen Rechte nicht erwerben kann; der Auftraggeber kann dann nach § 437 Nrn. 2 und 3 bzw. § 634 Nrn. 2 bis 4 vom Vertrag zurücktreten, die Vergütung mindern und/oder Schadensersatz verlangen und muss – je nach Wahl – die Vergütung an den Auftragnehmer entrichten. 3. Aufrechterhaltung der Gegenleistungspflicht (§ 326 Abs. 2) a) Verantwortlichkeit des Gläubigers

21

Nach § 326 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. bleibt der Gläubiger bei einer Befreiung des Schuldners von der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 bis 3 zur Gegenleistung – also zur Entgeltzahlung – verpflichtet, wenn er für den Umstand, aufgrund dessen der Schuldner nicht zu leisten braucht, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist. Die Verantwortlichkeit des Gläubigers kann sich aus einem Verstoß gegen eine vertragliche Haupt- oder Nebenpflicht ergeben, aber auch, wenn der Gläubiger nach der vertraglichen Risikoverteilung die Gefahr für ein bestimmtes Leistungshindernis übernommen hat.34 Die Leistungspflichten müssen im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen.35

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 11; zum Gesamtrücktritt nach § 323 Abs. 5 Satz 1 s. § 323 Rz. 78 ff. Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 6. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 5. Palandt/Grüneberg, § 275 BGB Rz. 10. Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 26; Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 8. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 35; Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 5. Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 8. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 3. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 9; MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 67. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 7; Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 8.

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Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt

Rz. 25 § 326 BGB

Die Verantwortlichkeit des Gläubigers muss so sehr überwiegen, dass § 254 im Falle eines Schadens- 22 ersatzverlangens den Anspruch des Gläubigers ausschließen würde, wofür eine Verantwortungsquote von mindestens 80 % bis 90 % erforderlich ist.36 Dies kann der Fall sein, wenn die Unmöglichkeit der Leistung des Schuldners vor allem darauf zurückzuführen ist, dass der Gläubiger Mitwirkungspflichten verletzt hat, deren Erfüllung dem Schuldner die Leistung erst ermöglicht.37 Insb. bei IT-Projektverträgen sind die Mitwirkungsleistungen des Gläubigers für die Projektdurchführung von erheblicher Bedeutung, wie etwa die Gewährung des Zugriffs auf die IT-Infrastruktur des Auftraggebers oder die Beistellung von Lizenzen.38 Stellt der Auftraggeber somit beispielsweise entgegen seiner vertraglichen Verpflichtungen zwingend erforderliche Infrastruktur, Software oder Lizenzen nicht bei und ist daher die Leistung des Auftragnehmers unmöglich, bleibt nach § 326 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. der Entgeltanspruch des Auftragnehmers aufrechterhalten. b) Annahmeverzug des Gläubigers Nach § 326 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. behält der Schuldner den Anspruch auf die Gegenleistung – somit den Entgeltanspruch –, wenn seine Leistung erst unmöglich geworden ist, nachdem der Gläubiger in Annahmeverzug geraten ist, d.h. mit dem Eintritt des Annahmeverzugs geht die Vergütungsgefahr vorzeitig auf den Gläubiger über.39 Bei einer Gattungsschuld muss entweder Konkretisierung eingetreten sein oder die Leistungsstörung muss sich auf die ganze Gattung erstrecken.40 Bei IT-Verträgen wäre dies denkbar bei dem Untergang einer zu liefernden konkreten Hardware, hinsichtlich der sich der Gläubiger im Annahmeverzug befindet. Es liegt hingegen nicht im Verantwortungsbereich des Gläubigers, sondern dem des Schuldners, wenn eine Drittsoftware, die im Rahmen eines Vertrages über die Installation und Anpassung eines Softwaresystems installiert werden soll, seitens des Drittanbieters nicht verfügbar ist, denn den Schuldner einer Gattungsschuld trifft nach dem Zusammenhang der Regelungen der §§ 275, 326 Abs. 2 Sätze 1 und 2 grundsätzlich das Risiko der Beschaffung des Leistungsgegenstands am Markt.41

23

4. Rücktrittsrecht bei Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 5) Wenn der Schuldner gem. § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten braucht, kann der Gläubiger auch nach § 326 Abs. 5 zurücktreten, ohne dass eine Fristsetzung erforderlich ist.42 Das Rücktrittsrecht des § 326 Abs. 5 besteht auch bei Dauerschuldverhältnissen, falls deren Vollzug unmöglich wird, so dass § 314 oder § 648a n.F. § 326 Abs. 5 nicht verdrängt.43

24

Durch das Rücktrittsrecht werden dem Gläubiger über § 326 Abs. 1 hinausgehende Rechte etwa bei teilweisen Leistungshindernissen, den Fällen qualitativer Unmöglichkeit und bei Ansprüchen, die nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, eingeräumt.44 Durch einen Rücktritt nach § 326 Abs. 5 kann der Gläubiger sicherstellen, dass die Befreiung von der Gegenleistungspflicht zu einer wirklichen Vertragsstornierung führt, denn nach § 326 Abs. 1 wird der Gläubiger nur von seiner Verpflichtung zur Erbringung der Gegenleistung befreit, nicht dagegen von solchen Pflichten, die zu der Leistungspflicht des Schuldners nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen.45 Bei IT-Verträgen könnten dies beispielsweise Pflichten des Auftraggebers zur Rücklizenzierung an den Auftragnehmer von von ihm vorgenommenen Weiterentwicklungen sein, die – wenn der Auftraggeber sich lediglich auf den Wegfall der Entgeltpflicht nach § 326 Abs. 1 beruft – ohne Rücktritt weiter bestehen bleiben könnten.

25

36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 9. Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 15. Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. T Rz. 161 ff. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 10; Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 16. Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 14. OLG Frankfurt v. 22.9.2010 – 4 U 52/10. Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 18. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 109. Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 27. MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 108.

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BGB § 326 Rz. 26 Befreiung von der Gegenleistung und Rücktritt 26

Ein Fall des Rücktritts nach § 326 Abs. 5 liegt z.B. bei unbehebbaren Mängeln vor, allerdings mit der Einschränkung des § 323 Abs. 5 Satz 2 für unerhebliche Mängel.46 Bei IT-Verträgen sind unbehebbare und gleichermaßen unerhebliche Mängel allenfalls bei einer Abweichung von der vereinbarten Spezifikation denkbar, die lediglich das Design, aber nicht die Funktionalität der Anwendung betrifft, wie z.B. eine runde anstelle einer eckigen Schaltfläche, die nicht umprogrammiert werden kann.

27

Bei IT-Projektverträgen werden Fälle des Rücktritts nach § 326 Abs. 5 dann vorliegen können, wenn das IT-System oder die Software des Auftragnehmers, auf deren Grundlage die geschuldeten Leistungen erbracht werden sollen, grundsätzlich nicht geeignet ist, die vom Auftraggeber geforderten und im Pflichtenheft festgelegten Funktionalitäten umzusetzen.

28

Das Rücktrittsrecht des Gläubigers nach § 326 Abs. 5 besteht im Falle so genannter wirtschaftlicher Unmöglichkeit nur und erst dann, wenn der Schuldner gem. § 275 Abs. 2 von seinem Leistungsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat.47

29

§ 326 Abs. 5 enthält im Wesentlichen eine Rechtsgrundverweisung, so dass dementsprechend bis auf die entbehrliche Fristsetzung die übrigen Rücktrittsvoraussetzungen nach § 323 gegeben sein müssen.48 Die Voraussetzungen des Rücktrittes wegen Unmöglichkeit nach § 326 Abs. 5 und wegen nicht rechtzeitiger Erfüllung einer Vertragspflicht nach § 323 Abs. 1 unterscheiden sich allein darin, dass letztere eine erfolglose Fristsetzung zur Leistung erfordert.49 Da der Gläubiger allerdings i.d.R. nicht weiß, aus welchem Grund der Schuldner nicht oder nicht vertragsgemäß leistet, sollte er auch dann gem. § 323 eine Frist setzen, wenn möglicherweise die Voraussetzungen des § 275 vorliegen.50 Sofern bei IT-Projektverträgen der Auftragnehmer Leistungen wie beispielsweise die Lizenzeinräumung oder lauffähige Installation der vertragsgegenständlichen Software nicht erbringt, kann daher i.d.R. offenbleiben, ob dies lediglich zeitweise nicht möglich war oder nach § 275 Abs. 1 bis 3 unmöglich geworden ist, wenn eine erfolglose Fristsetzung nach § 323 Abs. 1 erfolgt ist.51

30

Ist das Rücktrittsrecht des § 323 – etwa nach § 323 Abs. 6 – ausgeschlossen, entfällt auch das Rücktrittsrecht des § 326 Abs. 5.52 Dies gilt auch für den Fall, dass der Auftraggeber den Mangel selbst behebt, denn in diesem Fall hat er die Unmöglichkeit der Mängelbeseitigung durch den Auftragnehmer zu vertreten.53

III. Abdingbarkeit 31

§ 326 Abs. 1 ist durch Individualvereinbarung abdingbar.54 Änderungen durch Allgemeine Geschäftsbedingungen sind wegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 grundsätzlich ausgeschlossen, zulässig sind aber im Handel übliche Klauseln über einen vorzeitigen Gefahrübergang wie „ab Werk“ oder Incoterms.55

46 BGH v. 10.10.2007 – VIII ZR 330/06, NJW 2008, 53, 55 (für den Fall, dass sich der Charakter eines Gebrauchtwagens als Unfallwagen weder durch Nachbesserung noch durch Ersatzlieferung korrigieren lässt); Erman/ Westermann, § 326 BGB Rz. 19; vgl. hierzu § 323 Rz. 98 ff. 47 BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 96/12, K&R 2013, 201 = CR 2013, 199. 48 MünchKomm/Ernst, § 326 BGB Rz. 110. 49 OLG Frankfurt v. 22.9.2010 – 4 U 52/10. 50 Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 18. 51 OLG Frankfurt v. 22.9.2010 – 4 U 52/10. 52 Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 18; Erman/Westermann, § 326 BGB Rz. 20. 53 Jauernig/Stadler, § 326 BGB Rz. 29. 54 BGH v. 13.1.2011 – III ZR 87/10, NJW 2011, 756. 55 Palandt/Grüneberg, § 326 BGB Rz. 6; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke „Versandhandel“ Rz. 17.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

§ 339 BGB

§ 339 Verwirkung der Vertragsstrafe Verspricht der Schuldner dem Gläubiger für den Fall, dass er seine Verbindlichkeit nicht oder nicht in gehöriger Weise erfüllt, die Zahlung einer Geldsumme als Strafe, so ist die Strafe verwirkt, wenn er in Verzug kommt. Besteht die geschuldete Leistung in einem Unterlassen, so tritt die Verwirkung mit der Zuwiderhandlung ein. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendung im IT-Bereich a) Service Level Agreements . . . . . . . . . . b) IT-Projektverträge . . . . . . . . . . . . . . c) Softwarepflegeverträge . . . . . . . . . . . d) EVB-IT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Datenschutzvereinbarungen . . . . . . . . f) Vertraulichkeitsvereinbarungen (Non Disclosure Agreements) . . . . . . . g) Strafbewehrte Unterlassungserklärungen . h) Weitere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

1 2 3 4 9 10 15 16 17 18

. 19 . 20 . 21

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Strafversprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

a) Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . c) Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . bb) AGB-Kontrolle . . . . . . . . . . . . cc) Gesetzliche Verbote . . . . . . . . . d) Akzessorietät . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verletzung der gesicherten Verpflichtung a) Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . b) Unterlassungspflicht . . . . . . . . . . . 3. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Festsetzung der Strafe . . . . . . . . . . . b) Unzulässige Rechtsausübung . . . . . . . c) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verwirkung und Wegfall . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . .

23 24 26 27 28 38 39 43 44 46 49 50 51 55 56 57

Literatur: Becker, Auch Abwerbeverbote sind grundsätzlich unverbindliche Sperrabreden, GRUR-Prax 2014, 465; Bräutigam (Hrsg.), IT-Outsourcing und Cloud-Computing, 4. Aufl. 2019 (zitiert: Bräutigam/Bearbeiter, IT-Outsourcing); Büchner/Briner (Hrsg.), DGRI Jahrbuch 2009, 2010; Erdmann (Hrsg.), Festschrift für Henning Piper, 1996; Fröschle/Schrey (Hrsg.), Praktisches Service-Level-Management, 2012; Hartung/Stiemerling, Effektive Service-Level-Kriterien – Welche Service Level-Kriterien effektiv sind und wie sie gemessen und vertraglich geschickt vereinbart werden können, CR 2011, 617; Heckmann, juris Praxiskommentar Internetrecht, 6. Aufl. 2019; Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth (Hrsg.), juris Praxiskommentar BGB, Band 2 – Schuldrecht, 8. Aufl. 2017; Hoffmann-Becking/Gebele (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht, 13. Aufl. 2019; Hombrecher, Domains als Vermögenswerte – Rechtliche Aspekte des Kaufs, der Lizenzierung, der Beleihung und der Zwangsvollstreckung, MMR 2005, 647; Hörl/Häuser, Service Level Agreements in IT-Outsourcingverträgen – Ausgestaltung und rechtliche Wirkungen von Qualitätsvereinbarungen bei der Auslagerung von IT-Leistungen an externe Anbieter, CR 2003, 713; Knütel/Rieger, Pönalen wegen Verzugs oder Minderleistungen in Individualvereinbarungen und AGB – Risiken der Unwirksamkeit und ihre Vermeidung, NZBau 2010, 285; Köhler/Bornkamm/Feddersen, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 37. Aufl. 2019; Lindacher, Phänomenologie der Vertragsstrafe, 1972; Lindacher, Zu den Anforderungen an Vertragsstrafenversprechen zur Ausräumung der Wiederholungsgefahr nach einem Wettbewerbsverstoß, BB 1978, 270; Rieble, Vertragsstrafklage und gerichtliche Zuständigkeit, JZ 2009, 716; Schneider, Risikobereiche des Pflege-Vertrages, CR 2004, 241; Schreibauer/Taraschka, Service Level Agreements für Softwarepflegeverträge, CR 2003, 557; Schröder/Haag, Neue Anforderungen an Cloud Computing für die Praxis – Zusammenfassung und erste Bewertung der „Orientierungshilfe – Cloud Computing“, ZD 2011, 147; Schröder/ Haag, Stellungnahme der Art. 29-Datenschutzgruppe zum Cloud Computing – Gibt es neue datenschutzrechtliche Anforderungen für Cloud Computing?, ZD 2012, 495; Schulz/Rosenkranz, Cloud Computing – Bedarfsorientierte Nutzung von IT-Ressourcen, ITRB 2009, 232; Schulze/Dörner/Ebert u.a., Bürgerliches Gesetzesbuch, Handkommentar, 10. Aufl. 2019 (zitiert: Schulze/Dörner/Ebert u.a./Bearbeiter); Schumacher, Service Level Agreements: Schwerpunkt bei IT- und Telekommunikationsverträgen, MMR 2006, 12; Schuster, Rechtsnatur der Service Level bei IT-Verträgen – Wie die Gestaltung von Service Levels die Leistung, die Gewährleistung und den Vertragstyp konkretisiert, CR 2009, 205; Söbbing, SaaS-Verträge – Umgang mit Service Levels und Nutzungsrechten, ITRB 2015, 172; Söbbing/Dechamps/Frase u.a., Handbuch IT-Outsourcing, 4. Aufl. 2015 (zitiert: Söbbing/Bearbeiter, Handbuch IT-Outsourcing); Söbbing/Kopanakis, Anreizsysteme in IT-Verträgen – Anwendung der NobelpreisVertragstheorie in der IT-Praxis, ITRB 2016, 284; Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen: BGB, Band 5/3: Schuldrecht 3/3 (§§ 328-432 BGB), 13. Aufl. 2010; Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche und Verfahren, 11. Aufl. 2016; Tilp, Das Recht der Vertragsstrafe, Jura 2001, 441; Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht Kommentar, 12. Aufl. 2016; Wicker, Vertragstypologische Einordnung von Cloud Computing-Verträgen – Rechtliche Lösungen bei auftretenden Mängeln, MMR 2012, 783.

Kraus

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BGB § 339 Rz. 1 Verwirkung der Vertragsstrafe

I. Allgemeines 1

Die §§ 339–345 regeln die Vertragsstrafe. Mit einer Vertragsstrafe ist das Versprechen einer Zahlung (§ 339) oder einer anderen Leistung (§ 342) durch einen Schuldner für den Fall zu verstehen, dass die versprochene Leistung nicht oder nicht in gehöriger Weise erfüllt wird.1 Bei der Vertragsstrafe handelt es sich um ein akzessorisches Sicherungsmittel, das an den Bestand der zu sichernden Hauptverbindlichkeit geknüpft ist.2 1. Einführung

2

§ 339 regelt die Voraussetzungen, unter denen ein Anspruch des Gläubigers gegen den Schuldner auf Zahlung der versprochenen Geldsumme entsteht. Der Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs des Gläubigers auf die Vertragsstrafe wird als Verwirkung bezeichnet.3 a) Normzweck

3

Die Vertragsstrafe verfolgt einen repressiven sowie einen kompensatorischen, mithin einen doppelten Zweck.4 Zum einen dient die Vereinbarung einer Vertragsstrafe dazu, den Schuldner zur Erfüllung der Hauptverbindlichkeit anzuhalten und dem Gläubiger hierzu ein entsprechendes Druckmittel zu sichern, zum anderen soll dem Gläubiger erspart bleiben, im Verletzungsfall einen konkreten Schaden darlegen und beweisen zu müssen.5 b) Abgrenzung

4

Anders als die Vertragsstrafe ist das selbständige Strafversprechen ein nicht an eine Hauptverbindlichkeit angelehntes und nicht akzessorisches Strafversprechen. Das selbständige Strafversprechen ist also gerade nicht an das Bestehen einer Hauptverbindlichkeit gekoppelt, sondern hiervon unabhängig. Das selbständige Strafversprechen verfolgt jedoch den gleichen doppelten Zweck wie die Vertragsstrafe und soll den Schuldner zur Vornahme oder Unterlassung einer Handlung bewegen, allerdings ohne dass dieser zur Vornahme oder Unterlassung der Handlung verpflichtet ist.6 Das Versprechen zur Strafleistung ist der einzige Inhalt des Schuldverhältnisses. Auf das selbständige Strafversprechen finden die §§ 339 ff. keine Anwendung, mit Ausnahme der Regelungen zur Herabsetzung der Strafe (§ 343) und zur Unwirksamkeit des Strafversprechens bei Absicherung einer rechtswidrigen Handlung (§ 344) sowie des auch für die Vertragsstrafe geltenden Verschuldenserfordernisses.7

1 BGH v. 14.10.2009 – VIII ZR 272/08, NJW 2010, 859, 860; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 1. 2 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 14; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 1. 3 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 1; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 1. 4 BGH v. 23.6.1988 – VII ZR 117/87, NJW 1988, 2536; BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 387 m.w.N.; BGH v. 20.1.2000 – VII ZR 46/98, NJW 2000, 2106, 2107; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 1; Tilp, Jura 2001, 441, 442; Fischer, Rechtsnatur und Funktionen der Vertragsstrafe im Wettbewerbsrecht unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in FS Piper, S. 205, 211 ff.; a.A. Lindacher, Phänomenologie der Vertragsstrafe, S. 55 ff.; Soergel/Lindacher, Vor § 339 BGB Rz. 5: nur Abschreckung und damit Erfüllungssicherung; eingehend zu den Funktionen der Vertragsstrafe Staudinger/Rieble, Vor § 339 BGB Rz. 16-49. 5 BGH v. 6.11.1967 – VIII ZR 81/65, NJW 1968, 149, 150; BGH v. 27.11.1974 – VIII ZR 9/73, NJW 1975, 163, 164; BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 387; BGH v. 3.4.1998 – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600; BGH v. 13.11.2013 – I ZR 77/12, NJW 2014, 2180; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 1. 6 BGH v. 18.12.1981 – V ZR 233/80, NJW 1982, 759; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 2; Palandt/ Grünberg, § 339 BGB Rz. 3. 7 BGH v. 18.12.1981 – V ZR 233/80, NJW 1982, 759; Staudinger/Rieble, Vor § 339 BGB Rz. 15; MünchKomm/ Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 46; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 4.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

Rz. 8 § 339 BGB

Die Vertragsstrafe soll zukünftiges Verhalten oder Unterlassen sichern.8 Eine Erklärung, die ein Verhalten in der Vergangenheit sichern soll, ist als Garantieversprechen oder garantieähnliches Versprechen einzuordnen.9

5

Während der Schuldner bei einer Vertragsstrafe für den Fall der Nichterfüllung oder nicht gehörigen Erfüllung seiner Verbindlichkeit eine Geldleistung oder sonstige Leistung verspricht, haben Verwirkungs- oder Verfallklauseln zur Folge, dass der Schuldner eigene Rechte verliert.10 Die Vereinbarung des Wegfalls aller Rechte ist im Zweifel als Rücktrittsvorbehalt gem. § 354 zu verstehen.11 Die Vereinbarung des Wegfalls oder der Beschränkung einzelner Rechte fällt nicht unter § 354. Eine solche Vereinbarung ist aber dennoch zulässig.12 Da eine unterschiedliche Behandlung von Vertragsstrafeklauseln und Verfallklauseln aufgrund ihres ähnlichen Inhalts und Zwecks ungerechtfertigt erscheint, werden die §§ 339 ff. entsprechend angewandt.13

6

Das Reuegeld gem. § 353 gibt dem Schuldner die Möglichkeit, sich vom Vertrag gegen Zahlung des Reuegelds mittels Rücktritt zu lösen. Das Reuegeld dient dem Ausgleich für den Rücktritt vom Vertrag, während der Strafanspruch aus der Vertragsstrafe dem Schuldner einen Anreiz schaffen möchte, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen.14 Die §§ 339 ff. gelten nicht für das Reuegeld.15

7

Das im IT-Recht neben der Vertragsstrafe wohl relevanteste Instrument alternativer Sanktionsmöglichkeiten ist der pauschalierte Schadensersatz. Dieser unterscheidet sich von der Vertragsstrafe insb. dadurch, dass er nur einen einfachen Zweck verfolgt und der vereinfachten Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs dient, indem er den Schadensbeweis entbehrlich macht.16 Ob die Vereinbarung einer Vertragsstrafe oder eines pauschalierten Schadensersatzes vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Neben dem Wortlaut der Regelung ist bei der Auslegung insb. das von den Parteien mit der Regelung verfolgte Ziel zu berücksichtigen. Ein pauschalierter Schadensersatz wird angenommen, wenn die Vertragsklausel eindeutig den Willen der Parteien widergibt, einen Schadensersatzanspruch vereinbaren zu wollen.17 Die Verwendung von „Schadensersatz“, „entgangener Gewinn“ oder ähnlichen Signalwörtern spricht für einen pauschalierten Schadensersatz.18 Auch die Tatsache, dass es sich bei dem vereinbarten Betrag um eine ernsthafte Schätzung des typischerweise zu erwartenden Schadens handelt, deutet auf einen pauschalierten Schadensersatz hin.19 Steht hingegen die Motivierung des Schuldners zur Erfüllung der Verbindlichkeit im Vordergrund, ist von der Vereinbarung einer Vertragsstrafe auszugehen. Auch Regelungen, die das Verhältnis zu (sonstigen) Schadensersatzansprüchen und Haftungsbeschränkungen im Vertrag regeln, lassen auf die Vereinbarung einer Vertragsstrafe schließen.

8

8 BGH v. 18.5.2006 – I ZR 32/03, NJW-RR 2006, 1477, 1478; Staudinger/Rieble, Vor § 339 BGB Rz. 30; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 7 f.; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 1. 9 BGH v. 23.6.1988 – VII ZR 117/87, NJW 1988, 2536, 2537; BGH v. 18.5.2006 – I ZR 32/03, NJW-RR 2006, 1477, 1478; Erman/Schaub, Vor § 339 BGB Rz. 9. 10 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 4. 11 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 354 Rz. 4; jurisPK BGB/Faust, § 354 BGB Rz. 2; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 36; MünchKomm/Gaier, § 354 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 354 BGB Rz. 1; Staudinger/ Kaiser, § 354 BGB Rz. 6. 12 BGH v. 22.1.1993 – V ZR 164/90, NJW-RR 1993, 464, 465; MünchKomm/Gaier, § 354 BGB Rz. 3; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 4. 13 BGH v. 27.6.1960 – VII ZR 101/59, NJW 1960, 1568; BGH v. 29.6.1972 – II ZR 101/70, NJW 1972, 1893, 1894; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 36; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 4. 14 BGH v. 4.10.1956 – II ZR 121/55, NJW 1956, 1793; BGH v. 3.4.1998 – V ZR 6/97, NJW 1998, 2600. 15 MünchKomm/Gaier, § 353 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 5. 16 Jauernig/Stadtler, § 339 BGB Rz. 10; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 1. 17 BGH v. 6.11.1967 – VIII ZR 81/65, NJW 1968, 149, 150. 18 BGH v. 8.10.1969 – VIII ZR 20/68, NJW 1970, 32; Einordnung als Vertragsstrafe trotz Bezeichnung als „Schadensersatz“: BGH v. 26.5.1999 – VIII ZR 102/98, NJW 1999, 2662, 2663. 19 BGH v. 8.3.2005 – XI ZR 154/04, NJW 2005, 1645, 1647; Graf von Westphalen/Thüsing/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Vertragsstrafe Rz. 3; OLG Köln v. 24.4.1974 – 16 U 115/73, NJW 1974, 1953; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 34; Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 26.

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BGB § 339 Rz. 9 Verwirkung der Vertragsstrafe 2. Bedeutung und Anwendung im IT-Bereich 9

In der IT-rechtlichen Vertragsgestaltung haben Vertragsstrafen eine große Bedeutung. Vertragsstrafen können als Sicherungsmittel zur Absicherung jeglicher gesetzlicher oder vertraglicher Pflichten, sowohl Hauptleistungspflichten als auch Nebenpflichten, vereinbart werden.20 a) Service Level Agreements

10

Insb. Dauerschuldverhältnisse über IT-Leistungen können in vielen Fällen nicht eindeutig und zweifelsfrei einem bestimmten Vertragstyp zugeordnet werden. Häufig ist bspw. eine Einordnung als Dienstvertrag oder Werkvertrag möglich.21 Auf Cloud-Verträge sind in aller Regel mietvertragliche Regelungen anwendbar.22

11

Das Gesetz sieht für Dienstverträge keine besonderen Gewährleistungsregelungen vor, sodass auf die allgemeinen Grundsätze, insb. § 24323 für die Beurteilung der geschuldeten Leistungsqualität und die §§ 280 ff. bei Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung zurückzugreifen ist.

12

Liegt ein Vertragstyp vor, für den das Gesetz spezielle Gewährleistungsregelungen vorsieht, sind diese häufig nicht geeignet, praktikable und sachgerechte Lösungen zu ermöglichen. Dies liegt in aller Regel daran, dass die Vielgestaltigkeit insb. technischer Sachverhalte mit den herkömmlichen Gewährleistungsregelungen nicht ausreichend bewältigt werden kann.24 Eine Nachbesserung ist in aller Regel wegen des Fixcharakters der IT-Leistungen nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Rechtsbehelfe der Minderung oder des Rücktritts zumeist nicht im Interesse des Auftraggebers liegen. Eine Rückabwicklung des gesamten Vertrags ist nur in den seltensten Fällen gewollt. Bei der bloßen Minderung erfolgt keine ausreichende Schadenskompensation. Ein konkreter Schaden lässt sich nicht eindeutig ermitteln und beweisen und beinhaltet häufig interne Aufwände, die als sogenannte Sowieso-Kosten nur in sehr eng begrenztem Rahmen erstattungsfähig sind.

13

Service Level Agreements (SLAs) sollen diese Unsicherheiten beseitigen, indem die Qualitätsanforderungen an die Leistungen vertraglich festgelegt und mit messbaren Werten (Key Performance Indicators, KPI) hinterlegt werden.25 SLAs finden sich – als separate Vereinbarungen oder integriert in den Hauptvertrag – insb. in Outsourcing-Verträgen, Cloud-Verträgen (z.B. zur Verfügbarkeit und Performance des Cloud Services)26 und Pflegeverträgen (z.B. zur Einhaltung vereinbarter Reaktions- und Fehlerbehebungszeiten).27 An die Verletzung der vereinbarten Service Levels ist i.d.R. ein vertraglicher Sanktionsmechanismus angeschlossen, der verschiedene Arten von Sanktionen, insb. Vertragsstrafen, beinhaltet. Neben Vertragsstrafen sind Schadenspauschalen, pauschalierte Minderungen, Bonus-/Malus-Regelungen oder sog. Service Credits üblich.28

14

Der Vorteil der Vereinbarung von Vertragsstrafen in SLAs liegt für den Auftraggeber insb. darin, dass durch den doppelten Zweck der Vertragsstrafe je nach Kritikalität des Service Levels und der aus einer

20 Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 290; Erman/Schaub, Vor § 339 BGB Rz. 2. 21 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 20 ff. 22 Vgl. z.B. Schulz/Rosenkranz, ITRB 2009, 232, 233; BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, MMR 2007, 243; Wicker, MMR 2012, 783, 786. 23 Vgl. Soergel/Teichmann, § 243 BGB Rz. 4; Staudinger/Schiemann, § 243 BGB Rz. 46; MünchKomm/Emmerich, § 243 BGB Rz. 2; Jauernig/Berger, § 243 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 243 BGB Rz. 1; Erman/Westermann, § 243 BGB Rz. 2; Schumacher, MMR 2006, 12. 24 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 26. 25 Vgl. zu SLA allgemein Fröschle/Schrey/Schrey, Praktisches Service-Level-Management, S. 213 ff.; Bräutigam/ Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13, Rz. 414 ff.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 205 ff.; Schuster, CR 2009, 205 ff.; Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617. 26 Kritisch zur Sinnhaftigkeit von Service Levels und Vertragsstrafen bei SaaS-Leistungen Söbbing, ITRB 2015, 172, 174. 27 Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Kapitel 3 Rz. 473 ff.; zu Softwarepflegeverträgen allgemein Schneider, CR 2004, 241 ff. 28 Söbbing/Kopanakis, ITRB 2016, 284, 286 f.; Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, Kapitel 3 Rz. 493; Büchner/Briner/Helwig/Koglin, DGRI Jahrbuch 2009, Service Level Agreements für die Software-as-a-Service-Dienste, S. 53, 68 f.; Redeker, IT-Recht, Rz. 641b; Schuster, CR 2009, 205 ff.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

Rz. 18 § 339 BGB

Verletzung drohenden Nachteile ein abgestuftes Sanktionskonzept29 entwickelt werden kann, das einerseits den Auftragnehmer durch die Androhung (empfindlicher) Nachteile zur vertragsgemäßen Erfüllung anhält und andererseits gleichzeitig entstehende wirtschaftliche Nachteile (zumindest teilweise) kompensiert. Im Gegensatz zu Schadenspauschalen ist es bei Vertragsstrafen möglich, einen darüberhinausgehenden Schadensersatzanspruch geltend zu machen, sodass dem Gläubiger auch neben der Vertragsstrafe der Weg offenbleibt, einen darüberhinausgehenden konkreten Schaden darlegen und beweisen zu können. Dies ist bei der Schadenspauschale nicht möglich.30 Die Vereinbarung von Schadenspauschalen ist daher für Auftragnehmer wegen ihrer verlässlichen vorherigen Bestimmbarkeit die vorzugswürdige Alternative.31 b) IT-Projektverträge In IT-Projektverträgen finden sich Vertragsstrafenregelungen im Wesentlichen im Zusammenhang mit der Überschreitung vereinbarter Termine, also bei verspäteter Fertigstellung der vereinbarten Leistungen oder Teilleistungen (z.B. nicht termingerechte Erreichung vereinbarter Meilensteine).32

15

c) Softwarepflegeverträge In Softwarepflegeverträgen finden sich Vertragsstrafenregelungen insb. im Rahmen der Vereinbarung von Service Levels für die Support- und Pflegeleistungen, z.B. in Bezug auf die Einhaltung von Reaktions- und Fehlerbehebungszeiten, die Erreichbarkeit des Telefonsupports oder die Sofortlösungsquote bei telefonischen Anfragen.33

16

d) EVB-IT Auch die EVB-IT enthalten an zahlreichen Stellen Vertragsstrafenregelungen, z.B. hinsichtlich der Ab- 17 sicherung von IT-Sicherheitsaspekten,34 der Einhaltung von Reaktions- und Wiederherstellungszeiten35 oder der Absicherung der rechtzeitigen Leistungserbringung.36 e) Datenschutzvereinbarungen Nach Ansicht der inzwischen durch den Europäischen Datenschutzausschuss ersetzten Art.-29-Daten- 18 schutzgruppe ist in einer Vereinbarung zur Auftragsverarbeitung mit einem Cloud-Anbieter für den Fall der Verletzung von Datenschutzbestimmungen eine Vertragsstrafe zu vereinbaren.37 Dies ist jedoch nicht sachgerecht. Es ist nicht nachvollziehbar, warum man einem Cloud-Anbieter generell eine höhere Bereitschaft zum Vertragsbruch unterstellen sollte, als anderen Auftragnehmern.38 Da für den Nutzer eines Cloud-Services kaum eine Möglichkeit zur Kontrolle der Anbieter besteht, dürfte zudem der mit der Vertragsstrafe erhoffte Vorteil ungewiss sein.39 Ein generelles Erfordernis einer Vertragsstrafenregelung in Vereinbarungen zur Auftragsverarbeitung bei Cloud-Services ist daher nicht ange29 Schreibauer/Taraschka, CR 2003, 557, 561; Hörl/Häuser, CR 2003, 713, 717. 30 Fröschle/Schrey/Schrey, Praktisches Service-Level-Management, S. 235; Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 566; Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 147, 219. 31 Fröschle/Schrey/Schrey, Praktisches Service-Level-Management, S. 235; Büchner/Briner/Helwig/Koglin, DGRI Jahrbuch 2009, Service Level Agreements für die Software-as-a-Service-Dienste, S. 53, 69. 32 Hoffmann-Becking/Gebele/Bartsch, Beck’sches Formularbuch, 4. Vertrag über ein Softwareprojekt Rz. 15. 33 Schumacher, MMR 2006, 12, 13 f.; Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1, Rz. 27. 34 Z.B. Nr. 12.3 EVB-IT Instandhaltung i.V.m. Nrn. 1.4 und 1.5 EVB-IT Instandhaltungs-AGB; Nr. 16 EVB-IT Kaufvertrag i.V.m. Nr. 2.4 EVB-IT Kauf-AGB; Nr. 12.3 EVB-IT Pflege S i.V.m. Nrn. 1.4 und 1.5 EVB-IT Pflege S-AGB. 35 Z.B. Nr. 12 EVB-IT Instandhaltung, Nr. 12 EVB-IT Dienstvertrag; Nr. 12 EVB-IT Pflege S. 36 Z.B. Nr. 16 EVB-IT Erstellungsvertrag; Nr. 16 EVB-IT Systemvertrag. 37 Art.-29-Datenschutzgruppe, WP 196 vom 1.7.2002, S. 14. 38 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Haag, Teil 4, Rz. 55; Schröder/Haag, ZD 2012, 495, 498. 39 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Haag, Teil 4, Rz. 55; Schröder/Haag, ZD 2011, 147, 149.

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BGB § 339 Rz. 18 Verwirkung der Vertragsstrafe zeigt.40 Eine Vertragsstrafenregelung kann jedoch bei besonders risikoreichen Verarbeitungen, auch außerhalb von Cloud-Services, im Ausnahmefall eine geeignete organisatorische Datenschutzmaßnahme sein. f) Vertraulichkeitsvereinbarungen (Non Disclosure Agreements) 19

Ein weiterer üblicher Anwendungsbereich von Vertragsstrafenregelungen, innerhalb wie außerhalb des IT-Rechts, sind Vertraulichkeitsvereinbarungen.41 Die besondere Relevanz von Vertragstrafenregelungen in Vertraulichkeitsvereinbarungen ergibt sich im IT-Bereich zum einen daraus, dass der Knowhow- und Geheimnisschutz für die beteiligten Vertragsparteien von enormer Bedeutung ist, da die Vertragsparteien bei Outsourcings, der Inanspruchnahme von Cloud-Services oder im Rahmen von IT-Projekten in großem Umfang sensible Informationen austauschen, und zum anderen aus der generellen Erwägung, dass bei Verletzung von Vertraulichkeitsverpflichtungen eintretende Schäden immens, gleichzeitig jedoch äußerst schwer nachweisbar sind.42 Einheitliche Vertragsstrafen für jede Art des Verstoßes gegen Vertraulichkeitsverpflichtungen können jedoch unwirksam sein.43 Eine Unwirksamkeit kann sich ferner daraus ergeben, dass eine solche Regelung in ihrer Wirkung einem Wettbewerbsverbot gleichkommt, beispielsweise wenn sich das Verbot der Weitergabe und eine entsprechende Strafbewährung auch auf offenkundige Informationen beziehen und so dem Verpflichteten die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit erschwert oder unmöglich gemacht wird.44 g) Strafbewehrte Unterlassungserklärungen

20

Ein weiterer Anwendungsfall sind strafbewehrte Unterlassungserklärungen vor allem im Wettbewerbsund Urheberrecht. Das Vertragsstrafeversprechen dient dabei der Ausräumung der Wiederholungsoder Erstbegehungsgefahr.45 Insb. im Bereich der unberechtigten Softwarenutzung spielt dies im ITRecht eine Rolle.46 h) Weitere

21

Wegen der, insb. in IT-Projekten, sehr engen Zusammenarbeit zwischen dem Kunden und dem ITDienstleister finden sich in den betreffenden Verträgen häufig auch vertragsstrafenbewehrte Abwerbeverbote, die jedoch den Grenzen von § 75f HGB unterliegen,47 sowie nachvertragliche Wettbewerbsverbote.48 In Domainpachtverträgen finden sich Vertragsstrafen zur Verhinderung einer unberechtigten Übertragung der Domain.49

II. Norminhalt 22

Der Strafanspruch setzt ein wirksames Strafversprechen und eine verschuldete Pflichtverletzung voraus. Die Verwirkung der Vertragsstrafe hängt jedoch nicht davon ab, ob die Interessen des Gläubigers durch die Zuwiderhandlung des Schuldners gefährdet oder geschädigt worden sind, denn das 40 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/Haag, Teil 4 Rz. 55; Schröder/Haag, ZD 2011, 147, 149. 41 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 434; Auer-Reinsdorff/Conrad/ Conrad/Schneider, IT- und Datenschutzrecht, § 11 Rz. 107. 42 Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 288; Auer-Reinsdorff/Conrad/ Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 18. 43 Auer-Reinsdorff/Conrad/Thalhofer/Z˙danowiecki, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 19 Rz. 18. 44 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 11 Rz. 124. 45 BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 8; Auer-Reinsdorff/Conrad/Sobola, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 42 Rz. 135; Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, § 8 UWG Rz. 1.48; Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche und Verfahren, Kap. 20 Rz. 2; Wandtke/Bullinger/von Wolff, UrhR, § 97 UrhG Rz. 37. 46 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Teil 2 Rz. 296 f. m.w.N. 47 Vgl. hierzu BGH v. 30.4.2014 – I ZR 245/12, NJW 2014, 3442; Becker, GRUR-Prax 2014, 465. 48 Auer-Reinsdorff/Conrad/Maties, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 37 Rz. 12 ff.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 11 Rz. 257. 49 JurisPK Internetrecht/Heckmann, Kap. 2.1 Rz. 91; Hombrecher, MMR 2005, 647, 650.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

Rz. 25 § 339 BGB

Strafversprechen zielt durch seine Druckfunktion (auch) auf das Verhalten des Schuldners vor einer möglichen Pflichtverletzung ab.50 1. Strafversprechen a) Vereinbarung Das Strafversprechen ist keine einseitige Erklärung des Schuldners, sondern eine vertragliche Verein- 23 barung zwischen Schuldner und Gläubiger.51 Das Zustandekommen der Vereinbarung bestimmt sich nach den allgemeinen Regelungen.52 Die Vertragsstrafenvereinbarung kann auch in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sein53 (vgl. Rz. 28 ff.). Zudem können die Parteien vereinbaren, dass ein Dritter Empfänger der Vertragsstrafe mit eigenem Leistungsanspruch sein soll.54 Auf ein Versprechen einer Leistung für den Fall, dass ein Dritter etwas tut oder unterlässt, sind die §§ 339 ff. hingegen nur in Ausnahmefällen anwendbar.55 Die Vereinbarung kann sich aber auf eine Pflicht beziehen, auf einen Dritten einzuwirken, um diesen zu einem Tun oder Unterlassen zu bewegen.56 Dies ist jedoch explizit zu vereinbaren. So umfasst z.B. die vertragliche Verpflichtung, den eigenen Internetauftritt textlich zu ändern, im Zweifel nicht die Verpflichtung, durch positives Handeln alles Erforderliche zur Entfernung des zu ändernden Textes auch auf von Dritten verwalteten Servern und Speichern zu unternehmen.57 b) Form und Inhalt Die Form des Strafversprechens hängt von der Form des Hauptvertrags ab.58 Die Auslegung des 24 Strafversprechens richtet sich nach den allgemeinen vertraglichen Auslegungsgrundsätzen der §§ 133, 157.59 Dabei sind neben dem Wortlaut der Erklärung insb. die den Parteien bekannten Umstände, der Vertragszweck, die Art und Weise des Zustandekommens des Vertrags, der Parteiwille und die Interessenlage unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte maßgeblich.60 Es gelten keine Besonderheiten wie etwa eine grundsätzlich restriktive Auslegung des Strafversprechens.61 Bei mehrfachen Verstößen gegen die gesicherte Pflicht können sich Auslegungsschwierigkeiten ergeben (vgl. Rz. 54). Zur Wirksamkeit des Strafversprechens bedarf es eines bestimmten oder bestimmbaren Inhalts, aus 25 dem sich die zur Vertragsstrafe führende konkrete Pflichtverletzung und die daraus resultierende Strafe

50 BGH v. 1.6.1983 – I ZR 78/81, NJW 1984, 919, 920; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 6. 51 BGH v. 18.5.2006 – I ZR 32/03, NJW-RR 2006, 1477, 1478; BGH v. 17.9.2009 – I ZR 217/07, GRUR 2010, 355, 356; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 4; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 11. 52 BGH v. 18.5.2006 – I ZR 32/03, NJW-RR 2006, 1477, 1478; Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 28. 53 BGH v. 12.10.1978 – VII ZR 139/75, NJW 1979, 212; BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 65/05, NZA 2006, 34, 36; Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 41; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 5; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 11. 54 BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 1; JurisPK Internetrecht/Heckmann, Kap. 4.3 Rz. 764. 55 Erman/Schaub, Vor § 339 BGB Rz. 9; Staudinger/Rieble, Vor §§ 339 ff. BGB Rz. 26. 56 BGH v. 4.5.2017 – I ZR 208/15, NJW 2018, 155, 157; MünchKomm/Gottwald, vor § 339 BGB Rz. 47; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 14; Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 26. 57 BGH v. 21.10.2010 – III ZR 17/10, MMR 2011, 69; LG Halle v. 31.5.2012 – 4 O 883/11, MMR 2012, 751. 58 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 22; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 11. 59 BGH v. 25.1.2001 – I ZR 323/98, NJW 2001, 2622, 2623; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 7; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 11. 60 BGH v. 25.1.2001 – I ZR 323/98, NJW 2001, 2622, 2623; BGH v. 18.9.2014 – I ZR 76/13, GRUR 2015, 258, 262. 61 BGH v. 20.9.1960 – I ZR 77/59, NJW 1960, 2332; BGH v. 20.6.1991 – I ZR 227/89, NJW-RR 1991, 1318, 1319; a.A. OLG München v. 13.1.2005 – 6 U 2773/04, MMR 2005, 710.

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BGB § 339 Rz. 25 Verwirkung der Vertragsstrafe ergibt.62 Der Schuldner muss sich in seinem Verhalten darauf einstellen können.63 Zur Möglichkeit, die Bestimmung der Höhe der Vertragsstrafe einem Dritten zu übertragen, s. Rz. 52. c) Wirksamkeit 26

Die Unwirksamkeit eines Strafversprechen kann sich aus den §§ 134, 138 oder aus anderen Gründen ergeben. aa) Sittenwidrigkeit

27

Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 ist zu bejahen, wenn das Strafversprechen seinem Inhalt und seiner Zielsetzung zufolge den Zweck einer Vertragsstrafe nicht erfüllt, indem sich weder die Druckfunktion noch die Erleichterung der Schadloshaltung in dem Strafversprechen widerspiegeln.64 Die Höhe der Vertragsstrafe kann nicht ohne weiteres als unverhältnismäßig hoch und damit sittenwidrig eingestuft werden, vielmehr müssen noch weitere Umstände hinzukommen.65 Jedoch ist die Vereinbarung einer ihrer Höhe nach unbegrenzten, an betriebswirtschaftliche Parameter eines Unternehmens gekoppelten Vertragsstrafe aufgrund einer möglichen existenzgefährdenden Überforderung des Vertragspartners als sittenwidrig einzustufen.66 Die Vereinbarung einer erheblichen Mindesthöhe der Vertragsstrafe kann wegen unverhältnismäßiger Benachteiligung des Vertragspartners gleichfalls zur Sittenwidrigkeit führen.67 bb) AGB-Kontrolle

28

Handelt es sich bei der Vertragsstrafenklausel um AGB i.S.d. § 305 Abs. 1, unterliegt die Regelung der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle. Enthält die Klausel eine unzulässige Vertragsstrafenbestimmung gem. § 309 Nr. 6 oder hält sie der Inhaltskontrolle gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 nicht stand, ist sie unwirksam.

29

Das Vertragsstrafenverbot gem. § 309 Nr. 6 bezieht sich auf Klauseln, die eine Bestimmung enthalten, durch die dem Verwender für den Fall der Nichtabnahme oder verspäteten Abnahme der Leistung, des Zahlungsverzugs oder für den Fall, dass der andere Vertragsteil sich vom Vertrag löst, die Zahlung einer Vertragsstrafe versprochen wird. Vertragsstrafeklauseln bei Nichtabnahme trotz Gebots bei Online-Versteigerungsplattformen zur Abwehr von sog. Spaßbietern sind in AGB daher unwirksam.68 Außerhalb dieser aufgeführten Fallgruppen unterliegen Vertragsstrafenregelungen nicht § 309 Nr. 6, sondern nur § 307.69 Im unternehmerischen Rechtsverkehr ist § 309 Nr. 6 nicht anwendbar und entfaltet auch keine Indizwirkung. Die Zulässigkeit von Vertragsstrafenregelungen ist im unternehmerischen Rechtsverkehr daher allein an § 307 zu messen.70

30

Eine unangemessene Benachteiligung gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 liegt vor, wenn durch einseitige Vertragsgestaltung missbräuchlich eigene Interessen des Verwenders auf Kosten des Vertragspartners durchgesetzt werden sollen, ohne Rücksicht auf die Belange des Vertragspartners und ohne diesem ei-

62 BGH v. 13.3.1975 – VII ZR 205/73; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 7; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 11; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 2. 63 BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 65/05, NZA 2006, 34, 36 f.; BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 973/06, NJW 2008, 458, 459. 64 BGH v. 8.10.1992 – IX ZR 98/91, NJW-RR 1993, 243, 247; Staudinger/Rieble, Vor §§ 339 ff. BGB Rz. 27. 65 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 10; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 12. 66 OLG Nürnberg v. 25.11.2009 – 12 U 681/09, MDR 2010, 277, 278. 67 OLG Nürnberg v. 25.11.2009 – 12 U 681/09, MDR 2010, 277, 278. 68 JurisPK Internetrecht/Heckmann/Paschke, Kap. 4.4 Rz. 61; AG Waiblingen v. 11.12.2008 – 9 C 1000/08. 69 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 14; Palandt/Grüneberg, § 309 BGB Rz. 33. 70 BGH v. 12.3.2003 – XII ZR 18/00, NJW 2003, 2158, 2161; MünchKomm/Gottwald, Vor § 339 BGB Rz. 13; Palandt/Grüneberg, § 309 BGB Rz. 38; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 35; Knütel/Rieger, NZBau 2010, 285.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

Rz. 33 § 339 BGB

nen angemessenen Ausgleich zuzugestehen.71 Zur Bestimmung ist eine von den Besonderheiten des Einzelfalls losgelöste, generalisierende Betrachtungsweise geboten.72 Klauseln, die eine verschuldensunabhängige Vertragsstrafe regeln, sind i.d.R. gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1 unwirksam.73

31

Die Höhe der Vertragsstrafe ist gem. § 307 Abs. 2 Nr. 2 unangemessen, wenn die Sanktion außer Verhältnis zum Gewicht des Vertragsverstoßes und zum möglichen Schaden für den Vertragspartner steht.74 Ein solcher Fall liegt typischerweise bei einer pauschalen Strafe mit einem festen Betrag vor, da hier die Vertragsstrafe in aller Regel für den typischerweise geringsten Vertragsverstoß unverhältnismäßig hoch ist.75 Daher muss die Klausel nach Art, Gewicht und Dauer der Vertragsverstöße unterscheiden.76

32

Soll sich die Höhe der Vertragsstrafe nach einem bestimmten Prozentsatz der Auftragssumme pro 33 Kalender-, Werk- oder Arbeitstag richten, ist eine Obergrenze festzulegen.77 Mit der Vertragsstrafenklausel darf jedoch kein wirtschaftlich nicht mehr vertretbarer Druck auf den Schuldner ausgeübt werden.78 Daher sind Klauseln unwirksam, die einen so hoch bemessenen Tagessatz vorsehen, dass durch Verwirkung der Vertragsstrafe der typischerweise zu erwartende Gewinn in nur wenigen Tagen (nahezu) aufgezehrt wird oder sich nicht in einem wirtschaftlich vernünftigen und angemessenen Rahmen hält. Maßgeblich ist die Gesamtschau aus Tagessatz, Gesamthöhe und Zeiteinheit.79 Für Bauverträge gilt, dass eine Vertragsstrafe i.H.v. 0,3 % der Auftragssumme pro Werktag bei gleichzeitiger Vereinbarung einer Obergrenze von insgesamt nicht mehr als 5,0 % der Auftragssumme als zulässig erachtet wird.80 Auch die Vereinbarung einer Vertragsstrafe i.H.v. 1,0 % der Auftragssumme pro angefangener Woche bei Vereinbarung derselben Obergrenze ist zulässig.81 Ebenfalls für Bauverträge hat der BGH jedoch eine Vertragsstrafe i.H.v. 0,5 %82 pro Tag und eine Obergrenze von mehr als 5 %83 der Auftragssumme als unzulässig erachtet. Wenn die Obergrenze von 5 % der Auftragssumme bereits bei Nichteinhaltung einer vereinbarten Zwischenfrist und nicht erst bei Nichteinhaltung des vereinbarten Endtermins erreicht wird, ist dies ebenfalls unzulässig.84 Hingegen steht dem Anspruch auf Zahlung der Vertragsstrafe nicht entgegen, dass sich dieser bei mehreren Verstößen gegen die gleiche Verpflichtung mit jedem Fall der Zuwiderhandlung erhöht.85

71 St. Rspr.; BGH v. 8.3.1984 – IX ZR 144/83, NJW 1984, 1531; BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 235/91, NJW 1993, 326; BGH v. 17.10.2007 – VIII ZR 251/06, NJW 2008, 214; BGH v. 13.11.2013 – I ZR 77/12, NJW 2014, 2180; BGH v. 18.3.2015 – VIII ZR 242/13, NJW 2015, 1871 m.w.N.; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230, 1232. 72 BGH v. 17.1.2002 – VII ZR 198/00, NJW-RR 2002, 806, 807; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230, 1232. 73 BGH v. 6.12.2007 – VII ZR 28/07, NJW-RR 2008, 615; OLG Hamm v. 25.8.2003 – 35 W 15/03, NJW-RR 2004, 58; Staudinger/Rieble, Vor §§ 339 ff. BGB Rz. 133. 74 BGH v. 30.5.2012 – IV ZR 87/11, NJW 2012, 2577; BGH v. 12.5.1998 – KZR 18–97, NJW-RR 1998, 1508. 75 BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230, 1232; BGH v. 31.8.2017 – VII ZR 308/16, NJW 2017, 3145, 3146. 76 BGH v. 31.8.2017 – VII ZR 308/16, NJW 2017, 3145, 3146; BGH v. 20.1.2016 – VIII ZR 26/15, NJW 2016, 1230, 1232; BGH v. 7.5.1997 – VIII ZR 349/96, NJW 1997, 3233. 77 BGH v. 19.1.1989 – VII ZR 348/87, NJW-RR 1989, 527, 528; Redeker/Schmidt, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 6.1 Rz. 187, 188. 78 BGH v. 22.10.1987 – VII ZR 167/86, NJW-RR 1988, 146; BGH v. 20.1.2000 – VII ZR 46/98, NJW 2000, 2106, 2107; BGH v. 17.1.2002 – VII ZR 198/00, NJW-RR 2002, 806, 807. 79 BGH v. 20.1.2000 – VII ZR 46/98, NJW 2000, 2106; OLG Hamm v. 12.7.2017 – I-12 U 156/16, NJW 2018, 1026, 1027. 80 BGH v. 6.12.2007 – VII ZR 28/07, NJW-RR 2008, 615, 616. 81 OLG Hamm v. 12.7.2017 – I 12 U 156/16, NJW 2018, 1026, 1027. 82 BGH v. 17.1.2002 – VII ZR 198/00, NJW-RR 2002, 806, 807; BGH v. 20.1.2000 – VII ZR 46/98, NJW 2000, 2106, 2107; BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 387; BGH v. 12.3.1981 – VII ZR 293/79, NJW 1981, 1509, 1510. 83 BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805, 1808. 84 BGH v. 6.12.2012 – VII ZR 133/11, NJW 2013, 1362, 1363 f. 85 BGH v. 28.1.1993 – I ZR 294/90, NJW 1993, 1786, 1787 f.

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BGB § 339 Rz. 34 Verwirkung der Vertragsstrafe 34

Die vorgenannten Grundsätze können für IT-Verträge, insb. IT-Projektverträge, herangezogen werden, die Vertragsstrafen für einmalig zu erbringende Leistungen zum Gegenstand haben. Allerdings sind die Auftragssummen bei Bauverträgen und IT-Verträgen nur bedingt vergleichbar, da Bauleistungen einen ungleich höheren Materialanteil beinhalten.86 Es wird daher auch vertreten, dass für ITVerträge höhere Grenzen zulässig sind.87 Die EVB-IT operieren hingegen mit den in der baurechtlichen Rechtsprechung entwickelten Grenzwerten.

35

Die Rechtsprechung zu AGB in Bauverträgen ist jedoch auf Dauerschuldverhältnisse wie gewerbliche Mietverträge nicht zu übertragen.88 Auch eine Übertragung auf mietrechtlich zu beurteilende IT-Verträge dürfte danach ausscheiden. Bei Vertragsstrafen, deren Höhe von der Zeitspanne abhängt, innerhalb derer der Vertragspartner seine Verpflichtung zu fortlaufender Gebrauchsgewährung nicht erfüllt, muss die Vertragsstrafe daher lediglich in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes stehen.89

36

Unbestimmte Strafabreden können am Transparenzgebot gem. § 307 Abs. 1 Satz 2 scheitern, etwa wenn die Bemessungsgrundlage für die Vertragsstrafe nicht eindeutig bestimmbar ist.90 Aus der Regelung muss sich daher deutlich ergeben, welche konkreten Pflichten gesichert werden sollen, sodass die Vertragsstrafe für den Fall des „gravierenden Vertragsverstoßes“ oder bei „schuldhaft vertragswidrigem Verhalten“ mangels Warnfunktion unwirksam ist, falls keine nähere Konkretisierung durch eine beispielhafte Aufzählung erfolgt.91

37

Hinsichtlich der Teilbarkeit einer Vertragsstrafenregelung im Rahmen der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle („blue pencil“-Test) legt der BGH einen vergleichsweise großzügigen Maßstab an. Sichert die Strafklausel erkennbar mehrere Pflichten, so kann sie in Ansehung der verschiedenen Pflichten jeweils getrennt geprüft und verworfen oder beanstandet werden.92 cc) Gesetzliche Verbote

38

Neben den allgemeinen Regelungen und den AGB-rechtlichen Unwirksamkeitsgründen existieren auch gesetzliche Verbote zur Vereinbarung von Vertragsstrafen (z.B. § 555 BGB, § 1297 Abs. 2 BGB, § 12 Abs. 2 Nr. 2 BBiG), die in der IT-rechtlichen Praxis jedoch nicht von Bedeutung sind. d) Akzessorietät

39

Aufgrund der Akzessorietät des Strafversprechens muss die Hauptverbindlichkeit wirksam entstanden sein.93 Ist die Hauptverbindlichkeit unwirksam, nichtig, wirksam angefochten oder erloschen, so entfällt auch der Strafanspruch infolge seiner unselbständigen Natur.94 Dies gilt auch für den Fall, dass die Vertragserfüllung unmöglich wird, ohne dass den Schuldner ein Verschulden trifft.95 Bei Beendigung des Vertragsverhältnisses durch Kündigung kann der Strafanspruch nur noch für vorher begangene Pflichtverletzungen geltend gemacht werden.96 Entfällt die Hauptverbindlichkeit nach Eintritt

86 Redeker/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.10 Rz. 117; Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 93. 87 Redeker/Lensdorf, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.10 Rz. 117; Redeker/Redeker, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.6 Rz. 93. 88 BGH v. 12.3.2003 – XII ZR 18/00, NJW 2003, 2158, 2161; Ulmer/Brandner/Hensen/Fuchs, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 40. 89 BGH v. 12.3.2003 – XII ZR 18/00, NJW 2003, 2158, 2161. 90 BGH v. 6.12.2007 – VII ZR 28/07, NJW-RR 2008, 615, 616. 91 BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 65/05, NZA 2006, 34, 36 f. 92 BGH v. 27.11.2013 – VII ZR 371/12, NJW 2014, 456. 93 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 17; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 13. 94 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 264; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 14, 17; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 13. 95 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 264. 96 BGH v. 18.5.1962 – I ZR 91/60, NJW 1962, 1340, 1341.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

Rz. 46 § 339 BGB

der Verwirkung der Vertragsstrafe nachträglich mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc), bleibt der Strafanspruch i.d.R. aber bestehen.97 Aufgrund der Akzessorietät kann der Strafanspruch vor Verwirkung der Vertragsstrafe nicht selbständig abgetreten werden.98 Möglich ist jedoch die Abtretung des Anspruchs auf die verwirkte Vertragsstrafe.99 Sofern die Hauptverbindlichkeit abgetreten wird, geht auch der Strafanspruch auf den Zessionar über.100

40

Der Strafanspruch hat den gleichen Erfüllungsort wie die Hauptverbindlichkeit.101

41

Als Folge ihrer Akzessorietät kann die Vertragsstrafe in denselben Gerichtsständen wie die Hauptforderung geltend gemacht werden. Eine Streitigkeit wegen einer Vertragsstrafe aus einer strafbewehrten Unterlassungserklärung (nach einem Wettbewerbsverstoß) ist eine rein vertragliche Streitigkeit und fällt nicht unter § 13 Abs. 1 UWG.102

42

2. Verletzung der gesicherten Verpflichtung Die Vertragsstrafe kann für eine zu sichernde Handlungs- oder Unterlassungspflicht vereinbart werden. Auf Art und Inhalt der Hauptverbindlichkeit kommt es nicht an. Auch gesetzlich begründete Pflichten oder Nebenpflichten können durch ein Strafversprechen gesichert werden.103

43

a) Handlungspflicht Nach § 339 Satz 1 muss sich der Schuldner zur Verwirkung der Vertragsstrafe im Verzug i.S.d. § 286 befinden. Verzug ist bei gegenseitigen Verträgen ausgeschlossen, sofern dem Schuldner die Einrede des nichterfüllten Vertrags zusteht.104

44

Da es bei der Vertragsstrafe auf einen dem Gläubiger entstandenen Schaden nicht ankommt, kann auch 45 der hypothetische Schadensverlauf erst im Rahmen einer etwaigen Herabsetzung der Strafe nach § 343 Bedeutung erlangen.105 Die verschuldete Unmöglichkeit der Erfüllung der Hauptverbindlichkeit steht dem Verzug gleich.106 Geringfügige Pflichtverletzungen sind nach § 242 unerheblich.107 b) Unterlassungspflicht Handelt es sich bei der gesicherten Pflicht um eine Unterlassungspflicht, ist § 339 Satz 2 anzuwenden. Die Vertragsstrafe ist in diesem Fall mit der Zuwiderhandlung verwirkt. Die strafbewehrte Unterlassungserklärung muss das sanktionierte Verhalten so konkret und deutlich wie möglich wiedergeben, Verallgemeinerungen sind auf das notwendige Maß zu beschränken.108 Unterlassungserklärungen, die nur eine gesetzliche Unterlassungspflicht wiedergeben, haben hingegen rein deklaratorischen Charak97 KG v. 17.10.1994 – 25 U 7940/93, NJW 1995, 264, 268; a.A. LG München I v. 9.10.1974 – 15 S 13/74, NJW 1975, 784. 98 BGH v. 24.11.1989 – V ZR 16/88, NJW 1990, 832. 99 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 15; Soergel/Lindacher, § 339 BGB Rz. 28; Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 471; Jauernig/Stadler, § 339 BGB Rz. 23. 100 MünchKomm/Roth/Kieninger, § 401 BGB Rz. 9; Palandt/Grüneberg, § 401 BGB Rz. 6. 101 OLG Hamm v. 20.1.1989 – 29 U 155/86, NJW 1990, 652, 653; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 3; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 13; i.E. auch MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 25; für eigenen Erfüllungsort der Vertragsstrafe Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 448 und Rieble, JZ 2009, 716. 102 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 25; OLG Rostock v. 15.1.2014 – 2 AR 1/13, GRUR 2014, 304; Schulz/ Dörner/Ebert u.a./Schulze, § 339 BGB Rz. 14. 103 BGH v. 28.1.1993 – I ZR 294/90, NJW 1993, 1786, 1787; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 17 f.; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 13; Staudinger/Rieble, Vor §§ 339 ff. BGB Rz. 8. 104 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 263. 105 BGH v. 27.11.1968 – VIII ZR 9/67, NJW 1969, 461, 462; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 8; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 14. 106 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 33; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 14. 107 MünchKomm/Gottwald, BGB § 339 BGB Rz. 32; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 14. 108 OLG Frankfurt v. 14.1.1988 – 6 U 206/86, OLGZ 1988, 349, 350.

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BGB § 339 Rz. 46 Verwirkung der Vertragsstrafe ter und begründen keinen vertraglichen Unterlassungsanspruch, dessen Verletzung eine Vertragsstrafe auslöst.109 Anwendungsfälle sind beispielsweise die Verschwiegenheitsverpflichtung,110 das nachvertragliche Wettbewerbsverbot111 oder Unterlassungserklärungen zur Beseitigung der Erstbegehungsoder Wiederholungsgefahr bei wettbewerbsrechtlichen oder urheberrechtlichen Unterlassungsansprüchen.112 47

Wann ein Unterlassungsanspruch verletzt und die damit verbundene Vertragsstrafe verwirkt ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Miterfasst sind i.d.R. im Kern identische Verstöße, die nur eine geringfügige Abweichung von der durch das strafbewehrte Unterlassungsversprechen erfassten verbotenen Verletzungsform darstellen, sog. Kerntheorie.113 Zur Bestimmung, ob eine bestimmte Handlung einen im Kern identischen Verstoß darstellt und zu einer Verwirkung der Vertragsstrafe führt, ist auf das geschützte Interesse des Gläubigers abzustellen.114 Die Veröffentlichung einer Internetzeitung unter einem bestimmten Titel im Verhältnis zu der Veröffentlichung einer Zeitung unter demselben Titel in gedruckter Form stellt eine im Kern gleichartige Verletzungshandlung dar.115 Eine Unterlassungserklärung kann die Pflicht zur Überprüfung von Suchmaschinen bzw. deren Caches enthalten.116 Ein unter Täuschung über die Verbrauchereigenschaft durchgeführter Testkauf zur Feststellung eines Verstoßes gegen eine Unterlassungserklärung führt nicht zur Verwirkung der vereinbarten Vertragsstrafe.117

48

Im Falle einer andauernden Störung kann sich aus der Parteivereinbarung oder durch Auslegung der Unterlassungspflicht die Pflicht zur aktiven Beseitigung des Störungszustands ergeben, soweit dies im konkreten Fall erforderlich und zumutbar ist.118 Das kann auch zur Einwirkungspflicht auf Dritte führen, sofern der Schuldner mit einem Verstoß gegen die Unterlassungspflicht rechnen muss und er rechtlich oder tatsächlich auf das Verhalten des Dritten einwirken kann.119 3. Verschulden

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Der Strafanspruch entsteht bei Verzug des Schuldners und somit nach § 286 Abs. 4 nur, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat.120 Das Vertretenmüssen richtet sich nach § 276 und setzt vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten voraus.121 Das Verschulden eines Erfüllungsgehilfen kann gem. § 278 zugerechnet werden.122 Das Verschuldensprinzip gilt auch für die Unterlassungs-

109 OLG Frankfurt v. 14.1.1988 – 6 U 206/86, OLGZ 1988, 349, 350. 110 BGH v. 10.3.1986 – II ZR 147/85, NJW-RR 1986, 1159, 1160. 111 Erman/Schaub, Vor § 339 BGB Rz. 1; MünchKomm/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 1232; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 14 m.w.N. 112 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Teil 2, Rz. 296 f. m.w.N.; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 8; Köhler/ Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, § 8 UWG Rz. 1.48; Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche und Verfahren, Kap. 20 Rz. 2; Wandtke/Bullinger/von Wolff, UrhR, § 97 UrhG Rz. 37; Auer-Reinsdorff/Conrad/Witte/ Auer-Reinsdorff, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 5 Rz. 438. 113 BGH v. 3.7.2003 – I ZR 297/00, NJW-RR 2003, 1278 – Olympiasiegerin; OLG Frankfurt v. 14.1.1988 – 6 U 206/86, OLGZ 1988, 349, 351; BGH v. 20.6.1991 – I ZR 277/98, GRUR 1992, 61, 62; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 7; Erman/Schaub, § 339 BGB Rz. 8; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 37 m.w.N.; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 14. 114 OLG Düsseldorf v. 28.5.2015 – 22 U 4/15 m.w.N. 115 BGH v. 18.6.2009 – I ZR 47/07, CR 2010, 112; ähnlich zum Verhältnis zwischen Werbung in einer Zeitung und im Internet: OLG Stuttgart v. 21.8.2008 – 2 U 41/08, OLGR Stuttgart 2009, 329. 116 OLG Zweibrücken v. 19.5.2016 – 4 U 45/15, MMR 2016, 831; OLG Stuttgart v. 10.9.2015 – 2 W 40/15, MMR 2016, 606. 117 BGH v. 11.5.2017 – I ZR 60/16, MMR 2017, 818 – Testkauf im Internet. 118 BGH v. 4.5.2017 – I ZR 208/15, NJW 2018, 155, 156 f. – Luftentfeuchter; BGH v. 3.5.1974 – I ZR 52/73, NJW 1974, 1244 – Reparaturversicherung; BGH v. 18.9.2014 – I ZR 76/13, GRUR 2015, 258 – CT Paradies; BGH v. 30.7.2015 – I ZR 250/12, NJW-RR 2016, 485 – Piadina-Rückruf; BGH v. 19.11.2015 – I ZR 109/14, GRUR 2016, 720 – Hot Sox; BGH v. 29.9.2016 – I ZB 34/15, GRUR 2017, 208. 119 BGH v. 13.11.2013 – I ZR 77/12, NJW 2014, 2180, 2182. 120 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 263. 121 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 34; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 15. 122 BGH v. 9.5.2007 – VIII ZR 115/06, NJW-RR 2007, 1505, 1506; BGH v. 4.5.2017 – I ZR 208/15, NJW 2018, 155, 156.

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Verwirkung der Vertragsstrafe

Rz. 53 § 339 BGB

pflicht nach § 339 Satz 2.123 Der Strafanspruch entfällt, wenn der Schuldner beweist, dass er die Pflichtverletzung bzw. Zuwiderhandlung nicht zu vertreten hat.124 Durch Individualvereinbarung kann das Verschuldenserfordernis abbedungen und eine verschuldensunabhängige Vertragsstrafe vereinbart werden.125 Dies ist in SLA regelmäßig der Fall.126 Die formularmäßige Vereinbarung einer verschuldensunabhängigen Vertragsstrafe wird hingegen i.d.R. unwirksam sein, weil eine unangemessene Benachteiligung gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 vorliegt.127 Eine andere Beurteilung ist möglich, wenn ausnahmsweise gewichtige Gesichtspunkte für die Wirksamkeit der Regelung sprechen.128 4. Rechtsfolgen Rechtsfolge der Verwirkung der Vertragsstrafe ist die Entstehung des Strafanspruchs. Eine hoch angesetzte Vertragsstrafe kann durch restriktive Auslegung der Vereinbarung ergeben, dass bloße Vorbereitungshandlungen noch nicht zur Entstehung des Strafanspruchs führen sollen.129 Auf die Vertragsstrafe fällt keine Umsatzsteuer an.130

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a) Festsetzung der Strafe Ist der Strafanspruch entstanden, ergeben sich Inhalt und Höhe der Vertragsstrafe aus der Parteivereinbarung.131 In SLA kann vorgesehen werden, dass die rechtzeitige Zurverfügungstellung einer geeigneten Umgehungslösung (workaround) zur Minderung oder zum Ausschluss der vereinbarten Vertragsstrafe führt.132

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Die Entscheidung über die Strafhöhe kann gem. §§ 315, 317 einer Vertragspartei, üblicherweise dem Gläubiger,133 oder einem Dritten überlassen werden.134 Die Überlassung der Festsetzung an ein Schiedsgericht ist zulässig.135 Die Überlassung der Festsetzung an staatliche Gerichte ist hingegen nicht möglich.136 Eine Bestimmung der Strafhöhe durch eine Vertragspartei oder einen Dritten unterliegt gem. § 315 Abs. 3 Satz 2 bzw. § 319 Abs. 1 Satz 2 der richterlichen Kontrolle.

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Bei Vereinbarungen nach dem sog. neuen Hamburger Brauch erhält der Gläubiger die Befugnis, die Strafhöhe im Fall der Zuwiderhandlung des Schuldners gem. § 315 Abs. 1 nach billigem Ermessen festzusetzen, wobei die Festsetzung ebenfalls der richterlichen Kontrolle gem. § 315 unterworfen wird.137

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123 BGH v. 29.6.1972 – II ZR 101/70, NJW 1972, 1893, 1895. 124 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 38; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 15. 125 BGH v. 23.5.1958 – VIII ZR 126/57, NJW 1958, 1483, 1484; BGH v. 11.3.1971 – VII ZR 112/69, NJW 1971, 883; BGH v. 18.12.1981 – V ZR 233/80, NJW 1982, 759, 760, 761; BGH v. 28.1.1997 – XI ZR 42/96, NJW-RR 1997, 686, 688; für Verfügbarkeitsklauseln s. LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04, CR 2007, 396. 126 Söbbing/Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Teil 3 Rz. 630. 127 BGH v. 28.9.1978 – II ZR 10/77, NJW 1979, 105, 106; BGH v. 6.12.2007 – VII ZR 28/07, NJW-RR 2008, 615, 616. 128 BGH v. 24.4.1991 – VIII ZR 180/90, NJW-RR 1991, 1013, 1015; OLG Naumburg v. 10.2.2004 – 11 U 78/03, VIZ 2004, 246; BGH v. 28.9.1978 – II ZR 10/77, NJW 1979, 105, 106 f.; vgl. Staudinger/Coester-Waltjen, § 309 Nr. 6 BGB Rz. 26; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 35; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 15. 129 OLG Hamm v. 26.10.1992 – 8 U 32/92, NJW-RR 1993, 1383, 1385. 130 OLG Koblenz v. 7.8.2008 – 5 U 140/08, GRUR-RR 2008, 413; Staudinger/Rieble, § 339 BGB Rz. 526; Palandt/ Grüneberg, § 339 BGB Rz. 17. 131 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 28; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 17. 132 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 105 und § 14 Rz. 85. 133 BGH v. 17.9.2009 – I ZR 217/07, NJW-RR 2010, 1127, 1130. 134 BGH v. 14.10.1977 – I ZR 119/76, GRUR 1978, 192, 193. 135 RG v. 22.12.1936 – VII 178/36, RGZ 153, 193, 195. 136 BGH v. 14.10.1977 – I ZR 119/76, GRUR 1978, 192; BAG v. 25.9.1980 – 3 AZR 133/80, NJW 1981, 1799; BeckOK BGB/Janoschek, § 339 Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 339 BGB Rz. 17; a.A. Lindacher, BB 1978, 270; Erman/Schaub, § 339 BGB Rz. 2a; OLG Hamburg v. 11.7.1962 – 4 U 86/62, JZ 1963, 172; OLG Karlsruhe v. 26.3.1975 – 6 U 51/73, WRP 1975, 306; Soergel/Lindacher, § 339 BGB Rz. 5; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 31; Jauernig/Stadler, § 339 BGB Rz. 16; in Ausnahmefällen zulässig: BGH v. 6.11.1997 – III ZR 177/96, NJW 1998, 1388, 1390. 137 BGH v. 17.9.2009 – I ZR 217/07, NJW-RR 2010, 1127, 1130.

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BGB § 339 Rz. 53 Verwirkung der Vertragsstrafe Damit trägt der Gläubiger durch sein Bestimmungsrecht zwar das Risiko, dass der von ihm als angemessen festgesetzte Betrag der richterlichen Beurteilung nicht standhält, er kann jedoch die Strafhöhe bei schwerwiegenden oder wiederholten Pflichtverletzungen in einer solchen Höhe bestimmen, die einen fest vereinbarten Betrag erheblich übersteigen würde.138 Bei der Beurteilung nach billigem Ermessen ist in erster Linie auf den Sanktionscharakter der Vertragsstrafe abzustellen, sodass das Verhalten des Schuldners, insb. dessen Verschulden, und das Gefahrenpotenzial der Zuwiderhandlung für den Gläubiger sowie die Abschreckung vor erneuten Verletzungshandlungen zu berücksichtigen sind.139 Einen weiteren Anhaltspunkt stellt die Funktion der Vertragsstrafe als pauschalierter Schadensersatz dar.140 Zulässig ist auch eine Vereinbarung, die durch Bestimmung eines Höchstbetrags einen Rahmen schafft, innerhalb dessen der angemessene Betrag für die konkrete Pflichtverletzung festzulegen ist.141 In diesem Fall ist der Höchstbetrag so festzusetzen, dass der Betrag einer fest vereinbarten Vertragsstrafe in angemessener Weise überstiegen wird, wovon beim Doppelten eines fest vereinbarten Betrags i.d.R. auszugehen ist.142 Die Herabsetzung einer Strafe im Rahmen der richterlichen Kontrolle gem. § 315 Abs. 3 Satz 2 hat Vorrang vor § 343, so dass hierüber auch für Kaufleute, für die § 343 gem. § 348 HGB nicht gilt, eine Herabsetzung der Strafe möglich ist.143 54

Wird die Vertragsstrafe für jeden Fall der Zuwiderhandlung vereinbart, kann sich bei mehrfachen Einzelverstößen gegen die gesicherte Verpflichtung die Frage stellen, in welchem Umfang die Vertragsstrafe verwirkt ist.144 Eine feste Regel der zivilrechtlichen Fortsetzungstat oder der Rechtsgedanke des Fortsetzungszusammenhangs, die mehrere Verstöße zu einer rechtlichen Einheit zusammenfassen, werden von der Rechtsprechung mittlerweile abgelehnt.145 Es kommt allein auf die Auslegung des Strafversprechens im Einzelfall an.146 Danach ist nur maßgeblich, was die Parteien unter einer konkreten Zuwiderhandlung verstanden haben bzw. was sie unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und den Umständen vereinbart hätten.147 Der Rechtsgedanke des Fortsetzungszusammenhangs kann jedoch bei der Auslegung als einer von mehreren Gesichtspunkten berücksichtigt werden, sodass i.E. mehrere Verstöße als natürliche Handlung zu einer rechtlichen Einheit zusammengefasst werden können.148 Gleichartige Verstöße auf mehreren Online-Handelsplattformen sind als Einzelverstöße zu werten.149 Der Verzicht auf die Einrede des Fortsetzungszusammenhangs ist grundsätzlich möglich, in AGB jedoch nur ausnahmsweise bei Vorliegen besonders schutzwürdiger Interessen des Gläubigers zulässig.150 b) Unzulässige Rechtsausübung

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Die Durchsetzung eines Strafanspruchs verletzt die Grundsätze von Treu und Glauben gem. § 242 nur, wenn im Einzelfall besondere, schwerwiegende Umstände hinzutreten.151 Dabei sind Zweck der Vertragsstrafe sowie der in den §§ 339 ff. verankerte Gedanke des Schuldnerschutzes zu berücksichti-

138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151

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BGH v. 12.7.1984 – I ZR 123/82, NJW 1985, 191, 192. BGH v. 30.9.1993 – I ZR 54/91, NJW 1994, 45, 46 f. BGH v. 30.9.1993 – I ZR 54/91, NJW 1994, 45, 47. BGH v. 12.7.1984 – I ZR 123/82, NJW 1985, 191, 192. BGH v. 12.7.1984 – I ZR 123/82, NJW 1985, 191, 192. BGH v. 30.9.1993 – I ZR 54/91, NJW 1994, 45; MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 29. Erman/Schaub, § 339 BGB Rz. 9, 9a m.w.N. BGH v. 25.1.2001 – I ZR 323/98, NJW 2001, 2622, 2623 f.; anders noch BGH v. 10.12.1992 – I ZR 186/90, NJW 1993, 721. BGH v. 9.7.2015 – I ZR 224/13, NJW-RR 2016, 155, 158; BGH v. 17.7.2008 – I ZR 168/05, NJW 2009, 1882, 1885; BGH v. 25.1.2001 – I ZR 323/98, NJW 2001, 2622, 2624; zur Auslegung einer Vertragsstrafenregelung zwischen ebay-Händlern: OLG Hamm v. 22.3.2007 – 4 U 170/06. BGH v. 20.9.1960 – I ZR 77/59, NJW 1960, 2332. BGH v. 9.7.2015 – I ZR 224/13, NJW-RR 2016, 155, 158; BGH v. 25.1.2001 – I ZR 323/98, NJW 2001, 2622, 2623 f. OLG München v. 23.10.2014 – 29 U 2626/14, MMR 2015, 111. BGH v. 10.12.1992 – I ZR 186/90, NJW 1993, 721; BGH v. 28.1.1993 – I ZR 294/90, NJW 1993, 1786, 1788; Erman/Schaub, § 339 BGB Rz. 9a m.w.N. BGH v. 23.1.1991 – VIII ZR 42/90, NJW-RR 1991, 568, 569.

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Strafversprechen für Nichterfüllung

§ 340 BGB

gen.152 Insb. bei Unterlassungsverpflichtungen ist das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien im besonderen Maße vom Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt.153 Ein Fall des Rechtsmissbrauchs liegt vor, wenn sich der Gläubiger auf seinen Strafanspruch beruft, obwohl er durch sein eigenes vertragswidriges Verhalten die Pflichtverletzung des Schuldners veranlasst hat.154 Zudem verhält sich der Vertragsstrafengläubiger treuwidrig, wenn er über Jahre hinweg Vertragsverstöße sammelt, um so einen möglichst hohen, wirtschaftlich bedrohlichen Vertragsstrafenanspruch geltend zu machen.155 c) Verjährung Der Strafanspruch verjährt gem. den allgemeinen Regeln (§§ 195, 199),156 spätestens jedoch mit Eintritt der Verjährung der gesicherten Hauptverbindlichkeit.157

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d) Verwirkung und Wegfall Hinsichtlich der Verwirkung des Strafanspruchs gelten die allgemeinen Grundsätze. Das OLG Köln hat 57 im Zusammenhang mit Verstößen gegen eine strafbewehrte Unterlassungserklärung im Bereich des Affiliate-Marketing entschieden, dass ein Strafanspruch verwirkt sein kann, wenn er über einen Zeitraum, der das Vierfache der wettbewerbsrechtlichen (§ 11 UWG) und zwei Drittel der regelmäßigen (§ 195 BGB, § 20 MarkenG) Verjährungsfrist umfasst, nicht geltend gemacht wird.158 Ein Wegfall der Vertragsstrafe kann sich zudem aus § 341 Abs. 3 ergeben, wenn sich der Gläubiger die Vertragsstrafe nicht bei Annahme der Leistung vorbehält (vgl. § 341 Rz. 8).

§ 340 Strafversprechen für Nichterfüllung (1) Hat der Schuldner die Strafe für den Fall versprochen, dass er seine Verbindlichkeit nicht erfüllt, so kann der Gläubiger die verwirkte Strafe statt der Erfüllung verlangen. Erklärt der Gläubiger dem Schuldner, dass er die Strafe verlange, so ist der Anspruch auf Erfüllung ausgeschlossen. (2) Steht dem Gläubiger ein Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu, so kann er die verwirkte Strafe als Mindestbetrag des Schadens verlangen. Die Geltendmachung eines weiteren Schadens ist nicht ausgeschlossen. I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zum Erfüllungsanspruch (§ 340 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . a) Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . .

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b) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendbarkeit auf IT-rechtliche Dauerschuldverhältnisse . . . . . . . 2. Verhältnis zum Schadensersatzanspruch (§ 340 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Bräutigam (Hrsg.), IT-Outsourcing und Cloud-Computing, 4. Aufl. 2019; Hartung/Stiemerling, Effektive Service-Level-Kriterien – Welche Service Level-Kriterien effektiv sind und wie sie gemessen und vertraglich geschickt vereinbart werden können, CR 2011, 617; Lindacher, Phänomenologie der Vertragsstrafe, 1972; Schuster, 152 BGH v. 23.3.1971 – VI ZR 199/69, NJW 1971, 1126; BGH v. 23.1.1991 – VIII ZR 42/90, NJW-RR 1991, 568, 569 f. 153 BGH v. 7.12.1989 – I ZR 62/88, NJW 1990, 1906, 1907. 154 BGH v. 23.3.1971 – VI ZR 199/69, NJW 1971, 1126; BGH v. 23.1.1991 – VIII ZR 42/90, NJW-RR 1991, 568, 569 f. 155 BGH v. 18.9.1997 – I ZR 71/95, NJW 1998, 1144, 1147. 156 BGH v. 20.6.1991 – I ZR 176/93, NJW-RR 1991, 1318; jurisPK BGB/Beater, § 339 BGB Rz. 98. 157 MünchKomm/Gottwald, § 339 BGB Rz. 19; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 6. 158 OLG Köln v. 12.2.2010 – I-6 U 169/09, MMR 2010, 782.

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BGB § 340 Rz. 1 Strafversprechen für Nichterfüllung Rechtsnatur der Service Level bei IT-Verträgen – Wie die Gestaltung von Service Levels die Leistung, die Gewährleistung und den Vertragstyp konkretisiert, CR 2009, 205.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

§ 340 bestimmt mit §§ 341, 342 das Verhältnis des Strafanspruchs zum Erfüllungsanspruch (Abs. 1) und zum Schadensersatzanspruch (Abs. 2).1 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

Während § 341 für das Strafversprechen im Falle der Schlechtleistung gilt, ist der § 340 auf das Strafversprechen für den Fall der Nichterfüllung anwendbar. Dabei ist die gänzliche oder auch teilweise Nichterfüllung der Verbindlichkeit vom Anwendungsbereich der Norm erfasst.2 Sofern das Strafversprechen uneindeutig ist, muss durch Auslegung ermittelt werden, ob die Erfüllung als solche oder nur die ordnungsmäßige Erfüllung mit der Vertragsstrafe gesichert werden soll.3 Aus dieser gesetzlich vorgesehenen Unterscheidung folgt auch, dass ein Strafversprechen für den Fall der Nichterfüllung der gesicherten Verpflichtung nicht verwirkt wird, wenn der Schuldner nur nicht ordnungsgemäß leistet.4 Eine die Strafe ausschließende Erfüllung ist vom Schuldner als rechtsvernichtende Einwendung zu beweisen.5

II. Norminhalt 1. Verhältnis zum Erfüllungsanspruch (§ 340 Abs. 1) a) Wahlrecht 3

Strafanspruch und Erfüllungsanspruch stehen zueinander in elektiver Konkurrenz.6 Nach Abs. 1 Satz 1 kann der Gläubiger nach eigenem Ermessen wahlweise entweder die Erfüllung oder die Vertragsstrafe fordern.7 Der Gläubiger übt sein Wahlrecht durch Abgabe einer einseitigen, empfangsbedürftigen Willenserklärung aus.8 Die Annahme der Erfüllung gilt als Wahl des Erfüllungsanspruchs.9 Als sog. verhaltener Anspruch ist der Anspruch auf Vertragsstrafe erst mit der Erklärung des Gläubigers erfüllbar.10 Die Zahlung der Vertragsstrafe befreit den Schuldner somit nicht von seiner Erfüllungspflicht und umgekehrt die Erfüllung nicht von seiner Zahlungspflicht aufgrund des Strafversprechens, solange der Gläubiger sein Wahlrecht noch nicht ausgeübt hat. Da es sich um ein Wahlrecht, nicht um eine Wahlschuld, handelt, kann der Schuldner die Entscheidung des Gläubigers nicht beeinflussen oder eine Erklärungsfrist setzen.11

1 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 1. 2 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 1, 7; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 2. 3 BAG v. 30.4.1971 – 3 AZR 259/70, NJW 1971, 2008; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 1, 5; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 2. 4 BAG v. 14.6.1975 – 5 AZR 245/74, BB 1975, 1160; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 2. 5 MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 3; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 12 f. 6 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 9; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 4; BeckOK BGB/Janoschek, § 340 Rz. 2. 7 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 9; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 4. 8 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 11; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 4. 9 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 10; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 4. 10 BAG v. 7.11.1969 – 3 AZR 303/69, NJW 1970, 1146, 1147; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 12; Palandt/ Grüneberg, § 340 BGB Rz. 6; Erman/Westermann, § 340 BGB Rz. 3. 11 BAG v. 7.11.1969 – 3 AZR 303/69, NJW 1970, 1146, 1147; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 9; Palandt/ Grüneberg, § 340 BGB Rz. 6; Erman/Westermann, § 340 BGB Rz. 3.

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Strafversprechen für Nichterfüllung

Rz. 8 § 340 BGB

b) Rechtsfolge Fordert der Gläubiger die Vertragsstrafe, entfällt sein Erfüllungsanspruch nach Abs. 1 Satz 2. Das gilt auch für einen Unterlassungsanspruch des Gläubigers, allerdings nur für den Zeitraum, auf den sich die Vertragsstrafe bezieht.12 Für die verbleibende Zeit bleibt der Unterlassungsanspruch bestehen.13 Liegt ein gegenseitiger Vertrag vor, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob mit dem Erfüllungsanspruch des Gläubigers auch der Gegenanspruch des Schuldners erlöschen soll, was im Zweifel anzunehmen ist.14 Für den Fall, dass der Gläubiger den Erfüllungsanspruch geltend macht, wird die Erklärung für den Gläubiger erst mit Annahme der Leistung als Erfüllung bindend.15

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c) Anwendbarkeit auf IT-rechtliche Dauerschuldverhältnisse Vertragsstrafenvereinbarungen in IT-rechtlichen Dauerschuldverhältnissen unterfallen § 340 BGB, wenn mit den vereinbarten Leistungskriterien die geschuldete Hauptleistung konkretisiert wird. Dies ist beispielsweise bei Verfügbarkeitsregelungen in Hosting oder SaaS-Verträgen in aller Regel der Fall.16 Etwas anderes kann sich ergeben, wenn Verfügbarkeitsregelungen ausdrücklich als Regelungen zur Schlechtleistung ausgestaltet sind.

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Auf § 340 unterfallende Vertragsstrafenvereinbarungen in IT-rechtlichen Dauerschuldverhältnissen 6 passt die Vorschrift nicht. Das Wahlrecht gem. § 340 Abs. 1 ist insoweit ungeeignet, da es sich bei den abgesicherten Leistungen i.d.R. um nicht nachholbare Leistungen handelt.17 Die Parteien wollen allerdings nicht, dass der Erfüllungsanspruch bei Forderung der Vertragsstrafe durch den Gläubiger entfällt, sondern betrachten die Nichteinhaltung der Verfügbarkeitsquote hinsichtlich der wirtschaftlichen Abwicklung – insoweit widersprüchlich zur Einordnung unter § 340 – als Fall der Schlechtleistung, sodass einerseits der Schuldner die Vertragsstrafe zu zahlen hat und andererseits der Gläubiger (ggf. unter Anrechnung der Vertragsstrafe) zur Zahlung der vereinbarten Vergütung verpflichtet bleibt.18 Daher wird § 340 Abs. 1 in entsprechenden Verträgen i.d.R. vertraglich ausgeschlossen. 2. Verhältnis zum Schadensersatzanspruch (§ 340 Abs. 2) Der Gläubiger hat gem. Abs. 2 Satz 1 die Wahl zwischen der Vertragsstrafe und einem ihm aus dem entsprechenden Verhalten des Schuldners zustehenden Schadensersatzanspruch nach §§ 280 ff.19 (zum Wahlrecht des Gläubigers s. Rz. 3). Auch bei Wahl des Schadensersatzanspruchs muss ein Nachweis des Schadens bis zur Höhe der verwirkten Vertragsstrafe nicht erbracht werden.20 Nach Abs. 2 Satz 2 kann der Gläubiger auch bei Wahl der Vertragsstrafe, die eine Mindestentschädigung darstellt, noch einen darüber hinausgehenden Schadensersatzanspruch geltend machen.21

7

Allerdings ist die Vertragsstrafe auf einen Schadensersatzanspruch des Gläubigers anzurechnen, soweit sich die betroffenen Interessen der Ansprüche decken, damit der Gläubiger nicht doppelt entschädigt wird.22 Eine Anrechnung findet nicht statt auf zum Zeitpunkt des Strafversprechens bereits entstande-

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12 LAG Mannheim v. 6.11.1972 – 7 Sa 90/72, NJW 1973, 533. 13 LAG Mannheim v. 6.11.1972 – 7 Sa 90/72, NJW 1973, 533, 534; BAG v. 26.1.1973 – 3 AZR 233/72, NJW 1973, 1717, 1718. 14 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 13; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 5. 15 BAG v. 7.11.1969 – 3 AZR 303/69, NJW 1970, 1146, 1147; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 10; Staudinger/Rieble, § 340 BGB Rz. 26; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 4. 16 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 543; Schuster, CR, 2009, 205, 208; BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Teil 4, Rz. 1108. 17 Schuster, CR 2009, 205, 208; Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 623. 18 Vgl. Schuster, CR, 2009, 205, 208. 19 Staudinger/Rieble, § 340 BGB Rz. 22, 26; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 9; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 7. 20 BGH v. 27.11.1974 – VIII ZR 9/73, NJW 1975, 163, 165. 21 MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 18 f.; Staudinger/Rieble, § 340 BGB Rz. 67; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 7. 22 BGH v. 8.5.2008 – I ZR 88/06, NJW 2008, 2849.

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BGB § 340 Rz. 8 Strafversprechen für Nichterfüllung ne Schadensersatzansprüche.23 Für die IT-rechtliche Vertragsgestaltung ergibt sich daraus das Bedürfnis, die Frage zu regeln, ob die Vertragsstrafe auf vertraglich vereinbarte Haftungshöchstsummen anzurechnen ist.24

III. Abdingbarkeit 9

§§ 340, 341 sind dispositiv. Der in §§ 340 Abs. 2, 341 Abs. 2 enthaltene Grundgedanke, dass Schadensersatz und Vertragsstrafe nicht nebeneinander verlangt werden können, sondern die Vertragsstrafe auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen ist, kann nur durch Individualvereinbarung der Parteien geändert werden.25 In AGB ist dies jedoch nicht möglich, da eine solche Klausel den Schuldner unangemessen benachteiligt, indem sie zu einer dem Schadensersatzrecht fremden und mit dem Zweck der Vertragsstrafe unvereinbaren Bereicherung des Gläubigers führen würde.26

§ 341 Strafversprechen für nicht gehörige Erfüllung (1) Hat der Schuldner die Strafe für den Fall versprochen, dass er seine Verbindlichkeit nicht in gehöriger Weise, insbesondere nicht zu der bestimmten Zeit, erfüllt, so kann der Gläubiger die verwirkte Strafe neben der Erfüllung verlangen. (2) Steht dem Gläubiger ein Anspruch auf Schadensersatz wegen der nicht gehörigen Erfüllung zu, so findet die Vorschrift des § 340 Abs. 2 Anwendung. (3) Nimmt der Gläubiger die Erfüllung an, so kann er die Strafe nur verlangen, wenn er sich das Recht dazu bei der Annahme vorbehält. I. II. 1. 2.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis zum Schadensersatzanspruch Vorbehalt der Vertragsstrafe . . . . . . . a) Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . b) Annahme . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

1 2 3 4 4 5

c) Erklärung des Vorbehalts . . . . . . . . . . d) Wirkung des unterlassenen Vorbehalts . . e) Anwendbarkeit auf IT-rechtliche Dauerschuldverhältnisse . . . . . . . . . . .

7 8 9

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Literatur: Auer-Reinsdorff, Wirksamkeit von AGB-Klauseln zu Höhe und Fristen, ITRB 2005, 242; Hartung/Stiemerling, Effektive Service-Level-Kriterien – Welche Service Level-Kriterien effektiv sind und wie sie gemessen und vertraglich geschickt vereinbart werden können, CR 2011, 617; Schulz/Rosenkranz, Cloud Computing – Bedarfsorientierte Nutzung von IT-Ressourcen, ITRB 2009, 232; Schuster, Rechtsnatur der Service Level bei IT-Verträgen – Wie die Gestaltung von Service Levels die Leistung, die Gewährleistung und den Vertragstyp konkretisiert, CR 2009, 205.

I. Allgemeines 1

In § 341 ist das Verhältnis des Strafversprechens zum Erfüllungs- und Schadensersatzanspruch des Gläubigers für den Fall geregelt, dass das Strafversprechen für die nicht ordnungsgemäße Erfüllung vereinbart worden ist. Diese Konstellation ist in IT-Verträgen der Regelfall.

23 BGH v. 26.3.2009 – I ZR 44/06, NJW-RR 2009, 1053, 1056. 24 Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 218. 25 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 263; BGH v. 27.11.1974 – VIII ZR 9/73, NJW 1975, 163, 164; MünchKomm/Gottwald, § 340 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 340 BGB Rz. 3; a.A. Lindacher, Phänomenologie der Vertragsstrafe, S. 188 ff. 26 BGH v. 27.11.1974 – VIII ZR 9/73, NJW 1975, 163, 164 f.

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Strafversprechen für nicht gehörige Erfüllung

Rz. 6 § 341 BGB

II. Norminhalt Im Gegensatz zu § 340 kann der Gläubiger nach § 341 Abs. 1 eine Vertragsstrafe wegen nicht ord- 2 nungsgemäßer Erfüllung neben der Erfüllung kumulativ fordern.1 Auch Verzugszinsen auf die Hauptverbindlichkeit ab dem Zeitpunkt, in dem die Vertragsstrafe verwirkt ist, kann der Gläubiger ungekürzt neben der Vertragsstrafe fordern.2 1. Verhältnis zum Schadensersatzanspruch Macht der Gläubiger einen Anspruch auf Schadensersatz wegen nicht ordnungsgemäßer Erfüllung geltend, erfolgt gem. §§ 341 Abs. 2, 340 Abs. 2 eine Anrechnung der Vertragsstrafe auf den Schadensersatzanspruch (vgl. § 340 Rz. 8). Eine Anrechnung findet nicht statt, wenn der Gläubiger die Vertragsstrafe wegen nicht rechtzeitiger Erfüllung und daneben den später entstandenen Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung verlangt.3

3

2. Vorbehalt der Vertragsstrafe a) Zeitpunkt Der Gläubiger muss sich gem. Abs. 3 die Vertragsstrafe vorbehalten. Maßgebender Zeitpunkt für die Erklärung des Vorbehalts ist die Annahme der Leistung.4 Dieses Erfordernis ist streng auszulegen.5 Es kommt auf den Zeitpunkt der Hauptleistung an. Ein vor oder nach der Annahme erklärter Vorbehalt ist unbeachtlich.6

4

b) Annahme Der Begriff der Annahme in § 341 Abs. 3, der Annahme als Erfüllung in § 363 und der Abnahme in § 640 sind gleichbedeutend.7 Die Annahme liegt vor, wenn der Gläubiger die Leistung als im Wesentlichen den vertraglichen Anforderungen entsprechend in Empfang nimmt.8 Das Annahmeverhalten ist entsprechend den Regeln über die Auslegung von Willenserklärungen auslegungsfähig.9 Hat der Gläubiger die Erfüllung abgelehnt, so fehlt es an einer Annahme.10 Einer ausdrücklichen Erklärung der Annahme bedarf es nicht. Ob eine Annahme der Leistung vorliegt, ist vielmehr aufgrund der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.11

5

Vorbehalte vor oder nach der Erfüllungsannahme sind nicht ausreichend.12 Dies gilt auch für die bloße Ankündigung, die Vertragsstrafe geltend zu machen.13 Hingegen ist nach neuerer Rechtsprechung

6

1 MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 1. 2 BGH v. 25.3.1963 – II ZR 83/62, NJW 1963, 1197. 3 BGH v. 25.3.1963 – II ZR 83/62, NJW 1963, 1197; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 3; Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 1. 4 Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 3. 5 BGH v. 3.11.1960 – VII ZR 150/59, NJW 1961, 115; BGH v. 10.2.1977 – VII ZR 17/75, NJW 1977, 897, 898; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 7; Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 3. 6 MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 7; Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 3. 7 BGH v. 3.11.1960 – VII ZR 150/59, NJW 1961, 115, 116; RG v. 22.4.1904 – VII 490/03, RGZ 57, 337, 338; RG v. 11.1.1905 – V 303/04, RGZ 59, 378, 380; RG v. 8.3.1910 – VII 251/09, RGZ 73, 146, 147; a.A. Staudinger/ Rieble, § 341 BGB Rz. 32 f. 8 BGH v. 3.11.1960 – VII ZR 150/59, NJW 1961, 115, 116; BGH v. 12.6.1975 – VII ZR 55/73, NJW 1975, 1701, 1702; Erman/Schaub, § 341 BGB Rz. 3; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 10. 9 BGH v. 12.6.2013 – XII ZR 50/12, NJW-RR 2013, 1232, 1233; Jauernig/Stürner, § 363 BGB Rz. 2; BeckOK BGB/Dennhardt, § 363 Rz. 5. 10 MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 10; BGH v. 12.6.2013 – XII ZR 50/12, NJW-RR 2013, 1232, 1233; OLG Köln v. 17.8.1984 – 4 UF 64/84, FamRZ 1984, 1089, 1090. 11 BGH v. 12.6.2013 – XII ZR 50/12, NJW-RR 2013, 1232, 1233. 12 BGH v. 11.3.1971 – VII ZR 112/69, NJW 1971, 883, 884; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 7; Palandt/ Grüneberg, § 341 BGB Rz. 3. 13 BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 386.

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BGB § 341 Rz. 6 Strafversprechen für nicht gehörige Erfüllung kein Vorbehalt erforderlich, wenn der Gläubiger vor Abnahme mit der Vertragsstrafe aufrechnet, da dann der Anspruch auf Vertragsstrafe im Zeitpunkt der Abnahme nicht mehr besteht.14 c) Erklärung des Vorbehalts 7

Der Vorbehalt bedarf grundsätzlich einer ausdrücklichen Erklärung des Gläubigers.15 Dies ist nur dann nicht erforderlich, wenn sich die Parteien über den Verfall der Strafe geeinigt haben oder der Strafanspruch prozessual geltend gemacht wird und der Anspruch bei Annahme der Leistung noch rechtshängig ist.16 Ein stillschweigender Vorbehalt genügt nicht, da der Gläubiger dem Schuldner damit nicht ausreichend verdeutlicht, dass er die Vertragsstrafe trotz Annahme der nicht ordnungsgemäßen Leistung als Erfüllung zahlen muss.17 Etwas anderes kann im Einzelfall gelten, wenn der Gläubiger dem Schuldner ausreichend deutlich macht, dass er auf die Durchsetzung des Strafanspruchs besteht.18 Die Vorbehaltserklärung kann formularmäßig erfolgen19, z.B. in einer formularmäßigen Abnahmeerklärung enthalten sein.20 Auch eine konkludente Erklärung ist möglich, wenn der Vorbehalt eindeutig erkennbar ist.21 Bei mehreren Erfüllungshandlungen ist der Vorbehalt bzgl. jeder Einzelleistung zu erklären (z.B. bei einem Teillieferungsvertrag).22 d) Wirkung des unterlassenen Vorbehalts

8

Wird der Vorbehalt der Vertragsstrafe vom Gläubiger nicht erklärt, erlischt der Strafanspruch. Der Rechtsverlust tritt kraft Gesetzes und unabhängig von der Kenntnis des Gläubigers über das Bestehen des Strafanspruchs und des Vorbehaltserfordernisses ein.23 Die Erklärung des Strafvorbehalts hat der Gläubiger zu beweisen.24 e) Anwendbarkeit auf IT-rechtliche Dauerschuldverhältnisse

9

§ 341 Abs. 3 ist offensichtlich zugeschnitten auf Schuldverhältnisse, die die einmalige Übergabe oder Abnahme der Leistung vorsehen. § 341 Abs. 3 zielt auf den Normalfall, dass der Gläubiger die Leistung entgegennimmt und auch ihre Vertragsgemäßheit kontrollieren kann. Der IT-rechtliche „Normalfall“ sind insoweit werkvertragliche IT-Projektverträge und dort vor allem Vertragsstrafen wegen Verzugs, z.B. die Nichterreichung von vereinbarten Meilensteinen.

10

Für IT-rechtliche Dauerschuldverhältnisse passt § 341 Abs. 3 jedoch nicht.25 Typische IT-rechtliche Vertragsstrafenregelungen, auf die § 341 Anwendung findet, sind Vertragsstrafen für die Verletzung von Service Level über Systemantwortzeiten, Reaktionszeiten oder Fehlerbehebungszeiten.26

11

Während bei Vertragsstrafen für die Nichteinhaltung von Reaktions- und Fehlerbehebungszeiten ein Vorbehalt im Einzelfall noch denkbar erscheint, erfolgt hinsichtlich anderer Service Level eine oft automatisierte Messung mit einer vertraglich näher vereinbarten Auswertung und einem entsprechen14 BGH v. 5.11.2015 – VII ZR 43/15, NJW 2016, 634, 635 unter Abkehr von BGH v. 4.11.1982 – VII ZR 11/82, NJW 1983, 384. 15 BGH v. 24.5.1974 – V ZR 193/72, NJW 1974, 1324; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 9; Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 2. 16 BGH v. 24.5.1974 – V ZR 193/72, NJW 1974, 1324, 1325. 17 BGH v. 26.1.1979 – V ZR 98/77, NJW 1979, 1163. 18 BGH v. 26.1.1979 – V ZR 98/77, NJW 1979, 1163, 1164; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 9; Palandt/ Grüneberg, § 341 BGB Rz. 2. 19 MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 9; Staudinger/Rieble, § 341 BGB Rz. 47. 20 BGH v. 25.9.1986 – VII ZR 276/84, NJW 1987, 380, 381. 21 MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 9; Staudinger/Rieble, § 341 BGB Rz. 48. 22 BGH v. 18.12.1981 – V ZR 233/80, NJW 1982, 759, 760; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 11; Palandt/ Grüneberg, § 341 BGB Rz. 3. 23 BGH v. 6.3.1986 – VII ZR 235/84, NJW 1986, 1758; MünchKomm/Gottwald, § 341 BGB Rz. 6; Palandt/Grüneberg, § 341 BGB Rz. 4. 24 BGH v. 10.2.1977 – VII ZR 17/75, NJW 1977, 897, 898; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 12. 25 Schuster, CR 2009, 205, 208. 26 Zu typischen Service Levels vgl. Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 443 ff.

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Strafversprechen für nicht gehörige Erfüllung

Rz. 18 § 341 BGB

den Reporting.27 Zudem beziehen sich Vertragsstrafenregelungen nicht selten auf Durchschnittswerte innerhalb eines gewissen Zeitraums. Ob und in welchem Umfang ein Service Level verletzt wurde, steht erst nach Ablauf des relevanten Messzeitraums und Auswertung der automatisierten Messungen fest. Nähme man an, eine Annahme läge bereits in der Entgegennahme der Leistung durch bloße Fortset- 12 zung der Nutzung, z.B. bei Cloud-Services, würde dies dazu führen, dass Vertragsstrafenregelungen bzgl. dieser Service Levels stets ins Leere gehen, da es dem Gläubiger nicht möglich ist, zu jedem Zeitpunkt der Nutzung den Vorbehalt zu erklären. Hinzu kommt, dass die Annahme einer Vorbehaltslast unbillig wäre, wenn der Gläubiger wegen der automatisierten Messung von Service Level-Kriterien beim Schuldner im Zeitpunkt der Annahme nicht nur keine Kenntnis vom Strafanspruch hat, sondern mangels eigener Messungen oder Einsicht in die Messsysteme des Schuldners noch nicht einmal die Möglichkeit der Kenntnisverschaffung hat. Dies gilt vor allem bei komplexeren Service Level Metriken, die verschiedene Kriterien messen oder einzelne Kriterien in kurzen Abständen dauerhaft prüfen und sich auf einen gewissen Messzeitraum (Tag/Monat/Jahr) erstrecken. Daher ist die fortgesetzte Nutzung nicht als Annahme i.S.v. § 341 Abs. 3 zu qualifizieren. Die fort- 13 gesetzte Nutzung lässt sich nicht als Billigung der Leistung als im Wesentlichen vertragsgemäß auslegen, da der Gläubiger die notwendigen Parameter zur Beurteilung der Leistung in diesem Zeitpunkt weder kennt noch hätte kennen können. Zwar kommt es auf die Kenntnis nicht an28, allerdings ist zumindest die Möglichkeit der Überprüfung der Leistungen durch den Gläubiger erforderlich.29 Aufgrund der Besonderheit IT-rechtlicher Dauerschuldverhältnisse ist die Vorschrift daher einschrän- 14 kend so auszulegen, dass das Erfordernis des Vorbehalts zwar nicht gänzlich entfällt, der Vorbehalt jedoch erst erklärt werden muss, wenn der Gläubiger die Möglichkeit zur Kenntnisnahme und Bewertung der maßgeblichen Datengrundlage erhält, um das Bestehen eines Strafanspruchs feststellen zu können. Erst dann kann eine Annahme i.S.v. § 341 Abs. 3 vorliegen. Der Vorbehalt muss dann unverzüglich nach objektivem Vorliegen der Kenntnisnahmemöglichkeit erklärt werden, z.B. durch Versand einer E-Mail zur Bestätigung des Erhalts des Service Level Reportings, die einen solchen Vorbehalt enthält. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem von § 341 Abs. 3 verfolgten Zweck der Rechtsklarheit.30 Erst wenn der Gläubiger die Möglichkeit hat, die Vertragsgemäßheit der Leistungen und damit das Vorliegen eines Strafanspruchs zu prüfen, kann ihm die Entscheidung abverlangt werden, dem Schuldner durch Erklärung eines Vorbehalts der Vertragsstrafe (oder dessen Unterlassen) die durch § 341 Abs. 3 intendierte Klarheit zu verschaffen.

15

Zur Vermeidung von Abgrenzungs- und Auslegungsschwierigkeiten wird § 341 Abs. 3 in IT-rechtlichen Dauerschuldverhältnissen jedoch i.d.R. abbedungen.

16

III. Abdingbarkeit Die §§ 340, 341 sind dispositiv. Der in den §§ 340 Abs. 2, 341 Abs. 2 enthaltene Grundgedanke, dass 17 Schadensersatz und Vertragsstrafe nicht nebeneinander verlangt werden können, sondern die Vertragsstrafe auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen ist, kann durch Individualvereinbarung, nicht jedoch in AGB abbedungen werden (vgl. § 340 Rz. 9). Im Hinblick auf die Vorbehaltserklärung nach Abs. 3 können die Parteien durch Individualvereinbarung eine teilweise oder vollständig abweichende Regelung treffen.31 In SLAs bietet sich eine entsprechende Regelung an, um zu vermeiden, dass bei jeder Verletzung der vereinbarten Service Level, eine Vorbehaltserklärung abzugeben ist, um den Wegfall des Strafanspruchs zu vermeiden.32 In AGB 27 28 29 30 31

Bräutigam/Bräutigam, IT-Outsourcing, Teil 13 Rz. 489 ff. Erman/Schaub, § 341 BGB Rz. 5; Staudinger/Rieble, § 341 BGB Rz. 39. Erman/Schaub, § 341 BGB Rz. 3; RG v. 11.1.1905 – V 303/04, RGZ 59, 378. Staudinger/Rieble, § 341 BGB Rz. 4; jurisPK BGB/Beater, § 341 BGB Rz. 4. BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 386; BGH v. 12.10.1978 – VII ZR 139/75, NJW 1979, 212; BGH v. 11.3.1971 – VII ZR 112/69, NJW 1971, 883, 884. 32 Schuster, CR 2009, 205, 208; Hartung/Stiemerling, CR 2011, 617, 623.

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BGB § 341 Rz. 18 Strafversprechen für nicht gehörige Erfüllung kann der Vertragsstrafenvorbehalt allerdings nicht vollständig abbedungen werden.33 Dies gilt auch im Verhältnis zwischen Unternehmern.34 Eine angemessene Verschiebung des Zeitpunkts, bis zu dem der Vorbehalt erklärt werden kann, ist jedoch auch in AGB möglich.35

§ 342 Andere als Geldstrafe Wird als Strafe eine andere Leistung als die Zahlung einer Geldsumme versprochen, so finden die Vorschriften der §§ 339 bis 341 Anwendung; der Anspruch auf Schadensersatz ist ausgeschlossen, wenn der Gläubiger die Strafe verlangt. 1

Die §§ 339–341 sind nach § 342 auch für den Fall anwendbar, dass die Vertragsstrafe in Form einer anderen Leistung als einer Geldzahlung vereinbart ist.1 Insoweit einschränkend regelt allerdings § 342 Halbs. 2, dass der Gläubiger bei Forderung der Strafe abweichend von §§ 340 Abs. 2, 341 Abs. 2 neben der Strafe keinen Schadensersatz fordern kann.

§ 343 Herabsetzung der Strafe (1) Ist eine verwirkte Strafe unverhältnismäßig hoch, so kann sie auf Antrag des Schuldners durch Urteil auf den angemessenen Betrag herabgesetzt werden. Bei der Beurteilung der Angemessenheit ist jedes berechtigte Interesse des Gläubigers, nicht bloß das Vermögensinteresse, in Betracht zu ziehen. Nach der Entrichtung der Strafe ist die Herabsetzung ausgeschlossen. (2) Das Gleiche gilt auch außer in den Fällen der §§ 339, 342, wenn jemand eine Strafe für den Fall verspricht, dass er eine Handlung vornimmt oder unterlässt. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirksames Strafversprechen . . . . . . . . . .

5 5

2. Antrag des Schuldners . . . . . . . . . . 3. Herabsetzung der Strafe . . . . . . . . . a) Angemessenheit der Vertragsstrafe . b) Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

6 8 9 11

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Literatur: Wensing/Niemann, Vertragsstrafen in Formulararbeitsverträgen: § 307 BGB neben § 343 BGB? – Überlegungen zum Verhältnis von Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle, NJW 2007, 401.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

§ 343 regelt die Voraussetzungen für eine Herabsetzung einer vereinbarten Vertragsstrafe durch richterliches Gestaltungsurteil. Das angerufene Gericht kann auf Antrag des Schuldners eine Billigkeits33 BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 386 f. 34 BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 386. 35 BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 386; BGH v. 23.1.2003 – VII ZR 210/01, NJW 2003, 1805; BGH v. 13.7.2000 – VII ZR 249/99, NJW-RR 2000, 1468; OLG Düsseldorf v. 30.6.2000 – 22 U 209/99, NJWRR 2001, 1387, 1389; Auer-Reinsdorff, ITRB 2005, 242, 244; a.A.: Staudinger/Rieble, § 341 BGB Rz. 14 ff.; nicht differenzierend, sondern pauschal auf die Abdingbarkeit von § 341 Abs. 3 verweisend Schuster, CR 2009, 205. 1 MünchKomm/Gottwald, § 342 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 342 BGB Rz. 1.

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Herabsetzung der Strafe

Rz. 5 § 343 BGB

kontrolle der Höhe der vereinbarten Vertragsstrafe durchführen und die Strafe ggf. auf eine angemessene Höhe herabsetzen.1 2. Bedeutung und Anwendungsbereich Die Norm ist Ausdruck des Schuldnerschutzes und gibt dem Schuldner die Möglichkeit, eine unver- 2 hältnismäßig hohe Vertragsstrafe auf ein angemessenes Maß reduzieren zu lassen. Sie ist auf unverhältnismäßig hohe Vertragsstrafen in Individualvereinbarungen anwendbar.2 Eine Reduktion von Vertragsstrafen, die in AGB vereinbart wurden und die der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle nicht standhalten, können wegen des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion nicht herabgesetzt werden.3 Eine Reduktion ist in diesem Fall auch nicht nach dem Rechtsgedanken von § 343 möglich.4 Für den theoretisch denkbaren Fall, dass eine Vertragsstrafenregelung der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle standhält, für den konkreten Fall jedoch eine unverhältnismäßig hohe Vertragsstrafe enthält, spricht jedoch nichts gegen eine Anwendbarkeit von § 343.5 Nach Abs. 2 gilt die Herabsetzungsnorm ausdrücklich auch für das selbständige Strafversprechen.6 3 § 343 gilt zudem nicht nur für Vertragsstrafen in Geld, sondern auch für andere als Geldstrafen. Vereinzelt wird auch die Anwendbarkeit auf pauschalierte Schadensersatzansprüche vertreten.7 § 75c Abs. 2 Satz 2 HGB sowie § 75d HGB enthalten Sondervorschriften. Auf Kaufleute ist § 343 gem. § 348 HGB nicht anwendbar. Eine gerichtliche Angemessenheitskontrolle 4 einer Vertragsstrafe ist unter Kaufleuten bei Vereinbarung des sog. Hamburger Brauchs nach § 315 Abs. 3 Satz 2 möglich8 (vgl. § 339 Rz. 53). Ansonsten ist die Herabsetzung der Vertragsstrafe bei Kaufleuten über § 242 (vgl. § 339 Rz. 53) auf das Maß möglich, das im Einzelfall nach dem Grundsatz von Treu und Glauben noch hingenommen werden kann.9 Anhaltspunkt dafür ist das Doppelte der nach § 343 angemessenen Vertragsstrafe.10 Ebenfalls denkbar ist eine Anpassung des Vertrags wegen Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage.11 Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Kaufmannseigenschaft ist der Zeitpunkt, in dem das Strafversprechen abgegeben wird, nicht der Zeitpunkt der Verwirkung.12 In Ausnahmefällen kann auch bei fehlender Kaufmannseigenschaft der Rechtsgedanke des § 348 HGB zum Ausschluss des Herabsetzungsrechts führen.13

II. Norminhalt 1. Wirksames Strafversprechen Voraussetzung für die Anwendbarkeit von § 343 ist zunächst die Vereinbarung eines wirksamen Vertragsstrafversprechens. Hieran fehlt es beispielsweise bei einer Vertragsstrafenregelung, die in AGB vereinbart wurde und die der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle nicht standhält.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 1. BGH v. 18.11.1982 – VII ZR 305/81, NJW 1983, 385, 387. BAG v. 4.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 727, 734. Erman/Schaub, § 343 BGB Rz. 1a; MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 8 m.w.N. Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 4; Wensing/Niemann, NJW 2007, 401. MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 28; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 2. Palandt/Grüneberg, § 276 BGB Rz. 26, § 343 BGB Rz. 2; Erman/Schaub, § 343 BGB Rz. 7; wohl auch Staudinger/Rieble, § 343 BGB Rz. 25; a.A. MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 5. BGH v. 17.9.2009 – I ZR 217/07, NJW-RR 2010, 1127, 1130. BGH v. 17.7.2008 – I ZR 168/05, NJW 2009, 1882; BGH v. 18.9.1997 – I ZR 71/95, NJW 1998, 1144, 1147; BGH v. 24.3.1954 – II ZR 30/53, NJW 1954, 998. BGH v. 17.7.2008 – I ZR 168/05, NJW 2009, 1882, 1885. BGH v. 24.3.1954 – II ZR 30/53, NJW 1954, 998; Baumbach/Hopt/Hopt, § 348 HGB Rz. 7. BGH v. 5.10.1951 – I ZR 74/50, GRUR 1952, 141, 143; BGH v. 13.2.1952 – II ZR 91/51, NJW 1952, 623. BGH v. 13.2.1952 – II ZR 91/51, NJW 1952, 623, 624.

Kraus

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5

BGB § 343 Rz. 6 Herabsetzung der Strafe 2. Antrag des Schuldners 6

Die Herabsetzung der Vertragsstrafe erfolgt nicht von Amts wegen durch das Gericht, sondern gem. Abs. 1 Satz 1 nur auf Antrag des Schuldners. Der Antrag bedarf keiner formellen Erklärung, sondern liegt bereits bei einer Anregung des Schuldners vor, die den Willen wiedergibt, dass der Schuldner die Vertragsstrafe als zu hoch empfindet und sie daher ganz oder teilweise ablehnt.14 Der Schuldner muss im Antrag keinen konkreten Betrag angeben.15

7

Der Antrag kann erst nach der Verwirkung der Vertragsstrafe gestellt werden.16 Davor ist auch eine entsprechende Feststellungsklage unzulässig.17 Das Antragsrecht ist nicht abtretbar und auch nicht pfändbar.18 3. Herabsetzung der Strafe

8

Die Herabsetzung der Strafe erfolgt durch richterliches Gestaltungsurteil. Die Vertragsstrafe wird auf einen angemessenen Betrag herabgesetzt.19 a) Angemessenheit der Vertragsstrafe

9

Die Angemessenheit einer Vertragsstrafe richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung von Art, Schwere und Ausmaß der Zuwiderhandlung und dem Verschuldensgrad sowie nach der Funktion der Vertragsstrafe als Sanktion und Abschreckung vor erneuten Zuwiderhandlungen20 (vgl. § 339 Rz. 53). Zudem kommt es auf den hypothetischen Schadensverlauf an, unabhängig davon, ob ein Schaden tatsächlich eingetreten ist.21 Dabei ist zu beachten, dass erhebliche wirtschaftliche Interessen grundsätzlich auch mit hohen Vertragsstrafen gesichert werden können.22 Ferner kann die wirtschaftliche Situation des Schuldners in die Beurteilung einfließen.23 Falls der Schaden des Gläubigers aufgrund überholender Kausalität auch bei Vertragstreue des Schuldners eingetreten wäre, ist dies ebenfalls zu berücksichtigen.24

10

Der maßgebliche Zeitpunkt der Betrachtung ist die Geltendmachung der Vertragsstrafe.25 Für den Einwand, dass die Vertragsstrafe unverhältnismäßig hoch ist, trägt der Schuldner die Beweislast.26 Mehrfach verwirkte Vertragsstrafen stellen unterschiedliche Streitgegenstände dar, weil sie i.d.R. auf verschiedenen Lebenssachverhalten basieren.27 In der höheren Instanz kann die Unverhältnismäßigkeit der Vertragsstrafenhöhe nur dahingehend nachgeprüft werden, ob der Tatrichter sein Ermessen unter zutreffenden Rechtsgrundsätzen ausgeübt hat.28

14 BGH v. 22.5.1968 – VIII ZR 69/66, NJW 1968, 1625. 15 BGH v. 22.5.1968 – VIII ZR 69/66, NJW 1968, 1625; MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 12; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 5. 16 MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 15; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 5. 17 RG v. 14.3.1913 – 407/12 III, JW 1913, 604. 18 LG Hannover v. 23.1.1959 – 10 S 248/58, NJW 1959, 1279; MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 12; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 5. 19 MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 1, 20; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 4. 20 BGH v. 30.9.1993 – I ZR 54/91, NJW 1994, 45, 47; BGH v. 7.10.1982 – I ZR 120/80, NJW 1983, 941, 943; MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 18; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 6. 21 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 264; BGH v. 1.6.1983 – I ZR 78/81, NJW 1984, 919, 920. 22 BGH v. 5.10.1951 – I ZR 74/50, GRUR 1952, 141, 143. 23 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 264. 24 BGH v. 27.11.1968 – VIII ZR 9/67, NJW 1969, 461, 462; MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 18; Palandt/ Grüneberg, § 343 BGB Rz. 6 und § 339 BGB Rz. 14. 25 Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 7; a.A. MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 19; Erman/Schaub, § 343 BGB Rz. 4 stellen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab. 26 RG v. 4.10.1935 – II 76/35, JW 1936, 179. 27 BGH v. 10.6.2009 – I ZR 37/07, GRUR 2010, 167, 169. 28 BGH v. 13.3.1953 – I ZR 136/52, GRUR 1953, 262, 264.

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Kraus

Unwirksames Strafversprechen

Rz. 2 § 344 BGB

b) Ausschluss Die Herabsetzung der Vertragsstrafe ist gem. Abs. 1 Satz 3 ausgeschlossen, wenn die Strafe entrichtet ist. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner ausdrücklich unter Vorbehalt leistet.29 Da Erfüllungssurrogate der Entrichtung gleichstehen, führt die Aufrechnung des Schuldners gegen die Strafforderung zum Ausschluss der Herabsetzungsmöglichkeit, nicht hingegen die Aufrechnung des Gläubigers mit der Strafforderung.30

11

III. Abdingbarkeit Bei § 343 handelt es sich um zwingendes Recht, das von den Parteien nicht abbedungen werden 12 kann.31 Ein Verzicht auf die Herabsetzungsmöglichkeit kann jedoch nach Verwirkung der Vertragsstrafe wirksam erklärt werden.32

§ 344 Unwirksames Strafversprechen Erklärt das Gesetz das Versprechen einer Leistung für unwirksam, so ist auch die für den Fall der Nichterfüllung des Versprechens getroffene Vereinbarung einer Strafe unwirksam, selbst wenn die Parteien die Unwirksamkeit des Versprechens gekannt haben. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

I. Allgemeines 1. Einführung Die Norm ist Ausdruck der Akzessorietät des Strafversprechens1 (vgl. zur Akzessorietät § 339 Rz. 39). Eine unwirksame Verbindlichkeit soll nicht über den Weg der Vertragsstrafe durchgesetzt werden können.2 Sofern die Vertragsstrafe dennoch bezahlt wird, kann der Betrag über die Bereicherungsvorschriften nach §§ 812 ff. zurückgefordert werden.3

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Ausnahmsweise ist die Norm auch auf das selbständige Strafversprechen anwendbar, wenn dies aufgrund des Schutzzwecks der §§ 125, 134, 138 oder anderer Rechtsgrundsätze geboten erscheint.4

29 30 31 32 1 2 3 4

MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 16; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 5. Schl.-Holst. OLG v. 23.5.1997 – 4 U 23/96, MDR 1997, 914. BGH v. 13.2.1952 – II ZR 91/51, NJW 1952, 623; BGH v. 22.5.1968 – VIII ZR 69/66, NJW 1968, 1625. BeckOK BGB/Janoschek, § 343 Rz. 3; MünchKomm/Gottwald, § 343 BGB Rz. 2; Palandt/Grüneberg, § 343 BGB Rz. 3. MünchKomm/Gottwald, § 344 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 344 BGB Rz. 1. BeckOK BGB/Janoschek, § 344 Rz. 1; MünchKomm/Gottwald, § 344 BGB Rz. 2. BeckOK BGB/Janoschek, § 344 Rz. 1; MünchKomm/Gottwald, § 344 BGB Rz. 3. BGH v. 6.2.1980 – IV ZR 141/78, NJW 1980, 1622, 1623; MünchKomm/Gottwald, § 344 BGB Rz. 10.; Palandt/ Grüneberg, § 344 BGB Rz. 1.

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BGB § 344 Rz. 3 Unwirksames Strafversprechen

II. Norminhalt 3

Die Unwirksamkeit der Hauptverbindlichkeit führt gem. § 344 zur Unwirksamkeit des Strafversprechens. Diese Rechtsfolge tritt selbst bei Kenntnis der Parteien über die Unwirksamkeit des Leistungsversprechens ein. Als Unwirksamkeitsgründe kommen beispielsweise die §§ 125, 134, 138 BGB oder Art. 12 GG (bei Wettbewerbsverboten) in Betracht.5

§ 345 Beweislast Bestreitet der Schuldner die Verwirkung der Strafe, weil er seine Verbindlichkeit erfüllt habe, so hat er die Erfüllung zu beweisen, sofern nicht die geschuldete Leistung in einem Unterlassen besteht. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Die Vorschrift ist rein deklaratorisch und entspricht dem allgemeinen Beweislastgrundsatz, wonach der Schuldner die Erfüllung seiner Verbindlichkeit zu einem positiven Tun auch dann nachweisen muss, wenn der Gläubiger aus der Nichterfüllung oder nicht rechtzeitigen Erfüllung Rechte geltend machen kann.1 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

Die Norm ist nicht nur auf die Nichterfüllung der Hauptverbindlichkeit anwendbar, sondern auch auf die nichtgehörige Erfüllung, wobei hier die Umkehr der Beweislast gem. § 363 bei Annahme der Leistung als Erfüllung zu beachten ist.2

II. Norminhalt 3

Nach § 345 hat der Schuldner im Falle einer Leistungspflicht die ordnungsgemäße Erfüllung nachzuweisen. Bei Geltendmachung der Vertragsstrafe hat der Gläubiger somit die Vertragsstrafenvereinbarung sowie die Voraussetzungen des Schuldnerverzugs zu beweisen.3 Auch trifft den Gläubiger die Beweislast für einen die Vertragsstrafe übersteigenden Schaden.4 Die Beweislast liegt hingegen beim Gläubiger, wenn der Schuldner eine Unterlassung schuldet. Sofern sich aber aus der Unterlassungs-

5 MünchKomm/Gottwald, § 344 BGB Rz. 4 ff.; Palandt/Grüneberg, § 344 BGB Rz. 1. 1 BGH v. 29.1.1969 – IV ZR 545/68, NJW 1969, 875; MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 345 BGB Rz. 1; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 2; Erman/Schaub, § 345 BGB Rz. 1; jurisPK BGB/ Beater, § 345 BGB Rz. 1. 2 MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 1; Palandt/Grüneberg, § 345 BGB Rz. 1. 3 BeckOK BGB/Janoschek, § 345 Rz. 2; MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 3. 4 BeckOK BGB/Janoschek, § 345 Rz. 2; MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 5; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 15.

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Kraus

Wirkungen des Rücktritts

§ 346 BGB

pflicht eine Beseitigungspflicht des Störungszustandes ergibt, ist für deren Erfüllung wieder der Schuldner beweisbelastet.5 Nicht geregelt ist die Beweislastverteilung zur Frage, ob die Vertragsstrafe für den Fall der Nichterfüllung (§ 340) oder für nicht gehörige Erfüllung (§ 341) vereinbart wurde. Zwar ist die Vereinbarung insoweit zunächst auszulegen (vgl. § 339 Rz. 24), allerdings ist im Zweifel wohl von einer nicht gehörigen Erfüllung auszugehen, sodass Vertragsstrafe und Erfüllungsanspruch nicht im strengen Alternativverhältnis stehen.6 Damit obliegt es dem Schuldner, Umstände für eine Vertragsstrafenvereinbarung nach § 340 darzulegen und zu beweisen.7

4

III. Abdingbarkeit Bei § 345 handelt es sich um dispositives Recht.8 Die Parteien können individualvertraglich abweichende Regelungen zur Beweislast treffen. In AGB sind solche Klauseln wegen § 309 Nr. 12, dessen Wertungen auch auf Unternehmer übertragbar sind, allerdings nur sehr begrenzt möglich.9 Haben die Parteien eine abweichende Beweislastverteilung für die Hauptverbindlichkeit vereinbart, dann gilt diese Vereinbarung auch für die Vertragsstrafe.10

§ 346 Wirkungen des Rücktritts (1) Hat sich eine Vertragspartei vertraglich den Rücktritt vorbehalten oder steht ihr ein gesetzliches Rücktrittsrecht zu, so sind im Falle des Rücktritts die empfangenen Leistungen zurückzugewähren und die gezogenen Nutzungen herauszugeben. (2) Statt der Rückgewähr oder Herausgabe hat der Schuldner Wertersatz zu leisten, soweit 1. die Rückgewähr oder die Herausgabe nach der Natur des Erlangten ausgeschlossen ist, 2. er den empfangenen Gegenstand verbraucht, veräußert, belastet, verarbeitet oder umgestaltet hat, 3. der empfangene Gegenstand sich verschlechtert hat oder untergegangen ist; jedoch bleibt die durch die bestimmungsgemäße Ingebrauchnahme entstandene Verschlechterung außer Betracht. Ist im Vertrag eine Gegenleistung bestimmt, ist sie bei der Berechnung des Wertersatzes zugrunde zu legen; ist Wertersatz für den Gebrauchsvorteil eines Darlehens zu leisten, kann nachgewiesen werden, dass der Wert des Gebrauchsvorteils niedriger war. (3) Die Pflicht zum Wertersatz entfällt, 1. wenn sich der zum Rücktritt berechtigende Mangel erst während der Verarbeitung oder Umgestaltung des Gegenstandes gezeigt hat, 2. soweit der Gläubiger die Verschlechterung oder den Untergang zu vertreten hat oder der Schaden bei ihm gleichfalls eingetreten wäre, 3. wenn im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts die Verschlechterung oder der Untergang beim Berechtigten eingetreten ist, obwohl dieser diejenige Sorgfalt beobachtet hat, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. Eine verbleibende Bereicherung ist herauszugeben. 5 6 7 8

BGH v. 18.9.2014 – I ZR 76/13, K&R 2015, 185, 189; Erman/Schaub, § 345 BGB Rz. 2. MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 4; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 14. MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 4; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 14. jurisPK BGB/Beater, § 345 BGB Rz. 3; MünchKomm/Gottwald, § 345 BGB Rz. 6; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 18. 9 MünchKomm/Wurmnest, § 309 Nr. 12 BGB Rz. 6, 22; BGH v. 28.1.1987 – IVa ZR 173/85, NJW 1987, 1634, 1635. 10 jurisPK BGB/Beater, § 345 BGB Rz. 3; Staudinger/Rieble, § 345 BGB Rz. 20.

Kraus und Schneider-Brodtmann

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5

BGB § 346 Wirkungen des Rücktritts (4) Der Gläubiger kann wegen Verletzung einer Pflicht aus Absatz 1 nach Maßgabe der §§ 280 bis 283 Schadensersatz verlangen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung (Normzweck und Systematik) a) Grundgedanken der Regelung, Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen des Rücktritts (Überblick) . 2. Anwendungsbereich bei IT-Verträgen . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung einmaliger Leistungsaustausch zu Dauerschuldverhältnissen . . . c) Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Widerruf (bei Verbraucherverträgen) . . d) Auflösende Bedingung . . . . . . . . . . . e) Einvernehmliche Vertragsaufhebung . . . 4. Rücktritt und Schadensersatz . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen des Rücktritts (§ 346 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragliches Rücktrittsrecht . . . . . . b) Gesetzliches Rücktrittsrecht . . . . . . . c) Ausschlussgründe . . . . . . . . . . . . . d) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Einheitlicher Vertrag/Teilrücktritt . . . 2. Wirkungen des Rücktritts (§ 346 Abs. 1) a) Befreiungs- und Gestaltungswirkung . b) Rückgewähr empfangener Leistungen . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . bb) Hardware . . . . . . . . . . . . . . . cc) Software . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sonderfrage: Rückübertragung des Nutzungsrechts? . . . . . . . . ee) Sonstige Leistungen . . . . . . . . . c) Herausgabe von Nutzungen . . . . . . .

. .

1 1

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1 5 7 7

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8 10 11 11 12 13 14 15 16

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19 19 23 27 28 30 35 35 37 37 41 42

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49 50 51

3. Verpflichtung zum Wertersatz (§ 346 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines zur Wertersatzpflicht . . . . . b) Voraussetzungen der Wertersatzpflicht/ Fallgruppen (§ 346 Abs. 2 Satz 1) . . . . . aa) Natur des Erlangten (§ 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1) . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonderfall: Wertersatz für Nutzungen (Gebrauchsvorteile) . . . . . . . . . . . cc) Verbrauch, Veräußerung etc. (§ 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2) . . . . . . . dd) Verschlechterung, Untergang (§ 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3) . . . . . . . c) Wertberechnung (§ 346 Abs. 2 Satz 2) . . . aa) Grundsatz: Wertermittlung anhand der Gegenleistung . . . . . . . . . . . . bb) Sonderfall: Wertersatz für Gebrauchsvorteile . . . . . . . . . . . . 4. Ausschluss des Wertersatzes (§ 346 Abs. 3) . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mängelkenntnis während Verarbeitung oder Umarbeitung (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vertretenmüssen des Gläubigers; hypothetische Kausalität (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Privilegierung beim gesetzlichen Rücktrittsrecht (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3) . . . e) Herausgabe der Bereicherung (§ 346 Abs. 3 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . 5. Schadensersatzansprüche (§ 346 Abs. 4) . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertragliche Rücktrittsrechte . . . . . . . . c) Gesetzliche Rücktrittsrechte . . . . . . . . . 6. Surrogatherausgabe (§ 285) . . . . . . . . . .

54 54 57 57 58 60 66 70 70 73 78 78 79 80 82 85 88 88 91 94 96

Literatur: Dieselhorst, Nichtigkeit eines Lizenzvertrags wegen mangelhafter Softwaredokumentation, ITRB 2004, 173; Elteste, Kein Gesamtrücktritt vom Softwareerstellungsvertrag, ITRB 2014, 179; Elteste, Örtliche Zuständigkeit bei Rücktritt vom Softwareerstellungsvertrag, ITRB 2010, 275; Kaiser, Anm. zu BGH v. 25.3.2015 – VIII ZR 38/14, JZ 2016, 151; Koch, Gesamtrücktritt bei Mangel eines Leistungsteils, ITRB 2004, 157; Köhler, Gesamtrücktritt beim EDV-Lieferungsvertrag, CR 1990, 707; Lehmann, Programmsperre und Vertragseinheit, CR 1987, 358; Lorenz, Grundwissen – Zivilrecht: Rechtsfolgen von Rücktritt und Widerruf, JuS 2011, 871; Lorenz, Das „Zurückspringen“ der Gefahr auf den Verkäufer und seine Folgen, NJW 2015, 1725; Marly, Software-Überlassungsverträge, 4. Aufl. 2004; Redeker, Gesamtvertrag im Softwareprojekt: Zwei Vertragsurkunden- dennoch ein Vertrag?, ITRB 2014, 193; Schneider, Risikobereiche des Pflege-Vertrags, CR 2004, 241; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Söbbing, Die rechtliche Betrachtung von IT-Projekten – Rechtliche Fragestellungen in den unterschiedlichen Phasen einer IT-Projekts, MMR 2010, 222; Stögmüller, Teilbarkeit, Teilerfüllung und Teilrücktritt bei IT-Projekten, CR 2015, 424; Ulmer, Der Anspruch auf Rückgewähr eines Computerprogramms, ITRB 2003, 276; Zahrnt, LG Bonn: Zusammenhang von Überlassungs- und Pflegevertrag, CR 2004, 414.

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Schneider-Brodtmann

Wirkungen des Rücktritts

Rz. 7 § 346 BGB

I. Allgemeines 1. Einführung (Normzweck und Systematik) a) Grundgedanken der Regelung, Anwendungsbereich Die §§ 346 ff. regeln die Rückgängigmachung von Verträgen durch Rücktritt einer Partei. Sie umfassen Bestimmungen über die Ausübung (§§ 349 bis 351) und die Rechtsfolgen (§§ 346 bis 348) des Rücktritts. Das Bestehen eines Rücktrittsrechts wird in diesen Normen vorausgesetzt.

1

§ 346 BGB, der die zentrale Norm bildet, beschreibt die Wirkungen des Rücktritts vom Vertrag aufgrund eines vertraglich vorbehaltenen oder eines gesetzlichen Rücktrittsrechts. Ziel der Norm ist es, im Grundsatz jenen Zustand wiederherzustellen, der nach Vertragsschluss, aber vor dem Leistungsaustausch bestanden hat. Die Norm ist damit im Wesentlichen am negativen Interesse der Parteien ausgerichtet.1 Dies kann durch Rückgewähr der erbrachten Leistungen in Natur (Abs. 1) oder wertmäßig (Abs. 2 und 3) erfolgen. Für Schadensersatzansprüche wegen Verletzung einer Pflicht aus Abs. 1 verweist Abs. 4 auf die allgemeinen Bestimmungen der §§ 280 bis 283.

2

Die wichtigsten Anwendungsfälle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts sind neben § 313 Abs. 1, 3 Satz 1 die §§ 323, 324 und 326 Abs. 5, die grundsätzlich für alle gegenseitigen Verträge gelten, sowie §§ 437 Nr. 2, 440 wegen Mängeln beim Kauf von Sachen und §§ 634 Nr. 3, 636 wegen Mängeln beim Werkvertrag. In einer Reihe von Vorschriften des BGB wird ausdrücklich auf die §§ 346 ff. als Rechtsfolge verwiesen, so z.B. in §§ 281 Abs. 5, 326 Abs. 4, 439 Abs. 5,2 441 Abs. 4 und 638 Abs. 4.

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Auf das Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen sind die §§ 346 ff. hingegen nicht anzuwenden, hierzu enthalten §§ 355 ff. eine abschließende Regelung (s. Rz. 13). Auch im Übrigen gelten gesetzliche Sonderregelungen, wie etwa beim Reisevertrag (§ 651h), beim Verlöbnis (§§ 1298 ff.), beim Erbvertrag (§§ 2293 ff.) und beim Versicherungsvertrag (§§ 16 ff. VVG), welche den §§ 346 ff. vorgehen.3

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b) Wirkungen des Rücktritts (Überblick) Der Rücktritt erfolgt gem. § 349 BGB durch einseitige Erklärung einer Partei ggü. der anderen Partei, die ohne weiteres zur Rückgängigmachung des betreffenden Vertrags führt. Der Vertrag wird jedoch nicht aufgehoben, sondern nur inhaltlich verändert und ex nunc in ein Abwicklungsverhältnis mit vertraglicher Grundlage umgestaltet.4 Der Rücktritt ist damit ein einseitiges Rechtsgeschäft mit unmittelbarer Gestaltungswirkung (Gestaltungsrecht, dazu näher s. Rz. 35 f.).

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Der Rücktritt wirkt nur schuldrechtlich im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien, nicht dinglich 6 (zur Frage der Rückübertragung der Nutzungsrechte s. Rz. 49). Die Rechtsstellung Dritter wird durch den Rücktritt grundsätzlich nicht berührt.5 2. Anwendungsbereich bei IT-Verträgen a) Grundsatz Ein Rücktritt nach den allgemeinen Bestimmungen der §§ 323, 324 und 326 Abs. 5 ist grundsätzlich bei allen Vertragstypen des BGB und damit auch bei allen Arten von IT-Verträgen möglich. Bei vollzogenen Dauerschuldverhältnissen tritt jedoch, wie § 313 Abs. 3 Satz 2 exemplarisch für den Fall der Störung der Geschäftsgrundlage verdeutlicht, die Kündigung an die Stelle des Rücktritts.6 Diese ist wie der Rücktritt ein Gestaltungsrecht und beendet das Schuldverhältnis mit unmittelbarer Wirkung 1 BGH v. 28.11.2007 – VIII ZR 16/07, NJW 2008, 911 = CR 2008, 143. 2 In Fällen des Verbrauchsgüterkaufs ist § 439 Abs. 5 gem. § 475 Abs. 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass Nutzungen nicht herauszugeben sind; zum Rechtszustand vor Inkrafttreten dieser Bestimmung s. BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427 ff. 3 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 194. 4 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 191. 5 Hierzu näher BeckOK BGB/H.Schmidt, § 346 Rz. 13 f. 6 BGH v. 19.2.2002 – X ZR 166/99, NJW 2002, 1870; Palandt/Grüneberg, Einf. v. § 346 BGB Rz. 9; Schuster, CR 2011, 215, 219.

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BGB § 346 Rz. 7 Wirkungen des Rücktritts für die Zukunft (ex nunc). Die beiderseits erbrachten Leistungen sind im Falle einer Kündigung jedoch nicht rückabzuwickeln, §§ 346 ff. gelten nicht (s. Rz. 11). b) Abgrenzung einmaliger Leistungsaustausch zu Dauerschuldverhältnissen 8

Bei IT-Verträgen spielt die Abgrenzung von Schuldverhältnissen über einen einmaligen Leistungsaustausch zu Dauerschuldverhältnissen, bei denen ständig neue Leistungspflichten entstehen, eine große Rolle. Zu letzteren gehören etwa Miet- und Leasingverträge über Hard- und Software, Hosting-Verträge, Rechenzentrumsverträge, ASP-Verträge sowie Cloud-Computing-Verträge in ihren verschiedenen Ausprägungen (SaaS, PaaS, IaaS). Auch Verträge über die Wartung von Hardware oder die Pflege von Software sowie sonstige, nicht nur einmalig zu erbringende Service- und Supportleistungen sind unabhängig von ihrer rechtlichen Einstufung als Dienst- oder Werkverträge Dauerschuldverhältnisse und unterliegen damit nach Vollzug nicht den Regeln über den Rücktritt, sondern dem Kündigungsrecht.

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In einem einmaligen Leistungsaustausch erschöpfen sich insb. Kaufverträge über Hard- und Software, Verträge über die Anpassung von Standardsoftware oder die Erstellung von Individualsoftware (unabhängig von deren Einstufung als Werk- oder Werklieferungsverträge, vgl. hierzu die Kommentierung zu § 651) sowie Werkverträge über die Planung und Realisierung von IT-Projekten einschließlich Datenmigration, auch wenn sich die Leistungserbringung über einen längeren Zeitraum erstreckt.7 Für all diese Verträge finden im Falle eines Rücktritts die Regelungen der §§ 346 ff. uneingeschränkt Anwendung. c) Mischformen

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Mischformen bilden Verträge, bei denen zunächst, bspw. im Rahmen eines Projekts, die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass später Leistungen mit einem Dauerschuldcharakter erbracht werden. Ein Beispiel hierfür ist ein Rechenzentrums-Outsourcing mit einem vorgeschalteten Transitions- und/oder Migrationsprojekt. Auch wenn sich die Transition oder Migration über einen längeren Zeitraum hinweg erstreckt, handelt es sich bei dem Transitions- oder Migrationsvertrag nicht um ein Dauerschuldverhältnis, sondern um einen Werkvertrag, der seitens des Anbieters mit der Abnahme erfüllt ist. Das gilt auch dann, wenn aufgrund gescheiterter Teilabnahmen Leistungen zu wiederholen sind oder aufgrund von Änderungsanforderungen (Change Requests) zusätzliche Leistungen zu erbringen sind.8 Mit der Abnahme erfolgt der Übergang vom Transitions- oder Migrationsprojekt in den Regelbetrieb, der ein Dauerschuldverhältnis darstellt. Ein Rücktritt vom gesamten Vertragsverhältnis einschließlich des Transitions- oder Migrationsvertrags ist dann nur noch aufgrund von Mängeln aus dem Projekt während der dafür geltenden Verjährungsfrist möglich, nicht jedoch wegen einer Schlechtleistung im Betrieb. Diese kann allenfalls zu einer (außerordentlichen) Kündigung des Betriebsvertrags führen. 3. Abgrenzungen a) Kündigung

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Zur Abgrenzung des Rücktritts von der Kündigung bei Dauerschuldverhältnissen s. Rz. 8 f. Einen gesetzlich geregelten Sonderfall bildet § 648, der dem Besteller beim Werkvertrag bis zur Vollendung des Werkes ein freies Kündigungsrecht gewährt, obwohl es sich beim Werkvertrag nicht um ein Dauerschuldverhältnis handelt.9 Daneben besteht auch beim Werkvertrag bis zur Abnahme bei Leistungsstörungen das allgemeine Rücktrittsrecht nach § 323 sowie bei Unmöglichkeit der Leistung das Rücktrittsrecht nach § 326 Abs. 5 i.V.m. § 275.

7 Schuster, CR 2011, 215, 219. 8 Schuster, CR 2011, 215, 219. 9 Zu den Voraussetzungen eines Kündigungsrechts aus wichtigem Grund gem. § 314 beim Werkvertrag s. Redeker, IT-Recht, Rz. 439 ff.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 17 § 346 BGB

b) Anfechtung Auch die Anfechtung (§§ 119 ff.) ist eine einseitige Willenserklärung (§ 143 Abs. 1) mit unmittelbarer Gestaltungswirkung. Anders als der Rücktritt wirkt diese jedoch ex tunc und macht das gesamte Rechtsgeschäft von Anfang an nichtig (§ 142 Abs. 1), wohingegen der Rücktritt nur mit ex nunc-Wirkung die beiderseitigen Leistungspflichten aufhebt. Die Rückabwicklung im Anschluss an eine Anfechtung erfolgt über das Bereicherungsrecht (§§ 812 ff.), nicht über §§ 346 ff. Die Anfechtung ist auch nach einem Rücktritt möglich, nicht aber umgekehrt.10

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c) Widerruf (bei Verbraucherverträgen) Auf das Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen sind die §§ 346 ff. nicht anzuwenden. Hierzu enthalten §§ 355 ff. eine abschließende Regelung, jedenfalls soweit es um Ansprüche gegen den Verbraucher geht (vgl. § 361 Abs. 1). Durch die Erklärung des Widerrufs wird der Verbrauchervertrag ex nunc in ein Rückabwicklungsverhältnis umgewandelt. Das Widerrufsrecht ist damit wie das Rücktrittsrecht ein Gestaltungsrecht. Es handelt sich um ein besonders ausgestaltetes gesetzliches Rücktrittsrecht.11

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d) Auflösende Bedingung Im Falle des Eintritts einer vertraglich vereinbarten auflösenden Bedingung endet gem. § 158 Abs. 2 die Wirkung des Rechtsgeschäfts, ohne dass es einer Erklärung der Parteien bedarf. Die Beendigung erfolgt ex tunc, die Rückabwicklung erfolgt nicht nach §§ 346 ff., sondern nach §§ 812 ff.

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e) Einvernehmliche Vertragsaufhebung Bei der Vertragsaufhebung handelt es sich anders als beim Rücktritt um ein zweiseitiges Rechts- 15 geschäft. Ihre Rechtsfolgen bestimmen sich primär nach dem Inhalt des Aufhebungsvertrags (§ 311 Abs. 1). I.d.R. soll das Schuldverhältnis nur mit Wirkung für die Zukunft beendet werden. Sind aufgrund des ursprünglichen Vertrages bereits Leistungen erbracht worden, so stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise diese rückabzuwickeln sind. Ist dazu im Vertrag nichts bestimmt, so kommen die §§ 346 ff. zur Anwendung, sofern sich durch Auslegung feststellen lässt, dass eine Rückabwicklung gewollt ist.12 4. Rücktritt und Schadensersatz Das Recht, Schadensersatz zu verlangen, wird gem. § 325 durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen. 16 Dies gilt sowohl für den Schadensersatz wegen Pflichtverletzung gem. § 280 Abs. 1 oder wegen Verzögerung der Leistungen gem. § 280 Abs. 2 i.V.m. § 286 als auch für den Schadensersatz statt der Leistung gem. § 281. Anders als der Rücktritt setzen Schadensersatzansprüche jedoch grundsätzlich voraus, dass der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat (vgl. § 280 Abs. 1 Satz 2). Der Umstand, dass die §§ 346 ff. im Wesentlichen am negativen Interesse der Parteien ausgerichtet sind (s. Rz. 2), schließt im Falle des Rücktritts die Geltendmachung eines auf das positive Interesse gerichteten Schadensersatzanspruchs des Zurücktretenden nicht aus. Insb. stehen die Bestimmungen der §§ 346, 347 über eine vom Zurücktretenden herauszugebende Nutzungsentschädigung der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs wegen entgangener Nutzungen nicht entgegen.13 Um Überkompensationen zu verhindern, muss aber mit Blick auf die Ratio des Rücktrittsrechts ggf. eine Verrechnung des Schadensersatzanspruchs des Zurücktretenden mit einem Nutzungsersatzanspruch des Rücktrittsgegners nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung erfolgen.14 10 11 12 13

Palandt/Grüneberg, Einf. v. § 346 BGB Rz. 12. BeckOK BGB/Müller-Christmann, § 355 Rz. 31. MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 20. So BGH v. 28.11.2007 – VIII ZR 16/07, NJW 2008, 911, 912 = CR 2008, 143 für den Anspruch eines wegen eines Mangels zurücktretenden Kfz.-Käufers auf Ersatz des Nutzungsausfallschadens in Gestalt von Kosten für die Anmietung eines Ersatzfahrzeugs. 14 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 23.

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BGB § 346 Rz. 18 Wirkungen des Rücktritts 18

Von der in § 325 geregelten Frage, inwieweit wegen des zum Rücktritt führenden Ereignisses neben dem Rücktritt auch Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden können, ist die Frage nach Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung von Pflichten aus dem Rückabwicklungsverhältnis selbst zu unterscheiden. Diese Frage ist in § 346 Abs. 4 geregelt (s. Rz. 88 ff.).

II. Norminhalt 1. Voraussetzungen des Rücktritts (§ 346 Abs. 1) a) Vertragliches Rücktrittsrecht 19

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Abs. 1 nennt zunächst den Fall, dass sich eine Vertragspartei den Rücktritt vertraglich vorbehalten hat. Die Formulierung macht deutlich, dass ein einseitig erklärter Vorbehalt nicht genügt. Erforderlich ist vielmehr eine entsprechende vertragliche Abrede, die ausdrücklich oder stillschweigend getroffen werden kann.15 In IT-Projektverträgen, z.B. für die Erstellung von Software, findet sich häufig die Vereinbarung eines vertraglichen Rücktrittsrechts für den Fall, dass das herzustellende Werk nicht bis zu einem bestimmten Termin abgenommen werden kann. Daneben kann in solchen Fällen ein gesetzliches Rücktrittsrecht nach § 323 Abs. 1 gegeben sein, welches jedoch den erfolglosen Ablauf einer vom Gläubiger gesetzten Nachfrist voraussetzt, sofern nicht ein Fall des § 323 Abs. 2 Nr. 2 vorliegt. Ferner finden sich vertragliche Rücktrittsrechte häufig in sog. „Höhere Gewalt“-Klauseln für den Fall, dass die Folgen der höheren Gewalt nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums beseitigt werden können. Denkbare Anwendungsfälle einer solchen Klausel wären beispielsweise ein infolge von Naturgewalten eintretender Stromausfall in einem Rechenzentrum, der auch über übliche Sicherungsmaßnahmen, insb. die Bereitstellung von Notstromaggregaten, nicht kompensiert werden kann, oder Betriebsstörungen infolge einer über einen längeren Zeitraum grassierenden Pandemie wie der COVID-19-Pandemie. In AGB ist jedenfalls im nicht-kaufmännischen Verkehr gem. § 308 Nr. 3 die Vereinbarung eines Rücktrittsrechts des Verwenders ohne sachlich gerechtfertigten und im Vertrag angegebenen Grund unwirksam. Ggü. Unternehmern gilt dies nur unter den weiteren Voraussetzungen von § 310 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 307 Abs. 1 und 2, wenn also die andere Vertragspartei durch den Rücktrittsvorbehalt des Verwenders unangemessen benachteiligt wird. Im Falle der Vereinbarung eines freien Rücktrittsrechts ohne das Erfordernis eines sachlich gerechtfertigten Grundes dürfte dies regelmäßig der Fall sein.16 b) Gesetzliches Rücktrittsrecht

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Neben dem vertraglich vorbehaltenen Rücktritt findet § 346 auch bei gesetzlichen Rücktrittsrechten Anwendung. Wichtigster Anwendungsfall ist auch bei IT-Verträgen § 323 Abs. 1, der bei einem gegenseitigen Vertrag im Falle einer Nichtleistung oder Schlechtleistung dem Gläubiger nach Ablauf einer angemessenen Nachfrist ein Rücktrittsrecht gewährt, und zwar unabhängig davon, ob der Schuldner den Rücktrittsgrund zu vertreten hat. Von Bedeutung sind daneben auch § 324 für den Fall der Verletzung einer Nebenpflicht nach § 241 Abs. 2 sowie § 326 Abs. 5 im Falle des Ausschlusses der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 (Unmöglichkeit) bis Abs. 3. Ferner gelten die §§ 346 ff. auch für das Rücktrittsrecht wegen Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 3 Satz 1.17 Während die vorgenannten Bestimmungen für alle gegenseitigen Verträge gelten, gibt es einige Sonderbestimmungen, die nur für bestimmte Arten von Schuldverhältnissen Anwendung finden. Von Bedeutung sind hier insb. §§ 437 Nr. 2, 440 beim Kauf und §§ 634 Nr. 3, 636 beim Werkvertrag, die dem Käufer einer Sache bzw. dem Besteller eines Werks ein gesetzliches Rücktrittsrecht gewähren, wenn die Nacherfüllung fehlgeschlagen ist. In einer Reihe von Vorschriften des BGB wird ausdrücklich auf die §§ 346 ff. als Rechtsfolge verwiesen, so z.B. in §§ 281 Abs. 5, 326 Abs. 4, 439 Abs. 5, 441 Abs. 4, 638 Abs. 4. Auf das Widerrufsrecht 15 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 4 und 8. 16 BeckOK BGB/Becker, § 308 Nr. 3 Rz. 2; MünchKomm/Wurmnest, § 308 Nr. 3 BGB Rz. 15. 17 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 12; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 37.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 30 § 346 BGB

bei Verbraucherverträgen sind die §§ 346 ff. hingegen nicht anzuwenden, hierzu enthalten §§ 355 ff. eine abschließende Regelung (s. Rz. 13). Auch im Übrigen gehen gesetzliche Sonderregelungen, wie etwa beim Reisevertrag (§ 651h), beim Verlöbnis (§§ 1298 ff.), beim Erbvertrag (§§ 2293 ff.) und beim Versicherungsvertrag (§§ 16 ff. VVG) den §§ 346 ff. vor.18

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c) Ausschlussgründe Allein die Tatsache, dass der Rücktrittsberechtigte den von ihm empfangenen Gegenstand nicht zurückgeben kann, führt nicht zum Ausschluss des Rücktrittsrechts. Die Gefahr des Untergangs oder eines sonstigen Unvermögens zur Rückgewähr wird dem Rückgewährschuldner durch Begründung einer Pflicht zum Wertersatz nach Abs. 2 zugewiesen. Anders als noch vor der Schuldrechtsreform aus dem Jahr 2002 (vgl. § 351 a.F.) gilt dies selbst dann, wenn der Rücktrittsberechtigte den Untergang oder eine wesentliche Verschlechterung des Gegenstands oder eine anderweitige Unmöglichkeit der Herausgabe zu vertreten hat.19 Allerdings ist der Rücktrittsberechtigte dem anderen Teil dann nach Abs. 4 i.V.m. §§ 280 bis 283 zum Schadensersatz verpflichtet (s. Rz. 88 ff.). Eine – ausdrücklich oder konkludent getroffene – abweichende Vereinbarung der Parteien, nach der ein Rücktrittsrecht ausgeschlossen sein soll, wenn der Berechtigte den Leistungsgegenstand nicht zurückgewähren kann, ist zulässig.20

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d) Verjährung Als Gestaltungsrecht (s. Rz. 5 und 35) unterliegt das Rücktrittsrecht als solches nicht der Verjährung. Gem. § 218 Abs. 1 ist der Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung jedoch unwirksam, wenn der Anspruch auf die Leistung oder der Nacherfüllungsanspruch (z.B. aus §§ 437 Nr. 1, 439 beim Kauf oder §§ 634 Nr. 1, 635 beim Werkvertrag) verjährt ist und der Schuldner sich hierauf beruft. Damit wird das gesetzliche Rücktrittsrecht im Ergebnis wie ein der Verjährung unterliegendes Recht behandelt.21

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Hiervon zu unterscheiden ist die Verjährung der durch den Rücktritt entstehenden Ansprüche, insb. des Rückgewähranspruchs nach Abs. 1 und des Anspruchs auf Wertersatz nach Abs. 2, für die die allgemeinen Verjährungsregeln der §§ 195 ff. gelten.22

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e) Einheitlicher Vertrag/Teilrücktritt Für die Frage, ob ein Rücktrittsrecht vorliegt, und wie sich dieses auf den Vertrag auswirkt, spielt es auch eine Rolle, ob es sich dabei um einen einheitlichen Vertrag mit mehreren Teilen oder um mehrere, rechtlich getrennt zu betrachtende Verträge handelt. Liegen getrennte Verträge vor, so wirkt sich der Rücktritt von einem Vertrag grundsätzlich nicht auf die anderen Verträge aus. Bilden mehrere Verträge hingegen ein einheitliches Rechtsgeschäft, kann das Rücktrittsrecht grundsätzlich nur einheitlich ausgeübt werden.23 Ferner kann bei einem einheitlichen Vertrag der Gläubiger nach § 323 Abs. 5 Satz 1, wenn der Schuldner eine Teilleistung erbracht hat, vom ganzen Vertrag nur dann zurücktreten, wenn er an der erbrachten Teilleistung kein Interesse hat.24

18 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 194. 19 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 194; zu etwaigen Einschränkungen des Rücktrittsrechts vor dem Hintergrund von § 242 im Falle einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Herbeiführung der Unmöglichkeit der Herausgabe oder Verschlechterung s. MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 15. 20 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 195. 21 Palandt/Grüneberg, Einf. v. § 346 BGB Rz. 2; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 78. 22 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 6a; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 80. 23 BGH v. 30.4.1976 – V ZR 143/7, NJW 1976, 1931 f. 24 Vgl. hierzu die Kommentierung zu § 323 Abs. 5 (§ 323 Rz. 86 ff.) sowie speziell in Bezug auf IT-Projekte Stögmüller, CR 2015, 424, 427 ff. und Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, G Rz. 420.

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BGB § 346 Rz. 31 Wirkungen des Rücktritts 31

Ob ein einheitlicher Vertrag vorliegt, richtet sich nach dem nach außen hin erkennbaren Willen der Parteien. Eine einheitliche Vertragsurkunde kann dafür eine Vermutung begründen, die aber widerlegbar ist. Umgekehrt können mehrere Verträge, trotz Niederlegung in getrennten Vertragsdokumenten, bei Annahme eines entsprechenden „Einheitlichkeitswillens“ zu einem einheitlichen Rechtsgeschäft verbunden sein und zu einer rechtlichen Einheit der Leistungen führen. Entscheidend ist, ob die Vereinbarungen nach dem Willen der Parteien nicht für sich allein gelten, sondern gemeinsam miteinander „stehen und fallen“ sollen. Erforderlich ist dabei der Wille zur rechtlichen Einheit, nicht nur zur wirtschaftlichen Verknüpfung. Jedoch genügt es, wenn dieser Wille nur bei einer Partei vorhanden, der anderen jedoch erkennbar geworden ist und von dieser gebilligt oder zumindest hingenommen wird.25

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Die Frage nach dem Vorliegen eines einheitlichen Vertrages spielt bspw. eine Rolle beim IT-Systemvertrag, aufgrund dessen der Kunde ein System erwirbt, das aus mehreren Komponenten besteht, insb. aus Hard- und Software.26 Hier hat der Kunde regelmäßig ein Interesse daran, dass die verschiedenen Komponenten in rechtlicher Hinsicht demselben Schicksal unterliegen, und zwar gerade auch im Falle eines Rücktritts. Ein einheitlicher Vertrag ist demgemäß trotz mehrerer Vertragsurkunden insb. dann anzunehmen, wenn sich der Anbieter neben der Lieferung der Hardware auch zur Installation der Software verpflichtet hat27 oder wenn eine speziell auf den Erwerber abgestimmte Hard- und Software Vertragsgegenstand ist.28 Wird hingegen in einem Vertrag über den Kauf von Hardware nebst einer zugehörigen Software und der Installation der gesamten Anlage nur hinsichtlich der Software ein Rücktrittsrecht vereinbart, so kann nicht von einem einheitlichen Vertrag ausgegangen werden.29

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Weitere Beispiele aus der Rspr.: Beim Kauf eines handelsüblichen Computers zusammen mit der Überlassung von Standardsoftware liegt i.d.R. kein einheitlicher Vertrag vor, da der gemeinschaftliche Zweck ebenso durch mehrere nacheinander geschlossene Verträge oder durch Vereinbarungen mit mehreren Lieferanten erfüllt werden könnte.30 Bei einem Liefervertrag über eine aus Hardware, Standardsoftware und Spezialsoftware bestehende EDV-Anlage erstreckt sich der hinsichtlich der Spezialsoftware begründete Rücktritt des Erwerbers nicht auf die restlichen Vertragsteile, wenn konkrete Umstände – hier die nachträglich vereinbarte Reduktion des Umfangs der Spezialsoftware und der Erwerb auch ohne diese sinnvoll nutzbarer Standardsoftware – gegen die Annahme einer auch nur nach der Vorstellung des Erwerbers bestehenden Vertragseinheit sprechen.31 Bei der Beauftragung zur Erstellung mehrerer Softwaremodule in einer einheitlichen Vertragsurkunde liegt keine einheitliche Leistung vor, wenn diese getrennt abgenommen und abgerechnet werden und unabhängig voneinander nutzbar sind.32 Dagegen ist beim Erwerb einer Standardsoftware, die aufgrund einer einheitlichen Leistungsbeschreibung auf die Bedürfnisse des Kunden angepasst wird, regelmäßig von einem einheitlichen Vertrag auszugehen.33

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Ein weiteres Beispiel ist der Abschluss eines Überlassungsvertrags für Hard- oder Software zusammen mit einem Hardware-Wartungsvertrag oder einem Software-Pflegevertrag.34 Nimmt man eine rechtliche Einheit an, so führt der Rücktritt von dem Überlassungsvertrag im Zweifel dazu, dass der Gläubiger auch vom Pflegevertrag oder Wartungsvertrag zurücktreten bzw. diesen, sofern er bereits voll-

25 BGH v. 30.4.1976 – V ZR 143/7, NJW 1976, 1931 f.; BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358; s. hierzu auch Redeker, ITRB 2014, 193, 194 und Schneider/Schneider, Handbuch EDVRecht, M Rz. 667 ff. 26 Vgl. hierzu Koch, ITRB 2004, 157 ff.; Redeker, IT-Recht, Rz. 680 ff. und Stögmüller, CR 2015, 424, 426. 27 OLG Köln v. 19.1.1994 – 2 U 74/93, NJW-RR 1994, 1204 = CR 1994, 401. 28 BGH v. 23.1.1996 – X ZR 105/93, NJW 1996, 1745, 1747 = CR 1996, 467. 29 LG Stuttgart v. 14.8.1992 – 20 O 665/91, CR 1993, 500, 501; dazu kritisch Redeker, ITRB 2014, 193, 195. 30 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358, ablehnend Redeker, IT-Recht, Rz. 682. 31 BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 32 OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368, dazu Anm. Elteste, ITRB 2014, 179. 33 Redeker, ITRB 2014, 193, 194, der primär auf das für den Anbieter erkennbare Interesse des Kunden abstellt; s. dazu auch Schneider/Graf von Westphalen/Witzel, Software-Erstellungsverträge, G Rz. 68. 34 Hierzu ausführlich Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, I Rz. 75 ff.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 38 § 346 BGB

zogen ist, kündigen kann.35 Nach anderer Auffassung soll der Wartungs- oder Pflegevertrag sogar ohne Kündigung automatisch erlöschen, wenn der Kunde vom Überlassungsvertrag wirksam zurücktritt.36 Demgegenüber hat im umgekehrten Fall die Kündigung des Wartungs- oder Pflegevertrags grundsätzlich keine Auswirkungen auf Wirksamkeit und Bestand des Überlassungsvertrags.37 2. Wirkungen des Rücktritts (§ 346 Abs. 1) a) Befreiungs- und Gestaltungswirkung Durch den Rücktritt erlöschen unmittelbar die Leistungs- und Erfüllungspflichten der Parteien (Befreiungswirkung). Der Vertrag wird jedoch nicht aufgehoben, sondern nur inhaltlich verändert und ex nunc in ein Abwicklungsverhältnis umgestaltet (Gestaltungswirkung). Dieses Abwicklungsverhältnis ist kein neues (gesetzliches) Schuldverhältnis, sondern der durch den Rücktritt umgestaltete ursprüngliche Vertrag.38 Dieser endet erst, wenn die Abwicklung vollzogen ist. Bis dahin kann der ursprüngliche Vertrag durch Parteivereinbarung, z.B. bei Vornahme einer einvernehmlichen Mängelbeseitigung, wieder in Vollzug gesetzt werden.39 Ansonsten ist der Zurücktretende an seine Wahl gebunden: nach Erklärung des Rücktritts kann er sich nicht mehr einseitig davon lösen und zu einem anderen Rechtsbehelf, bspw. der Minderung wechseln. Vor Ausübung des Rücktrittsrechts sollte sich der Rücktrittsberechtigte daher sorgfältig überlegen, welcher Rechtsbehelf für ihn günstiger ist.40 Das Recht, Schadensersatz zu verlangen, wird hingegen gem. § 325 durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen (s. Rz. 16).

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Als Gestaltungsrecht ist der Rücktritt grundsätzlich bedingungsfeindlich. Sofern die Bedingung ausschließlich vom Verhalten des Rücktrittsgegners als Erklärungsempfänger abhängt und daher für diesen keine unzumutbare Ungewissheit entsteht (sog. Potestativbedingung), ist ein unter einer Bedingung erklärter Rücktritt jedoch ausnahmsweise zulässig.41

36

b) Rückgewähr empfangener Leistungen aa) Allgemeines Im Falle des Rücktritts sind nach Abs. 1 zunächst die empfangenen Leistungen zurückzugewähren. 37 Die Leistungen sind so zurückzugewähren, wie sie empfangen wurden, Sachen und Rechte also grundsätzlich in Natur, d.h. durch Rückübereignung oder Rückübertragung, Forderungen durch Rückabtretung. Geleistete Zahlungen sind summenmäßig zurückzuzahlen, ggf. unter Abzug eines Wertersatzes gem. Abs. 2, sofern die Gegenleistung nicht (vollständig) zurückgewährt werden kann. Die Kosten der Rückgewähr (Transportkosten, Ausbaukosten) trägt grundsätzlich der Rückgewährschuldner. Dies gilt auch im Falle des Rücktritts wegen eines Mangels der Kaufsache oder des Werkes.42

35 Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, I Rz. 97, 120, 132 (zum Drei-PersonenVerhältnis) und Rz. 136 (zur Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314); s. hierzu auch Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 132 mit der Empfehlung, zur Vermeidung von Diskussionen für diesen Fall ein Sonderkündigungsrecht im Pflegevertrag zu vereinbaren. 36 Redeker, IT-Recht, Rz. 678, der darüber hinaus sogar von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage für den Wartungs- oder Pflegevertrag ex tunc ausgeht. 37 Schneider/Graf von Westphalen/Peter, Software-Erstellungsverträge, I Rz. 121; Redeker, IT-Recht, Rz. 667 und 678 gegen LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414 ff., m. Anm. Zahrnt, 418; dem LG Bonn zustimmend Dieselhorst, ITRB 2004, 173, 174; die Frage offen lassend Schneider, CR 2004, 241, 242 und Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 131. 38 BGH v. 5.11.2008 – VIII ZR 16/07, NJW 2008, 911, 912. 39 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 11. 40 Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D Rz. 309. 41 BGH v. 21.3.1986 – V ZR 23/85, NJW 1986, 2245, 2246. 42 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 23; anders noch in der Vorauflage, dort Rz. 18, wonach in diesen Fällen entsprechend dem Rechtsgedanken aus § 439 Abs. 2 und § 635 Abs. 2 die zur Rückabwicklung erforderlichen Aufwendungen, insb. Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten, vom Verkäufer bzw. Unternehmer zu tragen seien.

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BGB § 346 Rz. 39 Wirkungen des Rücktritts 39

Ob es neben der Rückgewährpflicht des Schuldners auch eine Rücknahmepflicht des Gläubigers gibt, ist umstritten, wird von der h.M. aber verneint, und zwar sowohl für das vertragliche wie auch für das gesetzliche Rücktrittsrecht.43

40

Hinsichtlich des Erfüllungsortes für Rückgewähransprüche gilt § 269 Abs. 1. Dabei ist nach herrschender Auffassung zwischen vertraglichen und gesetzlichen Rücktrittsrechten zu differenzieren.44 Beim vertraglichen Rücktrittsrecht ist es eine Frage der Auslegung, ob eine vertragliche Erfüllungsortsklausel nicht nur die primären Leistungspflichten, sondern auch diejenigen aus einem Rückgewährschuldverhältnis erfasst.45 Dabei wird mitunter weiter danach differenziert, ob der Rücktritt im Belieben des Begünstigten steht oder an eine Leistungsstörung oder sonstige Pflichtverletzung des Rücktrittsgegners anknüpft. Im erstgenannten Fall soll im Zweifel der Sitz des Rücktrittsgegners Erfüllungsort sein, in der zweiten Variante im Zweifel der Sitz des Rücktrittsberechtigten.46 Beim gesetzlichen Rücktrittsrecht infolge eines Mangels der Kaufsache oder des Werks ist Erfüllungsort regelmäßig der Ort, an dem sich der zurückzugewährende Gegenstand bei Ausübung des Rücktrittsrechts vertragsgemäß befindet, was i.d.R. dem Sitz des Rücktrittsberechtigten entspricht.47 bb) Hardware

41

Beim Kauf von Hardware oder der Herstellung eines Werks in Gestalt von Hardware ist die Rückgewähr der empfangenen Leistungen i.d.R. unproblematisch. Tritt beispielsweise der Kunde infolge eines Mangels der Hardware nach fehlgeschlagener Nacherfüllung gem. §§ 437 Nr. 2, 440, 323 oder §§ 634 Nr. 3, 636, 323 vom Vertrag zurück, so ist er zur Rückübereignung und Rückgabe des mangelhaften Liefer- oder Leistungsgegenstands und der Verkäufer bzw. der Werkunternehmer zur Rückzahlung des gezahlten Kaufpreises oder Werklohns verpflichtet. Die Rückgabeverpflichtung erstreckt sich auch auf eine dem Kunden etwa überlassene Bedienungsanweisung.48 cc) Software

42

Schwieriger stellt es sich beim Kauf von Software oder der Erstellung von Software im Rahmen eines Werkvertrags dar, da hier i.d.R. ein körperlicher Gegenstand, der zurückgegeben werden kann, nicht existiert. Lediglich im Falle der Überlassung von Software auf einem Datenträger könnte der dem Kunden übergebene Originaldatenträger mit der Ursprungskopie der Software an den Verkäufer/Unternehmer zurückgegeben werden, sofern er denn noch vorhanden ist.49 Der Datenträger ist jedoch nur das Transportmedium für die darauf gespeicherte Software. I.d.R. nutzt der Kunde den Datenträger nur dazu, um seinerseits eine weitere Kopie oder – je nach eingeräumtem Nutzungsrecht – mehrere Kopien der Software auf seinem System oder seinen Systemen zu erstellen. Das Interesse des Verkäufers, eine weitere Nutzung der Software durch den Kunden zu unterbinden, würde daher durch die Rückgabe des Originaldatenträgers nicht befriedigt. Anstelle der Rückübereignung und Rückgabe des Datenträgers kann der Verkäufer daher fordern, dass der Kunde die auf seinen Systemen erstellten Kopien Zug um Zug (§ 348) gegen Rückzahlung des Kaufpreises löscht.50 Entsprechendes gilt im Falle ei43 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 43; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 18, jeweils m.w.N. 44 A.A. MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 40, der dafür plädiert, in beiden Fällen vorrangig zu prüfen, ob sich den vertraglichen Abreden auch die (konkludente) Vereinbarung des Leistungsorts entnehmen lässt. 45 Nach Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 16, ist dies im Zweifel anzunehmen. 46 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 17; i.E. ebenso MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 40. 47 BGH v. 13.4.2011 – VIII ZR 220/10, NJW 2011, 2278, 2280; OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, BauR 2010, 266; Palandt/Grüneberg, § 269 BGB Rz. 16; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 17. 48 Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, O Rz. 281, jedenfalls für den Fall, dass diese gesondert vergütet wurde. 49 Dazu Ulmer, ITRB 2003, 276, 277. 50 LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 417 = ITRB 2004, 173; vgl. auch Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D Rz. 302; Marly, Softwarerecht, Rz. 1311 unter Hinweis auf den Wegfall des Nutzungsrechts; Redeker, IT-Recht, Rz. 366, 702 und 780 mit Hinweisen zur prozessualen Durchsetzung und Vollstreckung des Löschungsanspruchs; Musterformulierungen für eine Rückabwicklungsklage mit Löschungsanspruch bei Ulmer, ITRB 2003, 276 ff. und Beck OF Prozess/Grützmacher, 13.1 Rückabwicklungsklage.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 49 § 346 BGB

nes Werkvertrags über die Erstellung von Software,51 sofern nicht über § 650 Satz 1 ohnehin das Kaufrecht Anwendung findet (s. § 650 Rz. 7 ff.). Wurde die Software dem Käufer unkörperlich überlassen, wie z.B. im Falle des Downloads, ist eine Rückgabe von vorneherein nicht möglich, da die heruntergeladene Kopie als solche nicht mehr existiert. Vielmehr erstellt der Kunde im Falle des Downloads auf seinem System eine neue Kopie, die mit der im Download-Bereich des Verkäufers bereit gestellten Kopie nicht identisch ist. Auch hier tritt daher im Falle des Rücktritts die Löschung an die Stelle der Rückübereignung und Rückgabe.

43

Die Löschungsverpflichtung gilt auch für sämtliche von dem Kunden erstellten Sicherungskopien i.S.d. § 69d Abs. 2 UrhG, und zwar auch dann, wenn die Software dem Kunden ursprünglich auf einem Datenträger überlassen wurde.

44

Zurückzugeben sind auch sämtliche sonstigen im Zusammenhang mit der Software überlassenen Gegenstände, insb. die Benutzerdokumentation, und zwar in der Form, in der sie dem Kunden überlassen wurden.52 Ein in gedruckter Form überlassenes Benutzerhandbuch ist als solches zurückzugeben. Sofern die Dokumentation in digitaler Form als Bestandteil der Software überlassen wurde, gelten die vorstehenden Ausführungen zur Löschung entsprechend. Wurde die Dokumentation als OnlineHilfe zum Zugriff über das Internet zur Verfügung gestellt, so endet mit Wirksamwerden des Rücktritts das hierfür eingeräumte Zugriffs- und Nutzungsrecht.

45

Wurde die überlassene Software vom Verkäufer als Nebenleistung zu einem Kaufvertrag oder auf der Grundlage eines separaten Werkvertrags auf den Systemen des Kunden installiert,53 so ist diese zu deinstallieren, was im Ergebnis der Löschung entspricht.

46

Wurde die Software im Rahmen eines Werk- oder Werklieferungsvertrags vom Lieferanten nicht nur beim Kunden installiert, sondern auf dessen Anforderungen angepasst, so ist die Software in der angepassten Form zurückzugeben bzw., wie zuvor dargestellt, zu löschen. Auch im Übrigen gilt, dass die Software in dem Zustand zurückzugeben ist, in den sie infolge der bestimmungsgemäßen Nutzung versetzt wurde. Dazu gehören auch Änderungen der Software im Zuge von Arbeiten zur Nacherfüllung oder von Pflegeleistungen, insb. in Gestalt von Updates, die dem Kunden nach Überlassung der Software auf der Grundlage eines Pflegevertrags zur Verfügung gestellt wurden.54

47

Im Gegenzug ist der Verkäufer der Software verpflichtet, dem Kunden die für diese gezahlte Vergütung zurück zu erstatten, wobei gem. Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 im Regelfall ein Abzug für die erfolgte Nutzung erfolgt (s. Rz. 58). Beim Werkvertrag gilt dasselbe für den an den Unternehmer gezahlten Werklohn.

48

dd) Sonderfrage: Rückübertragung des Nutzungsrechts? Die Frage, ob der den Rücktritt erklärende Kunde das ihm für die Software eingeräumte Nutzungsrecht zurückübertragen muss, oder ob dieses infolge des Rücktritts (oder einer Kündigung) automatisch an den Lizenzgeber zurückfällt, war früher im Schrifttum umstritten.55 Nachdem der BGH in der Entscheidung M2Trade aus dem Jahr 201256 unter ausdrücklicher Aufgabe der früheren Rspr. festgestellt hat, dass im Falle der Beendigung eines Lizenzvertrags das dem Lizenznehmer vom Rechtsinhaber eingeräumte Nutzungsrecht im Regelfall, also wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben, ipso jure an den Rechtsinhaber zurückfällt, wird die Forderung nach einer Rückübertragung des Nutzungsrechts auch von den früheren Verfechtern dieser Ansicht nicht mehr aufrechterhalten.57 Im Falle des Rücktritts erlischt das Nutzungsrecht des Kunden mit Wirkung ex tunc automatisch infolge des Rück51 OLG Bamberg v. 18.8.2010 – 8 U 51/10, CR 2010, 630 = juris Rz. 43 m. Anm. Elteste, ITRB 2010, 275. 52 Zu den verschiedenen Formen der Überlassung einer Dokumentation s. Münchener Anwaltshandbuch ITRecht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 177 ff. 53 Vgl. dazu Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Teil 1 Rz. 180 ff. 54 LG Bonn v. 31.10.2006 – 11 O 170/05, CR 2007, 767, 768; Marly, Softwarerecht, Rz. 1316. 55 Vgl. hierzu z.B. Marly, Software-Überlassungsverträge, 4. Aufl. 2004, Rz. 719 der im Hinblick auf die frühere Rspr. des BGH zur Geltung des Abstraktionsprinzips auch im Urhebervertragsrecht (vgl. BGH v. 15.4.1958 – I ZR 31/57, NJW 1958, 1583, 1584) entgegen der wohl h.M. im urheberrechtlichen Schrifttum eine Rückübertragung forderte. 56 BGH v. 19.7.2012 – I ZR 70/10, NJW 2012, 3301, 3302 = CR 2012, 572 = ITRB 2012, 196. 57 Explizit aufgegeben von Marly, Softwarerecht, Rz. 1311.

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BGB § 346 Rz. 49 Wirkungen des Rücktritts tritts, was dazu führt, dass der Kunde weder die ihm ursprünglich überlassene Kopie der Software noch die von ihm erstellten Vervielfältigungsstücke weiternutzen darf. Im Ergebnis läuft das auf die bereits oben (s. Rz. 42 ff.) beschriebene Löschungsverpflichtung hinaus.58 ee) Sonstige Leistungen 50

Fraglich ist, wie sonstige Leistungen, wie z.B. bloße Beratungs- und Unterstützungsleistungen, Schulungsleistungen, Planungsleistungen bei einem IT-Einführungsprojekt sowie Transitions- und Migrationsleistungen des Anbieters bei einem IT-Outsourcing Projekt zurückabgewickelt werden können. Soweit solche Leistungen nicht verkörpert sind, wie z.B. in Gestalt von Schulungsunterlagen, einem Pflichtenheft oder einer anderweitigen Dokumentation (z.B. Benutzer- oder Betriebshandbuch) dürfte eine Rückgabe in Natur regelmäßig ausscheiden mit der Folge, dass nur ein Wertersatz nach Abs. 2 in Betracht kommt.59 c) Herausgabe von Nutzungen

51

Neben der Rückgewähr der empfangenen Leistungen sind nach Abs. 1 auch die gezogenen Nutzungen herauszugeben, wozu gem. § 100 auch die Gebrauchsvorteile zählen. Da diese regelmäßig nicht herausgegeben werden können,60 hat der Rückgewährschuldner dem Rückgewährgläubiger nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Wertersatz zu leisten.61

52

Nach anderer Auffassung, die im Wesentlichen mit der Entstehungsgeschichte der Norm begründet wird,62 resultiert die Wertersatzpflicht für Gebrauchsvorteile unmittelbar aus Abs. 1 und nicht aus Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, sofern die Gebrauchsüberlassung nicht Hauptleistungspflicht des rückabzuwickelnden Vertrages ist.63 Da sich diese Auffassung mit dem Wortlaut von Abs. 2 Satz 1 indes nur schwer vereinbaren lässt („ …oder Herausgabe“) und in der Sache zu keinen anderen Ergebnissen führt, wird der Nutzungsersatz in Gestalt des Wertersatzes für Gebrauchsvorteile hier entsprechend der Gesetzessystematik unter Abs. 2 behandelt (s. Rz. 58 f.).

53

Anders verhält es sich mit Sach- und Rechtsfrüchten i.S.d. § 99. Als Beispiel mögen die Erlöse aus der Unterlizenzierung einer Software gelten, wenn der Hauptlizenzvertrag in Gestalt des Software-Kaufvertrags zwischen dem Lizenzgeber und dem Hauptlizenznehmer (Käufer) wegen eines Mangels der Software rückabgewickelt wird. Diese Erlöse sind im Beispiel als mittelbare Rechtsfrüchte i.S.d. § 99 Abs. 364 unmittelbar auf der Grundlage von Abs. 1 in der vom Hauptlizenznehmer erlangten Höhe an den Lizenzgeber herauszugeben. Die Frage des Wertersatzes nach Abs. 2 stellt sich hier nicht.65

58 So nun auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1311. 59 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 50; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 25; Söbbing, MMR 2010, 222, 223 f. für Beratungsleistungen; teilweise a.A. Redeker, IT-Recht, Rz. 366 und Schneider/Graf von Westphalen/ Redeker, Software-Erstellungsverträge, D Rz. 307, nach dessen Auffassung die Wertersatzregeln des § 346 Abs. 2 auf im Rahmen der Leistungserbringung vermittelte Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Betriebsgeheimnisse „nicht passen“, so dass nicht näher beschriebene „praktische Lösungen“ im jeweiligen konkreten Einzelfall zu erarbeiten seien, die den Gedanken des § 242 heranziehen. 60 BeckOK BGB/Fritzsche, § 100 Rz. 10. 61 St. Rspr., vgl. BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427, 428 = CR 2009, 75 = ITRB 2009, 50; BGH v. 9.4.2014 – VIII ZR 215/13, NJW 2014, 2435; so auch Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 6 und 8 und Lorenz, JuS 2011, 871, 872. 62 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 193. 63 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 44; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 25. 64 Vgl. Palandt/Ellenberger, § 99 BGB Rz. 4. 65 Anders Schuster, CR 2011, 215, 220, der in dieser Konstellation von einem Wertersatz für Gebrauchsvorteile auszugehen scheint.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 59 § 346 BGB

3. Verpflichtung zum Wertersatz (§ 346 Abs. 2) a) Allgemeines zur Wertersatzpflicht Abs. 2 betrifft alle Fälle, in denen es dem Rückgewährschuldner objektiv oder subjektiv unmöglich ist, den empfangenen Gegenstand in seiner ursprünglichen Form zurückzugeben. Danach ist die Bestimmung um das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Unmöglichkeit der Rückgewähr zu ergänzen; die Aufzählung der Fallgruppen in Satz 1 Nr. 1 bis 3 ist nicht abschließend.66 Die Rückgewährverpflichtung nach Abs. 1 ist ggü. der Verpflichtung zum Wertersatz nach Abs. 2 vorrangig.67

54

Darauf, ob der Rückgewährschuldner die Unmöglichkeit der Rückgewähr zu vertreten hat, kommt es im Rahmen des Abs. 2 nicht an. Abs. 4 gewährt dem Rückgewährgläubiger aber unter den Voraussetzungen der §§ 280 bis 283 einen Schadensersatzanspruch (s. Rz. 88 ff.). Demgegenüber gewährt Abs. 2 nur einen Ausgleich für den geminderten oder verloren gegangenen Substanzwert des Leistungsgegenstands.68 Es handelt sich um eine „Rückabwicklung dem Werte nach“.69

55

Der Anspruch auf Wertersatz nach Abs. 2 geht grundsätzlich auf Zahlung von Geld.70

56

b) Voraussetzungen der Wertersatzpflicht/Fallgruppen (§ 346 Abs. 2 Satz 1) aa) Natur des Erlangten (§ 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1) Nr. 1 betrifft primär solche Fälle, in denen die Rückgewähr des Leistungsgegenstands nach dessen Natur ausgeschlossen ist. Im Rahmen von IT-Verträgen werden damit insb. Dienst- und Werkleistungen erfasst, soweit deren Leistungsergebnisse nicht verkörpert sind, wie z.B. bloße Beratungs- und Unterstützungsleistungen, Schulungsleistungen, Planungsleistungen bei einem IT-Einführungsprojekt71 sowie Transitions- und Migrationsleistungen des Anbieters bei einem IT-Outsourcing Projekt (s. Rz. 50).

57

bb) Sonderfall: Wertersatz für Nutzungen (Gebrauchsvorteile) Daneben betrifft Nr. 1 nach wohl herrschender Auffassung auch solche Fälle, in denen zwar der Leistungsgegenstand selbst, beispielsweise eine vom Anbieter dem Kunden überlassene Hard-oder Software, nach Abs. 1 zurückgewährt werden kann, nicht aber die vom Kunden durch dessen Nutzung erzielten Gebrauchsvorteile, für die folglich Wertersatz nach Abs. 2 zu leisten ist.72 Nach anderer Auffassung folgt die Verpflichtung zum Wertersatz für Gebrauchsvorteile unmittelbar aus Abs. 1, sofern die Gebrauchsüberlassung nicht Hauptleistungspflicht des rückabzuwickelnden Vertrages ist73 (s. Rz. 52, zur Berechnung s. Rz. 74 ff.).

58

Die Verpflichtung zum Wertersatz für Gebrauchsvorteile gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass der Liefer- oder Leistungsgegenstand für den Kunden überhaupt nutzbar war. Ist keine Nutzung erfolgt, so ist vorbehaltlich § 347 Abs. 1 auch keine Nutzungsentschädigung (Wertersatz) zu leisten.

59

66 BGH v. 20.2.2008 – VIII ZR 334/06, NJW 2008, 2028, 2030 und BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 64; Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 7; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 49 und 56; teilw. a.A. MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 46 und 52. 67 BGH v. 20.2.2008 – VIII ZR 334/06, NJW 2008, 2028, 2030 und BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 65. 68 BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 65. 69 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 195. 70 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 10. 71 Vgl. hierzu Söbbing, MMR 2010, 222, 223 f. 72 St. Rspr., vgl. BGH v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, NJW 2009, 427, 428 = CR 2009, 75 = ITRB 2009, 50 und BGH v. 9.4.2014 – VIII ZR 215/13, NJW 2014, 2435; so auch Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 6 und 8, Lorenz, JuS 2011, 871, 872. 73 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 44; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 25.

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BGB § 346 Rz. 60 Wirkungen des Rücktritts cc) Verbrauch, Veräußerung etc. (§ 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2) 60

Nr. 2 betrifft Fälle, in denen dem Schuldner die Rückgewähr des empfangenen Leistungsgegenstands unmöglich ist, weil er diesen verbraucht, veräußert, belastet, verarbeitet oder umgestaltet hat.

61

Unter Verbrauch (vgl. § 92) ist nur der bestimmungsgemäße Verzehr der Sachsubstanz, wie etwa bei Lebensmitteln und Brennstoffen zu verstehen. Im IT-Umfeld spielt dieses Tatbestandsmerkmal daher keine Rolle. Vom Verbrauch zu unterscheiden ist der bestimmungsgemäße Gebrauch und die mit diesem einhergehende Abnutzung des Leistungsgegenstands.74 Inwieweit hierfür Wertersatz zu leisten ist, ist umstritten.75 Für die vom Rückgewährschuldner tatsächlich gezogenen Nutzungen (Gebrauchsvorteile) ist unter den Voraussetzungen der Nr. 1 Wertersatz zu leisten (s. Rz. 58 f.).

62

Bei der Veräußerung kommt der Vorrang der Rückgewähr nach Abs. 1 ggü. dem Wertersatz nach Abs. 2 dann zum Tragen, wenn der Schuldner willens und in der Lage ist, den empfangenen Leistungsgegenstand wieder zu beschaffen. Die Beweislast dafür liegt beim Schuldner.76

63

Entsprechendes gilt für Belastungen des empfangenen Leistungsgegenstands durch den Rückgewährschuldner. Auch hier geht die primäre Rückgewährpflicht nach Abs. 1 in Gestalt der Rückgabe des unbelasteten Leistungsgegenstands der Verpflichtung zum Wertersatz nach Abs. 2 vor.77 Dies gilt auch dann, wenn dem Schuldner die finanziellen Mittel fehlen, um die Belastung zu beseitigen. Der Gläubiger kann aber einen auf Geld gerichteten Anspruch dadurch erlangen, dass er dem Schuldner eine Frist zur Beseitigung der Belastung setzt und nach deren fruchtlosem Ablauf gem. Abs. 4 i.V.m. §§ 280 Abs. 1 und 3, 281 Abs. 1 Satz 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangt.78

64

Eine Wertersatzpflicht nach Abs. 2 besteht nicht nur bei Belastung mit einem dinglichen Recht, sondern auch dann, wenn der Rückgewährschuldner einen ggü. dem Berechtigten wirksamen Miet- oder Pachtvertrag bezüglich des zurückzugebenden Leistungsgegenstands abgeschlossen hat.79 Hat der Käufer einer Software diese zwar nicht weiterveräußert, aber wirksam an einen Dritten vermietet, so schuldet er also Wertersatz, soweit und solange er die Software aufgrund der Vermietung nicht an den Gläubiger zurückgewähren kann. Zusätzlich hat er den erzielten Mieterlös nach Abs. 1 an den Gläubiger auszukehren.

65

Die Begriffe der Verarbeitung und Umgestaltung in Abs. 2 decken sich mit § 950, wo an Stelle der Umgestaltung von Umbildung die Rede ist. Eine bloße Reparatur ist hierfür nicht ausreichend.80 Entsprechende wertsteigernde Verwendungen ohne Umgestaltung in eine andere Sache sind jedoch unter den Voraussetzungen des § 347 Abs. 2 zu erstatten. Zur Herausgabe der durch die Verarbeitung oder Umgestaltung neu hergestellten Sache ist der Rückgewährschuldner nicht verpflichtet.81 dd) Verschlechterung, Untergang (§ 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3)

66

Durch Nr. 3 wird die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Verschlechterung der empfangenen Leistung verteilt und dem Rückgewährschuldner in Gestalt einer Verpflichtung zum Wertersatz auferlegt.82

67

Verschlechterung ist jede nachteilige Veränderung der Sachsubstanz oder Beeinträchtigung der Funktionstauglichkeit des herauszugebenden Gegenstands. Untergang ist die vollständige Vernichtung der Sachsubstanz oder das Erlöschen eines empfangenen Rechts.83 Darunter fallen im Sinne eines Auffang74 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 51; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 47. 75 Dafür ohne nähere Begründung Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 9; a.A. die wohl h.M., z.B. MünchKomm/ Gaier, § 346 BGB Rz. 50 f. und BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 55. 76 BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 64; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 52. 77 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 53; a.A. MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 48. 78 BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 65 f. 79 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 8a; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 48; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 53. 80 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 53; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 49. 81 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 49. 82 KG v. 9.11.2007 – 5 W 276/07, GRUR-RR 2008, 129, 131. 83 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 9; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 50.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 71 § 346 BGB

tatbestandes alle weiteren Fälle der Unmöglichkeit der Herausgabe, soweit sie nicht von den Nrn. 1 und 2 erfasst werden, wobei ein Verschulden des Rückgewährschuldners nicht vorausgesetzt wird.84 Ist der Tatbestand der Nr. 3 erfüllt, ist stets Wertersatz zu leisten, eine Pflicht zur Reparatur gem. Abs. 1 besteht nicht.85 In Betracht kommt eine solche nur im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs nach Abs. 4.86 Von der Ersatzpflicht ausgenommen ist gem. Nr. 3 Halbs. 2 die durch die bestimmungsgemäße In- 68 gebrauchnahme entstandene Verschlechterung. Darunter ist lediglich der Akt der erstmaligen Ingebrauchnahme zu verstehen, nicht jedoch der sich daran anschließende bestimmungsgemäße Gebrauch.87 Gemeint sind Fälle wie z.B. der Wertverlust infolge der Erstzulassung eines neuen Pkw.88 Im IT-Umfeld spielt diese Tatbestandsvariante daher allenfalls bei Hardware eine Rolle, nicht jedoch bei Software, die beliebig reproduzierbar ist. Inwieweit die gewöhnliche Wertminderung, die durch den bestimmungsgemäßen Gebrauch entsteht, einen Ersatzanspruch nach Nr. 3 begründet, ist umstritten.89 Hiervon zu unterscheiden ist der Wertersatz für tatsächlich gezogene Nutzungen (Gebrauchsvorteile), der vom Rückgewährschuldner unter den Voraussetzungen von Abs. 2 Nr. 1 zu leisten ist, nach anderer Auffassung unmittelbar nach Abs. 1 (s. Rz. 52 und 58).

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c) Wertberechnung (§ 346 Abs. 2 Satz 2) aa) Grundsatz: Wertermittlung anhand der Gegenleistung Ist im Vertrag eine Gegenleistung, i.d.R. also ein Entgelt bestimmt, so ist gem. Abs. 2 Satz 2 bei der Be- 70 rechnung des Wertersatzes diese und nicht der objektive Wert des Leistungsgegenstands zugrunde zu legen.90 Auch ein „Schnäppchen“ bleibt dem Rücktrittsberechtigten daher wertmäßig erhalten, eine teleologische Reduktion der Norm ist nicht geboten.91 Umgekehrt bleibt es auch dann bei der Maßgeblichkeit der vereinbarten Gegenleistung, wenn diese höher ist als der objektive Wert der vom Rücktrittsberechtigten empfangenen Leistung, wenn der Rücktrittsberechtigte also ein für ihn „schlechtes Geschäft“ gemacht hat.92 Das vertraglich vereinbarte Entgelt ist im Hinblick auf die Berechnung des Wertersatzes auch nicht um den Gewinnanteil des Leistenden zu kürzen.93 Ebenso wenig ist bei der Wertermittlung eine Differenzierung nach Rücktrittsgründen vorzunehmen.94 War die Leistung jedoch mangelhaft, ist zur Berechnung des Wertersatzes die vertraglich vereinbarte Gegenleistung entsprechend §§ 441 Abs. 3, 638 Abs. 3 zu kürzen.95 Ist eine unentgeltliche Leistung vereinbart, namentlich eine Schenkung, besteht keine Pflicht zum Wertersatz.96 Ist zwar eine entgeltliche Leistung vereinbart, das Entgelt aber nicht im Vertrag fest84 So Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 9 mit dem Beispiel Diebstahl; für analoge Anwendung in diesen Fällen BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 56. 85 BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 65; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 54; MünchKomm/ Gaier, § 346 BGB Rz. 50. 86 BGH v. 10.10.2008 – V ZR 131/07, NJW 2009, 63, 65; Lorenz, JuS 2011, 871, 872. 87 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 55; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 51. 88 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 193, 196. 89 Dafür ohne nähere Begründung Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 9; a.A. die wohl h.M., z.B. MünchKomm/ Gaier, § 346 BGB Rz. 50 f. und BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 55. 90 Aus rechtspolitischer Sicht kritisch ggü. diesem Ansatz des Gesetzgebers MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 53. 91 BGH v. 19.11.2008 – VIII ZR 311/07, NJW 2009, 1068, 1070; zust. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 57. 92 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 54. 93 BGH v. 14.7.2011 – VII ZR 113/10, NJW 2011, 3085; zust. jetzt MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 54 und Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 10; a.A. noch Schuster, CR 2011, 215, 220 unter Berufung auf Vorauflagen beider Kommentare. 94 BGH v. 19.11.2008 – VIII ZR 311/07, NJW 2009, 1068, 1070 für den Fall des Zahlungsverzugs des Rücktrittsgegners mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass § 346 keinen Sanktionscharakter hat. 95 BGH v. 14.7.2011 – VII ZR 113/10, NJW 2011, 3085; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 54; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 57; Lorenz, JuS 2011, 871, 872. 96 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 10.

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BGB § 346 Rz. 71 Wirkungen des Rücktritts gelegt, so ist dieses im Wege der Auslegung, notfalls unter Zuhilfenahme einer Schätzung gem. § 287 ZPO zu ermitteln.97 Dabei sind insb. die gesetzlichen Auslegungsregeln der §§ 612 Abs. 2 und 632 Abs. 2 sowie die Regelungen der §§ 315 bis 317 zu einseitigen Leistungsbestimmungsrechten zu berücksichtigen. Nur wenn diese Möglichkeiten scheitern, ist der objektive Wert der erbrachten Leistung maßgebend.98 72

Da § 346 auf die Wiederherstellung des Zustands nach Vertragsschluss, aber vor dem Leistungsaustausch abzielt (s. Rz. 2), ist auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Leistungsaustauschs abzustellen.99 bb) Sonderfall: Wertersatz für Gebrauchsvorteile

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Die Verpflichtung des Rückgewährschuldners zum Wertersatz für Gebrauchsvorteile, nachfolgend auch Nutzungswertersatz genannt, folgt nach der Systematik des Gesetzes aus Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, nach anderer Auffassung unmittelbar aus Abs. 1 Halbs. 2 (s. Rz. 51 f.). Abs. 2 Satz 2 spielt bei der Berechnung des Nutzungswertersatzes insoweit eine Rolle, als die vereinbarte Gegenleistung auch hier den Ausgangspunkt für die Ermittlung der Gebrauchsvorteile darstellt.

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Dabei ist davon auszugehen, dass der Wert einer beweglichen Sache, also beispielsweise eines Computers oder einer Software, durch die gewöhnliche Nutzungsdauer, d.h. die Zeitspanne von der Ingebrauchnahme (vgl. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, s. Rz. 68) bis zur Gebrauchsuntauglichkeit bestimmt wird. Kann diese wegen des Rücktritts nicht voll ausgenutzt werden, so ist der Nutzungswertersatz nach dem Verhältnis der tatsächlichen Nutzungsdauer zur höchstmöglichen Gesamtnutzungsdauer zu berechnen. Maßgeblich ist dabei die zeitanteilige lineare Wertminderung.100 Bei Hard- und Software bietet sich dafür eine Orientierung an den steuerlichen Abschreibungsfristen (AfA) an, wobei von einer linearen Abschreibung und einer gewöhnlichen Nutzungsdauer zwischen 3 und 5 Jahren auszugehen ist.101

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Grundlage für die Ermittlung des Werts der Sache ist gem. Abs. 2 Satz 2 die im Vertrag vereinbarte Gegenleistung. Beim Kauf einer Sache, beispielsweise eines Computers oder einer Software, ist dabei vom Bruttopreis (inklusive Umsatzsteuer) auszugehen, und zwar auch dann, wenn der Käufer vorsteuerabzugsberechtigt ist.102 Dem so berechneten Nutzungswertersatz ist die Umsatzsteuer nicht nochmals hinzuzurechnen.103

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Ist die Gebrauchstauglichkeit durch einen Mangel eingeschränkt, ist für die Berechnung nicht der geminderte Kaufpreis zugrunde zu legen. Es ist vielmehr ein Abschlag von dem rechnerisch ermittelten Nutzungsvorteil vorzunehmen, der sich nach dem konkreten Maß der mängelbedingten Nutzungseinschränkung bestimmt und ggf. vom Tatrichter nach § 287 ZPO zu schätzen ist.104

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Hat der Rückgewährschuldner den Wert des Leistungsgegenstandes durch eigene Aufwendungen erhöht, etwa eine größere Festplatte oder eine andere Zusatzausstattung in einen gekauften Computer einbauen lassen, so soll der hierdurch erhöhte Wert für die Berechnung der Gebrauchsvorteile auch

97 BGH v. 19.11.2008 – VIII ZR 311/07, NJW 2009, 1068, 1069. 98 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 53; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 57. 99 H.M. laut Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 10; nach den Fallgruppen des Abs. 2 Satz 1 differenzierend BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 57; a.A. MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 53: Zeitpunkt des Entstehens der Wertersatzpflicht. 100 St. Rspr., z.B. BGH v. 26.6.1991 – VIII ZR 198/90, NJW 1991, 2484, 2485 f. = CR 1992, 147; BGH v. 31.3.2006 – V ZR 51/05, NJW 2006, 1582, 1583; s. dazu auch MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 36 m.w.N. 101 Redeker, IT-Recht, Rz. 364; Beck OF Prozess/Grützmacher, 13.1 Rückabwicklungsklage, Anmerkungen Rz. 7; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, X Rz. 59 f.; Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, SoftwareErstellungsverträge, D Rz. 302 f. (mit Hinweisen zur älteren untergerichtlichen Rspr., die z.T. noch von einer degressiven Abschreibung ausging). 102 BGH v. 26.6.1991 – VIII ZR 198/90, NJW 1991, 2484, 2485 = CR 1992, 147; bestätigt in Urt. v. 9.4.2014 – VIII ZR 215/13, NJW 2014, 2435; ebenso MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 33. 103 BGH v. 9.4.2014 – VIII ZR 215/13, NJW 2014, 2435, 2436. 104 BGH v. 6.10.2005 – VII ZR 325/03, NJW 2006, 53, 54; anders Schneider/Graf von Westphalen/Redeker, Software-Erstellungsverträge, D Rz. 304: Nutzungsentschädigung ist vom geminderten Kaufpreis zu berechnen.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 82 § 346 BGB

dann zugrunde zu legen sein, wenn hinsichtlich der Aufwendungen ein Ersatzanspruch nach § 284 (s. § 284 Rz. 6) besteht.105 4. Ausschluss des Wertersatzes (§ 346 Abs. 3) a) Allgemeines Abs. 3 Satz 1 enthält bestimmte, an der Gefahrtragung orientierte Ausnahmen von der Wertersatzpflicht gem. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 und führt damit in diesen Fällen zu einer Privilegierung des Rückgewährschuldners, wobei jedoch gem. Abs. 3 Satz 2 eine verbleibende Bereicherung herauszugeben ist. Die Wertersatzpflicht nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 einschließlich des Wertersatzes für Gebrauchsvorteile (s. Rz. 58 f. und 73 ff.) wird von der Regelung nicht berührt.

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b) Mängelkenntnis während Verarbeitung oder Umarbeitung (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1) Gem. Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 entfällt die Pflicht zum Wertersatz, wenn sich ein zum Rücktritt berechtigen- 79 der Mangel erst während der Verarbeitung oder Umgestaltung i.S.d. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 gezeigt hat. Erforderlich für den Ausschluss ist die positive Kenntnis des Rücktrittsberechtigten vom Mangel, fahrlässige Unkenntnis genügt nicht.106 Obwohl der in Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ebenfalls aufgeführte Verbrauch in Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 nicht ausdrücklich erwähnt wird, geht die h.M. davon aus, dass der Ausschlusstatbestand im Falle des Verbrauchs analog anzuwenden ist.107 c) Vertretenmüssen des Gläubigers; hypothetische Kausalität (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2) Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 enthält zwei verschiedene Ausschlusstatbestände. Zum einen entfällt die Pflicht zum Wertersatz, soweit der Rückgewährgläubiger die Verschlechterung oder den Untergang i.S.d. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 zu vertreten hat. Dabei ist der Begriff des Vertretenmüssens nicht im „technischen“ Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 1 zu verstehen. Es genügt, wenn die Ursache für die Verschlechterung oder den Untergang aus der Sphäre des Rückgewährgläubigers resultiert.108 Hauptanwendungsfall dieser Tatbestandsalternative ist die Verschlechterung oder der Untergang des empfangenen Gegenstandes aufgrund eines zum Rücktritt berechtigenden Mangels, wobei es nicht darauf ankommt, ob den Rücktrittsgegner hinsichtlich dieses Mangels ein Verschulden i.S.d. § 276 trifft.109

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Ferner entfällt die Pflicht zum Wertersatz, wenn der Schaden beim Rückgewährgläubiger gleichfalls 81 eingetreten wäre. Von dieser Tatbestandsalternative erfasst werden nur die Fälle „echten Zufalls“, nicht jedoch sonstige Fälle höherer Gewalt.110 Durch den Ausschluss des Wertersatzes „springt“ in solchen Fällen einer hypothetischen Kausalität die Sachgefahr auf den Rückgewährgläubiger zurück.111 Hat hingegen der Rückgewährschuldner den Untergang bzw. die Verschlechterung der Sache zu vertreten, bleibt es trotz hypothetischer Kausalität bei der Wertersatzhaftung nach Abs. 2.112 d) Privilegierung beim gesetzlichen Rücktrittsrecht (§ 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3) Die Regelung in Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 privilegiert den gesetzlich zum Rücktritt Berechtigten, indem sie ihn von der Haftung für den bei ihm eintretenden zufälligen Untergang oder die zufällige Verschlech105 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 33 unter Berufung auf BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04, NJW 2005, 2848, 2850. 106 H.M. Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 11; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 61; a.A. MünchKomm/ Gaier, § 346 BGB Rz. 59. 107 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 11; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 61; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 58. 108 Lorenz, JuS 2011, 871, 872. 109 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 12; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 62; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 60. 110 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 61; Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 12. 111 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 61. 112 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 63.

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BGB § 346 Rz. 82 Wirkungen des Rücktritts terung des empfangenen Gegenstands befreit, sofern er nur die eigenübliche Sorgfalt i.S.d. § 277 beobachtet hat. Die Regelung basiert auf der auf §§ 437 Nr. 2, 634 Nr. 3 zugeschnittenen gesetzgeberischen Überlegung, dass derjenige, der nicht ordnungsgemäß geleistet hat, auch nicht darauf vertrauen darf, dass der Gefahrübergang auf den anderen Teil endgültig sei.113 83

Hauptanwendungsfall ist der Rücktritt durch den Käufer oder Besteller im Falle eines Mangels der Kaufsache (§ 437 Nr. 2) oder Werkleistung (§ 634 Nr. 3). Wenn der mangelhafte Leistungsgegenstand ohne Verschulden des Käufers oder Bestellers untergeht, wird dieser auch dann von der Wertersatzpflicht befreit, wenn der Untergang nicht auf den Mangel zurückzuführen ist. Es handelt sich dabei um das rechtspolitisch umstrittene „Zurückspringen der Sachgefahr“ auf den Verkäufer oder den Hersteller einer mangelhaften Sache.114

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Im Übrigen ist hinsichtlich des Anwendungsbereichs von Satz 1 Nr. 3 vieles umstritten. So wird häufig als zusätzliches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal eine zumindest objektive Pflichtverletzung seitens des Rücktrittsgegners verlangt, was dazu führe, dass Nr. 3 bspw. auf den Rücktritt wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 3 nicht anzuwenden sei.115 Für eine weiter gehende teleologische Reduktion auf Ereignisse vor Kenntnis oder Kennenmüssen des Rücktrittsgrundes wird hingegen von der h.M. kein Bedürfnis gesehen.116 Vielmehr darf der Rücktrittsberechtigte die Sache auch nach Kenntnis vom Rücktrittsgrund im Rahmen des gewöhnlichen Gebrauchs weiter benutzen.117 Dabei soll die Norm über den Wortlaut hinaus auch auf Fälle des Verbrauchs, der Belastung oder der Weiterveräußerung ebenso analoge Anwendung finden wie bei sonstiger Unmöglichkeit, den empfangenen Gegenstand zurückzugewähren.118 Des Weiteren soll die Norm auch für vertragliche Rücktrittsrechte gelten, die einem gesetzlichen Rücktrittsrecht nachgebildet sind, sofern neben den vertraglich vereinbarten Voraussetzungen auch diejenigen des gesetzlichen Rücktrittsrechts vorliegen.119 e) Herausgabe der Bereicherung (§ 346 Abs. 3 Satz 2)

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Gem. Abs. 3 Satz 2 ist ungeachtet des Ausschlusses des Wertersatzes nach Satz 1 Nr. 1 bis 3 eine etwa verbleibende Bereicherung vom Rückgewährschuldner herauszugeben. Die Vorschrift, die eine Rechtsfolgenverweisung auf die §§ 812 ff. enthält,120 begründet eine ergänzende Herausgabepflicht für Vorteile, die nicht schon von der Rückgewährpflicht nach Abs. 1 erfasst werden und eine Bereicherung des Rückgewährschuldners darstellen.121 Sie verpflichtet den Rücktrittsschuldner nur zur Herausgabe einer bereits herausgabefähig vorhandenen Bereicherung, nicht aber dazu, eine solche bspw. durch Erhebung einer Zahlungsklage erst herbeizuführen.122

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Nach § 818 Abs. 1 erstreckt sich die Verpflichtung zur Herausgabe auf dasjenige, was der Empfänger als Ersatz für die Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung des erlangten Gegenstandes erwirbt. Als Beispiele seien ein Schadensersatzanspruch des Rückgewährschuldners gegen einen Dritten wegen ei-

113 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 196; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 64. 114 Dazu Lorenz, JuS 2011, 871, 872 und NJW 2015, 1725. 115 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 13; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 66; Lorenz, NJW 2015, 1725; anders MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 63, der Nr. 3 restriktiv dahin auslegen möchte, dass die Norm dann nicht eingreife, wenn der Rücktrittsgegner für den Rücktrittsgrund nicht verantwortlich sei. 116 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 13, 13a und 13b; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 65; Lorenz, NJW 2015, 1725, 1726; ebenso MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 67, der aber davon ausgeht, dass die Privilegierung im Falle der Kenntnis oder des Kennenmüssens dennoch nicht eingreife, da solche Sachverhalte von vorneherein nicht in den Anwendungsbereich der Norm fielen. 117 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 13b; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 67. 118 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 13b; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 67; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 64. 119 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 13; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 68; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 63; Lorenz, NJW 2015, 1725. 120 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 196. 121 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 14; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 69. 122 BGH v. 25.3.2015 – VIII ZR 38/14, NJW 2015, 1748; zustimmend Lorenz, NJW 2015, 1725, 1726.

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Wirkungen des Rücktritts

Rz. 91 § 346 BGB

ner Beschädigung der herauszugebenden Sache123 oder ein Anspruch aus einem Versicherungsvertrag im Falle der Zerstörung des Leistungsgegenstands124 genannt. Auf einen etwaigen Wegfall der Bereicherung nach § 818 Abs. 3 kann sich der Rückgewährschuldner 87 nur so lange berufen, wie ihm der Rücktrittsgrund unbekannt ist. Ab Kenntnis vom Rücktrittsgrund haftet er gem. §§ 819, 818 Abs. 4 nach den allgemeinen Vorschriften.125 Ein Wegfall der Bereicherung kann auch dann vorliegen, wenn der Untergang des zu restituierenden Gegenstandes beim Rückgewährgläubiger in gleicher Weise eingetreten wäre; dies soll beispielsweise für einen Sachuntergang infolge der Mangelhaftigkeit der Kaufsache gelten.126 5. Schadensersatzansprüche (§ 346 Abs. 4) a) Allgemeines Gem. Abs. 4 kann der Rückgewährgläubiger wegen Verletzung einer Pflicht aus Abs. 1 nach Maßgabe 88 der §§ 280 bis 283 Schadensersatz verlangen. Die Vorschrift stellt klar, dass im Falle des Rücktritts neben den verschuldensunabhängigen Wertersatzanspruch aus Abs. 2 auch Schadensersatzansprüche treten können, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind.127 Die Vorschrift hat also nur deklaratorische Funktion.128 Die Formulierung des Abs. 4 ist jedoch insofern missverständlich, als es nicht nur um Fälle einer Verletzung der Rückgewährpflicht nach Erklärung des Rücktritts geht, sondern alle schuldhaften Pflichtverletzungen erfasst werden, die zwischen dem Empfang der Leistung und ihrer Rückgewähr eintreten und dazu führen, dass der Rückgewährschuldner nicht in der Lage ist, den Leistungsgegenstand in dem Zustand herauszugeben, der einer ordnungsgemäßen Nutzung entspricht.129 Im Falle einer schuldhaft verursachten Verschlechterung des Leistungsgegenstands haftet der Schuldner also nach § 280 Abs. 1. Verzögert der Schuldner die Rückgabe, kann der Gläubiger gem. § 280 Abs. 2 i.V.m. § 286 Ersatz des Verzögerungsschadens verlangen sowie nach § 280 Abs. 3 i.V.m. § 281 vorgehen und Schadensersatz statt der Leistung verlangen. Ist dem Schuldner die Rückgewähr unmöglich, greift § 280 Abs. 3 i.V.m. § 283. Für das Entstehen von Schadensersatzansprüchen vor Erklärung des Rücktritts kommt es darauf an, ob die zur Rückgewähr verpflichtete Partei weiß oder wissen muss, dass die Voraussetzungen eines Rücktrittsgrundes erfüllt sind oder sein können.130 Dies führt dazu, dass im Hinblick auf die Anwendung des Abs. 4 regelmäßig zwischen vertraglichen und gesetzlichen Rücktrittsrechten unterschieden wird.131

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Besonderheiten des Abs. 4 im Bereich des IT-Rechts sind bislang nicht ersichtlich.

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b) Vertragliche Rücktrittsrechte Im Falle der Vereinbarung eines vertraglichen Rücktrittsrechts müssen die Parteien vom Empfang der Leistung an mit der Möglichkeit rechnen, dass eine Rückgewährpflicht entsteht. Sie müssen daher mit

123 Vgl. BGH v. 28.11.2007 – VIII ZR 16/07, NJW 2008, 911, 912 = CR 2008, 143. 124 Vgl. BGH v. 25.3.2015 – VIII ZR 38/14, NJW 2015, 1748 f., wobei der BGH jedoch eine – gem. § 348 Zug um Zug gegen Rückzahlung des Kaufpreises zu erfüllende – Pflicht zur Abtretung des Anspruchs auf Auszahlung der Versicherungsleistung verneint, wenn die Versicherung die Genehmigung der Abtretung verweigert; dazu kritisch Kaiser, JZ 2016, 151 ff. 125 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 69; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 68. 126 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 68 m.w.N. 127 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 70. 128 Lorenz, JuS 2011, 871; Lorenz, NJW 2015, 1725, 1727. 129 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 70 unter Berufung auf Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 195. 130 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 18; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 71 ff.; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 71. 131 So etwa Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 15; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 71; anders MünchKomm/ Gaier, § 346 BGB Rz. 71 ff., der zwischen verschiedenen Phasen der Rückabwicklung differenziert, dabei aber zu ähnlichen Ergebnissen kommt.

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BGB § 346 Rz. 91 Wirkungen des Rücktritts dem Leistungsgegenstand sorgfältig umgehen und auf die Interessen der anderen Partei Rücksicht nehmen.132 92

Vor Erklärung des Rücktritts liegt eine schuldhafte Pflichtverletzung nur dann vor, wenn die betreffende Partei den Leistungsgegenstand übermäßig oder sorgfaltswidrig gebraucht, wohingegen der bestimmungsgemäße Gebrauch und die normale Abnutzung keinen Schadensersatzanspruch begründen. Im Falle der Weiterveräußerung ist ein Verschulden zu bejahen, wenn dies ohne Verpflichtung des Erwerbers zur Rückgewähr geschieht.133

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Nach Erklärung des Rücktritts kommt es auf eine Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien an.134 Grundsätzlich ist jede Weiterbenutzung als pflichtwidrig anzusehen, es sei denn, diese liegt auch im Interesse des Rücktrittsgegners oder die Einstellung der Benutzung ist dem Zurücktretenden unzumutbar.135 c) Gesetzliche Rücktrittsrechte

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Im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts, bspw. infolge eines Mangels der gekauften oder erstellten Software, kommt eine Haftung des Rücktrittsberechtigten wegen eines sorgfaltswidrigen Umgangs mit dem Leistungsgegenstand grundsätzlich erst ab Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis vom Rücktrittsgrund in Betracht.136 Für das Kennenmüssen genügt dabei bereits die Kenntnis vom Mangel der Kaufsache oder der Werkleistung.137 Umstritten ist, ob die in Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 vorgesehene Privilegierung auf die eigenübliche Sorgfalt i.S.d. § 277 auch im Rahmen des Abs. 4 anzuwenden ist.138

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Für eine Haftung des Rücktrittsgegners, der den Rücktrittsgrund zu verantworten hat, gelten beim gesetzlichen Rücktrittsrecht dieselben Grundsätze wie beim vertraglichen Rücktrittsrecht. Auf die Kenntnis oder das Kennenmüssen vom Rücktrittsgrund kommt es dabei nicht an.139 6. Surrogatherausgabe (§ 285)

96

Auch wenn in § 346 nicht ausdrücklich darauf verwiesen wird, findet nach wohl h.M. der Anspruch auf Herausgabe des Surrogats gem. § 285 auch im Rahmen des Rückgewährverhältnisses nach §§ 346 ff. Anwendung.140 Danach kann der Rückgewährgläubiger Herausgabe desjenigen verlangen, was der Rückgewährschuldner als Ersatz für den Gegenstand erlangt hat, dessen Herausgabe unmöglich geworden ist. Hat der Schuldner einen Ersatzanspruch gegen einen Dritten, beispielsweise in Gestalt eines Anspruchs auf Zahlung einer Versicherungsleistung erlangt, so ist dieser an den Gläubiger abzutreten. Das gilt aber nur, wenn der Ersatzanspruch im Zeitpunkt des Verlangens bereits abtretungsfähig entstanden ist.141 Macht der Gläubiger von dem Anspruch auf Surrogatherausgabe Gebrauch, so ist der Wert des Surrogats nicht nur nach § 285 Abs. 2 auf einen etwaigen Schadensersatzanspruch anzurechnen, sondern in analoger Anwendung dieser Vorschrift auch auf den Wertersatz-

132 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 195; Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 16; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 72. 133 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 16; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 72; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 76. 134 Vgl. BGH v. 15.10.2003 – VIII ZR 227/02, NJW 2004, 160, 161. 135 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 72; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 75. 136 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 195; Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 18; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 73. 137 MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 73. 138 Dafür Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 18; dagegen BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 73; MünchKomm/ Gaier, § 346 BGB Rz. 71. 139 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 75. 140 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 194; Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 20; BeckOK/H. Schmidt, § 346 Rz. 76; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 56; zweifelnd, aber die Frage offen lassend BGH v. 25.3.2015 – VIII ZR 38/14, NJW 2015, 1748, 1749; s. dazu auch Lorenz, NJW 2015, 1725, 1727; ablehnend Kaiser, JZ 2016, 151, 153 f. 141 So BGH v. 25.3.2015 – VIII ZR 38/14, NJW 2015, 1748, 1749; dazu Lorenz, NJW 2015, 1725 ff. und Kaiser, JZ 2016, 151, 153 f.

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Nutzungen und Verwendungen nach Rücktritt

Rz. 1 § 347 BGB

anspruch nach § 346 Abs. 2.142 Die Pflicht zur Surrogatherausgabe besteht auch dann, wenn das Surrogat den Wert der herauszugebenden Sache oder der für diese vereinbarten Gegenleistung übertrifft. Hat also beispielsweise der Käufer die gekaufte Hard- oder Software zu einem höheren Preis weiterveräußert, kann der Verkäufer an Stelle oder unter Anrechnung des Wertersatzes vom Käufer die Herausgabe des erzielten höheren Veräußerungserlöses verlangen.143

§ 347 Nutzungen und Verwendungen nach Rücktritt (1) Zieht der Schuldner Nutzungen entgegen den Regeln einer ordnungsmäßigen Wirtschaft nicht, obwohl ihm das möglich gewesen wäre, so ist er dem Gläubiger zum Wertersatz verpflichtet. Im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts hat der Berechtigte hinsichtlich der Nutzungen nur für diejenige Sorgfalt einzustehen, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. (2) Gibt der Schuldner den Gegenstand zurück, leistet er Wertersatz oder ist seine Wertersatzpflicht gemäß § 346 Abs. 3 Nr. 1 oder 2 ausgeschlossen, so sind ihm notwendige Verwendungen zu ersetzen. Andere Aufwendungen sind zu ersetzen, soweit der Gläubiger durch diese bereichert wird. I. Normzweck und Systematik . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nicht gezogene Nutzungen (§ 347 Abs. 1) a) Grundtatbestand (§ 347 Abs. 1 Satz 1) . b) Privilegierung beim gesetzlichen Rücktrittsrecht (§ 347 Abs. 1 Satz 2) . . . . . c) Schadensersatzansprüche . . . . . . . . . 2. Ersatz von Aufwendungen (§ 347 Abs. 2)

. . . .

. . . .

1 2 2 2

. . . . . .

5 7 8

a) Notwendige Verwendungen (§ 347 Abs. 2 Satz 1) . . . . aa) Voraussetzungen . . . . bb) Rechtsfolgen . . . . . . . b) Andere Aufwendungen (§ 347 Abs. 2 Satz 2) . . . . c) Konkurrenzen . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 8 9

. . . . . . . . . 13 . . . . . . . . . 17

Literatur: S. das Literaturverzeichnis zu § 346.

I. Normzweck und Systematik Abs. 1 begründet in Ergänzung zu § 346 Abs. 1 eine Wertersatzpflicht des Rückgewährschuldners für nicht gezogene Nutzungen. Im Gegenzug begründet Abs. 2 einen Ersatzanspruch des Rückgewährschuldners für notwendige Verwendungen (Satz 1) und andere Aufwendungen (Satz 2). Die Vorschrift gilt grundsätzlich für beide Parteien, d.h. sowohl den Rücktrittsberechtigten als auch den Rücktrittsgegner, und betrifft sowohl das gesetzliche wie auch – mit Ausnahme von Abs. 1 Satz 2 – das vertragliche Rücktrittsrecht. Abs. 1 Satz 2 privilegiert in ähnlicher Weise wie § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 den gesetzlich zum Rücktritt Berechtigten. Ungeachtet der Überschrift („nach Rücktritt“) betrifft die Vorschrift den gesamten Zeitraum ab Empfang der Leistungen bis zur vollständigen Rückabwicklung des Vertrages.1

142 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 20; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 76; MünchKomm/Gaier, § 346 BGB Rz. 56. 143 Lorenz, NJW 2015, 1725, 1726 f. 1 Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 1; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 1; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 2.

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BGB § 347 Rz. 2 Nutzungen und Verwendungen nach Rücktritt

II. Norminhalt 1. Nicht gezogene Nutzungen (§ 347 Abs. 1) a) Grundtatbestand (§ 347 Abs. 1 Satz 1) 2

Abs. 1 Satz 1 knüpft an die Verpflichtung des Rückgewährschuldners zur Herausgabe von Nutzungen in § 346 Abs. 1 an und begründet eine Wertersatzpflicht für den Fall, dass dieser entgegen den Regeln einer ordnungsgemäßen Wirtschaft Nutzungen nicht gezogen hat, obwohl ihm das möglich gewesen wäre.

3

Zu den Nutzungen gehören gem. § 100 die Früchte einer Sache oder eines Rechts (vgl. § 99) sowie die Gebrauchsvorteile. Die „Regeln einer ordnungsgemäßen Wirtschaft“ beinhalten einen objektiven Maßstab der vernünftigen Wirtschaftsführung, bei dem der Vertragszweck mit zu berücksichtigen ist.2 Auf das Kennen oder Kennenmüssen des Rückgewährschuldners vom Rücktrittsgrund kommt es im Rahmen des Abs. 1 grundsätzlich nicht an.3 Zu ersetzen ist der objektive Wert der nicht gezogenen Nutzungen, eine analoge Anwendung von § 346 Abs. 2 Satz 2 wird von der h.M. abgelehnt.4

4

Der Maßstab einer vernünftigen Wirtschaftsführung führt regelmäßig zur Annahme einer Wertersatzpflicht für nicht gezogene Nutzungen bei Leistungsgegenständen, die nach ihrer allgemeinen oder vertraglichen Bestimmung der Erwirtschaftung von Erträgen dienen.5 Als Beispiel aus dem IT-Recht mögen die Erlöse aus der Unterlizenzierung einer Software gelten, wenn der Hauptlizenzvertrag in Gestalt des Software-Überlassungsvertrags zwischen dem Lizenzgeber (Verkäufer) und dem Lizenznehmer (Käufer) wegen eines Mangels der Software rückabgewickelt wird. Wenn der Käufer es unterlassen hat, für die Software beispielsweise im Wege einer SaaS-Lösung an Dritte Unterlizenzen zu erteilen, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre und nach den Regelungen des Hauptlizenzvertrages auch erlaubt war, oder er das objektiv vorhandene Potential zur Unterlizenzierung nicht voll ausgeschöpft hat, kann der Verkäufer im Zuge der Rückabwicklung nach Abs. 1 Satz 1 – vorbehaltlich der Privilegierung nach Satz 2 – Wertersatz im Hinblick auf die nicht realisierten Lizenzerlöse verlangen. Dabei ist der für ein solches Lizenzmodell übliche Lizenzerlös anzusetzen. b) Privilegierung beim gesetzlichen Rücktrittsrecht (§ 347 Abs. 1 Satz 2)

5

In ähnlicher Weise wie § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 (s. § 346 Rz. 82 ff.) privilegiert Abs. 1 Satz 2 den aufgrund eines gesetzlichen Rücktrittsrechts Berechtigten im Hinblick auf die Wertersatzpflicht für nicht gezogene Nutzungen. Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen ist nach der h.M. auch hier eine zumindest objektive Pflichtverletzung des Rücktrittsgegners als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu fordern,6 was dazu führt, dass die Vorschrift beispielsweise im Falle eines Rücktritts wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 3 Satz 1 nicht anwendbar sein soll.7 Umstritten ist, ob die Vorschrift weitergehend restriktiv dahin auszulegen ist, dass die Wertersatzpflicht für nicht gezogene Nutzungen nur bis zu dem Zeitpunkt eingeschränkt wird, zu dem der Rücktrittsberechtigte Kenntnis vom Rücktrittsgrund hat oder diesen kennen müsste.8 Die wohl h.M. lehnt dies wie bei § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 unter Hinweis auf den „unmissverständlichen Willen des Gesetzgebers“ ab.9

6

Haftungsmaßstab ist wie in § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 die eigenübliche Sorgfalt i.S.d. § 277. An die Stelle des objektiven Maßstabs der „Regeln einer ordnungsgemäßen Wirtschaft“ in Abs. 1 Satz 1 tritt hier also ein subjektiver, an den individuellen Eigenarten des Rücktrittsberechtigten ausgerichteter Sorgfaltsmaßstab.10

2 3 4 5 6 7 8 9 10

BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 2; ähnlich MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 6. MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 6. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 2; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 9. MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 7 nennt als Beispiel den Verkauf eines Mietshauses. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 3. So MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 11. So MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 11. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 3. MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 12.

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Nutzungen und Verwendungen nach Rücktritt

Rz. 11 § 347 BGB

c) Schadensersatzansprüche Obwohl § 347 anders als § 346 Abs. 4 keine ausdrückliche Verweisung auf die §§ 280 bis 281 enthält, besteht Einigkeit darüber, dass im Hinblick auf nicht gezogene Nutzungen eine Schadensersatzpflicht nach diesen Bestimmungen bestehen kann, und zwar auch dann, wenn eine Wertersatzpflicht nach Abs. 1 Satz 2 ausgeschlossen ist. Im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts gilt dies jedenfalls dann, wenn der Schuldner weiß, dass dessen Voraussetzungen erfüllt sind und er es gleichwohl unterlässt, Nutzungen zu ziehen, obwohl ihm dies nach den Regeln einer ordnungsgemäßen Wirtschaft möglich gewesen wäre.11

7

2. Ersatz von Aufwendungen (§ 347 Abs. 2) a) Notwendige Verwendungen (§ 347 Abs. 2 Satz 1) aa) Voraussetzungen Abs. 2 Satz 1 begründet in drei Fällen einen Verwendungsersatzanspruch des Rückgewährschuldners, nämlich wenn er den empfangenen Gegenstand gem. § 346 Abs. 1 an den Gläubiger zurückgibt, Wertersatz gem. § 346 Abs. 2 leistet oder wenn seine Wertersatzpflicht gem. § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 oder 2 ausgeschlossen ist. Demgegenüber besteht kein Verwendungsersatzanspruch, wenn der Schuldner im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts den empfangenen Gegenstand zwar nicht oder nur in verschlechtertem Zustand herausgeben kann, seine Wertersatzpflicht aber aufgrund des Privilegs in § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 ausgeschlossen ist.12 Abs. 2 Satz 1 soll entsprechend gelten, wenn der Gläubiger den Leistungsgegenstand zwar nicht in Natur, aber dem Werte nach über ein Surrogat gem. § 285 (s. § 346 Rz. 96) oder über einen Schadensersatz gem. § 346 Abs. 4 i.V.m. §§ 280 ff. (s. § 346 Rz. 88 ff.) zurückerhält.13

8

bb) Rechtsfolgen Zu ersetzen sind die notwendigen Verwendungen. Auch wenn die Vorschrift nicht ausdrücklich da- 9 rauf verweist, deckt sich dieser Begriff mit dem in § 994 Satz 1. Unter Verwendungen sind nach der Rspr. nur solche Vermögensaufwendungen zu verstehen, die unmittelbar der Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung einer Sache dienen, nicht jedoch sog. „sachändernde Verwendungen“, die den Zustand einer Sache, beispielsweise einer Software, so grundlegend verändern, dass sie künftig für einen anderen Zweck zu verwenden ist.14 Notwendig sind die Verwendungen dann, wenn sie zur Erhaltung oder zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung des zurückzugebenden Gegenstands objektiv erforderlich sind und nicht nur Sonderzwecken des Rückgewährschuldners dienen. Maßgeblich ist, ob dem Gläubiger im Hinblick auf den aktuellen Zustand der Sache und deren Bewirtschaftung Aufwendungen erspart werden, die er sonst hätte tätigen müssen.15 Danach können die Reparaturkosten, die ein zurücktretender Käufer zum Erhalt der Sache, z.B. eines Computers, gemacht hat oder die zur Ermöglichung ihrer vertragsgemäßen Nutzung erforderlich waren, nach Abs. 2 Satz 1 erstattungsfähig sein, soweit sie dem Käufer infolge der Rückabwicklung des Kaufvertrags nicht (mehr) zugutekommen. Das gilt jedoch nicht, wenn die Reparaturversuche erfolglos geblieben sind, da die getätigten Aufwendungen dann nicht objektiv dem Erhalt der Sache gedient haben.16

10

Zu ersetzen sind auch die gewöhnlichen Erhaltungskosten. Der Rechtsgedanke des § 994 Abs. 1 Satz 2 findet im Rahmen des § 347 Abs. 2 keine Anwendung, da der Rückgewährschuldner die Nut-

11

11 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 3; weitergehend schon bei Kennenmüssen MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 13. 12 Nach MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 16 ist diese Tatbestandsvariante als Ausnahmetatbestand eng auszulegen. 13 Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 3; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 16. 14 „Enger Verwendungsbegriff“ vgl. BGH v. 14.6.2002 – V ZR 79/01, NJW 2002, 3478, 3749 im Hinblick auf die Bebauung eines bisher unbebauten Grundstücks. 15 BGH v. 15.3.2013 – V ZR 201/11, NJW-RR 2013, 1318, 1320. 16 OLG Schleswig v. 22.2.2011 – 3 U 66/10, NJW-RR 2011, 993, 994.

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BGB § 347 Rz. 11 Nutzungen und Verwendungen nach Rücktritt zungen herausgeben oder diese vergüten muss.17 Soweit die vom Rückgewährschuldner getätigten Verwendungen schon bei der Ermittlung der Nutzungsentschädigung gem. § 346 Abs. 1 und 2 Satz 1 als Abzugsposten berücksichtigt worden sind, kommt ein Ersatz nach § 347 Abs. 2 Satz 1 hingegen nicht in Betracht, da der Schuldner sonst doppelt begünstigt wäre.18 12

Im Falle des Rücktritts von einem Softwarekaufvertrag oder einem Werkvertrag über die Erstellung von Software sind dem Käufer oder Besteller nach Abs. 2 Satz 1 daher die üblichen Kosten für die Pflege der Software in dem Zeitraum, in dem sie von diesem genutzt wurde, zu ersetzen, wenn er die Software an den Verkäufer zurückgibt und/oder diese auf seinen Systemen löscht (s. § 346 Rz. 42 ff.). Entsprechendes gilt für die Kosten der Wartung oder Reparatur einer zurückzugebenden Hardware. Demgegenüber sind Kosten für vom Käufer oder Besteller unabhängig von dem rückabzuwickelnden Kauf- oder Werkvertrag vorgenommene Anpassungen einer Software nur dann nach Abs. 2 Satz 1 zu ersetzen, wenn die Anpassungen nach einem objektiven Maßstab – für den wie beim Nutzungswertersatz nach Abs. 1 (s. Rz. 3) auch der Vertragszweck zu berücksichtigen ist19 – zur Erhaltung oder Verbesserung der Software erforderlich sind. Dies dürfte umso weniger der Fall, als sich die Anpassungen an den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen des Auftraggebers orientieren. Auch die Kosten für den Betrieb einer Software in einem Rechenzentrum sind regelmäßig nicht nach Abs. 2 Satz 1 ersatzfähig, da sie nicht der Erhaltung der Software dienen20 (zur Ersatzfähigkeit nach Abs. 2 Satz 2 s. Rz. 15). b) Andere Aufwendungen (§ 347 Abs. 2 Satz 2)

13

Andere Aufwendungen kann der Rückgewährschuldner nach Abs. 2 Satz 2 insoweit ersetzt verlangen, als der Gläubiger durch diese bereichert ist. Das gilt auch für solche Aufwendungen, die nicht dem Leistungsgegenstand zugutekommen, insb. nicht seiner Erhaltung, Verbesserung oder Wiederherstellung dienen.21 Unter Abs. 2 Satz 2 fallen beispielsweise auch Umgestaltungsaufwendungen (sog. sachändernde Verwendungen, z.B. zur Anpassung von Software), die von Abs. 2 Satz 1 nicht erfasst werden.22

14

Voraussetzung des Aufwendungsersatzanspruchs ist, dass der Gläubiger durch diese bereichert ist. Durch diese Anforderung wird der Anspruch der Höhe nach begrenzt.23 Danach kann der Rückgewährschuldner die Kosten zur Beseitigung von Mängeln der Kaufsache (s. Rz. 19) oder des hergestellten Werks, bspw. einer Software, allenfalls dann nach Abs. 2 Satz 2 vom Gläubiger herausverlangen, wenn die Mängelbeseitigung erfolgreich war.24

15

Vom Aufwendungsersatz ausgenommen bleiben die Kosten des Vertragsschlusses und der Vertragsdurchführung, durch die der Gläubiger regelmäßig nicht bereichert wird. Diese können vom Rückgewährschuldner nur unter den Voraussetzungen von § 281oder § 284 geltend gemacht werden (s. Rz. 18).25 Dasselbe dürfte für reine Betriebskosten gelten, bspw. für den Betrieb der gekauften Software in einem Rechenzentrum, durch die der Gläubiger ebenfalls nicht bereichert ist.

17 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 197; Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 5. 18 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 197; Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 7; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 15. 19 Vgl. MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 19. 20 Vgl. MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 19 betreffend die Kosten zum Betrieb eines Kfz., insb. die Aufwendungen für Kraftstoffe. 21 BGH v. 15.3.2013 – V ZR 201/11, NJW-RR 2013, 1318, 1320 zur Bebauung eines bisher unbebauten Grundstücks; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 6. 22 Vgl. MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 21. 23 Im Falle der Bebauung eines bisher nicht bebauten Grundstücks bemisst sich die Bereicherung des Rückgewährgläubigers bspw. nach der durch die Bebauung eingetretenen Steigerung des Verkehrswerts des Grundstücks bei Rückgabe, vgl. BGH v. 15.3.2013 – V ZR 201/11, NJW-RR 2013, 1318, 1320. 24 OLG Schleswig v. 22.2.2011 – 3 U 66/10, NJW-RR 2011, 993, 994; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 22. 25 Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 6; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 21.

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Erfüllung Zug-um-Zug

Rz. 1 § 348 BGB

Inwieweit sich der Rückgewährgläubiger einem Aufwendungsersatzanspruch des Schuldners nach Abs. 2 Satz 2 nach den Grundsätzen der aufgedrängten Bereicherung entziehen kann, ist bisher nicht abschließend geklärt.26

16

c) Konkurrenzen Abs. 2 ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers als abschließende Regelung zu verstehen. Sind weder die Voraussetzungen von Satz 1 noch die von Satz 2 erfüllt, kann der Schuldner von ihm getätigte Aufwendungen deshalb nicht nach anderen Vorschriften, insb. nicht nach Bereicherungsrecht ersetzt verlangen.27 Dies gilt auch dann, wenn der Schuldner nicht den empfangenen Gegenstand zurückgibt, sondern „nur“ Wertersatz nach § 346 Abs. 2 leistet.28

17

Demgegenüber entfaltet Abs. 2 keine Sperrwirkung ggü. Schadens- oder Aufwendungsersatzansprüchen, die nach § 325 durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen werden.29 Der Rückgewährschuldner kann daher seine nutzlos gewordenen Aufwendungen unabhängig von Abs. 2 aufgrund der sog. „Rentabilitätsvermutung“ gem. § 281 (s. § 281 Rz. 33) oder gem. § 284 ersetzt verlangen, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Schadensersatz statt der Leistung erfüllt sind.30

18

Ferner kann der Käufer einer Software oder einer Hardware unter den Voraussetzungen des Abs. 2 19 vom Verkäufer ggf. auch die von ihm zur Mängelbeseitigung aufgewendeten Kosten ersetzt verlangen. Der Umstand, dass eine Erstattung von Selbstvornahmekosten beim Kauf in § 437 anders als beim Werkvertrag in § 634 Nr. 2 i.V.m. § 637 nicht ausdrücklich vorgesehen ist, steht dem nach wohl herrschender Auffassung nicht entgegen.31 Da Aufwendungen nicht doppelt vergütet werden dürfen, besteht kein Erstattungsanspruch nach Abs. 2, wenn die Aufwendungen bereits im Rahmen der Nutzungsentschädigung nach § 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 als Abzugsposten berücksichtigt wurden.32

20

§ 348 Erfüllung Zug-um-Zug Die sich aus dem Rücktritt ergebenden Verpflichtungen der Parteien sind Zug um Zug zu erfüllen. Die Vorschriften der §§ 320, 322 finden entsprechende Anwendung. I. Normzweck und Systematik . . . . . . . . . . .

1

II. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

Literatur: S. das Literaturverzeichnis zu § 346.

I. Normzweck und Systematik § 348 regelt die Abwicklung des Rückgewährschuldverhältnisses aus §§ 346, 347. Die Vorschrift setzt die wirksame Ausübung des Rücktrittsrechts durch Erklärung des Rücktritts gem. § 349 voraus und erfasst sämtliche Ansprüche aus dem Rückgewährverhältnis, also neben den eigentlichen Rück26 Zurückhaltend BGH v. 15.3.2013 – V ZR 201/11, NJW-RR 2013, 1318, 1320; s. dazu auch MünchKomm/ Gaier, § 347 BGB Rz. 22. 27 MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 15. 28 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 197. 29 BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04, NJW 2005, 2848, 2849 f.; OLG Schleswig v. 22.2.2011 – 3 U 66/10, NJWRR 2011, 993, 994; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 7; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 15. 30 Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 3. 31 Palandt/Grüneberg, § 347 BGB Rz. 3; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 7. 32 Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 197; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 347 Rz. 7; MünchKomm/Gaier, § 347 BGB Rz. 15.

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BGB § 348 Rz. 1 Erfüllung Zug-um-Zug gewähransprüchen nach § 346 Abs. 1 auch Wertersatzansprüche nach § 346 Abs. 2, Schadensersatzansprüche nach § 346 Abs. 4 sowie Ansprüche auf nicht gezogene Nutzungen nach § 347 Abs. 1 und Verwendungs- und Aufwendungsersatzansprüche nach § 347 Abs. 2. Anzuwenden ist die Vorschrift ferner auf Aufwendungsersatzansprüche nach § 284 und den Anspruch auf Surrogatherausgabe gem. § 2851 (s. § 346 Rz. 96). 2

Nach Satz 1 sind die beiderseitigen Verpflichtungen Zug um Zug (§ 274 Abs. 1) zu erfüllen. Aus der Verweisung in Satz 2, der nur die §§ 320 und 322 und auch diese lediglich für „entsprechend“ anwendbar erklärt, folgt, dass das Rückabwicklungsschuldverhältnis keinen gegenseitigen Vertrag i.S.d. §§ 320 ff. darstellt2. Die übrigen Vorschriften des 2. Titels (§§ 320 bis 326) sind damit nicht anwendbar. Insb. kommt ein „Rücktritt vom Rücktritt“ gem. § 323 nicht in Betracht, wenn der Rückgewährschuldner seine Verpflichtungen aus dem Rückgewährverhältnis nicht oder nicht vertragsgemäß erfüllt3.

3

§ 348 hat dispositiven Charakter. Ggü. Verbrauchern kann ein Ausschluss oder eine Einschränkung des Leistungsverweigerungsrechts nach § 320 jedoch in AGB wegen des Klauselverbots aus § 309 Nr. 2 Buchst. a nicht wirksam erfolgen. Im Unternehmensverkehr soll diese Regelung zwar keine Indizwirkung entfalten, über § 310 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 307 Abs. Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 jedenfalls aber zur Unwirksamkeit solcher AGB-Klauseln führen, die die Anwendung von § 320 auch in den Fällen unbestrittener oder rechtskräftig festgestellter Gegenforderungen ausschließen4.

II. Rechtsfolgen 4

Die Rückabwicklung hat nach Satz 1 Zug um Zug zu erfolgen. Gem. Satz 2 i.V.m. § 320 Abs. 1 Satz 1 kann der Rückgewährschuldner daher die ihm im Rahmen der Rückabwicklung obliegende Leistung, beispielsweise die Rückgabe oder Löschung der von ihm empfangenen Software, bis zur Bewirkung der „Gegenleistung“ des Rückgewährgläubigers, im Beispiel des für die Software gezahlten Kaufpreises – ggf. unter Abzug des Nutzungsersatzes nach § 347 Abs. 2 –, verweigern. Im Prozess muss er diesen Einwand als Einrede erheben. Hierfür muss kein förmlicher Antrag gestellt werden; es genügt, wenn der Wille, die eigene Leistung im Hinblick auf das Ausbleiben der Gegenleistung zurückzubehalten, eindeutig erkennbar ist5. Gem. Satz 2 i.V.m. § 322 Abs. 1 hat dies nur die Wirkung, dass der andere Teil zur Erfüllung Zug um Zug zu verurteilen ist6.

5

Im Übrigen stehen sich die beiderseitigen Ansprüche im Rückabwicklungsverhältnis selbständig ggü. Auch wenn sich die Ansprüche auf gleichartige Leistungen, insb. Zahlung richten, findet keine automatische Saldierung statt. Zur Vermeidung einer Hin- und Herzahlung ist vielmehr eine Aufrechnung erforderlich7.

6

Besonderheiten des § 348 im Bereich des IT-Rechts sind bislang nicht ersichtlich.

1 2 3 4 5 6

MünchKomm/Gaier, § 348 BGB Rz. 1. BGH v. 7.11.2001 – VIII ZR 213/00, NJW 2002, 506, 507. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 348 Rz. 2; MünchKomm/Gaier, § 348 BGB Rz. 3. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 348 Rz. 4. BGH v. 16.10.2009 – V ZR 203/08, NJW 2010, 146, 148. Ein Beispiel für eine Rückabwicklungsklage nach einem gescheiterten Softwareprojekt findet sich in Beck OF Prozess/Grützmacher, 13.1 Rückabwicklungsklage. 7 BGH v. 12.1.2016 – XI ZR 366/15, NJW 2016, 2428, 2429; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 348 Rz. 3; MünchKomm/Gaier, § 348 BGB Rz. 4.

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Erklärung des Rücktritts

Rz. 6 § 349 BGB

§ 349 Erklärung des Rücktritts Der Rücktritt erfolgt durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil. I. Normzweck und Systematik . . . . . . . . . . .

1

II. Anforderungen an die Rücktrittserklärung . .

5

III. Fristen, Verjährung, Verwirkung, Verzicht . . .

9

Literatur: S. das Literaturverzeichnis zu § 346.

I. Normzweck und Systematik § 349 regelt die Ausübung des Rücktrittsrechts. Die Vorschrift setzt das Bestehen eines Rücktrittsgrundes in Gestalt eines gesetzlichen oder vertraglichen Rücktrittsrechts voraus. Die Folgen des Rücktritts in Gestalt der Rückabwicklung des Vertrages sind in §§ 346 bis 348 geregelt.

1

Der Rücktritt wird durch eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt. Mit deren 2 Zugang wird das ursprüngliche Schuldverhältnis ex nunc in ein Abwicklungsverhältnis mit vertraglicher Grundlage umgestaltet1. Der Rücktritt ist damit ein einseitiges Rechtsgeschäft mit unmittelbarer Gestaltungswirkung (Gestaltungsrecht s. § 346 Rz. 5 und 35 f.). Der Rücktritt wirkt nur schuldrechtlich im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien, nicht dinglich. Die Rechtsstellung Dritter wird durch den Rücktritt grundsätzlich nicht berührt2.

3

Sofern mehrere Verträge ein einheitliches Geschäft bilden, kann der Rücktritt nur einheitlich ausgeübt werden3. Diese Frage spielt bei IT-Verträgen, bei denen häufig komplexe Vertragsverhältnisse mit mehreren Einzelverträgen vorliegen, eine besondere Rolle (s. § 346 Rz. 30 ff.).

4

II. Anforderungen an die Rücktrittserklärung Auf die Erklärung des Rücktritts finden die allgemeinen Regelungen über Willenserklärungen, insb. 5 diejenigen aus §§ 116 ff. Anwendung. Der Rücktritt muss daher nicht ausdrücklich erklärt werden, sondern kann sich aus einem konkludenten Handeln ergeben, etwa wenn der Zurücktretende den empfangenen Gegenstand zurückgibt und/oder das von ihm Geleistete zurückfordert. Eine vorherige Androhung des Rücktritts ist in der Regel ebenso wenig erforderlich4 wie die Angabe des Rücktrittsgrundes5. Erforderlich ist aber eine den Rücktrittswillen unzweifelhaft zum Ausdruck bringende Erklärung6. Kommen nach dem Verhalten des Gläubigers Rücktritt und Schadensersatz in Betracht, so ist im Zweifel Rücktritt nicht gewollt, sondern nur dann anzunehmen, wenn der Gläubiger erkennbar ein ausschließliches Interesse daran hat, die Leistung des Schuldners nicht mehr entgegennehmen zu müssen7. In Betracht kommt auch eine Umdeutung (§ 140 BGB), etwa einer Anfechtungserklärung8. Der Rücktritt bedarf keiner besonderen Form, und zwar auch dann nicht, wenn das betroffene 6 Rechtsgeschäft formbedürftig ist. Beim vertraglichen Rücktrittsrecht können die Parteien für die Rücktrittserklärung eine bestimmte Form vereinbaren, in Verbraucher-AGB jedoch wegen § 309 Nr. 13 bei einem beurkundungspflichtigen Vertrag keine strengere Form als die Schriftform und bei sonstigen Verträgen keine strengere Form als die Textform.

1 2 3 4 5 6 7 8

Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, 191. Hierzu näher BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 13 f. BGH v. 30.4.1976 – V ZR 143/7, NJW 1976, 1931 f. BGH v. 22.1.1981 – IVa ZR 97/80, NJW 1981, 2299, 2300. BGH v. 10.12.1986 – VIII ZR 349/85, NJW 1987, 831, 833. BGH v. 27.5.1981 – V ZR 184/78, juris Rz. 41. BGH v. 6.7.1988 – VIII ZR 256/87, NJW 1988, 2877; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 349 Rz. 3. BGH v. 10.3.2010 – VIII ZR 182/08, NJW 2010, 2503, 2504 = CR 2010, 432.

Schneider-Brodtmann

761

BGB § 349 Rz. 7 Erklärung des Rücktritts 7

Als Gestaltungsrecht ist der Rücktritt grundsätzlich bedingungsfeindlich. Sofern die Bedingung ausschließlich vom Verhalten des Rücktrittsgegners als Erklärungsempfänger abhängt und daher für diesen keine unzumutbare Ungewissheit entsteht (sog. Potestativbedingung), ist ein unter einer Bedingung erklärter Rücktritt jedoch ausnahmsweise zulässig9. Nach wohl h.M. ist es ferner zulässig, den Rücktritt mit einer aufschiebenden Befristung zu erklären10.

8

Nach Zugang ist die Rücktrittserklärung gem. § 130 Abs. 1 Satz 2 unwiderruflich. Dies gilt auch dann, wenn die von dem Rücktrittsberechtigten geleistete Sache beim Rücktrittsgegner ohne dessen Verschulden beschädigt wurde oder untergegangen ist. Das Gesetz gewährt dem Rücktrittsberechtigten in diesem Fall gem. § 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 regelmäßig einen Wertersatzanspruch. Dessen Ausschluss gem. § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 im Falle eines gesetzlichen Rücktrittsrechts (s. § 346 Rz. 82 ff.) beruht auf einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung11.

III. Fristen, Verjährung, Verwirkung, Verzicht 9

Für die Ausübung des Rücktrittsrechts sieht das Gesetz keine besondere Frist vor. Hiervon zu unterscheiden sind gesetzliche Fristsetzungserfordernisse als Voraussetzung für die Entstehung eines Rücktrittsrechts, etwa in § 323 Abs. 1 für den Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung oder in §§ 439 f. sowie in §§ 635 f. im Hinblick auf die Nacherfüllung beim Kauf- und beim Werkvertrag.

10

Als Gestaltungsrecht (s. § 346 Rz. 5 und 35 f.) unterliegt das Rücktrittsrecht als solches nicht der Verjährung. Gem. § 218 Abs. 1 BGB ist der Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung jedoch unwirksam, wenn der Anspruch auf die Leistung oder der Nacherfüllungsanspruch (z.B. aus § 437 Nr. 1 beim Kauf oder aus § 439 beim Werkvertrag) verjährt ist und der Schuldner sich hierauf beruft. Damit wird das gesetzliche Rücktrittsrecht im Ergebnis wie ein der Verjährung unterliegendes Recht behandelt12. Hiervon zu unterscheiden ist die Verjährung der durch den Rücktritt entstehenden Ansprüche, für die die allgemeinen Verjährungsregeln der §§ 195 ff. gelten13 (s. § 346 Rz. 28 f.).

11

Das Rücktrittsrecht kann nach § 242 verwirkt werden, allerdings nur bis zu seiner Ausübung14. Treu und Glauben können es verlangen, dass der Berechtigte im Interesse der anderen Vertragspartei alsbald Klarheit darüber schafft, ob er beabsichtigt, sein Rücktrittsrecht auszuüben, und damit nicht länger zögert als notwendig15. Neben dem „Zeitmoment“ kommt es hierbei auf ein besonderes „Umstandsmoment“ an. Hierfür kommt etwa die eigene Leistung des Rücktrittsberechtigten oder die Entgegennahme der Gegenleistung in Kenntnis des Rücktrittsrechts in Betracht, sofern dies nicht sogar als Verzicht zu werten ist16. Macht der Rücktrittsberechtigte bei oder nach Erklärung des Rücktritts deutlich, dass er die von ihm zurückzugewährende Leistung ganz oder teilweise behalten will, kann ihm von der anderen Partei der Einwand des selbstwidersprüchlichen Verhaltens aus § 242 entgegengehalten werden17.

12

Auch ein ausdrücklicher oder konkludenter Verzicht auf das Rücktrittsrecht ist bis zu dessen Ausübung möglich. Allerdings genügt dafür ein langes Zuwarten mit der Rücktrittserklärung nach Kenntnis der Voraussetzungen für sich genommen nicht18. Für das vertragliche Rücktrittsrecht ergibt sich dies schon aus der Möglichkeit des Rücktrittsgegners, nach § 350 vorzugehen und dem Berechtigten ei9 BGH v. 21.3.1986 – V ZR 23/85, NJW 1986, 2245, 2246. 10 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 349 Rz. 2; MünchKomm/Gaier, § 349 BGB Rz. 2. 11 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 349 Rz. 2; MünchKomm/Gaier, § 349 BGB Rz. 3 mit Hinweisen zur abweichenden Rechtslage vor der Schuldrechtsnovelle aus dem Jahr 2002. 12 Palandt/Grüneberg, Einf. v. § 346 BGB Rz. 2; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 78. 13 Palandt/Grüneberg, § 346 BGB Rz. 6a; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 346 Rz. 80. 14 Nach Ausübung des Rücktritts ist noch eine Verwirkung von Ansprüchen aus dem Rückgewährverhältnis möglich, vgl. MünchKomm/Gaier, § 349 BGB Rz. 8. 15 BGH v. 18.10.2001 – I ZR 91/99, NJW 2002, 669, 670. 16 MünchKomm/Gaier, § 349 BGB Rz. 8; Palandt/Grüneberg, § 350 BGB Rz. 3. 17 BGH v. 10.11.1971 – VIII ZR 155/70, NJW 1972, 155. 18 MünchKomm/Gaier, § 349 BGB Rz. 7; a.A. Palandt/Grüneberg, § 350 BGB Rz. 3.

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Schneider-Brodtmann

Erlöschen des Rücktrittsrechts nach Fristsetzung

Rz. 3 § 350 BGB

ne Frist für die Ausübung zu setzen19. Nach Erklärung des Rücktritts ist ein Verzicht auf das Rücktrittsrecht nicht mehr möglich. Sollen die infolge des Rücktritts erloschenen Leistungspflichten wieder aufleben, ist ein Neuabschluss des Vertrages erforderlich20. Im Übrigen sind Besonderheiten des § 349 im Bereich des IT-Rechts bislang nicht ersichtlich.

13

§ 350 Erlöschen des Rücktrittsrechts nach Fristsetzung Ist für die Ausübung des vertraglichen Rücktrittsrechts eine Frist nicht vereinbart, so kann dem Berechtigten von dem anderen Teil für die Ausübung eine angemessene Frist bestimmt werden. Das Rücktrittsrecht erlischt, wenn nicht der Rücktritt vor dem Ablauf der Frist erklärt wird. I. Normzweck und Systematik . . . . . . . . . . .

1

II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Literatur: S. das Literaturverzeichnis zu § 346.

I. Normzweck und Systematik § 350 verschafft dem Rücktrittsgegner die Möglichkeit, den Zustand der Unsicherheit hinsichtlich der Ausübung des Rücktrittsrechts zu beenden, indem er dem Berechtigten dafür eine Frist setzt. Der Anwendungsbereich ist nach dem eindeutigen Wortlaut auf vertragliche Rücktrittsrechte beschränkt.1

1

§ 350 ist dispositiv. Die Parteien können daher abweichende Vereinbarungen treffen, etwa betreffend die Dauer der Ausübungsfrist. Für entsprechende Klauseln in Verbraucher-AGB ist § 309 Nr. 8 Buchst. a zu beachten. Danach ist etwa eine Klausel, wonach der Käufer den Rücktritt bei Lieferverzug spätestens innerhalb einer Woche nach Ablauf der von ihm gesetzten Frist erklären muss, unwirksam.2

2

II. Voraussetzungen Die Vorschrift betrifft nach Satz 1 nur solche Fälle, in denen für die Ausübung eines vertraglichen Rücktrittsrechts keine Frist vereinbart ist.3 Der Rücktrittsgegner kann dem Berechtigten dann eine angemessene Frist zur Ausübung setzen. Die Angemessenheit bemisst sich danach, welche Überlegungszeit der Rücktrittsgegner unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Schuldverhältnisses und der beiderseitigen Interessen benötigt.4 Eine zu kurz bemessene Frist ist nicht etwa unwirksam, sondern setzt eine angemessene Frist in Lauf.5 19 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 349 Rz. 7. 20 BGH v. 24.6.1988 – V ZR 51/87, NJW-RR 1988, 1357 f.; Palandt/Grüneberg, § 350 BGB Rz. 3. 1 Kritisch hierzu Palandt/Grüneberg, § 350 BGB Rz. 1; BeckOK BGB/H. Schmidt, § 350 Rz. 2: „rechtspolitisch verfehlt“ und MünchKomm/Gaier, § 350 BGB Rz. 2, der wie bei § 346 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 (s. § 346 Rz. 82 ff.) eine teleologische Erstreckung auf bestimmte Fälle von gesetzlichen Rücktrittsrechten befürwortet, etwa bei einem Rücktritt wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 3 Satz 1 oder bei § 323 Abs. 1 in Fällen höherer Gewalt. Umgekehrt soll nach Gaier eine teleologische Reduktion von § 350 Satz 1 erfolgen, wenn ein vertragliches Rücktrittsrecht ausgeübt wird, durch das ein gesetzliches Rücktrittsrecht lediglich konkretisiert oder modifiziert wird. 2 BGH v. 18.1.1989 – VIII ZR 142/88, NJW-RR 1989, 625 f. = CR 1989, 294. 3 Das Eingreifen der „Gestaltungsverjährung“ nach § 218 Abs. 1 genügt nicht für die Annahme einer Fristvereinbarung, vgl. MünchKomm/Gaier, § 350 BGB Rz. 1 m.w.N. 4 BeckOK BGB/H. Schmidt, § 350 Rz. 4. 5 Palandt/Grüneberg, § 350 BGB Rz. 2.

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3

BGB § 350 Rz. 4 Erlöschen des Rücktrittsrechts nach Fristsetzung 4

Bei der Fristsetzung handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung.6 Die Fristsetzung kann erst erfolgen, wenn die vertraglich vereinbarten Voraussetzungen für den Rücktritt erfüllt sind, das Rücktrittsrecht also ausgeübt werden kann.7

III. Rechtsfolge 5

Nach Satz 2 erlischt das Rücktrittsrecht, wenn der Rücktritt nicht vor dem Ablauf der Frist erklärt wird. Maßgeblich für die Fristwahrung ist der Zugang der Rücktrittserklärung beim Rücktrittsgegner. Vom Erlöschen betroffen ist nur dasjenige Rücktrittsrecht, welches Gegenstand der Fristsetzung war. Ein Rücktritt aus anderen Gründen bleibt ebenso unberührt wie die Geltendmachung weiterer Rechte, insb. von Schadenersatzansprüchen.8

6

Besonderheiten des § 350 im Bereich des IT-Rechts sind bislang nicht ersichtlich.

Überblick vor §§ 433–675 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Verträge und Vertragstypen im IT-Bereich . 1. Problematik der Zuordnung zu den BGB-Vertragstypen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammengesetzte und typengemischte Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zusammengesetzte Verträge . . . . . . . . . b) Typengemischte Verträge . . . . . . . . . . 3. Abgrenzung zu den elektronischen Medien 4. Verträge im IT-Bereich und deren vertragstypologische Einordnung . . . . . . . . . . . a) Hardware-Verträge . . . . . . . . . . . . . . aa) Hardware-Überlassung . . . . . . . . . bb) Montage, Installation und Konfiguration von Hardware . . . . . . . . . cc) Hardware-Wartung . . . . . . . . . . . b) Software-Verträge . . . . . . . . . . . . . .

2 3 8 9 10 16 17 18 18 19 21 22

aa) Überlassung von Standardsoftware, ASP, SaaS . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erstellung von Individualsoftware . . cc) Erstellung des Lastenhefts . . . . . . . dd) Anpassung von Software . . . . . . . . ee) Software-Pflege . . . . . . . . . . . . . ff) Software-Konfiguration, Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verträge über Telekommunikationsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Weitere Verträge . . . . . . . . . . . . . . . aa) Migration, Datenkorrektur . . . . . . bb) Rechenzentrumsverträge . . . . . . . . cc) Systemvertrag . . . . . . . . . . . . . . dd) Hotline, Support, Einweisung, Schulung . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Beratung, Planung . . . . . . . . . . . ff) Nebenleistungen . . . . . . . . . . . . . e) Abgrenzung zur Arbeitnehmerüberlassung

23 25 27 28 29 30 31 34 34 35 36 37 38 40 41

I. Allgemeines 1

Das BGB kennt IT-Verträge nicht und die gesetzlich geregelten Vertragstypen sind für IT-Projekte vielfach nicht passend. Soweit eine Zuordnung erforderlich ist, etwa für die AGB-Kontrolle (s. dazu auch § 305 Rz. 7 ff.), ist der von den Parteien vereinbarte Vertragszweck maßgeblich, wie er in der vertraglichen Leistungsbeschreibung und dem hieran anknüpfenden Parteiwillen, insb. auch in der objektivierten Kundenerwartung, zum Ausdruck kommt.1 Dabei arbeitet der BGH i.d.R. mit Analogien zu bereits anerkannten Fällen.2

6 MünchKomm/Gaier, § 350 BGB Rz. 3; a.A. BeckOK BGB/H. Schmidt, § 350 Rz. 4: empfangsbedürftige „geschäftsähnliche Handlung“, auf die die Vorschriften über die Willenserklärung anzuwenden sind. 7 BGH v. 18.1.1989 – VIII ZR 142/88, NJW-RR 1989, 625, 626 = CR 1989, 294. 8 MünchKomm/Gaier, § 350 BGB Rz. 4. 1 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1450. 2 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1450.

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Schneider-Brodtmann und Bergt/Schuster

Überblick

Rz. 7 Vor §§ 433–675 BGB

II. Verträge und Vertragstypen im IT-Bereich Im IT-Bereich haben sich in den Jahrzehnten der Computer- bzw. EDV-Nutzung zahlreiche eigene Vertragsarten entwickelt, die in die BGB-Vertragstypen einzusortieren sind. Die Problematik ist zweigeteilt: Zum einen ist die Feststellung des BGB-Vertragstyps schon mit Blick auf das Pflichtengefüge eines Individualvertrages zwingend erforderlich. Zum anderen spielt das Thema bei der AGB-Kontrolle eine gewichtige Rolle. Denn ohne die Grundgedanken der gesetzlichen Regelung steht die Klauselkontrolle vor dem Problem, dass kein Vergleichsmaßstab zur Verfügung steht (s. auch § 307 Rz. 19 f.).

2

1. Problematik der Zuordnung zu den BGB-Vertragstypen Die Suche nach dem richtigen Vertragstyp ist bei diesen modernen Techniken nicht ganz einfach, weil 3 das altehrwürdige Typensystem des BGB (teilweise schon 1900 in Kraft getreten) Software und Hardware nicht kannte. Dementsprechend fällt es gerade der Rspr. außerordentlich schwer, solche modernen Verträge einzuordnen. Besonders deutlich wird das bei den elektronischen Medien und hier beim Telekommunikationsvertrag, die nach der Rspr. des BGH Dienstleistungsverträge sein sollen, obwohl in den §§ 611 ff. rein gar nichts an Elementen eines gesetzlichen Leitbildes für diese Leistungsarten zu finden ist.3 Dabei lassen sich ohnehin für eine wachsende Zahl von Vertragstypen – und das zumal bei den Verträgen im Bereich IT und der elektronischen Medien – die wesentlichen Grundgedanken einer ausgewogenen Regelung aus dem Gesetzesrecht nicht unmittelbar herleiten, weil entweder das Gesetz keine geschlossene Regelung bereitstellt oder der Realtyp des Vertrags sich so weit von dem gesetzlichen Modell entfernt hat, dass wesentliche Teile der gesetzlichen Regelung keine Leitbildfunktionen besitzen. Ergebnis ist, dass gesetzliche Regelungen, die für den Normaltypus wesentliche Grundgedanken verkörpern, diese Bedeutung für einen solchen atypischen Vertrag gerade nicht aufweisen.4

4

Eine AGB-Prüfung steht allerdings vor dem Problem, dass die bei solchen Verträgen geringe gesetzliche 5 Regelungsdichte kein zulässiger Grund für eine Abschwächung der Inhaltskontrolle nach dem AGBRecht darstellen kann.5 Dieser Umstand führt letztendlich auch zu einer gewissen Beliebigkeit in der Rspr., denn nach Auffassung des BGH soll es ausreichen, dass die maßgeblichen Grundgedanken ihren Niederschlag in allgemeinen, am Gerechtigkeitsgedanken ausgerichteten und auf das betreffende Rechtsgebiet anwendbaren Grundsätzen gefunden haben.6 Nicht immer ist nach der Rspr. ein konkreter BGB-Vertragstyp erforderlich, um die „Grundgedanken der gesetzlichen Regelung“ zu finden. Denn diese Grundgedanken „eines Rechtsbereichs“ brauchen nicht in „Einzelbestimmungen formuliert zu sein“.7 Vielmehr reicht es aus, dass diese Grundgedanken in „allgemeinen, am Gerechtigkeitsdenken ausgerichteten und auf das betreffende Rechtsgebiet anwendbaren Grundsätzen ihren Niederschlag gefunden haben“.8 So hat der BGH etwa beim „InternetSystem-Vertrag“ festgestellt, dass dieser keinem Vertragstyp zuzuordnen sei, sondern ein eigener Vertragstypus sei, der sich insgesamt als Werkvertrag darstellt.9

6

Zur Abgrenzung von den jeweils anderen Vertragstypen s. für den Kaufvertrag § 433 Rz. 3 ff., für den Mietvertrag § 535 Rz. 4 ff., für den Dienstvertrag § 611 Rz. 20 ff., für den Werkvertrag § 631 Rz. 7 ff. sowie zur Geschäftsbesorgung § 675 Rz. 8 ff.

7

3 S. etwa zum Telekommunikationsvertrag und der Rspr. des BGH im einzelnen Schuster, CR 2006, 444 m.w.N. 4 Schuster, CR 2006, 451. S. auch Spindler/Schuster/Schuster, § 307 BGB Rz. 32 ff. 5 S. dazu Bartsch, CR 2000, 6. 6 BGH v. 18.3.1997 – XI ZR 117/96, NJW 1997, 1701. 7 BGH v. 18.3.1997 – XI ZR 117/96, NJW 1997, 1701. 8 BGH v. 18.3.1997 – XI ZR 117/96, NJW 1997, 1701. 9 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449.

Bergt/Schuster

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BGB Vor §§ 433–675 Rz. 8 Überblick 2. Zusammengesetzte und typengemischte Verträge 8

Das BGB kennt keinen Typenzwang für Verträge,10 und die gesetzlich geregelten Vertragstypen passen für IT-Projekte vielfach nicht. IT-Verträge enthalten daher regelmäßig Bestandteile verschiedener BGB-Vertragstypen. In einem solchen Fall ist nach den Grundsätzen für gemischte oder zusammengesetzte Verträge zu entscheiden, welche Rechtsvorschriften auf die einzelnen Leistungen anzuwenden sind.11 a) Zusammengesetzte Verträge

9

Ein zusammengesetzter oder verbundener Vertrag enthält Teile verschiedener Vertragstypen, die auch getrennt voneinander sinnvoll durchgeführt werden können.12 Auf diese wird grundsätzlich13 das jeweils für den einzelnen Vertrag geltende Recht angewendet. b) Typengemischte Verträge

10

Ein typengemischter Vertrag enthält Teile verschiedener Vertragstypen, die so miteinander verbunden sind, dass sie nur in ihrer Gesamtheit einen sinnvollen Vertragsinhalt ergeben.14 Die rechtliche Behandlung der einzelnen Bestandteile ist umstritten:15

11

Die Parteien haben auch bei gemischten Verträgen zunächst die Möglichkeit, das auf die Einzelleistungen anwendbare Recht selbst zu vereinbaren.16 Hierbei sind allerdings die Grenzen des AGB-Rechts zu beachten (vgl. § 307 Rz. 17 ff.).

12

Enthält der Vertrag keine ausdrückliche Regelung hierzu, ist nach der Rspr. vom mutmaßlichen Parteiwillen auszugehen.17 Dieser ergibt sich maßgeblich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls, aus der Interessenlage der Vertragsparteien sowie aus Sinn und Zweck der vertraglichen Vereinbarungen.18

13

Nach früherer Rspr. des BGH sind die einzelnen Leistungen bei typengemischten Verträgen nach dem Recht des Vertragstyps zu beurteilen, der anwendbar wäre, wären die Leistungen in einem gesonderten Vertrag vereinbart, soweit dies nicht im Widerspruch zum Gesamtvertrag steht.19 Insb. die neuere Rspr. des BGH betont dagegen, dass ein gemischter Vertrag ein einheitliches Ganzes bilde, das bei der rechtlichen Beurteilung nicht in dem Sinn in seine verschiedenen Bestandteile zerlegt werden könne, dass etwa auf den Mietvertragsanteil Mietrecht, auf den Dienstvertragsanteil Dienstvertragsrecht und auf den Kaufvertragsanteil Kaufrecht anzuwenden wäre.20 Der Eigenart des Vertrags werde vielmehr grundsätzlich nur die Unterstellung unter ein einziges Vertragsrecht gerecht, nämlich dasjenige, in dessen Bereich der Schwerpunkt des Vertrags liegt.21 Eine solche rechtliche Einordnung schließt es freilich nicht aus, auch Bestimmungen des Vertragsrechts heranzuziehen, bei dem der Schwerpunkt des

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 11; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 24. BGH v. 13.9.2007 – I ZR 207/04, NJW 2008, 1072, 1073. Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 19; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 34. Zu Ausnahmen insb. bei Nichtigkeitsgründen Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 16; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 34. Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 19; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 29; zu den verschiedenen Typen Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 20 ff.; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 31 ff. Vgl. die Aufzählung der Theorien bei Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 24 f.; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 29. Vgl. Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 15, 25; BGH v. 13.9.2007 – I ZR 207/04, NJW 2008, 1072, 1073. Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 25; vgl. BGH v. 13.9.2007 – I ZR 207/04, NJW 2008, 1072, 1073. BGH v. 13.9.2007 – I ZR 207/04, NJW 2008, 1072, 1073; Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 25. BGH v. 13.9.2007 – I ZR 207/04, NJW 2008, 1072, 1073; BGH v. 19.12.2001 – XII ZR 233/99, MDR 2002, 749, 750; Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 26; vgl. auch BGH v. 9.12.1974 – VII ZR 182/73, NJW 1975, 305, 306. BGH v. 12.1.2017 – III ZR 4/16, MDR 2017, 334; BGH v. 13.10.2006 – V ZR 289/05, NJW 2007, 213, 214; BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, MDR 2010, 13; unter Verweis auf den Einzelfall allerdings auch bereits BGH v. 29.10.1980 – VIII ZR 326/79, MDR 1981, 399, 400. BGH v. 15.3.2018 – III ZR 126/17, MDR 2018, 512, 512 f.

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Bergt/Schuster

Überblick

Rz. 19 Vor §§ 433–675 BGB

Vertrags nicht liegt, wenn allein hierdurch die Eigenart des Vertrags richtig gewürdigt werden kann.22 Letztlich betonen die vermeintlich unterschiedlichen Meinungen mit ihren unterschiedlichen Ausgangspunkten nur unterschiedliche Aspekte, kommen aber i.E. bei kollidierenden Vorschriften für die Einzelleistungen zu einer einheitlichen Bewertung nach dem Schwerpunkt. Vertreten wird auch der Ansatz, hinsichtlich der Beendigung gemischter Verträge zunächst vom Recht der den Schwerpunkt bildenden Leistung auszugehen und hinsichtlich Leistungsstörungen vom Recht der jeweils gestörten Einzelleistung.23

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Bei IT-Verträgen dürfte allerdings die Kombinationstheorie die besten Ergebnisse erzielen (s. dazu § 631 Rz. 8 ff.).

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3. Abgrenzung zu den elektronischen Medien Nicht zum Bereich der IT-Verträge gehören die Verträge, die elektronische Medien zum Inhalt haben. 16 Hierunter fallen einerseits Telekommunikations-Verträge und andererseits Internet-Verträge. Beispiele hierfür sind im Bereich Telekommunikation Mobilfunk-, Festnetz- und Internet-Zugangs-Vertrag. Zu den Internet-Verträgen gehören etwa der Internet-Systemvertrag, der Webdesign- sowie der Web-Hosting-Vertrag, Plattformverträge und diverse Formen von Internet-Werbeverträgen. Als Beispielsfall für die Abgrenzung kann der ASP-Vertrag (oder neudeutsch auch Cloud Computing bzw. Software as a Service) dienen, weil hier eine Softwarenutzung vorliegt, die im Regelfall über das Internet (Telekommunikation) erfolgt: Die Vereinbarung über die Nutzung der Software ist ein IT-Vertrag, die daneben erforderliche Nutzung einer telekommunikativen Anbindung (ob mit dem gleichen Anbieter oder einem anderen) ist ein Vertrag über elektronische Medien. 4. Verträge im IT-Bereich und deren vertragstypologische Einordnung Die Verträge im IT-Bereich sind nur unregelmäßig Gegenstand der Rspr., und wenn, dann eher mit kleineren Projekten, die nicht immer mit großen IT-Projekten vergleichbar sind. Es gibt aber umfangreiche Literatur dazu. Überblicksmäßig kann man die Verträge wie folgt systematisieren; für weitere Vertragstypen, insb. solche, die als Dienstvertrag einzuordnen sind, vgl. § 611 Rz. 46 ff.:

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a) Hardware-Verträge aa) Hardware-Überlassung Ist Vertragsgegenstand die Überlassung von Hardware, handelt es sich grundsätzlich nicht um einen 18 Werk-, sondern einen Kaufvertrag, wenn die Hardware zeitlich unbegrenzt erworben wird.24 Wird Hardware hingegen nur auf Zeit überlassen, handelt es sich i.d.R. um einen Miet- oder ggf. Leasingvertrag.25 bb) Montage, Installation und Konfiguration von Hardware Probleme bei der vertragstypologischen Einordnung treten dann auf, wenn nicht nur die bloße Überlassung von Hardware vereinbart wird, sondern eine Reihe von Zusatzleistungen im selben Vertrag festgehalten werden. Die Montage gekaufter Hardware im Sinne einer Herstellung der Funktionsfähigkeit26 teilt nach § 434 Abs. 2 Satz 1 als begleitende Dienstleistung die Rechtsnatur des Hauptvertrages (vgl. § 434 Rz. 30 f.), solange nicht bei einer Gesamtbetrachtung der Schwerpunkt der Leistung auf den individuellen Anforderungen des Kunden und der Montageleistung liegt.27 Die Aufstellung und 22 BGH v. 15.3.2018 – III ZR 126/17, MDR 2018, 512, 512 f.; Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 26. 23 MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 30; zu Einzelfällen MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 31 ff. und Palandt/Grüneberg, vor § 311 BGB Rz. 26. 24 Staudinger/Peters/Jacoby, Vor § 631 BGB Rz. 78; jurisPKBGB/Rösch, § 631 Rz. 104. 25 Staudinger/Peters/Jacoby, Vor § 631 BGB Rz. 78; jurisPK BGB/Rösch, § 631 Rz. 104. 26 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 193. 27 BGH v. 3.3.2004 – VIII ZR 76/03, MDR 2004, 737; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 184; ähnlich Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 49:

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BGB Vor §§ 433–675 Rz. 19 Überblick Installation von Hardware entspricht dabei einer Montageverpflichtung. Denn zur Montage zählen alle Handlungen, die den Gebrauch der Kaufsache durch den Käufer ermöglichen und damit auch die Installation von Hard- und Software.28 Für diese Verträge verbietet sich ausweislich der Gesetzesbegründung auch die Annahme eines typengemischten Vertrages.29 Bis zur Einführung dieser Norm mit der Schuldrechtsreform im Jahre 2002 wurde dies jedoch überwiegend noch anders gesehen und bei Vereinbarung einer Installationspflicht Werkvertragsrecht angenommen.30 20

Allerdings ist der Begriff der Montage dann verlassen, wenn die Hard- und Software umfassend eingerichtet wird,31 z.B. durch Einrichtung eines Kontenrahmens bei Buchhaltungssoftware, Eingabe von Artikelnummern und -bezeichnungen, Einrichtung von Benutzerdaten usw. (Parametrisierung, Konfiguration). Derartig umfassende „Montage“ oder Parametrisierung/Konfiguration als alleiniger Vertragsgegenstand ist eine gesonderte Leistung, die regelmäßig einen Werkvertrag darstellt (s. § 631 Rz. 90 ff.), weil den Auftragnehmer eine Erfolgsverantwortung trifft. Wird nur der Kunde beim Einrichten unterstützt, liegt ein Dienstvertrag vor.32 Je nach Vertragsgestaltung kann auch nur die Erarbeitung der erforderlichen Konfiguration in der Verantwortung des Kunden liegen und der Auftragnehmer unterstützt nur im Rahmen eines Dienstvertrags, während die Umsetzung werkvertragsrechtlich erfolgt. cc) Hardware-Wartung

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Wartung umfasst üblicherweise die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der vom Vertrag umfassten Hardware, Netze oder Systeme, aber auch nur einzelne Teile davon oder zusätzliche Leistungen. Konkrete Reparaturaufträge stellen Werkverträge dar (vgl. § 631 Rz. 118).33 Die (vorbeugende) Untersuchung auf mögliche Störungsquellen und deren Beseitigung ist ebenfalls auf einen Erfolg ausgerichtet und daher ebenso nach Werkvertragsrecht zu beurteilen.34 Steht dagegen die Erbringung von Serviceleistungen (wie Hotline/Helpdesk, laufendes Monitoring, sonstige Unterstützung) im Vordergrund, ist Dienstvertragsrecht anzuwenden.35 Zu prüfen ist allerdings bei Wartung gemieteter Geräte, ob nicht die Wartungsleistungen in Wirklichkeit Bestandteil mietvertraglicher Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Gebrauchstauglichkeit sind (vgl. § 535 Rz. 35 ff.).36 b) Software-Verträge

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Bei Software muss für die vertragstypologische Einordnung zwischen zwei Arten von Software, der Individual- und der Standardsoftware, unterschieden werden. Bei Standardsoftware handelt es sich um ein bereits bei Vertragsschluss fertiges Produkt, das einem breiten Anwenderkreis angeboten wird. Demgegenüber wird Individualsoftware speziell nach den Bedürfnissen des Kunden programmiert. Derartige Verträge werden daher auch als Softwareerstellungsverträge bezeichnet. Nur noch vereinzelt

28 29 30 31 32 33 34

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wenn Montageleistung nicht besonderes Gewicht hat; weiter Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 41: auch dann, wenn die Montage so umfangreich ist, dass sie den Wert er gekauften unmontierten Sache übertrifft. So auch ausdrücklich BeckOK BGB/Faust, § 434 Rz. 89; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 115. BT-Drucks. 14/6040, 215. Vgl. BGH v. 3.11.1992 – X ZR 83/90, NJW 1993, 1063; OLG Celle v. 26.5.1994 – 13 U 4/94, CR 1995, 23; LG Freiburg v. 22.7.1998 – 8 O 406/95, CR 1999, 417, 418. Vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 49; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 183, 240 ff. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 247. BGH v. 5.6.1984 – X ZR 75/83, MDR 1984, 840; Erman/Edenfeld, § 611 BGB Rz. 51. OLG Düsseldorf v. 14.1.1987 – 19 U 48/86, NJW-RR 1988, 441; MünchKomm/Busche, § 631 BGB Rz. 174; Palandt/Sprau, vor § 611 BGB Rz. 25; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 98; Wietfeld, NJW 2014, 1206, 1211 f.; Matthies, NZBau 2011, 267, 268; zu Software BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1450. BGH v. 8.4.1997 – X ZR 62/95, NJW-RR 1997, 942, 943; OLG Düsseldorf v. 13.1.2012 – 22 U 120/11, NJW-RR 2012, 629; MünchKomm/Busche, § 631 BGB Rz. 174; vgl. Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kapitel P Rz. 50; zu Software BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1450. OLG Düsseldorf v. 13.1.2012 – 22 U 120/11, NJW-RR 2012, 629.

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Überblick

Rz. 26 Vor §§ 433–675 BGB

wird der Software-Vertrag unabhängig von der Abgrenzung nach Individual- oder Standardsoftware als Vertrag sui generis behandelt.37 aa) Überlassung von Standardsoftware, ASP, SaaS Ist die Überlassung von Standardsoftware auf Dauer Vertragsgegenstand, handelt es sich regelmäßig 23 um einen Kaufvertrag.38 Die Anwendung von Werkvertragsrecht verbietet sich schon allein deshalb, weil die Erstellung der Software im Vorfeld des Vertrages bleibt. An der Einordnung als Kaufvertrag ändert sich auch nicht deshalb etwas, weil die Standardsoftware aus dem Internet, beispielsweise einem App-Store, heruntergeladen wird.39 Bei nur zeitweiser Überlassung findet hingegen Mietrecht Anwendung.40 Der Vertrag über Application Service Providing (ASP) oder dessen Fortentwicklungen Software as a Service (SaaS) und Cloud Computing41 beinhaltet die Zurverfügungstellung von Softwareanwendungen zur Online-Nutzung durch den Kunden i.d.R. über das Internet. Hauptleistung bei diesen Verträgen ist die Onlinenutzung fremder (Standard-)Software, die in aller Regel nicht nur einem, sondern einer Vielzahl von Kunden zur Verfügung gestellt wird, und somit der Gesichtspunkt der (entgeltlichen) Gebrauchsüberlassung, weshalb dieser Vertrag von der Rspr. des BGH zutreffend als Mietvertrag i.S.d. §§ 535 ff. eingeordnet worden ist (vgl. § 535 Rz. 18 ff.).42

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bb) Erstellung von Individualsoftware Bei Verträgen über die Erstellung von (individueller) Software im klassischen Modell mit Lasten- und Pflichtenheft schuldet der Auftragnehmer einen Erfolg, nämlich die Herstellung und Lieferung einer funktionsfähigen Software. Unklar ist, ob es sich um einen Werklieferungsvertrag handelt,43 wobei nach hier vertretener Auffassung die Anwendung von § 650 ausscheidet, weil Software keine Sache gem. § 90 darstellt (s. § 650 Rz. 7 ff.). Vielmehr handelt es sich bei der Erstellung von Individualsoftware im klassischen Modell um einen Werkvertrag (vgl. § 631 Rz. 21 ff.).44

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Wenn die Entwicklung von Individualsoftware nach einer agilen Methode erfolgt, kommt es dagegen ggf. auf die konkrete Vertragsgestaltung an:45 Es kann entweder ein Dienstvertrag vorliegen, wenn der Vertrag das Entwicklungsrisiko dem Auftraggeber zuweist,46 insb. der Auftraggeber ausnahmsweise allein Projektsteuerung und Projektverantwortung übernimmt.47 Allerdings wird regelmäßig der Vertragszweck sein, dass der Auftraggeber am Ende eine funktionsfähige Software erhält, bei der nur die Spezifikation erst noch entwickelt werden muss; die Erstellung wird durch den Auftragnehmer gesteu-

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So in neuerer Zeit wohl nur noch Hilty, CR 2012, 625, 637. Druschel/Oehmichen, CR 2015, 173, 176. So auch LG Frankfurt a.M. v. 6.6.2013 – 2-24 O 246/12, MMR 2013, 645, 646. Druschel/Oehmichen, CR 2015, 173, 177. Ausführlich dazu Schuster/Reichl, CR 2010, 38 ff. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394; BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1450 f. Für die Einordnung als Dienstvertrag hingegen Redeker, IT-Recht, Rz. 989 – dagegen sprechen aber die schon beim Telekommunikationsvertrag ausführlich dargelegten Gründe (Rz. 38 ff.). Ausführlich zum Streitstand und den Implikationen der verschiedenen Ansichten Auer-Reinsdorff/Conrad/ Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 31 ff.; bei klassischer Software-Entwicklung regelmäßig für Werklieferungsvertrag Fuchs/Meierhöfer/Morsbach/Pahlow, MMR 2012, 427, 432. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 137; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 690; Kremer, ITRB 2010, 283, 285; insoweit ohne Festlegung, ob ein Werklieferungsvertrag vorliegen könnte, BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1451, wobei sich ein Werklieferungsvertrag unter Heranziehung der von BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, MDR 2013, 508, angedeuteten Maßstäbe ablehnen lässt; gegen Werklieferungsvertrag auch OLG München v. 23.12.2009 – 20 U 3515/09, CR 2010, 156; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 683; vgl. auch Söbbing, MMR 2010, 222, 224; für Werklieferungsvertrag dagegen Druschel/Oehmichen, CR 2015, 173, 177 und CR 2015, 233, 234. Schneider, ITRB 2017, 231; Witte, ITRB 2010, 44, 46; vgl. OLG Frankfurt a.M. v. 17.8.2017 – 5 U 152/16, CR 2017, 646; LG Wiesbaden v. 30.11.2016 – 11 O 10/15, CR 2017, 298. Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 137, 139, 144. Kremer, ITRB 2010, 283, 286; Lapp, ITRB 2010, 69, 70; vgl. auch Auer-Reinsdorff, ITRB 2010, 93, 94.

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BGB Vor §§ 433–675 Rz. 26 Überblick ert und verantwortet. Das „Ob“ des Leistungserfolgs liegt somit im Verantwortungsbereich des Auftragnehmers. Es bleibt bei der Konzeptionshoheit des Auftraggebers einerseits und der Ausführungsverantwortlichkeit des Auftragnehmers andererseits, mithin bei einem Werkvertrag.48 cc) Erstellung des Lastenhefts 27

Grundsätzlich ist die Erstellung des Lastenhefts (in der Rspr. oftmals als Pflichtenheft bezeichnet, s. § 631 Rz. 49 ff.) als Beschreibung der Anforderungen des Auftraggebers Aufgabe des Auftraggebers. Oftmals wird der Auftraggeber hierfür jedoch externe Hilfe benötigen. I.d.R. dürfte dann der Vertrag über die Erstellung des Lastenhefts als Werkvertrag einzuordnen sein (vgl. § 631 Rz. 49 ff.).49 Denkbar ist allerdings auch eine Gestaltung als Dienstvertrag, bei dem letztlich der Auftragnehmer den Auftraggeber nur darin unterstützt, seine eigenen Anforderungen herauszuarbeiten.50 dd) Anpassung von Software

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Bei der Bearbeitung bestehender Software einschließlich der Portierung auf ein anderes System ist zu differenzieren: Jedenfalls dann, wenn Gegenstand der Bearbeitung eine umfangreiche Anpassung an die Bedürfnisse des Auftraggebers nach klassischem Entwicklungsmodell mit vorab festgelegten Anforderungen ist, handelt es sich um einen Werkvertrag (vgl. § 631 Rz. 90 ff.).51 Ein Werklieferungsvertrag scheidet bei bereits beim Auftraggeber vorhandener Software aus, da die geistige Leistung im Vordergrund steht und Vertragsgegenstand nicht die Lieferung einer Sache ist (vgl. § 650 Rz. 7 ff.).52 In der Praxis bleibt der BGH regelmäßig auch dann ohne nähere Diskussion bei der Anwendung von Werkvertragsrecht, wenn durch den Auftragnehmer bereitgestellte Software anzupassen ist.53 ee) Software-Pflege

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Der genaue Inhalt von Verträgen über die Pflege (auch Wartung, Maintenance) von Software bedarf der Vereinbarung. Prägende Bestandteile sind die Beseitigung von Fehlern der Software und die Anpassung an sich ändernde Umstände wie eine neue Rechtslage54 oder neue Betriebssystem-Versionen.55 Es geht mithin um die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und die Beseitigung von Störungen und somit um einen Tätigkeitserfolg, sodass insoweit ein Werkvertrag vorliegt (s. § 631 Rz. 107 ff.).56 Nur soweit der Pflegevertrag auch Leistungen enthält, die auf ein reines Tätigwerden als solches zielen,

48 Kremer, ITRB 2010, 283, 286; Fuchs/Meierhöfer/Morsbach/Pahlow, MMR 2012, 427, 429, 432; a.A. Koch, ITRB 2010, 114, 119: erste Fassung Werk(lieferungs)vertragsrecht, Folgefassungen Dienstvertragsrecht. 49 Vgl. LG Köln v. 16.7.2003 – 90 O 68/01, CR 2003, 724, zur Erstellung eines IT-Sicherheitskonzepts; Intveen, ITRB 2010, 238, 240; Weitnauer/Mueller-Stöfen/Imhof, Beck’sches Formularbuch IT-Recht, Kapitel B.3 Anm. 4; Redeker, IT-Recht, Rz. 302a, 311; Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 48; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 47, 88. 50 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 48. 51 Einschränkend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 689: nur, wenn die Änderungsarbeiten als überwiegende Leistungspflicht zu bewerten sind. 52 Kremer, ITRB 2010, 283, 285; Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 55; unklar BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1450, der „unter Umständen“ auch einen Werklieferungsvertrag annehmen will. 53 BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 276/13, MDR 2014, 1131; BGH v. 25.3.2010 – VII ZR 224/08, NJW 2010, 2200, 2201; a.A. Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 55: Werklieferungsvertrag bei Bearbeitung der vom Lieferanten gestellten Standardsoftware; Druschel/Oehmichen, CR 2015, 173, 177 und CR 2015, 233, 234. 54 Redeker, IT-Recht, Rz. 636; Bartsch, NJW 2002, 1526, 1527. 55 OLG Brandenburg v. 30.6.1998 – 6 U 90/98, NJW-RR 2000, 931; Bartsch, NJW 2002, 1526, 1527; wobei es sich dabei nach Redeker, IT-Recht, Rz. 636, nicht um eine selbstverständliche Pflicht handeln soll, was jedoch bei absehbarem Auslaufen der Unterstützung des Betriebssystems durch den Hersteller so pauschal nicht richtig sein kann. 56 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1451; Palandt/Sprau, vor § 631 BGB Rz. 25; Redeker, ITRB 2010, 112, 113; i.E. auch Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 160.

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Überblick

Rz. 33 Vor §§ 433–675 BGB

liegt ein Dienstvertrag vor.57 Dies kann insb. der Fall sein, wenn die Pflege nicht durch den Hersteller der Software angeboten wird, der Anbieter also regelmäßig keinen Erfolg versprechen kann,58 zudem bei der ggf. enthaltenen Leistung Hotline (vgl. § 611 Rz. 46).59 ff) Software-Konfiguration, Implementierung Ist Vertragsgegenstand die Einstellung von Parametern einer Software oder eine andere Konfiguration, liegt regelmäßig ein Werkvertrag vor (vgl. § 631 Rz. 90 ff.) vor. Das gleiche gilt bei Implementierung, oder Installation (s. § 631 Rz. 96 ff.).

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c) Verträge über Telekommunikationsleistungen Bei Verträgen über Standleitungen und andere Festverbindungen – auch soweit diese technisch keine 31 dedizierten Leitungen darstellen – spricht vieles für die Anwendung von Mietrecht.60 Aus Sicht der Parteien geht es hier um die Gebrauchsüberlassung einer genau definierten Datenverbindung mit definierten Merkmalen,61 wobei die Details der technischen Umsetzung für die Parteien irrelevant sind. In Anlehnung an die Argumentation des BGH, mit der dieser hinsichtlich des Internet-Zugangs einen Werkvertrag abgelehnt hatte,62 wäre allerdings auch ein Werkvertrag begründbar. Denn Charakteristikum des Standleitungsvertrags ist gerade ein bestimmter Erfolg, nämlich das (im Rahmen des vereinbarten Service Levels jederzeitige) Zustandekommen einer Verbindung zwischen den Endpunkten mit einer bestimmten Datenübertragungsgeschwindigkeit, wie sich auch aus den jeweiligen Leistungsbeschreibungen ergibt. Ein Dienstvertrag mit einer reinen Pflicht zu Bemühen scheidet dagegen nach hiesiger Ansicht in aller Regel wegen des Vertragsinhalts aus. Der BGH dürfte wohl in Anlehnung an seine Rspr. zum Internet-Zugang jedenfalls bei einem VPN- 32 Vertrag, der auch die Übertragungsleistung umfasst, von einem Dienstvertrag ausgehen.63 Die Sachlage ist allerdings allenfalls dann vergleichbar, wenn es um einen VPN-Zugang geht, der dem Kunden einen geschützten Internet-Zugang etwa bei Nutzung von fremden WLANs oder zur Umgehung von Zensurmaßnahmen gewährt. Geht es um die Verbindung zwischen Unternehmensstandorten, weichen Vertrags- und Interessenlage dagegen komplett ab: Soweit sich der VPN-Vertrag auf die Ver- und Entschlüsselung des Datenverkehrs ohne die eigentliche Übertragung beschränkt, dürfte ein Werkvertrag vorliegen.64 Ist die Übertragung der verschlüsselten Daten ebenfalls Vertragsgegenstand, kommt die vertraglich vereinbarte Leistung mit i.d.R. garantierten Übertragungsraten, Laufzeiten und anderen Qualitätsparametern oft einer Standleitung nahe, sodass die dortigen Argumente herangezogen werden können (s. Rz. 31). Ebenso möglich erscheinen eine Einordnung als Werkvertrag mit stark mietrechtlichem Einschlag65 oder als Vertrag sui generis.66 Nach der Rspr. des BGH stellen Verträge über Internet-Zugang ebenso wie Verträge über Festnetzund Mobiltelefonie Dienstverträge dar.67

57 BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, NJW 2010, 1449, 1451; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M Rz. 160. 58 Vgl. Redeker, IT-Recht, Rz. 648. 59 Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 59 diskutieren allerdings, den Gesamtvertrag einschließlich der Hotline Werkvertragsrecht zu unterstellen. 60 Vgl. jedenfalls für physikalisch geschaltete Verbindungen Auer-Reinsdorff/Conrad/Schuster, Handbuch ITund Datenschutzrecht, § 32 Rz. 25. 61 Auer-Reinsdorff/Conrad/Schuster, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 32 Rz. 25. 62 BGH v. 23.3.2005 – III ZR 338/04, MDR 2005, 1094, 1095. 63 Redeker, ITRB 2010, 112, 113. 64 Auer-Reinsdorff/Conrad/Schuster, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 32 Rz. 26. 65 Redeker, ITRB 2010, 112, 113. 66 Auer-Reinsdorff/Conrad/Schuster, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 32 Rz. 27. 67 BGH v. 23.3.2005 – III ZR 338/04, CR 2005, 816 mit umfassenden Nachweisen zum Meinungsstand; Erman/ Edenfeld, § 611 BGB Rz. 50; Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 66. S. dazu mit ausführlicher Diskussion und vielen Nachweisen zum Meinungsstand Schuster, CR 2006, 444.

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BGB Vor §§ 433–675 Rz. 34 Überblick d) Weitere Verträge aa) Migration, Datenkorrektur 34

Die Übernahme von Daten aus einem Altsystem (Migration) stellt einen Werkvertrag dar, da ein konkreter Erfolg geschuldet ist (vgl. § 631 Rz. 96 ff.).68 Dies dürfte auch für in diesem Zusammenhang erfolgende Datenkorrekturen und -anpassungen gelten.69 bb) Rechenzentrumsverträge

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Rechenzentrumsverträge können äußerst verschiedenen Inhalts sein, insb. mit dienst-, miet- und werkvertraglichen Aspekten; es kommt daher auf eine Bewertung im Einzelfall an.70 Es kann sich um Mietverträge handeln, etwa wenn Hardware oder Colocation-Flächen oder auch die Möglichkeit zur Nutzung von Rechenkapazitäten71 oder Speichern vermietet werden (s. auch § 535 Rz. 16 f.). cc) Systemvertrag

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Beim Systemvertrag schuldet der Auftragnehmer mehrere IT-Leistungen, die nicht nur für sich alleine vertragsgemäß sein müssen, sondern auch in ihrer Interaktion, da sie erst gemeinsam das vom Auftraggeber gewünschte IT-System ergeben. Es handelt sich um einen klassischen typengemischten Vertrag (vgl. Rz. 10 ff.). Soweit die Leistungspflichten bei Systemverträgen erfolgsorientiert sind, kommt Werkvertragsrecht zur Anwendung.72 dd) Hotline, Support, Einweisung, Schulung

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Bei Verträgen über Hotline, Support, Einweisung und Schulung kommt i.d.R. Dienstvertragsrecht zur Anwendung (vgl. § 611 Rz. 46). ee) Beratung, Planung

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Beratung ist in den meisten Fällen als Dienstvertrag einzuordnen (s. § 611 Rz. 47), ggf. als vorvertragliche Pflicht (vgl. § 311 Rz. 8 ff.).

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Die Planung von IT-Systemen wird meist werkvertraglich einzuordnen sein; im Einzelfall kommt auch ein Dienstvertrag in Betracht (vgl. § 631 Rz. 37 ff. und § 611 Rz. 49). ff) Nebenleistungen

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Zur Überlassung von Personal als Nebenleistung bei Verträgen über Gebrauchsüberlassung vgl. § 611 Rz. 32. e) Abgrenzung zur Arbeitnehmerüberlassung

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Im Bereich von IT-Dienstleistungen, besonders bei größeren IT-Projekten und bei Nutzung agiler Entwicklungsmethoden, kann es vorkommen, dass in Wirklichkeit kein Dienst- oder Werkvertrag vorliegt, sondern eine erlaubnispflichtige Arbeitnehmerüberlassung. Zur Abgrenzung vgl. § 611 Rz. 22 ff.

68 69 70 71

Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 65. Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 10 Rz. 65. Vgl. Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. 636 ff. BGH v. 28.10.1992 – XII ZR 92/91, NJW-RR 1993, 178; Söbbing, Handbuch IT-Outsourcing, Rz. 639; Söbbing, ITRB 2004, 91, 93. 72 Vgl. etwa Nummer 1.1 EVB-IT Systemvertrag.

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§ 433 BGB

Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

§ 433 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag (1) Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen. Der Verkäufer hat dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. (2) Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen. I. II. 1. 2.

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung zwischen Kauf und sonstigen Vertragstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Internet-Plattform-Vertrag . . . . . . . . . b) Bestimmungskauf, § 375 HGB . . . . . . . c) Systemvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Softwarepflegevertrag . . . . . . . . . . . . e) Softwarehinterlegungsvertrag . . . . . . . . f) Datenüberlassungsvertrag . . . . . . . . . . g) Kauf mit Auslandsberührung nach UN-Kaufrecht (CISG) . . . . . . . . . . . . h) Versteigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Tausch, § 480 . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Auftrag, Schenkung (Open Source Software), §§ 662, 516 . . . . . . . . . . . . k) Werkvertrag und Werklieferungsvertrag, § 651 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Lizenzvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Miete, Pacht, §§ 535, 581 . . . . . . . . . . n) Kommission, § 383 HGB . . . . . . . . . . o) Darlehen, § 607 . . . . . . . . . . . . . . . . p) Handelsvertretervertrag/Vertragshändlervertrag/Distributorenvertrag . . . . . . . . Sache (§ 433 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . Übergabe (§ 433 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . Eigentumsverschaffung (§ 433 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelfreiheit (§ 433 Abs. 1 Satz 2) . . . . . . Weiter vereinbarte Pflichten . . . . . . . . . . Nebenpflichten des Verkäufers . . . . . . . . .

1 4 4

III.

a) Aushändigung von Schriftstücken . . . . . b) Informationspflichten/Beratung . . . . . . aa) Kaufvertragliche Aufklärungs-/ Beratungspflichten . . . . . . . . . . . (1) Bestehen eines Wissensgefälles . . . . (2) Erkennbarkeit eines Wissensgefälles für den Verkäufer . . . . . . . . . . . . (3) Entscheidungserheblichkeit für den Käufer . . . . . . . . . . . . . . . (4) Schutzwürdigkeit des Käufers . . . . (5) Abwägung der Risikoverteilung . . . (6) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Selbständiger Beratungsvertrag . . . . c) Rechnungserteilung . . . . . . . . . . . . . d) Untersuchungspflichten . . . . . . . . . . e) Verpackungspflichten . . . . . . . . . . . . f) Rücknahmepflichten . . . . . . . . . . . . g) Schutzpflichten/Pflicht zur Rücksichtnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaufpreiszahlung . . . . . . . . . . . . . . . . Abnahme der gekauften Sache . . . . . . . . Nebenpflichten des Käufers . . . . . . . . . a) Informationspflichten . . . . . . . . . . . . b) Handlungspflichten . . . . . . . . . . . . . c) Schutzpflichten/Pflichten zur Rücksichtnahme/unberechtigte Mängelrüge . . . . . Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV. 1. 2. V.

Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . Zwingendes/Dispositives Recht Auswirkungen auf AGB-Recht . Prozessuales . . . . . . . . . . . .

13 13 14 15 16 17 18 19 21 22 23 28 30 32 33 35 36 38 40 43 44 45 46

9. 10. 11.

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. 48 . 50 . 51 . 55 . 57 . . . . . . . . .

60 61 62 64 66 69 70 72 73

. . . . . .

74 76 80 81 82 84

. 86 . 88 . . . .

92 92 93 94

Literatur: Bach, Neue Richtlinien zum Verbrauchsgüterkauf und zu Verbraucherverträgen über digitale Inhalte, NJW 2019, 1705; Bartsch, BGH: Leistungsaufforderung im IT-Projektvertrag, CR 2010, 777; Bartsch, Das BGB und die modernen Vertragstypen, CR 2000, 3; Bartsch, IT-Einkaufsbedingungen, CR 2015, 345; Behnes/Nink/Rohde, Nutzung internetbasierter Datenbankanwendungen – Haftung des Lizenznehmers für Quellensteuern des ausländischen Anbieters, CR 2016, 281; Berberich/Kanschik, Daten in der Insolvenz, NZI 2017, 1; Bierekoven, Vorund Nachteile des UN-Kaufrechts für den Softwareerwerb und -vertrieb, ITRB 2008, 19; Bischof, Die Gestaltung von Präambeln in IT-Projektverträgen unter Einbeziehung von Presales-Präsentationen der IT-Unternehmen, ITRB 2006, 289; Bisges, Personendaten, Wertzuordnung und Ökonomie, MMR 2017, 301; Boehm, Herausforderungen von Cloud Computing-Verträgen: Vertragstypologische Einordnung, Haftung und Eigentum an Daten, ZEuP 2016, 358; Bull, Wieviel sind „meine Daten“ wert?, CR 2018, 425; Burkhart, Softwareerstellung – Anspruch auf Herausgabe des Quellcodes, ITRB 2003, 53; Castendyk, Lizenzverträge und AGB-Recht, ZUM 2007, 169; Conrad, Wege zum Quellcode, ITRB 2005, 12; Determann, Gegen Eigentumsrechte an Daten, ZD 2018, 503; Diedrich, Typisierung von Softwareverträgen nach der Schuldrechtsreform, CR 2002, 473; Diedrich/Britz, Nebenpflichten des Verkäufers im IT-Vertrag, in FS Maximilian Herberger, 2016, S. 227; Djazayeri, Die virtuelle Währung Bitcoin – Zivilrechtliche Fragestellungen und internationale regulatorische Behandlung, jurisPR-BKR 6/2014 Anm. 1;

Diedrich

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BGB § 433 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag Drexl, Neue Regeln für die Europäische Datenwirtschaft?, NZKart 2017, 339; Ensthaler, Industrie 4.0 und die Berechtigung an Daten, NJW 2016, 3473; Elteste, Hinweispflicht bzgl. Kaufoption bei Leasing einer EDV-Anlage, ITRB 2013, 179; Ernst, AGB-Kontrolle bei Klauseln zur Einräumung urheberrechtlicher Nutzungsrechte, MDR 2015, 861; Faber/Griga/Groß, Predictive Maintenance – Hürden und Chancen zur sinnvollen Nutzung von Maschinendaten, DS 2018, 299; Fezer, Dateneigentum: Theorie des immaterialgüterrechtlichen Eigentums an verhaltensgenerierten Personendaten der Nutzer als Datenproduzenten, MMR 2017, 3; Fuchs/Meierhöfer/Morsbach/Pahlow, Agile Programmierung – Neue Herausforderungen für das Softwarevertragsrecht?, MMR 2012, 427; Grützmacher, Insolvenzfeste Softwarelizenz- und Softwarehinterlegungsverträge – Land in Sicht?, CR 2006, 289; Grützmacher, Auswirkungen von Lizenzregelungen zu Standardsoftware auf Projekte, ITRB 2012, 135; Grützmacher, „Software aus der Datendose“ – Outsourcing, Cloud, SaaS & Co., CR 2015, 779; Härting/Gössling, Online-Kauf in der EU – Harmonisierung des Kaufgewährleistungsrechts, CR 2016, 165; Hauck, Gebrauchthandel mit digitalen Gütern, NJW 2014, 3616; Haug, Gemeinsames Europäisches Kaufrecht – Neue Chancen für Mittelstand und E-Commerce, K&R 2012, 1; Heiderhoff, Die Pflicht des Verkäufers zur Aufklärung über Mängel der Sache beim Kauf via Internet, BB 2005, 2533; Hilber, Die Übertragbarkeit von Softwarerechten im Kontext einer Outsourcingtransaktion, CR 2008, 749; Hilber/Rabus, BGH: Rechtsnatur des Internet-System-Vertrags, CR 2010, 327; Hoeren, Dateneigentum, MMR 2013, 486; Hörl, Aufklärung und Beratung beim Computer-„Kauf“, Dissertation 1999; Intveen, Verträge über die Anpassung von Standardsoftware, ITRB 2008, 237; Intveen, Vertragsrechtliche Details zu Softwarepflegeverträgen, ITRB 2010, 90; Kartheuser, Kein Sachmangel bei Speicherung von Fahrzeugdaten, ITRB 2016, 102; Kaulartz, Die Blockchain-Technologie, CR 2016, 474; Kemper, Haftungsverjährung für Beratungsverschulden bei Veräußerung und Vermietung von Hardware, CR 1991, 708; Keßler, Intelligente Roboter – neue Technologien im Einsatz, MMR 2017, 589; Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechtshandbuch, 32. Erg.-Lfg. 2013, Nr. 30, Rz. 21; Kiparski/Sassenberg, Internet of Things – Aktuelle Entwicklungen und Branchenbesonderheiten bei Connected Cars, eHealth und Co., CR 2018, 596; Kluth/Böckmann/Grün, Beratungshaftung – Bewertungskriterien für rechtsverbindliche Aussagen beim Sachkauf, MDR 2003, 241; Koch, Erstellung und Lieferung von Software nach Werkvertragsrecht, ITRB 2008, 233; Kremer, Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH, Urt. v. 2.9.2010 (VII ZR 110/09; CR 2011, 10) – zur Frage der Untersuchungspflicht und der Kostentragungspflicht im Falle unberechtigter Mangelbeseitigungsverlangen, CR 2011, 92; Kremer, Vertragsgestaltung bei der Entwicklung von Apps für mobile Endgeräte, CR 2011, 769; Kremer/Sander, Der EVB-IT Systemvertrag – doch kein (einheitlicher) Werkvertrag?, CR 2015, 146; Kubach/Hunzinger, Wer hat das Recht an der Rechtekette und welche Rechte hat der Käufer von Gebrauchtsoftware (Teil 1), CR 2016, 14; Kubach/Hunzinger, Wer hat das Recht an der Rechtekette und welche Rechte hat der Käufer von Gebrauchtsoftware (Teil 2), CR 2016, 213; Kuhlmann, Bitcoins, CR 2014, 691; Lejeune, Softwarevertrieb über Distributoren, ITRB 2014, 234; Metzger/Barudi, Open Source in der Insolvenz, CR 2009, 557; Moos/ Gallenkemper/Volpers, Rechtliche Aspekte der Abgabe von gebrauchter Hardware, CR 2008, 477; Müller-Hengstenberg, Ist das Kaufrecht auf alle IT-Projektverträge anwendbar?, NJW 2010, 1181; Nebel, Die Zulässigkeit der Übermittlung personenbezogener Kundenstammdaten zum Vollzug eines Asset Deals, CR 2016, 417; Nordemann, CPU-Klauseln in Software-Überlassungsverträgen, CR 1996, 5; Plath, Hardware, Software und IT-Verträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Plath/Struck/Hazeborg, Verkauf von Kundendaten im Asset Deal, CR 2020, 9; Redeker, Vertrag über die Lieferung, Anpassung und Installation von Software bei Verwendung der EVB-IT Systemlieferung, ITRB 2010, 255; Redeker, Information als eigenständiges Rechtsgut, CR 2011, 634; Redeker, Vertragsrechtliche Einordnung von Softwarelieferverträgen: Einzelprobleme, ITRB 2013, 165; Rössel, Standardsoftware mit Zusatzprogrammierung, ITRB 2004, 29; Sahin/Haines, Einräumung von Nutzungsrechten im gestuften Vertrieb von Standardsoftware, CR 2005, 241; Schippel, Die Pflicht zur Bereitstellung von Software, Updates und Upgrades nach der Richtlinie über digitale Inhalte und Dienstleistungen, K&R 2020, 117; Schneider, Neues zur Vorlage und Herausgabe des Quellcodes?, CR 2003, 1; Schneider, Die Beschreibung des Vertragsgegenstandes bei Standardsoftware-Beschaffung, ITRB 2004, 41; Schneider, „Neue“ IT-Projektmethoden und „altes“ Vertragsrecht, ITRB 2010, 18; Schneider-Ehle, Dokumentation in Softwareerstellungsverträgen, die Software-Herstellungsdokumentation, CR 2015, 469; Schrader/Engstler, Anspruch auf Bereitstellung von Software-Updates?, MMR 2018, 356; Schuster/Hunzinger, Vorund nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil I: vorvertragliche Beratungspflichten, CR 2015, 209; Schuster/ Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II, CR 2015, 277; Spindler/Sein, Die endgültige Richtlinie über Verträge über digitale Inhalte und Dienstleistungen, MMR 2019, 415; Stadie/Nietzer, CISG – Das UN-Kaufrecht in der Anwaltspraxis, MDR 2002, 361; Staudenmayer, Auf dem Weg zum digitalen Privatrecht – Verträge über digitale Inhalte, NJW 2019, 2497; Staudenmayer, Kauf von Waren mit digitalen Elementen – Die Richtlinie zum Warenkauf, NJW 2019, 2889; Steinle, eine rechtliche Analyse der Softwarelizenzen von Webbrowsern, JurPC 2007, Web-Doc. 139/2007; Steinrötter, Vermeintliche Ausschließlichkeitsrechte an binären Codes, MMR 2017, 731; Stender-Vorwachs/Steege, Wem gehören unsere Daten?, NJOZ 2018, 1361; Strittmacher/Harnos, Softwareaudits, CR 2013, 621; Ulmer, Softwareüberlassung: Formulierung eines Lizenzvertrags, ITRB 2004, 213; Wandtke, Ökonomischer wert von persönlichen Daten, MMR 2017, 6; Graf von Westphalen, Das optionale Europäische Kaufrecht – eine Chance für Verbraucher und Unternehmer?, ZIP 2011, 1985; Witte, AGB-Klauseln zur Vermeidung des Insolvenzrisikos bei Softwareüberlassung, ITRB 2006, 263; Witzel, Beschaffung von Open Source Software, ITRB 2016, 160; Witzel, Vertragsbeziehungen bei der Beschaffung von Open Source Software, ITRB 2016, 235; Zahrnt, Vollpflege von Standardsoftware, CR 2004, 408.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 4 § 433 BGB

I. Allgemeines § 433 regelt die vertragstypischen Pflichten der Kaufvertragsparteien und damit die Maßstäbe, nach denen ein Vertrag als Kaufvertrag anzusehen ist. Der Verkäufer ist verpflichtet, die Sache zu übergeben und das Eigentum an ihr zu verschaffen, § 433 Abs. 1 Satz 1. Der Käufer ist zur Zahlung des Kaufpreises und zur Abnahme der Kaufsache verpflichtet, § 433 Abs. 2. § 433 gilt unmittelbar für Sachen und ist entsprechend anwendbar auf Rechte und sonstige Gegenstände, § 453.

1

Seit der Schuldrechtsreform ist der Verkäufer zudem verpflichtet, dem Käufer die Sache frei von Sachund Rechtsmängeln zu verschaffen, § 433 Abs. 1 Satz 2. Eine mangelhafte Sache kann der Käufer nach allgemeinen Regeln zurückweisen, § 320, ohne in Gläubigerverzug (§§ 293 ff.) zu kommen. Nach Erhalt der Kaufsache kann der Käufer die Zahlung des Kaufpreises wegen Mängeln verweigern, § 320. Stellt sich beim Stückkauf einer konkretisierten Sache (z.B. einer Hardware mit Konstruktionsmängeln) vor Übergabe ein unbehebbarer Mangel heraus, ist die mangelfreie Lieferung unmöglich und deshalb nicht mehr geschuldet, § 275 Abs. 1.

2

Für die Auslegung des Kaufrechts nach der Schuldrechtsreform 2002 sind der ursprüngliche Entwurf,1 3 die Stellungahme des Bunderates und die Gegenäußerung der Bundesregierung,2 die Stellungnahme des Rechtsausschusses und die endgültige Beschlussfassung3 zu berücksichtigen. Zudem spielt die richtlinienkonforme Auslegung anhand der RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Verbrauchsgüterkaufrichtlinie)4 eine Rolle.5 Zur Umsetzung der Verbrauchsgüterrichtlinie6 hat der deutsche Gesetzgeber entschieden, (i) die Anforderungen weitgehend mit allgemeiner Wirkung in das Kaufrecht aufzunehmen und (ii) das Kaufrecht weitgehend in das allgemeine Leistungsstörungsrecht zu integrieren. Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wird mit Wirkung zum 1.1.2022 durch die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs vom 20.5.2019 ersetzt (Art. 23 Abs. 1 Warenkaufrichtlinie)7. Parallel ist die Richtlinie zu Verträgen über digitale Inhalte und digitale Dienstleistungen vom 20.5.2019 (Digitaldienstleistungsrichtlinie)8 ins nationale Recht umzusetzen. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinien bis zum 1.7.2021 in nationales Recht umzusetzen und ab 1.1.2022 anzuwenden, Art. 24 Abs. 1 und 2 Warenkaufrichtlinie, Art. 24 Abs. 1 Digitaldienstleistungsrichtlinie. Die Richtlinien zielen bis auf wenige Ausnahmen auf eine Vollharmonisierung ab. Nach den bislang auf die Vereinheitlichung schuldrechtlicher Regeln ausgerichteten Umsetzungsgesetzen ist eine Umsetzung über Verbraucherverträge hinaus zu erwarten.

II. Norminhalt 1. Kaufvertrag Mit dem Kaufvertrag verpflichtet sich der Verkäufer einer Sache, dem Käufer die Sache zu übergeben 4 und das Eigentum an ihr frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Den Käufer verpflichtet der Kaufvertrag, dem Verkäufer den verkauften Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzuneh1 2 3 4 5 6 7 8

S. BT-Drucks. 14/6040. S. BT-Drucks. 14/6857. S. BT-Drucks. 14/7052. S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12; vgl. dazu jurisPK BGB/Pammler, § 433 Rz. 5 f.; Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 3a m.w.N. S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. S. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. S. RL (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1.

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BGB § 433 Rz. 4 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag men. Daneben können im Wege der Auslegung, §§ 133, 157, 305c, zu bestimmende Nebenleistungspflichten und Nebenpflichten gelten.9 Soweit der Verkäufer nicht Herstellung der Kaufsache schuldet, ist der Warenhersteller nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers i.S.d. Zurechnungsnorm des § 278 (z.B. schuldet der Vertreiber einer Drittsoftware nicht deren mangelfreie Programmierung, s. § 278 Rz. 6 ff.). 5

Nach dem Trennungsprinzip ist der Kaufvertrag (Verpflichtungsgeschäft) von den zu seiner Erfüllung vorgenommenen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Beispielsweise werden Softwarekäufern teils weitergehende Rechte eingeräumt (z.B. zur Bearbeitung), als sie für den unmittelbaren Nutzungszweck erforderlich erscheinen. Bis zum Eintritt des Bedarfs wird der Kunde schuldrechtlich verpflichtet, überschießende Rechte nicht auszuüben (z.B. im Zusammenhang mit Softwarehinterlegungskonzepten). Die Unterscheidung zwischen Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft gilt grundsätzlich auch für die Erstreckung von Fehlern aus einem der Rechtsgeschäfte im Übrigen (Abstraktionsprinzip).10 So führen Fehler in der Verpflichtung zur Verschaffung von Besitz und Eigentum an einem Datenträger nicht automatisch zur Unwirksamkeit des dinglichen Vertrages über die Verschaffung von Eigentum an Datenträger, § 929.11 Werden zur Erfüllung eines Kaufvertrages Immaterialgüterrechte verschafft, sind für die Erfüllung die Regeln für deren Übertragung maßgeblich, z.B. §§ 398, 413 und §§ 31, 69a ff. UrhG. Beispielsweise wird durch die Vereinbarung einer auflösenden Bedingung für die Einräumung der Nutzungsrechte, § 158 Abs. 2, im Bereich der Open Source-Software die Wirksamkeit des dinglichen Geschäfts von der Einhaltung der grds. nur schuldrechtlich wirkenden Lizenzbedingungen abhängig gemacht.12

6

Für den Handelskauf gelten besondere Regeln, §§ 343 ff. HGB, die für IT-Verträge insb. mit Blick auf Sorgfaltsmaßstäbe, § 347 Abs. 1 HGB, Ausschluss/Herabsetzung einer Vertragsstrafe nach § 343 BGB, § 348 HGB und die Untersuchungs- und Rügepflichten, § 377 HGB, eine Rolle spielen (s. dazu auch § 343 Rz. 8 ff. und § 438 Rz. 23 ff.).

7

Gemischte Verträge sind nach dem Recht des Vertragstyps zu behandeln, in dessen Bereich der Schwerpunkt des Rechtsgeschäfts liegt.13 Auf die von den Parteien im Vertrag gewählten Bezeichnungen kommt es für die Einordnung nicht an.14 Sonstige Leistungen sind für einen gemischten Vertrag nach den aus dem jeweiligen Teil zutreffenden Vorschriften zu beurteilen. Nach diesen Regeln sind z.B. verbreitete Versuche abzulehnen, kommerziell und technisch einheitliche Geschäfte in entgeltlich und unentgeltlich überlassene Gegenstände (insb. Software) aufzuteilen, um Schenkungsrecht anwenden zu können (insb. in AGB Haftungsbeschränkungen auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit).15

8

Der Kaufvertrag kann für IT-Gegenstände grds. formfrei geschlossen werden. Zur Schaffung von Rechtsklarheit über den Vertragsinhalt sind jedoch gerade bei (Rahmen-)Verträgen für umfangreichere Kaufgegenstände weitere Formvorschriften zu empfehlen: Gerade in IT-Rahmenverträgen für dauerhafte Zusammenarbeit mit etlichen Austauschverhältnissen finden sich Regeln zur Form von Vereinbarungen über Zukäufe, Stornierungen oder sonstige Inhaltsänderungen. Ohne solche Regeln lässt sich der geltende Vertragsinhalt häufig nicht mit angemessenem Aufwand bestimmen, so dass Ansprüche schon deshalb kaum wirtschaftlich justiziabel erscheinen. Regelmäßig wird die Wirksamkeit des Vertrags von der Einhaltung einer (doppelten) Schriftform oder Textform abhängig gemacht. Daneben galt bis zum 25.5.2018 die gesetzliche Schriftform des § 11 BDSG (§ 126) mit der gesetzlichen Nichtigkeitsfolge eines Verstoßes, § 125, soweit der Kauf in eine Datenverarbeitung im Auftrag eingebunden

9 10 11 12

Vgl. dazu Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 ff. und CR 2015, 277 ff. m.w.N. Vgl. dazu im Zusammenhang MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 6. Vgl. insoweit auch Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 4. Vgl. LG Bochum v. 3.3.2016 – I-8 O 294/15, MMR 2016, 553, 554 m.w.N.; LG Hannover v. 21.7.2015 – 18 O 159/15, MMR 2016, 554 = CR 2016, 430 = ITRB 2016, 104; vgl. zur Zulässigkeit dieser bedingten Verfügungen Überblick bei Marly, Softwarerecht, Rz. 929 ff. m.w.N. 13 Vgl. BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rz. 16 = CR 2010, 109 = ITRB 2010, 77; BGH v. 12.3.2009 – III ZR 142/08, NJW 2009, 1738 Rz. 17. 14 Vgl. BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rz. 16 m.w.N. = CR 2010, 109 = ITRB 2010, 77. 15 Vgl. BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rz. 16 = CR 2010, 109 = ITRB 2010, 77; BGH v. 12.3.2009 – III ZR 142/08, NJW 2009, 1738 Rz. 17.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 13 § 433 BGB

war.16 Separate Urkunden genügten jedoch dann dem Schriftformerfordernis, wenn ihr Inhalt erkennen lässt, dass sie sich aufeinander und damit auf das geregelte Geschäft beziehen.17 Mit voller Wirksamkeit der DSGVO nach dem 25.5.2018 kann der Auftragsverarbeitungsvertrag auch in einem elektronischen Format geschlossen werden, Art. 28 Abs. 9 DSGVO. Die Bestimmung der Kaufsache kann durch jede Bezeichnung erfolgen, die eine Bestimmbarkeit der Kaufsache im Wege der Auslegung, §§ 133, 157, mit Rücksicht auf jeweils feststellbare Handelsbräuche18 erlaubt, § 348 HGB.19 Die Bestimmung kann jedoch auch in Form eines Bestimmungskaufs (s. Rz. 14) einer Wahlschuld, § 262 (z.B. alternativ geschuldete Versionen; inkonsistent beschriebene Leistungen in komplexen Leistungsbeschreibungen, die nur alternativ erbracht werden können), oder eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts nach den §§ 315 ff. (etwa im unreifen Softwareentwicklungsprojekt) durch eine Vertragspartei oder einen Dritten erfolgen (z.B. bei Schiedsgutachterklauseln zur kurzfristigen Klärung technischer Streitfragen im Projekt).

9

Zur Bestimmung des Kaufpreises genügt die Vereinbarung von Regeln, die eine Bestimmung ermöglichen (z.B. nach Aufwand, tatsächlichen Kosten oder § 315). Ist die Höhe des vereinbarten Kaufpreises nicht bestimmt, liegt das Bestimmungsrecht im Zweifel beim Verkäufer, § 316.20

10

Die Parteien können sich auch zunächst in einem Vorvertrag dazu verpflichten, künftig Kaufverträge nach festgelegten Regeln abzuschließen (z.B. im Falle einer technischen Grundsatzentscheidung für ein Softwaresystem in Form eines Rahmenvertrags, zu dessen kommerziellen und sonstigen Bedingungen später benötigte Software nachgekauft werden kann). Der Vorvertrag muss jedoch ein Maß an Bestimmbarkeit für die Inhalte des abzuschließenden Kaufvertrages haben, so dass im Streitfall sein Inhalt richterlich festgestellt werden kann.21 Das ist regelmäßig der Fall, wenn die Vertragspartner, der Kaufgegenstand und der Kaufpreis sowie die von den Vertragsparteien als wesentlich angesehenen Nebenpunkte mindestens bestimmbar sind. Zu Recht sind mit der Rspr. an die nach §§ 133, 157 durch Auslegung zu ermittelnde Bestimmbarkeit geringere Anforderungen als beim zu schließenden Kaufvertrag zu stellen.22 In Projektverträgen finden sich häufig Elemente von Vorverträgen, weil der IT-Kunde nach Projektstart/Bindung an eine technische Lösung darauf angewiesen ist, weitere und geänderte Leistungen angemessen vereinbaren zu können (mit Blick auf Lieferzeiten, Vergütungen, Qualität und rechtliche Rahmenbedingungen, z.B. zum Nachkauf erforderlicher Nutzerlizenzen, künftig verfügbar werdender Module).

11

Die rechtliche Einheit verschiedener Kaufsachen (z.B. Hard- und Software, Standardsoftware und 12 Anpassungsleistungen) in einem Kaufvertrag ist anzunehmen, wenn die Abreden über die Kaufsachen nach den Vorstellungen der Parteien miteinander „stehen und fallen“ sollen. Sie spielt z.B. eine Rolle, wenn wegen eines Teils der Rücktritt erfolgen soll (s. dazu § 440 Rz. 11).23 2. Abgrenzung zwischen Kauf und sonstigen Vertragstypen a) Internet-Plattform-Vertrag Der über eine Internet-Plattform (z.B. durch eBay) vermittelte Vertrag ist ein Kaufvertrag, der durch 13 Angebot und Annahme gem. den §§ 145 ff. in Form der durch die Internet-Plattform zur Verfügung

16 Vgl. dazu Überblick zur alten Rechtslage bei BeckOK DatenSR/Spoerr, § 11 BDSG Rz. 90 m.w.N.; LG Oldenburg v. 3.4.2014 – 5 O 2164/12, NJW-RR 2014, 1315, 1318. 17 Vgl. insoweit BGH v. 29.6.1982 – KZR 19/81, GRUR 1982, 638, 639, der sogar im Falle des zwischenzeitlich aufgehobenen § 34 GWB die Nichtigkeitsfolge mit dem Umstand begründete, dass die jeweiligen Urkunden keine Hinweise auf die jeweils ergänzende Urkunde enthielten. 18 Vgl. OLG Düsseldorf v. 8.11.1990 – 6 U 40/90, NJW-RR 1991, 679. 19 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 2. 20 Vgl. OLG München v. 8.7.1992 – 7 U 1562/91, NJW-RR 1994, 161. 21 Vgl. BGH v. 21.12.2000 – V ZR 254/99, NJW 2001, 1285, 1286 unter Verweis auf vorhergehende Rspr. 22 Vgl. BGH v. 21.12.2000 – V ZR 254/99, NJW 2001, 1285, 1286. 23 Vgl. BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358 unter Verweis auf st. Rspr.; BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2438 = CR 1993, 681 unter Verweis auf BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3014 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler.

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BGB § 433 Rz. 13 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag gestellten Kommunikationsmittel zustande kommt.24 Für die Auslegung des Erklärungsinhalts der Willenserklärungen sind nach §§ 133, 157 auch die allgemeinen Geschäftsbedingungen des Plattformbetreibers maßgeblich.25 b) Bestimmungskauf, § 375 HGB 14

Beim Bestimmungskauf (Spezifikationskauf) ist dem Käufer die nähere Bestimmung über Form, Maß oder ähnliche Verhältnisse vorbehalten, § 375 Abs. 1 HGB. Es handelt sich um eine ggü. den §§ 315 ff. vorrangige, den Verkäufer privilegierende26 spezialgesetzliche Regelung für mindestens einseitige Handelsgeschäfte.27 Der Inhalt der Leistungsbestimmung richtet sich nach den §§ 315 ff.28 Der Käufer kann aus einer festgelegten Gattung Kaufsachen mit unterschiedlicher Ausstattung wählen (z.B. Hardware oder Softwaremodule bestimmter Konfigurationen).29 Abzugrenzen ist die Wahlschuld, bei der mehrere Kaufsachen in der Weise geschuldet sind, dass nur die eine oder die andere (im Zweifel nach Wahl des Verkäufers) zu leisten ist, § 262.30 Mit dem Bestimmungskauf ist die Pflicht des Käufers verbunden, sein Bestimmungsrecht fristgerecht auszuüben, § 375 Abs. 1 HGB. Kommt der Käufer damit in Verzug, kann der Verkäufer (i) die Bestimmung selbst vornehmen, (ii) nach § 323 zurücktreten oder (iii) nach den §§ 280 f. Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen, § 375 Abs. 2 HGB. c) Systemvertrag

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Entsprechend ist auch der Systemvertrag kaufrechtlich einzuordnen, wenn die Lieferung von Hardware in Kombination mit Software und weiteren Leistungen erfolgt und vertraglich die Verschaffung der einzelnen Gegenstände im Vordergrund steht. Das ist insb. bei der kombinierten Lieferung standardisierter Hard- und Software anzunehmen, die mit standardisierbaren Einstellungen in Betrieb genommen und entstört werden können. Die werkvertragliche Einordnung liegt jedoch nahe, wenn nach Gesamtbetrachtung des Vertrags die Herstellung des funktionsfähigen Systems Vorrang vor der Lieferung der Einzelteile beansprucht.31 d) Softwarepflegevertrag

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Der Softwarepflegevertrag ist ein Kaufvertrag, soweit sich der Schwerpunkt des Leistungsaustauschs auf die (fortlaufende) Überlassung von Standardsoftware zur dauerhaften Nutzung bezieht. Das kann alle Formen der Softwareaktualisierung betreffen (z.B. zur Behebung von Fehlern, Sicherheitslücken, Anpassung an neue Versionen von Betriebssystem oder Datenbanken, Funktionserweiterungen etc.). Gleichfalls zum Kaufvertrag können die Ansprechbarkeit für die Diskussion von Mängeln und Unterstützungsleistungen zur Aufrechterhaltung betriebener Software gehören. Liegt der Schwerpunkt der Leistungserbringung jedoch in der Aufrechterhaltung des (ungestörten) Betriebs von Software (z.B. in Form vereinbarter Verfügbarkeit qualifizierten Personals zur Berarbeitung von Störungen und Implementierung von Behebungssoftware in bestimmten Zeiten), so deutet das auf eine Einordnung als dienst- oder werkvertragliche Leistungen hin.

24 Vgl. BGH v. 8.6.2011 – VIII ZR 305/10, NJW 2011, 2643 Rz. 15 = CR 2011, 608 m. Anm. Küppers = ITRB 2011, 199. 25 Vgl. BGH v. 8.6.2011 – VIII ZR 305/10, NJW 2011, 2643 Rz. 15 = CR 2011, 608 m. Anm. Küppers = ITRB 2011, 199. 26 Vgl. MünchKomm/Grunewald, § 375 HGB Rz. 1. 27 Vgl. MünchKomm/Grunewald, § 375 HGB Rz. 1; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 ff. BGB Rz. 238 m.w.N. 28 Vgl. Überblick bei Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 ff. BGB Rz. 238 m.w.N. 29 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 375 HGB Rz. 1; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 ff. BGB Rz. 238 m.w.N. 30 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 375 HGB Rz. 3; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 ff. BGB Rz. 239 m.w.N. 31 Vgl. zu Fertighäusern BGH v. 22.12.2005 – VII ZR 183/04, NJW 2006, 904 Rz. 14.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 19 § 433 BGB

e) Softwarehinterlegungsvertrag Softwarehinterlegungsverträge regeln spezielle Pflichten zur Übergabe von Software in bearbeitungs- 17 fähiger Form („Source Codes“) ergänzend zur Übergabe im Ausführbaren Format zur Nutzeranwendung („Object Codes“). Insoweit handelt es sich um eine Ausprägung des Kaufvertrags mit speziellen Pflichten zur Übergabe und „Montage“,32 §§ 446, 434 Abs. 2. Regelmäßig erweitert der Softwarehinterlegungsvertrag die Kaufsache um weitere Gegenstände (z.B. Entwicklerdokumentationen und -werkzeuge). Teilweise ausdifferenzierte Regeln zur gemeinsamen Untersuchung der Liefergegenstände führen nicht zur Anwendung von Dienst- oder Werkvertragsrecht. f) Datenüberlassungsvertrag Auch die dauerhafte Überlassung von Daten fällt unter die §§ 433 ff. Daten sind (eine Speicherung 18 von) Zeichen (z.B. auf einem elektronischen Speichermedium wie einem USB-Stick oder einem Cloud-Speicher), die für sich genommen noch keinen Aussagegehalt haben müssen.33 Soweit es auf eine Unterscheidung ankommt, lassen sich dem Wortsinn nach Informationen von Daten entsprechend einem informationstechnischen Verständnis dadurch unterscheiden, dass sie einen Aussagegehalt mit Blick auf bestimmte Fragen oder Sachverhalte aufweisen. Abhängig vom Zusammenhang ihrer Interpretation und Nutzung können identische Daten unterschiedliche Informationen vermitteln. Ausreichend ist jeder Aussagegehalt, zunächst ohne dessen Wert oder Nutzungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Der Begriff der Information ist also sehr weit gefasst und umfasst jeden Aussagegehalt, d.h. die kleinste Einheit von (wirtschaftlich relevanten) Gedanken. Entsprechend weit gefasst ist der DatenBegriff, der jedwede Speicherung solcher Information umfasst. Die dauerhafte Überlassung von Daten gegen Einmalvergütung bezieht sich nur mit Blick auf die jeweilige Bindung an einen Speicher-/ Wiedergabegegenstand34 auf eine Sache, so dass die Anwendbarkeit des Kaufrechts entsprechend den vormaligen Diskussionen zu Sacheigenschaft von Software35 verneint werden könnte.36 Der BGH unterscheidet insoweit ausdrücklich zwischen elektronischen Vervielfältigungsstücken als solchen (keine Sachen) und den Verkörperungen solcher Vervielfältigungsstücke auf Datenträgern, die als Sachen anzusehen sind.37 Die Anwendbarkeit des Kaufrechts ergibt sich aber zumindest entsprechend über § 453. Daten sind mit sonstigen Immaterialgütern vergleichbar, die nicht als Immaterialgüterrechte ausgestaltet sind (z.B. einer Werbeidee).38 Beispielsweise gewinnen Daten für Marktforschung, Produktgestaltung, Planung und Logistik massiv an Bedeutung (z.B. Sammlungen über Internetnutzung, Geodaten bestimmter Nutzergruppen und Anwender bestimmter Gegenstände).39 Unabhängig von der Anwendbarkeit des Kaufrechts bleiben sonstige Einschränkungen anwendbar, z.B. aus Datenschutzregeln.40 g) Kauf mit Auslandsberührung nach UN-Kaufrecht (CISG) Für Kaufverträge über bewegliche Sachen zwischen Parteien, die ihre Niederlassung in verschiedenen Unterzeichnerstaaten des UN-Kaufrechts haben (United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods, „CISG“) gelten die zwischenzeitlich in nationales Recht überführten Re32 Vgl. zur Abgrenzung zwischen Kauf mit Montageverpflichtung und werkvertraglichen Leistungen nach dem Schwerpunkt der Leistungen beim Warenumsatz BGH v. 19.7.2018 – VII ZR 19/18, ZfBR 2018, 775 Rz. 19. 33 Vgl. Sydow/Ziebarth, Europäische Datenschutzgrundverordnung, Rz. 8 m.w.N. 34 Vgl. OLG Brandenburg v. 6.11.2019 – 4 U 123/19, CR 2020, 6 Rz. 44; Grützmacher, CR 2016, 485, 489 m.w.N. 35 Vgl. BGH v. 13.10.2015 – VI ZR 271/14, NJW 2016, 1094 Rz. 20 m.w.N. 36 Vgl. dazu auch OLG Brandenburg v. 6.11.2019 – 4 U 123/19, CR 2020, 6 Rz. 44 unter Verweis auf die NichtRivalität, Nicht-Exklusivität und Nicht-Abnutzbarkeit von Daten. 37 Vgl. BGH v. 13.10.2015 – VI ZR 271/14, NJW 2016, 1094 Rz. 20 m.w.N. 38 Vgl. MünchKomm/Stresemann, § 90 BGB Rz. 25 m.w.N.; offen gelassen für zu gewinnende Werbeadressen OLG Düsseldorf v. 30.7.2004 – 23 U 186/03, juris Rz. 15. 39 Vgl. Überblick zum Stand der Diskussion Grützmacher, CR 2016, 485 ff. 40 Vgl. etwa zum Verkauf von Kundendaten im Asset Deal Plath/Struck/Hazeborg, CR 2020, 9 ff.; Nebel, CR 2016, 417; Beschluss der Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder vom 24.5.2019, https://www.datenschutzkonferenz-online.de/media/dskb/20190524_dskb_asset_deal.pdf.

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BGB § 433 Rz. 19 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag geln des CISG, Art. 1 Abs. 1 CISG, wenn die Parteien keine abweichende Rechtswahl vereinbart haben, Art. 6 CISG. Ohne Ausschluss des CISG führt die Wahl deutschen Sachrechts bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen zur Anwendung des CISG. 20

Die vom Anwendungsbereich erfassten Sachen müssen bei Lieferung beweglich sein. Rechte, Patente, Lizenzen und Sachgesamtheiten (z.B. Unternehmen) werden nicht erfasst. Verkaufte Computerprogramme/Software sind Waren i.S.d. CISG; teils wird auch Know-how dazugerechnet.41 Ausgenommen vom Anwendungsbereich sind Waren für den persönlichen Gebrauch oder den Gebrauch in der Familie oder im Haushalt, es sei denn, dass der Verkäufer vor oder bei Vertragsabschluss weder wusste noch wissen musste, dass die Ware für einen solchen Gebrauch gekauft wurde, Art. 2 Buchst. a CISG. Die Abgrenzung zu sonstigen Vertragstypen erfolgt nach dem jeweils festzustellenden Schwerpunkt der den Vertrag prägenden Leistungspflichten.42 Von den Parteien gewählte Bezeichnungen sind nicht maßgeblich.43 h) Versteigerung

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Die im Rahmen der Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher vorgenommene Versteigerung ist eine öffentlich-rechtliche Maßnahme. Zuschlag und Ablieferung erfolgen hoheitlich, d.h. ein privatrechtlicher Kaufvertrag kommt nicht zustande.44 Das gilt auch für solche Versteigerungen im Internet, § 814 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. §§ 450 f. gelten auch bei öffentlicher Versteigerung und bei freihändigem Verkauf durch Verkaufsbeauftragte nach § 825 ZPO.45 Außerhalb der Zwangsvollstreckung können Versteigerungen aufgrund gesetzlicher Ermächtigung (z.B. Selbsthilfeverkauf, §§ 383, 385; Fundsachenverkauf, §§ 979 ff.; Pfandverkauf, §§ 1228 ff.; Verwertung durch den Insolvenzverwalter, § 159 InsO) oder auf freiwilliger Basis durchgeführt werden. In diesen Fällen kommt ein privatrechtlicher Kaufvertrag mit dem Zuschlag nach § 159 Satz 1 zustande.46 Bei Versteigerungen aufgrund öffentlicher Ermächtigung gelten die §§ 450 f. (s. § 450 Rz. 6). Bei „Versteigerungen“ im Internet außerhalb der Zwangsvollstreckung gelten die allgemeinen Regeln des bürgerlichen Rechts, §§ 145 ff.47 i) Tausch, § 480

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Ein Tauschvertrag liegt vor, wenn die Pflicht zur Zahlung des Kaufpreises durch die Pflicht ersetzt wird, einen sonstigen Vermögenswert (Sache oder Recht) zu verschaffen. Das kann etwa bei der Inzahlungnahme von Vorversionen von Hard- und Software der Fall sein (Schwerpunktbildung). Eine Nebenleistung in Geld ist aber möglich, wenn der Schwerpunkt der geschuldeten Leistung bei der Hingabe des nicht in Geld bestehenden Gegenstandes liegt.48 Vereinbaren die Parteien wechselseitig die Lieferung von Sachen gegen vereinbarte Kaufpreise, liegen auch bei deren Verrechnung Kaufverträge vor.49 Vereinbaren die Parteien die jeweiligen Preise nur im Sinne von Kalkulationsgrundlagen für die Bewertung der wechselseitig zu liefernden Gegenstände, liegt ein Tauschvertrag vor.50

41 Vgl. MünchKomm/Huber, Art. 1 CISG Rz. 19 ff.; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 1151 m.w.N. 42 Vgl. BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rz. 16 = CR 2010, 109 = ITRB 2010, 77; BGH v. 12.3.2009 – III ZR 142/08, NJW 2009, 1738, Rz. 17. 43 Vgl. BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rz. 16 = CR 2010, 109 = ITRB 2010, 77. 44 Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 35; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 240 m.w.N. 45 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 450 BGB Rz. 2; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 240 m.w.N. 46 Vgl. BGH v. 8.11.1991 – V ZR 139/90, NJW 1992, 905. 47 Vgl. BGH v. 7.11.2001 – VIII ZR 13/01, NJW 2002, 363, 364 = CR 2002, 213 m. Anm. Wiebe = ITRB 2002, 53. 48 Vgl. Erman/Grunewald, § 480 BGB Rz. 3 unter Verweis auf BGH NJW 1964, 540; MünchKomm/Westermann, § 480 BGB Rz. 2; Palandt/Weidenkaff, § 480 BGB Rz. 1. 49 Vgl. Erman/Grunewald, § 480 BGB Rz. 2; MünchKomm/Westermann, § 480 BGB Rz. 2. 50 Vgl. Erman/Grunewald, § 480 BGB Rz. 3 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 480 BGB Rz. 1.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 27 § 433 BGB

j) Auftrag, Schenkung (Open Source Software), §§ 662, 516 Für die Schenkung muss abweichend vom Kauf anstelle der Einigung über den Kaufpreis eine Eini- 23 gung über die Unentgeltlichkeit erfolgen, § 516 Abs. 1. Das kann auch teilweise in Form einer gemischten Schenkung erfolgen.51 Entsprechend muss für den Auftrag eine Einigung darüber erfolgen, dass das dem Beauftragten übertragene Geschäft unentgeltlich für den Auftraggeber erledigt wird, § 662. Unentgeltlich überlassene Software spielt im Bereich kommerzieller Softwarenutzung eine grundlegende Rolle. Das geschieht zum einen in Form von Software, für deren weitere Nutzung, Verbreitung und Bearbeitung vollständige Freiheit eingeräumt wird (sog. Public Domain-Software oder auch Freeware).52 Diese Freiheiten werden jedoch auch bei unentgeltlich überlassener Software in verschiedenen Stufen eingeschränkt. So kann der Urheber die eingeräumten Rechte auf die Nutzung, Verbreitung und/oder Bearbeitung beschränken. Im Fall der Shareware erfolgt die Überlassung zunächst zu Testzwecken, um erst nachträglich in einen weitergehenden Lizenzvertrag zu münden.53 Open Source-Software wird vielfältig eingesetzt, unentgeltlich verbreitet und regelmäßig jedem Nutzer mit dem Recht zur Vervielfältigung, Verbreitung und Bearbeitung überlassen.54 Die Gegenleistung besteht in der Pflicht zur Einhaltung sehr unterschiedlich gestalteter Lizenzbedingungen. Abhängig von den jeweiligen Lizenzbedingungen muss der Nutzer beispielsweise bestimmte Nennungspflichten erfüllen, Bearbeitungen bei Verbreitung gleichfalls öffentlich zugänglich machen und/oder die Software und Bearbeitungen in ihrem Zusammenhang nur unter den vorgegebenen Lizenzbedingungen verbreiten (sog. „Copyleft“).

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Es ist zwischen (i) dem Verhältnis zwischen dem Überlassenden und dem Nutzer (z.B. bei Überlassung einer Softwarelösung oder einer Kombination aus Hard- und Software) einerseits und (ii) dem Verhältnis von Softwarehersteller zum Nutzer andererseits zu unterscheiden: Zwischen dem Überlassenden und dem Nutzer liegt bei dauerhafter Überlassung eines umfassenderen Systems (Hardoder auch Software) gegen Vergütung regelmäßig auf schuldrechtlicher Ebene ein Kaufvertrag vor, auch wenn proprietäre Software zusammen mit vorgenannten unentgeltlichen Teilen überlassen werden.55 Daran ändern auch enthaltene flankierende Leistungen grds. nichts. Auf dinglicher Ebene werden Sachen (Hardware) nach §§ 929 ff. übertragen und Nutzungsrechte nach §§ 398 Satz 1, 413 eingeräumt.56

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Erfolgt die Überlassung der unentgeltlichen Software jedoch nicht im Rahmen eines solchen – abwei- 26 chend den Vertragstypus prägenden – Vertrages, so gelten bei Download von einem Server die Regeln des Auftrags, § 662, und bei Überlassung eines Datenträgers Schenkungsregeln (wie im Falle der OpenSource-Software), § 516 Abs. 1.57 Für Open Source Software ist bezogen auf das Verhältnis zwischen Softwarehersteller und Nutzer um- 27 stritten, ob ein zweiseitiger Kausalvertrag als Rechtsgrund für die eingeräumten Nutzungsrechte zustande kommt. Gegen die Begründung eines zweiseitigen Kausalvertrags wird eingewandt, es erscheine lebensfremd, dass der Nutzer mit einer Vielzahl ihm nicht bekannter Urheberrechtsinhaber und diese mit ihm einen schuldrechtlichen Vertrag schließen wollten. Deshalb bilde ein Gefälligkeitsverhältnis den Rechtsgrund für die mit Open Source-Lizenzen eingeräumten Nutzungsrechte.58 Der Nutzer werde wie bei Verträgen über proprietäre Software auch – vorbehaltlich ausdrücklicher Klarstellungen – ausschließlich einen Vertrag mit seinem Vertriebspartner schließen wollen.59 Die beschränkte Rechtseinräumung erfordere zur Durchsetzung der Beschränkungen keinen schuldrecht51 52 53 54 55 56

Vgl. dazu Überblick bei Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 141 m.w.N. Vgl. zur Terminologie auch Marly, Softwarerecht, Rz. 908 ff. m.w.N. Vgl. dazu Marly, Softwarerecht, Rz. 914 ff. m.w.N. Vgl. Jaeger/Metzger, Rz. 126 m.w.N. Vgl. dazu Marly, Softwarerecht, Rz. 932 f. m.w.N.; Jaeger/Metzger, Rz. 256 m.w.N. Vgl. Jaeger/Metzger, Rz. 250, die für die Nutzungsrechte des Nutzers jedoch keine Einräumung von Nutzungsrechten sondern die Berechtigung aus § 69d UrhG als gegeben ansehen, Jaeger/Metzger, Rz. 123 m.w.N. 57 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 933; demgegenüber verweisen Jaeger/Metzger, Rz. 250, allein auf einen Lizenzvertrag mit Elementen der Schenkung. 58 Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 110 m.w.N. 59 Vgl. Witzel, ITRB 2016, 235, 238.

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BGB § 433 Rz. 27 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag lichen Vertrag.60 Im Ergebnis könne die Frage im Verletzungsfall dahinstehen, da die Nutzungsrechte entweder mangels Vertragsschlusses nicht eingeräumt oder wegen wirksam vereinbarter und dann verletzter Bedingungen verloren wurden.61 Für die Begründung eines zweiseitigen Kausalvertrags62 ist hervorzuheben, dass die Abgrenzung der außerrechtlichen Gefälligkeit vom Schuldvertrag anhand der Umstände des Einzelfalls insb. mit Rücksicht auf die wirtschaftliche sowie rechtliche Bedeutung der Angelegenheit für den Begünstigten zu erfolgen hat.63 Der Nutzer ist regelmäßig verpflichtet, (geschäftskritische) IT-Systeme nur mit dafür geeigneten Nutzungsrechten zu betreiben. IT-Anbieter haben Mängelansprüche und Leistungsverweigerungsrechte ihrer Kunden zu befürchten. Aus Sicht der Urheberrechtsinhaber soll die Einräumung der Nutzungsrechte regelmäßig ausdrücklich von der Einhaltung bestimmter Bedingungen abhängen. Dass ein Zwang zur Einhaltung solcher Vorgaben auch mittelbar über dinglich wirkende Bedingungen ausgeübt werden kann, ändert nichts daran, dass auch für Urheberrechtsinhaber wesentliche wirtschaftliche Interessen betroffen sind (nämlich die vergütungslose Hingabe wertvoller Software an eine Open Source Community). Beispielsweise die weit verbreiteten GPL in den Versionen 1 bis 3 bilden gute Beispiele für stark verpflichtende Bedingungen: Nur wer seine Entwicklungen gleichfalls der Allgemeinheit zu entsprechenden Bedingungen zur Verfügung stellt, soll auch in den Genuss der vorbestehenden Arbeitsergebnisse kommen. Es geht also nicht um ein von Unverbindlichkeit geprägtes Gefälligkeitsverhältnis sondern um ein atypisches Austauschverhältnis (Partizipation und Beistellung eigener Entwicklungen gegen Nutzungsmöglichkeit der Vorentwicklungen). Der Softwarehersteller kann und will nicht auf sein Urheberrecht verzichten, § 29 UrhG.64 Vielmehr räumt der Softwarehersteller mit einer an die Allgemeinheit gerichteten Erklärung jedem Anwender ein einfaches Nutzungsrecht i.S.d. § 31 Abs. 2 UrhG ein. Solche unentgeltlichen Rechtseinräumungen sind ausdrücklich gesetzlich zugelassen (Stichwort: „Linux-Klausel“), § 32 Abs. 3 Satz 3 UrhG. Das gilt, soweit der Nutzer anhand der jeweils präsenten Lizenzbedingungen erkennen kann, dass seine Nutzung von der Einhaltung bestimmter Regeln abhängen soll. Seine Verwendung der Software ist Ausdruck der Annahmeerklärung, die dem Softwarehersteller jedoch nicht zugehen muss, § 151 Satz 1. Insoweit kann auch ohne eine ausdrückliche Erklärung in Open Source-Lizenzbedingungen im Wege der Auslegung ein konkludenter Verzicht auf den Zugang der Annahmeerklärung angenommen werden. Auch ein Verweis auf die Verkehrssitte erscheint tragfähig, da das Konzept der Open Source-Lizenzbedingungen auf Kommunikation an die Öffentlichkeit und gerade nicht auf individueller Pflege von Vertragsdokumentationen beruht.65 k) Werkvertrag und Werklieferungsvertrag, § 651 28

Die Abgrenzung zwischen kauf- und werkvertraglichen Regeln hängt davon ab, welche Pflichten nach dem jeweiligen Vertrag im Vordergrund stehen: Die vorrangige Pflicht zur Herstellung einer Sache führt zum Werkvertrag; die Pflicht zur Eigentumsübertragung zum Kaufvertrag66 (s. zur werkvertraglichen Pflicht auch § 631 Rz. 21 ff.). Ist es dem Erwerber egal, ob sein Vertragspartner die Sache selbst herstellt oder sich beschafft, tritt die Herstellungspflicht soweit in den Hintergrund, dass Kaufoder Werkliefervertragsrecht anzuwenden ist.67 Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung ist der Schwerpunkt68 mit Blick auf die Art des zu liefernden Gegenstandes, das Wertverhältnis von gelieferten Gegenständen zu Montageleistungen sowie den Besonderheiten des geschuldeten Ergebnisses zu ermit-

60 Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 110 m.w.N. 61 Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 111 m.w.N. 62 Vgl. dazu Überblick zum Streitstand bei Marly, Softwarerecht, Rz. 934 m.w.N.; auch Jaeger/Metzger, Rz. 177 m.w.N. 63 Vgl. BGH v. 18.12.2008 – IX ZR 12/05, NJW 2009, 1141 Rz. 7 m.w.N. 64 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 934 m.w.N. 65 Vgl. Jaeger/Metzger, Rz. 177 m.w.N. 66 Vgl. zu Einbauküchen BGH v. 7.3.2013 – VII ZR 162/12, NJW 2013, 1431 Rz. 18; zu Fertighäusern BGH v. 22.12.2005 – VII ZR 183/04, NJW 2006, 904 Rz. 12 m.w.N.; Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 20 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 16 m.w.N. 67 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 20; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 16 m.w.N. 68 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, 215.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 30 § 433 BGB

teln.69 Ein vorrangiges Interesse an der Erstellung eines funktionsfähigen Gegenstandes lässt die Lieferung auch erheblich höherwertiger gelieferter Elemente in den Hintergrund treten.70 Abhängig von dieser Gesamtbetrachtung können Pflichten zur Montage und Änderungen am Gegenstand als kaufvertragliche Nebenpflichten, § 434 Abs. 2 (insb. bei Konfigurationsarbeiten an Standardsoftware), oder als Ausdruck der werkvertraglichen Herstellungspflicht anzusehen sein.71 An einer Herstellungspflicht fehlt es insb., soweit der Vertrag aus Sicht des Kunden erkennbar von Dritten hergestellte Gegenstände betrifft (sog. Lieferungskauf; z.B. Lieferung von Standardsoftware von Drittherstellern).72 Für die dauerhafte Überlassung von Software ist die Anwendbarkeit von Kauf- und Werkvertragsrecht 29 anerkannt.73 Software wird als Sache behandelt.74 Die Herstellung von Individualsoftware nach den spezifischen Anforderungen des Erwerbers führt zur Anwendung von Werkvertragsrecht.75 Für die Überlassung von Standardsoftware – auch bezogen auf die spezifischen Anforderungen einer bestimmten Gruppe von Nutzern (z.B. in einem Franchise-System) gilt Kaufrecht.76 Maßgebliches Kriterium für die Anwendung der Kaufregeln ist die Serienfertigung. Ein seriengefertigter Gegenstand verliert seinen Charakter nicht dadurch, dass er auf einen Käufer zugeschnitten wird.77 Dieser Seriencharakter geht jedoch verloren, wenn die Lieferung des Serienprodukts hinter dem vereinbarten Interesse der Erstellung einer funktionsfähigen und für den Vertragszweck geeigneten Systemlösung zurücktritt.78 Konfigurations- und Anpassungsmaßnahmen, die für die Verwender einer Software vielfach erprobt und damit hinreichend zuverlässig sind, sprechen für die kaufvertragliche Einordnung. Davon sind individuelle Anpassungen mit üblicher Fehleranfälligkeit und Stabilitätsproblemen einer Individualentwicklung zu unterscheiden (bezogen auf Funktionsumfang, Stabilität, Zeit und Kosten), die auf einen werkvertraglichen Schwerpunkt der Vereinbarung hindeuten. Hinweise ergeben sich beispielsweise aus erforderlichem Testaufwand in der Zusammenarbeit. Weiter spricht es für die Anwendbarkeit des Werkvertragsrechts, wenn allein der Anbieter rechtlich und/oder zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen in der Lage ist, die Nacherfüllung zu leisten.79 l) Lizenzvertrag Beim Lizenzvertrag räumt der Lizenzgeber dem Erwerber das Recht zur Nutzung des Schutzrechts ein, 30 das aber örtlich, zeitlich und auch funktional beschränkt sein kann. Der Lizenzgeber erlaubt insoweit die Nutzung des nicht an den Lizenznehmer übertragenen Lizenzgegenstandes.80 Da das jeweilige Recht nicht übertragen werden soll, ist kein (Rechts-)Kauf anzunehmen, § 453 Abs. 1.81 Es handelt sich um einen Vertrag sui generis.82 Rechtskauf ist jedoch bezogen auf Immaterialgüterrechte anzunehmen,

69 Vgl. BGH v. 19.7.2018 – VII ZR 19/18, ZfBR 2018, 775 Rz. 19; BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, NJW 2010, 150 Rz. 16 = CR 2010, 109 = ITRB 2010, 77; BGH v. 12.3.2009 – III ZR 142/08, NJW 2009, 1738, Rz. 17. 70 Vgl. zu Fertighäusern BGH v. 22.12.2005 – VII ZR 183/04, NJW 2006, 904 Rz. 14. 71 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 22; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 16; Palandt/ Sprau, Einf. v. § 631 BGB Rz. 6a m.w.N. 72 Vgl. BGH v. 2.4.2014 – VIII ZR 46/13, NJW 2014, 2183 Rz. 18; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 17 m.w.N. 73 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 24 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 18 m.w.N. 74 Vgl. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394 Rz. 15 = ITRB 2007, 55 unter Verweis auf die h.M.; nach Wertungen differenzierend Diedrich, CR 2002, 473, 475. 75 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 24; Überblick zur Abgrenzung Marly, Softwarerecht, Rz. 685 ff. m.w.N.; a.A. wohl Auer-Reinsdorff/Conrad/Conrad/Schneider, § 10 Rz. 63 für den IT- (bzw. Software-)Projektvertrag. 76 Vgl. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394 Rz. 15 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55; Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 24 m.w.N. 77 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 24; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 17 m.w.N. 78 Vgl. zu Fertighäusern BGH v. 22.12.2005 – VII ZR 183/04, NJW 2006, 904 Rz. 14. 79 Vgl. im Ergebnis auch Marly, Softwarerecht, Rz. 685 ff. m.w.N. 80 Vgl. Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 22; Überblick bei Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 185 m.w.N. 81 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 14; Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 22. 82 Vgl. Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 22 m.w.N.

Diedrich

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BGB § 433 Rz. 30 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag wenn das Recht voll oder im wesentlichen Umfang und endgültig übergehen soll.83 Wesentlicher Gesichtspunkt ist insoweit die Möglichkeit des Erwerbers, das eingeräumte Recht an Dritte übertragen oder zur Nutzung überlassen zu dürfen.84 Demgegenüber wird mit dem Lizenzvertrag nur die Nutzung oder Verwertung durch den Lizenznehmer selbst gestattet.85 31

Für die Überlassung von Immaterialgüterrechten sind jedoch auch beim Lizenzvertrag die kaufrechtlichen Gewährleistungsregeln entsprechend anzuwenden.86 Die Überlassung des Lizenzgegenstandes geht auch mit besonderen Pflichten und Sorgfaltsanforderungen im Umgang mit dem Lizenzgegenstand einher, die in Form eines durch Regeln des Pachtvertrages geprägten Dauerschuldverhältnisses vereinbart werden.87 m) Miete, Pacht, §§ 535, 581

32

Bei Miete ist anstelle der Verschaffung einer Eigentümerstellung lediglich die befristete Gebrauchsüberlassung gegen Vergütung geschuldet, § 535.88 Die Befristung muss den Zeitraum der Gebrauchstauglichkeit des überlassenen Gegenstandes unterschreiten (anderenfalls kann wiederum dauerhafte Überlassung und damit Kaufrecht anzunehmen sein).89 Hierher gehören befristetes Outsourcing von Infrastruktur (IaaS), Programmierungs- oder Laufzeitumgebungen (PaaS), von Anwendungssoftware (SaaS) oder auch die Bündelung zusammen mit weiteren Durchführungsleistungen (BPaaS). Beim Cloud Computing werden solche Leistungen auf Basis flexibel verknüpfter Ressourcen erbracht, die teils weltweit verteilt sind.90 n) Kommission, § 383 HGB

33

Der Kommissionsvertrag betrifft ein Dreipersonenverhältnis: Der Kommissionär vereinbart einen Kaufvertrag mit einem dritten Käufer im eigenen Namen aber für Rechnung des Kommittenten, § 383 Abs. 1 HGB. Der Kommittent vereinbart im Kommissionsgeschäft mit dem Kommissionär nach den für Verträge über eine entgeltliche Geschäftsbesorgung geltenden Regeln, § 675, Art, Umfang, Regeln und Vergütung für die Durchführung des Kaufs mit den Dritten. Der Kommissionär erhält eine Provision für seinen Vertriebsversuch. Der Kommittent trägt das Risiko der Verkaufbarkeit.91 Solche Gestaltungen kommen insb. im Systemhausgeschäft und bei konzernintern aufgespaltenen Vertriebs- und Supportmodellen für Standardsoftware vor.

34

Für die Abgrenzung der Kommission vom Kauf durch den vermeintlichen Kommissionär und Weiterverkauf kommt es nicht auf die von den Parteien verwendete Terminologie an.92 Maßgebend ist der Vertragszweck: Für einen Kaufvertrag sprechen der feste Abschluss und die Vereinbarung mindestens objektiv feststellbarer Preise.93 Ein wesentliches Kriterium für einen Kaufvertag kann im Fehlen eines Weisungsrechts des Kommittenten an den Kommissionär liegen.94 Regelmäßig liegt ein Kauf vor,

83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Vgl. Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 22 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 24 m.w.N. Vgl. Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 433 BGB Rz. 22. Vgl. BGH v. 15.6.1951 – I ZR 121/50, NJW 1951, 705, 706; MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 5. Vgl. Palandt/Weidenkaff, Einf. v. § 581 BGB Rz. 7; Überblick bei Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 180 ff. Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 12; MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 22; Staudinger/ Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 142 m.w.N. Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, CR 2015, 711 Rz. 37 = ITRB 2015, 277 – Green-IT – unter Verweis auf EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, GRUR 2012, 904 Rz. 38 bis 49 = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft/ Oracle. Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1121 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 26 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 26; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 175 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 26 m.w.N. Vgl. BGH v. 19.2.1975 – VIII ZR 175/73, NJW 1975, 776, 777.

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Diedrich

Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 39 § 433 BGB

wenn ein Rückgaberecht bei Unverkäuflichkeit ausgeschlossen ist.95 Die Vereinbarung einer Provision spricht für ein Kommissionsgeschäft.96 Abzugrenzen sind auch bedingt abgeschlossene Kaufverträge (auf die Rückgabe der Kaufsache in bestimmter Frist auflösend bedingter Kauf), § 158 Abs. 2. Entsprechend ändern weder vertragliche Rücktrittsrechte noch Wiederkaufspflichten des Verkäufers etwas an der Einordnung als Kaufvertrag.97 o) Darlehen, § 607 Vereinbaren die Parteien eines Kaufvertrags eine Abweichung von der Leistung Zug um Zug, § 320, gewährt die vorleistende Partei der jeweils anderen Partei Kredit (z.B. bei Installation von Standardsoftware zu Projektbeginn mit späterem Zahlungszeitpunkt). Darin liegt jedoch auch im Falle einer Vorleistung des Verkäufers regelmäßig kein Darlehensvertrag nach § 607.98 Vielmehr vereinbaren die Parteien eine Vorleistungspflicht und damit vom gesetzlichen Leitbild abweichende Fälligkeitszeitpunkte, die in einer oder mehreren Raten zu erfüllen sind (Ratenkauf), § 271 Abs. 1.99

35

p) Handelsvertretervertrag/Vertragshändlervertrag/Distributorenvertrag Verpflichtet sich ein selbständiger Gewerbetreibender nicht in eigenem Namen, sondern als Vertreter eines veräußernden Unternehmens, §§ 164 ff., Waren für den Veräußerer zu vertreiben (z.B. über Standardsoftware), so handelt es sich um einen Handelsvertretervertrag, §§ 84 ff. HGB, und im Verhältnis zwischen den jeweiligen dritten Erwerbern und dem Veräußerer um Kaufverträge.

36

Häufig finden sich beim Vertrieb von technischen Lösungen jedoch auch Verträge mit Vertragshändlern. Zwischen Veräußerer und Vertragshändler wird ein Rahmenvertrag eigener Art geschlossen, der den Vertragshändler in unterschiedlicher Weise und Intensität in die Vertriebsorganisation des Veräußerers einbezieht.100 Der Vertragshändler schließt auf Grundlage des Rahmenvertrages eigenständige Kaufverträge über die jeweils zu vertreibenden Gegenstände – einerseits mit dem Veräußerer und andererseits mit dem dritten Erwerber, jeweils im eigenen Namen.101

37

3. Sache (§ 433 Abs. 1 Satz 1) Sachen sind körperliche Gegenstände (bewegliche und unbewegliche Sachen), § 90 BGB. Sonstige Gegenstände unterstellt § 453 entsprechend dem Kaufrecht.102 Rechtskauf ist anzunehmen, wenn nicht die Sache als solche, sondern ein Recht bezogen auf die Sache veräußert werden soll (z.B. das Anwartschaftsrecht), § 453.103

38

Der BGH wendet inzwischen in st. Rspr.104 die Regeln des Sachkaufs auf Standardsoftware an. Da Software stets auf einem Datenträger verkörpert sein müssen, erscheint es – unabhängig von einer Übertragung durch ein Netzwerk oder der Übergabe des Datenträgers – sachgerecht, nicht nur den Datenträger, sondern auch die Software selbst nach den für Sachen geltenden Regeln zu behandeln.105 Die

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95 Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 Rz. 26; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 175 m.w.N. 96 Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 26 m.w.N. 97 Vgl. Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 175 m.w.N. 98 Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 30 m.w.N.; Erman/Grunewald, Vor § 433 BGB Rz. 25 m.N. 99 Vgl. OLG Brandenburg v. 23.11.1994 – 1 U 11/94, NJW-RR 1995, 1517. 100 Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 27 m.w.N. 101 Vgl. MünchKomm/Westermann, Vor § 433 BGB Rz. 27; Staudinger/Beckmann, Vorbem. zu §§ 433 BGB Rz. 177 m.w.N. 102 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 4; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 3; weitergehend zur ausdehnenden Auslegung des Sachbegriffs für die Einordnung von Software Diedrich, CR 2002, 473 ff. 103 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 10. 104 Vgl. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394 Rz. 15 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune = ITRB 2007, 55 unter Verweis auf wiederholte Rspr. und die h.L. 105 Vgl. Überblick zum Stand der Diskussion bei Marly, Softwarerecht, Rz. 715 ff. mit umfangreichen Nachweisen.

Diedrich

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BGB § 433 Rz. 39 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag Diskussion spielt für die Praxis angesichts der höchstrichterlichen Rspr. und der entsprechenden Anwendung des Kaufrechts nach § 453 keine erhebliche Rolle mehr. Maßgeblich für die Anwendbarkeit der Regeln des Sachkaufs ist allein die dauerhafte oder für ihre voraussichtliche Nutzungsdauer ausgelegte Überlassung der Standardsoftware.106 Unter die Regeln des Sachkaufs fällt auch eine aus mehreren Sachen zu einem Leistungsgegenstand zusammengefasste Sachgesamtheit (z.B. bei Systemverträgen, bestehend aus Hardware, Standard- und Individualsoftware; zum Gesamtrücktritt § 440 Rz. 11). Der Kaufvertrag kann sich auch auf künftig erst entstehende Sachen beziehen, wenn sie im Kaufvertrag ausreichend bestimmt sind (z.B. im Falle eines Softwarepflegevertrags mit Lieferpflicht für künftige Standardsoftware-Aktualisierungen; s. zur Bestimmtheit Rz. 9). 4. Übergabe (§ 433 Abs. 1 Satz 1) 40

Der Verkäufer übernimmt es mit dem Kaufvertrag, dem Käufer den unmittelbaren Besitz, § 854,107 an der Kaufsache zu verschaffen, § 433 Abs. 1 Satz 1. Die Pflicht steht im Gegenseitigkeitsverhältnis, §§ 320 ff. Nimmt der Verkäufer erforderliche Übergabehandlungen vor und wirkt der Käufer nicht im erforderlichen Umfang mit, können die Regeln des Annahmeverzuges eingreifen, §§ 293 ff. (z.B. bei Versäumung eines möglichen Downloads von Standardsoftware als Zug-um-Zug-Leistung i.S.d. § 298). Der Kaufvertrag kann als im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Leistungen weitere Anforderungen für die Übergabe vorsehen, z.B. weitere Montagepflichten (Montage von Hardware in Racks, Installation und Konfiguration von Software, erste Tests, Hinterlegung von Source Codes etc.), § 434 Abs. 2.

41

Zur vollständigen Verschaffung der Kaufsache gehören Dokumentationen, die dem Käufer zur umfassenden Nutzung erworbener Hard- und Software verhelfen sollen.108 Dazu genügen zwischenzeitlich nicht nur in Papierform überlassene Handbücher, sondern auch Online-Hilfen, die in Softwarefunktionen integriert oder mit diesen in elektronischer Form überlassen werden. Soll die Übergabe durch Download von Standardsoftware erfolgen, muss der Kaufvertrag das vorsehen. Die Übergabehandlung des Verkäufers besteht dann in der Bereitstellung einer Netzwerkadresse und erforderlicher Informationen, um per Datenfernübertragung eine Kopie der verkauften Software beim Käufer speichern zu können. Dann gehört die Nutzung der bereitgestellten Zugangsmöglichkeiten und der Download selbst zu den vom Käufer zu bewirkenden Annahmeleistungen, § 433 Abs. 2 Alt. 2. Der Verkäufer verantwortet technische Probleme des liefernden Servers und erforderlicher Systeme bis zur Übergabe ins Internet. Fehlfunktionen der Internetverbindung verantwortet gleichfalls der Verkäufer, da es hier um die tatsächliche Besitzverschaffung und nicht den Gefahrübergang geht. Der Käufer trägt die Verantwortung für das Funktionieren der Datenübertragung ab dem Übergabepunkt zwischen Internet und seinem privaten Netzwerk. Besteht zwischen den Parteien eine spezifische Netzwerkverbindung (z.B. über eine Anbindung an das MPLS-Netzwerk des Käufers), so geht die Verantwortung am Übergabepunkt zu diesem Käufer-Netzwerk auf dessen Betreiber über (z.B. dem Übergabepunkt zwischen dem Netzwerk des Verkäufers und dem MPLS-Netzwerk des Käufers). Im Verantwortungsbereich des Verkäufers in die Software eingeschleuste Schadsoftware führt zur Übergabe einer mangelhaften Software.

42

Für die Abgrenzung von Übergabe und Ablieferung i.S.d. § 438 Abs. 2 und § 377 HGB gilt: Die Übergabe erfordert Besitz des Käufers, d.h. sie setzt dessen Mitwirkung (= Annahme) notwendig voraus. Für die Ablieferung genügt ein einseitiger tatsächlicher Akt, durch den der Verkäufer die Sache aus seiner Verfügungsgewalt entlässt und den Käufer in die Lage versetzt, darüber zu verfügen und diese zu prüfen.109 Im Beispiel des Downloads verkaufter Standardsoftware ist die Ablieferung also mit Ein-

106 Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, CR 2015, 711 Rz. 37 = ITRB 2015, 277 – Green-IT – unter Verweis auf EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, GRUR 2012, 904 Rz. 38 bis 49 = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft/ Oracle. 107 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 14 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 13. 108 Vgl. Entscheidung zur Nichterfüllung bei Lieferung von Software ohne erforderliche Benutzerdokumentationen, BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 165/91, NJW 1993, 461, 462 f. m.w.N. = CR 1993, 203; anschließend auch BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2438 m.w.N. = CR 1993, 681. 109 So auch vgl. Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 115 m.w.N.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 47 § 433 BGB

räumung der tatsächlichen Möglichkeit zum Download gegeben bereits gegeben, wohingegen die Übergabe erst mit vollständig beim Käufer gespeicherter Kopie erfolgt ist. 5. Eigentumsverschaffung (§ 433 Abs. 1 Satz 1) Der Verkäufer ist verpflichtet, dem Käufer das Eigentum an der Kaufsache zu verschaffen. Diese Pflicht steht im Gegenseitigkeitsverhältnis, §§ 320 ff. Das Eigentum darf nicht mit Rechtsmängeln belastet sein, § 433 Abs. 1 Satz 2. Weitere Handlungen zum Eigentumserwerb – etwa nach anwendbaren ausländischen Rechtsordnungen – sind geschuldet,110 z.B. zur Registrierung veräußerter Werktitel an einer Software.

43

6. Mangelfreiheit (§ 433 Abs. 1 Satz 2) Der Verkäufer hat die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Pflicht, §§ 320 ff., die Kaufsache frei 44 von Sach-und Rechtsmängeln zu verschaffen, § 433 Abs. 1 Satz 2.111 Vor Gefahrübergang gelten die Regeln des allgemeinen Leistungsstörungsrechts, d.h. der Käufer darf die Annahme mangelhafter Kaufsachen verweigern (s. dazu § 437 Rz. 5).112 7. Weiter vereinbarte Pflichten Im Übrigen ist durch Auslegung, §§ 133, 157, zu ermitteln, welche weiteren Pflichten der Parteien sich aus dem Kaufvertrag ergeben, ob sie im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, §§ 320 ff., und für sie eine Vergütung verlangt werden kann.113 Häufig sind beispielsweise Pflichten zur Installation, Tests, Anfangsunterstützung oder Betreuung von Mitarbeitern/Kunden vereinbart.

45

8. Nebenpflichten des Verkäufers Sind dem Kaufvertrag auch keine konkludent abweichenden Vereinbarungen zu entnehmen, §§ 133, 157 oder 305c Abs. 2, gelten die nach allgemeinen Regeln zu bestimmenden Nebenpflichten.114 Nach seinem Inhalt verpflichtet der Kaufvertrag jede Partei zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der anderen Partei, § 241 Abs. 2. Vorvertraglich werden diese Pflichten nach § 311 Abs. 2 begründet.115 Dazu gehören beispielsweise Pflichten zur Aufklärung, Beratung, Warnung und Bedienungsanleitung (soweit nicht Teil der Leistungspflichten, s. Rz. 41, § 434 Rz. 63 f.), Mitwirkung – jeweils abhängig von den Umständen im Einzelfall.116

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Haftung für Nebenpflichtverletzungen kommt grundsätzlich nur in Betracht, soweit die Mängelhaftung für die Beschaffenheit der Kaufsache nicht eingreift, §§ 437, 439. Dem Verkäufer soll die Nachleistungsmöglichkeit erhalten werden. Damit hängt der Anwendungsbereich für vertragliche Nebenpflichten von der Auslegung des jeweiligen Kaufvertrages und – mangels gesonderter Regelungen – vom Beschaffenheitsbegriff des § 434 Abs. 1 Satz 1 ab (s. zur Abgrenzung von der Mangelhaftung Kommentierung zur Beschaffenheit bei § 434 Rz. 8 ff.). Für die Verletzung von Nebenpflichten bleibt die Haftung aus § 311 Abs. 2 i.V.m. § 280 Abs. 1 und § 241 Abs. 2 BGB (vormals culpa in contrahendo) jedoch neben Gewährleistungsrecht anwendbar, soweit der Verkäufer arglistig täuscht,117 ihm bekannte Mängel pflichtwidrig verschweigt oder Mängel pauschal leugnet.118 Die Schuldrechtsreform hat die

47

110 111 112 113 114 115

Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 18. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 42; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 132. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 23; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 8a m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 24. Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209. Vgl. zur Unterscheidung und dogmatischen Herleitung nach der Schuldrechtsreform Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 f. m.w.N. 116 Vgl. dazu BT-Drucks. 14/6040, 203. 117 Vgl. BGH v. 17.5.1995 – VIII ZR 70/94, NJW 1995, 2160 Rz. 11; zur Definition der Arglist BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21. 118 Vgl. BGH v. 16.12.2009 – VIII ZR 38/09, NJW 2010, 859 Rz. 20.

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BGB § 433 Rz. 47 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag Nebenpflichten zur Auskunft und zur Auslieferung von Beweisurkunden durch die Aufhebung des § 444 a.F. nicht eingeschränkt.119 a) Aushändigung von Schriftstücken 48

Für den Gebrauch der Kaufsache erforderliche Unterlagen muss der Verkäufer herausgeben. Eine Nebenpflicht zur Aushändigung von Urkunden ist jedoch grundsätzlich nur dann gegeben, wenn sie sich zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Besitz des Verkäufers befinden.120 Nicht Nebenpflichten, sondern Mängelrechte betrifft es jedoch, wenn erforderliche Dokumentationen fehlen oder mangelhaft sind. Grundsätzlich sind Schriftstücke herauszugeben, die als Beweis des Eigentums an der Sache/ beim Rechtskauf als Beweis des Rechts dienen.121 Beim Verkauf personenbezogener Daten gehören dazu Dokumentationen, die nach den jeweils anwendbaren Regeln den Nachweis des rechtmäßigen vertragsgemäßen Gebrauchs erlauben (z.B. nach der Rechenschaftspflicht des Art. 5 Abs. 2 DSGVO). Soweit Unterlagen eine wesentliche rechtliche Voraussetzung für den Gebrauch des Kaufgegenstandes oder zum Nachweis der Rechtmäßigkeit des Gebrauches bilden, sind sie herauszugeben. Anerkannt sind insoweit genehmigte Baupläne oder Kfz-Briefe.122

49

Die Nachweise zur Rechtekette für Software und die Unbrauchbarmachung sonstiger Kopien muss der Veräußerer dem Zweiterwerber im Falle eines Streits mit dem Rechteinhaber beibringen. Zwar mag der Verkäufer an Geheimhaltung interessiert sein. Zur vertragsgemäßen Nutzung gekaufter Software sind die Nachweise aber essentiell. Der Käufer ist insoweit auf die Unterstützung des Verkäufers angewiesen, der allein über erforderliche Sachkunde und Informationen verfügt.123 b) Informationspflichten/Beratung

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Informations- und Beratungspflichten können sich aus dem Kaufvertrag124 oder aus einem selbständigen Beratungsvertrag ergeben, § 241 Abs. 2 (s. § 311 Rz. 8 f.).125 aa) Kaufvertragliche Aufklärungs-/Beratungspflichten

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Es besteht keine allgemeine Pflicht des Verkäufers zur Information über den Kaufgegenstand. Der Verkäufer muss jedoch die Fragen des Käufers richtig und vollständig beantworten.126 Der Verkäufer haftet auch für die Richtigkeit solcher Angaben nach allgemeinen Regeln, zu denen er nicht verpflichtet ist.127 Aufklärungs- und Beratungspflichten können sich im Einzelfall ergeben, soweit (i) Umstände bei den Verhandlungen für den Käufer von wesentlicher Bedeutung sind oder den vom Käufer verfolgten Vertragszweck vereiteln können und (ii) der Verkäufer dies erkennen kann. Die Pflichten des Verkäufers greifen dann ein, wenn die Aufklärung und Information nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Vertragsanschauung redlicherweise erwartet werden durfte.128

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Bei der Beurteilung im Einzelfall ist das Verhältnis der Kenntnisse und Fähigkeiten zwischen Verkäufer und Käufer maßgeblich. Abhängig vom Wissensgefälle und der Bedeutung der Information stei119 120 121 122 123 124 125 126

So BT-Drucks. 14/6040, 203. Vgl. OLG Hamm v. 30.9.1999 – 22 U 88/99, NJW-RR 2000, 867, 868. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 37 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 26. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 37 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 26. Vgl. Überblick bei Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 217 m.w.N. Vgl. BGH v. 1.2.2013 – V ZR 72/11, NJW 2013, 1807 Rz. 12 m.w.N. Vgl. dazu Überblick bei Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 ff. und 277 ff. Vgl. BGH v. 16.3.2012 – V ZR 18/11, NJW-RR 2012, 1078 Rz. 28 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 29 m.w.N. 127 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 29; Palandt/Sprau, § 675 BGB Rz. 51 m.w.N. 128 Vgl. BGH v. 1.2.2013 – V ZR 72/11, NJW 2013, 1807 Rz. 8 m.w.N.; vgl. auch umfangreiche Verweise bei Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 447; überraschend eng im wettbewerbsrechtlichen Zusammenhang OLG Köln v. 30.10.2019 – 6 U 100/19, GRUR-RR 2020, 32 Rz. 55 ff. für das Fehlen einer Informationspflicht bzgl. Sicherheitslücken bei veralteten Smartphones, obwohl ausdrücklich die große Bedeutung von Sicherheitslücken für die Verletzung der Privatsphäre des Nutzers und das Risiko massiver Schädigungen druch betrügerische Eingriffe festgestellt wird, Rz. 58.

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Diedrich

Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 56 § 433 BGB

gen die Aufklärungs- und Beratungspflichten des Verkäufers.129 Aufklärungs- und Beratungspflichten bestehen jedoch nicht, soweit der Käufer die Umstände kennt oder nach den Gesamtumständen kennen müsste. Sind für den Käufer z.B. nur Spuren eines Mangels erkennbar, ohne dass ein tragfähiger Rückschluss auf Art und Umfang des Mangels möglich wäre, so muss der Verkäufer gemäß seinem Kenntnisstand aufklären und darf sein konkretes Wissen nicht zurückhalten.130 Bei im Rahmen einer Besichtigung für den Käufer ohne weiteres erkennbaren Mängeln besteht regel- 53 mäßig keine Offenbarungspflicht, weil der Käufer diese bei Beachtung der im eigenen Interesse gebotenen Sorgfalt selbst erkennen kann.131 Durch die Übergabe von Unterlagen kommt der Verkäufer seiner Aufklärungspflicht nur dann nach, wenn er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur als allgemeine Information, sondern auch bezogen auf die fraglichen Gesichtspunkte durchsehen wird.132 Der Verkäufer kann sich seiner Pflichten also nicht durch Zugänglichmachung weitgehender Dokumentenkonvolute entledigen (z.B. durch umfassende Sammlungen elektronischer Kopien, dokumentierten Zugriff auf Kollaborationsplattformen etc.). Entsprechend kann der Verkäufer durch Zugänglichmachung einer Testversion der Software nur dann die berechtigte Erwartung haben, dass der Käufer Mängel erkennt, wenn nach den Umständen eine entsprechende Prüfung und Kenntnis des Mangels der Testsoftware zu erwarten ist. Hat der Verkäufer Bedenken gegen die uneingeschränkte Eignung der Kaufsache, sind ihm Mängel 54 bekannt, die er bis zur Lieferung nicht beseitigen kann oder will oder liegen konkrete Anhaltspunkte in dieser Richtung vor, so muss er dies dem Käufer offenlegen oder seine Zweifel durch Rückfrage beim Hersteller ausräumen, soweit es sich nicht nur um unerhebliche Mängel handelt.133 Pauschale Hinweise genügen nicht (z.B. Hinweise, dass Software niemals fehlerfrei sei). Der Verkäufer haftet nicht, soweit er seine fehlende Kompetenz offenlegt und erkennbar lediglich die Auskunft eines Dritten, z.B. des Herstellers einer Standardsoftware, weitergibt. Dann obliegt es dem Käufer, (i) vom Kauf Abstand zu nehmen, (ii) den Sachverhalt aufzuklären oder (iii) das Risiko zu akzeptieren. Auch für IT-Kaufverträge müssen jeweils folgende Prüfungspunkte erfüllt werden, um eine Aufklärungs- und Beratungspflicht zu bejahen (zu den Grundlagen s. § 311 Rz. 8 ff.): (1) Bestehen eines Wissensgefälles Notwendige Voraussetzung ist zunächst die Überlegenheit des Verkäuferwissens bezogen auf jeweils maßgebliche Informationen.134 Das kann auch vorliegen, wenn der Käufer – etwa durch die Experten seiner hochqualifizierten IT-Abteilung – bezogen auf sonstige Gegenstände über mindestens gleichwertiges Wissen verfügt.135 So kann ein Wissensgefälle beispielsweise für den Anwendungsbetrieb einer Software auszuschließen sein, während bezogen auf den Erwerb eines Ersatzprodukts überlegenes Wissen des Verkäufers anzunehmen ist. Der Käufer hat häufig weder erforderliche Vorinformationen noch die Testzeit, um selbst bei einschlägigen Vorerfahrungen die Überlegenheit des Verkäufer-Wissens auszugleichen.136 Das Wissensgefälle des Verkäufers kann sich insb. aus seiner speziellen Kenntnis bzgl. des Aufbaus und Einsatzes verkaufter Hard- und Software ergeben. Z.B. sind die Erfahrungen aus etlichen ähnlich gelagerten Softwareeinführungsprojekten oder einer bestehenden Nutzerbasis (z.B. über Unterstützungspersonal für Betriebsunterstützungsleistungen) regelmäßig geeignet, überlegenes Wissen des Verkäufers bezogen auf Stärken und Schwächen einer Softwarelösung und deren Implementierung anzunehmen.

55

Es genügt, wenn im Rahmen der vertraglichen Sonderbeziehung vom Verkäufer – berechtigt oder unberechtigt – der Eindruck eines solchen Wissensgefälles verursacht wurde (z.B. durch Werbung

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129 Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 124a; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 455 m.w.N. 130 Vgl. BGH v. 16.3.2012 – V ZR 18/11, NJW-RR 2012, 1078 Rz. 22; vgl. auch Überblick zur Systematik bei Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209 ff. m.w.N. 131 Vgl. BGH v. 16.3.2012 – V ZR 18/11, NJW-RR 2012, 1078 Rz. 21. 132 Vgl. BGH v. 11.11.2011 – V ZR 245/10, DNotZ 2012, 525 Rz. 7; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 27. 133 Vgl. BGH v. 19.6.2013 – VIII ZR 183/12, NJW 2014, 212 Rz. 23 ff.; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 28. 134 Vgl. BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, NJW 1984, 2938; Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210 m.w.N. 135 Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210 m.w.N. 136 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1210 m.w.N.

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BGB § 433 Rz. 56 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag mit besonderer Kompetenz).137 Benötigt der Verkäufer bestimmte Kenntnisse, so kann er verpflichtet sein, den Käufer darüber zu informieren (z.B. bei zentraler Bedeutung der Informationen für eine vereinbarte Montage).138 (2) Erkennbarkeit eines Wissensgefälles für den Verkäufer 57

Das Bestehen von Aufklärungs- und Beratungspflichten setzt zusätzlich die Erkennbarkeit des Wissensgefälles für den Verkäufer voraus. Vorvertraglich ist damit an den Zeitpunkt der Kenntnis des Verkäufers anzuknüpfen.139 Bei einem IT-Anbieter liegt es regelmäßig nahe, einen Anscheinsbeweis dafür gelten zu lassen, dass der IT-Anbieter erkanntermaßen bezogen auf die spezifischen Beschaffenheiten, Anforderungen, Betriebsbedingungen und Inkompatibilitäten überlegenes Wissen hat (z.B. bezogen auf regelmäßig auftretende Störungen, in FAQs dokumentierte Umgehungsnotwendigkeiten etc.).140

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Für günstigere Wettbewerbsangebote ist zu differenzieren: Hat der Kunde die Möglichkeit, sich über die Preise ähnlicher IT-Verträge im Wettbewerb zu informieren, so trifft den Verkäufer keine Pflicht, den Käufer auf ein günstigeres Wettbewerbsangebot hinzuweisen.141 Eine Aufklärungs- und Beratungspflicht ist jedoch anzunehmen, wenn der Verkäufer trotz Wissensgefälle und dessen Erkennbarkeit auf eine äquivalente Möglichkeit zur günstigeren Lösung nicht hinweist, z.B. durch Verkauf eines sehr leistungsstarken Softwaremoduls, obwohl für die Zwecke des Käufers die erheblich günstigere Basisversion der Software ebenso geeignet wäre.142 Nach ausreichender Beratung liegt die Verantwortung auch für wirtschaftlich unvernünftige Entscheidungen jedoch beim Käufer.143

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Bei Kaufverträgen kann der Verkäufer im Sinne einer Nebenpflicht auch nach Vertragsschluss zur Anleitung des Personals des Käufers verpflichtet sein, soweit es um von der Kaufsache ausgehende und vom Käufer nicht zu erwartende Gefahren geht.144 Dem lässt sich auch nicht generell die zwischenzeitlich gestiegene oder mindestens zu erwartende Kompetenz von IT-Nutzern entgegenhalten.145 Vielmehr können auch heute noch – auch bei Erwerb durch eine qualifizierte IT-Abteilung – Anleitungspflichten bzgl. der äußerst vielfältigen und technisch komplexen IT-Lösungen eingreifen. Eine Pflicht des Verkäufers zur Information über den Quellcode überlassener Software und dessen Arbeitsweise besteht jedoch nur bei entsprechenden Vereinbarungen.146 (3) Entscheidungserheblichkeit für den Käufer

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Auch erkennbares Wissensgefälle ist i.E. irrelevant, wenn sich für den Käufer im Falle der rechtzeitigen Information keine Änderung ergeben hätte.147 Kann der Verkäufer gegen einen Schadensersatzanspruch einwenden, dass der Kauf auch bei rechtzeitiger Aufklärung stattgefunden hätte, ist die Pflichtverletzung unerheblich. Jedoch ist zu vermuten, dass der Käufer sich beratungsgerecht verhalten hätte, sofern bei pflichtgemäßer Information nur eine einzige vernünftige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte.148 137 138 139 140 141

142 143 144 145 146 147 148

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Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 211 m.w.N. Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210. Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 210. Vgl. Staudinger/Olzen, § 433 BGB Rz. 137 f. m.w.N. Vgl. BGH v. 13.7.1983 – VIII ZR 142/82, NJW 1983, 2493, 2494: Wegen widerstreitender Interessen bestehe beim Kaufvertrag grds. keine Rechtspflicht des Verkäufers, den Käufer von sich aus über alle Umstände aufzuklären, die für dessen Vertragsentschluss von Bedeutung sein könnten; solche Aufklärungspflichten seien nur anzunehmen, wenn es sich erkennbar um zum Kaufvertrag bestimmende Umstände handele (keine Aufklärungspflicht bzgl. der Senkung des Herstellerlistenpreises). Vgl. OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, NJW 1994, 1355; in diesem Sinne auch Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 213 m.w.N. Vgl. OLG Hamm v. 23.11.1988 – 31 U 63/88, CR 1989, 498. Vgl. BGH v. 10.11.1982 – VIII ZR 156/81, NJW 1983, 392, allerdings mit ausdrücklicher Parteivereinbarung; vgl. auch Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 31 m.w.N. Vgl. in dieser Hinsicht Kilian/Heussen/Moritz, Kap. 30 Rz. 21. Vgl. OLG München v. 16.7.1991 – 25 U 2586/91, CR 1992, 208, 209. Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 146; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 452 m.w.N. Vgl. BGH v. 10.5.2012 – IX ZR 125/10, NJW 2012, 2435 Rz. 36 m.w.N.

Diedrich

Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 64 § 433 BGB

(4) Schutzwürdigkeit des Käufers Beratungspflichten können zu verneinen sein, wenn ein schutzwürdiges Interesse des Verkäufers da- 61 gegen spricht, seine Pflicht bezogen auf ihm besonders vorbehaltene Informationen anzunehmen (z.B. mit Blick auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse).149 Nach den Umständen des Einzelfalls sind das berechtigte Interesse an Gewinnstreben gegen eine Pflicht zur Wahrung der Interessen der Gegenpartei abzuwägen, insb. mit Blick auf die wechselseitig erkennbaren Erfahrungen und Kenntnismängel der Parteien.150 (5) Abwägung der Risikoverteilung Durch eine Prüfung der Zumutbarkeit im Rahmen einer Abwägung der Interessen des Verkäufers mit denen des Käufers sind insb. Art und Umfang der geschuldeten Aufklärung und Beratung festzulegen.151 Aufgrund der gegenläufigen Interessen darf der Käufer jedoch nicht erwarten, vom Verkäufer über alle ungünstigen Eigenschaften der Kaufsache informiert zu werden.152

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Anhaltspunkte für die Abwägung können auch aus den Grundsätzen der ökonomischen Analyse des Rechts hergeleitet werden: Bei wirtschaftlicher Abwägung der beteiligten Interessen erscheint es sachgerecht, demjenigen die Kosten zur Vermeidung eines Risikos aufzubürden, der es mit den niedrigsten Kosten vermeiden kann (cheapest cost avoider).153 Beispielsweise sollte der Verkäufer einer Standardsoftware den Aufwand tragen, der mit der Information über zu erwartende Betriebsstörungen verbunden ist (z.B. für die Beobachtung von Internet-Gesprächsforen oder systematische Aufarbeitung von Meldungen einer Kunden-Hotline). Dieser Aufwand lässt sich über den Kaufpreis und etwaige Softwarepflegevergütungen auf sämtliche Käufer der Software verteilen. Demgegenüber erschiene es wirtschaftlich unsinnig, dass jeder Käufer für sich im Wesentlichen identischen Informationsaufwand betreibt. Entsprechend sollte der Verkäufer aufklären und beraten müssen, soweit er aus fehlenden Informationen resultierende Risiken am preiswertesten versichern kann (cheapest insurer).154

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(6) Beispiele Abhängig von den Umständen des Einzelfalls sind Aufklärungs- und Beratungspflichten z.B. für folgende Anwendungsfälle im Zusammenhang mit IT-Verträgen relevant:155 Anforderungen an die Integration in bestehende IT-Systeme;156 Kompatibilitätsprobleme (z.B. im Zusammenhang mit der Implementierung von Open Source Software), Kapazitätsprobleme;157 Modellwechsel bei der Kaufsache, Umsetzungshindernisse bei Kundenwünschen, Kosten und Folgekosten der Vereinbarung;158 Verwendungsrisiken bezogen auf Mitbestimmungspflichtigkeit, Datenschutz etc.;159 günstigere Umsetzungs-

149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159

Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 136 f. m.w.N.; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 453 m.w.N. Vgl. BGH v. 25.3.2009 – XII ZR 117/07, NJW-RR 2009, 1101 Rz. 12 m.w.N. Vgl. Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 212 m.w.N. Vgl. BGH v. 14.3.2003 – V ZR 308/02, NJW 2003, 1811, 1812; MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 131 ff.; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 465 m.w.N. Vgl. dazu auch MünchKomm/Oetker, § 249 BGB Rz. 12 f. und MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 48, jeweils m.w.N. Vgl. dazu im Zusammenhang mit Abwägungen zur AGB-Kontrolle MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 45 m.w.N. Vgl. Überblick bei Schuster/Hunzinger, CR 2015, 209, 212 m.w.N. Vgl. OLG Frankfurt v. 15.6.1988 – 13 U 151/87, CR 1990, 127, 130, i.E. eine Hinweispflicht verneinend; eine solche solle aber auch über den Verantwortungsbereich der beauftragten Programmierung hinaus bestehen, wenn der Beklagte die Fehlerquelle frühzeitig erkannt und geschwiegen hätte. Vgl. OLG Karlsruhe v. 30.9.1994 – 15 U 89/94, CR 1995, 397, 398, das Kapazitätsprobleme bzgl. des HDDSpeicherplatzes unter Verweis auf unterbliebene Hinweise des Softwareanbieters als Werkmängel eingeordnet hat. Vgl. OLG Köln v. 21.2.1992 – 19 U 220/91, CR 1992, 468, 469, das eine Beratungspflicht des IT-Anbieters zur günstigen Einsatzmöglichkeit ihres Produkts grds. bejaht, eine Haftung aus pVV dann aber verneint, weil eine Beratung mangels konkreter Kundenvorstellungen noch nicht möglich war. Vgl. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 870 f. m.w.N.

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BGB § 433 Rz. 64 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag möglichkeiten;160 Einstellung von Softwareaktualisierungen161 (für Prüf- und Hinweispflichten im Zusammenhang mit Funktionsmängeln s. § 434 Rz. 45). 65

Für das Bestehen von Aufklärungs- und Beratungspflichten sprechen: ein übliche Geschäftsrisiken überschreitender Verstoß gegen Fairness am Markt;162 eine besondere Nähe der Parteien eines Schuldverhältnisses, z.B. in auf gewisse Dauer angelegten Verhältnissen, in denen nicht der Interessengegensatz sondern die Kooperation zwischen den Parteien besonders ausgeprägt ist;163 IT-Projekte werden teils in die Nähe von Gesellschaftsverhältnissen gerückt, weil angesichts der verwobenen Aktivitäten das gemeinsame Interesse im Vordergrund steht;164 das Schaffen oder Erhöhen einer Gefahr für den Käufer;165 gesteigerte Eigeninitiative des Verkäufers durch Überreden zum Kauf. Gegen das Bestehen von Aufklärungs- und Beratungspflichten sprechen: das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit mit Blick auf eine resultierende Haftung;166 eigenes Fehlverhalten, das einen Schadensersatzanspruch begründet.167 bb) Selbständiger Beratungsvertrag

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Ein selbständiger Beratungsvertrag kann neben dem Kaufvertrag eine umfassende Beratungspflicht des Verkäufers ggü. dem Käufer begründen.168 Das schließt alle tatsächlichen Umstände ein, die für den Kaufentschluss des Käufers von wesentlicher Bedeutung sind oder sein können.169 Ob die Vertragsparteien neben dem Kaufvertrag einen solchen Beratungsvertrag vereinbaren wollten, ist anhand der Gesamtumstände zu ermitteln, §§ 133, 157. Es gelten sehr restriktive Maßstäbe. Regelmäßig handelt es sich nur um übliche Absatzbemühungen des Verkäufers. Ausnahmen gelten nur, wenn die Beratung des Verkäufers ausdrücklich erfolgt, eingehend ist und auch für den Verkäufer erkennbar ist, dass sich der Käufer auf die Beratung verlässt.170 Hinweise für einen solchen selbständigen Beratungsvertrag kann ein besonderer Wissensvorsprung des Verkäufers, eine besonders intensive Beratung und deren erkennbare besondere (wirtschaftliche) Bedeutung für das Gesamtgeschäft sein.171

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Für eine großzügigere Annahme eines selbständigen Beratungsvertrages wird teils auf ein Urteil des AG Maulbronn verwiesen.172 Das AG Maulbronn hatte im Hinweis des Verkäufers, „für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen“, eine nach Vertragsschluss bestehende Verpflichtung zu erheblich weitergehender, kostenloser Beratung beim Softwarekauf gesehen.173 Nach den erkennbaren Umständen geht das jedoch am objektiven Erklärungsinhalt der Erklärung vorbei. Diese wäre mit Rücksicht auf die Verkehrssitte eher im Sinne einer allgemeinen Schlussformel für ein Kundenschreiben zu interpretieren. Allerdings begründet auch das erkennende AG Maulbronn die Entscheidung für eine neben dem Kaufvertrag begründete weitergehende Beratungspflicht zusätzlich mit ca. fünf kostenfrei erteilten telefonischen Beratungen sowie dem Ergebnis einer Beweisaufnahme, nach der nur exzessive Beratung unabhängig von vorher gelieferter Software separat zu vergüten sei.174 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174

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Vgl. OLG Köln v. 22.10.1993 – 19 U 62/93, NJW 1994, 1355 = CR 1994, 212. Vgl. OLG München v. 30.4.2009 – 6 U 268/08, OLGReport Koblenz 2009, 719 Rz. 15. Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 131; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 454 m.w.N. Vgl. BGH v. 30.11.1978 – II ZR 66/78, NJW 1980, 44; vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 140 ff.; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 455 m.w.N. Vgl. Bartsch, CR 2000, 3, 10 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 144; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 455 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 136 f.; Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 454 m.w.N. Vgl. Staudinger/Olzen, § 241 BGB Rz. 454 m.w.N., der auf Ausnahmen für die in speziellen Vertrauensverhältnissen hergeleitete Aufklärungspflichten für Ärzte und Rechtsanwälte hinweist. Vgl. BGH v. 30.3.2007 – V ZR 89/06, BB 2007, 1077, wo die Möglichkeit einer Freistellung des Käufers von den Pflichten aus dem Kaufvertrag gegen Rückübertragung der Kaufsache wegen Verletzung eines selbständigen Beratungsvertrags ausgeführt wird. Vgl. BGH v. 14.1.2005 – V ZR 260/03, WuM 2005, 205 Rz. 18. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 30; MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 55; allgemein Palandt/ Sprau, § 675 BGB Rz. 36 m.w.N. Vgl. BGH v. 16.6.2004 – VIII ZR 258/03, NJOZ 2004, 2607, 2609, unter Verweis auf st. Rspr. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 24. Vgl. AG Maulbronn v. 27.5.1993 – I C 633/92, NJW-RR 1994, 1077; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 24. Vgl. AG Maulbronn v. 27.5.1993 – I C 633/92, NJW-RR 1994, 1077.

Diedrich

Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 70 § 433 BGB

Ein selbständiger Beratungsvertrag zwischen Verkäufer und Käufer kann auch durch einen Vermitt- 68 ler geschlossen werden, wenn die Vermittlung des Kaufvertrags und die Aufgabe der Beratung des Kaufinteressenten dem Dritten überlassen wird (z.B. beim Vertrieb von Standardsoftware mit unmittelbaren Lizenzverträgen des Kunden zum Softwarehersteller). Das Bestehen und der Umfang der Außenvollmacht des Vermittlers hängen davon ab, ob bzw. mit welchem Umfang der Käufer bei objektivierter Betrachtung den Umständen eine solche Vollmacht entnehmen darf. Beauftragt der Käufer seinerseits den Vermittler nicht, so sind an die konkludent zu erteilende Außenvollmacht keine strengen Anforderungen zu stellen.175 Verzichtet der Verkäufer auf jeglichen Kontakt mit dem Käufer und überlässt er dem Vermittler die Vertragsverhandlungen bis zur Abschlussreife, darf der Käufer bei verständiger Würdigung davon ausgehen, dass der Vermittler bei der Beratung auch namens und in Vollmacht des Verkäufers handelt.176 Der Vermittler kann sowohl im eigenen als auch im Namen des Verkäufers handeln, § 311 Abs. 3.177 c) Rechnungserteilung Soweit anwendbar, ist der Verkäufer verpflichtet, die Umsatzsteuer auszuweisen, § 14 Abs. 4 Nr. 8 UStG.178 Der Verkäufer darf die Ausstellung der geschuldeten Rechnung nicht von einer Nachzahlung des Käufers für den Fall irrtümlich nicht berücksichtigter Umsatzsteuer abhängig machen (str.).179

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d) Untersuchungspflichten Regelmäßig schuldet der Verkäufer keine Prüfung des Kaufgegenstandes.180 Mit der Pflicht zur man- 70 gelfreien Lieferung der Kaufsache, § 433 Abs. 1 Satz 2, wollte der Gesetzgeber keine generelle Untersuchungspflicht begründen.181 Damit sind die Pflichten des Verkäufers grundsätzlich auf eine fachmännische äußere Besichtigung reduziert und gehen nur bei konkreten Anhaltspunkten für Mängel darüber hinaus.182 Aus der Rügeobliegenheit des § 377 HGB im Verhältnis des Verkäufers zu seinem Lieferanten ergibt sich keine Untersuchungspflicht des Verkäufers ggü. dem Käufer.183 Herstellerverschulden muss sich der Verkäufer grds. nicht zurechnen lassen.184 Nur ausnahmsweise kann eine Untersuchungspflicht des gewerblichen Verkäufers individueller Gegenstände nach den Umständen des Einzelfalls anzunehmen sein, beispielsweise wenn es sich um besonders hochwertige oder fehleranfällige Produkte handelt, wenn der Verkäufer besondere Sachkunde in Anspruch nimmt oder eigene Experten für Pflege und Unterstützungsleistungen beschäftigt. Auch dabei ist zu berücksichtigen, wer von den Parteien eher in der Lage ist, eine qualifizierte Untersuchung vorzunehmen und wie gravierend und häufig das Risiko ist.185 Zeigen sich bei der gebotenen fachmännischen äußeren Besichtigung Hinweise auf verborgene Mängel, kann dies den Verkäufer zu weiteren Nachforschungen mit Blick auf die für den vorgesehenen und mitgeteilten Verwendungszweck wesentlichen Eigenschaften verpflichten.186 Der gewerbliche Verkäufer von Massenartikeln und der private Verkäufer sind jedoch nicht zur Untersuchung verpflichtet. Jedoch können Importeure, die in großer Stückzahl technische Geräte

175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186

Vgl. BGH v. 19.12.2014 – V ZR 194/13, NJW 2015, 1510 Rz. 9. Vgl. BGH v. 19.12.2014 – V ZR 194/13, NJW 2015, 1510 Rz. 9 ff., 11. Vgl. BGH v. 19.12.2014 – V ZR 194/13, NJW 2015, 1510 Rz. 10. Vgl. BGH v. 24.2.1988 – VIII ZR 64/87, NJW 1988, 2042; vgl. auch Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 32; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 100 m.w.N. Vgl. BGH v. 24.2.1988 – VIII ZR 64/87, NJW 1988, 2042. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 30; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 147 m.w.N. Diese Frage sollte gerade der Rechtspraxis überlassen werden, vgl. BT-Drucks. 14/6040, 210. Vgl. BGH v. 15.4.2015 – VIII ZR 80/14, NJW 2015, 1669 Rz. 14 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 33; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 31. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 33 m.w.N.; a.A. wohl OLG Stuttgart v. 16.6.2009 – 12 U 206/08, NJWRR 2010, 933, 933, das für anlassbezogene Untersuchungspflichten des Käufers mit den im Zusammenhang mit § 377 HGB grundlegenden Interessen an kurzfristiger Klarheit über das Kaufgeschäft argumentiert. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 29; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 147 m.w.N. Vgl. Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 147 m.w.N. Vgl. BGH v. 11.6.1979 – VIII ZR 224/78, NJW 1979, 1886, 1887 m.w.N.; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 147 m.w.N.; BGH v. 16.6.2004 – VIII ZR 303/03, NJW 2004, 2301, 2302.

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BGB § 433 Rz. 70 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag in die EU einführen, zu einer Prüfung der Vereinbarkeit mit dem anerkannten Stand der Technik verpflichtet sein.187 71

Der Zwischenhändler ist grundsätzlich nicht zur Untersuchung verpflichtet, falls er nicht besondere Umstände kennt, die eine Prüfung geboten erscheinen lassen. Erfährt der Händler jedoch, dass von verkauften Produkten Gefahren ausgehen, so muss er beim Produzenten nachfragen.188 e) Verpackungspflichten

72

Den Verkäufer trifft vorbehaltlich besonderer Regelungen die Pflicht zum Schutz der Kaufsache und damit auch zur erforderlichen Verpackung.189 Handelt es sich nicht um einen Sachmangel wegen schlechter Verpackung (s. § 434 Rz. 12), so trifft den Verkäufer die Nebenpflicht, die Kaufsache für den erforderlichen Transport so zu verpacken, dass ihre Beschädigung bei normalem Ablauf verhindert wird.190 f) Rücknahmepflichten

73

Für Hardware gelten teils Pflichten des Verkäufers zur (regelmäßig unentgeltlichen) Rücknahme von Kaufsachen: Der Hersteller und Vertreiber von Batterien und Elektrogeräten muss diese zurücknehmen, §§ 5, 9 BattG, 16 ff. ElektroG. g) Schutzpflichten/Pflicht zur Rücksichtnahme

74

Der Verkäufer ist verpflichtet, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Käufers Rücksicht zu nehmen, § 241 Abs. 2. Die unberechtigte Geltendmachung von Ansprüchen und Rechten (nicht geschuldete Leistung/Ausübung eines Gestaltungsrechts) stellt einen Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 dar. Ein Schadensersatzanspruch besteht aber nur dann, wenn die unberechtigt fordernde Vertragspartei sich nicht damit entlasten kann, dass sie die Rechtsposition als plausibel ansehen durfte, § 280 Abs. 1 Satz 2.191 Dafür ist nur eine Plausibilitätskontrolle erforderlich, ob die Vertragsstörung auf eine Ursache zurückzuführen ist, die dem eigenen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist. Lässt sich das plausibel verneinen oder bleibt es ungewiss, handelt die fordernde Vertragspartei nicht schuldhaft.192 Ausreichende Ungewissheit ergibt sich regelmäßig bereits aus der Schwierigkeit, im Zusammenwirken verschiedener IT-Systeme und Komponenten sicher eine Ursache zuzuordnen (z.B. Datenübertragung, Datenqualität, Softwaresystemstandard, Einstellungen, Individualprogrammierung etc).

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Zu den Schutzpflichten gehört auch die Nebenpflicht zur Aufklärung und Warnung, sollten vom verkauften Produkt nach Vertragsschluss Gefahren für den Käufer ausgehen (s. dazu auch Kommentierung zu Informationspflichten bei Rz. 65.193 Grundsätzlich schuldet der Verkäufer keine Belehrung über die Rechtslage. Das schließt jedoch eine Pflicht in speziellen Fällen nicht aus.194 Insb. kann der Verkäufer verpflichtet sein, mit erforderlichen Nachweisen zu unterstützen (s. zum Nachweis der Rechtekette Rz. 48 f. zur Aushändigung von Schriftstücken).195 Der Verkäufer ist nicht nur zur Verschaffung der Sache, sondern auch zu allen weiteren Maßnahmen verpflichtet, die von seiner Seite erforderlich

187 188 189 190 191 192 193

Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 33 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 33 m.w.N. Vgl. BGH v. 7.3.1983 – VIII ZR 331/81, NJW 1983, 1496, 1497; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 35. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 58 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 35 m.w.N. Vgl. BGH v. 16.1.2009 – V ZR 133/08, NJW 2009, 1262 Rz. 20 = CR 2009, 495 m. Anm. Redeker. Vgl. BGH v. 16.1.2009 – V ZR 133/08, NJW 2009, 1262 Rz. 20 = CR 2009, 495 m. Anm. Redeker. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 31; MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 55; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 23 m.w.N. 194 Vgl. auch Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 31; MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 55 m.w.N. 195 Vgl. Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 217 m.w.N.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 81 § 433 BGB

sind, um dem Käufer den Erwerb und ungestörten Genuss zu ermöglichen.196 Dazu gehören beispielsweise die Abgabe erforderlicher Erklärungen und Unterlagen.197 9. Kaufpreiszahlung Regelmäßig ist die Pflicht zur Zahlung des Kaufpreises die einzige im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Hauptpflicht des Käufers, § 433 Abs. 2. Weitere Hauptpflichten sind nach den Umständen des Einzelfalls im Wege der Auslegung zu begründen.198

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Es handelt sich um eine Geldschuld i.S.d. §§ 244 f., die mangels abweichender Vereinbarung bar in Geld zu leisten ist und grds. mit Vertragsschluss fällig wird, § 271 Abs. 1.199 Soweit vereinbart, muss der Käufer eine bestimmte ausländische Währung, § 244 Abs. 1, oder eine bestimmte Geldsorte bezahlen. Sonstige „Währungen“ wie Bitcoins können vereinbart werden.200 Fehlt eine Vereinbarung zur Währung, so gilt im kaufmännischen Verkehr die Währung des Erfüllungsorts, § 361 HGB.201

77

Skonto (auf fristgerechte Zahlung aufschiebend bedingter Teilerlass) muss vereinbart sein oder sich ausnahmsweise aus einem Handelsbrauch ergeben,202 der für IT-Verträge jedoch nicht feststellbar ist. Soweit nicht abweichend vereinbart (oder durch einen Handelsbrauch für vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmen begründet)203, enthält der vereinbarte Kaufpreis auch anwendbare Umsatzsteuer, d.h. der Käufer muss auch dann nur den bezifferten Betrag bezahlen, wenn der Verkäufer die Umsatzsteuer nicht berücksichtigt hat.204 Vertragsanpassungen kommen nur in Betracht, wenn die Parteien übereinstimmend angenommen haben, dass keine Umsatzsteuer anfalle.205

78

Von der Barzahlung abweichende Zahlungsmodalitäten können durch Vereinbarung oder durch einseitig vom Verkäufer erteilte Zustimmung zugelassen werden, § 362 Abs. 2, 185 Abs. 1.206 Stillschweigende Vereinbarungen über die Zahlungsweise können durch Angabe der Bankverbindung auf Rechnungen, Verträgen oder sonstigen Geschäftsbriefen erfolgen.207 Der Käufer hat seine Zahlungspflicht dann jedoch erst mit Gutschrift des vollständigen Betrages auf dem Konto des Verkäufers erfüllt.

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10. Abnahme der gekauften Sache Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer die Sache abzunehmen, § 433 Abs. 2, um den Verkäufer von 80 den Lasten des Besitzes zu befreien (z.B. Lagerkosten, Sicherung, Gefahrtragung). Durch die Abnahme verschafft der Käufer sich oder einer von ihm bestimmten Person den Besitz an der Kaufsache, § 854. Der Käufer schuldet die Inbesitznahme der Kaufsache, wenn ihm die Kaufsache mangelfrei angeboten wird, § 433 Abs. 1 Satz 2. Beim Gattungskauf ist eine vorherige Aussonderung nicht erforderlich.208 Regelmäßig ist der Käufer zur Abnahme von Teilleistungen nicht verpflichtet, § 266. 11. Nebenpflichten des Käufers Für die Nebenpflichten des Käufers gelten grds. die für die Nebenpflichten des Verkäufers beschriebenen Grundsätze entsprechend (s. Rz. 46 ff.). Speziell für den Käufer ist Folgendes zu beachten: 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208

Vgl. Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 156 m.w.N. Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 25; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 157 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 54 Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 38, 44 m.w.N. Vgl. BGH v. 20.5.2010 – Xa ZR 68/09, NJW 2010, 2719 Rz. 29 = CR 2010, 674 = ITRB 2010, 273; vgl. MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 65 m.w.N. Vgl. Überblick zu Bitcoins bei Auer-Reinsdorff/Conrad/Kociok, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 27 Rz. 88 ff. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 65 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 433 BGB Rz. 67 m.w.N. Vgl. BGH v. 28.2.2002 – I ZR 318/99, NJW 2002, 2312; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 96 m.w.N. Vgl. BGH v. 28.2.2002 – I ZR 318/99, NJW 2002, 2312; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 96 m.w.N. Vgl. BGH v. 28.2.2002 – I ZR 318/99, NJW 2002, 2312. Vgl. BGH v. 20.5.2010 – Xa ZR 68/09, NJW 2010, 2719, Rz. 29 = CR 2010, 674 = ITRB 2010, 273. Vgl. BGH v. 20.5.2010 – Xa ZR 68/09, NJW 2010, 2719, Rz. 29 = CR 2010, 674 = ITRB 2010, 273. Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 56 m.w.N.

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BGB § 433 Rz. 82 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag a) Informationspflichten 82

Zur Aufklärung über Umstände, die den Käufer oder die weitere Verwendung des Kaufgegenstandes betreffen, ist der Käufer grds. nur bei entsprechenden Vereinbarungen verpflichtet.209 Im Ausnahmefall kann der Käufer nach Treu und Glauben zur Weitergabe von Informationen verpflichtet sein. Grundsätzlich ist es aber Sache des Verkäufers, bei Bedarf Beschränkungen des Käufers für die Verwendung des Kaufgegenstandes in den Vertrag einzubringen.210 Der Käufer muss auf Zahlungsschwierigkeiten hinweisen, die die Durchführung des Vertrags verhindern können (Pflichtverletzungen können auch zur persönlichen Haftung von Organen führen).211

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Erkennt der Käufer einen Irrtum des Verkäufers bei der Kaufpreisbildung, kann er im Rahmen der Interessenabwägung zur Aufklärung verpflichtet sein.212 Grundsätzlich liegt die Kalkulation jedoch im Verantwortungsbereich des Anbieters, so dass der Käufer nur dann auf Fehler hinweisen oder weitere Ermittlungen anstellen muss, wenn sich der Tatbestand des Kalkulationsirrtums mit seinen unzumutbaren Folgen für den Verkäufer aus den für den Käufer erkennbaren Umständen geradezu aufdrängt.213 Das ist z.B. beim Verkauf von Standardsoftware regelmäßig auszuschließen, weil (i) Lizenzvergütungsmodelle unübersichtlich und (ii) auch einschneidende Preisnachlässe für bestimmte (vom Hersteller geförderte) Lizenzmodelle marktgängig sind. b) Handlungspflichten

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Der Käufer hat beim beiderseitigen Handelskauf die ihm übersandte und beanstandete Ware aufzubewahren, § 379 HGB. Die Rückgabe von Verpackungs- und Begleitmaterialien schuldet der Käufer grundsätzlich nur, wenn dies vereinbart ist.214 Eine Vereinbarung kann sich aus den Umständen ergeben, insb. bei (teils für Hardware verwendetem) hochwertigem wiederverwertbarem Verpackungsgut.215

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Der Käufer ist grds. nicht zur Untersuchung der Kaufsache oder bei Unterlassung zum Schadensersatz verpflichtet (§ 442 gilt abschließend mit Blick auf Schadensersatzansprüche und Mitverschulden).216 Etwas anderes kann sich im Ausnahmefall ergeben, wenn der Abnehmer im Rahmen einer Entwicklungszusammenarbeit gerade die Pflicht übernommen hat, durch ausreichende Tests die Marktreife neu entwickelter Hardware als Abnehmer für den Verkäufer zu sichern. c) Schutzpflichten/Pflichten zur Rücksichtnahme/unberechtigte Mängelrüge

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Der Käufer ist verpflichtet, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Verkäufers Rücksicht zu nehmen, § 241 Abs. 2. Eine unberechtigte Mängelrüge kann eine zum Schadensersatz verpflichtende Vertragsverletzung bedeuten, wenn der Käufer bei der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen müssen, dass das gerügte Vorkommnis in seinem eigenen Verantwortungsbereich liegt.217 Der Käufer muss vor Inanspruchnahme des Verkäufers prüfen, ob das Vorkommnis,218 hinter der er den Mangel vermutet, in der eigenen Sphäre liegt. Bleibt nach gebotener Prüfung ungewiss, ob tatsächlich ein Mangel vorliegt, darf der Käufer Mängelrechte geltend machen, selbst wenn sich sein Verlangen nachträglich als unberechtigt herausstellt.219 Für den Umfang der für den Käufer gebotenen Prüfung und die als akzepta209 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 61; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 52 m.w.N. 210 Vgl. BGH v. 26.2.1992 – VIII ZR 89/91, NJW 1992, 1222 f., im Falle einer dem Käufer bekannten Pflicht des Verkäufers, nicht an Personen zu veräußern, an die der Käufer die Kaufsachen weiter vertreiben will. 211 Vgl. BGH v. 2.3.1988 – VIII ZR 380/86, NJW 1988, 2234, 2235; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 62. 212 Vgl. BGH v. 7.7.1998 – X ZR 17/97, NJW 1998, 3194, 3195; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 61. 213 Vgl. BGH v. 7.7.1998 – X ZR 17/97, NJW 1998, 3194, 3195. 214 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 55; Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 245. 215 Vgl. Staudinger/Beckmann, § 433 BGB Rz. 245. 216 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 63 m.w.N. 217 Vgl. BGH v. 16.1.2009 – V ZR 133/08, NJW 2009, 1262 Rz. 20 = CR 2009, 495 m. Anm. Redeker. 218 Im Anschluss an die ITIL-Regelwerke ist häufig von „Incidents“ die Rede, deren Behandlung nicht das Vorliegen eines Fehlers („defect“) impliziert. Vielmehr soll zunächst im Sinne des Produktionsbetriebs allein die Behebung stattfinden. Die Zuordnung von Ursachen und Verschulden kann nachgelagert stattfinden. 219 Vgl. BGH v. 23.1.2008 – VIII ZR 246/06, NJW 2008, 1147 Rz. 13 = CR 2008, 278 = ITRB 2008, 74.

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Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag

Rz. 93 § 433 BGB

bel zu beurteilende Unsicherheit ist im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung für IT-Verträge zu beachten, dass der Käufer zum Schutz eines sicheren Betriebs ein großes Interesse daran hat, kurzfristig von den in Betracht kommenden Lieferanten unterstützt zu werden. Betriebsunterbrechungen können sehr einschneidende Nachteile für den Käufer verursachen. Moderne IT-Systeme beruhen i.d.R. auf dem Zusammenspiel von vielfältigen Leistungen, ohne dass eine Fehlfunktion jeweils einem Teilsystem zugeordnet werden könnte (z.B. bleibt zunächst zu untersuchen, ob eine Fehlfunktion durch Datenbanksoftware, Anwendungssoftware, Rechenzentrums-Betriebsleistungen, Datenübertragungsleistungen, Schnittstellen, fehlerhafte Daten, Anwender- oder Administrationsfehler verursacht ist). Dem Verkäufer einer derart eingesetzten Kaufsache ist regelmäßig bewusst, dass der vertraglich vorausgesetzte Einsatz auf genau diese Gemengelage abzielt. Haben die Parteien nicht ausdrücklich Abweichendes vereinbart, sind deshalb nur geringe Anforderungen an die Untersuchungspflicht des Käufers zu stellen. Hat der Käufer im Vertrag in Bezug auf die Kaufsache weitere Pflichten übernommen (z.B. bezogen auf die Verwendung einer Software), so kann ihn im Rahmen der Interessenabwägung im Falle des Weiterverkaufs die Pflicht treffen, diese Pflichten an den neuen Käufer weiterzugeben220 (s. zu den kartellrechtlichen Beschränkungen für solche Vereinbarungen Art. 101 AEUV Rz. 53).

87

III. Rechtsfolgen Der Abschluss des Kaufvertrags eröffnet die Anwendung der §§ 433 ff. Verschafft der Verkäufer Eigentum und Besitz an der Kaufsache nicht rechtzeitig oder nicht mangelfrei, so kann der Käufer gleichermaßen für Sach- und Rechtsmängel die Rechtsfolgen aus den §§ 437 bis 441 sowie aus dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht geltend machen. Entsprechendes gilt für als Leistungspflichten vereinbarte sonstige Pflichten.

88

Die Verletzung von Nebenpflichten kann Schadensersatzansprüche nach allgemeinen Regeln begründen, § 280 Abs. 1. Daneben sind Nebenpflichten einklagbar, soweit sie einem von den Leistungspflichten abgrenzbarem Leistungsinteresse des Gläubigers dienen (z.B. bei Auskunftspflichten, Bestätigungspflichten etc.).221

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Zahlt der Käufer den Kaufpreis nicht, so ist der Verkäufer mangels vereinbarter Vorleistungspflicht nicht zur Übergabe und Übereignung der Kaufsache verpflichtet, §§ 320, 322. Bei Verzug gelten ein Verzugszins von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (ohne Verbraucherbeteiligung), § 288 Abs. 2, oder ein höherer Zins aus anderen Gründen.

90

Erfüllt der Käufer seine Abnahmepflicht nicht, kommen Schadensersatz statt der Leistung, § 281, sowie Schuldnerverzug in Betracht, § 286. Annahmeverzug droht bei erfüllungstauglichem Angebot durch den Verkäufer, §§ 293 ff.

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IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht § 433 ist dispositiv. Auch im unternehmerischen Verkehr ist die Möglichkeit zur Vereinbarung von 92 Zahlungszielen von mehr als 30 bzw. 60 Tagen nach Empfang der Gegenleistung stark eingeschränkt, § 271a. Beim Verbrauchsgüterkauf ergeben sich weitgehende Einschränkungen aus § 475. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht Eine abweichende Vereinbarung für unberechtigte Mängelrügen kann beispielsweise im Rahmen einer Vergütungsvereinbarung über Softwarepflege- und Unterstützungsleistungen oder durch eine Rahmenvereinbarung über die aufwandsabhängige Vergütung im Zusammenhang mit unberechtig220 Vgl. LG Hamburg v. 10.3.1993 – 304 O 202/91, NJW-RR 1994, 1472; Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 64. 221 Vgl. Überblick bei MünchKomm/Bachmann, § 241 BGB Rz. 62 ff. m.w.N.

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BGB § 433 Rz. 93 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag ten Mängelrügen geschehen. In AGB handelt es sich aber um eine weitgehende Abweichung vom gesetzlichen Leitbild (Wirkung einer Garantiehaftung des Käufers trotz gesetzlichem Leitbild der Verschuldenshaftung), so dass Unwirksamkeit wegen unangemessener Benachteiligung nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 anzunehmen ist.222 Nach gefestigter Rspr. wird bei verkaufter Software das gesetzliche Leitbild des Kaufrechts für die Prüfung auf unangemessene Abweichungen, § 307 Abs. 2, nicht durch urheberrechtliche Auslegungsregeln ergänzt. Die in § 31 Abs. 5 UrhG verankerte Beschränkung einer Übertragung – im Zweifel – auf den Vertragszweck dient nicht zur Kontrolle unzweifelhaft (in AGB) vereinbarter Rechte.223 Der BGH sieht die Regeln zur Rechtseinräumung im engen Zusammenhang mit den vertraglichen Hauptleistungspflichten, die regelmäßig der Inhaltskontrolle entzogen sind.224 Damit gewährt der BGH Raum für die Wirksamkeit umfassend formulierter Rechteeinräumungen in AGB.225

V. Prozessuales 94

Der Verkäufer muss beweisen, dass der Kaufpreis in der behaupteten Höhe vereinbart wurde. Dazu gehört auch, dass vom Käufer behauptete Skonti nicht vereinbart wurden, da sich die Höhe des Kaufpreises erst unter Berücksichtigung solcher Abzüge bestimmt.226 Die Stundung des Kaufpreises hat der Käufer zu beweisen, weil die Stundung die Kaufpreisforderung hinsichtlich ihrer Fälligkeit zu seinen Gunsten beeinflusst.227

§ 434 Sachmangel (1) Die Sache ist frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist die Sache frei von Sachmängeln, 1. wenn sie sich für die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung eignet, sonst 2. wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann. Zu der Beschaffenheit nach Satz 2 Nr. 2 gehören auch Eigenschaften, die der Käufer nach den öffentlichen Äußerungen des Verkäufers, des Herstellers (§ 4 Abs. 1 und 2 des Produkthaftungsgesetzes) oder seines Gehilfen insbesondere in der Werbung oder bei der Kennzeichnung über bestimmte Eigenschaften der Sache erwarten kann, es sei denn, dass der Verkäufer die Äußerung nicht kannte und auch nicht kennen musste, dass sie im Zeitpunkt des Vertragsschlusses in gleichwertiger Weise berichtigt war oder dass sie die Kaufentscheidung nicht beeinflussen konnte. (2) Ein Sachmangel ist auch dann gegeben, wenn die vereinbarte Montage durch den Verkäufer oder dessen Erfüllungsgehilfen unsachgemäß durchgeführt worden ist. Ein Sachmangel liegt bei einer zur Montage bestimmten Sache ferner vor, wenn die Montageanleitung mangelhaft ist, es sei denn, die Sache ist fehlerfrei montiert worden.

222 Vgl. OLG Düsseldorf v. 21.10.1999 – 6 U 161/98, NJW-RR 2000, 790 = CR 2000, 153, weil im Verbraucherverkehr keine Einschränkung der Kostentragungspflicht auf vorsätzliche und grob fahrlässig Falschrügen in AGB vorgesehen war; als unwirksam wurde auch eine generelle Pauschale für Tests und Bearbeitung unberechtigter Mängelrügen erkannt in OLG Hamm v. 27.9.1999 – 13 U 71/99, VuR 2000, 181, zitiert nach juris Rz. 11. 223 Vgl. Überblick bei Ernst, MDR 2015, 861, 862 m.w.N. 224 Vgl. BGH v. 17.10.2013 – I ZR 41/12, NJW 2014, 1949 Rz. 12 – Rechteeinräumung Synchronsprecher. 225 Vgl. BGH v. 17.10.2013 – I ZR 41/12, NJW 2014, 1949 Rz. 9 ff. – Rechteeinräumung Synchronsprecher unter Verweis auf die unveränderte Geltung nach dem zum 22.3.2002 reformierten Urhebervertragsrecht; BGH v. 31.5.2012 – I ZR 73/10 Rz. 16 ff. m.w.N. – Honorarbedingungen Freie Journalisten. 226 Vgl. BGH v. 13.7.1983 – VIII ZR 107/82, NJW 1983, 2944; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 56 m.w.N. 227 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 57 m.w.N.

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Sachmangel

§ 434 BGB

(3) Einem Sachmangel steht es gleich, wenn der Verkäufer eine andere Sache oder eine zu geringe Menge liefert. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarte Beschaffenheit . . . . . . . . . . a) Beschaffenheit . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abgrenzung zu § 311 Abs. 2 (c.i.c) . . . 3. Eignung zur vertraglich vorausgesetzten Verwendung (§ 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1) . . a) Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertraglich vorausgesetzt . . . . . . . . . c) Eignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eignung für die gewöhnliche Verwendung und übliche Beschaffenheit (§ 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eigenschaftserwartungen aufgrund öffentlicher Äußerungen (§ 434 Abs. 1 Satz 3) . . 6. Montagefehler (§ 434 Abs. 2 Satz 1) . . . . 7. Fehlerhafte Montageanleitung (§ 434 Abs. 2 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . 8. Falschlieferung (aliud) (§ 434 Abs. 3 Alt. 1) 9. Lieferung zu geringer Menge (§ 434 Abs. 3 Alt. 2) . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 2. V.

Abdingbarkeit . . . . . . . . . . Zwingendes/Dispositives Recht Auswirkungen auf AGB-Recht . Einzelfälle und -fragen . . . .

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1

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. 3 . 3 . 8 . 8 . 12 . 17

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18 20 21 22

. . 23 . . 26 . . 30 . . 33 . . 37 . . 38 . . 39 . . . .

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40 40 41 42

1. Nutzungseinschränkungen wegen Geheimhaltungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangelverdacht/nicht-reproduzierbare Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktionsmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zukunftsfähigkeit/Releasefähigkeit/Zusatzdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Migrierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Quellcode-nicht-Lieferung . . . . . . . . . . . . 7. Inkompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Kapazitätsmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Langsame Reaktionszeiten . . . . . . . . . . . . 10. Schadsoftware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Technische Programmsperren . . . . . . . . . . 12. CPU-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Bedienerfreundlichkeit/Sprache . . . . . . . . . 14. Resistenz gegen Fehlbedienung . . . . . . . . . 15. Dokumentation/Handbücher . . . . . . . . . . 16. IT Sicherheit/Abweichung von technischen Normen/Hintertüren . . . . . . . . . . . . . . . 17. Zertifikate/Prüfsiegel . . . . . . . . . . . . . . . 18. Qualität verkaufter Daten . . . . . . . . . . . . 19. Datenschutz/Speicherung personenbezogener Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Exportierbarkeit/Exportverbote . . . . . . . . . 21. Verwendung von (falschen) Open Source Bestandteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 43 44 46 49 50 53 54 55 56 57 58 59 62 63 65 66 67 71 74 75

VI. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Literatur: Alexander, Die Entlastung des Verkäufers gem. § 434 Abs. 1 Satz 3 BGB, WM 2005, 2311; Arnold, Die Rechtsfolgen der Selbstvornahme beim Kauf, MDR 2005, 661; Beckmann, EDV-Anwenderdokumentationen. Aktuelle Rechtsfragen, CR 1998, 519; Behnes/Nink/Rohde, Nutzung internetbasierter Datenbankanwendungen – Haftung des Lizenznehmers für Quellensteuern des ausländischen Anbieters, CR 2016, 281; Bernreuther, Sachmangelhaftung und Werbung, MDR 2003, 63; Bischof, Die Gestaltung von Präambeln in IT-Projektverträgen unter Einbeziehung von Presales-Präsentationen der IT-Unternehmen, ITRB 2006, 289; Conrad, Wege zum Quellcode, ITRB 2005, 12; Deusch/Eggendorfer, Softwaremängel 4.0 – Wieviel (Un-)Sicherheit können wir uns leisten?, K&R 2016, 152; Elteste, Anmerkung zu einer Entscheidung des OLG Köln, Beschl. v. 14.2.2013 (19 U 166/12, CR 2014, 367) – Zur Frage des Rechts zum Totalrücktritt bei Vereinbarung einzeln abzunehmender und zu bezahlender Teile eines Softwareprojekts, ITRB 2014, 179; Ernst, Kostentragung für Einbau und Installation im Gewährleistungsrecht, ITRB 2014, 169; Faust, Softwareschutz durch Produktaktivierung, K&R 2002, 583; Feil, Die EVT-IT nach der Schuldrechtsreform, CR 2002, 407; Fuchs/Meierhöfer/Morsbach/Pahlow, Agile Programmierung – Neue Herausforderungen für das Softwarevertragsrecht?, MMR 2012, 427; Grützmacher, Auswirkungen von Lizenzregelungen zu Standardsoftware auf Projekte, ITRB 2012, 135; Grützmacher, Die juristische Beurteilung von DRM-Maßnahmen und Sperren im Rahmen verschiedener Lizenzmodelle, Teile 1 und 2, ITRB 2015, 120 und 141; Grützmacher, Dateneigentum – ein Flickenteppich, Wem gehören die Daten bei Industrie 4.0, Internet der Dinge und Connected Cars?, CR 2016, 485; Härting/Gössling, Online-Kauf in der EU – Harmonisierung des Kaufgewährleistungsrechts, CR 2016, 165; Hecht/Becker, Unberechtigte Mängelrügen bei IT-Projekten, ITRB 2009, 59; Hilber, Die Übertragbarkeit von Softwarerechten im Kontext einer Outsourcingtransaktion, CR 2008, 749; Hoeren, Gewährleistung bei Softwareüberlassungsverträgen, ZAP Fach 6, 411; Kartheuser, Kein Sachmangel bei Speicherung von Fahrzeugdaten, ITRB 2016, 102; Kiparski/Sassenberg, Internet of Things – Aktuelle Entwicklungen und Branchenbesonderheiten bei Connected Cars, eHealth und Co., CR 2018, 596; Koch, Urheberrechtliche Zulässigkeit technischer Beschränkungen und Kontrolle der Software-Nutzung, CR 2002, 629; Koch, Schlechtleistung bei softwarebezogener Nacherfüllung, ITRB 2008, 131; Kremer, Anpassungspflicht für Software bei Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 116; Kremer, Ver-

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BGB § 434 Rz. 1 Sachmangel tragsgestaltung bei Anpassung von Software wegen Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 143; Kremer/Halim, Releasefähigkeit von Software, AnwZert ITR 11/2015, Anm. 3; Lapp, Vertragsgestaltung zwischen Leistungsbeschreibung, Garantie und sinnvoller Beschränkung der Gewährleistung, ITRB 2003, 42; Marly, Rechtsschutz für technische Schutzmechanismen geistiger Leistungen, K&R 1999, 106; Metzger/Barudi, Open Source in der Insolvenz, CR 2009, 557; Moos/Gallenkemper/Volpers, Rechtliche Aspekte der Abgabe von gebrauchter Hardware, CR 2008, 477; Musielak, Die Falschlieferung beim Stückkauf nach dem neuem Schuldrecht, NJW 2003, 89; Niclas, BGH: Unzulässige Ersatzlieferungsklausel bei Internet-Shops, ITRB 2006, 1; Orthwein/Bernhard, Mangelhaftigkeit von Software aufgrund Gesetzesänderung?, CR 2009, 354; Plath, Hardware, Software und IT-Verträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Pohle/Zoch, eCall = Der gläserne Fahrer? Datenschutz in Kraftfahrzeugen im Rahmen von eCall und anderen kommunizierenden Bordsystemen, CR 2014, 409; Raue, Haftung für unsichere Software, NJW 2017, 1841; Raubenheimer, Beseitigung/Umgehung eines technischen Programmschutzes nach UrhG und UWG, CR 1996, 69; Redeker, Wirksame Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Mängelhaftung, ITRB 2004, 163; Redeker, Von Dauerbrennern und neuen Entwicklungen im recht der Leistungsstörungen, CR 2005, 700; Redeker, BGH: Sachmangel als unerhebliche Pflichtverletzung, CR 2007, 558; Redeker, Vertrag über die Lieferung, Anpassung und Installation von Software bei Verwendung der EVB-IT Systemlieferung, ITRB 2010, 255; Redeker, LG Berlin: Unzulässige AGB-Klauseln bei Überlassung von Hardware und Software – Apple Store, CR 2015, 74; Redeker, Rücktritt vom gescheiterten Softwareprojekt, ITRB 2016, 212; Rempe, Smart Products in Haftung und Regress, InTeR 2016, 17; Rinkler, AGB-Regelungen zum Rückgriff des Unternehmers und zu Rechtsmängeln auf dem Prüfstand, ITRB 2006, 68; Rössel, Haftung für Computerviren, ITRB 2002, 214; Rössel, Standardsoftware mit Zusatzprogrammierung, ITRB 2004, 29; Rössel, Quellcode ohne Entwicklerdokumentation, OLG Brandenburg v. 7.11.2007 – 7 U 142/06, ITRB 2008, 52; Roth, Dritthaftungsklauseln beim Verkauf von Fremdsoftware – eine sinnvolle Haftungsbegrenzung?, ITRB 2003, 865; Runte, Produktaktivierung. Zivilrechtliche Fragen der „Aktivierung“ von Software, CR 2001, 657; Schneider, Die Beschreibung des Vertragsgegenstandes bei Standardsoftware-Beschaffung, ITRB 2004, 41; Schneider, Bestimmung und Berücksichtigung der „gewöhnlichen Verwendung“ bei IT-Verträgen, ITRB 2010, 241; Schneider-Ehle, Dokumentation in Softwareerstellungsverträgen, die Software-Herstellungsdokumentation, CR 2015, 469; Schöttler, Mängelgewährleistung bei Standard-Software, AnwZert ITR 2/2010 Anm. 3; Schrader/Engstler, Anspruch auf Bereitstellung von Software-Updates?, MMR 2018, 356; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Solmecke/Vondrlik, Rechtliche Probleme bei Produkten mit serverbasierten Zusatzdiensten, Was passiert, „wenn der Kühlschrank keine Einkaufsliste mehr schreibt …“, MMR 2013, 755; Spindler, ITSicherheit und Produkthaftung – Sicherheitslücken, Pflichten der Hersteller und der Softwarenutzer, NJW 2004, 3145; Stadler, Haftungsrisiken bei Übernahme von Beschaffenheitsgarantien in IT-Verträgen nach neuem Recht, ITRB 2004, 233; Staudenmayer, Kauf von Waren mit digitalen Elementen – Die Richtlinie zum Warenkauf, NJW 2019, 2889; Stiemerling, Software Usability. Veränderte Ansprüche an Programm und Dokumentation: Berücksichtigung im IT-Vertrag und Bewertung im Rechtsstreit, ITRB 2009, 154; Stiemerling, Dokumentation von Software, ITRB 2011, 286; Stiemerling/Schneider, Vertragliche Regelungen zum Antwortzeitverhalten interaktiver Computersysteme, CR 2011, 345; Streitz, Programmsperre als Mangel, CR 1994, 217; Streitz, Handbücher für Softwareanwender, CR 2000, 555; Ulmer, Softwareüberlassung: Formulierung eines Lizenzvertrags, ITRB 2004, 213; Wäßle/Gatzweiler, Die Mängelrüge bei Software, K&R 2010, 18; Wagner, Der Verbrauchsgüterkauf in den Händen des EuGH: Überzogener Verbraucherschutz oder ökonomische Rationalität?, ZEuP 2016, 87; Weichert, Personenbezug von KfzDaten, NZV 2017, 507; Wendt, Autonomes Fahren und Datenschutz – eine Bestandsaufnahme, ZD-Aktuell 2018, 06034; Witzel, Beschaffung von Open Source Software, ITRB 2016, 160; Witzel, Vertragsbeziehungen bei der Beschaffung von Open Source Software, ITRB 2016, 235; Woitkewitsch, Sofortiges Rücktrittsrecht bei mangelhafter Nacherfüllung innerhalb der Frist, MDR 2004, 862; Wuermeling, Einsatz von Programmsperren. Zivil- und strafrechtliche Aspekte, CR 1994, 585; Zahrnt, Die Rechtsprechung zur Beweislast bei Fehlern in Standardsoftware, NJW 2002, 1531; Zahrnt, Vollpflege von Standardsoftware, CR 2004, 408.

I. Allgemeines 1

§ 434 definiert die verschiedenen Formen des Sachmangels. Damit erfolgt die Abgrenzung zu Rechtsmängeln und Nebenpflichtverletzungen. Es wird beschrieben, wann der Verkäufer seine Pflicht zur Verschaffung frei von Sachmängeln erfüllt hat, § 433 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1. Ausgangspunkt ist der subjektive Fehlerbegriff als wesentliche Ausprägung der Privatautonomie. Der Gesetzgeber wollte den Sachmangelbegriff des Art. 2 Abs. 1 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie1 umsetzen, ohne für Verbraucher und Unternehmen unterschiedliche Regeln zu schaffen.2 Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wird mit Wirkung zum 1.1.2022 durch die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Waren1 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 2 So BT-Drucks. 14/6040, 211.

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Sachmangel

Rz. 6 § 434 BGB

kaufs vom 20.5.2019 ersetzt (Art. 23 Abs. 1 Warenkaufrichtlinie).3 Parallel ist die Richtlinie zu Verträgen über digitale Inhalte und digitale Dienstleistungen vom 20.5.2019 (Digitaldienstleistungsrichtlinie)4 ins nationale Recht umzusetzen. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinien bis zum 1.7.2021 in nationales Recht umzusetzen und ab 1.1.2022 anzuwenden, Art. 24 Abs. 1 und 2 Warenkaufrichtlinie, Art. 24 Abs. 1 Digitaldienstleistungsrichtlinie. Die Richtlinien zielen bis auf wenige Ausnahmen auf eine Vollharmonisierung ab. Nach den bislang auf die vereinheitlichung schuldrechtlicher Regeln ausgerichteten Umsetzungsgesetzen ist eine Umsetzung über Verbraucherverträge hinaus zu erwarten. Neben den kaufrechtlichen Mängelvorschriften gelten grds. konkurrierend die inzwischen normierten allgemeinen Rechtsinstitute der positiven Vertragsverletzung und c.i.c., §§ 311 Abs. 2, 280 Abs. 1, 241 Abs. 2.5 Die Einordnung als Mangel nach §§ 434, 435 führt zu abweichenden Rechtsfolgen mit Blick auf die verschuldensunabhängigen Ansprüche auf Nacherfüllung und Minderung sowie die Verjährung nach § 438.

2

II. Norminhalt 1. Maßgeblicher Zeitpunkt Ein Sachmangel liegt bei einer Abweichung von der vertraglichen Sollbeschaffenheit vor.6 Das muss für den Zeitpunkt des Gefahrübergangs feststellbar sein, § 434 Abs. 1 Satz 1. Beim Sachkauf geht die Gefahr mit Übergabe der Sache, § 446 Satz 1, oder mit Annahmeverzug, § 446 Satz 3, auf den Käufer über.7 Der Verkäufer hat also bis zum Gefahrübergang Zeit, Mängel zu beseitigen.8 Der Käufer kann die kaufrechtlichen Mängelrechte jedoch ausnahmsweise bereits vor Gefahrübergang geltend machen, wenn die Mängelbeseitigung nicht möglich ist oder der Verkäufer sie ernsthaft und endgültig verweigert (z.B. bei Meinungsverschiedenheiten über die vereinbarte Sollbeschaffenheit einer geschuldeten Standardsoftware).9 Ist die Mangelbeseitigung möglich und verweigert der Verkäufer sie nicht, so bleibt der Käufer auf Verzugsansprüche beschränkt.10

3

Entfällt der Mangel zufällig bis zum Gefahrübergang, bestehen keine Mängelansprüche. Bei zufälligem Entfallen der Mängel nach Gefahrübergang bleiben die Ansprüche des Käufers bestehen (etwa mit Blick auf Minderungsansprüche für einen durch Änderungen in anderen IT-Systemen über Mangelauswirkungen hinaus behobenen Mangel einer Standardsoftware).11

4

Bis zum Gefahrübergang haftet der Verkäufer verschuldensunabhängig auch für die nach Vertrags- 5 schluss entstehenden Mängel.12 Für nach dem Gefahrübergang eintretende Mängel haftet der Verkäufer nur dann, wenn die Mangelursache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs bereits existierte und sich erst später auswirkt. Ausnahmsweise können Montagehandlungen einen Sachmangel begründen (z.B. bei nach Gefahrübergang vorgenommenen Konfigurationen einer Software), § 434 Abs. 2. Für diese ist allein auf den Zeitpunkt der Montage abzustellen.13 Software muss nur bei Gefahrübergang fehlerfrei laufen. Spätere Änderungen, die beispielsweise be- 6 zogen auf Hardware, Betriebssystem oder sonstige in der Betriebsumgebung genutzte Systeme eintre3 S. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. 4 S. RL (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1. 5 Vgl. BGH v. 29.11.2006 – VIII ZR 92/06, NJW 2007, 1346 Rz. 35 = CR 2007, 473 = ITRB 2007, 252; zu den Abgrenzungen vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 4 m.w.N. 6 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 9. 7 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 67; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 8. 8 Vgl. BGH v. 20.5.2009 – VIII ZR 191/07, NJW 2009, 2807 Rz. 19 f. 9 Vgl. BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 185/96, NJW 1998, 2360, 2363; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 68; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 51. 10 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 68. 11 Vgl. BGH v. 20.10.19200 – V ZR 207/99, NJW 2001, 66, 67 m.w.N. 12 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 67; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 8 m.w.N. 13 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 67; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 50.

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BGB § 434 Rz. 6 Sachmangel ten, bewirken nur dann einen Fehler, wenn die Änderungen nach den Vereinbarungen keine Fehlfunktion hätten bewirken dürfen.14 Bewirken nach dem Gefahrübergang liegende Gesetzesänderungen Einschränkungen für die Nutzbarkeit einer Software, ist darin nur ausnahmsweise ein Mangel zu sehen, wenn schon zum Zeitpunkt der Überlassung eine baldige Änderung äußerer Umstände absehbar war.15 Die fortlaufende Anpassung einer Software an nach dem Gefahrübergang liegende Betriebsanforderungen technischer und/oder rechtlicher Art ist grds. nur auf Grundlage eines entsprechenden Softwarepflegevertrages geschuldet. 7

Treffen die Parteien Vereinbarungen, die sich auf andere Zeitpunkte beziehen (z.B. die Verwendbarkeit eines Systems zwei Jahre nach Gefahrübergang), so handelt es sich grds. nicht um eine Beschaffenheitsvereinbarung nach § 434.16 Eine Ausnahme kann jedoch gelten, wenn sich die Beschaffenheitsvereinbarung gerade auf die Gestaltung der Kaufsache zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs bezieht, aus der sich die fragliche Verwendbarkeit in der Zukunft ergibt (z.B. eine Systemarchitektur ist mit der nicht-funktionalen Anforderung vereinbart, dass künftige Systemaktualisierungen und -integrationsarbeiten einfach und sicher erfolgen können; Aufwärts-/Abwärtskompatibilität). 2. Vereinbarte Beschaffenheit a) Beschaffenheit

8

Der Gesetzgeber hat den Begriff der Beschaffenheit im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung bewusst nicht definiert.17 Er hat offen gelassen, ob nur Eigenschaften, die der Kaufsache unmittelbar selbst anhaften oder auch Umstände außerhalb der Kaufsache zur Beschaffenheit gezählt werden können.18 Es besteht Einigkeit darüber, dass die der Kaufsache unmittelbar physisch anhaftenden Eigenschaften zur Beschaffenheit gehören, z.B. Speicherbedarf, Betriebsanforderungen, Alter, Leistungsgeschwindigkeit, Energieverbrauch, Haltbarkeit etc.19 Da der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des Sachmängelrechts nicht einschränken wollte,20 sind die nach der Kasuistik zum alten Recht als Sachmangel eingeordneten Gegenstände weiterhin unter den Begriff der Beschaffenheit des § 434 zu fassen: Nach altem Recht war jedes der Kaufsache auf gewisse Dauer anhaftende Merkmal, das aus irgendeinem Grund für den Käufer von Interesse ist, eine Eigenschaft i.S.d. § 459 BGB a.F.21 Das schließt auch nach altem Recht zusicherungsfähige Eigenschaften ein.22

9

Darüber hinaus wird vertreten, die in irgendeiner Weise mit den physischen Eigenschaften der Kaufsache zusammenhängenden Beziehungen der Kaufsache zur Umwelt gleichfalls zur Beschaffenheit i.S.d. § 434 Abs. 1 zu zählen,23 soweit sie wegen ihrer Art und Dauer die Brauchbarkeit oder den Wert der Sache beeinflussen, z.B. ob die Kaufsache wegen ihrer physischen Beschaffenheit mit einem anderen Gegenstand zusammenpasst (Stichwort: Kompatibilität).24 Dafür sprächen auch Gründe der Rechtssicherheit.25 Gegen eine zu weitgehende Lösung einer Beschaffenheit i.S.d. § 434 Abs. 1 Satz 1 von den physischen Eigenschaften wird auf Rechtsunsicherheiten verwiesen. Aber auch nach

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Vgl. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Rz. 196 m.w.N. Vgl. Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Rz. 197. Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 66. BT-Drucks. 14/6040, 213. BT-Drucks. 14/6040, 213. Vgl. Überblick bei MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 9 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 10. S. BT-Drucks. 14/6040, 212. S. BT-Drucks. 14/6040, 140; vgl. Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 51 m.w.N. Vgl. BGH v. 15.6.2016 – VIII ZR 134/15, NJW 2016, 2874, Rz. 10 m.w.N.; Überblick bei Staudinger/MatuscheBeckmann, § 434 BGB Rz. 51 m.w.N. Vgl. BGH v. 15.6.2016 – VIII ZR 134/15, NJW 2016, 2874 Rz. 8 ff. lässt das Fehlen einer Herstellergarantie als wertbildenden Faktor der Kaufsache genügen; BGH v. 30.11.2012 – V ZR 25/12, NJW 2013, 1671 Rz. 10; vgl. in diesem Sinne Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 54 m.w.N. Vgl. BGH v. 15.6.2016 – VIII ZR 134/15, NJW 2016, 2874 Rz. 10 m.w.N.; in diesem Sinne Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 54 m.w.N. Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 54 m.w.N.

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Rz. 11 § 434 BGB

dieser Ansicht genügt irgendeine Anknüpfung der fraglichen Beziehung der Sache zur Umwelt an eine physische Eigenschaft.26 Da Wortlaut und Gesetzesbegründung kein Ergebnis vorgeben, ist vorrangig auf den Zweck der Rege- 10 lung abzustellen: Es geht um die Bestimmung, wann der Verkäufer seine Pflicht zur Lieferung des vereinbarten Gegenstandes verletzt hat, § 433 Abs. 1 Satz 2. Darauf beschränkt soll der Verkäufer verschuldensunabhängig gewährleisten müssen. Davon sind sonstige Rechtsverletzungen zu unterscheiden, die im Zusammenhang mit einem Kaufvertrag vorkommen können, aber eben nicht die Pflicht zur Lieferung der Kaufsache betreffen (etwa Nebenpflichten oder sonstige Rechtsverhältnisse, für die der Verkäufer nach § 280 verschuldensabhängig haftet). Das soll nach dem Parteiwillen festgelegt werden, § 434. Die hohen Anforderungen an die Vereinbarung einer zugesicherten Eigenschaft gelten nicht mehr.27 Vielmehr zeigt § 434 in den verschiedenen Alternativen (bis hin zur Eignung für eine gewöhnliche Verwendung) gerade, dass der Kaufvertrag den Käufer umfassend bezogen auf ausdrücklich vereinbarte oder anzunehmende übliche Verwendungszwecke absichert. Eine enge Interpretation der Beschaffenheit widerspräche auch der Umsetzung von Art. 2 Abs. 1 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, in dem der Verkäufer ohne Einschränkung auf physische Eigenschaften verpflichtet wird, „dem Kaufvertrag gemäße Güter zu liefern“.28 Beispielhaft belegen gerade IT-Leistungen, dass dafür auch wertbildende Beziehungen der Kaufsache zu ihrer Umwelt entscheidend sind (Brauchbarkeit hängt regelmäßig von Interaktionsmöglichkeiten mit Umfeldsystemen und Akzeptanz in für Weiterentwicklungen maßgeblichen Gruppen ab). Dann ist es nur konsequent, einer weiten Auslegung der Beschaffenheit zu folgen und auch alle Beziehungen der Sache zu ihrer Umwelt zu erfassen.29 Dementsprechend haben die Parteien die Möglichkeit, durch ihre Vereinbarung jeden tatsächlichen, 11 wirtschaftlichen oder rechtlichen Umstand30 im Zusammenhang mit der Kaufsache als Beschaffenheit i.S.d. § 434 Abs. 1 Satz 1 zu vereinbaren.31 Beispielsweise kann die Lauffähigkeit der gekauften Software auf einer bestimmten vom Käufer gestellten Hardware vereinbarte Beschaffenheit sein.32 Die Herkunft oder Herstellung einer Ware können zur vertraglich geschuldeten Beschaffenheit gehören (z.B. Leistungserbringung in Rumänien oder Indien (Offshoring)).33 Beispielsweise kann es für die Risikoeinschätzung der Verletzung von Rechten Dritter von grundlegender Bedeutung sein, wo die Entwicklungsarbeiten tatsächlich durchgeführt werden. Aber auch sonstige Umstände wie die künftige Aktualisierbarkeit (fortgesetzte Entwicklungen), Exportierbarkeit in ein Drittland,34 Kompatibilität mit anderen Systemen, Nutzung durch eine Mindestzahl sonstiger Anwender oder die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal können als wertbildende Faktoren für die Nutzung der Kaufsache als Beschaffenheit vereinbart werden.

26 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 4 unter Verweis auf Beispiele aus der Rspr. 27 Vgl. BGH, v. 15.6.2016 – VIII ZR 134/15, NJW 2016, 2874 Rz. 10. 28 Vgl. BGH, v. 15.6.2016 – VIII ZR 134/15, NJW 2016, 2874 Rz. 12; erheblich ausdifferenzierter künftig nach Art. 6 Warenkaufrichtlinie, s. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. 29 Vgl. BGH v. 15.6.2016 – VIII ZR 134/15, NJW 2016, 2874 Rz. 10 m.w.N.; Überblick zum Streitstand bei MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 9 Fn. 37. 30 Als Beispiel für eine möglicherweise mangelbegründende Beschaffenheit i.S.v. § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 wird eine nicht beeinflussbare Weiterleitung personenbezogener Daten aus einem Fahrzeug an unbefugte Dritte erwogen, vgl. OLG Hamm v. 2.7.2015 – 28 U 46/15, Rz. 45. 31 Vgl. OLG München v. 6.9.2006 – 20 U 1860/06, Rz. 29. 32 Vgl. LG Bonn v. 27.2.2004 – 10 O 618/03, ZGS 2004, 199. 33 Vgl. jurisPK BGB/Pammler, § 434 Rz. 29 ff. m.w.N. aus der jüngeren Rspr.; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 15; als Beispiel für eine möglicherweise mangelbegründende Beschaffenheit i.S.v. § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 wird eine nicht beeinflussbare Weiterleitung personenbezogener Daten aus einem Fahrzeug an unbefugte Dritte erwogen, vgl. OLG Hamm v. 2.7.2015 – 28 U 46/15, Rz. 45. 34 Vgl. OLG Düsseldorf v. 29.3.1995 – 9 U 204/94, NJW-RR 1996, 1353, 1354 m.w.N. für öffentlich-rechtliche Nutzungsbeschränkungen von Gebäuden.

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BGB § 434 Rz. 12 Sachmangel b) Vereinbarung 12

Der Verkäufer wird durch den Kaufvertrag verpflichtet, die Sache mit der vereinbarten Beschaffenheit zu übertragen, § 433 Abs. 1 Satz 2. Das ist nach allgemeinen Auslegungskriterien mit Blick auf ausdrückliche und konkludente Erklärung zu bestimmen, §§ 133, 157, 305c Abs. 2.35 Die ausdrückliche Vereinbarung einzelner Beschaffenheiten (z.B. in einem Ausschreibungsdokument, bei einer leistungsbeschreibenden Anlage zum Vertrag etc.) besagt nicht, dass keine weiteren Beschaffenheiten konkludent vereinbart sind.36 Nach allgemeinen Regeln genügt eine einseitig gebliebene Vorstellung des Käufers auch dann nicht, wenn sie dem Verkäufer bekannt war.37 Erforderlich ist vielmehr zusätzlich, dass der Verkäufer darauf zustimmend reagiert hat.38 Die konkludente Zustimmung genügt,39 etwa wenn der Käufer sein besonderes Interesse an einer bestimmten Beschaffenheit hervorhebt und der fachkundige Verkäufer dies unwidersprochen zur Kenntnis nimmt und den Verkauf fortsetzt.40 Eine Beschaffenheitsvereinbarung ist nur anzunehmen, wenn die Auslegung der Parteierklärungen das eindeutig ergibt.41 Regelmäßig bilden Katalogangaben die Basis für entsprechende Beschaffenheitsvereinbarungen.42 Ein anschauliches Beispiel geben Verpackungen: Eine unzureichende oder fehlende Verpackung begründet nur dann einen Mangel der Kaufsache, wenn von der Verpackung die Haltbarkeit der Ware, deren Wert oder die Weiterverkaufsmöglichkeit abhängt oder wenn die Originalverpackung die Kaufsache kennzeichnet.43

13

Beschaffenheitsbeschreibungen des Verkäufers oder die Vorlage von Proben bei Vertragsverhandlungen bewirken eine entsprechende Beschaffenheitsvereinbarung (z.B. beim Kauf industrieller Hardwaresysteme), soweit der Käufer darauf zumindest konkludent eingeht.44 Das kommt in der Praxis regelmäßig vor, wenn Standardsoftware als Testinstallation zur Verfügung gestellt oder im Rahmen von Vorprojekten und Spezifikationen für einen Anwendungsfall beschrieben wird.

14

Gibt der Verkäufer offenkundig die Erklärungen Dritter (Wissenserklärung) wieder, macht er damit deutlich, dass er nicht selbst für die Richtigkeit der Aussage haftet. Seine Verantwortung reduziert sich dann darauf, dass der Dritte die Aussage tatsächlich getätigt hat.45

15

In der vorbehaltlosen Entgegennahme einer mangelhaften Kaufsache liegt regelmäßig keine Vereinbarung über eine geänderte Beschaffenheit. Das ist nur der Fall, wenn im Wege der Auslegung angenommen werden soll, §§ 133, 157, dass der Käufer die mangelhafte Sache endgültig als vertragsgemäß anerkennen will. Näher liegt es nach Sinn und Zweck mit Rücksicht auf die Verkehrssitte, dass der Käufer die Kaufsache zunächst annehmen will, um dann von seinen Mängelrechten Gebrauch zu machen. Insoweit ist bei der Auslegung beispielsweise Zeitdruck zu berücksichtigen, der einen IT-Kunden auch zur Annahme und produktivem Einsatz erkannt mangelhafter Gegenstände veranlassen kann. Gleichwohl kann der Käufer seine Mängelrechte nach den Regeln über unverzügliche Mängelrügen im Handelsverkehr verlieren, § 377 HGB.

35 Vgl. zur konkludenten Beschaffenheitsvereinbarung BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 96/12, NJW 2013, 1074 Rz. 16 m.w.N. = CR 2013, 199. 36 Vgl. BGH v. 22.9.1993 – VIII ZR 255/92, NJW-RR 1994, 114; vgl. auch Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 14. 37 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, 213. 38 Vgl. jurisPK BGB/Pammler, § 434 Rz. 54; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 16; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 17 m.w.N. 39 Vgl. BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 96/12, Rz. 16. 40 Vgl. BGH v. 27.5.1977 – V ZR 201/75, WM 1977, 1088. 41 Vgl. BGH v. 27.9.2017 – VIII ZR 271/16, NJW 2018, 146 Rz. 18 m.w.N. unter Verweis auf ständige Rechtsprechung nach neuem Schuldrecht. 42 Vgl. BGH v. 4.2.2009 – VIII ZR 32/08, NJW 2009, 1337 Rz. 12 f. = CR 2009, 305. 43 Vgl. OLG Nürnberg v. 22.2.2017 – 12 U 812/15, IBRRS 2017, 1317; BGH v. 28.4.1976 – VII ZR 244/74, NJW 1976, 1353. 44 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 15; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 16 f.; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 17 m.w.N. 45 Vgl. BGH v. 29.6.2016 – VIII ZR 191/15, NJW 2016, 3015 Rz. 20 m.w.N.; BGH v. 13.3.2013 – VIII ZR 186/12, NJW 2013, 2107, Rz. 22 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 15.

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Sachmangel

Rz. 19 § 434 BGB

Die Vereinbarung der Beschaffenheit kann einen hohen aber auch einen niedrigen Maßstab (negative 16 Beschaffenheitsvereinbarung) festlegen.46 Beispielsweise kann bei Vereinbarung über die Lieferung ungetesteter Software nicht (unmittelbar) die Qualität eines ausgetesteten Softwareprodukts erwartet werden. Vielmehr haben die Parteien die zu liefernde Kaufsache, § 433 Abs. 1 Satz 2, und regelmäßig auch Lieferzeit und Kaufpreis entsprechend festgelegt. Soweit das hinreichend deutlich geschieht, ist kein (in AGB problematischer) Gewährleistungsausschluss anzunehmen. Erhebliche Einschränkungen erfordern aber klare Anhaltspunkte im Rahmen der Auslegung nach §§ 133, 157, 305c Abs. 2. Z.B. ist bei Lieferung ungetesteter Software regelmäßig nicht die Beschaffenheit, sondern die erforderliche Sorgfalt bzgl. der Kaufsache modifiziert: Zwar wird der Käufer das Vorkommen von Fehlern akzeptieren müssen (der Verkäufer handelt auch als Hersteller nicht schuldhaft), gleichwohl aber Fehlerbehebung erwarten. Im Ausnahmefall kann sich jedoch aus dem Inhalt der kaufmännischen Verhandlungen ergeben, dass Fehlerbehebungen ausschließlich nach einem zusätzlich zu vereinbarenden Softwarepflegevertrag geschuldet sind. c) Abgrenzung zu § 311 Abs. 2 (c.i.c) Haftung aus c.i.c., § 311 Abs. 2, kommt grds. nur insoweit in Betracht, als die Mängelhaftung für die 17 vereinbarte Beschaffenheit nicht eingreift. Insoweit soll dem Verkäufer die Nachleistungsmöglichkeit erhalten werden.47 Für die Verletzung von Nebenpflichten bleibt die Haftung aus c.i.c. anwendbar, §§ 311 Abs. 2, 280.48 Ansprüche kommen jedoch auch neben Gewährleistung in Betracht, wenn der Verkäufer arglistig täuscht,49 Mängel pauschal leugnet50 oder ihm bekannte Mängel pflichtwidrig verschweigt. Ebenfalls neben Mängelrechten kann der Käufer Rechte aus einem selbständigen Beratungsvertrag geltend machen.51 3. Eignung zur vertraglich vorausgesetzten Verwendung (§ 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1) Soweit keine Vereinbarung über das fragliche Merkmal festzustellen ist, kommt es auf die vertraglich vorausgesetzte Verwendung an. Vereinbarungen über die vertraglich vorausgesetzte Verwendung gelten auch neben Beschaffenheitsvereinbarungen und sonstigen Vorgaben, die sich zusätzlich aus der gewöhnlichen Verwendung einer Kaufsache ergeben.52

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Widersprüche zwischen vereinbarter Beschaffenheit und Verwendungszweck sind durch Auslegung aufzulösen (z.B. wenn die spezifischen Softwaremodule für den vereinbarten Verwendungszweck ungeeignet sind): Ist nach Auslegung ein Vorrang der Verwendungszweckabrede anzunehmen, tritt die widersprechende Beschaffenheitsvereinbarung zurück. Ist kein Vorrang festzustellen, gilt die Beschaffenheitsvereinbarung.53 Ob neben konkreten Beschaffenheitsvereinbarungen im Kaufvertrag ein Verwendungszweck vorausgesetzt wurde, ist im Wege der Auslegung zu klären (z.B. anhand von Vertriebspräsentationen aus der Vertragsanbahnung). Dabei ist zu berücksichtigten, ob der Verkäufer nach dem Vertrag die Verantwortung für eine Verwendungsmöglichkeit tragen wollte. Häufig ist die Sachkunde des Verkäufers der maßgebliche Ausgangspunkt54: So kann regelmäßig nur der Verkäufer beurteilen, ob mit technischen Bezeichnungen aufgelistete Elemente einer Softwarelösung vollständig und im Sinne der angestrebten Gesamtfunktion erforderlich sind. Der Käufer hat regelmäßig nur die Möglichkeit, seinen Bedarf darzustellen und auf Fragen zu alternativen Gestaltungen zu antworten. Dann muss der Verkäufer dafür einstehen, dass ein vereinbarter Verwendungszweck erreicht wird (z.B. für die Möglichkeit, aus den verkauften Gegenständen ein lauffähiges System zu erstellen). Ist die Vereinbar-

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46 Vgl. BGH v. 27.9.2017 – VIII ZR 271/16, MMR 2018, 162 Rz. 23 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 23 m.w.N. 47 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 57 m.w.N. 48 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 57 m.w.N. 49 Vgl. BGH v. 17.5.1995 – VIII ZR 70/94, NJW 1995, 2159, 2160 m.w.N.; zur Definition der Arglist BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150, Rz. 21. 50 Vgl. BGH v 27.3.2009 – V ZR 30/08, Rz. 24 m.w.N. 51 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 58 m.w.N. 52 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 19; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 13, 25. 53 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 21; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 13 m.w.N. 54 Ähnlich Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 19.

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BGB § 434 Rz. 19 Sachmangel keit von Beschaffenheitsvereinbarungen und vereinbartem Verwendungszweck ausgeschlossen, handelt es sich um einen Fall anfänglicher Unmöglichkeit, § 311a. a) Verwendung 20

Verwendung ist die konkrete Art, in der der Käufer mit der Kaufsache verfahren will.55 Die Verwendung kann sehr allgemein (z.B. Personal Computer) oder sehr spezifisch zur Lösung eines bestimmten Problems sein (z.B. Betrieb einer bestimmten Anwendungssoftware für einen bestimmten Geschäftsprozess mit einer bestimmten Anzahl von Nutzern). Entsprechend dem weiten Verständnis der Beschaffenheit ist auch ein weites Verständnis der „Verwendung“ erforderlich, das auch über die unmittelbare physische Nutzung der Kaufsache hinausgehen kann.56 Dazu kann beispielsweise die Möglichkeit des Einsatzes einer Software in einer bestimmten Betriebsumgebung zählen oder der Einsatz unter bestimmten klimatischen Verhältnissen. Es genügen Umweltbeziehungen einschließlich rechtlicher Gegebenheiten, die für einen bestimmten Verwendungszweck bedeutsam sind.57 b) Vertraglich vorausgesetzt

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Einigkeit besteht darüber, dass der Verwendungszweck für den Verkäufer bei Vertragsschluss erkennbar sein muss.58 Umstritten ist jedoch, ob der Verwendungszweck Teil der vertraglichen Einigung der Parteien geworden sein muss oder ob es genügt, wenn er im Sinne einer Geschäftsgrundlage der Vereinbarung zugrunde lag.59 Der Wortlaut des § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 scheint gerade keine Vereinbarung zu fordern. Anderenfalls hätte „die vertraglich vereinbarte Verwendung“ als gesetzlicher Wortlaut nahe gelegen. Ließe man entgegen dem Wortlaut nur einen als Inhalt der Vereinbarung festgestellten Verwendungszweck genügen, so gäbe es keinen selbständigen Anwendungsbereich neben der weit zu verstehenden Beschaffenheitsvereinbarung. Danach genügt es, wenn der Verwendungszweck der Vereinbarung im Sinne einer Geschäftsgrundlage zugrunde lag. c) Eignung

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Die Kaufsache ist geeignet, wenn sie bei ordnungsgemäßer Benutzung für die vertraglich vorausgesetzte Verwendung ohne Abstriche brauchbar ist.60 Eine erhebliche Minderung der Eignung ist beispielsweise bei substantiellen Risiken wirtschaftlicher Schäden gegeben.61 4. Eignung für die gewöhnliche Verwendung und übliche Beschaffenheit (§ 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2)

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Auf die Eignung für die gewöhnliche Verwendung und übliche Beschaffenheit kommt es nur an, soweit bezogen auf die jeweils relevante Eigenschaft weder durch eine Beschaffenheitsvereinbarung noch durch eine vertraglich vorausgesetzte Verwendung die Anforderungen abschließend festgelegt sind.62 Durch negative Beschaffenheitsvereinbarungen kann auch ein im Vergleich zu üblichen Anforderungen reduzierter Qualitätsmaßstab vereinbart sein.63 Entsprechend der weiten Definition der vereinbarungsfähigen Beschaffenheit und der nach dem Vertrag vorausgesetzten Verwendung sind

55 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 74 m.w.N. 56 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 19 m.w.N.; ähnlich Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 74 m.w.N. 57 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 19 m.w.N. 58 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 18; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 21. 59 Vgl. zum Streitstand MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 18 Fn. 102; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 76 m.w.N. 60 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 23; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 80. 61 Vgl. BGH v. 26.4.2017 – VIII ZR 80/16, NJW 2017, 2817 Rz. 18 m.w.N. 62 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 24 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 20, 22. 63 Vgl. BGH v. 27.9.2017 – VIII ZR 271/16, MMR 2018, 162 Rz. 25 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 23 m.w.N.

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Sachmangel

Rz. 26 § 434 BGB

auch für die übliche Beschaffenheit und den gewöhnlichen Gebrauch Umstände relevant, die außerhalb der Sache selbst liegen.64 Die gewöhnliche Verwendung umfasst die Zwecke, zu denen Gegenständen gleicher Art üblicherweise gebraucht werden.65 Neben der Kaufsache sind dabei die Verkehrskreise zu berücksichtigen, aus denen die Vertragsparteien stammen (z.B. IT-fremde Anwender, IT-Abteilung oder Wiederverkäufer/ Systemhaus). Maßgeblich ist die Gesamtschau der Umstände im Einzelfall zur Bestimmung des Vergleichsmarktes mit Produkten, die bezogen auf die objektivierte Käufererwartung austauschbar erscheinen.66 Anhaltspunkte ergeben sich insb. aus am jeweiligen Markt wertbildenden Faktoren wie dem Preis, speziellen Einsatzgebieten, Qualitätsstandards, der Pflegbarkeit oder absehbarem Auslaufen von Weiterentwicklungen, der Einordnung als Marken- oder No Name-Produkten oder der Behandlung als Neu- oder Gebrauchtwaren.67 Danach sind auch Serienfehler Sachmängel, wenn der Kaufgegenstand dadurch dem Qualitätsstandard vergleichbarer Produkte nicht mehr entspricht (keine Einschränkung des Vergleichsmarktes auf Produkte einer mangelhaften Serie).68

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Die Kaufsache muss grundsätzlich dem „Stand der Technik“ entsprechen.69 Ist ein vertretbarer Lö- 25 sungsweg gewählt und damit eine Gebrauchstauglichkeit eröffnet, ist die Sache mangelfrei. Eine über den jeweiligen Stand der Technik hinausgehende Erwartung des durchschnittlichen Käufers ist unbeachtlich (z.B. sind danach übliche Einschränkungen hinzunehmen).70 Beispiele: Ohne weitergehende Vereinbarungen zum Leistungsumfang ist ein Datenverarbeitungsprogramm geschuldet, das dem Stand der Technik bei einem mittleren Ausführungsstandard entspricht.71 Unabhängig vom Bewusstsein des durchschnittlichen Autokäufers kann der Käufer eines Dieselfahrzeugs mit Partikelfilter objektiv keine uneingeschränkte Eignung zum Kurzstreckenbetrieb erwarten, weil diese nach dem Stand der Technik im Verhältnis zu diesen Fahrzeugen ohne Partikelfilter eingeschränkt ist.72 Wird ein Grundstück mit von Giftstoffen belastetem Grundwasser durchströmt, weist es nicht die übliche Beschaffenheit eines zu Wohnzwecken genutzten Grundstücks auf. Das gilt auch, wenn sich die Belastung bei gewöhnlicher Verwendung nicht auswirkt. Vielmehr genügt die abstrakte Gefahr, die ein Käufer i.d.R. ohne weiteres nicht hinzunehmen bereit ist, für den Fall eines Brandes, bei Hochwasser oder Baumaßnahmen, selbst wenn diese nicht absehbar sind.73 Entsprechend ist für eine Software bereits dann von einem Mangel auszugehen, wenn sie auf übliche, innerhalb eines Lebenszyklus auftretende Situationen nur mangelhaft eingerichtet ist (beispielsweise weil nicht oder ungenügend dokumentiert wurde), so z.B. erforderliche Aktualisierungen, Versionswechsel, Anpassungen an ein neues Betriebssystem etc. Treten in solchen Fällen wegen vernachlässigter Vorkehrungen im Vergleich zum Stand der Technik unverhältnismäßige Risiken auf, liegt darin ein Mangel der Software. Keinen Mangel bildet jedoch eine noch im Üblichen liegende, konstruktionsbedingte höhere Wartungsbedürftigkeit, um Mangelerscheinungen zu vermeiden.74 5. Eigenschaftserwartungen aufgrund öffentlicher Äußerungen (§ 434 Abs. 1 Satz 3) Die üblicherweise bei Sachen gleicher Art zu erwartende Beschaffenheit wird um solche Eigenschaften 26 erweitert, die der Käufer wegen öffentlicher Äußerungen (z.B. durch den Hersteller oder Verbandsmarketing) erwarten kann, § 434 Abs. 1 Satz 3. Auszugrenzen sind jedoch bloße Werturteile und Anpreisungen, die zu unbestimmt sind, um berechtigte Erwartungen bzgl. einer Beschaffenheit zu wecken

64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 24 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 20 f.; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 24 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 25 m.w.N. Vgl. Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 90; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 25 m.w.N. Vgl. BGH v. 16.5.2017 – VIII RZ 102/16, juris Rz. 3 m.w.N. zur obergerichtlichen Rechtsprechung. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 24 m.w.N. Vgl. BGH v. 4.3.2009 – VIII ZR 160/08, NJW 2009, 2056, Rz. 11 m.w.N. Vgl. BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJW-RR 2004, 782, 783 m.w.N. = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123. Vgl. BGH v. 4.3.2009 – VIII ZR 160/08, NJW 2009, 2056 Rz. 11. Vgl. BGH v. 30.11.2012 – V ZR 25/12, Rz. 13 ff. Vgl. OLG Brandenburg v. 13.6.2007 – 13 U 162/06, VRR 2008, 182 Rz. 28 f.

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BGB § 434 Rz. 26 Sachmangel (z.B. „Beste seiner Klasse“, „Robust“).75 Dadurch kann nur die Erwartung geweckt werden, dass es sich um eine besonders hochwertige Sache handelt, die bezogen auf den für § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 maßgeblichen Vergleichsmarkt entsprechend eingeordnet werden muss.76 Entscheidend ist, was der Käufer nach objektivierter Betrachtung erwarten kann.77 27

Durch negative Beschaffenheitsvereinbarungen kann auch ein im Vergleich zu üblichen Anforderungen reduzierter Qualitätsmaßstab vereinbart sein.78 Negative Beschaffenheitsvereinbarungen gehen öffentlichen Äußerungen vor.

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Öffentlich sind Äußerungen, die an einen nicht von vorneherein fest bestimmten Personenkreis gerichtet werden und die nicht nur durch den Käufer, sondern auch durch sonstige Dritte wahrnehmbar sind (z.B. über das Internet).79 Als Sonderfall der öffentlichen Äußerung ist die Werbung genannt. Darunter sind sämtliche Maßnahmen zu verstehen, die öffentlich zur Verkaufsförderung kommunizieren, z.B. TV-Spots, Werbebanner, Internetpräsentationen, Messeauftritte etc. Ausnahmen gelten jedoch insoweit, als der Verkäufer nachweisen kann, dass er die Äußerung weder kannte noch kennen musste. Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.80 Dem Verkäufer schadet jede fahrlässige Unkenntnis öffentlicher Äußerungen.81 Öffentliche Äußerungen des Herstellers in gängigen Medien muss der Verkäufer verfolgen.82 Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Typisierend ist zwischen Fachhändlern und sonstigen Verkäufern zu unterscheiden: Tritt der Verkäufer als Fachhändler oder sonst in einer Weise auf, die dem Käufer spezifische Expertise in Aussicht stellt (z.B. durch Zertifizierung als Partner für eine bestimmte Softwareplattform), muss er sich aus den allgemein zugänglichen Quellen informieren.83 Bezogen auf Software wird abhängig von der Verbreitung der Kaufsache die Beobachtung von Herstellerseiten, Entwickler- und Anwenderforen im Internet zu erwarten sein. Davon sind sonstige Verkäufer zu unterscheiden, die keine spezifische Expertise in Aussicht stellen. Diese trifft grds. keine Pflichten zur Information über öffentliche Äußerungen zum Produkt.84

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Ist bis zum Abschluss des Kaufvertrages eine gleichwertige Berichtigung der öffentlichen Äußerung erfolgt, schützt das auch den Verkäufer. Gleichwertig ist die Berichtigung, wenn sie mit entsprechender öffentlicher Verbreitung und Intensität erfolgt (nicht notwendig über das selbe Medium).85 Es genügt nicht, wenn die Berichtigung aus dem Käufer übergebenen Unterlagen entnommen werden könnte, soweit der Verkäufer nicht klar darauf hinweist, dass eine bestimmte öffentliche Äußerung unrichtig ist.86 Eine Berichtigung kann auch durch entsprechende Äußerungen ggü. dem Käufer oder negative Beschaffenheitsvereinbarung für den jeweiligen Kaufvertrag nach den dafür maßgeblichen Grundsätzen erfolgen.87 Konnte die öffentliche Äußerung die Kaufentscheidung nicht beeinflussen, kann sie auch keine Grundlage für Mängelansprüche sein. Erforderlich ist jedoch nicht der Nachweis, 75 Vgl. OLG Düsseldorf v. 7.12.1988 – 17 U 27/87, CR 1989, 689 f., das wegen der Aussage, Hard- und Software seien aufeinander abgestimmt, eine Beschaffenheitsvereinbarung bejaht, jedoch die besondere Zusicherung einer Eigenschaft nach altem Recht verneint hatte; vgl. auch Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 102 m.w.N. 76 Vgl. in diesem Sinne auch Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 96 m.w.N.; a.A. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 28. 77 Vgl. BGH v. 25.1.2019 – V ZR 38/18, NJW 2019, 2380 Rz. 11 m.w.N.; BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 9 m.w.N. 78 Vgl. BGH v. 27.9.2017 – VIII ZR 271/16, MMR 2018, 162 Rz. 26; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 23; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 96 m.w.N. 79 Vgl. BGH v. 17.3.2010 – VIII ZR 253/08, NJW-RR 2010, 1329 Rz. 17 zur öffentlichen Äußerung über eine Internetseite; vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 99 m.w.N. 80 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 26 m.w.N. 81 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 38; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 110 m.w.N. 82 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 110 m.w.N. 83 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 26 m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 110 m.w.N. 84 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 26; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 33; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 110 m.w.N. 85 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 28; tendenziell strenger MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 34 m.w.N. 86 Vgl. BGH v. 25.1.2019 – V ZR 38/18, NJW 2019, 2380 Rz. 15. 87 Vgl. BGH v. 25.1.2019 – V ZR 38/18, NJW 2019, 2380 Rz. 14 m.w.N.

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Sachmangel

Rz. 33 § 434 BGB

dass die Äußerung nicht ausschlaggebend für die Kaufentscheidung war.88 Ausreichend ist ein Nachweis, dass der Käufer die öffentliche Aussage bei Vertragsschluss nicht kannte oder dass der Käufer konkret von ihr nicht beeinflusst wurde.89 Davon abgesehen genügt die Möglichkeit zur Beeinflussung der Kaufentscheidung.90 6. Montagefehler (§ 434 Abs. 2 Satz 1) Ein Sachmangel liegt auch vor, wenn der Verkäufer eine geschuldete Montage unsachgemäß durch- 30 führt (z.B. die Konfiguration einer Software, deren Integration in einer bestimmten Betriebsumgebung etc.), § 434 Abs. 2 Satz 1. Montage meint alle Handlungen, die einmalig mit oder an der Kaufsache vorzunehmen sind, damit die Kaufsache am gewünschten Ort in der gewollten Art und Weise benutzt werden kann.91 Dazu kann das Anschließen, Anbringen, Einstellen der Kaufsache gehören. Bezogen auf IT-Systeme ist hier insb. an deren Anschluss, Installation, Konfiguration und Integration zu denken.92 Die Montage gehört zur Hauptpflicht des Verkäufers, die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu liefern, § 433 Abs. 1 Satz 2, ohne dass der Montagefehler einen Mangel der Sache im Übrigen bewirken muss.93 Unsachgemäße Montage umfasst gleichermaßen Fälle, in denen die Montage zum Mangel in der Sache selbst führt (z.B. fehlerhaft eingestellte Software; falsch zusammengesetzte Hardware wird zerstört) wie auch eine Montage, deren Mängel sich außerhalb der Kaufsache auswirken (z.B. fehlerhafte Integration einer Software in die Betriebsumgebung führt zu Fehlern bei der Datenübergabe zu Umfeldsystemen; die Software als solche arbeitet in ihren Schnittstellen korrekt). Die Montagepflicht führt nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht zu einem typengemischten 31 Vertrag.94 Nach den Umständen des Einzelfalls ist abzugrenzen, ob ein Kauf mit Einstellungspflichten oder ein darüber hinausgehender Werkvertrag/Werklieferungsvertrag mit einem Lieferelement vereinbart ist. Letzteres kann bei umfangreichen Parametrisierungen anzunehmen sein, die den Schwerpunkt der Vereinbarung bilden,95 weil sie materiell bezogen auf Aufwand, Investitionen in Individualisierungen in über die Kaufsache hinausgehenden Erfolg und Projektrisiken mit einem Individualsoftwareentwicklungsprojekt vergleichbar sind (s. zur Abgrenzung von Werkvertrag und Werklieferungsvertrag § 433 Rz. 10 ff.). Erfolgt die Montage aus Kulanz und ist auch keine nachträgliche konkludente Vereinbarung über eine Montagepflicht anzunehmen, scheiden auch Sachmängel wegen unsachgemäßer Montage aus. Eine außerhalb des rechtsgeschäftlichen Bereichs liegende Gefälligkeit ist jedoch nur ausnahmsweise anzunehmen, z.B. bei besonderer persönlicher Bekanntschaft.96

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7. Fehlerhafte Montageanleitung (§ 434 Abs. 2 Satz 2) Ist die Montageanleitung mangelhaft, fehlt es an der zu erwartenden Beschaffenheit nach § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2. Jedoch wird der Verkäufer insoweit privilegiert, als die Sache gleichwohl fehlerfrei montiert wurde.97 Montageanleitung ist die Beschreibung eines Verkäufers, Herstellers oder Zwischenhändlers, wie die Montage der Kaufsache durchzuführen ist. Montageanleitungen können mündlich erfolgen. Regelmäßig ist Textform zu erwarten. Strittig ist, ob gleichermaßen Anleitungen erfasst sind, die der fortlaufenden Benutzung dienen (z.B. Dokumentationen für den Betrieb, die Administrati-

88 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 112 m.w.N. 89 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 35 m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 112 m.w.N. 90 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 35 m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 112. 91 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 42. 92 Vgl. Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 338. 93 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 42; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 338. 94 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, 215. 95 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, 215. 96 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 52. 97 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 51; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 339 m.w.N.

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BGB § 434 Rz. 33 Sachmangel on, Endanwender, Schulungsunterlagen etc.).98 Regelmäßig kommt es auf die Unterscheidung jedoch nicht an, weil ein Mangel bei fehlerhaften Dokumentationen bereits nach § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 anzunehmen ist.99 Die Anwendbarkeit der Regeln zur mangelhaften Montageanleitung auf sonstige Dokumentationen spielt jedoch ausnahmsweise eine Rolle, wenn der Verkäufer nach § 434 Abs. 2 Satz 2 a.E. privilegiert wird, weil dem Käufer gleichwohl die Montage gelungen ist. Teils wird vertreten, dass die Geltendmachung von Mängelrechten dann missbräuchlich erschiene, weil der Käufer nunmehr wisse, wie die Sache zu bedienen/montieren sei.100 Teils werden Montageanleitung (für die Inbetriebnahme) und weitergehende Dokumentationen (für die fortlaufende Verwendung) wegen wesentlicher Interessenunterschiede als nicht vergleichbar angesehen; das Privileg beruhe insoweit auf der Überlegung, dass nach der einmalig erforderlichen Montage eine Fehlerwirkung fehle.101 34

Sowohl für die Montageanleitung als auch für die Frage einer weiten Auslegung oder Analogie für sonstige Bedienungsanleitungen erscheint eine teleologische Reduktion102 der Verkäuferprivilegierung sachgerecht: Der Regelungszweck schützt den Verkäufer, wenn sich der Mangel nicht mehr auswirken kann.103 Zudem sollte Art. 2 Abs. 5 Satz 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie104 umgesetzt werden. Die Umsetzung sollte sich auch auf Fälle abseits von Verbraucherverträgen auswirken, weil dort ähnliche Konstellationen gesehen und insb. Rückgriffsprobleme nach einem solchen Mangelanspruch des Verbrauchers für den Verkäufer gelöst werden sollten.105 Nach dem Wortlaut der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ist ein Mangel aber immer dann anzunehmen, wenn „die unsachgemäße Montage auf einen Mangel in der Montageanleitung zurückzuführen ist“, Art. 2 Abs. 5 Satz 2 a.E. Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.106 Von einer Beschränkung auf eine einmalige Montage oder gar Pflichten des Käufers zur Dokumentation einer zufällig gelungenen Montage ist nichts angedeutet. Danach wäre es jedenfalls für Verbraucherverträge im Sinne richtlinienkonformer Auslegung ausgeschlossen, dem Käufer wegen einer (zufällig) gelungenen Montage seine unverjährten Mängelrechte zu nehmen. Die weitgehende Formulierung des Verkäuferprivilegs (Verlust der Mangelrechte nach fehlerfreier Montage) erfolgte nach der Gesetzesbegründung, um (i) Rückgriffsfälle des vom Verbraucher in Anspruch genommenen Letztverkäufers zu lösen und (ii) dem Verkäufer die Beweislast zuzuweisen.107 Der Gesetzgeber hatte vergleichbare Konstellationen und gerade keine komplexen technischen Gegenstände im Fokus, die nach ihrem vertraglich vorausgesetzten Gebrauch mehrfach montiert werden müssen.108 Im Falle der Installation einer komplexen Softwarelösung in einer Rechenzentrumsumgebung mit etlichen Schnittstellen zu sonstigen Systemen wäre es mit Blick auf diesen Regelungszweck nicht nachvollziehbar, warum dem Käufer das Recht auf Nacherfüllung bezogen auf eine vertragsgerechte Betriebsdokumentation (für die vorhersehbar zu wiederholenden Installationen) abgesprochen werden sollte. Dem Käufer müsste durch ein weiteres Verständnis und die Erstreckung von § 434 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 Nr. 1 auf die fehlerhafte Anleitung geholfen werden, das sich gegen die speziellere Regelung in § 434 Abs. 2 Satz 2 durchsetzt. Anderenfalls wäre der Verkäufer durch eine glücklich (mit hohem Aufwand des Käufers, z.B. durch punktuellen Einsatz sehr hochpreisiger Projektspezialisten) gelungene Installation nicht nur bezogen auf den ursprünglichen Fehler befreit. Darüber hinaus wäre die – teils aufwendige – Pflicht zur Erstellung einer hinreichenden Dokumentation auf den Käufer

98 Vgl. Überblick zum Streitstand bei MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 41; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 352 m.w.N. 99 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 41; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 352 m.w.N. 100 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 59. 101 Vgl. Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 352; mit demselben Ergebnis Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 48. 102 Vgl. ähnlich auch Tröger, JuS 2005, 503, 511. 103 So BT-Drucks. 14/6040, 216. 104 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 105 So BT-Drucks. 14/6040, 216. 106 Ähnlich auch die ab 1.1.2022 anzuwendenden Regeln in Artt. 6 lit. c) und 7 Abs. 1 lit. c) Warenkaufrichtlnie, s. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. 107 So BT-Drucks. 14/6040, 216. 108 So BT-Drucks. 14/6040, 216.

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Sachmangel

Rz. 38 § 434 BGB

verlagert. Das geht über den Ausschluss missbräuchlich (weil wirkungslos) geltend gemachter Käuferrechte109 weit hinaus und ist deshalb abzulehnen. Die Montageanleitung ist mangelhaft, wenn sie die durchzuführende Montage aus Sicht des objekti- 35 ven Erwartungshorizontes des durchschnittlichen Käufers unzureichend, missverständlich oder falsch ist. Die Regeln des § 434 Abs. 1 gelten auch für die Montageanleitung.110 Beispielsweise kann es genügen, die Anleitung in einer fremden Sprache zu liefern. Maßgeblich ist der Verständnishorizont eines durchschnittlichen Käufers aus der für den Kaufvertrag maßgeblichen Zielgruppe, so dass zwischen Anleitungen für Fachleute und solchen zu differenzieren ist, die sich zumindest auch an Laien wenden.111 Strittig ist, ob das Fehlen einer Montageanleitung als Fall der fehlerhaften Montageanleitung an- 36 zusehen ist.112 Der Wortlaut des Gesetzes erfasst nur die mangelhafte Montageanleitung. Entsprechende Fragen stellen sich auch bei sonstigen für den Betrieb erforderlichen Dokumentationen (z.B. für Anwender, Administratoren, Betreiber etc.). Ausdrücklich stellt § 434 Abs. 3 dem Sachmangel nur die Lieferung eines aliud oder einer zu geringen Menge gleich. Zwar erscheint es schwer nachvollziehbar, warum eine fehlende Montageanleitung anders zu behandeln sein soll als eine grundlegend unbrauchbare. Angesichts der Bedeutung, die die Montageanleitung für komplexe Kaufsachen hat, erscheint die Behandlung als wesentliche Vertragspflicht aber naheliegend. Auch sonst wird etwa für Rügeobliegenheiten, § 377 HGB, die vollständige Lieferung verlangt und gerade keine Gleichsetzung der Teilleistung mit einer (erkennbaren) Schlechtleistung befürwortet.113 Danach ist es konsequent, auch fehlende wesentliche Dokumentationen nicht nach allgemeinen Regeln betreffend Teilleistungen zu behandeln.114 8. Falschlieferung (aliud) (§ 434 Abs. 3 Alt. 1) Falschlieferung (aliud) und Sachmangel werden gleich behandelt, § 434 Abs. 3 Alt. 1, um vormalige Abgrenzungsprobleme zu erledigen (z.B. bezogen auf unterschiedliche Versionen einer Software, abweichende Baureihen von Hardware etc.).115 Die Gleichstellung gilt dem Wortlaut entsprechend unabhängig von einer Billigung durch den Käufer oder von einer Genehmigungsfähigkeit (insb. nach Aufhebung des § 378 HGB).116 Falschlieferung ist die Leistung eines anderen als des vereinbarten Gegenstandes in der Absicht, damit die vertragliche Pflicht zu erfüllen.117 Verwechslungen genügen insoweit nicht.118 Die Einordnung einer Falschlieferung als Sachmangel ist unabhängig vom Wert der Sache, d.h. sie gilt auch, wenn eine objektiv erheblich wertvollere Sache geliefert wird (z.B. erheblich mächtigere Berichtswerkzeuge, eine Version mit zusätzlichen Modulen etc.).119 Grundsätzlich kann jedoch nur der Käufer entscheiden, ob er Nacherfüllung verlangt (die wertvollere Sache zurückgibt).

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9. Lieferung zu geringer Menge (§ 434 Abs. 3 Alt. 2) Weicht die gelieferte Menge zu Lasten des Käufers ab, stellt das gleichfalls einen Sachmangel dar, § 434 Abs. 3 Alt. 2. Die Lieferung in zu geringer Menge (Menge oder Gewicht) setzt voraus, dass 109 A.A. die wohl h.M., vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 41 m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 134 f. m.w.N. 110 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 39; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 125 m.w.N. 111 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 39 m.w.N. 112 Vgl. Überblick bei MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 38 m.w.N. 113 Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 m.w.N. 114 Vgl. BGH v. 3.11.1992 – X ZR 83/90, NJW 1993, 1063, 106 = CR 1993, 352; BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJW-RR 2004, 782, 783 f. m.w.N. = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123; a.A. die wohl h.M., vgl. MünchKomm/ Westermann, § 434 BGB Rz. 38 m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 131 m.w.N. 115 S. BT-Drucks. 14/6040, 216. 116 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 61 m.w.N., auch zu abweichenden Ansichten; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 52a f. 117 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 52; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 61 m.w.N. 118 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 52.; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 44 m.w.N. 119 Vgl. Musielak, NJW 2003, 89, 91 m.w.N.

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38

BGB § 434 Rz. 38 Sachmangel (i) die im Kaufvertrag bestimmte Menge unterschritten wird und (ii) die Lieferung in der Absicht der Erfüllung bezogen auf die vereinbarte Gesamtmenge erfolgt (sonst unberechtigte Teilleistung, § 266).120 Ein Fall der Teilleistung liegt etwa vor, wenn der Verkäufer eines Gesamtsystems zunächst nur die Hardware – ohne die Software – liefert.121 Nicht von § 434 Abs. 3 Alt. 2 erfasst sind die Fälle der Zuviellieferung (z.B. von Softwarelizenzen). Bezogen auf die vertraglich vereinbarte Menge ist der Vertrag erfüllt. Darüber hinaus fehlt ein Rechtsgrund. Soweit nicht im Einzelfall eine (konkludente) Vertragsänderung anzunehmen ist,122 ist die Zuviellieferung nach Bereicherungsrecht herauszugeben, § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1.

III. Rechtsfolgen 39

Ist eine der Alternativen des § 434 gegeben, besteht ein Sachmangel der Kaufsache. Die Rechte des Käufers wegen Mängeln ergeben sich aus den §§ 437 bis 441. Vor Gefahrübergang kann der Käufer wegen Nichterfüllung der Hauptleistungspflicht zur Lieferung einer mangelfreien Sache (§ 433 Abs. 1 Satz 2) die angebotene mangelhafte Sache zurückweisen, ohne in Gläubigerverzug zu kommen. Auch nach Gefahrübergang können wegen Mängeln Zurückbehaltungsrechte gegen den Kaufpreisanspruch geltend gemacht werden, § 320.

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 40

Die Rechte des Käufers können grundsätzlich vertraglich beschränkt, ausgeschlossen und erweitert werden.123 Es gelten die allgemeinen Grenzen (z.B. Sittenwidrigkeit) und die Haftung für Garantien, § 444.124 Das gilt auch für die Zeit zwischen Vertragsschluss und Gefahrübergang.125 Zu den Einschränkungen beim Verbrauchsgüterkauf s. § 475, § 478. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

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In AGB gelten auch im unternehmerischen Verkehr enge Grenzen für die Möglichkeiten zur Einschränkung der Mängelhaftung, z.B. durch §§ 307, 309 Nr. 8 Buchst. b (zu Details s. § 307 Rz. 27 ff. und § 309 Rz. 47 ff.). Beispielsweise unwirksam sind pauschale Ausschlüsse für nicht-reproduzierbare Mängel oder Verweise, dass Software niemals mangelfrei sei.

V. Einzelfälle und -fragen 1. Nutzungseinschränkungen wegen Geheimhaltungspflichten 42

Im IT-Vertrag finden sich regelmäßig weitgehende Geheimhaltungspflichten, die insb. die Weitergabe technischer Informationen an Wettbewerber des Softwareverkäufers und -herstellers beschränken. Häufig ist den eingeräumten Nutzungsrechten nicht ausdrücklich Vorrang eingeräumt. Dann stellt sich die Frage, ob die ausdrücklich vereinbarten Geheimhaltungspflichten im Rahmen der Auslegung die vertraglich vorausgesetzte Verwendung oder sogar Beschaffenheitsvereinbarungen beschränken: Beschaffenheitsvereinbarungen setzen sich bei sachgerechter Auslegung des Kaufvertrags entsprechend dem Verhältnis von Beschaffenheitsvereinbarungen und Haftungsausschlüssen gegen Geheim-

120 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 63 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 53b; s. auch BTDrucks. 14/6040, 216. 121 Vgl. Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 210 m.w.N.; BT-Drucks. 14/6040, 216. 122 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 49 m.w.N. 123 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 4; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 282. 124 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 4; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 283 m.w.N. 125 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 434 BGB Rz. 4 m.w.N.

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Sachmangel

Rz. 43 § 434 BGB

haltungspflichten durch.126 Weiter setzt sich auch die vertraglich vorausgesetzte Verwendung im dazu erforderlichen Umfang gegen Geheimhaltungspflichten durch. Rechtsgrundlagen bieten regelmäßig vereinbarte salvatorische Klauseln und die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung,127 abhängig von den Einzelfallumständen. Die Auslegung hat insb. zu berücksichtigen, ob dem Käufer noch Gelegenheit bleibt, von eingeräumten Nutzungsrechten Gebrauch zu machen. Beispielsweise wäre die Überlassung der Software und technischer Informationen im Rahmen eines Outsourcings des Anwendungsbetriebs ausgeschlossen, soweit der Käufer die vertraglich vorausgesetzte Nutzung auch im Eigenbetrieb durchführen könnte. Liegt dem Vertrag für den Verkäufer erkennbar ein Fremdbetrieb zugrunde (z.B. beim Kauf durch eine Konzernholding), so kann die Sollbeschaffenheit auf eine Überlassung an nicht-Wettbewerber des Verkäufers eingeschränkt sein. 2. Mangelverdacht/nicht-reproduzierbare Mängel Abhängig von den Umständen das Einzelfalls kann nach den Voraussetzungen des § 434 Abs. 1 be- 43 reits der Verdacht eines Mangels einen Mangel bedeuten. Nach älterer Rspr. wird gefordert, dass sich der Verdacht auf konkrete Tatsachen von einigem Gewicht stützt und der Mangelverdacht die Sache selbst betrifft und nicht bloß äußere Umstände.128 Bereits der Mangelverdacht bewirkt jedoch nach der Verkehrsanschauung eine Wertminderung des Kaufgegenstandes, der auch bei letztlich unbegründetem Verdacht erheblichen Einfluss auf den Kaufentschluss hätte (zu Unklarheiten bei Gebrauchtsoftware s. § 435 Rz. 25).129 Insoweit genügt nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung ein objektiver Mangelverdacht, ohne dass „konkrete und gewichtige Tatsachen“ hinzutreten müssten.130 Hier ist beispielsweise an den Einsatz eines IT-Systems zu denken, das – etwa im Gesundheitswesen – Anforderungen an Hochverfügbarkeit genügen muss. Dann ist bereits die Unklarheit darüber, ob sich die Ursache eines Fehlers im gekauften System oder in einem Umfeldsystem befindet, ein wesentlicher Hinderungsgrund für einen Einsatz.131 Insoweit erscheint es konsequent im Sinne des für den Verkäufer erkennbaren und damit vertragsgegenständlichen Gebrauchs, für Fehlerbehebung- und Rechtsfolgen auf die §§ 437 ff. zurückzugreifen. Die Eingrenzung und Klärung von Fehlerursachen ebenso wie die Ausgrenzung von nicht maßgeblichen Ursächlichkeiten (etwa mit Blick auf Drittsysteme) hängt regelmäßig von der Expertise des Herstellers ab. Handelt der Verkäufer erkennbar nicht als Hersteller, wird er durch die Nicht-Zurechnung von Verschulden geschützt (Hersteller ist kein Erfüllungsgehilfe nach § 278). Entsprechend sind nicht-reproduzierbare (d.h. nur sporadisch auftretende) Mängel gleichwohl Sachmängel.132 Mit Blick auf eine zum Rücktritt genügende Erheblichkeit (§ 323 Abs. 5 Satz 2), zumutbaren Nachbesserungsaufwand (§ 439 Abs. 4) und Nachweisprobleme sind die Einsatzumstände des Einzelfalls zu bewerten. Ist ein sporadisch auftretender Mangel sicherheitsrelevant, so kann bereits die Verzögerung weiterer Mangeluntersuchung die Unzumutbarkeit nach § 440 Satz 1 Alt. 3 bewirken.133 Auch die Mangelanlage ist als Mangel zu behandeln, wenn sie – gegebenenfalls in Verbidngung mit weiteren Umständen wie der Entscheidung einer Behörde – zur Einschränkung vertragsgemäßer Nutzbarkeit der Kaufsache führen kann.134

126 Vgl. BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 117/12, NJW 2013, 1733 Rz. 15 m.w.N. 127 Vgl. BGH v. 18.6.2008 – VIII ZR 154/06, NJW-RR 2008, 1371 Rz. 13 ff. zu den allgemeinen Voraussetzungen. 128 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 158 m.w.N. 129 Vgl. BGH v. 20.6.1968 – III ZR 32/66, WM 1968, 1220, 1221. 130 Vgl. BGH v. 21.7.2017 – V ZR 250/15, NJW 2018, 389 Rz. 7 f. 131 Vgl. für mangelnde Handelbarkeit von Lebensmitteln OLG Karlsruhe v. 25.6.2008 – 7 U 37/07, NJW-RR 2009, 134, 135; für Pkw mit Motorgeräuschen unklarer Ursache OLG Naumburg v. 6.11.2008 – 1 U 30/08 – zitiert nach juris ZGS 2009, 152 f. 132 Vgl. BGH v. 26.10.2016 – VIII ZR 240/15, NJW 2017, 153 Rz. 24. 133 Vgl. BGH v. 26.10.2016 – VIII ZR 240/15, NJW 2017, 153 Rz. 24 f. m.w.N. 134 Vgl. BGH v. 8.1.2019 – VIII ZR 225/17, NJW 2019, 1133 Rz. 20.

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BGB § 434 Rz. 44 Sachmangel 3. Funktionsmängel 44

Sachmängel liegen beispielsweise in folgenden Fällen vor: Gestörter Programmablauf führt zu unkontrollierten Zeichenübertragungen oder fehlerhaften Ergebnissen.135 Eine Software für eine Arztpraxis ermöglicht keine Quartalsabrechnungen.136 Krankenscheinaufkleber werden von der Software nicht in für Dritte akzeptabler Form erstellt.137 Programmbedingt wird die Größe von Makros auf 25 % des Arbeitsspeichers beschränkt, obwohl noch genügend Speicherkapazität vorhanden ist und der Software-Hersteller in einem Prospekt angegeben hat, dass auch vollständige Zeichnungen entsprechend verarbeitet werden können.138 Das IT-System kann nur provisorisch und beschränkt gebraucht werden.139 Unrichtige Fehlermeldungen bzgl. der automatisierten Datensicherung, die händische Prüfungen erfordern.140 Teilweise Unbrauchbarkeit von ausgegebenen Dokumenten (Umlaute als Fragezeichen).141 Abweichung von vertraglich in Bezug genommener Softwarespezifikation.142 Lohnbuchhaltungssoftware ohne zugesagte Funktion zur Berechnung von Durchschnittslöhnen.143 Erstellung unsinniger Rechnungen.144 Falsch berechnete Mahnungen und Rechnungen durch Kundenverwaltungsprogramm.145 Finanzbuchhaltung erfordert manuelle Zwischenberechnung, die Rationalisierungseffekt vermindern.146 Missachtung der gesetzlichen Vorgaben der §§ 242 ff. HGB durch eine Finanzbuchhaltung.147 Computersystem (Kassenanlage) ohne Verbindung zum für Optimierungszweck erforderlichen externen System.148 Hardware bewirkt durch Erwärmung Abstürze.149

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Beruht die fehlende Funktionstauglichkeit auf einer unzureichenden Vorleistung des Käufers oder eines vom Käufer beauftragten Dritten, kann gleichwohl ein Funktionsmangel vorliegen, wenn der Verkäufer seine Prüf- und Hinweispflicht nicht erfüllt hat. So muss der Verkäufer auch Vorgaben des Käufers (z.B. in einem Pflichtenheft) hinterfragen und auf Bedenken hinweisen, die ihm bei gebotener Prüfung hätten kommen müssen.150 4. Zukunftsfähigkeit/Releasefähigkeit/Zusatzdienste

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Auch für etwaige Mängel wegen fehlender Aktualisierbarkeit ist auf den Zeitpunkt des Gefahrübergangs abzustellen151: Ist die fehlende Aktualisierbarkeit bereits bei Gefahrübergang angelegt (z.B. weil ohne Kennzeichnung bald nicht mehr aktualisierte Software geliefert wird), liegt darin regelmäßig ein Mangel.152 Das gilt insb. bei unternehmerisch genutzten IT-Systemen, für deren Einführung regelmäßig hoher Aufwand anfällt, z.B. für die Änderung von Geschäftsprozessen, Schulungen, Anpassung 135 Vgl. OLG Düsseldorf v. 7.12.1988 – 17 U 27/87, WM 1989, 459 = CR 1989, 689; LG Heilbronn v. 11.10.1988 – 2 O 17/85, NJW-RR 1989, 1327, 1328 = CR 1989, 603. 136 Vgl. BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 131/83, NJW 1985, 129, 130. 137 Vgl. BGH v. 5.10.1981 – VIII ZR 259/80, NJW 1982, 696 f. zur Begründung eines mietvertraglichen Mangels. 138 Vgl. OLG Köln v. 22.6.1988 – 13 U 113/87, NJW 1988, 2477 = CR 1989, 391 für den Fall einer werkvertraglich eingeordneten Anpassung von Standardsoftware. 139 Vgl. BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, NJW 1988, 406, 408 = CR 1988, 124. 140 Vgl. OLG Koblenz v. 19.9.2007 – 1 U 1614/05, CR 2008, 148, 149 = ITRB 2008, 59. 141 Vgl. OLG München v. 15.2.1989 – 27 U 386/88, CR 1990, 646, 648. 142 Vgl. OLG München v. 15.2.1989 – 27 U 386/88, CR 1990, 646, 648. 143 Vgl. OLG Schleswig v. 6.11.1981 – 11 U 117/80, MDR 1982, 228. 144 Vgl. LG München v. 23.1.1985 – 8 HKO 11785/83, IuR 1986, 72 = CR 1987, 364. 145 Vgl. OLG Köln v. 11.10.1991 – 19 U 87/91, CR 1992, 153, 154. 146 Vgl. LG Bielefeld v. 1.3.1988 – 14 S 108/87, CR 1989, 915 f. 147 Vgl. OLG Hamm v. 14.11.1994 – 31 U 105/94, NJW-RR 1995, 941, 942 = CR 1995, 341. 148 Vgl. OLG Köln v. 29.11.1996 – 19 U 212/95, NJW-RR 1997, 1414, 1415 = CR 1997, 412. 149 Vgl. OLG Köln v. 27.3.1998 – 19 U 237/96, NJW-RR 1998, 1353 = CR 1998, 657. 150 Vgl. BGH v. 8.11.2007 – VII ZR 183/05, DNotZ 2008, 449 Rz. 22 ff. – Heizungsanlage, im werkvertraglichen Zusammenhang (Heizungsanlage des Vertragspartners funktionierte nicht, weil von Drittem errichtetes Blockheizkraftwerk unzureichende Wärme lieferte). 151 Vgl. im Falle einer notwendigen Aktualisierung der eingebetteten Software eines Peripheriegerätes LG Freiburg v. 14.6.2007 – 3 S 324/06, juris Rz. 3. 152 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 46; a.A. BGH v. 12.6.1985 – VIII ZR 176/84, WM 1985, 1167; fehlende Änderungs-, Anpassungs- und Pflegbarkeit: LG Düsseldorf v. 29.4.1985 – 41 O 92/84, CR 1987, 292; Überblick bei Schrader/Engstler, MMR 2018, 356, 357 m.w.N.

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Sachmangel

Rz. 49 § 434 BGB

von Schnittstellen zu Drittsystemen usw. Diese Aufwände können nur durch eine ausreichend lange Nutzungsdauer amortisiert werden. Fehlt die Aktualisierbarkeit, besteht dazu regelmäßig keine Möglichkeit. Bei erkennbarer Bedeutung der Aktualisierbarkeit für den Käufer kann eine Beschaffenheitsvereinbarung anzunehmen sein.153 Das gilt insb. für den Verkauf von neuer Hardware.154 Auf Einschränkungen der Aktualisierbarkeit muss der Verkäufer in der Produktbeschreibung hinweisen.155 Die Einspielbarkeit von Softwareaktualisierungen, ohne dass eine weitere Einrichtung und die Anpassung von Einstellungen erforderlich werden (automatische Releasefähigkeit), kann nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte erwartet werden.156 Anderenfalls muss der Käufer damit rechnen, übliche Betriebs- und Aktualisierungsarbeiten vornehmen zu müssen.

47

Kein Mangel liegt darin, wenn die Kaufsache bei Gefahrübergang aktualisierbar ist, jedoch vom Ver- 48 käufer zu erwartende Aktualisierungen nach Gefahrübergang eingestellt werden: Dann können sich Ansprüche nur aus den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsschluss oder weiteren Leistungsverträgen ergeben (z.B. über Softwarepflegeleistungen).157 Für Zusatzdienste ist im Wege der Auslegung zu klären, ob die Parteien über die kaufvertraglichen Pflichten hinaus einen fortlaufenden Betrieb von Zusatzdiensten vereinbart haben.158 Dann können sich leistungssichernde Nebenpflichten nach § 241 Abs. 2 ergeben.159 Für Kaufsachen, die auf die Nutzung von Services Dritter abzielen (z.B. Smartphones), ist jedoch regelmäßig zwischen der Verantwortung des Verkäufers für das „Empfangsgerät“ und derjenigen des Service-Anbieters zu unterscheiden.160 Änderungen sind mit Umsetzung der Warenkaufrichtlinie161 und der Digitaldienstleistungsrichtlinie162 zum 1.1.2022 zu erwarten, die eine weitergehende Nutzbarkeit auch über den Gefahrübergang hinaus vorschreiben. 5. Migrierbarkeit Fehlt für eine Software die Möglichkeit, den Datenbestand zu exportieren und in einem anderen 49 (Nachfolgesystem) weiter zu verarbeiten, liegt darin ohne negative Beschaffenheitsvereinbarung ein Mangel. Dasselbe gilt, wenn die Möglichkeit nur mit unverhältnismäßigem und technisch vermeidbarem Aufwand besteht. Zum vertraglich vorausgesetzten Gebrauch gehört die Nutzung der Software für deren vorgestellten Anwendungszeitraum (regelmäßig zwischen 3 und 15 Jahren). Die regelmäßig hoch ausgeprägte Abhängigkeit des Kunden von der fortgesetzten Nutzung seiner Daten auch nach Auslaufen der Nutzbarkeit des erworbenen Softwaresystems bedingt die Migrierbarkeit der Daten. Das gilt insb. bezogen auf solche Daten, die bereits aus Rechtsgründen fortlaufend verfügbar gehalten werden müssen (z.B. nach Steuerrecht, Datenschutzrecht etc.). Zusätzlich wird die Exportierbarkeit von Daten künftig ab Geltung der DSGVO163 forciert: Nach Art. 20 DSGVO muss jeder Anwender einer personenbezogene Daten verarbeitenden Software im Geltungsbereich der DSGVO das Recht auf 153 154 155 156 157 158 159

160 161 162 163

Vgl. OLG Hamm v. 12.12.1990 – 31 U 126/90, NJW 1991, 2155 = CR 1991, 347. Vgl. BGH v. 14.2.1996 – VIII ZR 89/95, NJW 1996, 1465, 1466 = CR 1996, 402 m. Anm. Heussen. Vgl. AG Essen v. 15.7.2011 – 29 C 502/10, juris Rz. 7. Vgl. Kremer/Halim, AnwZert ITR 11/2015 Anm. 3 B. II. 1. Vgl. OLG Koblenz v. 30.4.2009 – 6 U 268/08, juris Rz. 15; der Verkäufer kann aber wegen Verschuldens bei Vertragsschluss, einer Garantie oder wegen Verletzung über den Kaufvertrag hinausgehender künftiger Leistungspflichten haften. Vgl. dazu Solmecke/Vondrlik, MMR 2013, 755, 756 m.w.N. Vgl. Überblick bei Schrader/Engstler, MMR 2018, 356, 357 m.w.N. unter Verweis auf die Umstände des Einzelfalls, z.B. Lebensdauer und Anschaffungskosten, Verschleißhäufigkeit, Zumutbarkeit eigener Bevorratung, andere Bezugsquellen, Menge der Ersatzteile und die Kosten der Herstellung und Lagerung; kritisch Bartsch, NJW 2002, 1526, 1530. A.A. wohl Solmecke/Vondrlik, MMR 2013, 755 ff., die eine weitgehende Verantwortung des Verkäufers für sonstige Dienste annehmen. S. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. S. RL (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1. VO (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL

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BGB § 434 Rz. 49 Sachmangel Übertragbarkeit der Daten in einem strukturierten, gängigen und maschinenlesbaren Format absichern; er soll interoperable Formate dazu entwickeln (vgl. Erwägungsgrund 68 DSGVO). Damit sind objektive Voraussetzungen definiert, die für einen rechtmäßigen Einsatz der Software ab Wirksamkeit der DSGVO (25.5.2018) erfüllt sein müssen. 6. Quellcode-nicht-Lieferung 50

Die Lieferung von Quellcodes ist nur geschuldet, wenn sich eine solche Pflicht dem Vertrag durch Auslegung entnehmen lässt, §§ 133, 157, 305c. Fehlen ausdrückliche Vereinbarungen, sind die Gesamtumstände und Interessen der Parteien einzubeziehen.164 Maßgeblich ist insoweit der von den Parteien vorausgesetzte Gebrauch der Software.165 Handelt es sich um eine Entwicklungsplattform, für die stets auch Quellcodes zur Verfügung gestellt werden, ist diese Lieferung auch ohne ausdrückliche Vereinbarung zu erwarten. Soll die vereinbarte Vergütung nur einen Teil der Entwicklungskosten abdecken, kann das gegen die Pflicht zur Quellcodeüberlassung sprechen.166 Ebenso deuten Verhandlungen über eine Softwarehinterlegung darauf hin, dass die Quellcodes nicht zu überlassen waren. Die ausdrückliche Einräumung von Bearbeitungsrechten indiziert eine Pflicht zur Quellcodeüberlassung. Hat der Käufer ausschließlich die eng begrenzten gesetzlichen Rechte nach § 69d Abs. 1 UrhG (Fehlerbehebung) oder § 69e UrhG (Dekompilierung), spricht das gegen die Überlassungspflicht.

51

Die Überlassung einer Standardsoftware spricht regelmäßig gegen die Pflicht zur Lieferung von Quellcodes: Der Käufer einer Standardsoftware will keine Bearbeitung der Software vornehmen. Häufig ist der Verkäufer nicht Hersteller der Software und verfügt damit seinerseits erkennbar nicht über Quellcodes. Ein verkaufender Hersteller hat starkes Interesse daran, die aus den Quellcodes für den Experten erkennbaren Lösungswege und Entwicklungsergebnisse geheim zu halten (etwa ggü. Wettbewerbern).167

52

Ist die Lieferung von Quelltexten geschuldet, muss der Verkäufer auch Entwicklungsdokumentation mindestens durchschnittlicher Güte liefern, die einen Umgang mit den Quelltexten ermöglicht.168 Mit den geschuldeten Quelltexten sind erforderliche Schlüssel zu liefern, soweit diese vom Käufer nicht anderweitig beschafft werden können (z.B. bezogen auf Reparaturschlüssel und Entwicklerschlüssel für SAP-Programmierungen). 7. Inkompatibilität

53

Können Hardware oder Software nicht zusammen mit anderen IT-Systemen betrieben werden, kann darin ein Mangel liegen.169 Kann ein Konvertierungsprogramm für Altdaten nur bestimmte Standards verarbeiten, liegt ohne vertragliche Einschränkung ein Mangel vor.170 Kann die Nachfolgeversion eines Systems die Daten der Vorversion nicht verarbeiten, ist das regelmäßig ein Mangel, soweit nicht entsprechend vereinbart oder durch eine Importfunktion kompensiert.171 Keinen Mangel begründen jedoch Zusatzaufwände für die Weiterverwendung von Daten durch ein Drittsystem, wenn die Kompatibilität des Drittsystems nicht vereinbart ist.172

164 165 166 167 168 169

170 171 172

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95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. Nr. L 119, 1, ber. Nr. L 314, 72; mit Wirksamkeit ab 25.5.2018. Vgl. BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJW-RR 2004, 782, 782 = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123. Vgl. BGH v. 16.12.2003 – X ZBGH v. 30.1.1986 – I ZR 242/83, NJW 1987, 1259, 1260 = CR 1986, 377. Vgl. BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJW-RR 2004, 782, 784 = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123. Vgl. OLG München v. 16.7.1991 – 25 U 2586/91, CR 1992, 208, 209 m.w.N. Vgl. BGH v. 30.1.1986 – I ZR 242/83, NJW 1987, 1259, 1260 = CR 1986, 377. Vgl. BGH v. 12.7.1995 – VIII ZR 219/94, NJW-RR 1995, 1327, 1328 = CR 1995, 651; vgl. auch Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 46; zur Tauglichkeit der Hardware: LG Bonn v. 27.2.2004 – 10 O 618/03, ZGS 2004, 199, 200; OLG Köln v. 29.4.1996 – 19 U 50/96, NJW-RR 1997, 557 = CR 1996, 601; OLG Saarbrücken v. 30.5.1990 – 1 U 21/90, CR 1990, 713; zur Bearbeitungsfähigkeit von Quellcodes auf verschiedenen Systemplattformen (Quellcodekompatibilität) OLG Frankfurt v. 26.1.1996 – 24 U 110/94, NJW-RR 1997, 555 f. = CR 1996, 473. Vgl. OLG München v. 15.2.1989 – 27 U 386/88, CR 1990, 646, 648. Offen gelassen seit der 7. Auflage bei Marly, Softwarerecht, Rz. 1511 m.w.N. Vgl. OLG Köln v. 21.2.1992 – 19 U 220/91, NJW 1992, 1772, 1773 = CR 1992, 468.

Diedrich

Sachmangel

Rz. 56 § 434 BGB

8. Kapazitätsmängel Fehlende Einsetzbarkeit der Hardware fällt unter die §§ 434 ff.,173 z.B. bei unzureichender Speicher- 54 kapazität.174 Notwendigkeit einer Speichererweiterung für noch zu entwickelnde Software ist kein Mangel der Hardware, möglicherweise aber der zu liefernden Software.175 Software ist mangels spezieller Vereinbarungen mangelhaft, wenn sie wegen Missachtung anerkannter Programmierregeln höhere Betriebsressourcen benötigt, als von einer Software mittlerer Art und Güte zu erwarten wäre (z.B. mit Blick auf Rechenleistung, Arbeitsspeicher oder sonstigem Speicherbedarf).176 Die für Bedienerfreundlichkeit geltenden Grundsätze gelten entsprechend (s. Rz. 59 ff.). 9. Langsame Reaktionszeiten Sind die Reaktionszeiten einer Software unzumutbar lang, ist sie fehlerhaft.177 Mangels spezifischer 55 Vereinbarung über nicht funktionale Anforderungen178 können sich maximale Reaktionszeiten bereits aus dem geplanten Einsatzweck ergeben (z.B. Unterstützung eines Lagerarbeiters bei einer sehr stark wiederholenden Tätigkeit; Erforderlichkeit zum Druck von etlichen 1.000 Rechnungen innerhalb eines auf Geschwindigkeit angelegten Arbeitsprozesses etc.). Ergeben sich aus dem nach dem Vertrag vorausgesetzten Verwendungszweck gleichermaßen keine Anhaltspunkte, ist für die gewöhnliche Verwendung und zu erwartende Beschaffenheit die allgemeine Entwicklung zu sehr kurzen Reaktionszeiten zu beachten. Ausgehend von sehr schnellen Reaktionszeiten heute üblicher Internetanwendungen (z.B. Einkaufsportale, Suchmaschinen etc.) führen bereits Reaktionszeiten für häufig wiederkehrende Funktionen von mehr als 0,5 Sekunden zum Akzeptanzverlust der Nutzer verbunden mit erheblich gesteigerter Fehlerhäufigkeit.179 Daraus ergibt sich regelmäßig mangelnde Eignung zum betrieblichen Einsatz. Keinen Mangel hatte das OLG Köln in Verzögerungen von sechs und zehn Sekunden gesehen, obwohl vereinbart war, dass das System „keine erkennbaren Verzögerungen bei Eingangsverwiegung bzw. Fakturierung“ zeigen durfte: Ein Besteller könne nicht erwarten, dass Verzögerungen nur maximal zwei Sekunden betragen, wenn statt präziser Zeitangaben unklare Begriffe vereinbart werden.180 Solche Zeiten wären aktuell jedoch nur für Funktionen zu erwarten, die nicht zu wiederkehrenden Standardaufgaben des Tagesgeschäfts gehören (z.B. Erstellung von Jahresberichten etc., die auch erheblich länger dauern können). 10. Schadsoftware Befall eines Computers mit Schadsoftware bedeutet einen Mangel, der jedoch regelmäßig bei Entfernbarkeit mit üblichen Schutzwerkzeugen unerheblich ist.181 Gleichwohl kann die Lieferung einer mit Schadsoftware verseuchten Kaufsache die Unzumutbarkeit der Nacherfüllung für den Käufer nach § 440 Satz 1 Alt. 5 bewirken (s. § 440 Rz. 7).

173 Vgl. OLG München v. 25.9.1986 – 24 U 775/85, NJW-RR 1988, 436, 437 = CR 1987, 675 m. Anm. Kather; vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 238 m.w.N. 174 Vgl. OLG München v. 25.9.1986 – 24 U 775/85, NJW-RR 1988, 436, 437 = CR 1987, 675 m. Anm. Kather; OLG Köln v. 8.5.1992 – 19 U 234/91, NJW-RR 1992, 1327. 175 Vgl. OLG Karlsruhe v. 10.4.1987 – 10 U 24/86, CR 1988, 921. 176 Vgl. zum mittleren Standard mangels spezifischer Vereinbarungen BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJWRR 2004, 782, 783 m.w.N. = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123. 177 Vgl. BGH v. 23.6.1992 – X ZR 92/90, NJW-RR 1993, 178, 180 = CR 1993, 424; KG v. 1.6.1990 – 14 U 4238/86, CR 1990, 768 f. 178 Vgl. OLG Köln v. 11.10.1991 – 19 U 87/91, CR 1992, 153, 154 zur Pflicht des Softwareverkäufers, auf Systemanforderungen hinzuweisen. 179 Vgl. LG Ravensburg v. 31.5.1990 – 5 O 1537/89, CR 1991, 673, das 1990 eine Reaktionszeit von mehr als zwei Sekunden als wesentlichen Mangel erkannte. 180 Vgl. OLG Köln v. 25.6.1993 – 19 U 216/92, NJW-RR 1993, 1529, 1530 = CR 1994, 213. 181 Vgl. LG Regensburg vom 17.6.1997 – 2 S 168/96, NJW-RR 1998, 1353, 1354, dass ein Virus vom Verkäufer überlassen worden sein sollte.

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BGB § 434 Rz. 57 Sachmangel 11. Technische Programmsperren 57

Der Anbieter von Software darf sich grundsätzlich gegen das Risiko von Produktpiraterie durch technische Programmsperren absichern.182 Daraus resultierende Einschränkungen des Erwerbers müssen jedoch vertraglich vereinbart sein, soweit sie die Funktion der Software beeinträchtigen (z.B. bei periodisch wirkenden Programmsperren).183 Es ist strittig, ob auch ohne solche Vereinbarungen ein Mangel wegen Einschränkungen durch technische Programmsperren auszuschließen ist.184 Dafür wird auf zu erwartende Gestaltungen im Markt für Software und die berechtigten Schutzinteressen des Anbieters verwiesen. Dem ist jedoch nach allgemeinen Regeln entgegenzuhalten, dass der Käufer grds. eine unbeeinträchtigte Nutzungsmöglichkeit erwarten darf. Erforderliche Einschränkungen sind im Rahmen der Vertragserklärungen hinreichend deutlich zu machen. Dann bleibt eine Auswahlentscheidung beim Käufer. Versäumt der Verkäufer diese Transparenz, schuldet er die unbeeinträchtigte Nutzungsmöglichkeit.185 Ausnahmen setzen voraus, dass die nutzungsbeeinträchtigende Programmsperre zu den bei Sachen gleicher Art üblichen und vom Käufer zu erwartenden Beeinträchtigungen gehört, § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2. Für eine betriebswesentliche Software kann der Einbau einer Programmsperre auch dann ein Recht zur fristlosen Kündigung wegen schwerwiegender Vertragsverletzung begründen, wenn diese vor Kenntnis des Nutzers wieder ausgebaut wurde.186 So liegt ein Fehler vor, wenn eine Kopiersperre den Programmstart oder im Übrigen dessen vertragsgemäße Nutzung verhindert.187 12. CPU-Klauseln

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Mit einer CPU-Klausel schränkt der Verkäufer die Nutzung einer Software ausschließlich auf einen Computer unter Angabe der Typen- und Seriennummer der Central Processing Unit (CPU) ein. In AGB des Lieferanten sind solche Regeln für Kaufverträge unwirksam, da sie dem Anwender die Möglichkeit zum Wechsel der Hardware nehmen und ihn damit unangemessen benachteiligen.188 13. Bedienerfreundlichkeit/Sprache

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Mangelnde Bedienerfreundlichkeit bedeutet nach den für § 434 Abs. 1 geltenden Maßstäben einen Mangel.189 Die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung ist entscheidend, soweit z.B. die Komplexität einer Anwendung außer Verhältnis zum unterstützten Geschäftsprozess und den dort gegebenen Anforderungen an schnelle Bearbeitung stehen (insb. bei stark wiederholendem Massengeschäft), § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1. Ohne weitere Anhaltspunkte ist an im Verkehr erkennbare Standards an-

182 Vgl. BGH v. 11.2.2010 – I ZR 178/08, NJW 2010, 2661 Rz. 24 = CR 2010, 565 m. Anm. Menz/Neubauer = ITRB 2010, 222 – Half-Life 2; OLG Celle v. 3.3.20192 – 20 U 69/90, NJW-RR 1993, 432, 434; vgl. auch Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 46 m.w.N. 183 Vgl. Überblick bei Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Rz. 201; MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 84 m.w.N.; BGH v. 11.2.2010 – I ZR 178/08, NJW 2010, 2661 Rz. 25 = CR 2010, 565 m. Anm. Menz/Neubauer = ITRB 2010, 222 – Half-Life 2; BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2006 f. = CR 1987, 358; für einen Pachtvertrag Zulässigkeit von Schutzmaßnahmen bereits aus vereinbarter Pflicht zum Missbrauchsschutz in BGH v. 3.6.1981 – VIII ZR 153/80, NJW 1981, 2684, 2685. 184 In diesem Sinne Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht/von dem Bussche/Schelinski, Rz. 200 m.w.N. 185 Vgl. dazu LG Wiesbaden v. 4.4.1989 – 3 O 13/88 – CR 1990, 651, 652; OLG Celle v. 3.3.1992 – 20 U 69/90, NJW-RR 1993, 432, 433 = CR 1994, 217 m. Anm. Streitz; OLG Bremen v. 13.2.1997 – 2 U 76/96, CR 1997, 609, 611; BGH v. 15.9.1999 – I ZR 98/97, NJW-RR 2000, 393, 394 = CR 2000, 94 m. Anm. Wuermeling. 186 Vgl. OLG Düsseldorf v. 30.1.1992 – 5 U 193/90, NJW-RR 1993, 59. 187 Vgl. OLG Celle v. 3.3.1992 – 20 U 69/90, NJW-RR 1993, 432, 434 = CR 1994, 217 m. Anm. Streitz; OLG Köln v. 29.10.1999 – 19 U 94/99, CR 2000, 354, 355 m.w.N.; BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2006 f. = CR 1987, 358. 188 Vgl. MünchKomm/Wurmnest, § 307 BGB Rz. 85 m.w.N. 189 Vgl. LG Heilbronn v. 11.10.1988 – 2 O 17/85, NJW-RR 1989, 1327, 1328 = CR 1989, 603; einschränkend LG Oldenburg v. 24.4.1991 – 12 O 204/90, NJW 1992, 1771 = CR 1992, 26 (abhängig vom Kaufvertrag kann auch verkaufte veraltete Standardsoftware als mangelfrei anzusehen sein); Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 46 m.w.N.

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Diedrich

Sachmangel

Rz. 62 § 434 BGB

zuknüpfen.190 Dafür ist auch bei der Beurteilung zu erwartender Fehlertoleranz oder des Komforts der Benutzerführung eine Zuordnung zum passenden Vergleichsmarkt erforderlich. Maßgeblich ist die Gesamtschau der Umstände im Einzelfall zur Bestimmung des Vergleichsmarktes mit Produkten, die bezogen auf die objektivierte Käufererwartung austauschbar erscheinen.191 Anhaltspunkte ergeben sich insb. aus am jeweiligen Markt wertbildenden Faktoren wie dem Preis, speziellen Einsatzgebieten oder Qualitätsstandards.192 Danach können unterschiedliche Anforderungen an Fehlertoleranz, Komfort und Modernität zu stellen sein.193 Software und zugehörige Dokumentationen müssen die nach der vertraglich vorausgesetzten Ver- 60 wendung verständliche Sprache einsetzen. Wird (teils) in anderen Sprachen geliefert, liegt ein Mangel vor.194 Unzutreffende Fehlermeldungen können einen erheblichen Fehler bedeuten.195 Verneint wurde die Mangelhaftung, wenn systembedingte Beschränkungen für einen Erwerber als Fachmann erkennbar oder von ihm in Kauf genommen werden;196 ebenso für ein konzeptionell veraltetes oder nicht dem Standard entsprechendes Programm mit geringer Bedienerfreundlichkeit, soweit den vertraglichen Maßstäben genügend.197

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14. Resistenz gegen Fehlbedienung Der Ersteller eines IT-Systems muss mit Fehlbedienungen rechnen und angemessene Vorkehrungen 62 treffen.198 Die Maßstäbe hängen vom Adressatenkreis ab, an den sich der Verkäufer wendet. Daraus ist die Eignung zur nach dem Vertrag vorausgesetzten Verwendung abzuleiten, § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1. Nach diesen Grundsätzen sind u.a. die betroffenen Risiken, vereinbarter oder für den Käufer erkennbarer Schulungsbedarf, in Anspruch genommenes Vertrauen, Üblichkeiten und die relevanten Nutzergruppen im Rahmen einer Abwägung zu berücksichtigen. Auch insoweit ist eine Zuordnung zum maßgeblichen Vergleichsmarkt für das fragliche IT-System erforderlich.199 Maßgeblich ist die Gesamtschau der Umstände im Einzelfall zur Bestimmung des Vergleichsmarktes mit Produkten, die bezogen auf die objektivierte Käufererwartung bezüglich ihrer wertbildenden Faktoren (z.B. Preis, Qualitätsstandards) als austauschbar erscheinen.200 Mangelhaft ist ein häufig abstürzendes System, auch wenn Bedienungsfehler vorkommen und im Handbuch keine Angaben zur Vermeidung enthalten sind.201 Ebenso begründen unzureichende Fehlermeldungen einen Mangel.202 Ein Mangel liegt auch bei unzutreffender Fehlermeldung vor, die fehleranfällige händische Prüfungen erfordert.203

190 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 239 m.w.N. 191 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 25 m.w.N. 192 Vgl. Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 90; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 25 m.w.N. 193 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 239 m.w.N. 194 Vgl. OLG Köln v. 20.1.1995 – 19 U 115/93, NJW-RR 1996, 44 = CR 1995, 334; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 47 m.w.N. 195 Vgl. OLG Koblenz v. 19.9.2007 – 1 U 1614/05, CR 2008, 148, 149 = ITRB 2008, 59 – Unzutreffende Fehlermeldung. 196 Vgl. OLG Düsseldorf v. 17.10.1985 – 6 U 49/85, CR 1987, 173, 174. 197 Vgl. LG Oldenburg v. 24.4.1991 – 12 O 204/90, NJW 1992, 1771 = CR 1992, 26. 198 Vgl. LG Heilbronn v. 11.10.1988 – 2 O 17/85, NJW-RR 1989, 1327, 1328 = CR 1989, 603; vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 158 m.w.N. 199 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 239 m.w.N. 200 Vgl. Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 90; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 25 m.w.N. 201 Vgl. OLG Köln v. 22.6.1988 – 13 U 113/87, NJW 1988, 2477 f. = CR 1989, 391. 202 Vgl. OLG Hamm v. 11.12.1989 – 31 U 37/89, CR 1990, 715, 717. 203 Vgl. OLG Koblenz v. 19.9.2007 – 1 U 1614/05, CR 2008, 148, 149 = ITRB 2008, 59 – Unzutreffende Fehlermeldung.

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BGB § 434 Rz. 63 Sachmangel 15. Dokumentation/Handbücher 63

Nach der Schuldrechtsreform bedeuten fehlende und/oder mangelhaft überlassene Dokumentationen grds. einen Sachmangel.204 Das gilt unabhängig von Vereinbarungen über deren Lieferung für die nach der vertraglich vorausgesetzten Verwendung erforderlichen Dokumentationen (z.B. für Installationen, Administration, Betrieb, Nutzeranwendung aber auch Fehlerbehebung und Entwicklung, soweit vorgesehen), insb., wenn durch die Lücken und Mängel der Dokumentation Fehlfunktionen (durch Fehlbedienung) verursacht werden.205 Mängel ergeben sich aus dem Fehlen eines Handbuchs für ein Betriebssystem in der Sprache der Nutzer.206 Auch mangelnde Verständlichkeit für die vertraglich vorausgesetzten Nutzer bedeutet einen Mangel.207 Maßgeblich für die vertragliche Sollbeschaffenheit der Dokumentation sind die Mindestkenntnisse der nach dem vertraglich vorausgesetzten Gebrauch angesprochenen Personen, § 434 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1. In der Dokumentation einer Software für wissenschaftlichen Gebrauch durch forschende Informatiker dürfen andere Vorkenntnisse unterstellt werden als für eine Verbraucheranwendung. Auch zu umfangreiche Dokumentation kann einen Mangel bedeuten, z.B. wenn Redundanz der Nutzbarkeit schadet und Mehraufwand verursacht.208 Ansatzpunkte können sich aus DIN 9241 ergeben. Eine zu umfangreiche Dokumentation (z.B. durch maschinell wiederholende Beschreibung von Softwareelementen einer Benutzerschnittstelle) kann ebenfalls mangelhaft sein, wenn dadurch die geschuldete Brauchbarkeit unterschritten wird. Das Fehlen von Handbüchern kann aber nach §§ 377, 378 HGB genehmigungsfähig sein, wenn die Software an einen professionellen Softwareentwickler erfolgt und Hilfehinweise während des Programmablaufs erscheinen.209

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Ob allgemein zugängliche Quellen eine Dokumentation ersetzen können oder zur Beurteilung der Vollständigkeit, Verständlichkeit und sonstigen Qualität einer Dokumentation zu berücksichtigen sind, ist noch nicht entschieden (z.B. Anleitungen über die Internetpräsentation des Herstellers selbst oder via Youtube, Forenbeiträge, Wikipedia etc.). Beim Kaufvertrag gehört die Dokumentation zu den zu liefernden Gegenständen, so dass ein Verweis auf Drittinhalte nur genügt, wenn diese im Sinne von § 433 Abs. 1 Satz 1 abgeliefert werden. Die Verfügbarkeit über Verweise im Sinne einer ServiceArchitektur genügt für den Kauf (anders als beim Mietvertrag) gerade nicht. Der Umfang einer Pflicht zur Lieferung einer Dokumentation hängt aber von den Mindestkenntnissen ab, die den nach dem vertraglich vorausgesetzten Gebrauch angesprochenen Personen unterstellt werden dürfen. Diese werden auch von allgemein verfügbaren Informationen beeinflusst. Im Zweifel werden die aus dritten Quellen abrufbaren Anleitungen aber über solche „Allgemeinbildung“ hinausgehen, so dass sie als Teil der Dokumentation vom Verkäufer auszuliefern wären. Verfügbare Quellen außerhalb der vom Verkäufer gelieferten Gegenstände sind grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, d.h. die vertraglich geschuldete Nutzbarkeit muss anhand der gelieferten Gegenstände ausreichend möglich sein. Weitere Quellen können jedoch zur Bestimmung des vertraglichen Adressatenkreises/seines Kenntnisstandes herangezogen werden, z.B. sind mit Blick auf eine ausschließlich für Ingenieure geeignete Konstruktionssoftware nur spezifisch die Softwarenutzung betreffende Informationen zu verlangen. Sonstige Kenntnisse über Konstruktionsgegenstände dürfen vorausgesetzt werden. Entsprechendes kann für allgemeine Kenntnisse über Nutzungsabläufe und Vorgehensmodelle gelten, soweit sie entsprechend einem allgemeinen Ausbildungsstand des Adressatenkreises angenommen werden können.

204 Vgl. BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJW-RR 2004, 782, 784 = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123; Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 434 BGB Rz. 240 m.w.N.; detaillierte Darstellung bei Schreiber-Ehle, CR 2015, 469 ff. m.w.N. 205 Vgl. OLG München v. 9.3.2006 – 6 U 4082/05, CR 2006, 582 m.w.N. 206 Vgl. OLG Karlsruhe v. 21.2.1991 – 12 U 147/90, CR 1991, 410; einschränkend bei später Rüge OLG Köln v. 20.1.1995 – 19 U 115/93, NJW-RR 1996, 44 = CR 1995, 334. 207 Vgl. OLG Hamm v. 11.12.1989 – 31 U 37/89, CR 1990, 715, 716. 208 Anhaltspunkte können sich aus DIN 9241-110 ergeben, die „Ergonomie der Mensch-System-Interaktion“ behandelt. 209 Vgl. OLG Karlsruhe v. 15.7.2003 – 14 U 140/01, juris Rz. 22 = CR 2004, 493.

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Diedrich

Sachmangel

Rz. 66 § 434 BGB

16. IT Sicherheit/Abweichung von technischen Normen/Hintertüren Eine Sache ist mangels negativer Beschaffenheitsvereinbarungen nach § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 mangelhaft, wenn sie von Sicherheitsvorschriften wie Unfallverhütungs- oder VDE-Vorschriften abweicht und dadurch der Wert oder die Gebrauchstauglichkeit berührt werden.210 Sind IT-Systeme bei Gefahrübergang angreifbar, liegt darin jedoch nicht automatisch ein kaufvertraglicher Mangel.211 Vielmehr ist nach allgemeinen Regeln zu bestimmen, welchen Sicherheitsanforderungen das IT-System mit Blick auf welche bekannten Bedrohungen nach dem Kaufvertrag genügen musste.212 Ein allgemeines Bewusstsein, dass ein Betriebssystem (unerkannte) Sicherheitslücken aufweisen kann, bewirkt nicht, dass trotz festgestellter Risiken für die Privatspähre der Nutzer und betrügerischer Eingriffe213 ein solches Betriebssystem als vertragsgemäß und mangelfrei anzusehen ist.214 Erst nach Gefahrübergang erkennbar werdende Bedrohungen bleiben außer Betracht (s. zur anderenfalls drohenden Kettengewährleistung § 438 Rz. 18 f.).215 Nur darauf abzielende zusätzliche Vereinbarungen begründen eine Pflicht, nach Gefahrübergang Updates zur Schließung von Sicherheitslücken anzubieten/zu liefern (s. Rz. 48).216 Änderungen sind mit Umsetzung der Warenkaufrichtlinie217 und der Digitaldienstleistungsrichtlinie218 zum 1.1.2022 zu erwarten, die eine weitergehende Nutzbarkeit auch über den Gefahrübergang hinaus vorschreiben. Mängel der Kaufsache können auch anzunehmen sein, wenn unübliche händische Prüfungen erhebliche Fehlerrisiken bergen.219 Kein Mangel liegt vor, wenn die Geräuschentwicklung von Hardware noch innerhalb der angegebenen Toleranzwerte liegt.220 Erwerber von IT-Systemen dürfen grundsätzlich erwarten, dass die erkennbar für Einsatz in ihrem Unternehmen verkauften Gegenstände den dafür geltenden Regeln genügen (z.B. nach dem BSIG, TMG oder der MaRisk).221

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17. Zertifikate/Prüfsiegel Eine Zertifizierung (z.B. durch den TÜV) kann als Beschaffenheit der Kaufsache vereinbart werden.222 Nicht korrigierte öffentliche Äußerungen (z.B. im Internet) können eine zu erwartende Beschaffenheit begründen, § 434 Abs. 1 Satz 3. Fehlt die Zertifizierung, kommt es auf die Eignung im Übrigen nicht

210 Vgl. für den Fall einer chemischen Anlage BGH v. 16.1.1985 – VIII ZR 317/83, NJW 1985, 1769, 1770; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 50 m.w.N. 211 A.A. Raue, NJW 2017, 1841, 1843; mit Blick auf die Herstellerverantwortung nach Regeln der Produkthaftung Spindler, NJW 2004, 3145, 3146 f. m.w.N. 212 Zu eng insoweit jedoch OLG Köln v. 30.10.2019 – 6 U 100/19, GRUR-RR 2020, 32 Rz. 61, nach dem ein veraltetes Smartphone-Betriebssystem trotz festgestellter Sicherheitslücken nicht mangelhaft (in der Verkehrsfähigkeit eingeschränkt) sei; das Urteil verkennt auch, dass bereits zwingendes Recht den Einsatz solcher Systeme beispielsweise im Unternehmensverkehr gegenüber Beschäftigten verbieten, z.B. mit Blick auf betriebsverfassungs- und datenschutzrechtliche Pflichten. 213 Vgl. OLG Köln v. 30.10.2019 – 6 U 100/19, GRUR-RR 2020, 32 Rz. 58. 214 So aber OLG Köln v. 30.10.2019 – 6 U 100/19, GRUR-RR 2020, 32 Rz. 60 f. 215 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1528. 216 A.A. Raue, NJW 2017, 1841, 1843 mit Blick auf nachvertragliche Pflichten zum Angebot von Updates nach Ablauf der Gewährleistungsfristen für Software. 217 S. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. 218 S. RL (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1. 219 Vgl. OLG Koblenz v. 19.9.2007 – 1 U 1614/05 – Unzutreffende Fehlermeldung, CR 2008, 148, 149 = ITRB 2008, 59. 220 Vgl. OLG Köln v. 18.6.1993 – 19 U 54/93, NJW 1993, 3143 = CR 1993, 625. 221 Vgl. aber zu Einschränkungen Spindler, CR 2016, 297 ff.; zu den Maßstäben des „Standes der Technik“ i.S.d. IT-Sicherheitsgesetzes Handreichung TeleTrust, https://www.teletrust.de/publikationen/broschüren/standder-technik/oder auch Bundesnetzagentur: IT-Sicherheitskatalog gem. § 11 Abs. 1a EnWG 2015. 222 Vgl. OLG Hamm v. 29.10.2015 – 2 U 76/15, juris Rz. 13.

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BGB § 434 Rz. 66 Sachmangel an.223 Neben der Zertifizierung selbst muss die Kaufsache den veröffentlichten Zertifizierungsregeln entsprechen.224 18. Qualität verkaufter Daten 67

Die dauerhafte Überlassung von Daten gegen Einmalvergütung bezieht sich zwar nicht auf eine Sache (in Form des jeweils genutzten Datenspeichers),225 fällt aber über § 453 als sonstiger Gegenstand unter die entsprechende Anwendung des Kaufrechts.226 Beispielsweise gewinnen Daten für Marktforschung, Produktgestaltung, Planung und Logistik an Bedeutung (z.B. Sammlungen über Internetnutzung, Geodaten bestimmter Nutzergruppen und Anwender bestimmter Gegenstände).227 Solche Daten sind nach allgemeinen Regeln mangelhaft, wenn sie bezogen auf ihre Inhalte oder Struktur/Formate negativ von den Beschaffenheitsvereinbarungen, vertraglich vorausgesetztem Gebrauch228 und üblicher Beschaffenheit abweichen.

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Inhaltliche Sachmängel können z.B. bezogen auf den vereinbarten Umfang der Erhebung, die Vollständigkeit oder Aussagefähigkeit eines Datenbestandes begründet sein. Hat etwa der Verkäufer für eine datenschutzrechtlich geforderte Anonymisierung Daten aggregiert (Geburtsdaten zu Geburtsjahren; Adressen zu Postleitzahlen oder gekürzten Postleitzahlen), müssen daraus resultierende Verwendbarkeitsbeschränkungen im Kaufvertrag berücksichtigt werden, um Sachmängelhaftung zu vermeiden. Die Pflicht des Verkäufers zur Leistung rechtswidriger Gegenstände ist grundsätzlich wirksam, § 311a Abs. 1. Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot, § 134, greift nur in besonderen Ausnahmefällen ein (s. zur Überlassung von Patientendaten § 435 Rz. 32).229

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Strukturelle/formale Mängel liegen z.B. vor, wenn durch eine abweichende Struktur oder abweichende Formate die vertragliche Verwendbarkeit herabgesetzt wird. Für die Analyse im Rahmen eines big data-Konzeptes ist zur vertraglich vorausgesetzten Verwendung die Lesbarkeit der Daten ausreichend. Zur Verwendbarkeit in einem Datenbanksystem müssen Daten in einer Struktur vorliegen, die eine Übernahme der Daten zumindest mit durchschnittlichem Aufwand erlaubt.230

70

Fehlende Dokumentation kann beim Verkauf personenbezogener Daten einen Mangel bedeuten, da die zum vertragsgemäßen Gebrauch erforderlichen Dokumentationen über vertragliche Nebenpflichten hinaus neben dem Kaufgegenstand geliefert werden müssen.231 Die Anforderungen richten sich nach dem im Kaufvertrag definierten vertragsgemäßen Gebrauch und den im jeweils anzuwendenen Datenschutzrecht gestellten Anforderungen. Bei Anwendbarkeit der DSGVO trifft den Verarbeiter personenbezogener Daten eine grundsätzliche Nachweispflicht für die Rechtmäßigkeit seines Datenumgangs (Rechenschaftspflicht nach Art. 5 Abs. 2 DSGVO; z.B. für die Rechtmäßigkeit der Erhebung, erfolgte Aufklärungen zu dokumentierten Einwilligungen). 19. Datenschutz/Speicherung personenbezogener Daten

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Das Verwendungsrisiko für die Kaufsache liegt grundsätzlich beim Käufer, d.h. der Verkäufer braucht die vom Käufer geplante Verwendung nicht zu ermitteln und dazu nicht zu beraten.

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Die unzulässige Speicherung personenbezogener Daten im Zuge von Besitz oder Nutzung der Kaufsache (z.B. bei vernetzten Gegenständen, Internet of Things („IoT“) kann einen Sachmangel bedeuten, wenn eine nicht beeinflussbare Weiterleitung der Daten an unbefugte Dritte zu befürchten ist und weder durch ausdrückliche Regeln oder eine übliche Beschaffenheit vom Käufer solche Vorgänge erwartet 223 224 225 226 227 228

Vgl. OLG Hamm v. 29.10.2015 – 2 U 76/15, juris Rz. 16. Vgl. LG Dessau-Roßlau v. 21.7.2011 – 2 O 1/09, juris Rz. 24. Vgl. Grützmacher, CR 2016, 485, 489 m.w.N. Offen gelassen für zu gewinnende Werbeadressen OLG Düsseldorf v. 30.7.2004 – 23 U 186/03, juris Rz. 15. Vgl. Überblick zum Stand der Diskussion Grützmacher, CR 2016, 485 ff. Vgl. OLG Düsseldorf v. 30.7.2004 – 23 U 186/03, juris Rz. 19 zu Adressdaten, die nicht die vertraglich vorausgesetzte Fokussierung auf eine Zielgruppe haben. 229 Vgl. BGH v. 27.2.2007 – XI ZR 195/05, DNotZ 2007, 739, 743 m.w.N. 230 Vgl. zum mittleren Standard mangels spezifischer Vereinbarungen BGH v. 16.12.2003 – X ZR 129/01, NJWRR 2004, 782, 783 m.w.N. = CR 2004, 490 = ITRB 2004, 123. 231 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 37 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 433 BGB Rz. 26.

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Sachmangel

Rz. 76 § 434 BGB

werden müssen.232 Setzt die vertragsgemäße Nutzung datenschutzrechtlich nicht gerechtfertigte Datenverwendung voraus, ist die Sache mangelhaft.233 Nach den Umständen des Einzelfalls muss eine rechtmäßige Nutzung zumindest möglich sein. Entsprechend ist für alle Gegenstände, die im Rahmen ihrer Nutzung personenbezogene Daten speichern und diese unmittelbar oder potentiell (z.B. im Rahmen üblicher Serviceintervalle oder bei Gewährleistungsanfragen) Dritten übermitteln, die Aufklärung und geeignete Gestaltung des Kaufvertrags sowie von Informationsmaterial und Menüführungen erforderlich.234 Werden personenbezogene Daten verkauft, so müssen sie inhaltlich und rechtlich zur vertraglich vo- 73 rausgesetzten Verwendung geeignet sein.235 20. Exportierbarkeit/Exportverbote Ist der Einsatz veräußerter IT-Leistungen (z.B. Software, Hardware, Verschlüsselungstechnik etc.) in bestimmten Regionen für den Verkäufer erkennbar geplant, spricht das für eine Beschaffenheitsvereinbarung und damit einen Sachmangel, wenn tatsächlich der vertraglich vorausgesetzte Gebrauch an Exportbeschränkungen scheitert.236

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21. Verwendung von (falschen) Open Source Bestandteilen Wird ein einheitliches IT-System aus Hard- und Software mit Open Source-Bestandteilen verkauft, so gilt einheitlich Kaufrecht.237 Soweit dies zur Einhaltung geltender Nutzerpflichten aus der Lizenz und zum Erwerb erforderlicher Rechte erforderlich ist, müssen verwendete Open Source-Bestandteile und vom Käufer einzuhaltende Pflichten Gegenstand des Vertrags werden. Beeinträchtigt eine lizenzverstoßende Überlassung an den Käufer dessen Nutzungsrechte oder dessen Möglichkeit zur Weiterveräußerung (wie z.B. im Falle der GPL-Lizenzen), kann der Käufer Rechtsmängel geltend machen, § 435.238

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VI. Prozessuales Der Käufer trägt die Beweislast für die Vereinbarung einer Beschaffenheit, für eine vom Vertrag vorausgesetzte Verwendung, für Montagepflichten, für öffentliche Äußerungen, für die mangelhafte Durchführung von Montagen, sowie für mangelhafte Montageanleitungen.239 Der Verkäufer trägt die Beweislast für seine Einwände, d.h. fehlende Kausalität nach § 434 Abs. 1 Satz 3 a.E., fehlerfreie Montage trotz fehlerhafter Montageanleitung, § 434 Abs. 2 Satz 2 a.E. Der Verkäufer hat eine negative Beschaffenheitsvereinbarung zu beweisen.240 Bis zur Annahme als Erfüllung durch den Käufer trägt der Ver232 Vgl. dazu OLG Hamm v. 2.7.2015 – 28 U 46/15, ZD 2016, 230 Rz. 46 = CR 2016, 519, am Beispiel eines Kfz, für das sich allerdings als Ergebnis der Beweisaufnahme herausgestellt hatte, dass die datenschutzrechtliche Unzulässigkeit nicht anzunehmen war; der Senat hatte Beweis zu Art und Umfang der vom Kfz gespeicherten Daten erhoben und einen Sachmangel verneint, weil der Sachverständige zu dem Ergebnis kam, dass die behauptete Speicherung tatsächlich nicht stattfand; vgl. Überblick zu datenschutzrechtlichen Anforderungen bei Kfz bei Weichert, NZV 2017, 507 ff. 233 Vgl. zur Verantwortlichkeit für Daten auch Kiparski/Sassenberg, CR 2018, 596 Rz. 23; Wendt, ZD-Aktuell 2018, 06034. 234 Vgl. zum Datenschutz in Kfz. Pohle/Zoch, CR 2014, 409, 411 m.w.N.; bei Einsatz für Arbeitnehmer zur alten Rechtslage Simitis/Seifert, § 32 BDSG Rz. 82 ff. 235 Vgl. OLG Düsseldorf v. 30.7.2004 – 23 U 186/03, juris Rz. 20 f. m.w.N. bei aufgrund unzulässiger Einwilligung übertragenen Adressdaten; zur Unzulässigkeit der Werbung mit rechtswidrig überlassenen Adressdaten OLG Naumburg v. 10.10.2003 – 1 U 17/03, NJW 2003, 3566, 3567 f.; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kapitel M, Rz. 870 m.w.N., der auf mögliche Hinweispflichten des Verkäufers bei Verwendungsrisiken mit Blick auf Datenschutz, Mitbestimmungspflichtigkeit etc. verweist. 236 Vgl. OLG Düsseldorf v. 29.3.1995 – 9 U 204/94, NJW-RR 1996, 1353, 1354 m.w.N. für öffentlich rechtliche Nutzungsbeschränkungen von Gebäuden. 237 Vgl. Jaeger/Metzger, Rz. 269 m.w.N. 238 Vgl. Jaeger/Metzger, Rz. 271 f. m.w.N. 239 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 70; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 53 m.w.N. 240 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 70 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 53.

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BGB § 434 Rz. 76 Sachmangel käufer die Beweislast für die Mangelfreiheit des Kaufgegenstandes, § 363.241 Das gilt auch, wenn der Käufer die Annahme verweigert. Nach Annahme als Erfüllung hat der Käufer Mängel zu beweisen, aus denen er Rechte herleiten will, § 363.242 Nach erfolgter Nachbesserung bleibt es bei der Beweislastverteilung, nach der der Käufer das Fortbestehen des Mangels und damit die Erfolglosigkeit des Nachbesserungsversuchs beweisen muss.243 Insoweit muss der Käufer auch die tatsächlichen Voraussetzungen des § 440 Satz 2 beweisen. Der Käufer genügt den Anforderungen an die Darlegung und den Beweis für das Fehlschlagen der Nachbesserung jedoch i.d.R. bereits durch den Nachweis, dass das von ihm gerügte Mangelsymptom weiter auftritt. Ob der Sachmangel nach erfolgter Nachbesserung durch eine neue Mangelursache auftritt (z.B. weil die korrigierte Konfiguration nunmehr mit anderen Konfigurationsfehlern das Mangelsymptom verursacht), ist irrelevant, soweit die Ursache nicht auf einer unsachgemäßen Behandlung seitens des Käufers oder eines Dritten beruhen kann. Für Mangelursachen trägt der Verkäufer die Beweislast.244

§ 435 Rechtsmangel Die Sache ist frei von Rechtsmängeln, wenn Dritte in Bezug auf die Sache keine oder nur die im Kaufvertrag übernommenen Rechte gegen den Käufer geltend machen können. Einem Rechtsmangel steht es gleich, wenn im Grundbuch ein Recht eingetragen ist, das nicht besteht. . . . . .

1 2 2 3 8

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9 10

Zwingendes/Dispositives Recht . . Auswirkungen auf AGB-Recht . . Einzelfälle und -fragen . . . . . . Gebrauchtsoftware . . . . . . . . . Sonstige digitale Güter (E-Books, Hörbücher etc.) . . . . . . . . . . 3. Open Source-Software . . . . . . . 4. Verkauf von Daten . . . . . . . . .

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

I. II. 1. 2. 3. 4.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . Sache/Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . Kein Recht in Bezug auf die Sache . . . . Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . Nur im Vertrag übernommene Rechte in Bezug auf die Sache . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. 2. IV. 1. 2.

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V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Bartenbach/Bartenbach, Schutzrechtsverkauf und Lizenzierung von Schutzrechten und Know-how nach der Schuldrechtsreform, MDR 2003, 270; Bartsch, Rechtsmängel bei der Überlassung von Software, CR 2005, 1; Baus, Verwendungsbeschränkungen in Softwareüberlassungsverträgen, 2004; Behnes/Nink/Rohde, Nutzung internetbasierter Datenbankanwendungen – Haftung des Lizenznehmers für Quellensteuern des ausländischen Anbieters, CR 2016, 281; Gräbig, BGH: Half-Life 2 – Ende des Handels mit Gebrauchtsoftware, MMR-aktuell 2010, 307861; Grützmacher, Gebrauchtsoftware und Übertragbarkeit von Lizenzen, CR 2007, 549; Grützmacher, Die juristische Beurteilung von DRM-Maßnahmen und Sperren im Rahmen verschiedener Lizenzmodelle, Teile 1 und 2, ITRB 2015, 120 und 141; Grützmacher, Endlich angekommen im digitalen Zeitalter!?, Die Erschöpfungslehre im europäischen Urheberrecht: der gemeinsame Binnenmarkt und der Handel mit gebrauchter Software, ZGE/IPJ Band 5, S. 46; Grützmacher, „Software aus der Datendose“ – Outsourcing, Cloud, SaaS & Co., CR 2015, 779; Hilber, Die Übertragbarkeit von Softwarerechten im Kontext einer Outsourcingtransaktion, CR 2008, 749; Hoeren/ Schuhmacher, Verwendungsbeschränkungen im Softwarevertrag, CR 2000, 137; Kartheuser, Kein Sachmangel bei Speicherung von Fahrzeugdaten, ITRB 2016, 102; Koch, Urheberrechtliche Zulässigkeit technischer Beschränkungen und Kontrolle der Software-Nutzung, CR 2002, 629; Koch, Probleme beim Wechsel zur neuen Version 3 der General Public License (Teil 2) Auswirkungen und Handhabung verschiedener GPL-Versionen in der Vertragspraxis, ITRB 2007, 285; Kubach/Hunzinger, Wer hat das Recht an der Rechtekette und welche Rechte hat der Käufer von Gebrauchtsoftware (Teil 1), CR 2016, 14; Kubach/Hunzinger, Wer hat das Recht an der Rechtekette und welche 241 Vgl. Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 71; MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 53 m.w.N. 242 Vgl. BGH v. 23.11.2005 – VIII ZR 43/05, NJW 2006, 434 Rz. 20; BGH v. 9.3.2011 – VIII ZR 266/09, NJW 2011, 1664 Rz. 11. 243 Vgl. BGH v 9.3.2011 – VIII ZR 266/09, NJW 2011, 1664 Rz. 11. 244 Vgl. BGH v. 9.3.2011 – VIII ZR 266/09, NJW 2011, 1664 Rz. 10; EuGH v. 4.6.2015 – C-497/13, NJW 2015, 2237 Rz. 70.

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Rechtsmangel

Rz. 3 § 435 BGB

Rechte hat der Käufer von Gebrauchtsoftware (Teil 2), CR 2016, 213; Laub/Laub, Die Verletzung technischer Schutzrechte als Rechtsmangel beim Sachkauf, GRUR 2003, 654; Laws, Strukturen des Kauf-, Werkvertrags- und werklieferungsvertragsrechts nach der Schuldrechtsreform, MDR 2002, 320; Metzger/Barudi, Open Source in der Insolvenz, CR 2009, 557; Möller, Das Patent als Rechtsmangel der Kaufsache – Vom objektiven zum subjektiven Rechtsmangelbegriff, GRUR 2005, 468; Plath, Hardware, Software und IT-Verträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Redeker, Rechtsmängel – Voraussetzungen, Garantien und Rechtsfolgen, ITRB 2004, 84; Redeker, Wirksame Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Mängelhaftung, ITRB 2004, 163; Redeker, Vertrag über die Lieferung, Anpassung und Installation von Software bei Verwendung der EVB-IT Systemlieferung, ITRB 2010, 255; Rinkler, AGB-Regelungen zum Rückgriff des Unternehmers und zu Rechtsmängeln auf dem Prüfstand, ITRB 2006, 68; Rippert/Weimer, Rechtsbeziehungen in der virtuellen Welt, ZUM 2007, 272; Rohlfing, Wirksamkeit und Umfang von Freistellungsverpflichtungen, MDR 2012, 257; Roth, Rechtsmängelhaftung, ITRB 2003, 231; Sattler, BGH: Erschöpfung des Verbreitungsrechts an Kopien eines Computerprogramms – UsedSoft III, GRUR 2015, 772, 780; Schäfer, Der virale Effekt, Entwicklungsrisiken im Umfeld von Open Source Software, Diss. 2007; Schneider, Software als handelbares verkehrsfähiges Gut – „Volumen-Lizenzen“ nach BGH, CR 2015, 413; Schneider/Spindler, Der Kampf um die gebrauchte Software – Revolution im Urheberrecht?, CR 2012, 489; Schrey/Krupna, Softwarelizenzmanagement – Ein unterschätztes Compliance-Risiko, CCZ 2012, 141; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Staudenmayer, Kauf von Waren mit digitalen Elementen – Die Richtlinie zum Warenkauf, NJW 2019, 2889; Stieper/Henke, Reichweite des Erschöpfungsgrundsatzes beim isolierten Verkauf von Produktschlüsseln – Neues vom Handel mit Softwarelizenzen, NJW 2015, 3548; Voss, Rechtsmängelhaftung bei Überlassung von Software, CR 1994, 449; Witzel, Beschaffung von Open Source Software, ITRB 2016, 160; Witzel, Vertragsbeziehungen bei der Beschaffung von Open Source Software, ITRB 2016, 235.

I. Allgemeines § 435 definiert den Rechtsmangel. Die Verschaffung der Kaufsache frei von Rechtsmängeln gehört zu 1 den Hauptleistungspflichten, § 433 Abs. 1 Satz 2. Die Schuldrechtsreform hat zielgerichtet Sach- und Rechtsmängel wie im Werkvertragsrecht gleichgestellt. Für Kaufsachen mit einem internationalen Einsatzzweck hängt die Beurteilung wegen des Territorialitätsprinzips jeweils von den in den Anwendungsländern geltenden Gesetzen ab. In der IT-Praxis ergeben sich insb. Konflikte mit Urheber-, Patent- und Markenrechten. Für den IT-Kunden drohen der (plötzliche) Verlust wichtiger IT-Betriebsmittel (durch einstweilige Verbotsverfügungen, z.B. gestützt auf § 97 Abs. 1 UrhG), Schadensersatzansprüche und der Zwang, erforderliche Nutzungsrechte erneut vom dritten Rechteinhaber zu erwerben.

II. Norminhalt 1. Sache/Dritte Sachen sind körperliche Gegenstände, § 90. Dritte i.S.d. § 435 sind diejenigen, die nicht Vertragsparteien sind.1

2

2. Kein Recht in Bezug auf die Sache Rechte i.S.d. § 435 sind umfassend alle Rechte, die den Kaufgegenstand trotz Übertragung ergreifen und dadurch das Recht des Käufers beeinträchtigen können, mit der Sache nach Belieben zu verfahren.2 Dingliche, obligatorische und öffentlich-rechtliche Beschränkungen aus der deutschen und sonstigen Rechtsordnungen werden erfasst (z.B. bei Einschränkungen bezogen auf eine verkaufte Standardsoftware in einem Auslandsstaat, der nach dem Vertrag zum Einsatzgebiet gehört).3

1 In Ausnahmefällen können auch Personen aus einer Mehrheit von Verkäufern oder auch ein Käufer selbst als Dritte in Betracht kommen, vgl. OLG Frankfurt v. 2.7.2004 – 24 U 205/03, OLGReport Frankfurt 2004, 318-320; zum Meinungsstand Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 8. 2 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 4; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 8. 3 Vgl. BGH v. 7.10.1991 – II ZR 252/90, NJW 1992, 362, 363.

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BGB § 435 Rz. 4 Rechtsmangel 4

Abweichend von Art. 41 CISG muss das Recht tatsächlich bestehen. Die Geltendmachung eines vermeintlichen Rechts durch einen Dritten genügt nicht.4 Vermeintliche Rechte begründen erst einen Rechtsmangel, wenn sie für den Verkäufer verbindlich gerichtlich festgestellt sind.5 Besteht das geltend gemachte Recht des Dritten tatsächlich nicht, so kann sich eine Haftung des Verkäufers aus den §§ 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 oder aus entsprechenden Vereinbarungen ergeben.6

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Das Recht muss es einem Dritten aktuell oder künftig erlauben, die Handlungsmöglichkeiten des Käufers bezüglich der Sache einzuschränken, insb. diese zu benutzen oder ihre Nutzung zu verbieten.7 Es gilt ein objektiver Maßstab. Ein Rechtsmangel besteht auch dann, wenn die fremden Rechte tatsächlich nicht ausgeübt werden oder wenn sie den Käufer nicht bei der beabsichtigten Verwendung stören.8

6

Ein vom Rechtsmangel zu unterscheidender Fall der Nichterfüllung liegt vor, wenn der Verkäufer kein Eigentum an der Kaufsache verschafft.9 Differenziert wird für den Fall des Verkaufs einer Raubkopie an einer Software: Ein Rechtsmangel ist anzunehmen, soweit der Käufer etwas erhält oder erwirbt (z.B. einen Datenträger oder eine Programmkopie per Download).10 Nur wenn (i) nichts übergeben oder übertragen oder zum Abruf bereit gestellt wird oder wenn (ii) der Käufer einen angebotenen Gegenstand berechtigt als vertragswidrig zurückweist, gelten die allgemeinen Regeln zur Nichterfüllung.11

7

Beispiele: a) Immaterialgüterrechte: Dazu zählen insb. Patente, Urheber-,12 Titelschutz- und Markenrechte,13 die dem Berechtigten Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche einräumen und damit die Möglichkeit des Käufers zur Verwendung der Sache aufheben, §§ 97 UrhG, 139 PatG, 14 f. MarkenG. Darunter fällt es z.B., wenn Software durch für Dritte geschützte Software-Bestandteile erweitert wird: Ein Dritter kann für einen untrennbar mit der Softwarelösung zu nutzenden Teil Unterlassung verlangen und damit die Nutzung der Software in ihrem funktionalen Zusammenhang verbieten. Beispiele ergeben sich für Open Source-Software14 (vgl. Rz. 27 ff.). Ein Rechtsmangel kann aber auch bei Verkauf eines ausschließlichen Nutzungsrechts bestehen, wenn vorher ein einfaches Nutzungsrecht verkauft wurde, das dem Käufer nach § 33 UrhG entgegengehalten werden kann.15 b) Beschränkt dingliche Rechte: Beispielsweise kann eine Verpfändung nach den §§ 1273 ff. eingreifen bezüglich Patenten (§ 9 PatG), urheberrechtlichen Nutzungsrechten (§ 34 UrhG), Marken (§ 29 Abs. 1 MarkenG), die die im Zusammenhang mit Software und Hardware eingeräumten Nutzungsrechte beeinträchtigt.16 c) Persönliche Rechte: Namensrechte gewähren dem Berechtigten einen Unterlassungsanspruch gegen die freie Verwendung einer Kaufsache nach § 12 Satz 2.17 Entsprechendes gilt für die Rechte des Betroffenen bezogen auf seine personenbezogenen Daten. Ein Rechtsmangel liegt vor, soweit der Betroffene ggü. dem Erwerber Einschränkungen mit Blick auf den im Rahmen des Verkaufs der Sache erforderlichen Umgang mit den Daten geltend machen kann (z.B. bei Datenkatalogen, die zum Funktionieren einer Standardsoftware verwendet werden und mit dieser verkauft sind). Die allgemein an4 Vgl. zum Stand auch Marly, Softwarerecht, Rz. 1464 m.w.N., insb. OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 217. 5 Vgl. Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 218 m.w.N. für den Fall, dass die Wirksamkeit der Veräußerung von Software mangels erforderlicher Unterlagen zur Rechtekette im Streit mit dem Rechteinhaber nicht nachgewiesen werden kann. 6 Vgl. Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 5 m.w.N. 7 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 4 m.w.N., insb. RGZ 88, 103, 107. 8 Vgl. BGH v. 19.11.1999 – I ZR 244/97, NJW 2000, 803, 804; Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 4 m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 10 unter Verweis auf die Gesetzgebungsmaterialien. 9 Vgl. BGH v. 19.10.2007 – V ZR 211/06, NJW 2007, 3777 Rz. 27; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 13; Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 3 m.w.N. 10 Vgl. etwa BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3014 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; OLG Nürnberg v. 26.3.1992 – 2 U 2566/91, CR 1992, 723; OLG Hamm v. 5.5.1999 – 13 U 256/98, juris Rz. 13. 11 Vgl. dazu den Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 12 ff.; Bartsch, CR 2005, 3 m.w.N.; s. auch im patentrechtlichen Kontext Bartenbach/Bartenbach, MDR 2003, 272 m.w.N.; differenzierend nach Umfang und Zweck der jeweiligen Rechtseinräumung Redeker, ITRB 2004, 84. 12 Vgl. OLG Hamm v. 12.9.1990 – 31 U 110/89, NJW-RR 1991, 953, 954 = CR 1991, 15. 13 Zur Einordnung solcher Belastungen als Sachmangel vgl. Bartsch, CR 2005, 2 m.w.N. 14 Vgl. zum Themenbereich auch Metzger/Barudi, CR 2009, 557 ff. 15 Vgl. BGH v. 25.6.1985 – KZR 31/84, GRUR 1986, 91, 92; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 22 m.w.N. 16 Vgl. zur Verpfändung solcher Rechte MünchKomm/Damrau, § 1273 BGB Rz. 3. 17 Vgl. BGH v. 31.1.1990 – VIII ZR 314/88, NJW 1990, 1106, 1107.

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Rechtsmangel

Rz. 9 § 435 BGB

erkannten Grundsätze zur Behandlung immaterieller Rechtspositionen im Rahmen der Rechtsmängelhaftung18 gelten für datenschutzrechtliche Ansprüche eines Dritten entsprechend. Das Datenschutzrecht zielt gerade darauf ab, den Einzelnen vor Beeinträchtigungen seines Persönlichkeitsrechts durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten zu schützen, Art. 1 Abs. 1 und 2 DSGVO.19 Der Betroffene kann vom Käufer beispielsweise die Berichtigung, Art. 16 DSGVO, Auskunft, Art. 15 DSGVO, oder auch die Löschung seiner Daten verlangen, Art. 17 DSGVO. Die Verwendung der Kaufsache beeinträchtigende Unterlassungs- und Schadensersatzpflichten ergeben sich auch aus Art. 82 DSGVO, § 1004 BGB analog. Kein Rechtsmangel, wohl aber ein Sachmangel soll vorliegen, wenn ein Gegenstand ohne gesetzliche Rechtfertigung oder Einwilligung des betroffenen Nutzers personenbezogene Daten speichert und eine nicht beeinflussbare Weiterleitung an unbefugte Dritte zu befürchten stünde,20 z.B. ein Fahrzeug, dass fortlaufend u.A. Geo-Daten über die Orte und Zeiten seiner Nutzung speichert.21 Für eine Einordnung als Rechtsmangel spricht es jedoch, wenn beispielsweise datenschutzrechtliche Ansprüche Dritter ein Verbot des Einsatzes der Kaufsache zum vertraglich vorausgesetzten Gebrauch ermöglichen (z.B. durch Mitarbeiter oder einen Betriebsrat). Insoweit hängt die Einordnung als Sach- oder Rechtsmangel vom Einzelfall ab. d) Öffentlich-rechtliche Bindungen: Die Beschlagnahme oder Sicherstellung, der Verfall oder die Einziehung einer Sache können einen Rechtsmangel begründen, wenn dieser Zustand bereits bei Gefahrübergang bestand. Die öffentlich-rechtliche Handlung muss rechtmäßig und nicht nur vorübergehend erfolgt sein.22 Das gilt auch im Falle einer rechtmäßigen Beschlagnahme aufgrund der §§ 111b und 111c StPO.23 e) Exportverbote sind öffentlich-rechtliche Nutzungsbeschränkungen, die nur dann Rechtsmängel begründen, wenn es sich um über die für alle Objekte dieser Art geltenden Beschränkungen hinausgehende Individualbelastungen der speziellen Kaufsache handelt.24 Bei Erkennbarkeit für den Verkäufer kann aber eine Beschaffenheitsvereinbarung und damit ein Sachmangel anzunehmen sein (Exportierbarkeit; vgl. zur Beschaffenheit § 434 Rz. 8 ff.).25

3. Maßgeblicher Zeitpunkt Die Kaufsache muss bei Vollzug des Erwerbs des Käufers frei von Rechtsmängeln sein.26 Bei Sachen ist der Zeitpunkt des Eigentumserwerbs maßgeblich,27 für Rechte der Zeitpunkt der Wirksamkeit der Abtretung oder Einräumung (bei künftigen Rechten deren Entstehung) und bei Unmöglichkeit oder Unwirksamkeit der Rechteübertragung deren Versuch.28

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4. Nur im Vertrag übernommene Rechte in Bezug auf die Sache Im Vertrag übernommen sind all diejenigen Rechte, die nach Auslegung des Kaufvertrages der ord- 9 nungsgemäßen Erfüllung nicht im Wege stehen.29 Bei Einräumung von Nutzungsrechten kann der Käufer grundsätzlich nicht erwarten, nach Belieben mit dem gekauften Recht verfahren zu können. Vielmehr sind Nutzungsrechte grundsätzlich eng beschränkt auf die zur Erreichung des Vertragszwecks erforderlichen Nutzungsarten, § 31 Abs. 5 UrhG.30 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. dazu MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 8 m.w.N. Vgl. dazu Überblick Paal/Pauly/Ernst, Art. 1 DSGVO Rz. 4 ff. m.w.N. Vgl. OLG Hamm v. 2.7.2015 – 28 U 46/15, ZD 2016, 230 Rz. 46 = CR 2016, 519. Vgl. dazu OLG Hamm v. 2.7.2015 – 28 U 46/15, ZD 2016, 230 Rz. 36 = CR 2016, 519. Vgl. jurisPK BGB/Pammler, § 435 Rz. 27 ff. m.w.N.; vgl. zuletzt auch OLG Düsseldorf v. 20.2.2015 – 22 U 159/14. Vgl. BGH v. 18.2.2004 – VIII ZR 78/03, NJW 2004, 1802. Vgl. OLG Düsseldorf v. 29.3.1995 – 9 U 204/94, NJW-RR 1996, 1353, 1354 m.w.N. für öffentlich rechtliche Nutzungsbeschränkungen von Gebäuden; jurisPK BGB/Pammler, § 435 Rz. 32 f.; auch Überblick bei Palandt/ Weidenkaff, § 435 BGB Rz. 11 ff. m.w.N. In diesem Sinne allgemein bezogen auf gesetzliche Beschränkungen Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 23 f. m.w.N.; in diesem Sinne auch OLG Düsseldorf v. 29.3.1995 – 9 U 204/94, NJW-RR 1996, 1353, 1354. Vgl. unter Verweis auf allgemeine Ansicht MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 6 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 16 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 435 BGB Rz. 7. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 6 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 453 BGB Rz. 10 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 5 m.w.N. Vgl. zur Berücksichtigung der urheberrechtlichen Leitideen für die Auslegung von Kaufverträgen Bartsch, CR 2005, 2 m.w.N.; zur Unbeachtlichkeit der Auslegungsregeln als Leitbild der AGB-Inhaltskontrolle vgl. BGH v. 17.10.2013 – I ZR 41/12, NJW 2014, 1949 Rz. 9 ff. – Rechteeinräumung Synchronsprecher.

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BGB § 435 Rz. 10 Rechtsmangel 5. Rechtsfolgen 10

Wegen eines Rechtsmangels kann der Käufer wie bei Sachmängeln Nacherfüllung, Rücktritt, Minderung und Schadensersatz verlangen, §§ 437 bis 441.31 Für den gewerblich handelnden Verwerter fremder Urheberrechte gelten strenge Anforderungen, nach denen er seine Berechtigung umfassend und lückenlos entlang der gesamten Verwertungskette prüfen muss. Zusicherungen genügen insoweit nicht zum Ausschluss des Verschuldens.32 Die Verjährung richtet sich nach § 438 Abs. 1 Nr. 1, d.h. es gilt eine Frist von 30 Jahren, wenn der Mangel in einem dinglichen Recht eines Dritten besteht, auf Grund dessen Herausgabe der Kaufsache verlangt werden kann.33 Mitverschulden muss sich der Käufer nur in den Fällen des § 442 entgegenhalten lassen.34

11

Kein Ausschluss kann sich nach h.M.35 aus einer Verletzung der Rügeobliegenheiten des § 377 Abs. 2 HGB ergeben. Die Regelung betrifft auch nach der Gleichstellung von Sach- und Rechtsmängeln durch die Schuldrechtsmodernisierung unverändert ausschließlich Sachmängel. Da Rechtsmängel durch Untersuchung der Ware nicht erkennbar sind, kann eine Untersuchungs- und Rügepflicht nicht auf kurzfristige Klarheit über Rechtsmängel im Handelsverkehr hinwirken.36

III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 12

Die Regelungen des § 435 sind grundsätzlich dispositiv.37 In den Grenzen der §§ 444, 475 (Verbrauchsgüterkauf) sind Einschränkungen und insb. Haftungsbeschränkungen weitgehend möglich.38 Ein vertraglicher Ausschluss kann sich auch aus der Übernahme bestehender Belastungen oder der Art des Geschäfts ergeben.39

13

Der Verkäufer kann auch erweiternd die Haftung für geltend gemachte nicht bestehende Rechte vereinbaren. Angesichts der schwierigen Tatsachenfragen und der regelmäßig mangelhaften Informationslage beim IT-Kunden besteht ein großes Interesse an der erweiterten Haftung des Verkäufers auch für vermeintliche Rechtsmängel (beispielsweise bezogen auf Bestandteile einer veräußerten Software). Aus Sicht des Verkäufers stellen sich hier gleichfalls gravierende Risiken (z.B. bei Angriffen eines unseriösen Wettbewerbers). Im Sinne einer ökonomischen Analyse der Risikolage40 ist jedoch am ehesten der Verkäufer in der Lage, diese Risiken einzudämmen oder sich auf eine effektive Abwehr vorzubereiten (z.B. durch geeignete Anweisungen und Schulungen ggü. Mitarbeitern über den Umgang mit Fremdsoftware, Dokumentation über die Entstehung vertriebener Software, Festlegung einer weniger riskanten Entwicklungsstrategie, Lizenzmanagement etc.). Zudem ist der Aufwand insgesamt erheblich geringer, wenn er einmalig vom Verkäufer für alle potentiell betroffenen Käufer einer Kopie vorgenommen wird. Entsprechend kann bei Auslegung einer Freistellung im Zweifel angenommen werden, dass auch unberechtigt geltend gemachte Ansprüche abgewehrt werden müssen.41

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 435 BGB Rz. 18; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 442 BGB Rz. 53 m.w.N. Vgl. BGH v. 18.12.1997 – I ZR 79/95, GRUR 1998, 568, 569 – Beatles-Doppel-CD. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 435 BGB Rz. 14 m.w.N. Vgl. zur verdrängenden Wirkung der Kaufregeln schon zum alten Recht BGH v. 31.1.1990 – VIII ZR 314/88, NJW 1990, 1106, 1108. Vgl. zum Streitstand die Darstellung bei MünchKomm/Grunewald, § 377 HGB Rz. 53 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Grunewald, § 377 HGB Rz. 53 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 20 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 435 BGB Rz. 3. Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 435 BGB Rz. 3. Vgl. im Zusammenhang mit dem Verkauf eines Grundstücks BGH v. 10.7.1998 – V ZR 60/97, ZIP 1998, 1757, 1758. Vgl. dazu Dreier/Schulze/Dreier, Einleitung Rz. 12 ff.; MünchKomm/Wagner, Vorbemerkungen, Rz. 45 ff. Vgl. BGH v. 15.12.2010 – VIII ZR 86/09, NJW-RR 2011, 479 Rz. 12 m.w.N.; OLG München v. 19.10.1995 – 29 U 2045/95, juris Rz. 4 m.w.N.

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Rechtsmangel

Rz. 16 § 435 BGB

2. Auswirkungen auf AGB-Recht Die Haftung des Verkäufers kann in AGB nicht umfassend ausgeschlossen werden, § 309 Nr. 8. Das gilt auch zwischen Unternehmen.42 Für die Ausweitung von Haftung gilt auch im unternehmerischen Verkehr der Grundsatz, dass verschuldensunabhängige Haftung regelmäßig nach § 307 Abs. 1 Nr. 1 als unangemessene Benachteiligung unwirksam ist.43 Die Probleme des Käufers, Rechtsmängel zu erkennen, rechtfertigen44 ebenso wenig wie die vor der Schuldrechtsreform geltende verschuldensunabhängige Haftung eine abweichende Beurteilung, weil insoweit die bewusste gesetzgeberische Entscheidung bei der Inhaltskontrolle von Haftungsklauseln nachzuvollziehen ist.45 Eine generelle Garantie des Verkäufers für die vereinbarte Beschaffenheit der Kaufsache benachteiligt den Verkäufer unangemessen, weil sie ihn dem Risiko einer unübersehbaren Schadensersatzhaftung aussetzt.46 Es sind jedoch hohe Anforderungen an den Sorgfaltsmaßstab zu stellen.47

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IV. Einzelfälle und -fragen 1. Gebrauchtsoftware Nach höchstrichterlicher Rspr. von BGH und EuGH ist anerkannt, dass dauerhaft gegen Vergütung überlassene (verkaufte) Computerprogramme grundsätzlich weiterverkauft werden können (s. zu den Einzelheiten § 69c UrhG Rz. 16 ff.).48 Von der Rspr. wurden Kriterien herausgearbeitet, nach denen die Wirksamkeit der Weiterveräußerung von Computerprogrammen (stets bleiben Rechte zur Vermietung ausgenommen) und die Unwirksamkeit von schuldrechtlichen Nutzungs- und Weitergabebeschränkungen zu beurteilen ist. Werden diese Regeln verletzt, droht die kaufrechtliche Haftung des Veräußerers neben Ansprüchen des Rechtsinhabers, z.B. aus den §§ 97 ff. UrhG.

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Nach höchstrichterlicher Kasuistik bestehen folgende Voraussetzungen eines wirksamen Verkaufs eines „gebrauchten“ Computerprogramms: (i) Der Inhaber des ausschließlichen Nutzungsrechts, der dem möglicherweise auch gebührenfreien Herunterladen dieser Kopie aus dem Internet auf einen Datenträger zugestimmt hat (Erstverkauf in der EU),49 hat (ii) gegen Zahlung eines Entgelts, das ihm die Möglichkeit bietet, eine dem wirtschaftlichen Wert der Kopie des ihm gehörenden Werkes entsprechende Vergütung zu erzielen,50 (iii) dem Erwerber ein Recht eingeräumt, diese Kopie ohne zeitliche Begrenzung zu nutzen. Der Nacherwerber einer Kopie des Computerprogramms kann sich allerdings nur dann mit Erfolg auf eine Erschöpfung des Verbreitungsrechts an dieser Kopie berufen (§ 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG), wenn (iv) der Ersterwerber seine eigene Kopie unbrauchbar gemacht hat.51 Auf etwaiges rechtsmissbräuchliches Verhalten des Ersterwerbers kommt es im Sinne der Verkehrsfähigkeit nicht

16

42 43 44 45 46 47 48

49

50 51

Vgl. BGH v. 26.1.1993 – X ZR 90/91, NJW-RR 1993, 560, 561 = CR 1994, 91. So BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 ff. Rz. 30 m.w.N. = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 ff. Rz. 33 m.w.N. = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 ff. Rz. 32 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. So BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 ff. Rz. 31 m.w.N. = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. In diesem Sinne auch BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 ff. Rz. 33 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 27 = CR 2015, 429 – Usedsoft III unter Verweis auf EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft/Oracle; vgl. auch OLG Frankfurt v. 5.4.2016 – 11 U 113/15, MMR 2016, 692 Rz. 20 = CR 2016, 495 = ITRB 2016, 152; zuletzt auch EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 30, 50 ff. – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a. Vgl. KG v. 10.8.2015 – 23 U 42/14, ZUM-RD 2016, 182 f. = CR 2016, 81, wo Inverkehrbringen verneint wird, soweit für den Betrieb erforderliche Teile des Codes vom Rechteinhaber fortlaufend bei Nutzung und auf diese begrenzt bereit gestellt werden; zuletzt auch EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 35 f. – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 39 f. = CR 2015, 429 – Usedsoft III. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 27 = CR 2015, 429 – Usedsoft III unter Verweis auf EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft/Oracle; vgl. auch OLG Frankfurt v. 5.4.2016 – 11 U 113/15, MMR 2016, 692 Rz. 20 = CR 2016, 495; EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 55 – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a.

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BGB § 435 Rz. 16 Rechtsmangel an.52 Der Erwerber einer derart erschöpften Kopie ist als „bestimmungsgemäßer Benutzer“ i.S.d. § 69d Abs. 1 UrhG berechtigt.53 Zur Überlassung der Software an den Nacherwerber genügt auch die Bekanntgabe eines zum Download erforderlichen Produktschlüssels.54 Ist ein vom Rechteinhaber in Verkehr gebrachter Originaldatenträger jedoch zerstört worden, so ist der Erwerber zwar nach vorstehenden Regeln zur Weiterveräußerung des erschöpften Computerprogramms berechtigt; diese Berechtigung schließt aber die Weiterveräußerung einer vormals rechtmäßig erstellten Sicherungskopie nicht ein,55 weil das zwingende Recht zur Vervielfältigung für eine Sicherungskopie nur eng beschränkt zur Nutzung durch den Berechtigten eingeräumt ist; die Veräußerung des erschöpften Computerprogramms wird von der Erlaubnis nicht mehr erfasst.56 17

Gegen die Verletzung der Markenrechte im Zusammenhang mit der Weiterveräußerung einer erschöpften Kopie eines Computerprogramms kann sich der Veräußerer grundsätzlich auf den Erschöpfungseinwand des Art. 13 Abs. 1 GMV berufen.57 Bezogen auf über Software hinausgehende geschützte Bestandteile gelten zusätzlich die jeweils für sie anwendbaren Regeln (z.B. für Filme, geschützte Texte etc.).58 Die mit den §§ 69a ff. UrhG verfolgten Regelungszwecke, insb. der sicheren Verwendbarkeit, Handelbarkeit und Interoperabilität von Software, wären jedoch – inkl. ihres zwingenden Kerns – nach Belieben ausschließbar, wenn die Verwendung anderweitig geschützter Elemente (z.B. von Bildern und Texten mit sicher ausreichender Schöpfungshöhe, § 2 Abs. 2 UrhG) ein Verbot der Vervielfältigung von Software entgegen § 69d UrhG ermöglichte. Das spricht etwa für eine teleologisch weitergehende Anwendung von § 69d UrhG auch für Schutzgegenstände, wie sie üblicherweise in Software verwendet werden. Demgegenüber erscheint eine Analogie jedenfalls mit Blick auf eine planwidrige Regelungslücke problematisch.

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Für eine unbefristete Nutzung i.S.d. Erschöpfung ist eine dauerhafte Überlassung für die gesamte Zeit der Funktionsfähigkeit des Computerprogramms erforderlich. Es erscheint zweifelhaft, ob dafür entsprechend BGH Green-IT bereits eine Überlassungszeit von einem Jahr ausreicht, nach der die Nutzbarkeit durch eine technische Schutzmaßnahme aufgehoben wird.59 Technische Schutzmaßnahmen betreffen gerade nicht die gesetzlich und vom EuGH60 angelegte Abgrenzung zwischen Überlassung ohne zeitliche Begrenzung (= Verkauf; Veräußerung und Erschöpfung gegen Möglichkeit zur angemessenen Vergütung) und befristeter Nutzung (= Miete; keine Erschöpfung und zeitabhängige Vergütung). Anderenfalls käme es zu dem kaum überzeugenden Ergebnis, dass jede technisch abgesicherte Mietüberlassung von Computerprogrammen gleichwohl zur Erschöpfung führt, weil das Computerprogramm notwendig für die vollständige Zeit der Nutzbarkeit (= Mietzeit) überlassen wird. Der Zweck der Erschöpfung wird insoweit nicht berührt, weil der Berechtigte gerade keinen Gegenstand dauerhaft dem zu schützenden Rechtsverkehr überlassen hat.

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Die Unbrauchbarmachung der Kopie(n) beim Weiterverkäufer ist weitere Voraussetzung dafür, dass sich der Erwerber auf die Veräußerung berufen kann.61 Dafür soll es nach BGH Green-IT keine Rolle spielen, ob der dem Erwerber überlassene Produktschlüssel bereits sichert, dass ein noch beim

52 Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 51 = CR 2015, 429 – Usedsoft III. 53 Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 60 m.w.N. = CR 2015, 429 – Usedsoft III. 54 Vgl. OLG Frankfurt v. 5.4.2016 – 11 U 113/15, MMR 2016, 692 Rz. 18 = CR 2016, 495 = ITRB 2016, 152; EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 49 f. – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a. 55 Vgl. EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 44, 57 – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a. 56 So EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 42 f. – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a. 57 Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 75 m.w.N. = CR 2015, 429 – Usedsoft III; BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 58 m.w.N. = CR 2015, 711 – Green-IT, unter Verweis auf Einschränkungen, falls die Verwendung die ernstliche Gefahr begründet, dass der Erwerber des Produkts das Urheberrecht am veräußerten Gegenstand verletzt. 58 Vgl. BGH v. 6.10.2016 – I ZR 25/15, CR 2017, 161 Rz. 65 – World of Warcraft I. 59 So aber BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 37 = CR 2015, 711 – Green-IT, für eine Überlassungszeit von einem Jahr, nach dessen Ablauf das Computerprogramm sich aber automatisch deaktiviert. 60 Vgl. EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 Rz. 72 = CR 2012, 498 – UsedSoft/Oracle. 61 Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 49 m.w.N. = CR 2015, 711 – Green-IT.

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Rechtsmangel

Rz. 23 § 435 BGB

Veräußerer verbliebener Datenträger unbrauchbar wird (doppelte Nutzung technisch verhindert).62 Das erscheint zweifelhaft, da keine spezifischen Vorgaben dazu gemacht sind, wie eine verbliebene Kopie unbrauchbar gemacht wird. Im Sinne der wirtschaftlich orientierten Argumentation des EuGH ist maßgeblich, dass eine doppelte Nutzung effektiv vermieden ist.63 Der EuGH hatte mit Blick auf die Lösung der Beweis- und Kontrollprobleme, die mit der Weiterveräußerung von Computerprogrammen verbunden sind, gerade auf die Lösungspotentiale technischer Schutzmaßnahme über Produktschlüssel verwiesen.64 Der Erwerber trägt die Darlegungs- und Beweislast bzgl. der Unbrauchbarmachung der erworbenen Kopien durch den Vorerwerber.65 Der Rechteinhaber kann sich regelmäßig auf Bestreiten mit Nichtwissen beschränken, § 138 Abs. 4 ZPO. Der Erwerber kann den Nachweis nicht allein durch eine Vernichtungserklärung der Vorerwerber oder durch notarielle Zertifikate führen.66 Dafür wird ein nachvollziehbar verlässlicher Abschlussbericht eines Lizenzaudits erforderlich sein.67 Der Download wird ausdrücklich mit der Überlassung einer Kopie auf einem Datenträger gleichgestellt.68 Auch der Zweiterwerber einer erschöpften Kopie eines Computerprogramms kann seine Kopie vom Hersteller herunterladen und braucht sich insb. nicht etwaige Kopien vom Verkäufer übergeben zu lassen.69 Die Übermittlung eines Produktschlüssels für eine erschöpfte Kopie eines Computerprogramms genügt auch dann, wenn die Kopie in Form eines Datenträgers als Teil eines physischen Pakets in den Verkehr gebracht wurde.70

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Auch im Rahmen üblicher Softwarepflege überlassene Softwareaktualisierungen gehören nach vorste- 21 henden Regeln zur aktualisierten Software, soweit sie von einem zwischen dem Rechtsinhaber und dem Ersterwerber geschlossenen Pflegevertrag erfasst sind (vom Zweitveräußerer/-erwerber darzulegen und zu beweisen).71 Für die Aufspaltung von Lizenzen ist zu unterscheiden: Bezieht sich die Zustimmung des Rechtein- 22 habers auf eine einheitliche Kopie, die von einer bestimmten Maximalzahl von Nutzern verwendet werden darf („Client-Server-Lizenz“), so muss diese Kopie insgesamt unbrauchbar gemacht werden, wenn einem Zweiterwerber – auch nur für wenige Nutzer – das Computerprogramm weiterveräußert werden soll.72 Bezieht sich die Zustimmung des Rechteinhabers jedoch auf eine Maximalzahl von Kopien („Volumenlizenz“), so beschränkt sich die Notwendigkeit der Unbrauchbarmachung veräußerter Kopien jeweils separat auf jede Kopie.73 Der Erschöpfung widersprechende Weitergabeverbote dürfen die Verkehrsfähigkeit der veräußerten Programmkopien nicht beeinträchtigen.74 Hat der Rechteinhaber der Erstveräußerung zugestimmt, tritt unabhängig von begleitenden Einschränkungen (z.B. bezogen auf eine Verwendung zu Ausbildungszwecken) eine unbedingte Erschöpfung und damit dingliche Veräußerbarkeit ein.75 Schuldrechtliche Einschränkungen dieser Veräußerbarkeit sind in AGB wegen Verstoßes gegen wesentliche 62 63 64 65

66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 51 = CR 2015, 711 – Green-IT. Vgl. EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11 NJW 2012, 2565 Rz. 70 = CR 2012, 498 – UsedSoft/Oracle. Vgl. EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 Rz. 79 = CR 2012, 498 – UsedSoft/Oracle. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 46 – UsedSoft III; einschränkend dazu Kubach/ Hunzinger, CR 2016, 14, 17 m.w.N., die bei ungenutzten Möglichkeiten der Beweisverschaffung durch den Rechteinhaber und Beeinträchtigungen des Marktes für Gebrauchtsoftware durch notwendige Offenlegungen des Zweiterwerbers im Rahmen der Beweisführung Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr begründen. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 49 = CR 2015, 429 – UsedSoft III. Offen insoweit Sattler, GRUR 2015, 772, 780 m.w.N.; vgl. zum derzeit offenen Meinungsstand Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 214 f. m.w.N. Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 34 m.w.N. = CR 2015, 711 – Green-IT; BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 32 f. m.w.N. = CR 2015, 429 – Usedsoft III; EuGH v. 12.10.2016 – C-166/15, CR 2017, 17 Rz. 49 f. – Staatsanwaltschaft Lettland vs. Aleksandr Ranks u.a. Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 48 m.w.N. = CR 2015, 711 – Green-IT. Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 39 = CR 2015, 711 – Green-IT. Vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 40 = CR 2015, 711 – Green-IT. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 44 m.w.N. = CR 2015, 429 – UsedSoft III. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 45 m.w.N. = CR 2015, 429 – UsedSoft III. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 62 m.w.N. = CR 2015, 429 – UsedSoft III; vgl. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 Rz. 38 m.w.N. = CR 2015, 711 – Green-IT. Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 36 m.w.N. = CR 2015, 429 – UsedSoft III.

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BGB § 435 Rz. 23 Rechtsmangel gesetzliche Grundsätze unwirksam, § 307. Insoweit sind nur individualvertragliche Pflichten wirksam zu begründen. 24

Zulässig sind jedoch technische Schutzmaßnahmen, die tatsächlich zur Unbrauchbarkeit einer urheberrechtlich erschöpften und damit veräußerbaren Programmkopie führen können: Der BGH hat die zur Nutzung erforderliche Einrichtung eines nicht übertragbaren Benutzerkontos als zulässig und insb. im Rahmen der AGB-Kontrolle als zulässig beurteilt, § 307 Abs. 2 Nr. 2.76 Die Erschöpfungswirkung schütze die Verkehrsfähigkeit vor urheberrechtlichen Ausschließlichkeitsrechten, erzwingt aber nicht die Freiheit des Verkehrs von aus sonstigen Gründen bestehenden Hindernissen.77 Die Übertragung eines Benutzerkontos auf einen Dritten schließt einen Wechsel des Vertragspartners ein, für den auch nach allgemeinen Regeln in AGB die Zustimmung des Rechtsinhabers vorbehalten bleibt.78 Auf diesem Weg wird die im Übrigen in AGB nicht einschränkbare Verkehrsfähigkeit dauerhaft veräußerter Software jedoch eingeschränkt. Insoweit erscheint ein Ausschluss der Veräußerbarkeit über den Umweg einer Verbindung mit einem Nutzungskonto zweifelhaft. Im Anschluss an die auch vom BGH aufgegriffene EuGH-Rspr. zur bei wirtschaftlicher Betrachtung zu ermöglichenden Veräußerbarkeit von Software läge es nahe, entweder die Verwendbarkeit unabhängig von einem Benutzerkonto oder die Möglichkeit zur Anbindung an ein anderes Benutzerkonto zu verlangen. Abweichende AGB-Vereinbarungen wären dann als unwirksam anzusehen und eine gleichwohl nicht verwendbare Software mangelhaft. Die Erschöpfung lässt sich bezogen auf ein Computerprogramm jedoch vermeiden, indem der Erwerber für die Nutzung fortlaufend Programmelemente benötigt, die beim Rechtsinhaber verbleiben.79 Ist der zugrunde liegende Kaufvertrag entsprechend formuliert, gilt ein entsprechender Kaufvertrag ohne die Erschöpfungswirkung.

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Rechtsmängelhaftung kann sich bei fehlender Dokumentation bezüglich der Rechtekette ergeben: Den Veräußerer trifft die Sorgfaltspflicht, den Nacherwerber über den Umfang der veräußerten Rechte zu informieren, ihm z.B. den Lizenzvertrag mit dem Rechteinhaber auszuhändigen.80 Unterliegt der Zweiterwerber gleichwohl im Streit mit dem Rechteinhaber, ergibt sich daraus ggü. dem Veräußerer ein Rechtsmangel.81 2. Sonstige digitale Güter (E-Books, Hörbücher etc.)

26

Bezogen auf digitale Inhalte ist noch offen, inwieweit die für Computerprogramme entwickelten Grundsätze anzuwenden sind. Die für Software geltende Erschöpfung ist wegen abweichender Rechtsgrundlagen und fehlender Analogievoraussetzungen weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar.82 Hinweise auf eine Übertragbarkeit der für physische Werkkopien geltenden Grundsätze ergeben sich jedoch aus der Rspr. zu elektronischen Büchern (E-Books).83 3. Open Source-Software

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Die Verwendung von Open Source-Software (s. zu Begriff und Grundlagen § 433 Rz. 23 ff.) kann zu einer Belastung des erworbenen Gegenstandes mit Rechtsmängeln oder zur Unmöglichkeit der Erfül76 Vgl. BGH v. 11.2.2010 – I ZR 178/08, NJW 2010, 2661 ff. Rz. 18 ff. m.w.N. = CR 2010, 565 m. Anm. Menz/ Neubauer – Half-Life 2. 77 Vgl. BGH v. 11.2.2010 – I ZR 178/08, NJW 2010, 2661 ff. Rz. 21 = CR 2010, 565 m. Anm. Menz/Neubauer – Half-Life 2. 78 Vgl. BGH v. 11.2.2010 – I ZR 178/08, NJW 2010, 2661 ff. Rz. 24 = CR 2010, 565 m. Anm. Menz/Neubauer – Half-Life 2. 79 Vgl. KG v. 10.8.2015 – 23 U 42/14, ZUM-RD 2016, 182 f. = CR 2016, 81. 80 Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. Rz. 64 = CR 2015, 429 – UsedSoft III. 81 Vgl. Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 218 m.w.N. 82 Vgl. EuGH v. 19.12.2019 – C-263/18, der die Überlassung eines heruntergeladenen E-Books als öffentliche Wiedergabe und damit abweichend als Software einordnet; umfassende Darstellung unter Verweis auf historische Auslegung des OLG Hamm v. 15.5.2014 – 22 U 60/13, NJW 2014, 3659, 3665 = CR 2014, 498 m. kritischer Anm. Kubach/Schuster, nachdem für Hörbücher keine Erschöpfung eintritt; OLG Stuttgart v. 3.11.2011 – 2 U 49/11, MMR 2012, 834, 835 m.w.N. = CR 2012, 299 m. Anm. Schmidt; auch zur Beschränkung der aus RL 2009/24/EG abgeleiteten Regeln für Computerprogramme BGH v. 6.10.2016 – I ZR 25/15, juris Rz. 66. 83 Vgl. EuGH v. 10.11.2016 – C-174/15, CR 2017, 14 Rz. 28, 45, 59.

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Diedrich

Rechtsmangel

Rz. 30 § 435 BGB

lung führen.84 Open Source-Lizenzen sehen regelmäßig Pflichten vor, die über den Inhalt üblicher Kaufverträge hinausgehen, z.B. mit Blick auf die Benennung der Lizenzen, Veröffentlichungspflichten, zur Gestaltung von Lizenzbedingungen etc. Die Nutzungsrechte werden in Open Source-Lizenzen i.d.R. von der auflösenden Bedingung (§ 158 Abs. 2) abhängig gemacht, dass der Erwerber die Lizenzbedingungen einhält. Dem Käufer werden insoweit erhebliche Einschränkungen für seinen Umgang mit dem Kaufgegenstand aufgegeben, bei deren Verletzung er seine Nutzungsrechte (zumindest bezogen auf die Verbreitung) bzgl. der betroffenen Open Source-Software verliert und Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen ausgesetzt ist, z.B. aus § 97 UrhG.85 Regelmäßig ist verkaufte Software nur zusammen mit Open Source-Bestandteilen nutzbar. Werden ausdrückliche Vereinbarungen über die Einräumung bestimmter Nutzungsrechte getroffen, so muss zwischen sonstiger Software und nach Open Source-Bedingungen überlassener Software unterschieden werden: Bezogen auf Open Source-Software bleibt der Käufer auf die Einhaltung der jeweiligen Lizenzbedingungen zu verpflichten (etwa die Information eines möglichen Zweiterwerbers über die Herkunft eines Open Source-Bestandteils). Der Verkäufer muss klarstellen, dass die jeweils verwendeten Open Source-Bestandteile mit den für sie geltenden Lizenzbedingungen maßgeblich sind.

28

Das verkaufte IT-System ist mangelhaft, wenn es bei vertragsgemäßer Verwendung die anwendbaren 29 Softwarelizenzen verletzt. Dazu gehört zunächst die Erfüllung jeweils vorgesehener Informationspflichten, z.B. zur Nennung der Urheber, Kennzeichnung von Änderungen, öffentlichen Verfügbarmachung von Quellcodes und Dokumentationen etc. Es dürfen keine Lizenzinkompatibilitäten vorliegen. Bezogen auf etwaiges Verschulden ist zu unterscheiden: Der herstellende Verkäufer hat in Form eines systematischen Lizenzmanagements abzusichern, dass die spezifischen Anforderungen der Open Source-Software berücksichtigt werden. Parallel zum Entwicklungsprozess, jedenfalls aber vor Überlassung an einen Kunden muss mit Blick auf die jeweiligen Anforderungen in Open Source-Lizenzen geprüft werden, welche Bedingungen für welche Teile der Software erfüllt werden müssen. Die Reichweite der Erstreckung von Open Source-Bedingungen hängt häufig von der Art der technischen Einbindung in die Gesamtlösung ab. Dazu erforderliche Untersuchungen müssen durchgeführt und für den Fall eines Angriffs auf die Nutzungsrechte des Käufers dokumentiert werden. Ein Verzicht auf Open Source-Lizenzmanagement unter Verweis auf damit verbundenen Aufwand oder branchenübliche Praktiken führt nicht dazu, einen Rechtsmangel zu verneinen oder den Verschuldensmaßstab i.S.d. § 276 Abs. 1 zugunsten des Verkäufers zu modifizieren. Open Source-Software bleibt Gegenstand der Immaterialgüterrechte. Die Rechte der Schöpfer und Erfinder von Open Source-Software aus Urheber- und Patentrecht wurden gerade nicht egalisiert, sondern in Form der jeweils gestellten Nutzungsbedingungen festgelegt. Wie für alle sonstigen Immaterialgüterrechte auch, gehört es zur Verantwortung des Nutzers fremder Immaterialgüterrechte, die mit der Nutzung einhergehenden Regeln und Einschränkungen zu beachten. Die sich im Open Source-Lizenzmanagement ergebenden Probleme wegen unklarer Lizenzbedingungen sind nach allgemeinen Regeln über die Vertragsauslegung (insb. mit Blick auf das jeweils anwendbare Recht) zu lösen. Zur Lösung von durch Open Source-Lizenzen verursachten Problemen wird im Kaufvertrag teilweise 30 eine Einschränkung der Softwareüberlassung auf sonstige Software vereinbart. Die Open Source-Bestandteile werden ausdrücklich ausgenommen, d.h. der Käufer der Softwarelösung übernimmt es, diese (frei verfügbaren) Open Source-Bestandteile selbst zu beschaffen. Damit weichen die Parteien jedoch nur den Pflichten in Open Source-Lizenzen aus, die diese an die Softwareüberlassung knüpfen. Aus Sicht des Käufers wird aber regelmäßig (auch im Wege der Auslegung) zu fordern sein, dass der Verkäufer trotz eingeschränkter Überlassungspflicht die Verantwortung für die Funktionsfähigkeit zumindest des verkauften Teils der Software zum vertraglich vorausgesetzten Gebrauch übernimmt (z.B. bei Inkompatibilität zwischen Lizenzbedingungen der vom Verkäufer vorgeschlagenen Beistellungen).

84 Vgl. dazu auch Jaeger/Metzger, Rz. 257 ff. m.w.N., die die regelmäßig Beschränkung der Problematik auf die Bearbeitungs- und Verbreitungsrechte hervorheben. 85 Vgl. LG Bochum v. 3.3.2016 – I-8 O 294/15, MMR 2016, 553, 554 m.w.N.; LG Hannover v. 21.7.2015 – 18 O 159/15, MMR 2016, 554 = CR 2016, 430.

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BGB § 435 Rz. 31 Rechtsmangel 4. Verkauf von Daten 31

Daten können über § 453 auch unabhängig von der Überlassung eines Datenträgers Gegenstand eines Kaufvertrages sein (Stichwort: Big Data; s. § 433 Rz. 17). Die Reichweite des Schutzes der Rechte des Datenbankherstellers (§§ 87a ff. UrhG) und der Geheimhaltungspflichten nach dem GeschGehG ist noch zu klären.86 Umfassende Beschränkungen für den Umgang mit erworbenen Daten können sich aber ggü. dem jeweiligen Betroffenen aus Datenschutzrecht ergeben, z.B. Pflichten zu Auskunft, Löschung, Unterlassung und Schadensersatz. Das Datenschutzrecht verbietet den Umgang mit personenbezogenen Daten, soweit sich der verantwortliche Erwerber nicht auf eine Rechtfertigung aus Gesetz oder Einwilligung des Betroffenen berufen kann, Art. 6 DSGVO.

32

Für den Fall der Überlassung von Patientendaten bei Verkauf einer Arztpraxis hat der BGH entschieden, dass eine Bestimmung in einem Praxisübergabevertrag, die den Veräußerer auch ohne Einwilligung der betroffenen Patienten verpflichtet, die Patientenkartei zu übergeben, wegen Verstoßes gegen § 134 nichtig ist.87 Die Nichtigkeitsfolge wird jedoch nach h.M. spezifisch daran geknüpft, dass mit § 203 StGB ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 verletzt ist, wenn die besonders gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichteten Personen betroffen sind (z.B. Ärzte, Rechtsanwälte etc.).88 Damit ist ein Verstoß gegen allgemeines Datenschutzrecht auch angesichts der gesetzlich vorgesehenen Ordnungswidrigkeitenund Straftatbestände, Art. 83 DSGVO, nicht vergleichbar.89 Das anderenfalls unter den komplexen Voraussetzungen einer datenschutzrechtlichen Rechtfertigung (z.B. nach Art. 6 DSGVO) wirkende dingliche Abtretungsverbot läuft den gesetzlichen Zielen entgegen, so dass der Kaufvertrag nicht nach § 134 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 DSGVO nichtig ist.90

33

Die Wirkung des Datenschutzrechts für die Rechtsmängelhaftung des Verkäufers ist noch weitgehend ungeklärt. Die anerkannten Grundsätze für die Behandlung immaterieller Rechte Dritter im Rahmen der Rechtsmängelhaftung sind jedoch auch für datenschutzrechtliche Einschränkungen des Käufers anzuwenden. Danach haftet der Verkäufer für die Möglichkeit des Käufers, zumindest im vertraglich vorausgesetzten Umfang mit den gekauften Daten unbeeinträchtigt umgehen zu dürfen (z.B. bei in einer Softwarelösung eingebetteten Datenkatalogen).91

V. Prozessuales 34

Bis zur Annahme der Leistung als Erfüllung hat der Verkäufer nach allgemeinen Regeln (§ 363) zu beweisen, dass der verkaufte Gegenstand zum Zeitpunkt, zu dem nach dem Vertrag der Erwerb stattfinden soll, nicht mit Rechten Dritter belastet ist, soweit der Käufer einen bestimmten Rechtsmangel behauptet.92 Der Käufer trägt die Beweislast für Rechtsmängel ab Annahme des Kaufgegenstandes als Erfüllung, § 363.93 Will der Verkäufer geltend machen, dass der Käufer ein bestimmtes Recht übernommen hat, muss er dies beweisen.94 Hat der Verkäufer auch die Haftung für vermeintliche Mängel übernommen, trägt er auch nach Annahme der Kaufsache die Beweislast für das Fehlen von Rechtsmängeln.95

35

Unterliegt der Zweiterwerber von Software im Streit mit dem Rechteinhaber, bildet zumindest die rechtskräftige und dem Verkäufer ggü. wirksame Entscheidung einen Rechtsmangel. Der Zweiterwer86 87 88 89 90 91

92 93 94 95

Vgl. Überblick zum Stand der Diskussion Grützmacher, CR 2016, 485 ff. Vgl. BGH v. 11.12.1991 – VIII ZR 4/91, NJW 1992, 737, 739 m.w.N. = CR 1992, 266. Vgl. BGH v. 27.2.2007 – XI ZR 195/05, DNotZ 2007, 739, 741 m.w.N. Vgl. BGH v. 27.2.2007 – XI ZR 195/05, DNotZ 2007, 739, 742 m.w.N. Vgl. BGH v. 27.2.2007 – XI ZR 195/05, DNotZ 2007, 739, 743 m.w.N. Vgl. OLG Düsseldorf v. 30.7.2004 – 23 U 186/03, juris Rz. 20 f. m.w.N. bei aufgrund unzulässiger Einwilligung übertragenen Adressdaten; zur Unzulässigkeit der Werbung mit rechtswidrig überlassenen Adressdaten OLG Naumburg v. 10.10.2003 – 1 U 17/03, NJW 2003, 3566, 3567 f.; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 870 m.w.N., der auf mögliche Hinweispflichten des Verkäufers bei Verwendungsrisiken mit Blick auf Datenschutz, Mitbestimmungspflichtigkeit etc. verweist. Vgl. Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 21 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 435 BGB Rz. 19. Vgl. BGH v. 9.3.2011 – VIII ZR 266/09, NJW 2011, 1664 Rz. 11 m.w.N. Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 435 BGB Rz. 54 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 435 BGB Rz. 21.

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Diedrich

Rechte des Käufers bei Mängeln

Rz. 1 § 437 BGB

ber wird dem Verkäufer den Streit verkünden, § 72 ZPO, um die Verbindlichkeit der vom Rechtinhaber erstrittenen Feststellungen über die Interventionswirkung ggü. dem Verkäufer zu erreichen, § 68 ZPO.

§ 437 Rechte des Käufers bei Mängeln Ist die Sache mangelhaft, kann der Käufer, wenn die Voraussetzungen der folgenden Vorschriften vorliegen und soweit nicht ein anderes bestimmt ist, 1. nach § 439 Nacherfüllung verlangen, 2. nach den §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 von dem Vertrag zurücktreten oder nach § 441 den Kaufpreis mindern und 3. nach den §§ 440, 280, 281, 283 und 311a Schadensersatz oder nach § 284 Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen. I. II. 1. 2. 3. III. 1. 2. 3.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangelhafte Kaufsache . . . . . . . . . . . . Anderweitige Bestimmung . . . . . . . . . . Gefahrübergang – maßgeblicher Zeitpunkt Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . Angeordnete kaufrechtliche Rechtsfolgen Keine Selbstbeseitigung . . . . . . . . . . . Konkurrenzen bei Anwendbarkeit des Kaufmängelrechts . . . . . . . . . . . . . . a) Verzugsschadensersatz . . . . . . . . . b) Unmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

1 3 3 4 5

. . . . . . . . .

8 8 9

. . . 11 . . . 12 . . . 13

c) Einrede des nicht erfüllten Vertrages d) Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . e) c.i.c./Verschulden bei Vertragsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . f) Geschäftsführung ohne Auftrag . . . g) Störung der Geschäftsgrundlage . . . h) Ungerechtfertigte Bereicherung . . . i) Unerlaubte Handlung . . . . . . . . . j) Spezialregel in § 9 GmbHG . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . .

. . . . 14 . . . . 15 . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

16 17 18 19 20 21 22 22 23

Literatur: Arnold, Die Rechtsfolgen der Selbstvornahme beim Kauf, MDR 2005, 661; Burkhart, Softwareerstellung – Anspruch auf Herausgabe des Quellcodes, ITRB 2003, 53; Ernst, Kostentragung für Einbau und Installation im Gewährleistungsrecht, ITRB 2014, 169; Grützmacher, „Software aus der Datendose“ – Outsourcing, Cloud, SaaS & Co., CR 2015, 779; Härting/Gössling, Online-Kauf in der EU – Harmonisierung des Kaufgewährleistungsrechts, CR 2016, 165; Hilber, Die Übertragbarkeit von Softwarerechten im Kontext einer Outsourcingtransaktion, CR 2008, 749; Lorenz, Voreilige Selbstvornahme der Nacherfüllung im Kaufrecht: Der BGH hat gesprochen und nichts ist geklärt, NJW 2005, 1321; Niclas, BGH: Unzulässige Ersatzlieferungsklausel bei Internet-Shops, ITRB 2006, 1; Plath, Hardware, Software und IT-Verträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Redeker, Wirksame Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Mängelhaftung, ITRB 2004, 163; Redeker, Von Dauerbrennern und neuen Entwicklungen im Recht der Leistungsstörungen, CR 2005, 700; Schneider, Neues zur Vorlage und Herausgabe des Quellcodes?, CR 2003, 1; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Stadler, Haftungsrisiken bei Übernahme von Beschaffenheitsgarantien in IT-Verträgen nach neuem Recht, ITRB 2004, 233; Stiemerling/Schneider, Vertragliche Regelungen zum Antwortzeitverhalten interaktiver Computersysteme, CR 2011, 345; Ulmer, Softwareüberlassung: Formulierung eines Lizenzvertrags, ITRB 2004, 213; Woitkewitsch, Sofortiges Rücktrittsrecht bei mangelhafter Nacherfüllung innerhalb der Frist, MDR 2004, 862; Woitkewitsch, Das Rücktrittsrecht des Käufers gem. §§ 437 Nr. 2, 440, 323 BGB, MDR 2005, 1268; Zahrnt, Vollpflege von Standardsoftware, CR 2004, 408.

I. Allgemeines § 437 betont die Vorrangigkeit der Nacherfüllung, indem die allgemeinen Regeln eingeschränkt werden.1 Die Verweisung in § 437 definiert mit § 438 den Anwendungsbereich der kaufrechtlichen 1 Vgl. dazu ausführlich Staudinger/Matusche-Beckmann, § 437 BGB Rz. 6 m.w.N.; s. BT-Drucks. 14/6040, 219 f.

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BGB § 437 Rz. 1 Rechte des Käufers bei Mängeln Verjährung, insb. der kurzen Verjährung von zwei Jahren ab Gefahrübergang. Entsprechend ihrem Wortlaut handelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung. Bis zum Gefahrübergang und unabhängig von Mängeln gilt allgemeines Schuldrecht.2 2

Ausgangspunkt für die Neuregelung der Käuferrechte bei mangelhafter Kaufsache ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.3 Maßgebliche Neuerung war die Einführung des Anspruchs auf Nachbesserung oder Ersatzlieferung nach den §§ 437 Nr. 1, 439, der zum Schutz des Verkäufers ein „Recht zur zweiten Andienung“ bewirkt (Möglichkeit zur vertragsgemäßen Korrektur und Beweissicherung).4 Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wird mit Wirkung zum 1.1.2022 durch die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs vom 20.5.2019 ersetzt (Art. 23 Abs. 1 Warenkaufrichtlinie).5 Parallel ist die Richtlinie zu Verträgen über digitale Inhalte und digitale Dienstleistungen vom 20.5.2019 (Digitaldienstleistungsrichtlinie)6 ins nationale Recht umzusetzen. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinien bis zum 1.7.2021 in nationales Recht umzusetzen und ab 1.1.2022 anzuwenden, Art. 24 Abs. 1 und 2 Warenkaufrichtlinie, Art. 24 Abs. 1 Digitaldientleistungsrichtlinie. Die Richtlinien zielen bis auf wenige Ausnahmen auf eine Vollharmonisierung ab. Nach den bislang auf die vereinheitlichung schuldrechtlicher Regeln ausgerichteten Umsetzungsgesetzen ist eine Umsetzung über Verbraucherverträge hinaus zu erwarten.

II. Norminhalt 1. Mangelhafte Kaufsache 3

Die Anwendung der Verweisnorm setzt voraus, dass der auf Grundlage eines Kaufvertrages, § 433, gelieferte Kaufgegenstand (nach § 453 entsprechend auch für Rechte und sonstige Gegenstände) Sachoder Rechtsmängel aufweist, §§ 434 oder 435. 2. Anderweitige Bestimmung

4

Die anderweitige Bestimmung in § 437 verweist auf Vereinbarungen und kaufrechtliche Spezialregeln, z.B. bei bekannten Mängeln, § 442. 3. Gefahrübergang – maßgeblicher Zeitpunkt

5

Die in § 437 aufgelisteten Mängelrechte sind ab Gefahrübergang anwendbar, § 446. Das regelt § 434 Abs. 1 Satz 1 ausdrücklich für den Sachmangel.7 Sach- und Rechtsmängel sollten gleichgestellt werden. Bis zum Gefahrübergang hat der Verkäufer die Gelegenheit, für eine mangelfreie Verschaffung des Kaufgegenstandes zum dafür bestimmten Zeitpunkt zu sorgen. Der Kaufvertrag kann im Bewusstsein geschlossen sein, dass diese Mangelbehebungen noch erfolgen müssen.8

6

In Ausnahmefällen kann der Käufer aber auch vor Gefahrübergang bereits Mängelrechte geltend machen. Das ist der Fall, wenn (i) der Verkäufer die Mangelbeseitigung ernsthaft und endgültig verweigert oder (ii) die Mangelbeseitigung unmöglich ist; dann ist dem Käufer das Warten auf den Fälligkeitstermin nicht zuzumuten.9 Damit kommt die Anwendung des Kaufmängelrechts vor Gefahrüber2 S. BT-Drucks. 14/6040, 219 f. 3 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 4 Vgl. BGH v. 7.12.2005 – VIII ZR 126/05, NJW 2006, 988 Rz. 9 f. für den Kauf eines Tiers. 5 S. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. 6 S. RL (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1. 7 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 6 m.w.N. 8 Vgl. BGH v. 20.5.2009 – VIII ZR 191/07, NJW 2009, 2807 Rz. 20; MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 6 m.w.N. 9 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 434 BGB Rz. 51 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 434 BGB Rz. 68.

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Rechte des Käufers bei Mängeln

Rz. 10 § 437 BGB

gang nur nach Wahl des Käufers in Betracht,10 d.h. die kurze Verjährung des § 438 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 gilt nicht automatisch mit Vorliegen der Voraussetzungen der Ausnahme. Die Voraussetzungen der jeweiligen Mängelrechte müssen zum Zeitpunkt ihrer Geltendmachung vorliegen (z.B. die Rücktrittsvoraussetzungen bei Zugang der Rücktrittserklärung; keine Geringfügigkeit des Mangels).11 Ein Mangel muss jedoch bereits zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen haben (z.B. bezogen auf eine mangelfrei gelieferte und erst durch spätere, unabhängig von einer Nachbesserung erfolgte Aktualisierung fehlerhafte Software).12

7

III. Rechtsfolgen 1. Angeordnete kaufrechtliche Rechtsfolgen Ab dem Zeitpunkt des Gefahrübergangs gilt das allgemeine Leistungsstörungsrecht modifiziert durch die kaufrechtlichen Wertungen. § 437 sperrt allgemeine Regeln, soweit sie diese unterlaufen. Der Käufer kann bestimmen, ob bzw. von welchen der in § 437 aufgelisteten Rechtsfolgen er Gebrauch machen will. Zum Schutz des Verkäufers muss dieser aber die Gelegenheit zur Nachleistung inkl. der Möglichkeit zur Untersuchung der als mangelhaft gerügten Kaufsache bekommen.13

8

2. Keine Selbstbeseitigung Das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht sieht die Selbstvornahme verbunden mit einem Anspruch auf Erstattung der für die Mängelbeseitigung/Nachbesserung erforderlichen Aufwendungen nicht vor (keine Analogie zu § 637; z.B. für Konfigurationsleistungen oder bei zunehmend eingesetzten Softwarelösungen, die von verschiedenen Systemhäusern implementiert und entstört werden können). Der Vorrang der Nacherfüllung schließt ein, dass der Käufer seine Mängelansprüche verliert, wenn er den Mangel selbst beseitigt, ohne dem Verkäufer die Gelegenheit zur Nacherfüllung gegeben zu haben.14 Der Verkäufer hat ein Recht zur zweiten Andienung der Kaufsache (z.B. im Falle mangelhaft gelieferter Standardsoftware durch Lieferung von Aktualisierungen).15 Durch die Mangelbeseitigung bewirkt der Käufer die von ihm zu vertretende Unmöglichkeit der Nacherfüllung, §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 2. Eine Ausnahmen gelten nach den Regeln für den Rückgriff des Verkäufers in der Lieferkette nach § 445a.

9

Strittig ist, ob dem Käufer aus sonstigen Anspruchsgrundlagen Ansprüche auf Aufwendungsersatz 10 für die Selbstbeseitigung von Mängeln zustehen können (z.B. bei unmittelbarer Reparatur defekter Hardware): Gegen solche Ansprüche aus § 326 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 in direkter oder auch analoger Anwendung, aus GoA (§ 684 Satz 1) oder ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812) spricht, dass sie die gesetzgeberische Entscheidung für das Recht der zweiten Andienung unterlaufen. Insoweit sperrt § 437 die Anwendung sonstiger Anspruchsgrundlagen.16 Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs rechtfertigen, etwa wenn der Käufer wegen einer Notmaßnahme handeln muss und der Verkäufer keine Möglichkeit hätte, in der gegebenen Zeit zu agieren (insb. wenn bei einem mit der Nachfristsetzung notwendigerweise verbundenen Zeitverlust ein wesentlich größerer Schaden droht, z.B. bei einem hochverfügbaren IT-System), § 281 Abs. 2 Alt. 2, 437 Nr. 3.17 Dagegen wird teils argumentiert, dass der Verkäufer in systemwidriger Weise von der Selbstvornahme des Käufers profitieren würde, wenn er dem Käufer nicht mindestens diejenigen Aufwendungen ersetzt, die er zur Mängelbeseitigung hätte aufwenden müssen (nunmehr erspart, durch anderweitige Arbeit erwirbt 10 11 12 13 14 15 16

BGH v. 10.3.1995 – V ZR 7/94, NJW 1995, 1737, 1738 m.w.N. Vgl. BGH v. 28.5.2014 – VIII ZR 94/13, NJW 2014, 3229 Rz. 16 m.w.N. = CR 2014, 573 = ITRB 2014, 224. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 6. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 1 m.w.N. Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 4a unter Verweis auf die h.M. m.w.N. Vgl. BGH v. 7.12.2005 – VIII ZR 126/05, NJW 2006, 988 Rz. 9 f. für den Kauf eines Tiers. Vgl. BGH v. 22.6.2005 – VIII ZR 1/05, NJW 2005, 3211, 3212 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 4a m.w.N. 17 Vgl. BGH v. 22.6.2005 – VIII ZR 1/05, NJW 2005, 3211, 3212 m.w.N.

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BGB § 437 Rz. 10 Rechte des Käufers bei Mängeln oder zu erwerben böswillig unterlässt). Diese Wertung finde sich in § 326 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4.18 Dagegen sprechen jedoch überzeugende Argumente: § 437 verweist auf § 326 Abs. 5, ohne § 326 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 in Bezug zu nehmen. Der Gesetzgeber wollte den Verkäufer mit dem „Recht auf zweite Andienung“ unter anderem die Möglichkeit der Beweissicherung geben. Die Beweislast des Käufers ist nicht äquivalent, weil er jedenfalls mit den Unwägbarkeiten und Aufwänden des Streites belastet wird, der durch die Möglichkeit zu eigener Untersuchung und Abwendung im Keim erledigt werden könnte.19 Anderenfalls wäre zu überlegen, ob die unstreitige Obliegenheitsverletzung des Käufers nach den für Beweisvereitelung geltenden Prozessgrundsätzen entsprechend zu berücksichtigen ist. Dann erscheint die engere Auslegung im Einklang mit den gesetzgeberischen Verweisen naheliegender. 3. Konkurrenzen bei Anwendbarkeit des Kaufmängelrechts 11

Allgemeine Regeln sind neben den in § 437 genannten Kaufregeln nur anwendbar, soweit die damit angeordneten gesetzgeberischen Wertungen nicht geändert werden. a) Verzugsschadensersatz

12

Schäden wegen mangelhafter Lieferung sind nach den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 und nicht nach den weiteren Verzugsvoraussetzungen des § 286 zu ersetzen.20 b) Unmöglichkeit

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Neben dem Kaufmängelrecht gelten die Regeln zur Unmöglichkeit mit den kaufrechtlichen Modifikationen, insb. zur Erweiterung der Fälle wirtschaftlicher Unverhältnismäßigkeit im Falle der Nacherfüllung in § 439 Abs. 4. Die Rechtsfolgen der Minderung über §§ 326 Abs. 1 Satz 1, 441 Abs. 3 sind nicht anwendbar.21 c) Einrede des nicht erfüllten Vertrages

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Dem Zahlungsanspruch des Verkäufers kann der Käufer vor und nach Gefahrübergang die Einrede des nicht erfüllten Vertrages entgegenhalten, da der Verkäufer seine Pflicht zur Verschaffung einer mängelfreien Kaufsache nach § 433 Abs. 1 Satz 2 nicht erfüllt hat, § 320.22 d) Anfechtung

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Die konkurrierende Anwendung der Anfechtungsregeln darf kaufrechtliche Spezialregeln nicht unterlaufen. Die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung, § 123, ist deshalb neben den kaufrechtlichen Mängelvorschriften anwendbar.23 Dasselbe gilt für die Anfechtung wegen Erklärungs- und Inhaltsirrtums (§ 119 Abs. 1).24 Ausgeschlossen ist die Anfechtung für den Eigenschaftsirrtum nach § 119 Abs. 2 nach h.M.25 im Anwendungsbereich der kaufrechtlichen Mängelvorschriften (nach Gefahrübergang oder im Ausnahmefall nach Wahl des Käufers), da sonst Kaufregeln wie § 442 Abs. 1, § 438 oder das „Recht zur zweiten Andienung“ durch Anfechtung und Vertrauensschadensersatz nach § 122 umgehbar wären. 18 Vgl. zum Streitstand Lorenz, NJW 2005, 1321, 1322 f. m.w.N. 19 Vgl. BGH v. 10.3.2010 – VIII ZR 310/08, Rz. 12; BGH v. 7.12.2005 – VIII ZR 126/05, NJW 2006, 988 Rz. 14 m.w.N.; BGH v. 21.12.2005 – VIII ZR 49/05, Rz. 18. 20 Vgl. BGH v. 19.6.2009 – V ZR 93/08, NJW 2009, 2674 Rz. 12 ff.; Überblick zur strittigen Diskussion m.w.N., Rz. 10 f.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 437 BGB Rz. 12 f. m.w.N. 21 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 9. 22 Vgl. Erman/Grunewald, § 433 BGB Rz. 13 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 49. 23 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 30 unter Verweis auf st. Rspr.; Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 54; zur Definition der Arglist vgl. BGH v. 21.7.2017 – V ZR 250/15, NJW 2018, 389 Rz. 11; BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21. 24 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 22 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 53. 25 Vgl. Überblick zu Rspr. und Schrifttum bei Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 23.

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Rechte des Käufers bei Mängeln

Rz. 20 § 437 BGB

e) c.i.c./Verschulden bei Vertragsverhandlungen Nach den Grundsätzen der Haftung wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen (§§ 280 Abs. 1, 16 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 3) können sich Schadensersatzansprüche des Käufers z.B. wegen verletzter Aufklärungspflichten bzgl. gekaufter Hard- oder Software ergeben. Die Kaufregeln berücksichtigen jedoch ausweislich § 437 Nr. 3 gerade Fälle fahrlässiger Pflichtverletzung. Das gilt grundsätzlich nach Gefahrübergang,26 soweit es sich um Umstände handelt, für die Nacherfüllung in Frage kommt.27 Strittig28 ist, ob § 437 Nr. 3 auch vor Gefahrübergang bereits Schadensersatzansprüche wegen Nebenpflichtverletzungen sperrt. Dafür wird auf die Systematik des Gesetzes verwiesen, aus der sich die abschließende Wirkung des § 437 Nr. 3 für Schadensersatzansprüche ergebe.29 Gegen diese Sperrwirkung spricht es jedoch, dass § 437 ausdrücklich abweichende Bestimmungen vorbehält, die auch in anderen Fällen fehlender Sperrwirkung anerkannt sind. Bedarf für die Sperrwirkung besteht nur, soweit eine Nachleistung in Frage kommt.30 Demgegenüber schließt das Kaufmängelrecht die Haftung wegen vorsätzlicher Nebenpflichtverletzungen nicht aus.31 f) Geschäftsführung ohne Auftrag Die kaufrechtlichen Gewährleistungsvorschriften verdrängen die Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff.; Ausschluss der Selbstbeseitigung).32

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g) Störung der Geschäftsgrundlage Die kaufrechtlichen Gewährleistungsvorschriften verdrängen bezogen auf Mängel die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313.33

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h) Ungerechtfertigte Bereicherung Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind im Anwendungsbereich der Kaufmängelrechte nur nach erfolgreicher Anfechtung des Kaufvertrages und dann anzunehmen, wenn der Käufer eine vom Verkäufer geschuldete Nacherfüllung über den Kaufpreis hinaus bezahlt.34

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i) Unerlaubte Handlung Deliktische Schadensersatzansprüche sind nach h.M.35 grundsätzlich neben kaufrechtlichen Mängelrechten anwendbar. Das gilt insb. für Ansprüche wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung, § 826. Ein Konflikt mit den kaufrechtlichen Wertungen kann sich jedoch ergeben, wenn der Mangel einer Kaufsache nach Gefahrübergang andere bis dahin unbeeinträchtigte Teile der Kaufsache beschädigt (weiterfressende Mängel), z.B. bei Versagen von Produktionssteuerungssoftware. Der Gesetzgeber hat die Konkurrenz zwischen Deliktsrecht und kaufrechtlichen Mängelansprüchen ausdrücklich offen gelassen.36 Im Schrifttum wird deshalb vertreten, dass der Primat der Nacherfüllung nicht umgangen

26 Vgl. mit ausdrücklichem Vorbehalt vorsätzlichen Verhaltens BGH v. 27.3.2009 – V ZR 30/08, Rz. 19 ff. m.w.N. 27 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 58 m.w.N. 28 Vgl. Überblick zum Streitstand bei MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 57 m.w.N. 29 Vgl. Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 15 m.w.N. 30 Ähnlich insoweit MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 57 m.w.N. 31 Vgl. BGH v. 16.12.19209 – VIII ZR 38/09, NJW 2010, 858 Rz. 20 m.w.N.; Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 17 m.w.N. 32 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 58; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 437 BGB Rz. 57 m.w.N. 33 Vgl. dazu Überblick bei MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 56 m.w.N. 34 Vgl. BGH v. 10.3.2010 – VIII ZR 310/08, Rz. 12; BGH v. 7.12.2005 – VIII ZR 126/05, NJW 2006, 988 Rz. 14 m.w.N.; BGH v. 21.12.2005 – VIII ZR 49/05, Rz. 18; Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 57 m.w.N. 35 Vgl. insoweit den Überblick zum Stand der Diskussion bei MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 61 m.w.N. 36 S. BT-Drucks. 14/6040, 229.

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BGB § 437 Rz. 20 Rechte des Käufers bei Mängeln werden darf.37 Deshalb sollen zusätzlich zu den deliktsrechtlichen Voraussetzungen des Schadensersatzes auch die Voraussetzung der Setzung einer Nachfrist (§ 281 Abs. 2) oder der Entbehrlichkeit einer Fristsetzung (§ 440 Satz 1) gelten.38 Für die konkurrierende Anwendbarkeit spricht aber, dass die deliktische Haftung parallel zu den kaufrechtlichen Wertungen andere Sachverhalte mit abweichenden Voraussetzungen und Rechtsfolgen regelt. Insb. bleiben Regeln zum Äquivalenzinteresse unberührt. j) Spezialregel in § 9 GmbHG 21

Strittig39 ist, ob sich eine spezialgesetzliche Modifikation des Kaufrechts aus § 9 GmbHG herleitet.40 Die Einbringung von Sacheinlagen (z.B. Hard- oder Software im Falle einer Outsourcingvereinbarung) fällt als kaufähnliches Geschäft unter die Regelungen des Kaufrechts, soweit diese mit dem Wesen der Einbringung einer Sacheinlage vereinbar sind.41 Gegen die Vereinbarkeit können die Regeln zur Differenzhaftung bei Überbewertung einer Sacheinlage sprechen, für die ausschließlich eine Barzahlungspflicht und keine Nacherfüllung angeordnet ist, § 9 GmbHG. Gegen diese Auffassung spricht jedoch die Klarstellung in § 9 Abs. 1 Satz 2 GmbHG, nach der sonstige Ansprüche unberührt bleiben.

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 22

Die Rechte des Käufers bei mangelhafter Lieferung können durch Vereinbarung verschärft und erleichtert werden. Ausnahmen gelten für Arglist, Garantie (§ 444) und Beschaffenheitsvereinbarungen42 sowie den Rückgriff des Unternehmers beim Verbrauchsgüterkauf bis zur Mitteilung des Mangels, §§ 475, 478. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

23

Die §§ 437 ff. setzen grundsätzlich den Rahmen für die auch im unternehmerischen Verkehr sehr weitreichende Inhaltskontrolle von AGB. In vom Verkäufer gestellten AGB sind insb. die §§ 309 Nr. 5, 7a, 7b und 8 zu berücksichtigen.43

24

In vom Käufer gestellten AGB können insb. verschuldensunabhängige Schadensersatzpflichten wegen Verstoßes gegen § 307 unwirksam sein. Insoweit hat der BGH festgestellt, dass auch mit Blick auf die Haftung für Rechtsmängel die pauschale Übernahme einer Garantie unangemessen benachteiligend wirkt, weil sie den Verkäufer dem Risiko einer unübersehbaren Schadensersatzhaftung aussetzt.44 Dabei hat der BGH ausdrücklich berücksichtigt, dass die Rechtsmängelhaftung vor der Schuldrechtsreform eine verschuldensunabhängige Haftung vorsah45 und dass der Verkäufer bezogen auf Rechtsmängel regelmäßig erheblich mehr über die Rechtekette wissen kann und muss: Solche Umstände führten jedoch nicht zur Zulässigkeit einer Garantiehaftung, sondern zu hohen Sorgfaltsanforderungen an den Verkäufer im Rahmen des zu berücksichtigenden Verschuldens.46 Dem ist zumindest für die Rechtsmängelhaftung die besondere Lage des Käufers entgegenzuhalten, die über den Umweg sehr hoher Sorgfaltsanforderungen in unnötig aufwendiger Weise berücksichtigt ist (höhere Aufwände/Rechtsunsicherheiten wegen vermeidbarer Beweiserhebungen). 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. MünchKomm/Westermann, § 437 BGB Rz. 61 m.w.N. Vgl. jurisPK BGB/Pammler, § 437 Rz. 92 m.w.N. Vgl. zum Streitstand Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 439 BGB Rz. 2 m.w.N. S. dazu Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 439 BGB Rz. 2 m.w.N. Vgl. BGH v. 2.5.1966 – II ZR 219/63, NJW 1966, 1311, 1312; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 439 BGB Rz. 2 m.w.N. Vgl. BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 117/12, NJW 2013, 1733 Rz. 15 m.w.N. für die Auslegung einer neben einem Gewährleistungsausschluss vereinbarten Beschaffenheit. Vgl. BGH v. 4.2.2015 – VIII ZR 26/14, NJW-RR 2015, 738 Rz. 16 m.w.N. Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 31 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 32 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 33 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker.

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Verjährung der Mängelansprüche

§ 438 BGB

§ 438 Verjährung der Mängelansprüche (1) Die in § 437 Nr. 1 und 3 bezeichneten Ansprüche verjähren 1. in 30 Jahren, wenn der Mangel a) in einem dinglichen Recht eines Dritten, auf Grund dessen Herausgabe der Kaufsache verlangt werden kann, oder b) in einem sonstigen Recht, das im Grundbuch eingetragen ist, besteht, 2. in fünf Jahren a) bei einem Bauwerk und b) bei einer Sache, die entsprechend ihrer üblichen Verwendungsweise für ein Bauwerk verwendet worden ist und dessen Mangelhaftigkeit verursacht hat, und 3. im Übrigen in zwei Jahren. (2) Die Verjährung beginnt bei Grundstücken mit der Übergabe, im Übrigen mit der Ablieferung der Sache. (3) Abweichend von Abs. 1 Nr. 2 und 3 und Abs. 2 verjähren die Ansprüche in der regelmäßigen Verjährungsfrist, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen hat. Im Falle des Abs. 1 Nr. 2 tritt die Verjährung jedoch nicht vor Ablauf der dort bestimmten Frist ein. (4) Für das in § 437 bezeichnete Rücktrittsrecht gilt § 218. Der Käufer kann trotz einer Unwirksamkeit des Rücktritts nach § 218 Abs. 1 die Zahlung des Kaufpreises insoweit verweigern, als er auf Grund des Rücktritts dazu berechtigt sein würde. Macht er von diesem Recht Gebrauch, kann der Verkäufer vom Vertrag zurücktreten. (5) Auf das in § 437 bezeichnete Minderungsrecht finden § 218 und Abs. 4 Satz 2 entsprechende Anwendung. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dingliche Rechte (§ 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangel einer Sache, die entsprechend ihrer üblichen Verwendungsweise für ein Bauwerk verwendet worden ist und dessen Mangelhaftigkeit verursacht hat (§ 438 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kaufrechtliche Verjährung (§ 438 Abs. 1 Nr. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Arglistiges Verschweigen des Mangels (§ 438 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

.

4

.

4

5. Ablieferung der Sache – Verjährungsbeginn (§ 438 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rücktritt (§ 438 Abs. 4) . . . . . . . . . . . 7. Minderung (§ 438 Abs. 5) . . . . . . . . . . 8. Rügeobliegenheiten im Handelskauf (§§ 377, 378 HGB) . . . . . . . . . . . . . .

. . 14 . . 21 . . 22 . . 23

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 .

8

. 10

IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . . 30 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . . . 32 V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

. 11

Literatur: Bauer/Witzel, Auswirkungen der Gewährleistungsverlängerung im IT-Bereich, ITRB 2002, 112; Bartsch, IT-Einkaufsbedingungen, CR 2015, 345; Elteste, Mängelrügeobliegenheiten bei unmittelbarem Weiterverkauf elektronischer Produkte, ITRB 2014, 224; Feuerborn/Hoeren, Abnahme und Ablieferung von DV-Anlagen, CR 1991, 513; Hager, Zur Ablieferung im Rahmen eines beiderseitigen Handelskaufs, der Standardsoftware betrifft, JZ 2000, 1065; Hecht/Becker, Unberechtigte Mängelrügen bei IT-Projekten, ITRB 2009, 59; Intveen, BGH: Keine wirksame Verkürzung der gesetzlichen Verjährungsfrist durch AGB, CR 2015, 495; Jaensch, Verjährungsverkürzung in AGB, jM 2015, 323; Jeansch, Verjährung von Gewährleistungsansprüchen – jüngste Entwicklungen, jM 2017, 7; Kemper, Haftungsverjährung für Beratungsverschulden bei Veräußerung und Vermietung von Hardware, CR 1991, 708; Klas/Kleesiek, Die Problematik der Kettengewährleistung, NJOZ 2010, 2148; Kubach/Hunzinger, Wer hat das Recht an der Rechtekette und welche Rechte hat der Käufer von Gebrauchtsoftware (Teil 1), CR 2016, 14; Kubach/Hunzinger, Wer hat das Recht an der Rechtekette und welche Rechte hat der Käufer von Gebrauchtsoftware (Teil 2), CR 2016, 213; Müller, Anerkenntnis durch Nacherfüllung – Wie der Verkäufer einem Neubeginn der Verjährung entgehen kann, NJOZ, 2016, 481; Müller-Hengstenberg/Kirn, Die technologischen und rechtlichen Zusammenhänge der test- und Abnahmeverfahren bei IT-Projekten, CR 2008, 755; Redeker, Rechtsmängel – Voraussetzungen,

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BGB § 438 Rz. 1 Verjährung der Mängelansprüche Garantien und Rechtsfolgen, ITRB 2004, 84; Saenger, „Ablieferung“ beim Kauf von Standard-Software, EWiR 2000, 341; Schmidt-Räntsch, Der Entwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, ZIP 2000, 1639; Schneider, „Ablieferung“ bei Softwareüberlassungsverträgen, CR 1994, 385; Wächter, Was bedeutet Überlassung von Standardsoftware: Ablieferung von Software, Einräumung eines Nutzungsrechts oder Softwareeinführung beim Kunden?, JurPC 2000, Web-Dok 242/2000; Wäßle/Gatzweiler, die Mängelrüge bei Software, K&R 2010, 18; Wiedemann, Thesen zum Neubegrinn der Verjährung infolge kaufrechtlicher Nacherfüllung. ZRP 2013, 2.

I. Allgemeines 1

Die Verjährung beginnt mit Ablieferung der Sache. Davon ausgehend gelten die in § 438 Abs. 1 genannten Fristen, häufig von zwei Jahren. Für den Handelskauf gelten zusätzlich die Regeln zum Verlust von Mängelrechten bei verspäteter Mängelrüge, § 377 HGB.

2

Durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz wurde die bis dahin geltende Gewährleistungsfrist von sechs Monaten (§ 477 a.F.) auf regelmäßig zwei Jahre verlängert, § 438 Abs. 1 Nr. 3. Die weitgehend zwingenden Regeln über Rückgriffsansprüche gegen Lieferanten beim Verkauf eines Unternehmers an Verbraucher nach den §§ 445b, 478 erweitern Regeln zur Mindestverjährung ggü. Verbrauchern in die Lieferantenkette (maximal fünf Jahre nach Ablieferung des Lieferanten beim verkaufenden Unternehmer). Hintergrund dieses nachdrücklichen Schutzes des Käufers bei der Geltendmachung seiner Mängelrechte ist Art. 5 Abs. 1 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.1 Der Gesetzgeber wollte die Verlängerung jedoch i.S.d. Rechtsvereinheitlichung auch über den Verbrauchsgüterkauf hinaus gelten lassen.2

3

Die Verjährungsregeln des § 438 gelten unmittelbar für den Sachkauf. Gestaltungsrechte (Rücktritt und Minderung) kann der Käufer nach Ablauf der Fristen nur noch nach Maßgabe des § 218 ausüben, da Gestaltungsrechte nicht der Verjährung unterliegen. Für den Kauf von Rechten und sonstigen Gegenständen gilt § 438 entsprechend, § 453 Abs. 1. Über den Wortlaut des § 438 hinaus gilt die kaufrechtliche Verjährung für kaufrechtliche Nebenpflichtverletzungen, insb. von Beratungs- und Aufklärungspflichten, die Eigenschaften der Kaufsache betreffen.3 Nicht erfasst werden jedoch sonstige Ansprüche außerhalb der in § 437 aufgelisteten Rechtsbehelfe des Käufers wegen Mängeln. Dazu gehören z.B. sonstige Nebenpflichtverletzungen, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Mangel stehen.4

II. Norminhalt 1. Dingliche Rechte (§ 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) 4

Es gilt eine Verjährungsfrist von 30 Jahren, wenn der Mangel in einem dinglichen Recht eines Dritten besteht, auf dessen Grund der Dritte die Kaufsache herausverlangen kann, § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a. Der Käufer sollte vor dem Risiko einer Herausgabepflicht zu einer Zeit geschützt werden, zu der seine Rückgriffsansprüche gegen den Verkäufer bereits verjährt sind.5 Deshalb wurde in Anlehnung an § 197 Abs. 1 Nr. 2 die 30-jährige Frist vorgeschrieben.6 Dingliche Rechte sind solche Rechte, die ggü. jedem Dritten und damit absolut gelten.7 Das dingliche Recht muss jedoch einen Anspruch auf Herausgabe der Kaufsache begründen.

1 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 2 S. BT-Drucks. 14/6040, 229. 3 Vgl. BGH v. 16.6.2004 – VIII ZR 258/03, NJOZ 2004, 2607, 2609, unter Verweis auf st. Rspr.; vgl. auch Überblick zum Stand der Diskussion bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 25 m.w.N.; auch z.B. Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 12. 4 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 3; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 27 m.w.N. 5 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 7 m.w.N. 6 So BT-Drucks. 14/6040, 227. 7 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 6.

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Verjährung der Mängelansprüche

Rz. 6 § 438 BGB

Es erscheint ungeklärt, ob insb. mit Blick auf verkaufte Computerprogramme (Software) auch im- 5 materialgüterrechtliche Vernichtungs- und Herausgabeansprüche die 30-jährige Verjährung nach § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a auslösen. Gegen die Geltung der 30-jährigen Verjährung spricht der systematische Zusammenhang mit § 197 Abs. 1 Nr. 2, der gerade eng gefasst wurde („soweit nicht ein anderes bestimmt ist“). Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche sollen vor allem mit Blick auf die historische Auslegung nicht unter die 30-jährige Verjährung fallen, weil insoweit die regelmäßige Verjährung ausreichend erscheine.8 Für die Ansprüche aus § 69f UrhG wird entsprechend – die 30-jährige Verjährung nach § 197 Abs. 1 Nr. 2 verdrängend – auf die regelmäßige Verjährung verwiesen.9 Für die Geltung der 30-jährigen Verjährung spricht zunächst der Wortlaut: Die dingliche Ausgestaltung als gegenüber jedermann wirkende Rechte ist zumindest urheberrechtlicher Nutzungsrechte ist inzwischen weitgehend anerkannt.10 Insb. für verkaufte Computerprogramme (Software) gelten gegenüber jedem Eigentürmer und Besitzer eines illegalen Vervielfältigungsstücks durchsetzbare verschuldensunabhängige urheberrechtliche Ansprüche auf Vernichtung (§ 69f Abs. 1 Satz 1 UrhG) und Herausgabe (§§ 69f Abs. 1 Satz 2, 98 Abs. 3 UrhG).11 Der Gesetzgeber wollte zur Bekämpfung von Softwarepiraterie die weitgehende Entziehung urheberverletzender Vervielfältigungsstücke ermöglichen.12 Für andere Rechte wie Nießbrauch und Pfandrecht ist die Anwendbarkeit der 30-jährigen Verjährung anerkannt. Im Vergleich mit den nach dem Urheberrechtsgesetz geschützten Rechten, die nach § 98 UrhG Vernichtungs- und Überlassungsansprüche einräumen, erscheint die dingliche Stellung des Inhabers ausschließlicher Nutzungsrechte mit Blick auf § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a vergleichbar.13 Die für die Anwendbarkeit der 30-jährigen Verjährung maßgebliche Eviktionslage des Käufers ist gleichermaßen gegeben: sein Anspruch wäre nach der zweijährigen Verjährungsfrist des § 438 Abs. 1 Nr. 3 verjährt, obwohl er dem Inhaber des urheberrechtlichen Nutzungsrechts bis zum Ablauf der regelmäßigen Verjährung zur Herausgabe verpflichtet bleibt. Der Zweck der Verjährungsregeln wäre verfehlt, wenn der Käufer von Dritten auf Herausgabe in Anspruch genommen werden könnte und sein Regress gegen den Verkäufer entgegen § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a bereits verjährt wäre. Insoweit kommt eine teleologische Reduktion bezogen auf die Zeiten in Betracht, in denen wegen Ablaufs der (Regel-)Verjährungsfristen der Inhaber ausschließlicher Nutzungsrechte keine Ansprüche gegen den Käufer mehr durchsetzen könnte. Bis dahin erfordert der in § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a geregelte Schutzzweck des Gesetzes jedoch eine über die zwei- oder fünfjährige Verjährung hinausreichende Verjährungsfrist. Einen Sonderfall bildet die Nichtverschaffung von Eigentum an der Kaufsache, weil insoweit ein Fall 6 der Nichterfüllung und kein Fall der mangelhaften Erfüllung (mit belastenden Drittrechten) vorliegt. Verschafft der Käufer dem Käufer kein Eigentum, ist strittig,14 ob nach allgemeinen Verjährungsregeln, §§ 195, 199, eine Verjährungsfrist von zehn Jahren gerechnet ab der Entstehung des Erfüllungsanspruchs anzunehmen ist, § 199 Abs. 4. Teils wird für eine analoge Anwendung des § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a auf Fälle der Nichtverschaffung von Eigentum15 auf einen Wertungswiderspruch verwiesen, weil dem Käufer gerade bei fehlerhafter Eigentumsverschaffung die Vindikation nach § 985 und damit der Verlust der Nutzungsmöglichkeiten droht. Der Käufer befindet sich also wie bei sonstigen Herausgabeansprüchen in der Problematik, potentiell 30 Jahre lang (ab Entstehung des Herausgabeanspruchs des Dritten) auf Herausgabe in Anspruch genommen zu werden, obwohl seine Rückgriffsansprüche gegen den Verkäufer früher verjähren.16 Gegen die analoge Anwendung wird eingewandt, dass die Nichtverschaffung von Eigentum nicht als Rechtsmangel angesehen wird. Auch im Übrigen sei nicht anerkannt, dass für auf die Verschaffung von Eigentum gerichtete Erfüllungs8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Palandt/Ellenberger, § 197 BGB Rz. 2; MünchKomm/Grothe, § 197 BGB Rz. 8. Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69f UrhG Rz. 24. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 13; BeckOGK BGB/Arnold, § 438 Rz. 66. Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69f UrhG Rz. 2 m.w.N. Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69f UrhG Rz. 2 unter Verweis auf Art. 7 Abs. 2 der Computerprogramm-Richtlinie (Richtlinie 2009/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2009 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen, ABl. L 111 v. 5.5.2009, 16. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 13; BeckOGK BGB/Arnold, § 438 Rz. 66. Vgl. Überblick zum Streitstand bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 49 m.w.N. So auch jurisPK BGB/Pammler, § 438 Rz. 26; vgl. auch Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 49 m.w.N. Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 47; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 7; Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 6, jeweils m.w.N.

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BGB § 438 Rz. 6 Verjährung der Mängelansprüche ansprüche Besonderheiten gelten müssten.17 Der BGH lehnt die Annahme eines Rechtsmangels ab, wenn kein Eigentum verschafft wird.18 Deshalb scheide eine direkte Anwendung aus. Ob die 30-jährige Verjährung zum Schutz des Käufers analog herangezogen werden kann, wurde offen gelassen.19 Tatsächlich erscheint die Regelungssituation vergleichbar: Zum Schutz des Käufers vor der Herausgabe bei verjährten Rückgriffsansprüchen ist es erforderlich, den Herausgabeanspruch des Eigentümers entsprechend den Herausgabeansprüchen sonstiger dinglich Berechtigter zu behandeln. Die Wirkungen für den Käufer und seine Probleme wegen der vorzeitigen Verjährung ggü. dem Verkäufer im Rahmen des Rückgriffs sind mindestens denen vergleichbar, die bei Übertragung eines mit einem Nießbrauch oder Pfandrecht belasteten Gegenstandes bestehen. Zudem besteht eine planwidrige Regelungslücke. Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich der Kritik abhelfen, die im Schrifttum am Fehlen einer Verlängerung der Verjährung für dingliche Herausgabeansprüche erhoben worden war.20 Zudem sollte ein „eigenständiges Sonderregime für Rechtsmängel“ vermieden werden.21 Der Gesetzgeber zielte also allgemein auf eine Lösung des wirtschaftlichen Problems des Käufers ab. Eine Differenzierung des Herausgabeanspruchs aus Eigentum nimmt das Gesetz nicht vor. 7

Die entsprechende Problematik stellt sich beim Verkauf von Rechten, z.B. an Software. Nach § 453 ist § 438 Abs. 1 Nr. 1 entsprechend anwendbar. Dem wird teils entgegengehalten, dass urheberrechtliche Ansprüche zwar gegenüber jedermann wirkten und die Herausgabe der unberechtigt gefertigten Kopie ermöglichten, § 98 UrhG; der Begriff des „dinglichen Rechts“ werde aber nur im engeren sachenrechtlichen Zusammenhang und nicht für Ansprüche nach dem UrhG oder PatG verwendet. Deshalb verjährten Rechtsmängel beim Softwarekauf in zwei Jahren ab Ablieferung der Software.22 Demgegenüber zeigt sich die vom Gesetzgeber adressierte Problematik gerade beim Softwarekauf besonders anschaulich: Herausgabe- und Unterlassungsansprüche nach dem UrhG und PatG wirken absolut gegen jedermann. Nur im besonderen Glücksfall wird ein Rechtsmangel sich innerhalb der Frist von zwei Jahren ab Ablieferung zeigen. Anders als bei Sachmängeln besteht gerade nicht die Möglichkeit, durch eine Erprobungszeit hinreichende Wahrnehmbarkeit des Rechtsmangels herzustellen. Trotzdem bleiben die Rechte des Dritten an der Kaufsache durchsetzbar, obwohl die Ansprüche des Käufers gegen den Verkäufer bereits verjährt sind. Soweit auf Grund des Rechts des Dritten dem Käufer die Nutzung entzogen werden kann, veranschaulicht das die Notwendigkeit der Analogie.23 Das gilt insb. angesichts des vom Gesetzgeber hervorgehobenen Ziels, ein Sonderregime für die Rechtsmängelhaftung zu vermeiden. Darüber hinaus ist eine entsprechende Anwendung für den Fall anzunehmen, dass das verkaufte Recht nicht existiert.24 Auszugrenzen sind nur Fälle, in denen der Käufer nichts erhält, d.h. auch keine unberechtigt verschaffte Programmkopie: Dann fehlen die Analogievoraussetzungen, da ein Schutz des Käufers vor dem Vindikationsanspruch nach Ablauf der zehnjährigen Verjährung keine Rolle spielen kann (vgl. dazu auch § 435 Rz. 6, kein Recht in Bezug auf die Sache, Raubkopie). 2. Mangel einer Sache, die entsprechend ihrer üblichen Verwendungsweise für ein Bauwerk verwendet worden ist und dessen Mangelhaftigkeit verursacht hat (§ 438 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b)

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Die Sache muss nach ihrer üblichen Verwendungsweise für ein Bauwerk verwendet worden sein und dessen Mangelhaftigkeit verursacht haben (z.B. bei Hardware zur Gebäudeautomatisierung für Klima, Sicherheit, Ver- und Entsorgung etc., Internet der Dinge): Es muss sich bei der Kaufsache bei objektiver Betrachtung um Baumaterialien handeln. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollten dadurch aber nur solche Sachen ausgeschlossen werden, mit deren Verwendung für ein Bauwerk nicht

17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 5. Vgl. BGH v. 19.10.2007 – V ZR 211/06, NJW 2007, 3777 Rz. 27. Vgl. BGH v. 19.10.2007 – V ZR 211/06, NJW 2007, 3777 Rz. 28. So BT-Drucks. 14/6040, 227. So BT-Drucks. 14/6040, 226 f. Vgl. Redeker, ITRB 2004, 84, 85. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 7; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 52m.w.N.; a.A. Redeker, ITRB 2004, 84, 85. 24 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 7 f.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 52.

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Verjährung der Mängelansprüche

Rz. 11 § 438 BGB

zu rechnen ist.25 Kenntnis des Verkäufers im Einzelfall sollte keine Rolle spielen.26 Ein Bauwerk i.S.d. § 438 Abs. 1 Nr. 2 ist eine unbewegliche, durch Verwendung von Arbeit und Material in Verbindung mit dem Erdboden hergestellte Sache. Dazu zählen nicht nur Neuerrichtungen, sondern auch Umbauarbeiten, wenn sie für Konstruktion, Bestand, Erhaltung oder Benutzbarkeit des Gebäudes von wesentlicher Bedeutung sind27 und wenn die eingebauten Teile mit dem Gebäude fest verbunden werden (s. zu Einzelheiten § 634a Rz. 14 ff.).28 Die Kaufsache muss die Mangelhaftigkeit des Bauwerks verursachen. Damit scheiden Mängel aus, 9 die vollständig durch den Einbau einer Sache verursacht wurden.29 Strittig30 ist, wann insoweit eine Mangelhaftigkeit des Bauwerks anzunehmen sein soll: Das wird teils immer dann angenommen, wenn sich eine Abweichung der Ist- von der Sollbeschaffenheit der Kaufsache im Bauwerk auswirkt (Bedeutung für den gesamten Bau irrelevant).31 Andererseits wird auf die objektive Eignung der Kaufsache abgestellt, bei ihrer gewöhnlichen Verwendung typischerweise beim fraglichen Bauwerk einen Mangel zu verursachen.32 Entscheidend sollte die gesetzgeberische Wertung sein, den Bauhandwerker vor der Verjährung zu schützen.33 Der Schutz ist erforderlich, soweit der Bauhandwerker selbst in Anspruch genommen werden kann. Auszuschließen sind solche Inanspruchnahmen, die sich auf fehlerhaften Einbau oder auf eigenmächtig überschießende Vereinbarungen des Bauhandwerkers mit dem Bauherrn zur Sollbeschaffenheit beziehen. Hält sich der Bauhandwerker jedoch im durch den Kaufvertag gesetzten Rahmen, soll er geschützt bleiben. Deshalb ist lediglich zu fordern, dass (i) nach dem Kaufvertrag mit dem Lieferanten ein Mangel vorliegt, der (ii) Ansprüche des Bauherrn begründet. Die verlängerte Verjährungsfrist ist auch anwendbar, wenn der Käufer die Sache selbst in einem Bauwerk einbaut.34 3. Kaufrechtliche Verjährung (§ 438 Abs. 1 Nr. 3) Die kaufrechtliche Regelverjährung beträgt zwei Jahre ab Ablieferung. Diese Frist gilt für die in § 437 genannten Mängelrechte, wenn nicht die Sonderregeln der § 438 Abs. 1 Nr. 1 (für Herausgabeansprüche) oder 2 (Bauwerke) eingreifen. Die kaufrechtliche Regelverjährung gilt auch für Ansprüche wegen kaufrechtlicher Nebenpflichtverletzungen, z.B. für eine beratende Tätigkeit des Verkäufers, die lediglich als Teil seiner Absatzbemühungen anzusehen ist und sich auf Eigenschaften des Kaufgegenstandes bezieht, ohne im Ausnahmefall wegen besonders weitgehender Leistungen des Verkäufers eine eigenständige Bedeutung zu erlangen.35

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4. Arglistiges Verschweigen des Mangels (§ 438 Abs. 3) Hat der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen, gilt die regelmäßige Verjährungsfrist ab dem regelmäßigen Verjährungsbeginn (§§ 195, 199).36 Die Regelung dient dem Schutz des Käufers und 25 S. BT-Drucks. 14/6040, 227: „Es kommt daher nicht darauf an, ob der Lieferant im Einzelfall von der konkreten Verwendung Kenntnis hat. Die Bezugnahme auf die „übliche“ Verwendung bezweckt eine Beschränkung des Anwendungsbereichs: Nicht erfasst sind Sachen, deren bauliche Verwendung außerhalb des Üblichen liegt, etwa wenn ein Künstler extravagante Sachen verwendet, um einem Gebäude eine künstlerische Note zu verleihen.“ 26 S. BT-Drucks. 14/6040, 227. 27 Vgl. BGH v. 9.10.2013 – VIII ZR 318/12, NJW 2014, 845 Rz. 21 f. = CR 2014, 85. 28 Vgl. BGH v. 9.10.2013 – VIII ZR 318/12, NJW 2014, 845 Rz. 19 = CR 2014, 85; s. auch BT-Drucks. 14/6040, 227. 29 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 44 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 20. 30 Vgl. Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 44 m.w.N. 31 Vgl. Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 12; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 20. 32 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 20. 33 S. BT-Drucks. 14/6040, 227. 34 Vgl. BGH v. 9.10.2013 – VIII ZR 318/12, NJW 2014, 845 Rz. 18 m.w.N. = CR 2014, 85; vgl. Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 10 m.w.N. 35 Vgl. BGH v. 16.6.2004 – VIII ZR 258/03, NJOZ 2004, 2007, 2607, 2609, unter Verweis auf st. Rspr.; s. auch z.B. Erman/Grunewald, Vor § 437 BGB Rz. 12. 36 Vgl. OLG Naumburg v. 24.10.2013 – 1 U 44/13, NJW 2014, 1113.

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BGB § 438 Rz. 11 Verjährung der Mängelansprüche darf den arglistigen Verkäufer nicht privilegieren. Eine kürzere Laufzeit der regelmäßigen Verjährung ist für die Verjährungsfrist von fünf Jahren in § 438 Abs. 1 Nr. 2 denkbar. Für diese verhindert Abs. 3 Satz 2, dass die Verjährung vor Ablauf der Frist nach § 438 Abs. 1 Nr. 2 eintritt.37 12

Der Verkäufer verschweigt einen Mangel arglistig, wenn er (i) den Mangel nicht offenbart, obwohl er (ii) den Mangel zumindest für möglich hält38 und (iii) er dabei zumindest billigend in Kauf nimmt, dass der Käufer den Mangel nicht kennt und er (iv) billigend in Kauf nimmt, dass der Mangel für den Kaufentschluss (ob und wie) erheblich ist (subjektive Kausalität; nicht jedoch objektive Kausalität).39 Ausreichend für § 438 Abs. 3 ist mindestens bedingter Vorsatz des Verkäufers, den Kaufentschluss des Käufers möglicherweise zu beeinflussen.40 Die rechtliche Einordnung des Mangels als solchen durch den Verkäufer ist irrelevant.41 Beispielsweise genügt es für die Arglist des Verkäufers, wenn dieser weiß, dass für den vertraglich vorausgesetzten Einsatz des verkauften Gegenstandes Sicherheitsbestimmungen gelten, sich aber nicht vergewissert, ob die Kaufsache diese einhält.42 Ebenso kann arglistig handeln, wer durch mangelhafte Organisation des Unternehmens schuldhaft dafür sorgt, dass zu offenbarende Informationen über die vertragsgerechte Qualität der abzuliefernden Sache nicht vorliegen.43 Eine Offenbarungspflicht und Arglist des Verkäufers ist abzulehnen, wenn der Verkäufer auf die Untersuchung eines Sachverhalts hingewiesen hat (damit das Risiko von Mängeln im konkret bezeichneten Untersuchungsbereich deutlich ist) und die Ergebnisse der Untersuchung nur gegen zusätzliche Vergütung überlassen will.44 Nimmt der Verkäufer besondere Expertise in Anspruch, führt das zu weitergehenden Aufklärungspflichten (s. zu Nebenpflichten des Verkäufers § 433 Rz. 55 f.) und bei Unterlassen auch zur Arglist i.S.v. § 438 Abs. 3.45 Arglist kann auch bei Verkauf neuartiger Kaufsachen ohne erforderliche Tests anzunehmen sein, wenn der Hersteller die Erprobung der produktiven Nutzung überlässt.46

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Dem steht ein aktives Vorspiegeln einer nicht vorhandenen Beschaffenheit gleich.47 Dafür genügt es, wenn der Verkäufer erwartete Erklärungen abgibt, ohne dafür erforderliche Tatsachen zu kennen (Erklärungen ins Blaue hinein).48 Demgegenüber sind auch gutgläubig gemachte falsche Aussagen nur arglistig, wenn sie ohne Tatsachengrundlage oder auf Grundlage erfundener Tatsachen erfolgen.49 37 Vgl. Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 23 f. m.w.N.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 87 m.w.N.; Bamberger/Roth/Faust, § 438 BGB Rz. 36 m.w.N. 38 Vgl. BGH v. 8.12.2006 – V ZR 249/05, NJW 2007, 835 Rz. 8; BGH v. 15.7.2011 – V ZR 171/10, NJW 2011, 3640 Rz. 7; zur Definition der Arglist vgl. BGH v. 21.7.2017 – V ZR 250/15, NJW 2018, 389 Rz. 11; BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21. 39 Vgl. BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21 m.w.N.; BGH v. 15.7.2011 – V ZR 171/10, NJW 2011, 3640 Rz. 13 m.w.N.; noch zu § 463 Satz 2 BGB a.F. mit weitergehenden Anforderungen an die Kausalität für den Kaufentschluss: BGH v. 14.10.1993 – III ZR 156/92, BGHZ 123, 363 Rz. 9; Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 24 m.w.N.; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 696. 40 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 29; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 89 m.w.N.; zur Definition der Arglist BGH v. 21.7.2017 – V ZR 250/15, NJW 2018, 389 Rz. 11; BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21. 41 Vgl. BGH v. 8.12.2006 – V ZR 249/05, NJW 2007, 835 Rz. 8. 42 Vgl. BGH v. 16.1.1985 – VIII ZR 317/83, NJW 1985, 1769, 1771. 43 Vgl. BGH v. 12.3.1992 – VII ZR 5/91, NJW 1992, 1754, 1755, unter Verweis auf eine Pflicht des Werkunternehmers, für eine den Umständen nach angemessene Überwachung und Prüfung der Leistung zu sorgen, um beurteilen zu können, ob das Werk bei Ablieferung Mängel enthält (zu § 638 a.F.). Daraus ließe sich z.B. für Software eine angemessene Testpflicht ableiten, bei deren Verletzung die Arglist-Verjährung eingreift; OLG Düsseldorf v. 24.3.2015 – 21 U 137/14, IBR 2016, 671 bejaht eine Wissenszurechnung wegen Organisationsverschuldens, wenn (i) typischerweise geschäftswesentliche und deshalb dokumentierte Informationen (ii) trotz eines besonderen Anlasses zur Dokumentation (iii) gleichwohl nicht dokumentiert wurden. 44 Vgl. BGH v. 29.1.1993 – V ZR 227/91, NJW 1993, 1643, 1644 zu einem Sachverständigengutachten. 45 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 29; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 106 m.w.N. 46 So OLG Celle v. 28.1.1970 – 13 U 175/69, DB 1970, 582. 47 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 29; vgl. auch Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 114 m.w.N., wobei teils eine unmittelbare Anwendung und teils eine Analogie angenommen wird. 48 Vgl. BGH v. 7.6.2006 – VIII ZR 209/05, NJW 2006, 2839 Rz. 13 m.w.N.; vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 29 m.w.N. 49 Vgl. Überblick zur Rspr. bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 94 m.w.N.

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Verjährung der Mängelansprüche

Rz. 18 § 438 BGB

5. Ablieferung der Sache – Verjährungsbeginn (§ 438 Abs. 2) Voraussetzung des Verjährungsbeginns ist neben der Ablieferung zunächst die Wirksamkeit des Kauf- 14 vertrages. Hängt dessen Wirksamkeit von einer aufschiebenden Bedingung oder der Erteilung einer Genehmigung (z.B. bei Vertretung ohne Vertretungsmacht) ab, so beginnt erst mit der dadurch eingetretenen Wirksamkeit des Vertrages und Ablieferung auch die Verjährung zu laufen.50 Über die Entstehung des Anspruchs hinaus ist die Ablieferung einer Sache in Abgrenzung zum nicht vorausgesetzten Gefahrübergang erforderlich.51 Ablieferung bedeutet, dass der Verkäufer die Sache in Erfüllung des Kaufvertrags52 derart in den Machtbereich des Käufers gelangen lässt, dass der Käufer sie untersuchen kann.53 Ist eine Montage durch den Verkäufer vereinbart und zur Untersuchung erforderlich, so ist die Ablieferung erst nach erfolgter Montage anzunehmen.54 Bei vereinbartem Probelauf ist auch die Ablieferung erst anschließend anzunehmen.55 Sind mehrere Sachen zusammen verkauft, so ist erst mit vollständiger Lieferung abgeliefert.56

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Für die Ablieferung von IT-Systemen wurde es teils als erforderlich angesehen, dass (i) neben der phy- 16 sischen Verfügbarkeit von Hard- und Software (ii) eine erforderliche Einweisung des Kundenpersonals stattgefunden hat und (iii) eine gewisse Zeit mangelfreier Arbeit verstrichen ist.57 Dagegen hat der BGH die Notwendigkeit eines solchen Probelaufs für die Ablieferung nur bei Vereinbarung über entsprechende Montageleistungen des Verkäufers bejaht.58 Fehlt es an vereinbarten Montagepflichten, steht die Möglichkeit zur Untersuchung der Sache und das im Kaufrecht verfolgte Ziel der Schaffung von Klarheit im Vordergrund, so dass insoweit Ablieferung bereits mit der Möglichkeit zur Untersuchung durch den Käufer gegeben ist.59 Entsprechend kommt es für ein in einzelnen Teilen zu lieferndes System auf den Zeitpunkt an, indem für den Käufer ein Probelauf möglich ist.60 Beim Versendungskauf ist die Ablieferung erfolgt, wenn dem Käufer am Bestimmungsort die Möglichkeit zur Untersuchung der Sache gegeben wird.61 Auch bei Holschuld genügt die Möglichkeit des Käufers, die dafür bereitgestellte Sache abzuholen.62 Ist Lieferung von Standardsoftware per Download vereinbart, ist die Ablieferung erfolgt, sobald der Käufer die Möglichkeit hatte, sich per Download eine Kopie zu speichern und zu untersuchen.

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Strittig63 ist, ob bei Nacherfüllung – im Falle einer Ersatzlieferung oder Nachbesserung – eine Hem- 18 mung der Verjährung (§§ 209, 203) eintritt oder die Verjährungsfrist ab dem Zeitpunkt der Ablieferung (Untersuchbarkeit) der Ersatzsache oder der nachgebesserten Sache bezogen auf diese erneut zu laufen beginnt (Stichwort: Kettengewährleistung).64 Wenn jede Nacherfüllung eine neue Ablieferung im Sinne des § 438 bewirkt, beginnt die zweijährige Verjährung stets auch unabhängig von den Voraussetzungen eines Anerkenntnisses im Sinne von § 212 erneut (z.B. auch bei ausdrücklich als Kulanzleis50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Vgl. Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 14; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 23 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 25 m.w.N. Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 27 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 21; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 27. Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel; vgl. auch Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 21 m.w.N. Vgl. OLG Hamm v. 3.2.1997 – 13 U 153/96, CR 1998, 202; OLG Düsseldorf v. 7.12.1988 – 17 U 27/87, CR 1989, 689, 690; vgl. auch Überblick zu Rspr. und Schrifttum in BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1417 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel; MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 23 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 26 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 26 m.w.N. S. Überblick zum Streitstand bei MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 41 m.w.N. Vgl. Klas/Kleesiek, NJW 2010, 3339, 3339 f.

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BGB § 438 Rz. 18 Verjährung der Mängelansprüche tung gekennzeichneter Neulieferung einer Fehlerbehebungssoftware). Für einen erneuten Fristlauf ab Ablieferung der Nacherfüllung spricht die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut des § 438 Abs. 2. Auch im Falle der Nacherfüllung wird – per angepasstem Primäranspruch – gleichermaßen eine Sache an den Käufer überlassen und damit abgeliefert.65 Der BGH hat in einem obiter dictum die Möglichkeit eines erneuten Fristlaufs im Zusammenhang mit der Inhaltskontrolle einer AGB-Klausel angedeutet, jedoch Auseinandersetzung mit etwaigen Folgewirkungen und Begrenzungen einer Kettengewährleistung.66 Ohne den Neubeginn der Verjährung kann dem Käufer die Möglichkeit fehlen, die Ersatzlieferung entsprechend sonstigen Lieferungen zu prüfen;67 das gilt insb. für Mängel, die sich erst nach bestimmter Nutzungsdauer zeigen. Gegen einen erneuten Fristlauf spricht jedoch systematisch, dass zwischen dem Beginn der Verjährung mit Ablieferung einerseits und der Durchführung von Nachleistungen andererseits zu unterscheiden ist. Das Gesetz enthält keine ausdrückliche Regelung zu besonderen Rechtsfolgen der Nachbesserung auf die Verjährung.68 Die Ausprägung des Mangelrechts der Nachleistung in § 437 ist gerade nach Maßgabe des § 438 beschränkt worden. Für Grundstücke und Reparaturen ohne Übergabe der Kaufsache käme es zu grundlegend abweichenden Verjährungsfristen, ohne dass dafür nachvollziehbare Wertungen erkennbar wären.69 Historisch hatte der Gesetzgeber die – auch nach vormals geltenden Recht bekannte – Problematik gesehen und ausdrücklich auf eine kundenfreundlichere Regelung verzichtet. Die Unterbrechung der Verjährung sollte durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz weitgehend abgeschafft und durch Hemmung ersetzt werden.70 Die weitgehende Anknüpfung an eine Ablieferung der Kaufsache nach § 438 über die erstmalige Ablieferung hinaus würde aber genau diese Wirkung herbeiführen. Eine Möglichkeit zur Verlängerung der Verjährung durch Nacherfüllung ohne Maximalfrist war bereits in den Verhandlungen zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht gewollt und ist deshalb auch nicht ins Schuldrechtsmodernisierungsgesetz eingeflossen.71 Aus teleologischer Sicht ist keine – erst recht keine differenzierende72 – Grundlage dafür erkennbar, die Fristen des § 438 abweichend von den grundsätzlich anzuwendenden Verjährungsregeln der §§ 203 ff. zu verlängern.73 Ziel der Verjährungsregeln ist es gerade, (i) den Vertragsparteien die Kalkulation ihrer kommerziellen Belastungen zu ermöglichen und (ii) Streitigkeiten über weit zurückliegende Sachverhalte zu beschränken.74 Gesetzliche bezweckter Schutz der Rechtsverfolgung des Käufers wird bereits wesentlich maßvoller dadurch gewahrt, dass auch die als Kulanz durchgeführte Nachleistung zur Hemmung der Verjährung wegen Verhandlungen nach § 203 führt; dem Käufer bleibt damit eine Mindestfrist von drei Monaten nach Abschluss der Nachleistung und Überlassung, in der eine Prüfung der nachgeleisteten Kaufsache erfolgen kann.75 Bei drohendem Ablauf einer Gewährleistungsfrist wird es nach allgemeinen Regeln als zumutbar angesehen, dass der Gläubiger Beweise sichert oder seine Rechte verfolgt. Diese Möglichkeiten wird auch bei Nachleistungen regelmäßig bestehen – notfalls durch sachverständige Untersuchung. Im Gegensatz dazu erscheint eine unbeschränkte Kettengewährleistung zweckwidrig. Im kommerziellen Ergebnis müssten Käufer die wirtschaftlichen Belastungen faktisch unbefristeter Mängelhaftungsfristen vergüten bzw. bestimmte Gegenstände könnten (kommerziell tragbar) nur nach ausländischem Recht erworben werden. 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Bartsch, CR 2015, 345, 347; Wiedemann, ZRP 2013, 2, 3. Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 18. Vgl. Wiedemann, ZRP 2013, 2, 3 m.w.N. Vgl. OLG Celle v. 20.6.2006 – 16/U 287/05, NJW 2006, 2643, 2644; OLG Karlsruhe v. 22.1.2018 – 9 U 83/16, NJW-RR 2018, 689 Rz. 24 m.w.N. Vgl. OLG Celle v. 20.6.2006 – 16/U 287/05, NJW 2006, 2643, 2644. Vgl. Schmidt-Räntsch, ZIP 2000, 1639, 1640. Vgl. die Darstellung bei Schmidt-Räntsch, ZIP 2000, 1639, 1644; Jaensch, jM 2017, 7, 12. Vgl. BGH v. 23.8.2012 – VII ZR 155/10, NJW 2012, 3229 Rz. 11 und 14, der Beschluss wäre nicht erforderlich gewesen, wenn bereits mit Nachleistung ein gesetzlicher Neubeginn der Verjährung eintreten würde. Vgl. die pauschale Ablehnung einer Wirkung von Nachbesserungsversuchen auf die Verjährung unter Verweis auf den gesetzlichen Wortlaut und Zweck der Regelungen sowie die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur, OLG Karlsruhe v. 22.1.2018 – 9 U 83/16, NJW-RR 2018, 689 Rz. 24 m.w.N. Vgl. Wiedemann, ZRP 2013, 2, 3 m.w.N. Vgl. Jaensch, jM 2017, 7, 12; OLG Bamberg v. 10.4.2006 – 4 U 295/05, juris Rz. 43, verweist auf die allgmeinen Regeln zu Hemmung und Neubeginn der Verjährung der §§ 203, 212 nach der Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls: „[…] Das ist nach gefestigter Rechtsprechung nur dann der Fall, wenn der Verkäufer aus der Sicht des Käufers nicht nur aus Kulanz oder zur gütlichen Beilegung des Streits, sondern in dem Bewusstsein handelt, zur Mängelbehebung verpflichtet zu sein. […]“.

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Verjährung der Mängelansprüche

Rz. 23 § 438 BGB

Standardsoftware bildet insoweit ein Beispiel: In der Praxis werden für Standardsoftware (als Pro- 19 dukt oder als eingebetteter Teil eines sonstigen Gegenstands verkauft) regelmäßig aktualisierte und verbesserte Fassungen geliefert. Regelmäßige Neuversionen mit Fehlerbehebungen bilden den Regelfall. Der Softwareverkäufer wäre gezwungen, alte Fassungen einer Standardsoftware auf unabsehbare Zeit auch unabhängig vom Abschluss eines Softwarepflegevertrags weiter zu entstören. Solche Pflichten ließen sich – insb. im internationalen Geschäftsverkehr – mit Softwareherstellern nicht absichern. Für unkalkulierbaren Belastungen des Softwareverkäufers besteht auch im Interesse des Käufers kein Bedarf: Nach allgemeinen Regeln kann der Käufer insb. durch Verhandlungen (über die weit gefasste Regelung des § 203), durch Rechtsverfolgung (§ 204) und Neubeginn wegen Anerkenntnisses (§ 212 Abs. 1 Nr. 1) den Eintritt der Verjährung abwenden. Erbringt der Verkäufer ohne Hinweis auf Kulanz Nachleistungen, liegt darin ein Anerkenntnis.76 Beruft sich der Verkäufer jedoch darauf, ohne eine Pflicht nur aus Kulanz nachzuleisten, so erscheint es nach den gesetzlichen Wertungen zumutbar und erforderlich, dass der Käufer mindestens Verhandlungen über den Anspruch oder den Anspruch begründende Umstände nach § 203 Satz 1 sucht. Der Käufer ist durch die Hemmungswirkung des § 209 sowie die Mindestfrist von drei Monaten nach dem Ende der Hemmung, § 203 Satz 2, ausreichend geschützt. Im Ergebnis überwiegen damit die Argumente gegen einen erneuten Fristlauf bei Nacherfüllung. Beim Rechtskauf ist für den Verjährungsbeginn der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem das Recht oder die Forderung übergehen soll, ohne dass es auf den tatsächlichen Eintritt des Übergangs ankommt.77

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6. Rücktritt (§ 438 Abs. 4) Da nur Ansprüche der Verjährung unterliegen (§ 194 Abs. 1), sind für den Rücktritt als Gestaltungsrecht nach Abs. 4 die Regeln des § 218 anzuwenden. Danach ist der Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung unwirksam, wenn der Anspruch auf die Leistung/Nacherfüllung verjährt ist und der Verkäufer sich darauf beruft, § 218 Abs. 1 Satz 1.78 Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Zugangs der Rücktrittserklärung. Für die sich aus einem ausgeübten Rücktritt ergebenden Ansprüche gilt die Regelverjährung.79

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7. Minderung (§ 438 Abs. 5) Die für den Rücktritt geltenden Regeln sind auch für das Gestaltungsrecht der Minderung anzuwenden. Im Falle der Minderung gewährt das Gesetz dem Verkäufer aber nicht die Rücktrittsmöglichkeit nach § 438 Abs. 4 Satz 3. Im Falle der Minderung liegt die Entscheidung über den Fortbestand des Kaufvertrages in der durch die Minderung umgestalteten Form gerade beim Käufer. Der Käufer kann die Zahlung nur in der Höhe verweigern, die dem geminderten Kaufpreis entspricht.

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8. Rügeobliegenheiten im Handelskauf (§§ 377, 378 HGB) Ist der Kaufvertrag ein beiderseitiges Handelsgeschäft i.S.d. §§ 343, 344 HGB, so hat der Käufer die Ware unverzüglich nach der Ablieferung durch den Verkäufer, soweit dies nach ordnungsmäßigem Geschäftsgange tunlich ist,80 zu untersuchen und, wenn sich ein Mangel zeigt, dem Verkäufer unverzüglich Anzeige zu machen, § 377 Abs. 1 HGB. Dem Käufer droht zur Schaffung kurzfristiger Rechtssicherheit81 bereits vor Eintritt der Verjährung in den Fristen des § 438 der Verlust seiner Mängelrechte wegen der Genehmigungsfiktionen des § 377 Abs. 2 HGB.82

76 77 78 79

Vgl. MünchKomm/Westermann, § 438 BGB Rz. 41 m.w.N. So BT-Drucks. 14/6857, 62. Vgl. dazu Erman/Grunewald, § 438 BGB Rz. 29 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 17. So die h.M., vgl. Palandt/Weidenkaff, § 438 BGB Rz. 20; Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 133 ff. 80 Vgl. BGH v. 24.2.2016 – VIII ZR 38/15, NJW 2016, 2645 ff. Rz. 20 ff. m.w.N. mit Hervorhebung der erforderlichen Interessenabwägung im Einzelfall. 81 Vgl. BeckOK HGB/Schwartze, § 377 Rz. 1 m.w.N. 82 Vgl. zur Vermutung für ein Handelsgeschäft Baumbach/Hopt/Hopt, § 344 HGB Rz. 1 m.w.N.

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BGB § 438 Rz. 24 Verjährung der Mängelansprüche 24

Die Ablieferung ist wie in § 438 Abs. 2 definiert.83 Installation oder die Einweisung von Personal sind nur dann Voraussetzung der Ablieferung, wenn diese Leistungen zusätzlich vereinbart wurden.84 Im Übrigen genügt jedoch auch eine erkennbar mangelhaft gelieferte Sache, soweit sie nicht vom Käufer nach § 320 zurückgewiesen wird. Ist Lieferung per Download vereinbart, so genügt die Möglichkeit des Käufers, eine Kopie der Software herunterzuladen und zu untersuchen. Teilleistungen genügen aber nicht, so dass fehlende Leistungselemente die Genehmigungspflichten ausschließen (z.B. geschuldete Konfigurationsleistungen, erforderliche Anleitungen etc.).

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Der Käufer hat die Kaufsache unverzüglich im zumutbaren Umfang zu untersuchen, § 377 Abs. 1 HGB. Die Zumutbarkeit hängt von einer Interessenabwägung im Einzelfall ab: Der Verkäufer soll vor mit Zeitablauf schwieriger handhabbaren Beweisfragen und durch Weiterverarbeitung drohenden Mangelfolgeschäden geschützt werden. Für den Käufer sind erforderlicher Kosten- und Zeitaufwand, zur Verfügung stehende technische Prüfungsmöglichkeiten und zur Untersuchung erforderliche technische Kenntnisse zu berücksichtigen.85 Eine „Rundumuntersuchung“ aller irgendwie in Betracht kommenden Mängel ist nicht erforderlich.86 Bei solcher Untersuchung nicht erkennbare Mängel sind jedoch unverzüglich nach ihrer Entdeckung zu rügen. Eine erkennbar vertragswidrig mit einer Limitierung auf lediglich 30 Tage (per Lizenzschlüssel) gelieferte Software wird nach § 377 HGB genehmigt.87 Die Zumutbarkeit der Untersuchung hängt von der objektiv zu erwartenden Leistungsfähigkeit des Käufers ab.88 Maßgeblich sind auch die Kosten und der erforderliche Zeitaufwand der Untersuchung. Auch die Verkehrsanschauung in der Branche und Handelsbräuche sind zu beachten.89 Ist mit Fehlern zu rechnen, spricht das für die weitergehende Zumutbarkeit von Untersuchungen.90 Danach soll bei Netzteilen für den Einbau in einen Computer eine Öffnung und Prüfung bzgl. der Isolation, Kabelführung, Verlötungen etc. auch bei CE-Kennzeichnung erforderlich sein.91 Computerdisketten sind stichprobenartig auf ihre Lesbarkeit zu überprüfen, wobei 200 Stichproben auf 20.000 Disketten als ausreichend angesehen wurden.92 Bei Übergabe von Unterlagen über die Lizenzierung des Veräußerers von Software obliegt dem Käufer die Prüfung, um sich erkennbare Rechtsmängelansprüche zu erhalten.93

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Das Maß der zumutbaren Untersuchung gelieferter Software ist nach diesen Grundsätzen problematisch, da der Käufer mit Blick auf geplante Projektabläufe, Bedürfnisse des Tagesgeschäfts und den wirtschaftlichen Umgang mit Testressourcen regelmäßig Kompromisse eingehen muss. Der Wortlaut des Gesetzes knüpft für die Beurteilung der Untersuchung nach „ordnungsgemäßem Geschäftsgang“ nicht nur an eine mehr oder weniger lang bemessene Frist an.94 Vielmehr zeigt auch das unterstellte Vorkommen unentdeckter Mängel, § 377 Abs. 2 HGB, dass wirtschaftlich unzumutbare Komplettuntersuchungen gerade nicht angeordnet werden.95 Das gilt gerade für den Erwerb komplexer Software, die bezogen auf ihre Konfigurationszustände und Anwendungsfälle zwar getestet werden könnte (z.B. für einen Jahresabschluss, bei Nutzung verschiedener Testdaten etc). Die Durchführung solcher Tests kann aber gerade bei einem Standardprodukt kaum eingrenzbaren Aufwand erfordern. Beispielsweise müsste der Käufer seine Tests mit jeder – häufig vorkommenden – eingespielten Softwareaktualisierung wie83 Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel noch zu § 477 a.F.; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rz. 1045 m.w.N. 84 Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1417 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. 85 Vgl. BGH v. 6.12.2017 – VIII ZR 246/16, NJW 2018, 1957 Rz. 23 m.w.N.; BGH v. 24.2.2016 – VIII ZR 38/15, NJW 2016, 2645 ff. Rz. 21 f. m.w.N. 86 Vgl. BGH v. 6.12.2017 – VIII ZR 246/16, NJW 2018, 1957 Rz. 26 m.w.N. 87 Vgl. OLG Karlsruhe v. 15.7.2003 – 14 U 140/01, juris Rz. 22 = CR 2004, 493. 88 Vgl. BGH v. 24.2.2016 – VIII ZR 38/15, NJW 2016, 2645 ff. Rz. 20 ff. m.w.N. 89 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 377 HGB Rz. 25 m.w.N. 90 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 377 HGB Rz. 25; BeckOK HGB/Schwartze, § 377 Rz. 34 m.w.N. 91 Vgl. OLG Köln v. 28.3.2003 – 19 U 142/02, NJW-RR 2004, 1141, 1142 m.w.N. 92 Vgl. OLG Köln v. 6.3.1998 – 19 U 185/97, NJW-RR 1999, 565, 566 = CR 1998, 335. 93 Vgl. Kubach/Hunzinger, CR 2016, 213, 215 m.w.N. 94 Vgl. in diesem Sinne aber Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht Rz. 1045, die die besonderen Schwierigkeiten bei der Untersuchung von Software durch eine ausführlichere Erprobungsphase berücksichtigen wollen. 95 In diesem Sinne auch die Feststellung, dass eine über äußerliche Prüfung hinausgehende aufwendige Untersuchung elektromagnetischer Verträglichkeit nicht gefordert ist, OLG Köln v. 28.3.2003 – 19 U 142/02, NJWRR 2004, 1141.

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Verjährung der Mängelansprüche

Rz. 31 § 438 BGB

derholen. Es würde gerade im kaufmännischen Verkehr die Einsatzkosten einer Software zum Nachteil beider Parteien unangemessen erhöhen, wenn jeder Käufer einen vollständigen Test der gelieferten (Standard-)Software einplanen müsste. Bezieht man diese Umstände des üblichen Geschäftsganges beim Softwareeinsatz nicht ein, führt das zu einem weitgehenden Ausschluss der Mängelrechte, der sonst als Verstoß gegen § 307 wegen den Käufer benachteiligender Abweichung von gesetzlichen Grundideen in AGB nicht regelbar wäre. Eine Lösung durch Annahme einer stillschweigenden Vereinbarung über das Hinausschieben der Untersuchungsobliegenheit bis zur Ingebrauchnahme jeweils relevanter Softwareteile arbeitet mit weitgehenden Unterstellungen.96 Näher liegt es insoweit, anknüpfend an die Besonderheiten komplexer IT-Systeme und daran anknüpfende Gestaltungen des „ordnungsgemäßen Geschäftsganges“ nur geringe Anforderungen an die Tests des Käufers zu stellen. Auch nach Abschluss von Nachbesserungsarbeiten ist der Käufer zur Erhaltung seiner Mängelrechte gehalten, die Kaufsache unverzüglich nach entsprechend geltenden Maßstäben erneut zu untersuchen und etwa verbliebene oder neue Mängel unverzüglich zu rügen.97

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Die Rüge hat die Symptome des Mangels so konkret wie möglich zu bezeichnen. Der Verkäufer muss 28 die Möglichkeit haben, die Mängel zu prüfen und Beweise zu sichern; der Käufer soll keine anderweitigen Beanstandungen nachschieben können.98 Mehrdeutigkeiten gehen zu Lasten des Käufers, wenn der Verkäufer nicht erkennen kann, worauf sich die Mängelrüge bezieht.99 Die Mangelursachen müssen jedoch nicht benannt werden.100

III. Rechtsfolgen Nach Verjährungseintritt berechtigt die Erhebung der Einrede den Schuldner, die Leistung zu verwei- 29 gern, § 214 Abs. 1. Leistet der Schuldner gleichwohl (auch in Unkenntnis der Verjährung), kann er seine Leistung nicht zurückfordern, § 214 Abs. 2 Satz 1. Diese Rechtsfolge ist gleichermaßen für ein grds. schriftlich zu vereinbarendes abstraktes Schuldanerkenntnis i.S.v. § 781 (s. aber zur Formfreiheit im Handelsverkehr § 350 HGB) und eine sonstige Sicherheitsleistung angeordnet, § 214 Abs. 2 Satz 2.

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht Grenzen sind für Individualvereinbarungen durch die Höchstfrist von 30 Jahren aus § 202 Abs. 2 und die Verjährung einer Haftung für Vorsatz (§ 202 Abs. 1) gesetzt. Eine Verjährungserleichterung bzgl. der Mängelrechte ist weiter ausgeschlossen, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat, § 444. Eine dem widersprechende Verjährungsvereinbarung ist wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig, § 134.101 Weitere Einschränkungen ergeben sich für die Möglichkeiten zur Vereinbarung verkürzter Verjährungsfristen aus Regeln zum Regress beim Lieferanten für denjenigen, der neu hergestellte Sachen an einen Verbraucher verkauft (inkl. der Lieferkette von Unternehmen), §§ 478 f.

30

§ 377 HGB kann im Individualvertrag verschärft, gemildert und ausgeschlossen werden.102

31

96 Vgl. in diesem Sinne zu Stichproben, die zur Unverkäuflichkeit von Ware führten Baumbach/HoptHopt, § 377 HGB Rz. 27 m.w.N. 97 Vgl. BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1417 m.w.N. = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. 98 Vgl. BGH v. 14.5.1996 – X ZR 75/94, NJW 1996, 2228 f.; OLG Köln v. 12.2.1993 – 19 U 161/92, NJW 1993, 2627, 2628 m.w.N. = CR 1993, 435. 99 Vgl. BGH v. 14.5.1996 – X ZR 75/94, NJW 1996, 2228 f.; BGH v. 4.12.1996 – VIII ZR 306/95, NJW-RR 1997, 690, 691 zu den Anforderungen nach Art. 39 Abs. 1 CISG. 100 Vgl. BGH v. 14.5.1996 – X ZR 75/94, NJW 1996, 2228, 2229; BGH v. 3.11.1999 – VIII ZR 287/98, NJW-RR 2000, 1361, 1362 zu Art. 39 Abs. 1 CISG. 101 Vgl. BGH v. 3.12.1987 – VII ZR 363/86, NJW 1988, 1259, 1260. 102 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 377 HGB Rz. 57 m.w.N.

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BGB § 438 Rz. 32 Verjährung der Mängelansprüche 2. Auswirkungen auf AGB-Recht 32

Auch nachträgliche Vereinbarungen zu Neubeginn und Hemmung der Verjährung sind möglich. Unwirksam sind jedoch Klauseln, die ohne Unterscheidung auch bei Nacherfüllung aus Kulanz einen Neubeginn der Verjährung vorsehen.103 Eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Mängelrechte von zwei auf drei Jahre benachteiligt den Verkäufer grds. nicht unangemessen.104 Die gesetzgeberische Entscheidung für die Zweijahresfrist ist offen für abweichende Parteivereinbarungen, § 202 Abs. 2. Ein legitimer Grund für eine Verlängerung auf drei Jahre kann insb. darin gesehen werden, dass ein Verkäufer – außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 478 f. – seinen Kunden selbst die zweijährige Frist lassen will und seinerseits Zeit zur Vermarktung benötigt.105

33

Eine generelle Verlängerung der Verjährungsfrist für Rechtsmängel auf 10 Jahre weicht ohne ausreichende Begründung auch im unternehmerischen Verkehr gravierend vom gesetzlichen Leitbild ab und ist deshalb unwirksam, § 307 Abs. 2 Nr. 1.106 Der Gesetzgeber hat Ausnahmen ausdrücklich nur auf die gesetzlich vorgesehenen Fälle der Eviktionshaftung, § 438 Abs. 1 Nr. 1, und der Arglist, § 438 Abs. 3, beschränkt.107 Die Abweichung vom neuen gesetzlichen Leitbild (um den Faktor fünf) lässt sich auch nicht durch Verweis auf die vor der Schuldrechtsreform geltende Frist von 30 Jahren für Rechtsmängel rechtfertigen: Der Gesetzgeber wollte die unterschiedlichen Rechtsfolgen für Sach- und Rechtsmängel im Zuge der Schuldrechtsreform gerade beseitigen.108

34

Für § 377 HGB können in AGB im kaufmännischen Verkehr wirksame Formerfordernisse vereinbart werden, soweit sie nicht allein auf zusätzlichen Aufwand beim Käufer abzielen.109 Unwirksam ist jedoch eine Erstreckung auf verdeckte Mängel in AGB.110 Wirksam kann in AGB ggü. Unternehmen die Rüge durch den Leasinggeber auf den Leasingnehmer verschoben werden.111 Der Ausschluss in Einkaufsbedingungen ist für offenkundige Mängel unwirksam, jedoch bei besonderen Interessen des Käufers zu rechtfertigen. Ein solches Interesse ist z.B. bei Ersetzung der Wareneingangskontrolle durch Qualitätssicherungsabreden regelmäßig anzuerkennen.112

V. Prozessuales 35

Der Verkäufer muss die Voraussetzungen der von ihm in Anspruch genommenen Verjährungsvorschrift darlegen und beweisen.113 Das gilt auch für die Nicht-Geltung längerer Verjährungsregeln.114 Im Falle der Arglist sind aber Erleichterungen nach den Grundsätzen zur sekundären Darlegungslast für den Käufer anerkannt: Da es um den Nachweis negativer Tatsachen geht, kann sich der Käufer im ersten Schritt darauf beschränken, die fehlende Offenbarung zu behaupten.115 Dann obliegt es im nächsten Schritt dem Verkäufer, die von ihm behauptete Aufklärung räumlich, zeitlich und inhaltlich näher zu konkretisieren oder entsprechend konkret darzulegen, aufgrund welcher Umstände er angenommen hat, der Käufer sei bereits hinreichend über den Mangel informiert gewesen.116 Der Käufer 103 Vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 76. 104 Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 7 ff. = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker; vgl. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 76 m.w.N. 105 Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 10 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 106 Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 37 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 107 Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 37 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 108 Vgl. BT-Drucks. 14/6040, 87, 226; vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 37 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 109 Vgl. Überblick bei Marly, Softwarerecht, Rz. 1892 ff. m.w.N. 110 Vgl. Baumbach/Hopt/Hopt, § 377 HGB Rz. 58 m.w.N., auch auf die Gegenansicht, nach der bei einer angemessenen, mängeltypischen Frist von der Zulässigkeit auszugehen sein kann. 111 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 1912 m.w.N. 112 Vgl. Baumbach/Hopt/, § 377 HGB Rz. 59 m.w.N. 113 Vgl. BGH v. 24.2.2016 – VIII ZR 38/15, NJW 2016, 2645 ff. Rz. 40 m.w.N. 114 Vgl. BGH v. 24.2.2016 – VIII ZR 38/15, NJW 2016, 2645 ff. Rz. 41 f. m.w.N. 115 Vgl. BGH v. 15.7.2011 – V ZR 171/10, NJW 2011, 3640 Rz. 18 m.w.N. zu § 444; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 119 m.w.N. 116 Vgl. BGH v. 12.11.2010 – V ZR 181/09, NJW 2011, 1280 Rz. 12 m.w.N.; BGH v. 15.7.2011 – V ZR 171/10, NJW 2011, 3640 Rz. 19 m.w.N., zu § 444; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 438 BGB Rz. 119 m.w.N.

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§ 439 BGB

Nacherfüllung

kann sich insoweit darauf beschränken, die vom Verkäufer konkret dargelegten Umstände auszuräumen.117

§ 439 Nacherfüllung (1) Der Käufer kann als Nacherfüllung nach seiner Wahl die Beseitigung des Mangels oder die Lieferung einer mangelfreien Sache verlangen. (2) Der Verkäufer hat die zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, insbesondere Transport-, Wege-, Arbeits- und Materialkosten zu tragen. (3) Hat der Käufer die mangelhafte Sache gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache eingebaut oder an eine andere Sache angebracht, ist der Verkäufer im Rahmen der Nacherfüllung verpflichtet, dem Käufer die erforderlichen Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften und den Einbau oder das Anbringen der nachgebesserten oder gelieferten mangelfreien Sache zu ersetzen. § 442 Absatz 1 ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass für die Kenntnis des Käufers an die Stelle des Vertragsschlusses der Einbau oder das Anbringen der mangelhaften Sache durch den Käufer tritt. (4) Der Verkäufer kann die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung unbeschadet des § 275 Abs. 2 und 3 verweigern, wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist. Dabei sind insbesondere der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand, die Bedeutung des Mangels und die Frage zu berücksichtigen, ob auf die andere Art der Nacherfüllung ohne erhebliche Nachteile für den Käufer zurückgegriffen werden könnte. Der Anspruch des Käufers beschränkt sich in diesem Fall auf die andere Art der Nacherfüllung; das Recht des Verkäufers, auch diese unter den Voraussetzungen des Satzes 1 zu verweigern, bleibt unberührt. (5) Liefert der Verkäufer zum Zwecke der Nacherfüllung eine mangelfreie Sache, so kann er vom Käufer Rückgewähr der mangelhaften Sache nach Maßgabe der §§ 346 bis 348 verlangen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahlrecht des Käufers (§ 439 Abs. 1) . . . . . Nachbesserung (§ 439 Abs. 1 Alt. 1) . . . . . Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 1 Alt. 2) . . . . . Ort der Nacherfüllung . . . . . . . . . . . . . Erforderliche Aufwendungen (§ 439 Abs. 2) . Ersatz für Ein- und Ausbauaufwendungen (§ 439 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Einschränkungen des Nacherfüllungsanspruchs (§ 439 Abs. 4) . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

1 3 3 5 7 8 9

. 10

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . 1. Nacherfüllung (§ 439 Abs. 1) . . . 2. Aufwendungen der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . 3. Verweigerung der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 4) . . . . . . . . . . . . 4. Rückgewähr mangelhafter Sache (§ 439 Abs. 5) . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . 16 . . . . . . . 16 . . . . . . . 17 . . . . . . . 18 . . . . . . . 19

IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

. 13

Literatur: Bacher, Ersatzlieferung nach Einbau der mangelhaften Kaufsache, MDR 2014, 629; Bartsch, Umfang der Nachbesserungspflicht und Arglisthaftung beim Systemvertrag, CR 2002, 254; Bauer/Witzel, Nacherfüllung beim Kauf von Standardsoftware, ITRB 2003, 109; Bischof/Schneider, BGH: Rückerstattung von Reparaturkosten bei nachträglich geltend gemachten Gewährleistungsrechten, CR 2009, 210; Conrad, Wege zum Quellcode, ITRB 2005, 12; Ernst, Kostentragung für Einbau und Installation im Gewährleistungsrecht, ITRB 2014, 169; Faust, Softwareschutz durch Produktaktivierung, K&R 2002, 583; Fuchs/Meierhöfer/Morsbach/Pahlow, Agile Programmierung – Neue Herausforderungen für das Softwarevertragsrecht?, MMR 2012, 427; Hecht, BGH: Mangelbeseitigung und Kosten für Fehlersuche bei unklarer Verantwortlichkeit, ITRB 2014, 169; Hecht/Becker, Unberechtigte Mängelrügen bei IT-Projekten, ITRB 2009, 59; Hilgert, Anmerkung zum Urteil des AG Bretten vom 21.1.2016 (1 C 362/15) – Zur Haftung eines Händlers für Mangelfolgeschäden bei mangelhafter Druckpatrone, MMR 2016, 239; Jaensch, Der Umfang der kaufrechtlichen Nacherfüllung, NJW 2012, 1025; Koch, Nacherfüllung – Hat der Kunde 117 Vgl. BGH v. 12.11.2010 – V ZR 181/09, NJW 2011, 1280 Rz. 12 m.w.N.

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BGB § 439 Rz. 1 Nacherfüllung eine Wahl?, ITRB 2003, 87; Koch, Schlechtleistung bei softwarebezogener Nacherfüllung, ITRB 20008, 131; Kremer, Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH, Urt. v. 2.9.2010 (VII ZR 110/09; CR 2011, 10) – zur Frage der Untersuchungspflicht und der Kostentragungspflicht im Falle unberechtigter Mangelbeseitigungsverlangen, CR 2011, 92; Mankowski, Nachbesserung und Verbesserung beim Kauf, NJW 2011, 1025; Mediger, Die Abdingbarkeit der Mängelhaftung beim Rückgriff des Verkäufers in AGB, NJW 2018, 577; Niclas, BGH: Unzulässige Ersatzlieferungsklausel bei Internet-Shops, ITRB 2006, 1; Redeker, BGH: Haftung des Verkäufers bei Nacherfüllung, CR 2008, 617; Schneider, Nacherfüllung bei IT-Verträgen, ITRB 2007, 24; Schneider, Pflege im Einsatz gegen Erschöpfung, CR 2011, 626; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Stiemerling/Schneider, Vertragliche Regelungen zum Antwortzeitverhalten interaktiver Computersysteme, CR 2011, 345; Wäßle/Gatzweiler, Die Mängelrüge bei Software, K&R 2010, 18; Woitkewitsch, Sofortiges Rücktrittsrecht bei mangelhafter Nacherfüllung innerhalb der Frist, MDR 2004, 862.

I. Allgemeines 1

§ 439 regelt die Modifikationen des Erfüllungsanspruchs1 in der Form der Nacherfüllung wegen mangelhafter Lieferung. Mit Gefahrübergang erhält der Käufer grundsätzlich die Wahl zwischen Nachbesserung (§ 439 Abs. 1 Alt. 1) und Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 1 Alt. 2) und die Regelverjährung (§§ 199, 195) wird durch diejenige nach § 438 verdrängt. Nach der Konzeption des Gesetzgebers ist die Nacherfüllung der vorrangige Anspruch des Käufers.2 Dieses „Recht zur zweiten Andienung“ schützt auch den Verkäufer (z.B. zur Untersuchung und Beweissicherung).3 Nicht mehr zur Nacherfüllung gehört die Beseitigung von Mangelfolgeschäden.4

2

Der Anspruch auf die Nacherfüllung ist mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz zur Umsetzung des Art. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie5 ins Deutsche Kaufrecht integriert worden. Im Anschluss an Rechtsprechung des EuGH6 sollen verallgemeinernd durch eine mangelhafte Kaufsache verursachte Ein- und Ausbaukosten mit Wirkung zum 1.1.2018 nach den Nacherfüllungsregeln zu ersetzen sein. Als Leitbild fungierte ein Handwerker, der werkvertraglich gegenüber dem Besteller leisten musste; diesem sollte der Rückgriff beim Lieferanten wegen der Ein- und Ausbaukosten bzgl. der mangelhaften Kaufsache eröffnet werden.7

II. Norminhalt 1. Wahlrecht des Käufers (§ 439 Abs. 1) 3

Der Käufer darf durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ggü. dem Verkäufer die Beseitigung des Mangels (Nachbesserung) oder Lieferung einer mangelfreien Sache (Ersatzlieferung) verlangen. Mit Zugang der wirksamen Erklärung ist der Käufer auf die gewählte Form der Nacherfüllung festgelegt, §§ 263 f.8

4

Das Nacherfüllungsverlangen muss hinreichend klar erfolgen und die Symptome des beanstandeten Mangels benennen.9 Die Ursache muss nicht benannt werden. Eine fehlerhaft benannte Ursache ist unschädlich. Verschiedentliche Anrufe eines Softwarekäufers bei einer Hotline genügen nur, wenn der

1 Vgl. BGH v. 17.10.2012 – VIII ZR 226/11, NJW 2013, 220 Rz. 24 = CR 2013, 16. 2 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 1 m.w.N. 3 Vgl. BGH v. 23.2.2005 – VIII ZR 100/04, NJW 2005, 1348, 1350; Überblick bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 439 BGB Rz. 5 m.w.N. 4 Vgl. AG Bretten v. 21.1.2016 – 1 C 362/15, juris Rz. 5; m. Anm. von Hilgert, MMR 2016, 239. 5 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 6 Vgl. EuGH v. 16.6.2011 – C 65/09 und C 87/09. 7 Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 18/8486, 25, 27 f. 8 Strittig: vgl. Überblick bei MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 4 m.w.N., der abweichend elektive Konkurrenz und damit die Freiheit des Käufers zur Änderung seiner Wahl in den Missbrauchsgrenzen des § 242 annimmt; wie hier OLG Celle v. 19.12.2012 – 7 U 103/12, NJW 2013, 2203, 2204. 9 Vgl. OLG Saarbrücken v. 29.5.2008 – 8 U 494/07, NJW 2009, 369, 370 m.w.N.

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Diedrich

Nacherfüllung

Rz. 7 § 439 BGB

Verkäufer unmissverständlich zur Mangelbeseitigung aufgefordert wurde.10 Der Käufer muss bereit sein, dem Verkäufer die Kaufsache zur Untersuchung zugänglich zu machen. Der Käufer darf die Untersuchung nicht von Erklärungen des Verkäufers abhängig machen.11 2. Nachbesserung (§ 439 Abs. 1 Alt. 1) Nachbesserung ist erfolgt, wenn die gelieferte Kaufsache vollständig mangelfrei wird.12 Eine Umge- 5 hungslösung (Workaround) bietet nur eine provisorische Nutzungsmöglichkeit und damit keine vom Käufer zu akzeptierende Fehlerbehebung.13 Eine Umgehungslösung bedeutet auch dann noch eine erhebliche Pflichtverletzung (§ 323 Abs. 5), wenn die Beeinträchtigung unerheblich ist, aber durch die Ersetzung der Umgehung mit der dauerhaften Lösung erhebliche Auswirkungen verursachen kann. Alte Mängel müssen vollständig beseitigt und neue Mängel dürfen nicht verursacht worden sein. Ist das absehbar nicht möglich, kann die Nachbesserung unzumutbar sein (s. Rz. 13). Der Verkäufer darf die Mittel der Nachbesserung wählen und muss den Käufer über durchgeführte Arbeiten informieren.14 Zur Nachbesserung gehört auch der Einbau der nachgebesserten Sache und die Beseitigung von Folgeschäden an der Kaufsache selbst. Nicht mehr geschuldet sind jedoch die Durchführung von Veränderungen, die der Käufer an der Sache bereits vorgenommen hatte, z.B. Einstellungen in einer vom Verkäufer ohne solche Pflichten gelieferten Software.15 Insoweit sind weitergehende vom Kunden vorgenommene Einstellungen von solchen Einrichtungsleistungen zu unterscheiden, die nach dem Kaufvertrag vom Verkäufer geschuldet waren (solche müssen auch im Zuge der Nachbesserung geleistet werden). Schulungen und Beratung, die zur Verwendbarkeit der mangelhaften Sache führen (z.B. in Form einer vertragswidrig fehlerträchtigen Benutzeranleitung einer Software), bewirken keine Nachbesserung, weil die Kaufsache damit als solche weiterhin nicht die vereinbarte Brauchbarkeit (unabhängig von solchen Personalleistungen) aufweist.16

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3. Ersatzlieferung (§ 439 Abs. 1 Alt. 2) Die alternativ vom Käufer forderbare Ersatzlieferung gilt für Stück- und Gattungskauf.17 Dem Verkäufer wird lediglich die Einwendung ermöglicht, den Anspruch bei Unzumutbarkeit abzuwenden, § 439 Abs. 4. Der BGH macht die grds. bestehende Möglichkeit der Ersatzlieferung beim Stückkauf 18 davon unabhängig, dass nach Auslegung des Kaufvertrags, §§ 133, 157, im Falle der Mangelhaftigkeit die Kaufsache durch eine gleichartige und gleichwertige ersetzt werden kann.19 Am Beispiel gebrauchter Sachen wird festgehalten, dass regelmäßig nach dem Parteiwillen keine Ersatzlieferung in Betracht kommen wird.20 Bei Hardware wird jedoch häufig Austauschbarkeit anzunehmen sein. Der Anspruch auf Ersatzlieferung umfasst auch Ausbau und Einbau der Sache sowie den Abtransport, soweit es um Verbrauchsgüterkauf geht.21 Im Übrigen werden diese Ansprüche bei Kaufverträgen zwischen Unternehmen nur unter den weiteren Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs ersetzt.22 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. OLG Köln v. 1.9.2003 – 19 U 80/03 – ZGS 2003, 392 zitiert nach juris Rz. 11. Vgl. BGH v. 10.3.2010 – VIII ZR 310/08, NJW 2010, 1448 Rz. 13. Vgl. Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 2, MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 10 m.w.N. Vgl. BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, NJW 1988, 406, 408 = CR 1988, 124. Vgl. Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 4; MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 4 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 3 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 3 m.w.N. für den Fall von persönlichen Erläuterungen, die eine mangelhafte Montageanleitung kompensieren sollen. S. BT-Drucks. 14/6040, 209. Vgl. BGH v. 7.6.2006 – VIII ZR 209/05, BGHZ 168, 64 Rz. 19 ff. mit Darstellung des Streitstandes und ausdrücklichem Verweis auf die gesetzgeberische Aufgabe der Unterscheidung zwischen Stück- und Gattungskauf. Vgl. BGH v. 7.6.2006 – VIII ZR 209/05, BGHZ 168, 6, Rz. 23 m.w.N. Vgl. Überblick bei MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 12 m.w.N. Vgl. BGH v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08, NJW 2012, 107, Rz. 49 ff. m.w.N.; BGH v. 17.10.2012 – VIII ZR 226/11, CR 2013, 16 = NJW 2013, 220, 222 Rz. 16 m.w.N. im Anschluss an EuGH v. 16.6.2011 – C-65/09, NJW 2011, 2269 ff. Vgl. BGH v. 2.4.2014 – VIII ZR 46/13, NJW 2014, 2184 Rz. 29 m.w.N.

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BGB § 439 Rz. 8 Nacherfüllung 4. Ort der Nacherfüllung 8

Nach § 269 hat die Nacherfüllung am Sitz des Schuldners bei Vertragsschluss zu erfolgen, wenn nichts abweichendes vereinbart oder aus der Natur des Schuldverhältnisses zu entnehmen ist (bei unternehmerisch begründeten Verträgen die gewerbliche Niederlassung, § 269 Abs. 2). Abseits des Verbrauchsgüterkaufs ist strittig, ob der Käufer die Kaufsache an ihrem nach Vertrag bestimmungsgemäßen Ort in einer Form zur Verfügung stellen muss, die den Transport durch den Verkäufer ermöglicht (z.B. bei Telematik-Hardware, die vertragsgemäß verbaut wurde).23 Dem ist zu folgen. Etwaige Aufwände für den Verkäufer sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeit von Kosten nach § 439 Abs. 4 zu berücksichtigen. 5. Erforderliche Aufwendungen (§ 439 Abs. 2)

9

§ 439 Abs. 2 bildet eine Anspruchsgrundlage, aus der der Käufer verschuldensunabhängig Ersatz von zur Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen verlangen kann.24 Dazu gehören Aufwendungen zur Vorbereitung tatsächlich bestehender Mängelansprüche, z.B. zum Auffinden des Mangels durch ein Sachverständigengutachten (auch bei späterer Minderung).25 Von § 439 Abs. 2 und 3 abgesehen sind Aufwendungen des Käufers nur unter den Voraussetzungen des Schadensersatzes wegen Nichterfüllung ersatzfähig, §§ 280, 281.26 Zum Schutz des Rechts des Verkäufers auf zweite Andienung kann der Käufer auch aus sonstigen Rechtsgründen keine Erstattungsansprüche für seine Aufwendungen herleiten. § 437 wirkt insoweit abschließend.27 Die Kosten des Ein-/Ausbaus der Kaufsache kann der Käufer nach Einfügung des § 439 Abs. 3 für Nachlieferung und Nachbesserung gleichermaßen verschuldensunabhängig ersetzt verlangen.28 Erforderlich sind jeweils geltend gemachte Aufwendungen, die ein vernünftiger, wirtschaftlich denkender Auftraggeber aufgrund sachkundiger Beratung oder Feststellung für eine vertretbare, d.h. geeignete und Erfolg versprechende Maßnahme zur Mängelbeseitigung erbringen konnte und musste.29 Die zur Erforderlichkeit beim Selbstvornahmerecht nach § 637 entwickelten Grundsätze sind entsprechend anzuwenden.30 6. Ersatz für Ein- und Ausbauaufwendungen (§ 439 Abs. 3)

10

Die mangelhafte Kaufsache muss gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache eingebaut oder an eine andere Sache angebracht worden sein. Die im Gesetzgebungsverfahren eingefügte Alternative des „Anbringens“ der Kaufsache an einer anderen Sache sollte konkretisieren, dass ein weites Verständnis einer Verbindung mit anderen Sachen erfasst wird.31 Danach umfasst der Nacherfüllungsanspruch auch die erforderlichen Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften und den Einbau oder das Anbringen der nachgebesserten oder neu gelieferten mangelfreien Sache, § 439 Abs. 3 Satz 1. Der Schutz des Käufers soll auf die bestimmungsgemäße Verwendung beschränkt sein.32 Ausgegrenzt werden Verwendungen, die objektiv oder nach den Vereinbarungen der Parteien nicht zum Verwendungszweck gehören sollten. Die Tatbestandsvoraussetzung soll die Vorhersehbarkeit für den Verkäufer sichern.33 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 7 m.w.N. Vgl. BGH v. 30.4.2014 – VIII ZR 275/13, NJW 2014, 2351 Rz. 11. Vgl. BGH v. 30.4.2014 – VIII ZR 275/13, NJW 2014, 2351 Rz. 14 ff. Vgl. Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 14 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 13. Vgl. BGH v. 10.3.2010 – VIII ZR 310/08, Rz. 12; BGH v. 7.12.2005 – VIII ZR 126/05, NJW 2006, 988 Rz. 14 m.w.N.; BGH v. 21.12.2005 – VIII ZR 49/05, Rz. 18; Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 14 m.w.N. Vgl. BT-Drucks. 123/16, 39: „Durch die Regelung wird die ausdehnende Anwendung des Nacherfüllungsanspruchs durch den EuGH für sämtliche Kaufverträge und für beide Arten der Nacherfüllung (Beseitigung des Mangels und Lieferung einer mangelfreien Sache) umgesetzt.“; Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 6 m.w.N. Vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz BT-Drucks. 18/11437, 41 unter Verweis auf BGH v. 31.1.1991 – VII ZR 63/90, NJW-RR 1991, 789; Schulze/Saenger, § 439 BGB Rz. 8 m.w.N. Vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz BT-Drucks. 18/11437, 41. Vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz BT-Drucks. 18/11437, 41. Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 18/8486, 39 f. Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 18/8486, 39; Looschelders, JA 2018, 81, 83 m.w.N.

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Diedrich

Nacherfüllung

Rz. 15 § 439 BGB

Zur Beurteilung des Verwendungszwecks bei Software sind nicht nur dingliche Nutzungsbeschränkungen sondern auch sonstige Pflichten zu berücksichtigen, die der Verkäufer durch (AGB-)wirksame Vereinbarungen dem Käufer auferlegt (z.B. Ausschluss des Einsatzes für die Integration in besonders riskanten Anwendungsfeldern wie Maschinensteuerung, Embedded Systems, Verbot des Einbaus in Gebäuden etc.).

11

Kenntnis und grob fahrlässige Unkenntnis des Käufers vom Mangel schließen den Anspruch nach den Regeln des § 442 Abs. 1 aus. Maßgeblich ist jedoch nicht der Zeitpunkt des Vertragsschlusses sondern der des Einbaus oder Anbringens, § 439 Abs. 3 Satz 2. Die Regelung wirkt abschließend, so dass in ihrem Anwendungsbereich bei einfacher Fahrlässigkeit des Käufers keine Anspruchseinschränkungen aus § 254 begründet werden können.34

12

7. Einschränkungen des Nacherfüllungsanspruchs (§ 439 Abs. 4) Der Verkäufer kann die gewählte Art der Nacherfüllung bei Unmöglichkeit, § 275 Abs. 2 und 3, und 13 bei unverhältnismäßigen Kosten verweigern, § 439 Abs. 4 Satz 1. Unzumutbar ist auch eine bloße Verbesserung, soweit es bei Restmängeln der Kaufsache bleiben wird und der Käufer nicht erklärt, er werde nach erfolgreicher Verbesserung keine weiteren Ansprüche mit Blick auf den jeweils gerügten Mangel stellen. Anderenfalls drohen dem Verkäufer weiterhin Rücktritt und Minderung.35 Unmöglichkeit ist nach allgemeinen Regeln zu beurteilen. Sind beide Arten der Nacherfüllung unmöglich, kann der Käufer ohne Nachfristsetzung die weiteren Rechte (Rücktritt, Minderung und Schadensersatz statt der Leistung) geltend machen, §§ 326 Abs. 5, 283 Satz 1. Auf Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 kann zurückzugreifen sein, wenn eine Nachbesserung zwar grundsätzlich möglich ist, es aber feststeht, dass zahlreiche weitere Prüfungen und voraussichtlich umfangreiche Nacherfüllung erforderlich sein werden. Ist damit der Aufwand letztlich unabsehbar, kann ein Ausschluss nach § 275 Abs. 2 begründet sein.36 Das ist bei Nachbesserung unreifer Software regelmäßig anzunehmen.

14

Die Unverhältnismäßigkeit der Kosten hängt von einer Abwägung im Einzelfall ab. Maßgeblicher 15 Ausgangspunkt ist der Wert der Kaufsache in mangelfreiem Zustand und die Bedeutung des Mangels. Um das Äquivalenzverhältnis des Kaufvertrages aufrechtzuerhalten, ist der Wert der Kaufsache und nicht der Kaufpreis zu berücksichtigen. Weiter ist Vertretenmüssen des Verkäufers beachtlich.37 Ist bereits eine Form der Nacherfüllung ausgeschlossen, so sind höhere Anforderungen an die Unverhältnismäßigkeit zum Ausschluss der verbleibenden Form der Nacherfüllung zu stellen. Aus einer AGBFormulierung, dass Software niemals fehlerfrei ist, kann nicht auf einen Vergleichsmaßstab im Wert einer teilweise fehlerhaften Software geschlossen werden (keine wirksame Leistungsvereinbarung, § 307). Im Sinne einer Faustformel der Zumutbarkeit werden vorbehaltlich der jeweils erforderlichen Abwägung im Einzelfall folgende Kriterien als erste Anhaltspunkte diskutiert (die Gesamtumstände sind maßgeblich, insb. Vertretenmüssen des Verkäufers)38: Eine Nacherfüllung ist jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn ihre Kosten 150 % des Wertes der mangelfreien Sache oder 200 % des mangelbedingten Minderwertes übersteigen (bzgl. Verkehrswert eines Grundstücks);39 eine Kraftfahrzeugreparatur ist bei Überschreitung von 130 % des Wiederbeschaffungswerts verhältnismäßig;40 eine Art der Nacherfüllung ist vom Käufer unverhältnismäßig gewählt, wenn sie mindestens 10 % teurer als die andere Art der Nacherfüllung ist.

34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Looschelders, JA 2018, 81, 83 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 439 BGB Rz. 2 m.w.N. Vgl. BGH v. 22.6.2005 – VIII ZR 281/04, NJW 2005, 2852, 2854 m.w.N. Zur entsprechenden Fragestellung bei § 633 Abs. 2 Satz 3 a.F.: BGH v. 23.2.1995 – VII ZR 235/93 Rz. 9. Vgl. BGH v. 4.4.2014 – V ZR 275/12, NJW 2015, 265 Rz. 45 m.w.N. Vgl. BGH v. 4.4.2014 – V ZR 275/12, NJW 2015, 265 Rz. 41 m.w.N. Vgl. BGH v. 4.4.2014 – V ZR 275/12, NJW 2015, 265 Rz. 43 m.w.N.

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BGB § 439 Rz. 16 Nacherfüllung

III. Rechtsfolgen 1. Nacherfüllung (§ 439 Abs. 1) 16

Der Käufer kann zwischen Nachbesserung und Ersatzlieferung wählen. Erfolgt die Nacherfüllung innerhalb angemessener Frist, ist die Verfolgung weiterer Ansprüche des Käufers ausgeschlossen. Wegen einer unberechtigten Mängelrüge (z.B. bei einer Software mit Schnittstellen zu einigen Umfeldsystemen) haftet der Käufer nach allgemeinen Regeln nur dann, wenn er mindestens fahrlässig nicht erkennt, dass der gerügte Mangel in seinem Verantwortungsbereich liegt.41 Insoweit ist der vertraglich vorausgesetzte Gebrauch für die zu erwartende Sorgfalt der Untersuchung zu berücksichtigen, etwa wenn die betrieblichen Erfordernisse für Mängelbeseitigungszeiten eine sehr kurzfristige Ansprache aller potentiell Verantwortlichen erfordert, die die in Betracht kommenden IT-Leistungen entstören könnten. 2. Aufwendungen der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 2)

17

Der Verkäufer trägt die zum Zwecke der Nacherfüllung erforderlichen Aufwendungen, § 439 Abs. 2. Der Käufer hat einen Erstattungsanspruch gegen den Verkäufer für eigene Aufwendungen, für den die Verzinsungsregeln des § 256 gelten. Beispielhaft ist auf Transport-, wege-, Arbeits- und Materialkosten verwiesen. Der Anspruch wird erweitert auf erforderliche Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften und den Einbau oder das Anbringen der nachgebesserten oder gelieferten mangelfreien Sache, § 439 Abs. 3 Satz 1. Erforderlich sind Aufwendungen nur, wenn Möglichkeiten zur effizienten Gestaltung genutzt werden. Für Software ist insb. an die per Datenfernübertragung vorgenommene Verteilung von Softwareaktualisierungen zu denken. Technisch mögliche Abläufe können aber gleichwohl unzumutbar sein, wenn etwa sachliche Belange des Datenschutzes oder der Informationssicherheit eine Korrektur von Software durch vor Ort handelndes Personal erfordern. 3. Verweigerung der Nacherfüllung (§ 439 Abs. 4)

18

Liegen die Voraussetzungen des § 439 Abs. 4 Satz 1 vor, kann der Verkäufer dies als Einrede geltend machen, bevor der Käufer seine sekundären Rechte ausgeübt hat. Hat der Käufer wirksam Rücktritt, Minderung oder Schadensersatz statt der Leistung geltend gemacht, kann die Einrede nicht mehr geltend gemacht werden. Der Käufer muss abwarten, ob der Verkäufer die Einrede erheben will. Dem Verkäufer steht es frei, auch unverhältnismäßige Anstrengungen zur Nacherfüllung zu unternehmen. 4. Rückgewähr mangelhafter Sache (§ 439 Abs. 5)

19

Der Verkäufer kann vom Käufer Zug um Zug gegen Lieferung der mangelfreien Sache die Rückgewähr der mangelhaften Kaufsache verlangen. Nach allgemeinen Regeln hat der Käufer zusätzlich gezogene Nutzungen herauszugeben, § 346 Abs. 1.42

IV. Abdingbarkeit 20

Die Regeln zur Nacherfüllung sind im Individualvertrag zwischen Unternehmen in den Grenzen der Arglist nach § 444 abdingbar. In Verbraucherverträgen gelten die zwingenden Vorgaben aus §§ 476, 474. In AGB kann der Käufer kein Recht zur Selbstbeseitigung vorsehen.43 Es gilt ein Klauselverbot ohne Wertungsmöglichkeit, soweit bzgl. Aufwendungen bei Nacherfüllung die Verfplichtung des Verwenders ausgeschlossen oder beschränkt wird, die zum Zweck der nacherfüllung erforderlichen Aufwandungen nach § 439 Abs. 2 und 3 zu tragen oder zu ersetzen, § 309 Nr. 8 b) cc). Diese Einschränkungen

41 Vgl. BGH v. 23.1.2008 – VIII ZR 246/06, NJW 2008, 1147 Rz. 13 = CR 2008, 278. 42 Vgl. zur Diskussion über eine teleologische Reduktion des Verweises auf die Regeln über die Herausgabe von Nutzungen den Überblick bei jurisPK BGB/Pammler, § 439 Rz. 136 ff. m.w.N. 43 Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 49 Rz. 26 f. = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker.

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Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz

§ 440 BGB

gelten bis auf unerhebliche oder anderweitig kompensierte Einschränkungen auch im unternehmerischen Verkehr.44 Strittig ist, ob in Verkäufer-AGB mit Blick auf § 377 HGB wirksam vereinbart werden kann, dass die Untersuchung der Kaufsache vor Einbau oder Anbringen erfolgen muss. Für die Wirksamkeit solcher Verkäufer-AGB wird auf den wirtschaftlichen Vorteil einer solchen frühzeitigen Untersuchung und deren Zumutbarkeit verwiesen.45 Gegen die generelle Wirksamkeit solcher AGB spricht, dass gerade bei schnelllebig aktualisierten Produkten wie Software – abhängig von den jeweiligen Verhältnissen und technischen Möglichkeiten – nur eine unmittelbare Verwendung der Kaufsache wahrscheinlich oder praktikabel ist. Umfangreiche Testaufbauten auf allen Handelsstufen erscheinen häufig wirklichkeitsfremd und mit dem Geschäftsmodell (regelmäßig auch vom Verkäufer geförderten) wirtschaftlich unvereinbar.

V. Prozessuales Der Verkäufer hat zu beweisen, dass die Voraussetzungen der Einwendungen gegen die Nacherfüllungsansprüche nach Abs. 3 vorliegen (Unmöglichkeit, Unverhältnismäßigkeit).46

§ 440 Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz Außer in den Fällen des § 281 Abs. 2 und des § 323 Abs. 2 bedarf es der Fristsetzung auch dann nicht, wenn der Verkäufer beide Arten der Nacherfüllung gem. § 439 Abs. 4 verweigert oder wenn die dem Käufer zustehende Art der Nacherfüllung fehlgeschlagen oder ihm unzumutbar ist. Eine Nachbesserung gilt nach dem erfolglosen zweiten Versuch als fehlgeschlagen, wenn sich nicht insbesondere aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen etwas anderes ergibt. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ernsthafte und endgültige Verweigerung der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 1 und 2) . . . 2. Verweigerung beider Arten der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fehlschlagen der dem Käufer zustehenden Art der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 4); Vermutung (§ 440 Satz 2) . . . . . . . . . . . . 4. Unzumutbarkeit der dem Käufer zustehenden Art der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 5) . .

1 2 2 3

4

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Schadensersatzansprüche – Abgrenzung . . . . 10 2. Gesamtrücktritt – Einheit verschiedener Kaufsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . . 15 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . . . 16 V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

6

Literatur: Ayad/Hesse, Anmerkung zur Rechtsprechung des BGH zur Rolle des europäischen Rechts beim Rücktritt von einem Kaufvertrag und Geltendmachung von Nutzungsersatz durch den Verkäufer, BB 2010, 210; Bartsch, BGH: Leistungsaufforderung im IT-Projektvertrag, CR 2010, 777; Redeker, Rechtsmängel – Voraussetzungen, Garantien und Rechtsfolgen, ITRB 2004, 84; Redeker, Wirksame Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Mängelhaftung, ITRB 2004, 163; Redeker, Rücktritt vom gescheiterten Softwareprojekt, ITRB 2016, 212; Schuster, Haftung, Aufwendungsersatz und Rückabwicklung bei IT-Verträgen, CR 2011, 215; Weller, Die Verantwortlichkeit des Händlers für Herstellerfehler, NJW 2012, 2312; Woitkewitsch, Sofortiges Rücktrittsrecht bei mangelhafter Nach-

44 Vgl. Überblick bei MünchKomm/Wurmnest, § 309 BGB Rz. 61 f. m.w.N.; Mediger, NJW 2018, 577, 580. 45 Vgl. Mediger, NJW 2018, 577, 580. 46 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 439 BGB Rz. 30 m.w.N.

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21

BGB § 440 Rz. 1 Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz erfüllung innerhalb der Frist, MDR 2004, 862; Woitkewitsch, Das Rücktrittsrecht des Käufers gem. §§ 437 Nr. 2, 440, 323 BGB, MDR 2005, 1268.

I. Allgemeines 1

§ 440 gewährt dem Käufer für das Kaufrecht zusätzliche Ausnahmen vom Grundsatz des Vorrangs der Nacherfüllung. § 440 setzt Art. 3 Abs. 5 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie1 um, der das Recht zur Vertragsauflösung vorsieht, wenn der Verkäufer nicht (i) innerhalb einer angemessenen Frist und (ii) ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Käufer Abhilfe geschaffen hat. Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wird mit Wirkung zum 1.1.2022 durch die Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs vom 20.5.2019 ersetzt (Art. 23 Abs. 1 Warenkaufrichtlinie).2 Parallel ist die Richtlinie zu Verträgen über digitale Inhalte und digitale Dienstleistungen vom 20.5.2019 (Digitaldienstleistungsrichtlinie)3 ins nationale Recht umzusetzen. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinien bis zum 1.7.2021 in nationales Recht umzusetzen und ab 1.1.2022 anzuwenden, Art. 24 Abs. 1 und 2 Warenkaufrichtlinie, Art. 24 Abs. 1 Digitaldientleistungsrichtlinie. Die Richtlinien zielen bis auf wenige Ausnahmen auf eine Vollharmonisierung ab. Nach den bislang auf die vereinheitlichung schuldrechtlicher Regeln ausgerichteten Umsetzungsgesetzen ist eine Umsetzung über Verbraucherverträge hinaus zu erwarten.

II. Norminhalt 1. Ernsthafte und endgültige Verweigerung der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 1 und 2) 2

Insoweit gelten die allgemeinen Voraussetzungen, §§ 281 Abs. 2, 323 Abs. 2, 440 S. 1. Sie liegen unabhängig von bestimmten Gründen der Verweigerung nur vor, wenn der Schuldner im Sinne eines „letzten Wortes“ deutlich macht, dass er die Nacherfüllung nicht leisten wird (s. § 323 Rz. 34 ff.). 2. Verweigerung beider Arten der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 3)

3

Verweigert der Verkäufer Nachleistung und Nachbesserung nach § 439 Abs. 4 wegen Unverhältnismäßigkeit, ist eine weitere Fristsetzung zwecklos. Das gilt angesichts der Regelungsalternative „Unzumutbarkeit für den Käufer“ in § 440 Satz 1 Alt. 5 auch dann, wenn die Unzumutbarkeit tatsächlich nicht anzunehmen ist.4 Gleichfalls unter den insoweit erweiternd zu interpretierenden Wortlaut sind nach dem Zweck der Regelung Fälle zu fassen, in denen der Verkäufer nur die verbleibende (mögliche) Art der Nacherfüllung verweigert.5 3. Fehlschlagen der dem Käufer zustehenden Art der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 4); Vermutung (§ 440 Satz 2)

4

Fehlschlagen bedeutet, dass der Nacherfüllungsversuch des Verkäufers bezogen auf die jeweils maßgebliche Art der Nacherfüllung (i) unangemessen verzögert wird oder (ii) der Versuch gescheitert ist. Für Einzelheiten lässt sich auf die Rspr. zum „Fehlschlagen“ nach § 11 Nr. 10 Buchst. b AGBG a.F. zu-

1 RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter; Modifikationen sind nach Art. 8 Abs. 2 RL 1999/44/EG zulässig, da sie den Käufer begünstigen. 2 S. RL (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs, zur Änderung der Verordnung (EU) 2017/2394 und der Richtlinie 2009/22/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. Nr. L 136, 28. 3 S. RL (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. Nr. L 136, 1. 4 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 440 BGB Rz. 6 m.w.N.; Erman/Grunewald, § 440 BGB Rz. 2 m.w.N.; a.A. jurisPK BGB/Pammler, § 440 Rz. 21. 5 Vgl. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 440 BGB Rz. 6 ff. m.w.N.; jurisPK BGB/Pammler, § 440 Rz. 22.

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Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz

Rz. 6 § 440 BGB

rückgreifen.6 Ein Fehlschlagen der Nachbesserung ist nicht gegeben, wenn die Nachbesserung den gerügten Fehler zwar behoben hat, die Kaufsache aber anderweitig – nach Gefahrübergang – durch die Nachbesserung beschädigt wurde.7 Rügt der Käufer mehrere Mängel, muss der Verkäufer sämtliche gerügten Mängel vollständig behoben haben, um das Fehlschlagen der Nacherfüllung zu vermeiden. Treten jedoch nach erfolgter Nacherfüllung neue, zunächst nicht gerügte Mangelsymptome auf, so ist dem Verkäufer erneut Gelegenheit zur Nacherfüllung zu geben. Wiederholte Anrufe des Käufers bei einer „Service Hotline“ des Verkäufers stellen für sich genommen keine Fristsetzung dar und begründen nicht das Fehlschlagen der Nacherfüllung.8 Bei Nachbesserung gilt die Nacherfüllung nach dem zweiten vom Verkäufer unternommenen vergeb- 5 lichen Versuch der Herstellung des vollständig vertragsgemäßen Zustandes als gescheitert, § 440 Satz 2, wenn sich nicht insb. aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen des Einzelfalls etwas anderes ergibt. Der Gesetzgeber hat die Zumutbarkeit der jeweils erforderlichen Zeit für den Käufer hervorgehoben.9 Es geht um eine Prognose, ob der Verkäufer zur Nachbesserung in der Lage ist.10 Unzumutbarkeit der Nachbesserung kann sich zwar auch aus der begründeten Berüchtung ergeben, die Sache werde trotz der Nacherfüllung nicht mangelfrei sein. Erforderlich sind dafür konkrete Anhaltspunkt im Zeitpunkt des Rücktritts (über pauschale Behauptungen und nicht geklärte Langzeitfolgen hinaus).11 In diesem Rahmen ist dem Verkäufer nach den Umständen des Einzelfalls gerade bei komplexen Kaufgegenständen (wie Soft- und Hardware) die Gelegenheit zur zweifachen Nacherfüllung zu geben.12 Das kann für die Gewährung eines dritten Versuchs sprechen, wenn ein Mangel schwer zu beheben ist oder bei vorangegangenen Versuchen ungewöhnlich widrige Umstände gewirkt haben.13 Bei Ersatzlieferung ist die Nacherfüllung gescheitert, wenn die gelieferte Sache denselben oder einen anderen, neuen Mangel aufweist und zu befürchten ist, dass die zweite Ersatzlieferung auch mangelhaft sein werde.14 Dem Käufer steht die von ihm unter den verfügbaren Arten gewählte Art der Nacherfüllung zu, d.h. bei Auswahl entscheidet der Käufer. Reduziert sich die Auswahl wegen Unmöglichkeit oder erhobener Einrede der Unverhältnismäßigkeit, ist nur die verbleibende Art der Nacherfüllung maßgeblich. 4. Unzumutbarkeit der dem Käufer zustehenden Art der Nacherfüllung (§ 440 Satz 1 Alt. 5) Unzumutbarkeit der Nacherfüllung ist nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 der einheitlich mit Wir- 6 kung auch für den unternehmerischen Verkehr umgesetzten Verbrauchsgüterkaufrichtlinie15 gegeben, wenn die Abhilfe durch den Verkäufer erhebliche Unannehmlichkeiten für den Käufer schafft. Maßgeblich ist also die Perspektive des Käufers. Bei sicherheitsrelevanten Mängeln sind strenge Maßstäbe anzulegen, nach denen bereits eine Verzögerung bzgl. der Untersuchung eines nicht reproduzierbaren (sporadisch auftretenden) Mangels die Unzumutbarkeit begründet.16 Beispielsweise ist zu berücksichtigen, ob der Käufer die Sache kurzfristig benötigt und welche Qualitätserwartungen der Kaufvertrag begründet. Ist es nach den Gesamtumständen berechtigt, dass der Käufer das Vertrauen in die Bereitschaft zur Nacherfüllung oder die Fähigkeit zur Nacherfüllung verliert, so ist die Nacherfüllung unzumutbar. Das kann sich aus einer Vielzahl von Mängeln ergeben. Für komplexe IT-Systeme ist inso-

6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. LG Bonn v. 30.10.2003 – 10 O 27/03, NJW 2004, 74, 75 m.w.N.; BT-Drucks. 14/6040, 233. Vgl. OLG Saarbrücken v. 25.7.2007 – 1 U 467/06, NJW 2007, 3503, 3504. Vgl. OLG Köln v. 1.9.2003 – 19 U 80/03, OLGReport Köln 2003, 319 = juris Rz. 11 ff. S. BT-Drucks. 14/6040, 234. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 440 BGB Rz. 8; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 440 BGB Rz. 20 m.w.N. Vgl. OLG Saarbrücken v. 28.8.2019 – 2 U 94/18, NJW-RR 2019, 1453 Rz. 29 m.w.N. Vgl. BGH v. 15.11.2006 – VIII ZR 166/06, NJW 2007, 504 Rz. 15; OLG Saarbrücken v. 29.5.2008 – 8 U 494/07, NJW 2009, 369, 371 m.w.N. Staudinger/Matusche-Beckmann, § 440 BGB Rz. 18; OLG Saarbrücken v. 29.5.2008 – 8 U 494/07, NJW 2009, 369, 371 m.w.N.; a.A. Erman/Grunewald, § 440 BGB Rz. 7 m.w.N. Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 440 BGB Rz. 7 m.w.N. S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. Vgl. BGH v. 26.10.2016 – VIII ZR 240/15, NJW 2017, 153 Rz. 24 f. m.w.N.

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BGB § 440 Rz. 6 Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz weit zu berücksichtigen, welche Mangelhäufigkeit nach üblichen Maßstäben oder auch den Vereinbarungen der Parteien zu erwarten war. 7

Unzumutbarkeit ergibt sich jedoch nicht allein aus der Nachbesserung anderer Mängel. Der Verkäufer hat grundsätzlich wegen jedes mangels Gelegenheit zur Nachbesserung.17 Unzumutbarkeit kann jedoch anzunehmen sein, wenn der bisherige Geschehensablauf aus Sicht eines verständigen Käufers bei wertender Prognose die Annahme rechtfertigt, dass die Kaufsache auch künftig nicht über längere Zeit frei von herstellungsbedingten Mängeln sein wird.18 Auch insoweit ist jedoch ein Vergleich mit den nach dem Kaufvertrag vom Kaufgegenstand zu erwartenden Maßstäben entscheidend (z.B. mit Blick auf die Reife einer Software, den Verkauf als Softwareprodukt oder als Neuentwicklung etc.). Unzumutbar kann beispielsweise eine weitere Zusammenarbeit mit einem Verkäufer von IT-Leistungen sein, das (i) als Fachunternehmen Leistungen für geschäftskritische IT-Systeme erbringt und (ii) durch vermeidbar aufgetretene Lieferungen von Schadsoftware Zweifel an der Umsetzung üblicher Sicherheitsvorkehrungen begründet.

8

Regelmäßig wird der arglistige Verkäufer nicht durch eine Fristsetzung zur Nacherfüllung geschützt, weil er im Bewusstsein des Mangels bereits (vor Entdeckung durch den Käufer) gegen eine Beseitigung entschieden hatte.19 Das gilt insb:, wenn der Verkäufer an einer Nachbesserung beteiligt wäre.

III. Rechtsfolgen 9

Liegen die Voraussetzungen des § 440 vor, ist für Rücktritt und Schadensersatz die Fristsetzung entbehrlich. Dem Käufer bleibt es jedoch unbenommen, weiterhin Nacherfüllung zu verlangen, bis er seine Rechte auf Rücktritt, Minderung oder Schadensersatz statt der Leistung ausgeübt hat. Zur Durchführung des Rücktritts muss der Käufer die empfangenen Leistungen zurückgewähren (s. § 346 Rz. 37 ff.). Insoweit sind bei weiterverkaufter Software im Rahmen der Rückgewähr die Anforderungen zu erfüllen, die auch im Übrigen für den Erwerb „gebrauchter“ Software gelten (insb: bezogen auf den Nachweis der Löschung vormaliger Kopien). Der Rückzahlungsanspruch des Käufers kann nach § 346 Abs. 2 Satz 1 vollständig gegen Wertersatzansprüche aufzuheben sein.20 1. Schadensersatzansprüche – Abgrenzung

10

Bezogen auf Schadensersatzansprüche gilt allgemeines Leistungsstörungsrecht mit den Modifikationen aus § 440 (s. § 280 Rz. 11 ff.). Sonstige Anspruchsgrundlagen bleiben unberührt, insb: Verzugsansprüche nach § 286 (Schadensersatz neben Rücktritt, § 325). Für die Anwendbarkeit der über §§ 437, 440 begründeten Schadensersatzansprüche ist zu unterscheiden: Mangelschäden können als Schadensersatz statt der Leistung verlangt werden, §§ 280 Abs. 1, 281, 283, 311a. Mangelfolgeschäden an anderen Rechtsgütern des Käufers als der Kaufsache können nach § 280 Abs. 1 gefordert werden. Mangelbedingte Nutzungsausfallschäden kann der Käufer nach den §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1 auch bei Festhalten am Vertrag verlangen.21 Behebt die Nachbesserung den Mangel, bewirkt sie aber eine anderweitige Beschädigung der Kaufsache, greift der allgemeine Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer Schutzpflicht ein, §§ 280 Abs. 1, 281, 241 Abs. 2 (Schadensersatz statt der Leistung nur unter den Voraussetzungen fehlender Zumutbarkeit des § 282).

17 Vgl. BGH v. 29.6.2011 – VIII ZR 202/10, NJW 2011, 2872 Rz. 17 m.w.N. 18 Vgl. BGH v. 23.1.2013 – VIII ZR 140/12, NJW 2013, 1523 Rz. 26 m.w.N. im Zusammenhang mit Qualitätsmängeln eines sog. „Montagsauto“. 19 Vgl. BGH v. 9.1.2008 – VIII ZR 210/06, Rz. 19 f. m.w.N., für Rücktritt und Minderung. 20 Vgl. OLG Koblenz v. 24.9.2015 – 1 U 1331/13, CR 2016, 496, 497, für Rücktritt vom Werkvertrag über ein Softwareprojekt soll der Käufer die zurückzugebenden Leistungen zu spezifizieren und im Übrigen die Wertlosigkeit nicht rückgewährbarer aber vom Verkäufer als werthaltig dargelegter Leistungen zu beweisen haben (nicht rechtskräftig). 21 Vgl. BGH v. 16.9.2009 – V ZR 93/08, NJW 2009, 2674 Rz. 12 m.w.N.

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Rz. 12 § 440 BGB

2. Gesamtrücktritt – Einheit verschiedener Kaufsachen Gesamtrücktritt für weitere Kaufsachen, ist nur zulässig, soweit (i) die rechtliche Einheit des Kauf- 11 vertrags festzustellen ist und (ii) der Käufer an der Teilleistung kein Interesse hat, § 323 Abs. 5 Satz 1. Die rechtliche Einheit verschiedener Kaufsachen in einem Kaufvertrag ist vereinbart (z.B. bzgl. verschiedener Softwaremodule, Hardware, sonstiger Elemente eines Systemvertrages), wenn die Abreden über die Kaufsachen nach den Vorstellungen der Parteien miteinander „stehen und fallen“ sollen.22 Der Wille zur rechtlichen Einheit muss – für die andere Partei mindestens erkennbar und hingenommen – bestanden haben und über eine bloße wirtschaftliche Verknüpfung hinausgehen.23 Die Einheitlichkeit kann verschiedene Vertragstypen24 und Rechtsgeschäfte in verschiedenen Urkunden umfassen, die auch zeitlich auseinanderfallen können und an denen nicht jeweils dieselben Parteien beteiligt25 sein müssen. Für in einer Urkunde verbundene Vereinbarungen wird die Einheitlichkeit vermutet.26 Fehlen ausdrückliche Vereinbarungen, muss durch Auslegung anhand der Gesamtumstände ein Zusammenhang festgestellt werden.27 Die Einheitlichkeit kann sich insb. aus technischen oder rechtlichen Gründen ergeben.28 Hinweise auf Einheitlichkeit ergeben sich z.B. durch die Funktion zur Lösung eines einheitlichen Problems und die durch eine Trennung verursachten wirtschaftlichen Nachteile.29 Danach können Mängel im Softwarepflegevertrag oder einer Schulungsvereinbarung einen Gesamtrücktritt inkl. des Softwareliefervertrags bewirken.30 Beispiele für im Rahmen der Einzelfallabwägung über die Einheitlichkeit relevante Faktoren: Gegen 12 die Einheitlichkeit spricht die Vereinbarung in getrennten Urkunden; die Vereinbarung getrennt bepreister und zu liefernder Module in einer Urkunde kann jedoch genügen;31 die Verwendung von Standard-Hard- und Software;32 Vereinbarung eines auf Software beschränkten freien Rückgaberechts;33 keine Wirkung haben insoweit Verkäufer-AGB wegen des Vorrangs der (konkludenten) Individualabrede, § 305b;34 die Nutzung mangelfreier Software mit einer anderweitig beschafften Hardware;35 nachträgliche Vereinbarungen über Reduzierung des Umfangs einer Anwendungssoftware.36 Für die Einheitlichkeit spricht das Interesse an der Paketleistung eines Käufers mit mangelnder Sachkenntnis;37 wirtschaftliche Nachteile des Käufers im Falle einer Teilung verkaufter Sachgesamtheiten;38 die feste Verbindung in einer Sache i.S.d. § 93, wenn eine Trennung nach objektiven Maßstäben eine Zer-

22 Vgl. BGH v. 30.3.2011 – VIII ZR 99/10, juris Rz. 26 m.w.N.; BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358 unter Verweis auf st. Rspr.; BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2438 = CR 1993, 681 unter Verweis auf BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3014 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 23 Vgl. BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 24 Vgl. BGH v. 20.5.1966 – V ZR 214/64, juris Rz. 20 m.w.N. 25 Vgl. BGH v. 6.11.1980 – VII ZR 12/80, NJW 1981, 274, 275 m.w.N.; insoweit werden aber besondere Anhaltspunkte erforderlich sein; bejaht bei Vereinbarung einer „engen Abhängigkeit von der Lauffähigkeit der zuliefernden Software“ für Vertragswerk in LG Frankfurt v. 1.4.1992 – 3/3 O 116/91, CR 1993, 285, 286; vgl. auch Überblick bei Marly, Softwarerecht, Rz. 871 f. m.w.N. 26 Vgl. BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 27 Vgl. BGH v. 30.3.2011 – VIII ZR 99/10, juris Rz. 26 m.w.N. 28 Vgl. OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368. 29 Vgl. Überblick bei Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 664 ff. m.w.N. 30 Vgl. OLG Hamm v. 3.2.1997 – 13 U 153/96, CR 1998, 202, 203; LG Bonn v 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 415. 31 Vgl. OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368. 32 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, NJW 1987, 2004, 2007 = CR 1987, 358. 33 Vgl. LG Stuttgart v. 14.8.1992 – 20 O 665/91, CR 1993, 500, 501. 34 Vgl. Überblick bei Marly, Softwarerecht, Rz. 851 m.w.N.; teils wird angesichts des entgegenstehenden Parteiwillens auch Unwirksamkeit wegen überraschender Klauselverwendung, § 305c Abs. 1, und unangemessener Benachteiligung durch einseitige Vertragsgestaltung angenommen, § 307 Abs. 2 Nr. 2, vgl. BGH v. 8.7.2009 – VIII ZR 327/08, NJW 2009, 3295, 3296 m.w.N. 35 Vgl. zur Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung für diesen Fall OLG Stuttgart v. 29.10.1986 – 3 U88/86, CR 1988, 296, 297. 36 Vgl. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 37 Vgl. LG Aachen v. 20.1.1994 – 6 S 28/92, NJW-RR 1995, 49. 38 Vgl. LG Aachen v. 20.1.1994 – 6 S 28/92, NJW-RR 1995, 49, 50 m.w.N.

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BGB § 440 Rz. 12 Besondere Bestimmungen für Rücktritt und Schadensersatz störung oder Wesensänderung bewirkte (z.B. bei Embedded Software);39 der Erwerb zu einem Gesamtzweck, der auf die bleibende Verbindung der Sachgesamtheit hindeutet;40 Interesse des Erwerbers eines IT-Systems, bei Betriebsstörungen nicht mit verschiedenen Anbietern über die Ursache von Fehlfunktionen streiten zu müssen;41 Kompatibilitätsanforderungen zur Nutzung im Zusammenwirken;42 einheitliche Preisvereinbarung für gemeinsam verkaufte Gegenstände.43 13

Sonderfall der Softwareüberlassung in getrennten Modulen: Für die Einheitlichkeit spricht es, wenn der Erwerber durch die Teilleistung unverhältnismäßig beeinträchtigt ist, weil die konkreten Zwecke mit den gelieferten Teilen nicht verwirklicht werden können oder sich die fehlenden Teile nur mit erheblichem Zusatzaufwand beschaffen lassen.44 Hier ist erheblicher Mehraufwand für den Betrieb und die Pflege eines aus mehr Softwareelementen zusammen gesetzten Systems zu berücksichtigen. Besonders bei für den Verkäufer erkennbar betriebskritischen Systemen kommt es auf zusätzliche Betriebsrisiken an, z.B. weil Fehlerbehebungszeiten bestenfalls mit den jeweiligen Anbietern45 beschränkt auf deren Software vereinbart werden können und der Erwerber damit die Risiken der Koordination und unerkannter Schnittstellenprobleme zwischen den Softwareelementen trägt.46

14

Für den Softwarepflegevertrag kann Einheitlichkeit mit dem Softwareerwerbsvertrag anzunehmen sein: Der Rücktritt vom Softwareerwerbsvertrag schließt den damit regelmäßig nutzlos gewordenen Softwarepflegevertrag ein.47 Für die Erstreckung eines Rücktritts vom Softwarepflegevertrag auf den Softwareerwerbsvertrag spricht die Vereinbarung als wirtschaftliche Einheit. Häufig ist die Nutzung einer Software ohne Softwarepflege aus Sicherheitsgründen weder gewollt noch zumutbar. Die Software kann wegen Fehlern auch nach längerem Einsatz plötzlich ausfallen (z.B. wegen Eintritt seltener Betriebszustände) und wird absehbar unbrauchbar, sobald vorhersehbare Änderungen angrenzender Systeme vorgenommen werden müssen (z.B. Betriebssystemaktualisierungen, Datenbanken etc. oder Gesetzesänderungen Anpassungen erfordern).48

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 15

Abweichende Vereinbarungen sind nur für den Verbrauchsgüterkauf, § 475 Abs. 1 Satz 1, sowie für arglistig verschwiegene Mängel oder bei Übernahme einer Garantie für die Beschaffenheit einer Sache ausgeschlossen, § 444. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

16

Grenzen der Abdingbarkeit zu Lasten des Käufers ergeben sich bei neu hergestellten Sachen auch im kaufmännischen Verkehr entsprechend § 309 Nr. 8 Buchst. b für eine Fristsetzung.49 Verkäufer-AGB gegen die Einheitlichkeit von Verträgen über verschiedene Gegenstände sind wegen Verstoßes gegen (konkludente) Individualabreden wirkungslos, § 305b.50 39 Vgl. BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, NJW 1988, 406, 409 f. = CR 1988, 124; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3013 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 40 Vgl. BGH v. 21.1.1987 – VIII ZR 26/86, NJW 1987, 2435, 2437. 41 Vgl. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler unter Verweis auf BGH v. 7.2.1990 – VIII ZR 150/89; Redeker, ITRB 2004, 84, 85. 42 Vgl. BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, NJW 1993, 2436, 2438 = CR 1993, 681. 43 Vgl. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 f. = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler. 44 Vgl. OLG Köln v. 14.2.2013 – 19 U 166/12, CR 2014, 367, 368; Elteste, ITRB 2014, 179. 45 Vgl. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, NJW 1990, 3011, 3012 = CR 1990, 707 m. Anm. Köhler unter Verweis auf BGH v. 7.2.1990 – VIII ZR 150/89 sowie OLG München v. 15.2.1989 – 27 U 386/88. 46 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Redeker, ITRB 2014, 193, 194. 47 Vgl. LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 415. 48 Vgl. zur Interessenlage im Sinne eines Einheitlichkeitswillens LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 415 f. m.w.N. 49 Vgl. BGH v. 5.10.2005 – VIII ZR 16/05, NJW 2006, 47 Rz. 27 = CR 2006, 221 m. Anm. Redeker. 50 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 867 m.w.N.

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Minderung

Rz. 1 § 441 BGB

V. Prozessuales Grundsätzlich gilt auch für den Nachbesserungsversuch § 363: Nimmt der Käufer die Kaufsache nach Durchführung des Nachbesserungsversuchs entgegen, trägt er die Beweislast für die Erfolglosigkeit des Nachbesserungsversuchs. Es genügt jedoch, das fortgesetzte Auftreten des Mangelsymptoms zu beweisen. Nach dem erfolglosen zweiten Versuch einer Nachbesserung wird vermutet, dass diese fehlgeschlagen ist, § 440 Satz 2. Etwas anderes gilt nur, wenn sich insb. aus der Art der Sache oder des Mangels oder den sonstigen Umständen etwas anderes ergibt. Das gilt jedoch nicht allein, weil ein Fehler schwer zu finden ist.

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§ 441 Minderung (1) Statt zurückzutreten, kann der Käufer den Kaufpreis durch Erklärung gegenüber dem Verkäufer mindern. Der Ausschlussgrund des § 323 Abs. 5 Satz 2 findet keine Anwendung. (2) Sind auf der Seite des Käufers oder auf der Seite des Verkäufers mehrere beteiligt, so kann die Minderung nur von allen oder gegen alle erklärt werden. (3) Bei der Minderung ist der Kaufpreis in dem Verhältnis herabzusetzen, in welchem zur Zeit des Vertragsschlusses der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand zu dem wirklichen Wert gestanden haben würde. Die Minderung ist, soweit erforderlich, durch Schätzung zu ermitteln. (4) Hat der Käufer mehr als den geminderten Kaufpreis gezahlt, so ist der Mehrbetrag vom Verkäufer zu erstatten. § 346 Abs. 1 und § 347 Abs. 1 finden entsprechende Anwendung. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Minderungslage: Statt zurückzutreten (§ 441 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erklärung der Minderung (§ 441 Abs. 1) 3. Mehrere Verkäufer oder Käufer (§ 441 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 2

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1. Berechnung des Minderungsbetrages (§ 441 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2. Schätzung des Minderungsbetrages (§ 441 Abs. 3 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Erstattung gezahlten Kaufpreises (§ 441 Abs. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Literatur: Arnold, Die Rechtsfolgen der Selbstvornahme beim Kauf, MDR 2005, 661; Mann, Vertragsgestaltung beim IT-Outsourcing, MMR 2012, 499.

I. Allgemeines Die Minderung ist ein Gestaltungsrecht, das der Käufer „statt zurückzutreten“ ausüben kann – also, wenn auch die Voraussetzungen für eine wirksame Rücktrittserklärung vorliegen. Darüber hinaus kann der Käufer auch bei einem unerheblichen Mangel mindern, für den ein Rücktritt ausgeschlossen wäre, §§ 323 Abs. 5 Satz 2, 441 Abs. 1 Satz 2. Der Käufer kann also am Kaufvertrag über die mangelhafte Kaufsache festhalten und den Kaufpreis so anpassen, dass das im Kaufvertrag festgelegte Wertverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung auch mit Blick auf den mangelbedingten Minderwert gewahrt wird (Äquivalenzverhältnis). Daneben sind grds. Schadensersatzansprüche entsprechend den für den Rücktritt geltenden Regeln anwendbar (Integritätsinteresse), § 325.1

1 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 3; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 441 BGB Rz. 40 m.w.N., unter Verweis auf Differenzierungen bezogen auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung; differenzierender auch Palandt/Weidenkaff, § 437 BGB Rz. 31, § 441 BGB Rz. 19: keine Möglichkeit der Kombination der Minderung mit Schadensersatz statt der Leistung.

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BGB § 441 Rz. 2 Minderung

II. Norminhalt 1. Minderungslage: Statt zurückzutreten (§ 441 Abs. 1) 2

Das Recht zur Minderung besteht wegen eines Mangels, wenn auch die Voraussetzungen für eine Rücktrittserklärung gegeben sind („statt zurückzutreten“). Ausgenommen ist nur der für den Rücktritt wirkende Ausschlussgrund der Geringfügigkeit des Mangels, § 323 Abs. 5 Satz 2.2 Danach sind das Verstreichen einer angemessenen durch den Käufer gesetzten Nachfrist3 nach § 323 Abs. 1 oder die Entbehrlichkeit der Fristsetzung nach den §§ 323 Abs. 2, 326 Abs. 5, 440, 445a erforderlich. 2. Erklärung der Minderung (§ 441 Abs. 1)

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Die Minderung erfolgt durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung des Käufers ggü. dem Verkäufer, die grundsätzlich formfrei auch konkludent möglich ist.4 Der notwendige Inhalt der Minderung ist erklärt, wenn der Käufer hinreichend klar zum Ausdruck bringt, dass er den Kaufpreis wegen eines bestimmten Mangels nur in reduziertem Umfang gelten lassen will. Die Bezeichnung des Mangels kann auch in vorangegangenen Fristsetzungen liegen. Durch Auslegung ergibt sich, ob der Käufer Minderung und/oder Schadensersatz verlangt.5 Der Käufer muss jedoch keinen präzisen Minderungsbetrag benennen.6 Für die Minderung gelten die Grundsätze zu Bedingungsfeindlichkeit und Vertretung bei Gestaltungsrechten, §§ 174, 180. 3. Mehrere Verkäufer oder Käufer (§ 441 Abs. 2)

4

Entsprechend der Regelung für den Rücktritt in § 351 ist auch die nunmehr als Gestaltungsrecht geregelte Minderung unteilbar. Sie kann nur von und gegen alle Käufer und Verkäufer erklärt werden.

III. Rechtsfolgen 5

Mit wirksamer Ausübung der Minderung wird der Kaufvertrag umgestaltet mit Blick auf (i) die Höhe des Kaufpreises und (ii) die vertragliche Sollbeschaffenheit (beschränkt auf geminderten Mangel). Anderweitige Mängelrechte wegen des geminderten Mangels erlöschen.7 1. Berechnung des Minderungsbetrages (§ 441 Abs. 3)

6

Die Regelung zielt darauf ab, die Parteivereinbarungen über den „angemessenen Preis“ zu erhalten: Zur Berechnung des Minderungsbetrages ist zunächst das Verhältnis zwischen dem objektiven Verkehrswert der mangelhaften Kaufsache bei Vertragsschluss8 (z.B. 80 Euro) und dem fiktiven Wert der Kaufsache – wäre sie ohne den minderungsbegründenden Mangel – (z.B. 100 Euro) zu bestimmen.9 Der so erzielte Wert (z.B. ein mangelbedingter Minderwert von 20 %), ist auf den vereinbarten Kaufpreis anzuwenden (ein günstiger Kaufpreis von 50 Euro reduziert sich um 20 % auf geminderten Kaufpreis auf 40 Euro). Es sind alle Umstände einzubeziehen, die den Verkehrswert beeinflussen, z.B. Weiterfresserschäden.10 Da die Nachbesserung die Fortsetzung der Erfüllung bedeutet, § 433 Abs. 1 Satz 2, 2 Vgl. Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 1; Palandt/Weidenkaff, § 441 BGB Rz. 7. 3 Vgl. zur Angemessenheit einer regelmäßig die Leistungsfrist wesentlich unterschreitenden Nachfrist OLG Koblenz v. 24.7.2013 – 5 U 1477/12, juris Rz. 32 m.w.N. 4 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 4 m.w.N. 5 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 4 m.w.N. 6 Vgl. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 5 m.w.N.; a.A. Palandt/Weidenkaff, § 441 BGB Rz. 10, der dem Käufer aber die Möglichkeit lassen will, in der Erklärung die Bestimmung des Betrages auf später zu verschieben. 7 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 4 m.w.N. 8 Vgl. Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 5 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 14. 9 Vgl. BGH v. 1.6.1990 – V ZR 48/89, NJW 1990, 2682, 2683; etwaige sonstige Mängel können zu berücksichtigen sein. 10 Vgl. Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 6; MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 13 m.w.N.

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Minderung

Rz. 11 § 441 BGB

sind auch Schäden einzubeziehen, die der Verkäufer nach Gefahrübergang im Rahmen der Nachbesserung verursacht (z.B. im Falle einer Nachlieferung und Konfiguration von Standard-Software-Elementen). Dafür spricht auch die anderenfalls weiter zu Lasten des Käufers erhöhte Komplexität der Minderungsberechnung, die der Gesetzgeber ausweislich § 441 Abs. 3 Satz 2 eingrenzen wollte.11 Ist der Käufer für den Mangel verantwortlich, ist auch die Minderung ausgeschlossen, § 323 Abs. 6. Im Übrigen gelten die Grundsätze des § 254 einschränkend.12 Sind mehrere Sachen verkauft worden, so ist für die Berechnung der Minderung grds. von vereinbarten Einzelpreisen auszugehen. Wurde jedoch ein Gesamtpreis vereinbart oder wurden die Sachen als zusammengehörend verkauft und entwertet die Mangelhaftigkeit einer Sache auch andere (z.B. im Falle von Mängeln eines Softwaremoduls, die sich auf die Nutzbarkeit sonstiger Module auswirken), so ist der Gesamtpreis zugrunde zu legen.13 Sachverständigenkosten und Reparaturkosten sind nur indiziell maßgeblich.14

7

Für verkaufte Software ist der objektive Verkehrswert in mangelfreiem Zustand auch dann maßgeblich, 8 wenn im Vertrag vorbehalten ist, dass Software niemals völlig mangelfrei ist. Nur wenn die Vertragsauslegung ergibt, dass die Fehlfunktion noch im Rahmen der Sollbeschaffenheit liegt, ist mangels eines Fehlers auch die Minderung ausgeschlossen. Im Übrigen bleibt es bei Nachleistungspflichten und den übrigen Mängelrechten. Führt der Mangel zur vollständigen Wertlosigkeit der Kaufsache, kann der Kaufpreis auf Null reduziert sein.15 Analog § 346 Abs. 1 soll der Käufer dann aber zur Herausgabe der wertlosen Kaufsache verpflichtet sein.16 Abseits einer ergänzenden Vereinbarung der Parteien ist der Käufer an einen mit seiner Minderungserklärung genannten Betrag auch dann nicht gebunden, wenn der Verkäufer sich mit diesem einverstanden erklärt.17 Vielmehr legt das Gesetz ausdrücklich objektive Kriterien fest, § 441 Abs. 3. Der Käufer sollte durch die vorgesehene Schätzung gerade von den Risiken einer Wertbestimmung entlastet werden, § 441 Abs. 3 Satz 2. Das gilt insb. für IT-Leistungen, für die Fehleranalyse, potentieller Behebungsaufwand und mögliche Auswirkungen im Gebrauch gerade für den IT-Kunden kaum zuverlässig bestimmbar erscheinen. Um sich nicht selbst zu schädigen, müsste der Käufer sonst stets überzogene Minderungsbeträge erklären.

9

2. Schätzung des Minderungsbetrages (§ 441 Abs. 3 Satz 2) Entsprechend den Regeln über die Schadensschätzung (§ 287 ZPO) besteht die Möglichkeit, den Minderungsbetrag zu schätzen. Startpunkt für die Wertbestimmungen kann der vereinbarte Preis sein.18

10

3. Erstattung gezahlten Kaufpreises (§ 441 Abs. 4) Ist ein gezahlter Betrag höher als der nach Zahlung per Minderung reduzierte Kaufpreis, besteht ein 11 vertraglicher Rückzahlungsanspruch, §§ 441 Abs. 4, 346 ff. Insb. besteht der Anspruch auf Zinsen nach allgemeinen Regeln, § 347 Abs. 1. Erfolgt die Zahlung jedoch nach erfolgter Minderung, gelten die allgemeinen Regeln des Bereicherungsausgleichs.19 Ansprüche aus ausgeübter Minderung verjähren wie Ansprüche aus erklärtem Rücktritt der Regelverjährung in drei Jahren nach den §§ 195, 199.

11 Vgl. zum Hintergrund BT-Drucks. 14/6040, 235: Verweis auf bisherige Rspr. und sonstige Schätzungsregeln des geltenden Rechts, §§ 738 Abs. 2, 2311 Abs. 1 Satz 1. 12 Vgl. Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 11; Palandt/Weidenkaff, § 441 BGB Rz. 17 m.w.N. 13 Vgl. BGH v. 17.3.1989 – V ZR 245/87, NJW 1989, 2388 m.w.N. 14 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 14 m.w.N. 15 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 14 m.w.N. 16 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 441 BGB Rz. 16; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 441 BGB Rz. 25 m.w.N. 17 So aber Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 2; MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 5. 18 Vgl. OLG Düsseldorf v. 18.6.1999 – 22 U 256/98, NJW-RR 2000, 506; Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 5 m.w.N.; BGH v. 17.3.1989 – V ZR 245/87, NJW 1989, 2388, 2389 m.w.N. 19 Vgl. Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 13 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 17.

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BGB § 441 Rz. 12 Minderung

IV. Abdingbarkeit 12

Für Änderungen gelten im Zusammenhang mit Verbrauchsgüterkauf die Regeln der §§ 475 f. In AGB über neu hergestellte Sachen ist insb. § 309 Nr. 8 Buchst. b bb zu beachten. Weiter schränkt § 444 die Änderbarkeit auch für Individualverträge im unternehmerischen Verkehr ein.20 Im Rahmen von Vergleichsvereinbarungen sind pauschaliert vereinbarte Minderungsbeträge üblich.

13

Durch Auslegung ist das Verhältnis zwischen „Gutschriften“ (Credits) nach Service-Level-Vereinbarungen (z.B. in Softwarepflege- und Unterstützungsverträgen) und Minderungsrechten aus zugrunde liegenden Kaufverträgen zu klären: Finden sich entsprechende Anhaltspunkte im Vertrag, so wirken die pauschalierten Preisreduzierungen aus SLA im Sinne eines Ausschlusses von Minderungsrechten. Ohne solche Anhaltspunkte ist jedoch von einem Parallellauf von Minderungsrechten (Schutz des Äquivalenzinteresses aus dem Kaufvertrag) und den gesondert vereinbarten Rechtsfolgen mangelhafter Erfüllung von Leistungsparametern aus einer Softwarepflege- und Unterstützungsvereinbarung auszugehen. Besondere Unklarheiten können sich insoweit mit Blick auf den für die Überlassung von Software-Aktualisierungen in einem Softwarepflegevertrag enthaltenen Kaufvertragsteil ergeben. Aber auch insoweit erfordert ein Ausschluss von Minderungsrechten als Abweichung vom gesetzlichen Leitbild klare Anhaltspunkte in den Vereinbarungen.

V. Prozessuales 14

Die Minderung kann trotz grds. Bedingungsfeindlichkeit als Gestaltungsrecht im Prozess hilfsweise geltend gemacht werden.21 Für die nach § 441 Abs. 3 Satz 2 vorgesehene Schätzung der Minderungshöhe gilt § 287 ZPO.22

§ 442 Kenntnis des Käufers (1) Die Rechte des Käufers wegen eines Mangels sind ausgeschlossen, wenn er bei Vertragsschluss den Mangel kennt. Ist dem Käufer ein Mangel infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben, kann der Käufer Rechte wegen dieses Mangels nur geltend machen, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat. (2) Ein im Grundbuch eingetragenes Recht hat der Verkäufer zu beseitigen, auch wenn es der Käufer kennt. I. II. 1. 2. 3.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . Kenntnis vom Mangel . . . . . . . . . Bei Vertragsabschluss . . . . . . . . . Grob fahrlässige Unkenntnis (§ 442 Abs. 1 Satz 2) . . . . . . . . . . 4. Arglistiges Verschweigen des Mangels

. . . .

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1 3 3 4

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5 6

5. Garantie für die Beschaffenheit der Kaufsache III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. 1. 2. V.

Abdingbarkeit . . . . . . . . . . Zwingendes/Dispositives Recht . Auswirkungen auf AGB-Recht . Prozessuales . . . . . . . . . . .

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Literatur: Bartsch, Umfang der Nachbesserungspflicht und Arglisthaftung beim Systemvertrag, CR 2002, 254.

20 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 20. 21 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 441 BGB Rz. 4; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 441 BGB Rz. 5. 22 Vgl. Erman/Grunewald, § 441 BGB Rz. 10 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 441 BGB Rz. 18.

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7 8 9 9 11 12

Kenntnis des Käufers

Rz. 5 § 442 BGB

I. Allgemeines Wer einen Kaufvertrag in Kenntnis des Mangels schließt, um gleichwohl Mängelrechte geltend zu ma- 1 chen, verhält sich widersprüchlich und verstößt damit gegen Treu und Glauben, § 242. Abweichend von § 254 ist hier aber ein vollständiger Ausschluss oder die vollständige Möglichkeit zur Geltendmachung vorgesehen. Ähnliche Regelungen gibt es für das Werkvertragsrecht, § 640 Abs. 2, und Mietrecht, § 536b. § 442 setzt die Anforderungen des Art. 2 Abs. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie1 um. Mit Blick auf die Einschränkung bei Arglist und garantierter Beschaffenheit gilt eine nach Art. 8 Abs. 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zulässige Verschärfung zu Gunsten des Käufers.2

2

II. Norminhalt 1. Kenntnis vom Mangel Erforderlich ist positive Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse, die den Mangel begründen (z.B. be- 3 zogen auf die Fehlfunktion einer Software). Es muss Kenntnis von der Beeinträchtigung des Wertes/der Tauglichkeit der Sache durch die mangelbegründenden Umstände vorliegen.3 Die Kenntnis muss sich jedoch nicht auf die daraus abzuleitenden Ansprüche gegen den Verkäufer erstrecken.4 Vielmehr genügt es, wenn der Käufer weiß, dass er die Kaufsache so nicht abnehmen muss.5 2. Bei Vertragsabschluss Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem der Käufer die zum Vertragsschluss führende Erklärung verbindlich abgegeben hat. Vom Käufer wird nicht erwartet, dass er bei Kenntnis nach Abgabe eines Angebots nach § 130 Abs. 1 Satz 2 von Möglichkeiten zum Widerruf Gebrauch macht.6 Dasselbe gilt für den bedingten Vertragsschluss, bei dem nicht der Eintritt der Bedingung maßgeblich ist.7 Das Unterlassen von Maßnahmen, um einen Vertragsschluss abzuwenden, rechtfertigt nicht den Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens. Bei Rahmenverträgen ist auf den Zeitpunkt der Vereinbarung über den jeweils betroffenen Kaufgegenstand und nicht auf den Abschluss des Rahmenvertrages abzustellen.

4

3. Grob fahrlässige Unkenntnis (§ 442 Abs. 1 Satz 2) Grundsätzlich führt auch die grob fahrlässige Unkenntnis des Käufers zum Rechtsverlust. Grobe Fahrlässigkeit bestimmt sich nach § 276 Abs. 2.8 Für § 442 besteht keine Untersuchungsobliegenheit des Käufers. Vielmehr darf der Käufer auf die Mangelfreiheit der Kaufsache vertrauen. Auch der zugrunde liegende Art. 2 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie9 zielt vorrangig auf den Schutz des Käufers ab. Die Annahme grober Fahrlässigkeit des Käufers ist danach nur gerechtfertigt, wenn (i) der Käufer bestimmte Indizien und Tatsachen kannte, die den Schluss auf mögliche Mängel nahe legten, (ii) der Käufer dadurch zur Prüfung und Vorsicht hätte veranlasst sein müssen und (iii) er gleichwohl untätig 1 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 2 Vgl. zum Hintergrund auch MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 1 f.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 442 BGB Rz. 1 ff. m.w.N. 3 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 442 BGB Rz. 7; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 442 BGB Rz. 6 m.w.N. 4 Vgl. Erman/Grunewald, § 442 BGB Rz. 4 m.w.N.; weitergehend wird teils umfassend die Kenntnis der rechtlichen Bedeutung des Mangels gefordert, vgl. Palandt/Weidenkaff, § 442 BGB Rz. 7. 5 So auch MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 4 m.w.N. 6 Vgl. BGH v. 15.6.2012 – V ZR 198/11, NJW 2012, 2793 Rz. 21 ff. 7 Vgl. Erman/Grunewald, § 442 BGB Rz. 7 m.w.N.; a.A. für den Fall, dass der Eintritt der Bedingung vom Willen des Käufers abhängt, MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 6; Palandt/Weidenkaff, § 442 BGB Rz. 8. 8 Vgl. BGH v. 28.6.1994 – X ZR 95/92, NJW-RR 1994, 1469, 1470 ff. = CR 1995, 265 bezogen auf grobe Fahrlässigkeit bei § 300 Abs. 1 mit Mitwirkungspflichtverletzung im Softwareentwicklungsprojekt. 9 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12.

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5

BGB § 442 Rz. 5 Kenntnis des Käufers geblieben ist.10 Im Falle des Kaufs komplexer Software sind Tests üblich. Der Käufer darf sich aber gleichwohl grds. auf die Aussagen des Verkäufers verlassen.11 Für Hardware und Software finden sich häufig Hinweise zu etwaigen Mängeln im Internet, z.B. in produktbezogenen Nutzerforen und Platformen zum Informationsaustausch (z.B. Youtube oder Wikipedia). Den Käufer trifft jedoch grds. keine Pflicht zur Auswertung solcher Informationsquellen. Das gilt auch, wenn der Verkäufer auf solche Informationsquellen hinweist. Gleichwohl liegt grobe Fahrlässigkeit und damit ein Ausschluss von Mängelrechten nahe, wenn der Käufer vor Vertragsschluss – etwa bei Durchlaufen seines Einkaufsprozesses – solche Informatoinsquellen ausgewertet hat und gleichwohl darin verfügbare Mängelhinweise übergangen wurden. 4. Arglistiges Verschweigen des Mangels 6

Der Verkäufer verschweigt einen Mangel arglistig, wenn er (i) in Kenntnis der den Mangel begründenden Umstände den Mangel zumindest in der form des Eventualvorsatzes für möglich hält, (ii) trotz Offenbarungspflicht verschweigt und (iii) dabei billigend in Kauf nimmt, dass der Käufer den Mangel nicht kennt und (iv) den Kauf bei Kenntnis nicht so abgeschlossen hätte (s. zur Arglist auch § 438 Rz. 12 f.).12 Handeln mehrere Verkäufer, genügt es entsprechend dem insoweit nicht verschärften vormaligen Rechtsstand,13 wenn einer von ihnen den Mangel arglistig verschwiegen hat.14 5. Garantie für die Beschaffenheit der Kaufsache

7

Eine Garantie für die Beschaffenheit der Kaufsache ist anzunehmen, wenn die Parteien vereinbaren, dass der Verkäufer verschuldensunabhängig für die Folgen des Fehlens einer Beschaffenheit einsteht.15

III. Rechtsfolgen 8

Die Mängelrechte des Käufers sind ausgeschlossen, § 442 Abs. 1. Ein separat zu betrachtender und damit potentiell nicht ausgeschlossener Mangel liegt vor, soweit ggü. dem erkannten Mangel eine zusätzliche Wert- oder Tauglichkeitsminderung vorliegt, mit der der Käufer nicht aufgrund des bekannten Mangels rechnen musste.16 Der Käufer kann auch seinen Erfüllungsanspruch aus § 433 Abs. 1 Satz 2 nicht mehr geltend machen. Im Anwendungsbereich des § 442 handelt der Käufer widersprüchlich, wenn er gleichwohl mangelfreie Erfüllung verlangt. Das schließt auch die Durchsetzung einer (möglichen) mangelfreien Lieferung und eine Verweigerung der Kaufpreiszahlung ein.17 Anderenfalls wären die Wertungen des § 442 weitgehend unterlaufen.18 § 442 verdrängt den Mitverschuldenseinwand nach § 254,19 z.B. wenn der Verkäufer einwendet, dem Käufer seien Rechtsmängel bei Verwendung von Open Source-Software grob fahrlässig unbekannt geblieben.

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Vgl. MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 9 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 442 BGB Rz. 15; Palandt/Weidenkaff, § 442 BGB Rz. 11 m.w.N. Vgl. BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21 m.w.N. Vgl. BGH v. 8.4.2016 – V ZR 150/15, ZIP 2016, 1386 Rz. 20 unter Verweis auf BT-Drucks. 14/6040, 240. Vgl. BGH v. 8.4.2016 – V ZR 150/15, ZIP 2016, 1386 Rz. 18 f. m.w.N. zum Meinungsstand Rz. 14; zur Definition der Arglist BGH v. 21.7.2017 – V ZR 250/15, NJW 2018, 389 Rz. 11; BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21. Vgl. BGH v. 29.11.2006 – VIII ZR 92/06, NJW 2007, 1346 Rz. 20 m.w.N. = CR 2007, 473; Erman/Grunewald, § 437 BGB Rz. 27 ff. m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 20; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 442 BGB Rz. 6 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 18; a.A. Erman/Grunewald, § 442 BGB Rz. 21. Vgl. Überblick zur h.M. bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 442 BGB Rz. 49. Vgl. zur verdrängenden Wirkung der Kaufregeln schon zum alten Recht BGH v. 31.1.1990 – VIII ZR 314/88, NJW 1990, 1106, 1108.

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Garantie

§ 443 BGB

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht § 442 ist grundsätzlich abdingbar. Ausnahmen gelten nur zu Lasten von Verbrauchern nach § 475. Die weitergehende Freizeichnung des Verkäufers bei Arglist und Garantie scheitert nach § 444.

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Verpflichtet sich der Verkäufer, einen anerkannten Mangel noch zu beseitigen, bewirkt das einen Ausschluss von § 442.

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2. Auswirkungen auf AGB-Recht Ein Ausschluss in AGB des Käufers verstößt gegen § 307.20 Entsprechendes gilt für Ausdehnungen der Untersuchungspflichten in AGB des Verkäufers, weil dadurch die gesetzlichen Mängelrechte umgangen werden.

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V. Prozessuales Der Verkäufer trägt die Beweislast dafür, dass der Käufer den Mangel bei Vertragsschluss kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.21 Bezogen auf erkannte Mängel hat der Käufer zu beweisen, dass der Mangel über das von ihm erkannte Maß hinausgeht.22 Der Käufer hat arglistiges Verschweigen sowie das Vorliegen einer einschlägigen Beschaffenheitsgarantie zu beweisen.

§ 443 Garantie (1) Geht der Verkäufer, der Hersteller oder ein sonstiger Dritter in einer Erklärung oder einschlägigen Werbung, die vor oder bei Abschluss des Kaufvertrags verfügbar war, zusätzlich zu der gesetzlichen Mängelhaftung insbesondere die Verpflichtung ein, den Kaufpreis zu erstatten, die Sache auszutauschen, nachzubessern oder in ihrem Zusammenhang Dienstleistungen zu erbringen, falls die Sache nicht diejenige Beschaffenheit aufweist oder andere als die Mängelfreiheit betreffende Anforderungen nicht erfüllt, die in der Erklärung oder einschlägigen Werbung beschrieben sind (Garantie), stehen dem Käufer im Garantiefall unbeschadet der gesetzlichen Ansprüche die Rechte aus der Garantie gegenüber demjenigen zu, der die Garantie gegeben hat (Garantiegeber). (2) Soweit der Garantiegeber eine Garantie dafür übernommen hat, dass die Sache für eine bestimmte Dauer eine bestimmte Beschaffenheit behält (Haltbarkeitsgarantie), wird vermutet, dass ein während ihrer Geltungsdauer auftretender Sachmangel die Rechte aus der Garantie begründet. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . Garantieerklärung/Garantievertrag In einschlägiger Werbung . . . . . Haltbarkeitsgarantie (§ 443 Abs. 2)

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1

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

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IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . . .

7 7 8

V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Literatur: Engels, Zulässige Werbung mit Garantie, BGH v. 14.4.2011 I ZR 133/09, ITRB 2011, 202; Hengstler, Garantien in Softwareerstellungs- und Softwareüberlassungsverträgen im deutsch-schweizerischen Rechtsvergleich, ITRB 2012, 21; Lapp, Vertragsgestaltung zwischen Leistungsbeschreibung, Garantie und sinnvoller Beschränkung der Gewährleistung, ITRB 2003, 42; Martens, EVB-IT und neues Schuldrecht, ITRB 2002, 196; Redeker, Rechtsmängel – Voraussetzungen, Garantien und Rechtsfolgen, ITRB 2004, 84; Splittgerber/Krone, Bis dass der Tod Euch schei20 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 442 BGB Rz. 22 m.w.N. 21 Vgl. BGH v. 12.11.2010 – V ZR 181/09, NJW 2011, 1279 Rz. 17. 22 Vgl. BGH v. 17.5.1991 – V ZR 92/90, NJW 1991, 2700 m.w.N.

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BGB § 443 Rz. 1 Garantie de – Zur Zulässigkeit lebenslanger Garantien auf IT-Produkte, CR 2008, 341; Stadler, Haftungsrisiken bei Übernahme von Beschaffenheitsgarantien in IT-Verträgen nach neuem Recht, ITRB 2004, 233; Stiemerling/Schneider, Vertragliche Regelungen zum Antwortzeitverhalten interaktiver Computersysteme, CR 2011, 345.

I. Allgemeines 1

§ 443 definiert die Garantie erstmals gesetzlich in Umsetzung von Art. 6 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.1 Bei Eintritt des Garantiefalls kann der Käufer unabhängig von den ggü. dem Verkäufer bestehenden Mängelrechten seine Rechte aus der Garantievereinbarung gegen den Garantiegeber geltend machen. Da es keinen einheitlichen Garantiebegriff gibt, ist die Vereinbarung einer Beschaffenheitsgarantie nach § 443 von denjenigen i.S.d. §§ 276 Abs. 1 Satz 1, 444, 445 zu unterscheiden, die eine verschuldensunabhängige Haftung des Garantiegebers vorsehen.2

II. Norminhalt 1. Garantieerklärung/Garantievertrag 2

Die Garantieverpflichtung wird nach allgemeinen vertraglichen Regeln begründet.3 Ist der Garantiegeber nicht Verkäufer, übermittelt der Verkäufer regelmäßig als Bote die Garantieerklärung, die der Käufer auch stillschweigend unter Verzicht auf den Zugang der Annahmeerklärung nach § 151 annimmt.4 Der Inhalt der Garantie ergibt sich im Rahmen üblicher Auslegungsgrundsätze, §§ 133, 157 oder 305c, aus der Garantieerklärung. Diese bestimmt insb. den Garantiegegenstand, den Garantiezeitpunkt/die Garantiefrist und die dem Käufer aus der Garantie gewährten Rechte. Der Garantiegegenstand nach § 443 kann die vertragliche Beschaffenheit insgesamt, bestimmte Teile oder sonstige Anforderungen betreffen (z.B. die künftige Kompatibilität eines Systems mit noch zu entwickelnden Standards oder sogar die Erreichung bestimmter betrieblicher Ziele durch die Einführung eines ERPSystems). Im Zweifel verpflichtet sich der Hersteller in einer Garantie nur zur Nacherfüllung und nicht zu Schadensersatz.5

3

Der Garantiezeitpunkt beschreibt den Moment, in dem die garantierte Beschaffenheit beim Kaufgegenstand vorliegen muss. Die Garantiefrist beschreibt bei der Haltbarkeitsgarantie die Dauer, für die der Kaufgegenstand die garantierte Beschaffenheit behalten muss. Fehlt es an einer ausdrücklichen Festlegung, ist durch Auslegung zu ermitteln, welche Dauer erklärt ist und wann die erklärte Frist beginnen soll. Im Zweifel beginnt eine Frist mit Gefahrübergang.6 2. In einschlägiger Werbung

4

Bei der Auslegung des Inhalts der Garantie ist beispielsweise die Werbung eines Herstellers für ein verkauftes Produkt zu berücksichtigen (z.B. auf der Internetseite des Herstellers). Die Werbung muss konkrete Aussagen über Rechte des Käufers bezogen auf die Kaufsache bei einem Garantiefall enthalten,

1 RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmte Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter; Modifikationen sind nach Art. 8 Abs. 2 RL 1999/44/EG zulässig, da sie den Käufer begünstigen. 2 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 443 BGB Rz. 3 m.w.N. 3 Vgl. Überblick zur h.M. bei Staudinger/Matusche-Beckmann, § 443 BGB Rz. 6 m.w.N.; vgl. auch zur Gegenansicht, die § 443 als gesetzliche Anspruchsgrundlage quasivertraglicher Art sieht eben dort. 4 Vgl. zur Konstruktion des Garantievertrags MünchKomm/Westermann, § 443 BGB Rz. 5 ff.; Staudinger/Matusche-Beckmann, § 443 BGB Rz. 7 f. m.w.N.; offen gelassen: BGH v. 5.12.2012 – I ZR 146/11, MMR 2013, 589 Rz. 12 f. 5 Vgl. Erman/Grunewald, § 443 BGB Rz. 13; a.A. Palandt/Weidenkaff, § 443 BGB Rz. 12. 6 Vgl. OLG Hamm v. 9.12.1992 – 31 U 171/91, CR 1993, 497 f., das auch das Versprechen des Verkäufers, eine EDV-Anlage bei Nicht-Funktionieren „gleich aus welchem Grund“ zurückzunehmen, einschränkend dahin auslegt, dass der Verkäufer nicht für Schäden außerhalb seines Einflussbereichs einstehen wollte, und dem Käufer die Beweislast für die Mangelhaftigkeit bei Gefahrübergang (Ablieferung an Spediteur) auferlegt.

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Garantie

Rz. 9 § 443 BGB

die über übliche Anpreisungen hinausreichen.7 Der Garantiegeber muss erkennbar für die Beschaffenheit der Sache mit Leistungen zu Gunsten des Käufers einstehen wollen (vgl. zur Bedeutung öffentlicher Äußerungen für den Sachmangel § 434 Rz. 26 ff.). 3. Haltbarkeitsgarantie (§ 443 Abs. 2) Der Verkäufer garantiert für die Beschaffenheit der Sache nach § 443 Abs. 2, wenn er für eine bestimmte Dauer die in einer Garantie nach § 443 Abs. 1 versprochene Beschaffenheit gewährleistet. Dann trifft den Käufer nicht nach allgemeinen Regeln ab Gefahrübergang die Beweislast, dass auftretende Mängel bei Gefahrübergang vorlagen.

5

III. Rechtsfolgen Der Garantiegeber muss ggü. dem Käufer die in der Garantieerklärung oder der einschlägigen Werbung angegebenen Leistungen erbringen, wenn der Garantiefall eintritt. Entscheidend ist die Auslegung der Garantievereinbarung. Mängelrechte des Käufers bleiben insgesamt von der Garantievereinbarung unberührt.8 Garantiegeber und davon verschiedener Verkäufer haften als Gesamtschuldner, soweit sich die Ansprüche wegen eines Mangels decken, § 421.9 Ansprüche aus einer selbständigen Garantie verjähren nach den Regeln der regelmäßigen Verjährung, §§ 195, 199, im Falle der unselbständigen Beschaffenheitsgarantie nach § 438.10

6

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht Einschränkungen ergeben sich für Individualverträge nur im Zusammenhang mit Verbrauchsgüterkaufverträgen aus §§ 475 ff. Sonderregeln gelten insoweit nach § 477.

7

2. Auswirkungen auf AGB-Recht Auch in AGB sind Garantieerklärungen grds. umfassend gestaltbar. Es gelten die allgemeinen Regeln der AGB-Kontrolle und -Auslegung (§§ 305c, 307).11

8

V. Prozessuales Der Käufer hat zu beweisen: Zustandekommen des Garantievertrages, Vorliegen des Mangels oder 9 Verstoß gegen garantierte sonstige Beschaffenheit (Voraussetzungen des Garantiefalls), korrespondierender Inhalt der Garantievereinbarung, Einhaltung der Garantiefrist und Einhaltung vereinbarter Garantievoraussetzungen. Dann hat der Verkäufer zu beweisen: Verursachung des Mangels, indem der Käufer die Kaufsache nicht sachgemäß behandelt hat oder ein zufälliges äußerliches Ereignis eingetreten ist.12

7 Vgl. Erman/Grunewald, § 443 BGB Rz. 13; Palandt/Weidenkaff, § 443 BGB Rz. 6. 8 Vgl. Erman/Grunewald, § 443 BGB Rz. 15 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 443 BGB Rz. 1. 9 Vgl. zur Abgrenzung der im Einzelnen noch klärungsbedürftigen Anwendung der Gesamtschuldregeln MünchKomm/Westermann, § 443 BGB Rz. 21 m.w.N. 10 Vgl. Erman/Grunewald, § 443 BGB Rz. 16; Palandt/Weidenkaff, § 443 BGB Rz. 15 m.w.N. 11 Vgl. Erman/Grunewald, § 443 BGB Rz. 12 f. m.w.N. 12 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 443 BGB Rz. 16 m.w.N.

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BGB § 444 Rz. 1 Haftungsausschluss

§ 444 Haftungsausschluss Auf eine Vereinbarung, durch welche die Rechte des Käufers wegen eines Mangels ausgeschlossen oder beschränkt werden, kann sich der Verkäufer nicht berufen, soweit er den Mangel arglistig verschwiegen oder eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache übernommen hat. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durch welche Mängelrechte ausgeschlossen oder beschränkt werden . . . . . . . . . . . . . 3. Arglistig verschwiegene Mängel . . . . . . . . 4. Soweit Garantie für Beschaffenheit der Sache übernommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 2

IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . .

10 10 11

3 7

V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

8

Literatur: Auer-Reinsdorff, Haftungsregelungen für Folgeschäden in IT-Projekten, ITRB 2006, 181; Feil/Leitzen, Die EVB-IT nach der Schuldrechtsreform, CR 2002, 407; Grützmacher, Open-Source-Software – die GNU General Public License, ITRB 2002, 84; Grützmacher, Open Source Software – BSD Copyright und Apache Software License, ITRB 2006, 108; Hackemann, Fragen des Austauschverhältnisses beim Online-Vertrag, CR 1987, 660; Hörl, Typische Haftungsklauseln in IT-Verträgen Regelungsgegenstände und Hinweise zur Klauselgestaltung, ITRB 2006, 17; Karger, Vergütung bei Software-Erstellung, ITRB 2006, 255; Lapp, Vertragsgestaltung zwischen Leistungsbeschreibung, Garantie und sinnvoller Beschränkung der Gewährleistung, ITRB 2003, 42; Plath, Hardware, Software und IT-Verträge in der M&A Transaktion, CR 2007, 345; Redeker, Rechtsmängel – Voraussetzungen, Garantien und Rechtsfolgen, ITRB 2004, 84; Roth, Rechtsmängelhaftung, ITRB 2003, 231; Stadler, Haftungsrisiken bei Übernahme von Beschaffenheitsgarantien in IT-Verträgen nach neuem Recht, ITRB 2004, 233; Stadler, Garantien in IT-Verträgen nach der Schuldrechtsmodernisierung, CR 2006, 77; Ulmer, Softwareüberlassung: Formulierung eines Lizenzvertrags, ITRB 2004, 213; Gräfin von Westerholt/Berger, Der Application Service Provider und das neue Schuldrecht, CR 2002, 81; Witzel, Gewährleistung und Haftung in Application Service Providing- Verträgen, ITRB 2002, 183; Witzel, AGBRecht und Open Source Lizenzmodelle, ITRB 2003, 175.

I. Allgemeines 1

§ 444 schränkt die Wirksamkeit von Haftungsausschlüssen für Fälle arglistigen Verschweigens und die Übernahme einer Garantie ein. Unbeschadet der Spezialregeln, etwa im Zusammenhang mit dem Verbrauchsgüterkauf (§§ 475 f.), nach Produkthaftungsrecht oder den §§ 305 ff. für allgemeine Geschäftsbedingungen, ist damit die Grenze der Wirksamkeit individualvertraglicher Haftungsbeschränkungsvereinbarungen festgelegt.

II. Norminhalt 1. Vereinbarung 2

Die Einschränkung der Haftung muss (auch konkludent) Bestandteil des Kaufvertrages geworden sein. Es gilt der Grundsatz enger Auslegung; der Wille zur Abweichung vom ausgewogenen gesetzlichen Konzept muss deutlich werden.1 2. Durch welche Mängelrechte ausgeschlossen oder beschränkt werden

3

Durch die Vereinbarung müssen Rechte des Käufers wegen eines Mangels ausgeschlossen oder beschränkt werden. Der Umfang einer solchen Vereinbarung ist durch Auslegung zu ermitteln, §§ 133, 157. Die Regelung erfasst nicht die negative Beschaffenheitsvereinbarung, sondern den Ausschluss 1 Vgl. BGH v. 24.1.2003 – V ZR 248/02, NJW 2003, 1317 m.w.N.

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Haftungsausschluss

Rz. 5 § 444 BGB

der Haftung für im Übrigen nicht ausgeschlossene Beschaffenheiten der Kaufsache (z.B. die Qualität einer gelieferten Software). Negative Beschaffenheitsvereinbarungen werden aber als Haftungsbeschränkung ausgelegt, wenn erkennbar nicht die Beschreibung der Kaufsache erfolgt, sondern die Wirkung der Haftungsbeschränkung durch negative Beschreibungen erzielt werden soll.2 Es haben sich Leitlinien für die Auslegung von Haftungsbeschränkungsvereinbarungen gebildet: Die 4 Reichweite von Haftungsbeschränkungen wird durch sonstige Elemente des Kaufvertrags eingeschränkt, die anderenfalls sinnwidrig erschienen. Ein Gewährleistungsausschluss gilt nicht für vereinbarte Beschaffenheiten der Kaufsache, § 434 Abs. 1 Satz 1.3 Stehen (allgemeiner) Gewährleistungsausschluss und Beschaffenheitsvereinbarung nebeneneinander, so setzt sich mit Blick auf die sachgerechte Auslegung der Parteivereinbarungen die Beschaffenheitsvereinbarung durch, §§ 133, 157. Der Gewährleistungsausschluss beschränkt sich nur auf sonstige Mängel nach § 434 Abs. 1 Sätze 2 und 3.4 Eine Vereinbarung über das Nichtbestehen von Rechten Dritter („Rechte Dritter bestehen nicht“) kann so auszulegen sein, dass die Rechtsmängelhaftung von einer umfassend formulierten Haftungsbeschränkung ausgenommen ist.5 Im Falle öffentlicher Äußerungen ist jeweils aus objektivierter Sicht des Käufers auszulegen, ob ein Haftungsausschluss auch auf öffentlich beworbene Eigenschaften zu erstrecken war.6 Eine Vereinbarung „ohne Garantie“ bewirkt nach umgangssprachlichem Verständnis einen Gewährleistungsausschluss.7 In Unternehmensverträgen ist nur die verschuldensunabhängige Haftung ausgegrenzt. Es ist strittig, ob ein grundsätzlicher Gewährleistungsausschluss – soweit sich aus den Umständen nichts anderes ergibt – den Anspruch auf Nacherfüllung bei Lieferung eines aliud bestehen lässt.8. Gegen die Ausgrenzung der Aliud-Lieferung aus dem Gewährleistungsausschluss ist auf die gesetzgeberische Gleichstellung von Mengenabweichung, aliud- und Mangellieferung zu verweisen, § 434 Abs. 3. Arglistige Umgehungshandlungen fallen unabhängig von dieser Differenzierung unter einen Ausnahmetatbestand nach § 444. Durch den Gewährleistungsausschluss übernimmt der Käufer das Risiko der Mangelhaftigkeit (teilweise) vom Verkäufer. Für die Ausgrenzung der aliud-Lieferung aus dem Gewährleistungsausschluss wird argumentiert, dass der Verkäufer es sonst in der Hand hätte, durch Zusendung eines minderwertigen aliud seine Leistungspflichten zu umgehen.9 Die gesetzliche Wertung zur Gleichbehandlung von Mengen-, aliud- und Sachmängeln zielt auf die einheitliche Anwendung der Mangelvorschriften ab (jedenfalls bei entsprechender Tilgungsbestimmung für die aliud-Lieferung durch den Verkäufer),10 insb. die Rechtsbehelfe des Käufers nach § 437. Demgegenüber betrifft die Auslegung der Reichweite eines allgemeinen Gewährleistungsausschlusses die Frage, in welchem Umfang der Käufer im Gegensatz zum einheitlich angeordneten Pflichtenprogramm des § 437 Risiken des Verkäufers bei Vertragschluss übernehmen wollte. Auch insoweit gilt, dass nicht der buchstäbliche Sinn einer Formulierung, sondern der wirkliche Wille der Parteien maßgeblich ist, § 133. Danach bedarf es besonderer Anhaltspunkte um anzunehmen, dass der Käufer auch die mit (nach Vertragsabschluss eintretenden) Risiken von Montagemängeln, mangelhafter Montageanleitung, Mengenabweichungen und aliud-Lieferungen übernehmen wollte.11 Liegen von den Parteien nicht erkannte Risiken vor, kann im Wege ergänzender Vertragsauslegung trotz wirksamen Gewährleistungsausschlusses ein Anspruch auf Abtretung von Mängelrechten gegen den Vorverkäufer begründet sein.12 Ein Gewährleistungsausschluss erfasst nur dann Mängel, die nach Vertragsschluss und vor Gefahrübergang entstehen, wenn dies in der Vereinbarung der Parteien 2 Vgl. dazu Nachweise bei Erman/Grunewald, § 444 BGB Rz. 2. 3 Vgl. BGH v. 27.9.2017 – VIII ZR 271/16, MMR 2018, 162 Rz. 23 m.w.N. 4 Vgl. BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 14 m.w.N.; BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 117/12, NJW 2013, 1733 Rz. 15 m.w.N. 5 Vgl. BGH v. 26.4.2017 – VIII ZR 233/15, NJW 2017, 3292 Rz. 22. 6 Vgl. BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 15. 7 Vgl. BGH v. 13.3.2013 – VIII ZR 186/12, NJW 2013, 2107 Rz. 16 m.w.N. 8 Vgl. jurisPK BGB/Pammler, § 444 Rz. 11 m.w.N. 9 Vgl. AG Aachen v. 17.5.2005 – 10 C 69/05, NJW-RR 2005, 1143, 1143. 10 Vgl. offen gelassen mit Überblick bei OLG Frankfurt v. 28.3.2007 – 19 U 235/06, NJW-RR 2007, 1423 f. 11 In diesem Sinne führt OLG Frankfurt v. 28.3.2007 – 19 U 235/06, NJW-RR 2007, 1423, 1424 aus, dass die streitige Haftungsbeschränkung (i) wegen besonders eingeschränkter Möglichkeiten des Verkäufers zur Kontrolle der Kaufsache und (ii) wegen einer flankierenden Risikoübernahme eines Dritten weit im Sinne einer Entlastung des Verkäufers auszulegen ist. 12 Vgl. BGH v. 20.12.1996 – V ZR 259/95, NJW 1997, 652.

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BGB § 444 Rz. 5 Haftungsausschluss deutlich zum Ausdruck kommt. Ein solcher Ausschluss bedeutet ein besonderes Risiko, dass der Käufer regelmäßig gerade nicht übernehmen will.13 6

Ein allgemeiner Haftungsausschluss bezieht sich nur bei besonderen Anhaltspunkten auf Nebenpflichtverletzungen, Mangelfolgeschäden und deliktische Haftung.14 3. Arglistig verschwiegene Mängel

7

Der Verkäufer verschweigt einen Mangel, den er kennt oder zumindest für möglich hält, soweit er offenbarungspflichtig ist und billigend in Kauf nimmt, dass der Käufer den Mangel nicht kennt und bei Kenntnis den Vertrag jedenfalls nicht so abgeschlossen hätte. Grundsätzlich genügt bedingter Vorsatz im Sinne eines „Fürmöglichhaltens und Inkaufnehmens“, mit dem kein moralisches Unwerturteil entsprechend betrügerischem Verhalten verbunden sein muss.15 Voraussetzung für vorsätzliches Verschweigen eines Mangels ist jedoch stets, dass der Verkäufer den konkreten Mangel kennt oder zumindest für möglich hält (s. § 438 Rz. 12). Für mehrere Verkäufer ist zunächst die Zurechnung arglistigen Verhaltens nach den Regeln des § 166 zu prüfen. Ist danach eine Zurechnung auszuschließen, wirkt der vereinbarte Haftungsausschluss nur zu Gunsten der nicht arglistig handelnden Verkäufer.16 4. Soweit Garantie für Beschaffenheit der Sache übernommen

8

Der Verkäufer übernimmt eine Garantie für die Beschaffenheit der Sache, soweit er nach Vertragsauslegung für das Vorliegen einer Beschaffenheit ggf. auch ohne Verschulden auf Schadensersatz haften will.17 Die Einschränkung eines Haftungsausschlusses gilt nur, „soweit“ es einen Konflikt mit der zutreffend ausgelegten Garantievereinbarung gibt (inkl. ihrer Einschränkungen).18 Allgemeine oder vertraglich „versteckte“ Haftungsausschlüsse treten hinter Garantievereinbarungen zurück.19

III. Rechtsfolgen 9

Ein vereinbarter Haftungsausschluss ist bezogen auf die kaufrechtlichen Mängelansprüche des § 437 unwirksam, soweit der Haftungsausschluss die Rechte des Käufers wegen eines arglistig verschwiegenen Mangels oder im Bereich einer Beschaffenheitsgarantie beschränkt. Der Gewährleistungsausschluss und der Kaufvertrag im Übrigen bleiben grundsätzlich wirksam. Wird eine Beschaffenheitsgarantie zusammen mit einer summenmäßigen Haftungsbeschränkung vereinbart, liegt es nahe, im Rahmen der Auslegung der Garantievereinbarung bezogen auf den Garantiegegenstand eine Obergrenze der durch die Garantie eingeräumten Rechte anzunehmen.

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 10

§ 444 regelt Grenzen der Abdingbarkeit der Mängelhaftung im Individualvertrag. Die weitergehenden Einschränkungen aus §§ 475 ff. bei Verbrauchsgüterkaufverträgen bleiben unberührt. Der Verkäufer kann seine Haftung für Mängel aber durch umfassende Information des Käufers über die Mängel (§ 442) oder durch Vereinbarung einer negativen Beschaffenheit erreichen, § 434. 13 Vgl. BGH v. 24.1.2003 – V ZR 248/02, NJW 2003, 1316 f.; MünchKomm/Westermann, § 444 BGB Rz. 10 m.w.N. 14 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 444 BGB Rz. 10 m.w.N.; a.A. mit einschränkender Begründung Erman/ Grunewald, § 444 BGB Rz. 8. 15 Vgl. BGH v. 16.3.2012 – V ZR 18/11, NJW-RR 2012, 1078 Rz. 24; zur Definition der Arglist BGH v. 21.7.2017 – V ZR 250/15, NJW 2018, 389 Rz. 11; BGH v. 22.4.2016 – V ZR 23/15, NJW 2017, 150 Rz. 21. 16 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 444 BGB Rz. 12 m.w.N. 17 Vgl. BGH v. 29.11.2006 – VIII ZR 92/06, NJW 2007, 1346 Rz. 20 m.w.N. = CR 2007, 473; Erman/Grunewald, § 437 BGB Rz. 27 ff. m.w.N. 18 Vgl. Erman/Grunewald, § 444 BGB Rz. 13 m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 444 BGB Rz. 12. 19 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 444 BGB Rz. 15 m.w.N.

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Rückgriff des Verkäufers

§ 445a BGB

2. Auswirkungen auf AGB-Recht Die auch im unternehmerischen Verkehr erheblich enger gesteckten Grenzen des Haftungsausschlusses in Formularverträgen bleiben unberührt (z.B. im Falle umfassender Haftungsausschlüsse in Open Source-Software Lizenzbedingungen;20 s. § 309 Rz. 61).

11

V. Prozessuales Der Verkäufer hat zunächst die Tatsachen für die Vereinbarung einer Haftungsbeschränkung zu beweisen.

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Dann trägt der Käufer die Beweislast für das Vorliegen einer Beschaffenheitsgarantie oder für das arglistige Verschweigen eines Mangels. Bezogen auf die fehlende Offenbarung durch den Verkäufer kommen dem Käufer Erleichterungen nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast zugute, nach denen der Käufer den Vortrag des Verkäufers zur Aufklärung (räumlich, zeitlich und inhaltlich) ausräumen muss.21 Trägt der Verkäufer entsprechend vor und gelingt es dem Käufer, dies auszuräumen, trägt der Verkäufer die Beweislast, dass der Käufer Kenntnis von dem Mangel unabhängig von einer dem Verkäufer zurechenbaren Aufklärung erlangt hat.22

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§ 445a Rückgriff des Verkäufers (1) Der Verkäufer kann beim Verkauf einer neu hergestellten Sache von dem Verkäufer, der ihm die Sache verkauft hatte (Lieferant), Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Verhältnis zum Käufer nach § 439 Absatz 2 und 3 sowie § 475 Absatz 4 und 6 zu tragen hatte, wenn der vom Käufer geltend gemachte Mangel bereits beim Übergang der Gefahr auf den Verkäufer vorhanden war. (2) Für die in § 437 bezeichneten Rechte des Verkäufers gegen seinen Lieferanten bedarf es wegen des vom Käufer geltend gemachten Mangels der sonst erforderlichen Fristsetzung nicht, wenn der Verkäufer die verkaufte neu hergestellte Sache als Folge ihrer Mangelhaftigkeit zurücknehmen musste oder der Käufer den Kaufpreis gemindert hat. (3) Die Absätze 1 und 2 finden auf die Ansprüche des Lieferanten und der übrigen Käufer in der Lieferkette gegen die jeweiligen Verkäufer entsprechende Anwendung, wenn die Schuldner Unternehmer sind. (4) § 377 des Handelsgesetzbuchs bleibt unberührt. I. Allgemeines (Rückgriff zum Hersteller in Lieferketten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkauf/Verkäufer/Lieferant . . . . . . . . . . Neu hergestellte Sache (§ 445a Abs. 1 Satz 1) Mangel bereits bei Gefahrübergang (§ 445a Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufwendungen im Verhältnis zum Käufer (§ 445a Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kein Nachleistungsverlangen (§ 445a Abs. 2)

1

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6. Anwendung auf unternehmerische Lieferkette (§ 445a Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 7. Rügeobliegenheiten unberührt (§ 445a Abs. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 III. Rechtsfolgen (Aufwendungsersatzansprüche) . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Bandehzadeh/Röschenkemper, Der AGB-rechtliche Ausschluss der §§ BGB § 445a, BGB § 445b BGB in rein unternehmerischen Lieferketten, BB 2018, 1738; Looschelders, Neuregelungen im Kaufrecht durch das Gesetz 20 Vgl. dazu Jaeger/Metzger, Rz. 183 ff. m.w.N. 21 Vgl. BGH v. 12.11.2010 – V ZR 181/09, NJW 2011, 1279 Rz. 12 m.w.N. 22 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 444 BGB Rz. 4 m.w.N.

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BGB § 445a Rz. 1 Rückgriff des Verkäufers zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung, JA 2018, 81; Mediger, Die Abdingbarkeit der Mängelhaftung beim Rückgriff des Verkäufers in AGB, NJW 2018, 577; Nietsch/Osmanovic, Die kaufrechtliche Sachmängelhaftung nach dem Gesetz zur Änderung des Bauvertragsrechts, NJW 2018, 1; Orlikowski-Wolf, Auswirkungen der Änderungen der kaufrechtlichen Mängelhaftung zum 1.1.2018 auf AGB im B2BVerkehr, ZIP 2018, 360; Paulus/Zwirlein, Der neugefasste Lieferantenbegriff im Kaufrecht, NJW 2018, 1841; Ring, Der Aufwendungsersatzanspruch des Käufers für den Ausbau einer mangelhaften und den Einbau einer mangelfreien Sache, ZAP 2018, 119; Tidtke/Schmitt, Der Händlerregress im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs, ZIP 2005, 681; Weidt, Der Rückgriff des Verkäufers im neuen Mängelhaftungsrecht, NJW 2018, 263.

I. Allgemeines (Rückgriff zum Hersteller in Lieferketten) 1

Die Neuregelung des § 445a soll einen Ausgleich für die Belastungen durch gestärkte Ein- und Ausbaupflichten von Verkäufern bilden. Sie erweitert für ab dem 1.1.2018 geschlossene Kaufverträge im Wesentlichen bislang nur für den Verbrauchsgüterkauf geltende Regeln (§ 478 Abs. 2 a.F.) ins auch für unternehmerischen Verkehr anwendbare Kaufrecht.

2

Durch den Regress erhalten Verkäufer einer neu hergestellten Sache die Möglichkeit, ihre wirtschaftlichen Belastungen bis zum Verursacher eines Mangels in der jeweiligen Lieferkette weiterzureichen.1 Leitbild war der Handwerker, der wegen des Einbaus mangelhaften Baumaterials in Anspruch genommen wird.2 Mit Blick auf die Entwicklung vernetzter Baumaterialien (Stichwort: Smart Home) und zum Internet der Dinge (Internet of Things/IoT) ergeben sich zunehmend zunehmend Anwendungsfälle im IT-Recht. Daneben ist an fremdproduzierte Hardware oder an Software in typischen Vertriebsformen zu denken, bei denen nicht der Hersteller/Entwickler selbst die Kaufverträge mit Endkunden schließt. Aus dem Anwendungsbereich auszugrenzen sind Fälle, in denen Zulieferungen für die Herstellung einer neuen Sache verarbeitet werden (z.B. bei Herstellung eines Steuerungsgeräts aus einer Hardware und mit Anpassungen versehener Software).

3

Endet die Lieferkette in einem Verbrauchsgüterkauf nach § 474, so gelten die Mängelrechte des Verkäufers auch gegenüber Individualvereinbarungen im Wesentlichen zwingend. Die Beweislastregeln aus § 477 gelten für § 445a Abs. 1 und 2 mit der Maßgabe, dass die Frist mit dem Gefahrübergang auf den Verbraucher beginnt.

II. Norminhalt 1. Verkauf/Verkäufer/Lieferant 4

Die Regelung geht vom Kaufvertrag zwischen dem „Käufer“ und „Verkäufer“ einer neu hergestellten Sache aus. Ein Verkauf kann durch Kauf- und Werklieferungsverträge erfolgen, § 650.3 Die Regelung bezieht sich weiter auf das Mehrpersonenverhältnis zwischen dem Verkäufer und seinem legal definierten „Lieferanten“, der dem Verkäufer die Kaufsache mit eigenständigem Vertrag verkauft hat. Durch entsprechende Anwendung der Regeln auf vorhergehende Kaufverträge bezieht die Regelung die jeweilige Lieferkette ein, § 445a Abs. 3. 2. Neu hergestellte Sache (§ 445a Abs. 1 Satz 1)

5

§ 445a bezieht sich auf den Kauf von Sachen (§§ 90, 90a, z.B. Hardware). Standardsoftware wird nach den Regeln des Sachkaufs verkauft.4 Beim Rechtskauf findet § 445a Anwendung, sofern das erworbene Recht zum Besitz einer Sache berechtigt.5

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Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 18/8486, 41. Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 18/8486, 25, 27 f. Vgl. Weidt, NJW 2018, 263, 263 f. Vgl. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394 Rz. 15 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune unter Verweis auf wiederholte Rspr. und die h.L. 5 Vgl. Erman/Grunewald, § 446 BGB Rz. 3; MünchKomm/Westermann, § 446 BGB Rz. 4.

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Rückgriff des Verkäufers

Rz. 12 § 445a BGB

Der Kauf muss sich auf eine hergestellte Sache beziehen, d.h. die Zulieferung von Produktionselementen einer Sache genügt nicht. Die Lieferkette endet beim Hersteller der weiterverkauften Sache. Beispielsweise ist der Produzent einer aus Soft- und Hardware bestehenden Gerätes deren Hersteller und damit Letzverantwortlicher der Lieferkette. Die Zulieferer von Hardwarebausteinen oder integrierten Softwareelementen eine auf einer Hardware eingebettete Software sind keine Lieferanten i.S.v. § 445a Abs. 1 Satz 1.

6

Neu hergestellt sind Sachen, die in Abgrenzung von gebrauchten Gegenständen noch nicht genutzt wurden. Das umfasst auch seit längerer Zeit gelagerte Gegenstände, die dann erst weiterverkauft werden.

7

Im Falle von Standardsoftware sind Alternativen denkbar: (i) Die erstmalige Nutzung einer Standardsoftware durch einen Nutzer oder (ii) die jeweilige Nutzung einer vertriebenen Programmkopie durch deren Käufer. Die teleologische Auslegung spricht dafür, allein die jeweilige Nutzung einer vertriebenen Programmkopie als maßgeblich anzusehen. § 445a Abs. 1 und 3 beziehen sich ausdrücklich auf die jeweiligen durch einen Kaufgegenstand und die Personenverhältnisse definierte Lieferketten. Für jeden Kaufgegenstand wird differenziert, u.A. um etwaige Fehlerquellen zu berücksichtigen, die sich bezogen auf bestimmte Kaufgegenstände durch einen bestimmten Zwischenlieferanten ergeben können (z.B. bei falscher Lagerung einer Lieferung durch einen Zwischenlieferanten). In diesem Sinne knüpft das Gesetz an das Vorhandensein des Mangels jeweils bei Gefahrübergang zum Verkäufer an, § 445a Abs. 1 am Ende. Dann ist auch für Standardsoftware die jeweilige Programmkopie maßgeblich. Ob der Gefahrübergang durch Auslieferung eines Datenträgers oder Datenfernübertragung bewirkt wurde, spielt angesichts höchstrichterlicher Rechtsprechung keine Rolle (s. im Zusammenhang § 435 Rz. 16).

8

3. Mangel bereits bei Gefahrübergang (§ 445a Abs. 1) Der vom Käufer geltend gemachte Mangel muss bereits beim Übergang der Gefahr auf den Verkäufer vorhanden gewesen sein. Abgesehen von Fällen des Annahmeverzugs (s. §§ 300 Abs. 2, 446 Satz 3) ist damit die Übergabe vom Lieferanten an den Verkäufer maßgeblich, d.h. wenn er zur Erfüllung des Kaufvertrages unmittelbaren Besitz an der Sache verschafft, § 854 (s. § 446 Rz. 4).

9

4. Aufwendungen im Verhältnis zum Käufer (§ 445a Abs. 1) Der Verkäufer muss wegen vom Käufer gestellter Mängelansprüche bestimmte Aufwendungen getätigt 10 haben. Die Aufwändungen sind nur ersatzfähig, soweit sie (i) tatsächlich vom Verkäufer getragen wurden und (ii) der Verkäufer zur Tragung verpflichtet war. Darunter fallen vom Verkäufer zum Zwecke der Nacherfüllung erforderliche Aufwendungen, insb. für Transport-, Wege-, arbeits- und Materialkosten (s. § 439 Abs. 2). Daneben sind erforderliche Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften und den Einbau oder das Anbringen der nachgebesserten oder gelieferten mangelfreien Sache zu ersetzen (s. § 439 Abs. 3). Die Beschränkung des Ersatzanspruchs auf die Pflichtleistungen des Verkäufers bewirkt, dass sämtliche Einwendungen gegen Rückgriffsansprüche in der Lieferkette bis zum Letztkäufer erheblich sind. Z.B. kann ein Produzent den vom Lieferanten (seinem Käufer) geltend gemachten Rückgriffsanspruch abwehren, indem er darauf verweist, dass der Lieferant gegenüber dem Verkäufer nicht verpflichtet war, weil bereits der Verkäufer sich auf § 377 HGB hätte berufen können. Insoweit wird die grds. Beschränkung auf die Kaufvertragsverhältnisse aufgehoben.

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5. Kein Nachleistungsverlangen (§ 445a Abs. 2) Als Ausnahme vom Grundsatz des Vorrangs der Nacherfüllung kann der Verkäufer die nach § 445a 12 Abs. 1 mangelhafte Sache zurücknehmen oder den Kaufpreis mindern, ohne dem Lieferanten vorab eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt zu haben. Ausdrücklich dürfen Rücknahme oder Minderung wegen des Mangels ohne Nacherfüllungsverlangen erfolgen. Rücknahme bezeichnet insoweit jede Form der Rückabwicklung, die ursächlich mit dem Mangel nach § 445a Abs. 1 verknüpft ist.

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BGB § 445a Rz. 13 Rückgriff des Verkäufers 6. Anwendung auf unternehmerische Lieferkette (§ 445a Abs. 3) 13

Die Rückgriffsansprüche des Verkäufers können in Lieferketten bis zum Hersteller der neu hergestellten Sache eingreifen. Die Voraussetzungen des § 445a sind jeweils entsprechend für das nächste relevante Vertragsverhältnis anzuwenden (also für den den Kaufvertrag zwischen Lieferant und Verkäufer, die dann im Sinne des § 445a als Verkäufer und Käufer zu behandeln sind). Insb. spielt für die jeweilige Prüfung eine Rolle, ob der Mangel bei Gefahrübergang der Sache an den jeweiligen Käufer (vormals Verkäufer) schon vorhanden war. Die entsprechende Anwendung bewirkt, dass aus § 445a jeweils ausschließlich innerhalb des Vertragsverhältnisses Ansprüche der Vertragsparteien geltend gemacht werden können.

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Nach § 445a können nur Ansprüche gegen Unternehmer im Sinne des § 14 geltend gemacht werden. Ein Verbraucher kann nicht Schuldner sein, d.h. mit einem Verbraucher endet eine Lieferkette notwendig. 7. Rügeobliegenheiten unberührt (§ 445a Abs. 4)

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Die Rügeobliegenheiten nach § 377 HGB bleiben voll anwendbar (s. § 438 Rz. 21 ff.). Der Lieferant und weitere Schuldner der Lieferkette können in zweifacher Hinsicht § 377 HGB einwenden: (i) Rügeobliegenheiten des Käufers: Standen dem Käufer wegen Verletzung der Rückobliegenheiten keine Mängelrechte zu, war der Verkäufer nicht mehr im Sinne des § 445a zur Tragung des Aufwandes (§ 445a Abs. 1) oder zur Rücknahme verpflichtet; es bestand kein Minderungsrecht des Käufers (§ 445a Abs. 2). (ii) Rügeobliegenheiten des Verkäufers: Davon unabhängig verliert der Verkäufer seine Mängelansprüche gegen den Lieferanten auch dann, wenn er seine Rügeobliegenheiten gegenüber dem Lieferanten verletzt. Zur Wahrung der Mängelrechte mit Blick auf die Rügeobliegenheiten nach § 377 HGB ist der Verkäufer gehalten, Regressfälle unverzüglich mit seinem Lieferanten zu klären. Das gilt jeweils mit Blick auf alle Verkäufer der Lieferkette im Anwendungsbereich des § 377 HGB.

III. Rechtsfolgen (Aufwendungsersatzansprüche) 16

Der Verkäufer kann vom Lieferanten aus § 445a Abs. 1 verschuldensunabhängig Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Verhältnis zum Käufer nach den §§ 439 Abs. 2 und 3 sowie 475 Abs. 4 und 6 zu tragen hatte (s. § 439 Rz. 10). Ersatzfähig sind danach sämtliche betrieblichen Aufwendungen im Rahmen der Sorgfaltsanforderungen des § 254 (im Anwendungsbereich des § 442 nach § 439 Abs. 3 Satz 2 gilt abschließend der Verweis auf Kenntnis/grob fahrlässige Unkenntnis, s. § 442 Rz. 8). Dazu gehören auch anteilig genutzte Einrichtungen und Arbeitskräfte, die für solche Mängelfälle vorgehalten werden. Für Software ist insb. an Projekt- und Entwicklungswerkzeuge sowie qualifiziertes Personal zu denken. Aus teleologischen Gründen ist eine Gewinnmarge nicht im Rahmen des Aufwendungsersatzes geltend zu machen.6

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 17

Ist der letzte Verkauf einer Lieferkette ein Verbrauchsgüterkauf (s. § 474 Abs. 1), sind abweichende Vereinbarungen auch bezogen auf die Regressvorschriften in der unternehmerischen Lieferkette vor Mitteilung eines Mangels an den jeweils als Schuldner in Anspruch genommenen Lieferanten zu Lasten des Verkäufers nicht durchsetzbar, wenn dem Rückgriffsgläubiger kein gleichwertiger Ausgleich eingeräumt wird (s. § 476 Abs. 1 Satz 1, s. § 478). Gleichwertig ist ein Ausgleich, wenn er im Sinne der Ziele des § 478 (mittelbarer Verbraucherschutz) entsprechende Wirkung entfalten. Dafür muss der Verkäufer im Ergebnis die wirtschaftliche Belastung aus der Inanspruchnahme weiterreichen können. Dazu können Rabatte, Fallpauschalen, Warengutschriften oder Mehrlieferung dienen, wenn im jeweiligen 6 Vgl. dazu Überblick bei BeckOK BGB/Arnold, § 445a Rz. 112 ff.

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Verjährung von Rückgriffsansprüchen

§ 445b BGB

Einzelfall die wirtschaftliche Belastung entsprechend kompensiert wird. Auch Umgehungen sind unwirksam (s. § 476 Abs. 1 Satz 2; s. § 478 Abs. 2 Satz 3). Schadensersatzansprüche sind davon ausgenommen, § 478 Abs. 2 Satz 2. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht In AGB sind die gesetzgeberischen Festlegungen zu Gunsten des Rückgriffs zu berücksichtigen. Die allgemeinen Regeln für Haftungsausschlüsse in AGB gelten jedoch ausdrücklich auch für AGB betreffend Rückgriffsansprüche des Verkäufers gegen Lieferanten, § 478 Abs. 2 Satz 2. Das Klauselverbot des § 309 Nr. 8 b) cc) entfaltet seine Indizwirkung im Rahmen der Inhaltskontrolle nach § 307.7

18

V. Prozessuales Die Durchsetzung eines Rückgriffsanspruchs in der Lieferkette setzt nach § 445a jeweils voraus, dass in den vorangegangenen Stufen (i) die Aufwände tatsächlich getragen wurden und (ii) die Voraussetzungen für eine Pflicht zur Tragung erfüllt waren. Der Verkäufer im Sinne des § 445a kann in unabhängigen Streitverfahren wegen derselben Mängel sowohl gegenüber dem Käufer zur Zahlung verurteilt und gegenüber dem Lieferanten mit seinem Rückgriffsanspruch abgewiesen werden. In Streitverfahren ist die Streitverkündung erforderlich, um auf den Gleichlauf der Entscheidungen hinzuwirken, § 72 Abs. 1 ZPO. Für den Streitverkündeten ist bezogen auf die jeweiligen Streitgegenstände zu bewerten, ob bzw. wem mit Blick auf mögliche Einschränkungen der Nebeninterventionswirkung beigetreten werden soll (Verhinderung durch Prozesshandlungen der Hauptpartei, § 68 Halbs. 2 ZPO). Der Streitverkündete hat seinerseits zu prüfen, ob er von seinem Recht zur Streitverkündung nach § 72 Abs. 3 ZPO Gebrauch macht.

19

Wird ein Lieferant in der Lieferkette über Mängel informiert (z.B. mit Blick auf Rügeobliegenheiten), ist häufig weitergehende Information und Mitwirkung zur Klärung anzuraten. Mit Blick auf eine Nebenintervention ist in der Vorstufe einer Lieferkette ein rechtliches Interesse eines möglichen Schuldners nach § 445a am Ausgang eines Rechtsstreits zu bejahen, § 66 Abs. 1 ZPO. Der Lieferant kann dem Rechtsstreit zwischen Verkäufer und Käufer nach diesen Regeln auch ohne Streitverkündung beitreten.

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Ist der letzte Verkauf einer Lieferkette ein Verbrauchsgüterkauf (s. § 474 Abs. 1), wird für Sachmängel innerhalb einer Frist von sechs Monaten vermutet, dass die Sache bei Gefahrübergang mangelhaft war, wenn die Vermutung mit der Natur der Sache oder Mangels nicht unvereinbar ist (s. § 477). Die Frist beginnt mit dem Übrgang der Gefahr auf den Verbraucher (s. § 478 Abs. 1). Im Übrigen hat der Verkäufer zu beweisen, dass der Mangel bei Übergang der Gefahr vom Lieferanten auf den Verkäufer bestand.8

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§ 445b Verjährung von Rückgriffsansprüchen (1) Die in § 445a Absatz 1 bestimmten Aufwendungsersatzansprüche verjähren in zwei Jahren ab Ablieferung der Sache. (2) Die Verjährung der in den §§ 437 und 445a Absatz 1 bestimmten Ansprüche des Verkäufers gegen seinen Lieferanten wegen des Mangels einer verkauften neu hergestellten Sache tritt frühestens zwei Monate nach dem Zeitpunkt ein, in dem der Verkäufer die Ansprüche des Käufers erfüllt hat. Diese Ablaufhemmung endet spätestens fünf Jahre nach dem Zeitpunkt, in dem der Lieferant die Sache dem Verkäufer abgeliefert hat.

7 Vgl. BGH v. 10.10.2013 – VII ZR 19/19, NJW 2014, 206 Rz. 21 unter Verweis auf seine Rechtsprechung. 8 Vgl. Looschelders, JA 2018, 81, 85.

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BGB § 445b Rz. 1 Verjährung von Rückgriffsansprüchen (3) Die Absätze 1 und 2 finden auf die Ansprüche des Lieferanten und der übrigen Käufer in der Lieferkette gegen die jeweiligen Verkäufer entsprechende Anwendung, wenn die Schuldner Unternehmer sind. I. Allgemeines (Rückgriff vor Verjährung geschützt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt (Sonderverjährungsregel) 1. Verjährungsfrist für Aufwendungsersatzansprüche (§ 445b Abs. 1) . . . . . . . . 2. Hemmung des Verjährungseintritts (§ 445b Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erstreckung auf die unternehmerische Lieferkette (§ 445b Abs. 3) . . . . . . . .

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1 2

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3

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III. Rechtsfolgen (Hemmung der Verjährung, § 445b Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur: Sendmeyer, Die Ablaufhemmung der Verjährung im Unternehmerregress, NJW 2008, 1914; Tidtke/ Schmitt, der Händlerregress im Rahmen des Verbrauchsgüterkaufs, ZIP 2005, 681; Nietsch/Osmanovic, Die kaufrechtliche Sachmängelhaftung nach dem Gesetz zur Änderung des Bauvertragsrechts, NJW 2018, 1; Weidt, Der Rückgriff des Verkäufers im neuen Mängelhaftungsrecht, NJW 2018, 263.

I. Allgemeines (Rückgriff vor Verjährung geschützt) 1

Die Regelung beruht auf § 445a, nach dem die Aufwändungen eines Verkäufers, die aus Mängeln einer neu hergestellten Kaufsache ergeben, über eine unternehmerische Lieferkette bis zum Mangelverursacher weiterbelastet werden können. § 445b soll verhindern, dass dieses Ziel wegen zwischenzeitlich eingetretener Verjährung verfhelt wird. Es handelt sich um eine Spezialregelung für den in § 445a Abs. 1 normierten Aufwendungsersatzanspruch Abseits der Verjährungsregeln aus § 438. Rügeobliegenheiten nach § 377 HGB bleiben unberührt, § 445a Abs. 4.

II. Norminhalt (Sonderverjährungsregel) 1. Verjährungsfrist für Aufwendungsersatzansprüche (§ 445b Abs. 1) 2

Die Aufwendungsersatzansprüche nach § 445a Abs. 1 verjähren einheitlich innerhalb von zwei Jahren ab Ablieferung der Sache, § 445b Abs. 1. Die Differenzierungen des § 438 für unterschiedliche Ansprüche gelten nicht. 2. Hemmung des Verjährungseintritts (§ 445b Abs. 2)

3

Der Verkäufer im Sinne des § 445a Abs. 1 muss gegen seinen Lieferanten Mängelrechte nach § 437 oder Aufwendungsersatzansprüche nach § 445a Abs. 1 wegen des Mangels einer verkauften neu hergestellten Sache haben. 3. Erstreckung auf die unternehmerische Lieferkette (§ 445b Abs. 3)

4

Die Regeln zur zweijährigen Verjährung in § 445b Abs. 1 und zur Verjährungshemmung in § 445b Abs. 2 sind entsprechend auf Schuldner in der Lieferkette anzuwenden, die Unternehmer sind, § 445b Abs. 3.

III. Rechtsfolgen (Hemmung der Verjährung, § 445b Abs. 2) 5

Die Verjährungshemmung bezieht sich auf den Aufwendungsersatzanspruch des Verkäufers gegen seinen Lieferanten nach § 445a Abs. 1 und auf auf dessen Ansprüche aus § 437 gegen seinen Lieferanten wegen des Mangels einer verkauften neu hergestellten Sache. Die in § 445b Abs. 1 und § 438 882

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Verjährung von Rückgriffsansprüchen

Rz. 7 § 445b BGB

geregelte Verjährung ist gehemmt bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Erfüllung der (begründeten) Ansprüche des Käufers durch den Verkäufer. Als Höchstgrenze dieser Hemmung ist ein Zeitraum von fünf Jahren ab Ablieferung der Sache beim Verkäufer bestimmt, § 445b Abs. 2 Satz 2. Der Wortlaut des Gesetzes stellt für den Beginn der Zweimonatsfrist ausdrücklich auf die Erfüllung der Ansprüche des Käufers durch den Verkäufer ab. Ist die Verjährung vor oder nach Veräußerung der Kaufsache durch den Lieferanten an den Verkäufer 6 bereits eingetreten (z.B. bei einer neu hergestellten aber länger gelagerten Kaufsache), ist strittig, ob auch solche Ansprüche von der „Ablaufhemmung“ des § 445b Abs. 2 erfasst werden, für die die Zweijahresfrist des § 445b Abs. 1 bereits abgelaufen ist.1 Für die umfassende Anwendung des § 445b Abs. 2 ist zunächst auf den Gesetzeswortlaut verweisen: Die Verjährungsfrist des § 445b Abs. 1 wird ausdrücklich mit einer Mindestfrist verknüpft, vor deren Ablauf keine Verjährung eintreten kann, § 445b Abs. 2 Satz 1. Diese Mindestfrist wird ausdrücklich als Ablaufhemmung der Verjährung bezeichnet, § 445b Abs. 2 Satz 2. Eine Verjährung gehemmter Ansprüche ist ausgeschlossen, § 209. Eine Ausnahme bildet die gesetzlich bestimmte Maximalfrist von fünf Jahren nach Ablieferung der Kaufsache durch den Lieferanten an den Käufer, § 445b Abs. 2. Aus teleologischer Sicht ist hervorzuheben, dass der Verkäufer auch nach Ablauf der zweijährigen Frist gleichermaßen dem Risiko ausgesetzt bleibt, Ansprüche des Käufers erfüllen zu müssen, ohne Rückgriff bei seinem Lieferanten nehmen zu können.2 Für eine teleologisch einschränkende Anwendung des § 445b Abs. 2 wird mit Blick auf die Regelungsziele des Gesetzgebers wird jedoch bzgl. § 437 eine einschränkende Auslegung diskutiert: Pauschal bewirkt die Ablaufhemmung eine Verlängerung der Verjährungsfrist von zwei Jahren auf bis zu fünf Jahre ab Ablieferung. Der Wortlaut sieht keine Begrenzung auf Fälle vor, in denen dem Verkäufer noch Gewährleistungsansprüche des Käufers drohen. Darin erschöpfe sich aber der Zweck der Regelung.3 Ein Käufer hätte darüber hinaus allein deshalb zufällig das Glück einer fünfjährigen Verjährung, weil er eine neu hergestellte Kaufsache weiter verkauft hat. Systematische und teleologische Auslegung erfordern eine teleologische Reduktion der Wortlautauslegung dahin, dass es der Erfüllung von Ansprüchen des Käufers gleichsteht (d.h. die Zweimonatsfrist in Gang setzt), wenn solche Ansprüche nicht oder nicht mehr durchsetzbar sind.4 Gegen eine teleologisch einschränkende Anwendung des § 445b Abs. 2 spricht, dass dann Fälle entstehen, in denen bereits verjährte Ansprüche wieder als gehemmte Ansprüche zu qualifizieren sind. Beispielsweise wäre ein länger gelagerter Gegenstand, der dann nicht verkauft sondern selbst genutzt werden soll zunächst der Hemmung entzogen. Es wäre zu bestimmen, ob bezogen auf eine Kaufsache solche Ansprüche nicht oder nicht mehr durchsetzbar wären, z.B. weil sie nicht zur Weiterveräußerung bestimmt ist. Wir sie dann nachfolgend doch weiter veräußert, müssten die verjährten Ansprüche innerhalb der Fünfjahresfrist wieder aufleben. Anderenfalls wäre der Verkäufer im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut wegen einer zwischenzeitlichen „Umwidmung“ des Zwecks der Kaufsache aus dem Anwendungsbereich und Regelungszweck der Vorschrift ausgegrenzt. Auch die Verjährungsregeln gelten nur für diejenigen Schuldner der Lieferkette, die Unternehmer 7 sind. Für die Berechnung der Frist von fünf Jahren ist die Ablieferung des jeweiligen Lieferanten beim jeweiligen Käufer maßgeblich.

1 Verneinend zum wortgleichen § 479 Abs. 2 a.F. Tiedtke/Schmitt, ZIP 2005, 681, 686 m.w.N.; Sendmeyer, NJW 2008, 1914, 1915. 2 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 445b BGB Rz. 5 m.w.N.; MünchKomm/Lorenz, § 479 a.F. BGB Rz. 11, 12 m.w.N. 3 Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 18/8486, 42; dort heißt es wörtlich zu § 445b Abs. 2: „§ 445b Absatz 2 BGB-E entspricht der bislang geltenden Systematik des § 479 Absatz 2. § 445b Absatz 2 Satz 1 BGB-E sieht zugunsten des Letztverkäufers eine Sonderregelung der Verjährung vor. Diese Regelung soll in einem zeitlich begrenzten Rahmen gewährleisten, dass ein Verkäufer, der den Gewährleistungsansprüchen seines Käufers ausgesetzt ist, an dem Rückgriff in der Lieferkette nicht auf Grund der Verjährung seiner Ansprüche gehindert ist. Im Interesse der Rechtssicherheit für den Lieferanten wird durch § 445b Absatz 2 Satz 2 BGB-E unverändert eine Obergrenze von fünf Jahren ab Ablieferung der Sache durch den Lieferanten an den Verkäufer gesetzt.“ 4 Vgl. Tiedtke/Schmitt, ZIP 2005, 681, 686 m.w.N.; MünchKomm/Lorenz, § 479 BGB Rz. 13, 14 m.w.N.

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BGB § 445b Rz. 8 Verjährung von Rückgriffsansprüchen

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 8

Ist der letzte Verkauf einer Lieferkette ein Verbrauchsgüterkauf (s. § 474 Abs. 1), sind abweichende Vereinbarungen auch bezogen auf die Regressvorschriften in der unternehmerischen Lieferkette vor Mitteilung eines Mangels an den jeweils als Schuldner in Anspruch genommenen Lieferanten nicht durchsetzbar (s. § 478 Abs. 2). Auch Umgehungen sind unwirksam (s. § 476 Abs. 1 Satz 2). 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

9

Für Änderungen in AGB gelten die zu § 438 entwickelten Grundsätze entsprechend (s. § 438 Rz. 28 ff.).

V. Prozessuales 10

Die Ablaufhemmung des § 445b Abs. 2 ermöglicht es dem in Anspruch genommenen Lieferanten, seinerseits durch verjährungshemmende Maßnahmen seine Rechte zu sichern, z.B. durch Verhandlungen (§ 203) oder Streitverkündung (§§ 72 ff. ZPO; s. auch zur Streitverkündung § 445a Rz. 18).

11

Die Voraussetzungen der Ablaufhemmung nach § 445b Abs. 2 hat der Verkäufer zu beweisen.

§ 446 Gefahr- und Lastenübergang Mit der Übergabe der verkauften Sache geht die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Verschlechterung auf den Käufer über. Von der Übergabe an gebühren dem Käufer die Nutzungen und trägt er die Lasten der Sache. Der Übergabe steht es gleich, wenn der Käufer im Verzug der Annahme ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirksamer Kaufvertrag . . . . . . . . . . . . . 2. Übergabe der verkauften Sache . . . . . . . . .

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III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . .

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V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Allgemeines 1

§ 446 beschreibt den Übergang von Risiken, Nutzungen und Lasten der Kaufsache vom Verkäufer auf den Käufer. Bis zur Verschaffung der tatsächlichen Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Sache muss der Käufer den Kaufpreis nicht bezahlen, wenn die Kaufsache untergeht (Preisgefahr), §§ 275, 326 Abs. 1. § 446 beschreibt zusammen mit § 447 den Zeitpunkt, auf den es für die Mangelfreiheit im Sinne der Mängelrechte nach den §§ 434 ff. ankommt. Vorgaben aus dem europäischen Recht bestehen insoweit nicht. Auf eine Harmonisierung wurde verzichtet.1

1 S. Erwägungsgrund 14 der RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12.

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Gefahr- und Lastenübergang

Rz. 7 § 446 BGB

II. Norminhalt 1. Wirksamer Kaufvertrag An einem wirksamen Kaufvertrag fehlt es nach erfolgter Anfechtung, § 142 Abs. 1. Gleichfalls unanwendbar ist § 446, wenn der Käufer den Vertrag nach § 355 widerrufen hat oder nach §§ 437 Nr. 2, 346 zurückgetreten ist.2 Auf einen aufschiebend bedingten oder schwebend unwirksamen Vertrag ist § 446 nur anwendbar, wenn die Bedingung eintritt oder nachfolgend die schwebende Unwirksamkeit (etwa wegen Genehmigung) entfällt. Ist der Kaufvertrag unter auflösender Bedingung vereinbart, § 158 Abs. 2, endigt seine Wirkung mit dem Eintritt der Bedingung.

2

2. Übergabe der verkauften Sache § 446 bezieht sich auf den Kauf von Sachen (§§ 90, 90a), von Bruchteilen und Sachgesamtheiten. Standardsoftware wird nach den Regeln des Sachkaufs verkauft.3 Beim Rechtskauf findet § 446 Anwendung, sofern das erworbene Recht zum Besitz einer Sache berechtigt.4

3

Der Verkäufer übergibt i.S.d. § 446, wenn er zur Erfüllung des Kaufvertrages unmittelbaren Besitz an 4 der Sache verschafft, § 854. Die Übergabe hat zur Erfüllung des Kaufvertrags zu erfolgen. Eine Billigung der Kaufsache als Erfüllung durch den Käufer ist aber nicht erforderlich.5 Erfolgt die Überlassung von Software per Download, so ist die Übergabe mit vollständiger Herstellung der Kopie beim Käufer erfolgt. Die probeweise Überlassung oder der Besitz bei Abschluss des Kaufvertrags (etwa eines Testsystems) bewirkt die Übergabe für § 446, soweit die Kaufsache zur Erfüllung beim Käufer verbleiben soll.6 Ob die Verschaffung mittelbaren Besitzes an der Kaufsache ausreicht, hängt von der Auslegung des Kaufvertrages im Einzelfall ab. Die Abtretung eines Herausgabeanspruchs genügt grundsätzlich nicht. Vereinbaren die Parteien jedoch (z.B. im Fall der fortzusetzenden Vermietung eines Gegenstandes an einen Dritten) einen Verkauf der gerade keine tatsächliche Übergabe beinhalten soll, genügt für die Übergabe der mittelbare Besitz.7

III. Rechtsfolgen Mit Übergabe oder Annahmeverzug geht die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Verschlechterung auf den Käufer über, § 446 Satz 1. Von der Übergabe an gebühren dem Käufer die Nutzungen und trägt er die Lasten der Sache, § 446 Satz 2.

5

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht Der Gefahrübergang kann verlegt, vorgezogen oder verschoben werden (z.B. bei Hardwareverträgen).8

6

2. Auswirkungen auf AGB-Recht Die Verschiebung des Gefahrübergangs in AGB ohne Einflussmöglichkeit auf die Kaufsache und Möglichkeit zur Nutzung ist als Verstoß gegen § 307 unwirksam.9

2 Vgl. Erman/Grunewald, § 446 BGB Rz. 4 m.w.N. 3 Vgl. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, NJW 2007, 2394 Rz. 15 = CR 2007, 75 m. Anm. Lejeune unter Verweis auf wiederholte Rspr. und die h.L. 4 Vgl. Erman/Grunewald, § 446 BGB Rz. 3; MünchKomm/Westermann, § 446 BGB Rz. 4. 5 Vgl. Erman/Grunewald, § 446 BGB Rz. 6; MünchKomm/Westermann, § 446 BGB Rz. 7 m.w.N. 6 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 446 BGB Rz. 7 m.w.N. 7 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 446 BGB Rz. 7 m.w.N. 8 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 446 BGB Rz. 3; Staudinger/Beckmann, § 446 BGB Rz. 41 m.w.N. 9 Vgl. Staudinger/Beckmann, § 446 BGB Rz. 42 m.w.N.

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BGB § 446 Rz. 8 Gefahr- und Lastenübergang

V. Prozessuales 8

Die Beweislast für den Zeitpunkt des Übergangs trägt derjenige, der sich darauf beruft. Der Käufer trägt die Beweislast für etwaiges Verschulden des Verkäufers bzgl. des Untergangs oder der Verschlechterung der Kaufsache.10

§ 447 Gefahrübergang beim Versendungskauf (1) Versendet der Verkäufer auf Verlangen des Käufers die verkaufte Sache nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort, so geht die Gefahr auf den Käufer über, sobald der Verkäufer die Sache dem Spediteur, dem Frachtführer oder der sonst zur Ausführung der Versendung bestimmten Person oder Anstalt ausgeliefert hat. (2) Hat der Käufer eine besondere Anweisung über die Art der Versendung erteilt und weicht der Verkäufer ohne dringenden Grund von der Anweisung ab, so ist der Verkäufer dem Käufer für den daraus entstehenden Schaden verantwortlich. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit Kaufvertragsrecht . . . 2. Versenden nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort (§ 447 Abs. 1) . . . 3. Versendung auf Verlangen des Käufers (§ 447 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auslieferung an Transportperson (§ 447 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . .

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1 3 3

5. Besondere Anweisung des Käufers über die Art der Versendung (§ 447 Abs. 2) . . . . . . . 6. Abweichung ohne dringenden Grund (§ 447 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Allgemeines 1

Die Vergütungsgefahr geht grundsätzlich mit Übergabe der Kaufsache an den Käufer auf diesen über, § 446. Außer im Falle der Bringschuld ist der Verkäufer aber nicht zum Transport an den Sitz des Käufers verpflichtet. Der Verkäufer handelt also fremdnützig im Sinne des Käufers, wenn er für den Käufer den Transport organisiert. Dafür entlastet § 447 den Verkäufer von der Vergütungsgefahr.

2

Die Regelung spielt für IT-Leistungen beschränkt auf die Lieferung von Hardware noch eine Rolle, soweit nicht in Liefer(rahmen)verträgen spezielle Vereinbarungen getroffen werden. Dort werden häufig abweichende Regeln zu Transportrisiken festgelegt (z.B. die Incoterms 2010).1

II. Norminhalt 1. Anwendbarkeit Kaufvertragsrecht 3

Erforderlich ist die Versendung eines Kaufgegenstandes auf Grundlage eines wirksamen Kaufvertrags (zum bedingten Kaufvertrag s. § 446 Rz. 2). Für den Verbrauchsgüterkauf gelten die Sonderregeln des § 474 Abs. 4.

10 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 446 BGB Rz. 4. 1 Vgl. Überblick zu im Handelsverkehr gängigen Klauseln bei Baumbach/Hopt/Hopt, § 346 HGB Rz. 39 f. m.w.N.

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Diedrich

Gefahrübergang beim Versendungskauf

Rz. 9 § 447 BGB

2. Versenden nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort (§ 447 Abs. 1) Erfüllungsort ist unabhängig von der Kostentragung derjenige Ort, an dem der Verkäufer nach den Vereinbarungen der Parteien seine Leistungshandlung zu vollziehen hat, Leistungsort i.S.d. § 269 Abs. 1.

4

§ 447 ist für Schickschuld anwendbar. Bei Holschuld geht die Gefahr bei Übergabe am Sitz des Verkäufers über, § 446.

5

3. Versendung auf Verlangen des Käufers (§ 447 Abs. 1) Die Versendung muss stets auf (mindestens konkludentes) Verlangen des Käufers erfolgt sein.2 Anderenfalls könnte der Verkäufer den Gefahrübergang nach Bedarf durch Versendung herbeiführen.

6

4. Auslieferung an Transportperson (§ 447 Abs. 1) Auslieferung ist die physische Übergabe der Kaufsache an die Transportperson und das Veranlassen sämtlicher erforderlicher Maßnahmen, die beim gewöhnlichen Verlauf der Geschehnisse zur Überlassung an den Käufer führen werden.3 Der Verkäufer muss die Transportperson sorgfältig auswählen und sie zum vertragsgemäßen Transport verpflichten (z.B. durch Abschluss eines Beförderungsvertrages). Transportpersonen können Dritte, aber auch der Verkäufer selbst oder sein Personal sein.4 Die Sache ist bei Gattungsschulden erst durch Konkretisierung festgelegt. Das geschieht regelmäßig mit Übergabe an die Transportperson, auch bei Versand mehrerer Gattungsgegenstände für mehrere Käufer (z.B. bei kombiniertem Versand von Hardware). Die erfolgte Konkretisierung transportierter Kaufsachen kann durch Änderung des Lieferziels geändert werden.5

7

5. Besondere Anweisung des Käufers über die Art der Versendung (§ 447 Abs. 2) Der Käufer muss dem Verkäufer eine besondere Anweisung über die Art der Versendung erteilt haben (z.B. zu der Zeit des Transports, den Transportmitteln, der Transportroute, der Verpackung der Kaufsache, einer Versicherung). Ohne Vereinbarung oder Anweisung ist der Verkäufer nur zum Abschluss einer Transportversicherung verpflichtet, wenn dies üblich ist. Auch zur Nachfrage beim Käufer, ob Interesse an der Versicherung besteht, ist der Verkäufer nur bei außergewöhnlichen Anhaltspunkten verpflichtet.6 Bei Versendung hochwertiger Güter wie Hardware sind jedoch geringe Anforderungen an solche Anhaltspunkte zu stellen.

8

6. Abweichung ohne dringenden Grund (§ 447 Abs. 2) Ein dringender Grund liegt vor, wenn die Befolgung der Anweisung des Käufers wegen außergewöhnlicher Umstände unzumutbar oder sinnwidrig ist (z.B. bei Irrtum des Käufers über erhebliche Gefahr). Dann hat der Verkäufer nach dem Rechtsgedanken des § 665 Satz 2 jedoch – sofern dafür die Zeit bleibt – den Käufer abzufragen. Nur wenn diese Möglichkeit nicht besteht, kann der Verkäufer eigenmächtig Änderungen vornehmen. Eine solche Abweichung ist als Verschulden des Verkäufers auch für § 447 Abs. 1 zu berücksichtigen, so dass eine schuldhafte Verschlechterung anzunehmen sein kann.7

2 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 8 m.w.N. 3 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 14 m.w.N. 4 Vgl. jurisPK BGB/Leible/Müller, § 447 Rz. 30 m.w.N.; zum Streitstand MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 16 f.; mit Überblick zur h.M. Erman/Grunewald, § 447 BGB Rz. 10 m.w.N. 5 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 15 m.w.N. 6 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 21 m.w.N. 7 Vgl. Erman/Grunewald, § 447 BGB Rz. 18; MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 9.

Diedrich

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9

BGB § 447 Rz. 10 Gefahrübergang beim Versendungskauf

III. Rechtsfolgen 10

Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 447 Abs. 1 geht die Gefahr, die Vergütung trotz zufälligen Untergangs oder einer zufälligen Verschlechterung der Kaufsache gleichwohl an den Verkäufer bezahlen zu müssen auf den Käufer über (Vergütungsgefahr/Preisgefahr). Die Haftung des Verkäufers für Verschulden bleibt unberührt. Der Käufer erhält einen Schadensersatzanspruch, wenn der Verkäufer nach § 447 Abs. 2 ohne dringenden Grund von Weisungen des Käufers abweicht und sich die Abweichung im Schaden ausgewirkt hat.8 Mit Gefahrübergang geht das Eigentum an der Kaufsache noch nicht über, so dass sich Anwendungsfälle der Drittschadensliquidation ergeben: Der Verkäufer kann als Eigentümer den Schaden liquidieren, den wegen des Gefahrübergangs der Käufer erleidet. Der Käufer kann Abtretung des Anspruchs nach § 285 verlangen.9

IV. Abdingbarkeit 11

§ 447 ist dispositiv. Einschränkungen ergeben sich beim Verbrauchsgüterkauf aus § 474 Abs. 4. Im internationalen Handelsverkehr werden häufig die Incoterms 2010 verwendet.10

V. Prozessuales 12

Das Vorliegen eines Versendungskaufs hat die Partei zu beweisen, die sich darauf beruft. Der Verkäufer trägt die Beweislast dafür, dass der Käufer die Versendung entsprechend veranlasst hat. Weiter trägt der Verkäufer die Beweislast für die ordnungsgemäße Übergabe an die Transportperson.11 Nimmt der Käufer die Kaufsache als Erfüllung an, kehrt sich die Beweislast um, § 363.

13

Für § 447 Abs. 2 muss zunächst der Käufer beweisen, dass er dem Verkäufer eine Weisung erteilt hat, dass diese zweckmäßig war, der Verkäufer von ihr abgewichen ist und die Abweichung den geltend gemachten Schaden bewirkt hat. Der Verkäufer hat das Vorliegen eines dringenden Grundes für eine Abweichung zu beweisen und den Entlastungsbeweis für sein Verschulden zu führen.12

§ 448 Kosten der Übergabe und vergleichbare Kosten (1) Der Verkäufer trägt die Kosten der Übergabe der Sache, der Käufer die Kosten der Abnahme und der Versendung der Sache nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort. (2) Der Käufer eines Grundstücks trägt die Kosten der Beurkundung des Kaufvertrags und der Auflassung, der Eintragung ins Grundbuch und der zu der Eintragung erforderlichen Erklärungen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. Kosten der Abnahme der Sache . . . . . . . .

3

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kosten der Versendung und Übergabe der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 5

2

8 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 447 BGB Rz. 19. 9 Vgl. Erman/Grunewald, § 447 BGB Rz. 14; MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 26. 10 Vgl. Überblick zu im Handelsverkehr gängigen Klauseln bei Baumbach/Hopt/Hopt, § 346 HGB Rz. 39 f. m.w.N. 11 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 447 BGB Rz. 22. 12 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 447 BGB Rz. 27 m.w.N.

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Diedrich

Kosten der Übergabe und vergleichbare Kosten

Rz. 5 § 448 BGB

I. Allgemeines § 448 regelt dispositiv den Grundsatz, dass jede Partei die mit der Erfüllung ihrer Pflichten verbunde- 1 nen Kosten übernimmt.

II. Norminhalt 1. Kosten der Versendung und Übergabe der Sache Die vom Verkäufer für die Übergabe geschuldeten Leistungen und damit die Kosten der Übergabe der Sache hängen davon ab, ob die Parteien eine Hol-, Schick- oder Bringschuld vereinbart haben, § 269: Im Falle einer Holschuld trägt der Verkäufer die erforderlichen Kosten, um die Kaufsache in einem abholfähigen Zustand bis zum vereinbarten Zeitpunkt vorzuhalten, Lager- und zu erwartende Verpackungskosten. Das Beladen eines Transportmittels des Käufers selbst gehört nicht mehr dazu. Bei einem Versendungskauf hat der Verkäufer die zur Übergabe der Kaufsache an die Transportperson und zur Veranlassung des vertragsgemäßen Transportes erforderliche Kosten zu übernehmen, z.B. Lagern, erforderliche Verpackung, Ausliefern an die Transportperson etc. Ab Übergabe an die Transportperson trägt der Käufer die Kosten, z.B. für den Transport, Transportversicherung, Empfangsprüfungen etc.1 Bei Bringschuld trägt der Verkäufer auch die Kosten des Transports an den vereinbarten Erfüllungsort inkl. der der Kosten der Ablieferung in der verkehrsüblichen Form.2

2

2. Kosten der Abnahme der Sache Zu den Kosten der Abnahme gehören alle Kosten, die zur Übernahme der Sache in den Besitz des Käu- 3 fers anfallen, insb. zum Aufladen durch den vom Käufer eingesetzten Transporteur für den Weitertransport und zur Untersuchung auf Mängel.3 Damit trägt der Käufer insb. die Kosten von Wareneingangskontrollen/Qualitätssicherung, die insb. bei Hardwarelieferungen erheblich werden können (vgl. Kommentierung zu § 377 HGB unter § 438 Rz. 23 ff.).

III. Rechtsfolgen Die jeweils durch die pflichtgemäße Durchführung des Kaufvertrages entstehenden Kosten sind zu ersetzen. Demgegenüber umfasst die Regelung nicht den Ersatz von Kosten, die durch Pflichtverletzungen einer Partei darüber hinaus verursacht werden.

4

IV. Abdingbarkeit § 448 ist dispositiv. In der Praxis werden i.d.R. gravierende Abweichungen in Form der Incoterms 2010 vereinbart.4 Auch im Verbrauchsgüterkauf gelten keine Beschränkungen, insb. nicht aus § 474 Abs. 4, der die Gefahrtragung nach § 447 betrifft.

1 2 3 4

Vgl. Erman/Grunewald, § 448 BGB Rz. 3; MünchKomm/Westermann, § 448 BGB Rz. 6 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 448 BGB Rz. 5 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 448 BGB Rz. 9 m.w.N. Vgl. Überblick zu im Handelsverkehr gängigen Klauseln bei Baumbach/Hopt/Hopt, § 346 HGB Rz. 39 f. m.w.N.

Diedrich

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BGB § 449 Rz. 1 Eigentumsvorbehalt

§ 449 Eigentumsvorbehalt (1) Hat sich der Verkäufer einer beweglichen Sache das Eigentum bis zur Zahlung des Kaufpreises vorbehalten, so ist im Zweifel anzunehmen, dass das Eigentum unter der aufschiebenden Bedingung vollständiger Zahlung des Kaufpreises übertragen wird (Eigentumsvorbehalt). (2) Auf Grund des Eigentumsvorbehalts kann der Verkäufer die Sache nur herausverlangen, wenn er vom Vertrag zurückgetreten ist. (3) Die Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts ist nichtig, soweit der Eigentumsübergang davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer Forderungen eines Dritten, insbesondere eines mit dem Verkäufer verbundenen Unternehmens, erfüllt. I. II. 1. 2. 3. 4.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . Bewegliche Sache . . . . . . . . . . . . Eigentum vorbehalten . . . . . . . . . Vollständige Zahlung des Kaufpreises Herausverlangen nach Rücktritt (§ 449 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

1 3 3 4 5

5. Eigentumsvorbehalt für Forderungen eines Dritten (§ 449 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 8

IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes/Dispositives Recht . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf AGB-Recht . . . . . . . . .

9 9 10

. . . . .

6

V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

Literatur: Söbbing, F&E-Vertragsgestaltung in der Informationstechnologie, ITRB 2009, 260.

I. Allgemeines 1

Ausgangspunkt für den Eigentumsvorbehalt ist der wirtschaftliche Bedarf der Kaufvertragsparteien, vom Grundsatz der Zug-um-Zug-Erfüllung abzuweichen. Vielfach ist ein Warenkredit gewollt, so dass der Verkäufer beschränkt auf den Besitz vorleistet. Der dingliche Vertrag i.S.d. §§ 929 ff. wird aber unter der aufschiebenden Bedingung vollständiger Zahlung des Kaufpreises geschlossen, § 158 Abs. 1. Dann wird der Rückabwicklungsanspruch des Verkäufers durch den Eigentumsvorbehalt gesichert. Der Käufer wird durch das Anwartschaftsrecht vor Zwischenverfügungen des Verkäufers geschützt.1 Für Software finden sich entsprechende Gestaltungen als Lizenzvorbehalte.

2

Europarechtliche Vorgaben aus der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie2 ergeben sich nicht. Art. 4 Abs. 1 der Zahlungsverzugsrichtlinie3 sieht die Einrichtung des im deutschen Recht ohnehin bereits verankerten Eigentumsvorbehalts im nationalen Recht vor. Der Eigentumsvorbehalt sichert den Verkäufer auch im Falle der Insolvenz des Käufers. Das gilt auch, wenn sich die Kaufsache zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem der Verfahrenseröffnung befindet, Art. 7 Abs. 1 Insolvenzverordnung.4

II. Norminhalt 1. Bewegliche Sache 3

Der Eigentumsvorbehalt muss sich auf eine bewegliche Sache beziehen, §§ 90, 90a. Da es sich um einen dinglichen Vertrag i.S.d. § 929 handelt, ist der sachenrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz zu beachten

1 Vgl. dazu Palandt/Weidenkaff, § 449 BGB Rz. 1; Staudinger/Beckmann, § 449 BGB Rz. 2 f. m.w.N. 2 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 3 RL 2000/35/EG des europäischen Parlaments und Rates vom 29.6.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. 4 VO 1346/2000/EG des europäischen Parlaments und Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren.

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Diedrich

Eigentumsvorbehalt

Rz. 7 § 449 BGB

(Bestimmbarkeit der einzelnen Sachen). Insoweit ist beispielsweise der Eigentumsvorbehalt bezogen auf einen Betrieb oder Betriebsteil als solchen im Rahmen eines Outsourcingvertrags zu unbestimmt.5 2. Eigentum vorbehalten Der Eigentumsvorbehalt verletzt die Pflicht zur Eigentumsverschaffung, wenn er nicht Teil der kaufvertraglichen Vereinbarungen geworden ist. Das kann auch durch schlüssiges Verhalten geschehen (z.B. nachträglich bei Ablieferung der Kaufsache). Es ist kein Handelsbrauch anzunehmen, nach dem bei Vorleistung des Verkäufers das Eigentum auch ohne entsprechende Vereinbarungen vorbehalten ist.6 Für die Eigentumsübertragung selbst ist die Auslegung des dinglichen Vertrages maßgeblich: Behält sich der Verkäufer ohne Vorbehalt im Kaufvertrag das Eigentum vor, verletzt er zwar seine Pflicht zur unbedingten Eigentumsübertragung, § 433 Abs. 1, überträgt aber nur bedingtes Eigentum. Erfolgen keine weiteren Erklärungen zur Übereignung, kann der Käufer mit vertragsgemäßem Verhalten rechnen.7 Verweise auf Lieferschein oder Rechnung genügen nur, wenn sie vor Übereignung dem Käufer oder einer zur Vertragsgestaltung zuständigen Person vorlagen. Auch dann kann eine überraschende Klausel i.S.d. § 305c Abs. 1 vorliegen.8

4

3. Vollständige Zahlung des Kaufpreises Erforderlich ist die vollständige Erfüllung bzgl. des Kaufpreises einschließlich sonstiger Nebenkosten des Kaufs, die durch den Käufer zu tragen sind (z.B. Zinsen, Umsatzsteuern, s. § 448 Abs. 1).9

5

4. Herausverlangen nach Rücktritt (§ 449 Abs. 2) Einem Herausgabeanspruch des Eigentümers aus § 985 steht bis zum erfolgten Rücktritt das Besitzrecht aus dem Kaufvertrag ggü., § 986. Der Verkäufer kann die Kaufsache also erst nach erfolgtem Rücktritt herausverlangen, wenn die Parteien nicht wirksam abweichende Vereinbarungen getroffen haben.10

6

5. Eigentumsvorbehalt für Forderungen eines Dritten (§ 449 Abs. 3) Der Eigentumsvorbehalt ist schuldrechtlich wie dinglich nichtig, „soweit“ er davon abhängig gemacht wird, dass der Käufer Kaufpreisforderungen eines Dritten erfüllt (Drittvorbehalt).11 Der Vorbehalt bleibt aber beschränkt auf die verkäufereigenen Forderungen wirksam. Ein vormals populäres Beispiel bieten Vereinbarungen, nach denen das Eigentum erst dann auf den Käufer übergehen soll, wenn auch mit dem Verkäufer verbundenen Konzernunternehmen keine offenen Forderungen mehr gegen den Käufer haben (Konzernvorbehalt).12 Der Wortlaut macht deutlich, dass der Konzernvorbehalt nur beispielhaft erwähnt wird. Beim umgekehrten Konzernvorbehalt sichert der Eigentumsvorbehalt neben der Kaufpreisforderung Forderungen des Verkäufers gegen mit dem Käufer verbundene Dritte. § 449 Abs. 3 ist nicht unmittelbar anwendbar, weil sich die Bedingung auf Forderungen des Verkäufers gegen Dritte bezieht. Die abweichende Interessenlage im Konzernverbund (als Sicherungsgeber) spricht gegen eine Analogie.13

5 6 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 9 m.w.N. Vgl. dazu Überblick bei jurisPK BGB/Leible/Müller, § 449 Rz. 9 m.w.N. Vgl. Erman/Grunewald, § 449 BGB Rz. 3; Palandt/Weidenkaff, § 449 BGB Rz. 11 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 18 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 22 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 30 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 79 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 79 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 80 m.w.N.

Diedrich

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7

BGB § 449 Rz. 8 Eigentumsvorbehalt

III. Rechtsfolgen 8

§ 449 Abs. 1: Die vollständige Erfüllung des Übertragungstatbestandes und damit der Erwerb von Eigentum an der beweglichen Kaufsache ist bezogen auf den dinglichen Vertrag erst mit Eintritt der aufschiebenden Bedingung der vollständigen Zahlung des Kaufpreises erfüllt. Bis zu diesem Zeitpunkt erwirbt der Käufer nur ein Anwartschaftsrecht (i.S.d. § 161). Wird der Käufer insolvent, kann der Verkäufer aufgrund seines Eigentums die Kaufsache aussondern, § 47 InsO (bei Verlängerung, Erweiterung oder Weiterübertragung Absonderung).14 Wird der Verkäufer insolvent, so kann der Käufer die Erfüllung des Kaufvertrages verlangen, wenn er vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Kaufvertrag geschlossen und den Besitz an der Sache erhalten hat, § 107 Abs. 1 Satz 1 InsO. Auch über Rechte an künftig entstehender Software kann der Verkäufer aufschiebend bedingt dinglich verfügen – mit dinglicher Wirkung in insolvenzfester Form.15 § 449 Abs. 2 stellt klar, dass ein Herausgabeanspruch erst mit Entfallen des Kaufvertrages gegeben sein kann (§§ 346, 985). Die Regelung begründet keine eigene Anspruchsgrundlage auf Herausgabe der Kaufsache. § 449 Abs. 3 ordnet die Nichtigkeit eines Drittvorbehalts an. Die Nichtigkeit erstreckt sich auf die schuldrechtliche und dingliche Vereinbarung. Die verbleibenden Teile der Vereinbarung bleiben unabhängig von den allgemeinen Regeln für teilunwirksame Verträge (§§ 139, 306) wirksam.16

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 9

Zwingend wirkt nur § 449 Abs. 3. Im Übrigen sind die Regeln über Teilzahlungskäufe zu beachten, §§ 508 Satz 5, 506. Der Eigentumsvorbehalt kann in modifizierter Form vereinbart werden.17 Das gilt insb. für zusätzliche Bedingungen, an die der Eigentumsübergang geknüpft wird. Grenzen ergeben sich bei sittenwidriger Übersicherung (i.S.d. § 138). Auch ohne entsprechende Vereinbarung besteht ein ermessensunabhängiger Anspruch des Käufers auf Freigabe nicht mehr benötigter Sicherheiten.18 § 449 Abs. 2 ist dispositiv, d.h. die Parteien können individualvertraglich einen Herausgabeanspruch ohne Rücktritt begründen. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

10

Ein Eigentumsvorbehalt kann auch in AGB vereinbart werden.19 Der Ausschluss eines Eigentumsvorbehalts in Käufer-AGB verstößt nicht gegen § 307 Abs. 1. Einschränkungen ergeben sich ggf. bei Unverhältnismäßigkeit zwischen gesicherter Forderung und Wert des Sicherungsguts nach § 307. In AGB ist keine Abweichung vom Grundsatz „keine Rücknahme ohne Rücktritt“ wirksam, 307 Abs. 1.20

11

In Fällen kollidierender AGB sind Vorbehalte unwirksam, § 306 Abs. 1 Satz 2. Für den dinglichen Vertrag ist jedoch zu beachten, dass der Verkäufer seinen Vorbehalt auch einseitig erklären kann, wenn seine AGB aufgrund einer Abwehrklausel nicht Vertragsinhalt geworden sind. Insoweit ist auch eine schuldrechtlich unwirksame Klausel für die Auslegung des dinglichen Vertrages zu beachten.21

14 Vgl. Erman/Grunewald, § 449 BGB Rz. 20 m.w.N.; MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 72, 74 ff. 15 Vgl. BGH v. 17.11.2005 – IX ZR 162/04, NJW 2006, 915 Rz. 11, 22 = CR 2006, 151 m. Anm. Plath/Scherenberg. 16 Vgl. BGH v. 27.3.2008 – IX ZR 220/05, NJW 2008, 1803 Rz. 8. 17 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 35 m.w.N. 18 Vgl. BGH v. 27.11.1997 – GSZ 1/97, GSZ 2/97, NJW 1998, 671, 673; vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 75 m.w.N. 19 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 13 m.w.N. 20 Vgl. BGH v. 19.12.2007 – XII ZR 61/05, NJW-RR 2008, 818 Rz. 41 f. m.w.N. unter Verweis auf den Ausdruck eines allgemeinen Gerechtigkeitsgebots zum Schutz des Käufers. 21 Vgl. BGH v. 30.3.1988 – VIII ZR 340/86, NJW 1988, 1774, 1776 = CR 1988, 661.

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Diedrich

Ausgeschlossene Käufer bei bestimmten Verkäufen

Rz. 2 § 450 BGB

V. Prozessuales Der Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises verjährt in der regelmäßigen Verjährung nach drei Jahren, 12 §§ 195, 199. Der Anspruch des Eigentümers auf Herausgabe verjährt nach 30 Jahren, § 197 Abs. 1 Nr. 2. Die Möglichkeit des Eigentümers zum Rücktritt ist beschränkt, sobald der Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises verjährt ist, § 218 Abs. 1. Davon gilt jedoch für den durch Eigentumsvorbehalt gesicherten Kaufpreisanspruch eine Ausnahme, § 216 Abs. 2 Satz 2. Der Verkäufer kann also ausnahmsweise auch nach Verjährung der Kaufpreisforderung zurücktreten. Für die Rückgewähr bereits gezahlter Vergütungen, der Kaufsache und den Ersatz gezogener Nutzungen gelten die Regeln der §§ 346 f. Die Beweislast für die Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts trägt derjenige, der sich auf sie beruft, § 1006 Abs. 2.22

§ 450 Ausgeschlossene Käufer bei bestimmten Verkäufen (1) Bei einem Verkauf im Wege der Zwangsvollstreckung dürfen der mit der Vornahme oder Leitung des Verkaufs Beauftragte und die von ihm zugezogenen Gehilfen einschließlich des Protokollführers den zu verkaufenden Gegenstand weder für sich persönlich oder durch einen anderen noch als Vertreter eines anderen kaufen. (2) Abs. 1 gilt auch bei einem Verkauf außerhalb der Zwangsvollstreckung, wenn der Auftrag zu dem Verkauf auf Grund einer gesetzlichen Vorschrift erteilt worden ist, die den Auftraggeber ermächtigt, den Gegenstand für Rechnung eines anderen verkaufen zu lassen, insbesondere in den Fällen des Pfandverkaufs und des in den §§ 383 und 385 zugelassenen Verkaufs, sowie bei einem Verkauf aus einer Insolvenzmasse. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verkauf im Wege der Zwangsvollstreckung . . 2. Ausgeschlossene: Mit Vornahme oder Leitung des Verkaufs Beauftragter/Gehilfen . . . . . . .

3 3 4

3. Für sich persönlich/durch einen anderen/ als Vertreter eines anderen . . . . . . . . . . . . 4. Verkaufsauftrag auf Grund einer gesetzlichen Vorschrift (§ 450 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . .

6

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 8

5

I. Allgemeines § 450 regelt einen Spezialfall eines Selbstkontrahierungsverbots: Die an Verkäufen im Wege der Zwangsvollstreckung beteiligten Personen dürfen den veräußerten Gegenstand nicht selbst erwerben. Das gilt unmittelbar wie mittelbar. Die am Veräußerungserlös Interessierten sollen vor der ohnehin gravierenden Gefahr des Verkaufs unter Marktpreis geschützt werden. Ähnliche Regeln gelten auch außerhalb des Anwendungsbereichs bei freiwilliger gewerbsmäßiger Versteigerung, § 34b Abs. 6 GewO, VersteigererVO. Bei Versteigerungen durch Notare gelten §§ 16 Abs. 1, 20 Abs. 3 BNotO, BeurkG.

1

Die Regeln der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sind für Verkäufe aufgrund von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen oder anderen gerichtlichen Maßnahmen nicht anwendbar, da solche Gegenstände aus der Definition der Verbrauchsgüter ausgegrenzt werden, Art. 1 Abs. 2 Buchst. b 1. Spiegelstrich Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.1

2

22 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 449 BGB Rz. 90 m.w.N. 1 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12.

Diedrich

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BGB § 450 Rz. 3 Ausgeschlossene Käufer bei bestimmten Verkäufen

II. Norminhalt 1. Verkauf im Wege der Zwangsvollstreckung 3

Verkäufe im Wege der Zwangsvollstreckung können sich nach den dafür maßgeblichen Regeln der ZPO ergeben, §§ 814 – 817a ZPO, aber auch bei Verwertung von Wertpapieren, § 821 ZPO, im freihändigen Verkauf, § 825 ZPO, beim Verkauf von Rechten, §§ 844, 857 ZPO.2 2. Ausgeschlossene: Mit Vornahme oder Leitung des Verkaufs Beauftragter/Gehilfen

4

Ausgeschlossen werden Personen, die aufgrund ihrer verfahrensrechtlichen Stellung auf die Entscheidung über die Person des Erwerbers Einfluss nehmen können. Dazu zählen am Versteigerungstermin beteiligte Gerichtsvollzieher, § 814 ZPO, Versteigerer oder Verkaufsbeauftragte, § 825 ZPO, leitende Richter oder Rechtspfleger, §§ 844, 857 ZPO, § 1 ZVG. Das gilt entsprechend für die im Versteigerungstermin eingesetzten Gehilfen3 und für den Insolvenzverwalter.4 3. Für sich persönlich/durch einen anderen/als Vertreter eines anderen

5

Das Verbot erstreckt sich auch auf handeln durch oder für Dritte. Ausgeschlossene Personen dürfen danach keinen Vertreter oder Beauftragten einsetzen, um einen Gegenstand für sich zu erwerben. Ebenso wenig dürfen ausgeschlossene Personen als Vertreter, §§ 164 ff., den Gegenstand erwerben. Der Erwerb vom ordnungsgemäßen Ersterwerber durch eine ausgeschlossene Person fällt nur unter § 450 Abs. 1, wenn der Ersterwerber bereits im Auftrag der ausgeschlossenen Person handelte.5 4. Verkaufsauftrag auf Grund einer gesetzlichen Vorschrift (§ 450 Abs. 2)

6

§ 450 Abs. 2 setzt voraus, dass zunächst ein Verkauf außerhalb der Zwangsvollstreckung stattfindet. Dann muss der Auftrag zum Verkauf aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift erteilt worden sein, die den Auftraggeber ermächtigt, den Gegenstand für Rechnung eines anderen verkaufen zu lassen. Der Verweis auf die Regeln zum Pfandverkauf, ist nur beispielhaft: §§ 383 (Versteigerung hinterlegungsunfähiger Sachen); 385 (freihändiger Verkauf); 731, 753, 1477, 1498, 2042 (Auseinandersetzungen); 966, 979, 983 (Versteigerung von Fundsachen); 1003, 2022 (Befriedigung von Verwendungsersatzansprüchen); 1219, 1221, 1228 ff. und §§ 368, 371 HGB (Pfandverkauf); §§ 376 (Fixhandelsverkauf), 379 (Notverkauf), 373, 376, 388, 391 HGB (Selbsthilfeverkauf), 440 (Pfandrecht des Frachtführers) HGB; § 159 InsO (Verwertung der Insolvenzmasse). Der Auftraggeber selbst ist bei § 450 Abs. 2 nicht ausgeschlossen.

III. Rechtsfolgen 7

Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 450 Abs. 1 ergeben sich aus § 451: Kauf und Übereignung sind schwebend unwirksam. Eine Genehmigung ist möglich.

IV. Abdingbarkeit 8

Die Vorschriften sind auch individualvertraglich zwingend.

2 3 4 5

Vgl. Erman/Grunewald, § 450 BGB Rz. 2; Palandt/Weidenkaff, § 450 BGB Rz. 4. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 450 BGB Rz. 4 m.w.N. Vgl. zum Streitstand jurisPK BGB/Leible/Müller, § 450 Rz. 19 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 450 BGB Rz. 4 m.w.N.

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Diedrich

Kauf durch ausgeschlossene Käufer

Rz. 4 § 451 BGB

§ 451 Kauf durch ausgeschlossene Käufer (1) Die Wirksamkeit eines dem § 450 zuwider erfolgten Kaufs und der Übertragung des gekauften Gegenstandes hängt von der Zustimmung der bei dem Verkauf als Schuldner, Eigentümer oder Gläubiger Beteiligten ab. Fordert der Käufer einen Beteiligten zur Erklärung über die Genehmigung auf, so findet § 177 Abs. 2 entsprechende Anwendung. (2) Wird infolge der Verweigerung der Genehmigung ein neuer Verkauf vorgenommen, so hat der frühere Käufer für die Kosten des neuen Verkaufs sowie für einen Mindererlös aufzukommen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zustimmung der Beteiligten (§ 451 Abs. 1) . .

2 2

2. Erneuter Verkauf nach Verstoß gegen § 450 (§ 451 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . .

3

III. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 5

Literatur: Grützmacher, Gebrauchtsoftware und Übertragbarkeit von Lizenzen, CR 2007, 549.

I. Allgemeines § 451 vermeidet die anderenfalls wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot eintretende Nichtigkeit nach § 134, wenn der Erwerb durch den ausgeschlossenen Käufer den Interessen der Beteiligten entspricht. Bis zur vollständigen Zustimmung oder Verweigerung ist der Verkauf schwebend unwirksam. Der Ersatzanspruch aus § 451 Abs. 2 gilt neben sonstigen Schadensersatzansprüchen (z.B. aus §§ 823 Abs. 2, 839, Art. 34 GG).

1

II. Norminhalt 1. Zustimmung der Beteiligten (§ 451 Abs. 1) Der nach § 450 schwebend unwirksame Verkauf kann mit Zustimmung (§§ 182 ff.) der beim Verkauf als Schuldner, Eigentümer oder Gläubiger beteiligten Personen wirksam werden.

2

2. Erneuter Verkauf nach Verstoß gegen § 450 (§ 451 Abs. 2) Ist ein Verkauf wegen Verstoßes gegen § 450 und mangels erfolgter Genehmigung unwirksam und erfolgt ein erneuter Verkauf, schuldet der frühere Käufer die Kosten des neuen Verkaufs und einen etwaigen Mindererlös, § 450 Abs. 2. Verschulden setzt dieser Ersatzanspruch nach klarem Wortlaut nicht voraus.1

3

III. Rechtsfolgen Erfolgt der Verkauf mit der erforderlichen Einwilligung aller beteiligten Personen, ist er von Anfang an wirksam. Im Übrigen sind der Verkauf und die Übertragung zunächst schwebend unwirksam. Ein Lösungsrecht des Käufers analog § 178 ist wegen abweichender Schutzzwecke abzulehnen.2 Der Verkauf kann rückwirkend wirksam werden, wenn alle beteiligten Personen die erforderliche Genehmigung rechtzeitig erteilen, § 184 Abs. 1.

1 Vgl. insoweit zu teleologischen Einschränkungen Überblick bei MünchKomm/Westermann, § 451 BGB Rz. 5 m.w.N. 2 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 451 BGB Rz. 4 m.w.N.

Diedrich

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4

BGB § 451 Rz. 5 Kauf durch ausgeschlossene Käufer

IV. Abdingbarkeit 5

§ 451 ist auch individualvertraglich zwingend.

§ 453 Rechtskauf (1) Die Vorschriften über den Kauf von Sachen finden auf den Kauf von Rechten und sonstigen Gegenständen entsprechende Anwendung. (2) Der Verkäufer trägt die Kosten der Begründung und Übertragung des Rechts. (3) Ist ein Recht verkauft, das zum Besitz einer Sache berechtigt, so ist der Verkäufer verpflichtet, dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu übergeben. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kaufvertrag (§ 453 Abs. 1) . . . . . . 2. Rechte und sonstige Gegenstände (§ 453 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . a) Verkauf von Immaterialgütern (z.B. Know-how, Ideen) . . . . . . b) Domains und Kryptowährungen . c) Verkauf von Unternehmen . . . .

. . . . . . . . . .

1 3 3

. . . . .

4

. . . . . . . . . . . . . . .

7 8 9

d) Verkauf von Daten . . . . . . . . . . . . . . 3. Recht, das zum Besitz einer Sache berechtigt (§ 453 Abs. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. IV. 1. 2.

Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . Zwingendes/Dispositives Recht . Auswirkungen auf AGB-Recht .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

10 12

. . . .

13 17 17 18

V. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Literatur: Berberich/Kanschik, Daten in der Insolvenz, NZI 2017, 1; Bisges, Personendaten, Wertzuordnung und Ökonomie, MMR 2017, 301; Boehm, Herausforderungen von Cloud computing-Verträgen: Vertragstypologische Einordnung, Haftung und Eigentum an Daten, ZEuP 2016, 358; Bull, Wieviel sind „meine Daten“ wert?, CR 2018, 425; Determann, Gegen Eigentumsrechte an Daten, ZD 2018, 503; Drexl, Neue Regeln für die Europäische datenwirtschaft?, NZKart 2017, 339; Druschel, Die Regelung digitaler Inhalte im gemeinsamen Europäischen Kaufrecht (GEKR), GRUR-Int. 2015, 125; Ensthaler, Industrie 4.0 und die Berechtigung an Daten, NJW 2016, 3473; Faber/ Griga/Groß, Predictive Maintenance – Hürden und Chancen zur sinnvollen Nutzung von Maschinendaten, DS 2018, 299; Fezer, Dateneigentum: Theorie des immaterialgüterrechtlichen Eigentums an verhaltensgenerierten Personendaten der Nutzer als Datenproduzenten, MMR 2017, 3; Grützmacher, Dateneigentum – ein Flickenteppich, wem gehören die Daten bei Industrie 4.0, Internet der Dinge und Connected Cars?, CR 2016, 485; Hauck, Gebrauchthandel mit digitalen Gütern, NJW 2014, 3616; Hoeren, Dateneigentum, MMR 2013, 486; Kaulartz, Die Blockchain-Technologie, CR 2016, 474; Keßler, Intelligente Roboter – neue Technologien im Einsatz, MMR 2017, 589; Kubach/Schuster, OLG Hamm: Keine Erschöpfung beim Download von Hörbüchern, CR 2014, 498; Lober/ Weber, Den Schöpfer verklagen – Haften Betreiber virtueller Welten ihren Nutzern für virtuelle Güter?, CR 2006, 837; Redeker, Information als eigenständiges Rechtsgut, CR 2011, 634; Schmidt-Kessel, Verträge über digitale Inhalte – Einordnung und Verbraucherschutz, K&R 2014, 475; Schneider, Software als handelbares verkehrsfähiges Gut – „Volumen-Lizenzen“ nach BGH, CR 2015, 413; Steinrötter, Vermeintliche Ausschließlichkeitsrechte an binären Codes, MMR 2017, 731; Terhaag/Telle, Immaterielle Erschöpfung – Gibt es den virtuellen Flohmarkt für gebrauchte Multimediadateien?, K&R 2013, 549; Wandtke, Ökonomischer wert von persönlichen Daten, MMR 2017, 6.

I. Allgemeines 1

§ 453 bündelt die Sondervorschriften für den Rechtskauf. Im Übrigen gelten die in den §§ 433 bis 452 für den Sachkauf festgelegten Vorschriften entsprechend. Die Regeln über den Kauf von Sachen, Rechten und sonstigen Gegenständen werden weitgehend vereinheitlicht. § 453 gilt insb. für den Unternehmenskauf, unabhängig davon ob die Gesamtheit aller Wirtschaftsgüter eines Unternehmens oder Gesellschaftsanteile erworben werden.1 Sachmängelansprüche sind jedoch anwendbar, wenn (nahezu) 1 S. BT-Drucks. 14/6040, 242.

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Rechtskauf

Rz. 6 § 453 BGB

sämtliche Anteile eines Unternehmens verkauft werden, die bei wirtschaftlicher Betrachtung als solche dem Käufer die Verfügungsbefungnis über das Unternehmen verschaffen.2 Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie3 und die §§ 474 ff. gelten nur für den Kauf von Sachen. Sonderregeln für digitale Inhalte nach dem Vorbild der Verbraucherrechterichtlinie4 sind nicht normiert, lassen sich aber als sonstige Gegenstände einordnen.5

2

II. Norminhalt 1. Kaufvertrag (§ 453 Abs. 1) Der Vertrag muss sich auf die dauerhafte Überlassung eines Rechts gegen Zahlung einer Vergütung beziehen (s. zur Abgrenzung von sonstigen Schuldverträgen Kommentierung § 433 Rz. 10 ff.).

3

2. Rechte und sonstige Gegenstände (§ 453 Abs. 1) Ein Recht und damit Kaufgegenstand ist die Befugnis, die sich für den Berechtigten unmittelbar aus 4 der geltenden Rechtsordnung ergibt (subjektives Recht).6 Das Recht kann einen Anspruch betreffen, § 194 Abs. 1. Die Anwendbarkeit des § 453 erstreckt sich weiter auf künftige Rechte, bedingt entstehende oder entfallende Rechte, dingliche und obligatorische Positionen, Anwartschaftsrechte, Anteile an Sachen und Rechten (auch Miteigentum), Gesellschaften, Gemeinschaften, gewerbliche Schutzrechte (z.B. Patente, Designs, Marken, urheberrechtliche Nutzungsrechte), subjektive öffentliche Rechte (z.B. Konzeption, Emissionsrechte), Lizenzen.7 Vormals intensiv geführte Streitigkeiten um die Sacheigenschaft von Software8 spielen für die Praxis keine Rolle mehr. Im Anschluss an die Rspr. des EuGH zu Gebrauchtsoftware ist auch die Gleichbehandlung von Downloads mit auf Datenträgern überlassener Software allgemein anerkannt (s. Kommentierung zu § 435).9 Im Falle fehlender Übertragbarkeit eines Rechts, ist zunächst durch Auslegung zu ermitteln, ob die Er- 5 füllung des Kaufvertrages vollständig unmöglich ist oder ein erfüllbarer Teil verbleibt. Z.B. sind Vereinbarungen zur Übertragung von Urheberrechten unmöglich, § 29 UrhG, jedoch durch Auslegung regelmäßig auf die Übertragung von Nutzungsrechten zu beziehen. Weitere Beispiele können der Nießbrauch (§ 1059 Satz 1) und eine persönliche Dienstbarkeit, § 1092 Abs. 1, sein. Unmöglichkeit hindert aber nicht die Wirksamkeit des Kaufvertrags, § 311a Abs. 1.10 Sonstige Gegenstände sind solche, die weder eine Sache noch ein Recht sind, z.B. Wasser, Gas, Strom und Fernwärme, soweit diese nicht abgefüllt oder leitungsgebundenen veräußert werden. IT-rechtlich sind folgende Kategorien hervorzuheben:

2 Vgl. BGH v. 26.9.2018 – VIII ZR 187/17, NJW 2019, 145 Rz. 25 ff. m.w.N. 3 S. RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171, 12. 4 RL 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der RL 93/13/EWG des Rates und der RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der RL 85/577/EWG des Rates und der RL 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. Nr. L 304 v. 22.11.2011, 64 ff. 5 So auch BT-Drucks. 14/6040, 242. 6 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 3. 7 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 3 ff. m.w.N. 8 So jurisPK BGB/Leible/Müller, § 453 Rz. 55 m.w.N. 9 Vgl. BGH v. 11.12.2014 – I ZR 8/13, GRUR 2015, 772 ff. = CR 2015, 429 – Usedsoft III, unter Verweis auf EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171 – UsedSoft/Oracle; BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, NJW 2015, 3576 = CR 2015, 711 – Green-IT. 10 Vgl. jurisPK BGB/Leible/Müller, § 453 Rz. 7; zur wohl a.A. Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 4 und 20.

Diedrich

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6

BGB § 453 Rz. 7 Rechtskauf a) Verkauf von Immaterialgütern (z.B. Know-how, Ideen) 7

Sonstige Gegenstände sind auch immaterielle Güter wie Know-how, Geschäfts- und Werbeideen sowie schützbare aber noch nicht geschützte Immaterialgüterrechte.11 b) Domains und Kryptowährungen

8

In den Bereich sonstiger Gegenstände gehören auch Zugangskennungen und sonstige virtuelle Gegenstände (z.B. im Rahmen von Computerspielen) sowie Domains und Kryptowährungen (z.B. Bitcoins).12 c) Verkauf von Unternehmen

9

Sonstige Gegenstände sind auch Sachgesamtheiten wie z.B. ein Unternehmen, das regelmäßig umfangreiche Betriebsmittel aus dem Bereich der Immaterialgüterrechte, Know-how sowie personenbezogenen und sonstigen Daten umfasst. d) Verkauf von Daten

10

Auch Daten gehören zu den nach § 453 dem Kaufrecht unterstellten sonstigen Gegenständen (s. zur Definition von Daten § 433 Rz. 17). Die Verschaffung von (über den tatsächlichen Zugriff hinausgehenden) Rechten ist angesichts der noch ungeklärten Rechte an Daten mit Unsicherheiten behaftet (s. § 433 Rz. 17, § 434 Rz. 67 ff., § 435 Rz. 31 ff.).13 Zu beachten sind insb. Einschränkungen zum Schutz personenbezogener Daten und von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen.14 Vereinzelt wird in Analogie zu den Regeln für die Übertragung von Eigentum an beweglichen Sachen neben dem Kaufvertrag nach § 453 auch eine dingliche Übertragung zusätzlich zur Überlassung veräußerter Daten entsprechend § 929 Satz 1 verlangt.15 Dem entgegen zu halten, dass nach geltendem Recht weder Raum noch Bedarf für eine solche Analogie besteht. Weder ein Recht auf Herausgabe noch ein Verbotsrecht auf Unterlassung und Beseitigung wären angesichts der Weite des Begriffs der Daten handhabbar: Die Einzelelemente eines Datenbestandes müssen gerade frei bleiben. Der Schutz eines bestimmten Ausschnitts eines Datenbestands wäre kaum begründbar, weil Kriterien fehlen, wie sie für das Vorliegen schutzfähiger Elemente von Computerprogrammen oder wesentlicher Teile einer Datenbank gegeben sind.

11

Zur Beschreibung von Daten als Kaufgegenstands genügt es, die vom Kaufvertrag umfassten Daten von sonstigen Daten abgrenzen zu können. Klarheit über den Inhalt des Kaufs spielt wegen der Haftungsrisiken bzgl. potenzieller Verletzung von Rechten Dritter eine Rolle. Insb. Betroffene können mit Blick auf personenbezogene Daten Rechte gegen Erwerber und Veräußerer geltend machen. Zunehmende technische Möglichkeiten steigern stetig das Risiko, dass ein zunächst anonymer Datenbestand später Daten enthält, die eine Identifikation bestimmter Personen zulassen. Zur Klarheit des Kaufvertrags sollte eine Kopie des Datenbestands archiviert werden. Soweit das aus wirtschaftlichen Gründen (mit Blick auf benötigten Speicher oder das Interesse an der ausschließlichen Verfügbarkeit des Datenbestands beim Käufer) oder aus rechtlichen Gründen (z.B. im Wege der Abwägung nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO) nicht möglich erscheint, sollte der Kaufvertrag den Umgang mit den resultierenden Risiken ausdifferenzieren.

11 Vgl. Hoeren, MMR 2013, 486, 489 m.w.N. 12 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 6 m.w.N.; s. BT-Drucks. 14/6040, 242. 13 Vgl. Überblick zum Stand der Diskussion Grützmacher, CR 2016, 485 ff.; zum Verkauf von Kundendaten im Asset Deal Plath/Struck/Hazeborg, CR 2020, 9 ff.; Nebel, CR 2016, 417; Beschluss der Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder vom 24.5.2019, https://www.datenschutzkonferenzonline.de/media/dskb/20190524_dskb_asset_deal.pdf. 14 Vgl. Grützmacher, CR 2016, 485, 495. 15 Vgl. Hoeren, MMR 2013, 486, 489, der allerdings Einschränkungen zum Schutz von Sacheigentümern, Berechtigten an Informationen und Betroffenen bzgl. ihrer personenbezogenen Daten als erforderlich ansieht.

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Diedrich

Rechtskauf

Rz. 16 § 453 BGB

3. Recht, das zum Besitz einer Sache berechtigt (§ 453 Abs. 3) Wird ein Recht verkauft, das zum Besitz der Sache berechtigt, gelten bezogen auf die Sache auch die Regeln über Sachmängel. Ein Recht zum Besitz gewähren beispielsweise das Anwartschaftsrecht des Vorbehaltskäufers, Erbbaurecht, Nießbrauch (§§ 1036, 1059), dingliches Wohnrecht (§ 1093) und Rechte eines Mieters/Pächters (§§ 535, 581). Beim Unternehmenskauf greift die Sachmangelhaftung grundsätzlich nicht ein, da sich der Kauf auf die Sachgesamtheit „Unternehmen“ und nicht auf die einzelne Sache bezieht.16 Sachmängelansprüche sind jedoch anwendbar, wenn (nahezu) sämtliche Anteile eines Unternehmens verkauft werden, die bei wirtschaftlicher Betrachtung als solche dem Käufer die Verfügungsbefungnis über das Unternehmen verschaffen.17

12

III. Rechtsfolgen Der Verkäufer ist verpflichtet, dem Käufer das verkaufte Recht/die verkauften Gegenstände frei von 13 Rechten, Einwendungen und Einreden Dritter zu verschaffen. Ist das verkaufte Recht derart belastet, liegt ein Rechtsmangel vor. Die Ansprüche des Käufers richten sich nach § 437 und verjähren nach § 438. Der Käufer kann die Rechtsfolgen der Nichterfüllung geltend machen, d.h. Erfüllung fordern, § 433 Abs. 1, Zurückbehaltung und Rücktritt aus §§ 320 ff., Schadensersatz nach §§ 280 f. oder Aufwendungsersatz nach § 284 (zum Fall der Raubkopie s. Kommentierung zu § 435). Statt der Kostenteilung nach § 448 hat der Verkäufer erforderliche Kosten der Begründung und Übertragung des verkauften Rechts zu tragen. Bei Nichtbestehen des verkauften Rechts – ohne Verschaffung eines Gegenstandes (z.B. per Download einer Software) – haftet der Verkäufer nach allgemeinen Regeln (Nicht-Entstehung, Erlöschen oder fehlender Übertragbarkeit). Der Vertragsgegenstand wird in diesem Fall nicht geleistet, d.h. auch keine unberechtigte/mangelbehaftete Programmkopie per Download etc. (s. dazu die Differenzierung für Raubkopien bei § 435 Rz. 6). Die Ansprüche des Käufers verjähren dann in der regelmäßigen Verjährungsfrist, §§ 195, 199.18 Fragen zur Anwendbarkeit der 30-jährigen Verjährung für Eviktionsfälle nach § 438 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a stellen sich nicht, weil der Käufer keinen Schutz vor einer langfristig drohenden Herausgabe benötigt (s. § 438 Rz. 5). Bei anfänglicher Unmöglichkeit kann sich der Ersatzanspruch aus § 311a Abs. 2 ergeben. Der Entlastungsbeweis ist nach allgemeinen Regeln möglich. Aus der Natur des Rechtskaufs ist keine strengere Haftung i.S.d. § 276 Abs. 1 Satz 1 abzuleiten.19

14

Steht ein verkauftes Recht einem Dritten zu, liegt Unmöglichkeit vor, wenn der Dritte zur Übertragung an den Käufer nicht bereit ist (s. zur Raubkopie Kommentierung bei § 435 Rz. 6). Auch dann ist wie bei Nichtbestehen des Rechts keine Leistung erfolgt, so dass allgemeines Leistungsstörungsrecht anwendbar ist (s. § 435 Rz. 6 zum Sonderfall, wenn gleichwohl unberechtigt eine Programmkopie verschafft wurde). Wie beim Sachkaufkauf ist die Nichtverschaffung von Eigentum am verkauften Gegenstand ein Fall der Nichterfüllung, so dass die Verjährung nach allgemeinen Regeln erfolgt (s. Kommentierung zu § 438 Rz. 5).20 Wird ein bestehendes Recht verkauft und verschafft, ist dieses aber mit einer sonstigen ggü. dem vereinbarten Inhalt abweichenden Beschaffenheit belastet, handelt es sich um einen nach § 438 verjährenden Rechtsmangel (bei verkauftem Recht zum Besitz einer Sache nach § 453 Abs. 3).21

15

Maßgebender Zeitpunkt für die Mangelfreiheit ist entsprechend § 433 Abs. 1 Satz 2 die Übertragung des Rechts, bei künftigen Rechten der Zeitpunkt ihrer Entstehung und bei Rechten, die nicht entstehen können, der Abschluss des Kaufvertrags.22

16

16 17 18 19 20 21

Vgl. zu dieser umfassend geführten Diskussion MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 19 ff. m.w.N. Vgl. BGH v. 26.9.2018 – VIII ZR 187/17, NJW 2019, 145 Rz. 25 ff. m.w.N. Vgl. jurisPK BGB/Leible/Müller, § 453 Rz. 15; Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 31 m.w.N. Vgl. MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 10 m.w.N. Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 31a. Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 17 f.; Überblick zum Meinungsstand bei jurisPK BGB/Leible/Müller, § 453 Rz. 12 m.w.N. 22 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 453 BGB Rz. 29.

Diedrich

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BGB § 453 Rz. 17 Rechtskauf

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 17

§ 453 ist dispositiv. Die nur für Sachen geltenden Regeln zum Verbrauchsgüterkauf schränken nicht ein, §§ 475 f. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

18

Es gelten dem Sachkauf entsprechende Regeln.

V. Prozessuales 19

Der Verkäufer hat das Bestehen des Rechts im nach § 363 maßgeblichen Zeitpunkt sowie die Umstände zur Begründung grob fahrlässiger Unkenntnis des Käufers nach § 442 zu beweisen. Der Käufer hat die Umstände zur Begründung von Arglist des Verkäufers sowie das spätere Erlöschen des Rechts, das Bestehen von Rechten Dritter (Einbeziehung per Streitverkündung, § 72 ZPO) und etwaiger Beschaffenheitsvereinbarungen sowie das Entstehen ursächlicher Schäden zu beweisen.23

Vor §§ 535 ff. IT-Leasing I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Bedeutung . . . . . . . . Finanzierungsgegenstand . . . . . . . . . Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . a) Finanzierungsleasing . . . . . . . . . . . b) Hersteller- und Händlerleasing . . . . . c) Operating-Leasing . . . . . . . . . . . . d) Sale-and-lease-back-Verfahren . . . . . e) Abgrenzung zum Teilzahlungsgeschäft und zum Mietkauf . . . . . . . . . . . . aa) Teilzahlungsgeschäft . . . . . . . . bb) Mietkauf . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliches Eigentum und Leasingerlasse . . . . . . . . . . . . . . . b) Hard- und Software-Spezifika . . . . .

1

. . . . . . . .

5 5 7 9 9 11 13 15

. . . .

16 16 17 19

. .

19 26

. . . .

32 32 33 34

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 38 40

. . . . . . .

41

III. 1. 2. 3.

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . Leasingtypisches Dreiecksverhältnis Wesentliche Vertragspflichten . . . .

IV. 1. 2. 3.

Vertragsschlussmechanismus . Standardmodell . . . . . . . . . Eintrittsmodell . . . . . . . . . . Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

V. 1. 2. 3. 4.

VI. Überlassung des Leasinggegenstandes und Übernahmebestätigung . . . . . . 1. Bereitstellung des Leasingobjekts . . 2. Untersuchungs- und Rügepflichten . 3. Übernahmebestätigung . . . . . . . . . a) Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . d) Fehlerhafte Übernahmebestätigung

Diedrich und Vander

. . . . . . . .

. . . .

. . . .

45 45 46 52

. .

57

. . . . . . . .

60 61 64 68 70 71 75 79

. . . . . . . .

VII. Urheberrechtliche Implikationen des Softwareleasings . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Eigentum und Zuweisung von Nutzungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Lizenzierungsmodelle und Inhalt von Nutzungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Leasing als Fall urheberrechtlicher Vermietung . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Immanente Beschränkungen des urheberrechtlichen Vermietrechts . . . . 97 c) Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 d) Synchronisation von Beschaffungsund Leasingvertrag . . . . . . . . . . . . . 106

23 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 55 m.w.N.

900

Stellung des Lieferanten . . . . . . . . . Stellvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . Erfüllungsgehilfe und Wissensvertreter Beratungsleistungen . . . . . . . . . . . Nebenabreden und Sondervereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

BGB § 453 Rz. 17 Rechtskauf

IV. Abdingbarkeit 1. Zwingendes/Dispositives Recht 17

§ 453 ist dispositiv. Die nur für Sachen geltenden Regeln zum Verbrauchsgüterkauf schränken nicht ein, §§ 475 f. 2. Auswirkungen auf AGB-Recht

18

Es gelten dem Sachkauf entsprechende Regeln.

V. Prozessuales 19

Der Verkäufer hat das Bestehen des Rechts im nach § 363 maßgeblichen Zeitpunkt sowie die Umstände zur Begründung grob fahrlässiger Unkenntnis des Käufers nach § 442 zu beweisen. Der Käufer hat die Umstände zur Begründung von Arglist des Verkäufers sowie das spätere Erlöschen des Rechts, das Bestehen von Rechten Dritter (Einbeziehung per Streitverkündung, § 72 ZPO) und etwaiger Beschaffenheitsvereinbarungen sowie das Entstehen ursächlicher Schäden zu beweisen.23

Vor §§ 535 ff. IT-Leasing I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Bedeutung . . . . . . . . Finanzierungsgegenstand . . . . . . . . . Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . a) Finanzierungsleasing . . . . . . . . . . . b) Hersteller- und Händlerleasing . . . . . c) Operating-Leasing . . . . . . . . . . . . d) Sale-and-lease-back-Verfahren . . . . . e) Abgrenzung zum Teilzahlungsgeschäft und zum Mietkauf . . . . . . . . . . . . aa) Teilzahlungsgeschäft . . . . . . . . bb) Mietkauf . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliches Eigentum und Leasingerlasse . . . . . . . . . . . . . . . b) Hard- und Software-Spezifika . . . . .

1

. . . . . . . .

5 5 7 9 9 11 13 15

. . . .

16 16 17 19

. .

19 26

. . . .

32 32 33 34

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 38 40

. . . . . . .

41

III. 1. 2. 3.

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . Leasingtypisches Dreiecksverhältnis Wesentliche Vertragspflichten . . . .

IV. 1. 2. 3.

Vertragsschlussmechanismus . Standardmodell . . . . . . . . . Eintrittsmodell . . . . . . . . . . Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen . . . . .

. . . .

. . . .

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V. 1. 2. 3. 4.

VI. Überlassung des Leasinggegenstandes und Übernahmebestätigung . . . . . . 1. Bereitstellung des Leasingobjekts . . 2. Untersuchungs- und Rügepflichten . 3. Übernahmebestätigung . . . . . . . . . a) Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . d) Fehlerhafte Übernahmebestätigung

Diedrich und Vander

. . . . . . . .

. . . .

. . . .

45 45 46 52

. .

57

. . . . . . . .

60 61 64 68 70 71 75 79

. . . . . . . .

VII. Urheberrechtliche Implikationen des Softwareleasings . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Eigentum und Zuweisung von Nutzungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Lizenzierungsmodelle und Inhalt von Nutzungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Leasing als Fall urheberrechtlicher Vermietung . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Immanente Beschränkungen des urheberrechtlichen Vermietrechts . . . . 97 c) Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 d) Synchronisation von Beschaffungsund Leasingvertrag . . . . . . . . . . . . . 106

23 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 453 BGB Rz. 55 m.w.N.

900

Stellung des Lieferanten . . . . . . . . . Stellvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . Erfüllungsgehilfe und Wissensvertreter Beratungsleistungen . . . . . . . . . . . Nebenabreden und Sondervereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IT-Leasing VIII. Gefahrtragung . . . . . 1. Preisgefahr . . . . . . . . a) Verlagerung . . . . . . b) Grenzen . . . . . . . . aa) Risikosphären . . bb) Kündigungsrecht 2. Sachgefahr . . . . . . . . a) Verlagerung . . . . . . b) Zeitpunkt . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

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. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

IX. Instandhaltungspflichten des Leasingnehmers und Änderungen des Vertragsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Instandhaltungsmaßnahmen . . . . . . . a) Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . b) Wartungs- und Pflegeverträge . . . . . 2. Änderungen des Vertragsgegenstandes . X. 1. 2. 3.

Lieferstörungen . . . . . . . . . . . . . . . Nicht zu vertretende Nichtlieferung . . Besonderheiten beim IT-Projektleasing Drittverweisung . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

109 109 110 111 111 112 114 114 116

. . . . .

117 117 118 120 125

. . . .

128 129 130 137

Rz. 1 Vor §§ 535 ff. BGB

1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leasingtypische Abtretungskonstruktion a) Herleitung und Ausgestaltung . . . . . . b) Subsidiäre Eigenhaftung des Leasinggebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sach- und Rechtsmängel . . . . . . . . . . 4. Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auswirkungen der leasingtypischen Abtretungskonstruktion . . . . . . . . . b) Mögliche Gewährleistungsrechte . . . .

139 141 141 143 146 149 149 151

XII. Koppelung von Hard- und Software . . . 156 1. Bewertungskriterien . . . . . . . . . . . . . 156 2. Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 XIII. 1. 2. 3. 4.

Beendigung des Leasingvertrages . . . Rückgabe des Leasinggegenstandes . . Verwertung des Leasinggegenstandes . Datenlöschung . . . . . . . . . . . . . . Vorenthaltungsentschädigung . . . . .

. . . . .

. . . . .

158 159 162 164 166

XI. Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Literatur: Assies/Beule/Heise/Strube, Handbuch des Fachanwalts für Bank- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2019; Beckmann, Computerleasing, 1993; Beckmann/Scharff, Leasingrecht, 4. Aufl. 2015; Beier/Schricker, From GATT to TRIPs, 1996; Brzuska, EDV-/Software-Leasing, BB, Beilage 1988, Nr. 6, Seite 12; Brzuska, EDV-Leasing, CR 1989, 223; Busche/Stoll/Wiebe, TRIPs, 2. Aufl. 2013; Büschgen, Praxishandbuch Leasing, 1998; Dreier/Hugenholtz, Concise European Copyright Law, 2. Aufl. 2016; Engel, Zur steuerlichen Behandlung des Software-Leasing, DStZ 1992, 721; Gervais, The TRIPS Agreement, 2003; Habersack, Risikoverteilung beim Projektleasing, WM 2008, 809; Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt, Handbuch des Leasingrechts, 2. Aufl. 2008; Melcher, Die Computerleasing- und Händlerbranche, CR 1989, 216; Pötzsch, Die rechtliche Einheit von Hard- und Software, CR 1989, 1063; Redeker, H., Das urheberrechtliche Vermietrecht beim Leasing, ITRB 2014, 289; Schöttler, Der Softwareleasingvertrag – Tipps und Trends, AnwZert ITR 24/2009; Söbbing, Besonderheiten des IT-Leasings, ITRB 2010, 236; Söbbing, Rücktrittsrecht bei Software-Leasing, K&R 2009, 170; Vander, Urheberrechtliche Implikationen des EDV-Leasings – „Rental Rights“ im Blickpunkt, CR 2011, 77; Graf von Westphalen, Der Leasingvertrag, 7. Aufl. 2015; Graf von Westphalen, Rechtsprobleme beim Computer-Leasing, CR 1987, 477; Zahn, Das Leistungsverprechen des Leasinggebers beim Projektleasing, in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 773.

I. Vorbemerkungen Leasingverträge im IT-Bereich sind aufgrund der Besonderheiten des Leasinggegenstandes „Hardbzw. Software“ von speziellen Fragestellungen geprägt. Das Leasing von Hardware, also der IT-Anlagen einschließlich Server, Clients und Peripheriegeräten, folgt grundsätzlich den üblichen Voraussetzungen des Leasingvertragsrechts. Beim reinen Software-Leasing, beim Leasing vollständiger IT-Systeme mit Hard- und Software sowie beim sog. Projektleasing1 sind hingegen zahlreiche Besonderheiten zu beachten.2 In der Praxis des „Computer-Leasings“, „EDV-Leasings“ bzw. „IT-Leasings“ werden Leasingverträge oftmals über EDV-Geräte und Programme, also Hardware und Software als Komponenten einer Gesamtheit geschlossen, während isoliertes Hard- bzw. Softwareleasing zwar keine reinen Ausnahmefälle bilden, gleichwohl eher seltener in Rede stehen.3

1 Eingehend zum Projektleasing: Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R. 2 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1971. 3 Vgl. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 3.

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1

BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 2 IT-Leasing 2

Leasing und der IT-Bereich harmonieren nicht ideal.4 Kurzlebigkeit und Preisverfall von Hard- und Software5 sind mit längeren Leasinglaufzeiten oftmals nicht kompatibel und bereiten nicht zuletzt tatsächliche Probleme im Kontext einer Verwertung von Leasinggegenständen.6 Auch der zwischenzeitlich ganz erheblich gewachsene Markt für „Gebrauchtsoftware“ hat an diesem Befund nur bedingt etwas geändert. Zudem lassen sich jüngere und zunehmend bedeutsame Geschäftsmodelle im IT-Segment wie etwa das Cloud-Computing mangels leasingtypischer Gebrauchsüberlassung und Eigentumslage leasingvertraglich nicht abbilden und könnten der Bedeutung des Leasings im IT-Segment durchaus jedenfalls in Teilen die Grundlage entziehen.7

3

IT-Leasing betrifft im Regelfall den geschäftlichen Verkehr und spielt im Privatkundengeschäft eine untergeordnete Rolle,8 so dass wegen leasingverbraucherschutzrechtlicher Fragestellungen auf die allgemeine Kommentarliteratur zum Leasingrecht verwiesen sei.9

4

Trotz seiner erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung10 ist das Leasing – von wenigen Sonderbestimmungen im Verbraucherrecht einmal abgesehen – bis heute Sonderrecht geblieben und insb. nicht in das BGB integriert worden.11 Das Leasingrecht richtet sich im Wesentlichen nach den von der Rspr. entwickelten Grundsätzen und „leasingtypischen“ Konstruktionen, wobei die Rspr. und herrschende Ansicht in der Literatur jedenfalls im Hinblick auf klassische Finanzierungsleasingverträge im Ausgangspunkt von einer atypischen mietvertraglichen Konstruktion ausgehen.12 In der Praxis kommt zudem den sog. „Leasingerlassen“ des Bundesfinanzministeriums erhebliche Bedeutung zu.

II. Einführung 1. Wirtschaftliche Bedeutung 5

Die wirtschaftliche Bedeutung13 des IT-Leasings ist nicht zu unterschätzen. Schon seit dem Jahre 1975 hat sich in Deutschland eine Branche für das IT-Leasing und den Computerhandel entwickelt, die nach wie vor von wesentlicher Bedeutung ist.14 Die Gründe für den Bedarf an Leasingfinanzierungen im IT-Bereich sind in tatsächlicher Hinsicht vor allem in hohen Anschaffungskosten und dem Wunsch von IT-Nutzern nach einer fortlaufenden Instandhaltung und Pflege von IT-Systemen zu sehen; daneben spielen vor allem steuerrechtliche Vorteile eine zentrale Rolle.15 In seiner Grundkonzeption handelt es sich beim Leasing um eine Investitions- und Finanzierungsmethode, die auf mittel- und langfristige Verschaffung von unternehmerischen Einsatzmöglichkeiten von Wirtschaftsgütern gegen Entgelt gerichtet ist.16

4 Schneider/Graf von Westphalen/Schneider, Software-Erstellungsverträge, Kap. F Rz. 296; Schneider/Schneider, Handbuch des EDV-Rechts, Kap. O Rz. 402; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bankund Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1972. 5 Zu den Auswirkungen auf Leasingverträge im EDV-Umfeld s. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 10. 6 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 402. 7 S. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 1. 8 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 758; Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 5. 9 S. zum Verbraucherleasing etwa MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 64 ff.; ausführlich: Graf von Westphalen/Woitkewitsch, Der Leasingvertrag, Kap. M. 10 Zur wirtschaftlichen Bedeutung von Leasingverträgen vgl. nachfolgend unter Rz. 5. 11 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1749. 12 Zu den Erscheinungsformen von Leasingverträgen sowie zur vertragstypologischen Einordnung im Einzelfall vgl. Rz. 9 ff. sowie Rz. 32 ff. 13 S. zur wirtschaftlichen Bedeutung Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 62 Rz. 1 ff. 14 Vgl. zur Entwicklung der Leasing-Branche im EDV-Bereich: Melcher, CR 1989, 216. S. dazu auch die fortlaufend aktualisierten Angaben des Bundesverbandes Deutscher-Leasingunternehmen (BDL) unter http://www. leasingverband.de. 15 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1973. 16 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 1.

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IT-Leasing

Rz. 8 Vor §§ 535 ff. BGB

Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Leasing-Unternehmen (BDL) beliefen sich die Inves- 6 titionen der Leasing-Wirtschaft im Jahr 2019 auf rund 65,3 Mrd. Euro.17 Damit bewegt sich die Leasingbranche insgesamt wieder über dem Niveau vor der Finanzkrise zum Ende des Jahres 2008, in deren Folge ein spürbarer Rückgang von Leasinginvestitionen zu verzeichnen war. Den Anteil am Leasing-Neugeschäft für „Büromaschinen und IT“ weistder BDL für das Jahr 2019 mit rund 5 % aus.18 Nach Einschätzung des ifo Instituts wird im Zuge der technischen und organisatorischen Anforderungen, die im Zusammenhang mit der Einführung der sog. „Industrie 4.0“ stehen, der Investitionsbedarf für IT-Produkte erheblich zunehmen.19 Ob sich diese Prognose bewahrheiten wird, dürfte erst die weitere Entwicklung zeigen, die bereits in den letzten Jahren durch eine deutliche Zunahme insb. von Cloud-Diensten geprägt war, die mit Blick auf mangelnde Eigentumserwerbsrelevanz und den primären Servicecharakter der Dienste leasingvertraglich nicht abbildbar sind. Gennen spricht in diesem Zusammenhang und im Hinblick auf entsprechende Geschäftsmodelle im IT-Segment wohl durchaus treffend vom „natürlichen Feind“ des Leasings.20 Bestätigt wird die Prognose des ifo Institus hingegen durch Angaben des BDL für das Jahr 2019, wonach das Leasing von Büromaschinen und IT im Jahre 2019 um 13 % gestiegen sein soll.21 2. Finanzierungsgegenstand Beim IT-Leasing werden ergänzend zur reinen Beschaffung bzw. Gebrauchsüberlassung von Hard- 7 und Software22 zunehmend auch Dienstleistungen „mitfinanziert“.23 Derartige Dienstleistungen sind insb. auf die Herbeiführung und Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von IT-Leasingobjekten gerichtet, wobei namentlich Schulungen der User, die Wartung bei auftretenden Störungen mit laufender Systembetreuung sowie die Bereitstellung von Softwareupdates zentrale Leistungsaspekte betreffen.24 Zum typischen Umfang leasingfähiger IT-Produkte zählen insb. Anschaffungswerte von Lizenzen, externe Beraterkosten (z.B. für Customizing), Altdatenübernahme, Schulungen und selbstredend die ITInfrastruktur.25 Auch nicht körperliche Leistungen können grundsätzlich in einen Leasingvertrag mit einbezogen werden, obwohl solche Leistungen jedenfalls zum Teil nicht einen klassischen Gegenstand des „rechtlichen und wirtschaftlichen Eigentums“ i.S.v. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO bzw. der Leasingerlasse bilden können.26 Die Möglichkeit der Einbeziehung auch von Dienstleistungen in Leasingfinanzierungen ist in anderen 8 Segmenten bzw. Branchen, etwa dem sog. „Full-Service-Leasing“ beim Kfz-Leasing (hier übernimmt der Leasinggeber bei entsprechend erhöhten Leasingraten neben den objektbezogenen Risiken auch die Wartung),27 schon länger anerkannt. Für das IT-Leasing dürfte grundsätzlich und mit Blick auf die Vergleichbarkeit der Sachverhalte nichts Abweichendes gelten,28 wenn auch die Relevanz von Serviceleistungen im IT-Bereich nicht selten einen wesentlichen Stellenwert einnimmt, der über die Serviceleistungen im Kontext des „Full-Service-Leasings“ im Kfz-Bereich hinausgehen dürfte.

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

https://bdl.leasingverband.de/zahlen-fakten/leasing-in-deutschland/jahres-und-strukturdaten. https://bdl.leasingverband.de/zahlen-fakten/leasing-in-deutschland/jahres-und-strukturdaten. ifo Schnelldienst 23/2015 – 68. Jahrgang – 10.12.2015. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 1. https://m.leasingverband.de/news/einzelansicht/leasing-neugeschaeft-waechst-um-9-prozent-2019-12-04/. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 64 weist darauf hin, dass sich Softwareleasing schon aus „praktischen und wirtschaftlichen Gründen“ auf Standard-Software fokussiert. Vgl. zur Übernahme flankierender Dienst- und Serviceleistungen durch den Leasinggeber MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 3. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1974. Söbbing, ITRB 2010, 236; Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 4. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 80; s. auch Söbbing, ITRB 2010, 236. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 20. In diese Richtung auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 80; Zulässigkeit auch unterstellt von Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 86; Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 63 Rz. 102; a.A., allerdings ohne Begründung, offenbar Söbbing, ITRB 2010, 236, der „Betriebskosten“ einschließlich Pflegeleistungen als nicht leasingfähig erachtet.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 9 IT-Leasing 3. Erscheinungsformen a) Finanzierungsleasing 9

In der Praxis am stärksten verbreitet ist das Finanzierungsleasing. Entsprechend liegt auch hier die Schwerpunktsetzung dieser Kommentierung. Im Rahmen des Finanzierungsleasings hat der Leasingnehmer für die volle Amortisation der vom Leasinggeber für die Anschaffung des Leasinggegenstandes getätigten Aufwendungen und Kosten aufzukommen. Bei Vollamortisationsverträgen wird dies über die zu zahlenden Leasingraten, bei Teilamortisationsverträgen durch Zahlung der Leasingraten und die Realisierung des vom Leasingnehmer abzusichernden Restwertes sichergestellt.

10

Vor dem Hintergrund kurzer Innovationszyklen und eines beschleunigten Preisverfalls finden sich im IT-Umfeld überwiegend Vollamortisationsverträge mit verhältnismäßig kurzer Grundmietzeit (regelmäßig 24 bis 36 Monate), während die Verbreitung von Teilamortisationsverträgen mit Restwertgarantien als gering einzustufen ist.29 b) Hersteller- und Händlerleasing

11

Beim Hersteller- und Händlerleasing mangelt es an dem für klassische Leasingverträge typischen Dreiecksverhältnis. Der IT-Anbieter beim Hersteller- und Händlerleasing schließt selbst einen Leasingvertrag mit dem Leasingnehmer, um seine eigentlichen IT-Leistungen unter gleichzeitiger Erbringung von Finanzierungsleistungen besser vermarkten und anbieten zu können. Obwohl es beim Herstellerund Händlerleasing am leasingtypischen Dreiecksverhältnis fehlt und auch keine Ersetzung der mietvertraglichen Gewährleistung durch die kaufrechtlichen mangelbedingten Rechte erfolgen kann, rechnet die Rspr. auch solche Verträge wegen der beabsichtigten vollen Amortisation zu den Finanzierungsleasingverträgen.30 Dabei ist gleichwohl zu beachten, dass leasingtypische Grundsätze wie insb. die Abtretungskonstruktion und Gefahrverlagerung auf den Leasingnehmer mangels Dreiecksverhältnisses nicht zur Anwendung gelangen können. Fälle des Herstellerleasings sind vielmehr als reine Mietverträge gem. §§ 535 ff. BGB einzuordnen.31

12

Beim IT-Leasing sind Hersteller- und Händlerleasing durchaus verbreitet.32 Insb. größere Marktakteure bedienen sich oftmals und zunehmend eigener bzw. separater Leasinggesellschaften,33 um im Ergebnis auf Basis leasingtypischer Vertragskonstruktion agieren, zusätzliche Absatzchancen erschließen und leasingtypische Vorteile erzielen zu können. c) Operating-Leasing

13

Beim Operating-Leasing wird keine feste Laufzeit vereinbart, vielmehr basieren derartige Verträge auf dem Konzept kurzer Grundlaufzeiten in Verbindung mit jederzeitigem Kündigungsrecht nach Ende der Grundlaufzeit.34 Diese Vertragsart zielt auf eine gesteigerte Flexibilität des Leasingnehmers ab.35 Die erstrebte Vollamortisation wird durch mehrfache Überlassung des Leasinggegenstandes an unterschiedliche Leasingnehmer erreicht, wobei der Leasinggeber, anders als bei klassischen Voll- und Teilamortisationsverträgen, regelmäßig die objektbezogenen Risiken übernimmt.36 Beim Operating-Leasing steht die Gebrauchsüberlassung klar im Vordergrund, so dass ein Operating-Leasing-Vertrag ganz 29 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 10. 30 BGH v. 11.3.1998 – VIII ZR 205/97, NJW 1998, 1637; s. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1757. 31 Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Martinek, Handbuch des Leasingrechts, § 3 Rz. 11 ff. mit weiteren Nachweisen; zum IT-Leasing: Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 22; a.A. MünchKomm/ Koch, Finanzierungsleasing Rz. 8. 32 Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 6. 33 Vgl. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 7. 34 BGH v. 28.3.1990 – VIII ZR 17/89, NJW 1990, 1785, 1788 = CR 1990, 654; BGH v. 11.3.1998 – VIII ZR 205/97, NJW 1998, 1637, 1639. 35 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1758. 36 BGH v. 30.10.2002 – VIII ZR 119/02, NJW 2003, 505, 507; BGH v. 11.3.1998 – VIII ZR 205/97, NJW 1998, 1637, 1639; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1758.

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IT-Leasing

Rz. 18 Vor §§ 535 ff. BGB

überwiegend als regulärer Mietvertrag qualifiziert wird, wenn er nicht auf kurze Zeit geschlossen oder vom Leasingnehmer nicht kurzfristig gekündigt werden kann.37 Eine Freizeichnung von der mietrechtlichen Haftung ist beim Operating-Leasing in Allgemeinen Geschäftsbedingungen wegen eines Verstoßes gegen § 307 BGB nicht zulässig.38 Das Operating-Leasing ist zwar allgemein im Leasingbereich verbreitet. Speziell für den IT-Bereich und mit Blick auf die bei Operating-Leasingverträgen vergleichsweise kurzen Laufzeiten dürfte das Operating-Leasing im IT-Umfeld jedoch wirtschaftlich eher von begrenzter Relevanz sein.39

14

d) Sale-and-lease-back-Verfahren Beim sog. Sale-and-lease-back-Verfahren erwirbt der Leasinggeber zunächst ein zuvor im Eigentum 15 des späteren Leasingnehmers stehendes Objekt, um es sodann an den Leasingnehmer „zurück zu verleasen“.40 Beim Sale-and-lease-back-Verfahren handelt es sich nicht um ein klassisches Leasinggeschäft, vielmehr besteht die Besonderheit darin, dass sich der Leasinggeber das Leasingobjekt nicht bei einem Dritten, sondern vom Leasingnehmer verschafft.41 Daher mangelt es beim Sale-and-lease-back-Verfahren auch an dem für das Finanzierungsleasing typischen Dreiecksverhältnis. Der Vertragspartner des Leasinggebers tritt im Ergebnis in einer Doppelfunktion auf, nämlich (zunächst) als Verkäufer und (dann) als Leasingnehmer.42 e) Abgrenzung zum Teilzahlungsgeschäft und zum Mietkauf aa) Teilzahlungsgeschäft Ist die Vertragsgestaltung darauf gerichtet, das Leasingobjekt dauerhaft auf den Leasingnehmer zu übertragen, handelt es sich nicht um Finanzierungsleasing, sondern um ein verdecktes Teilzahlungsgeschäft.43 Dies betrifft etwa Fälle, in denen dem Leasingnehmer ein Erwerbsrecht oder Recht zum Behalten des Leasingobjekts gewährt wird.

16

bb) Mietkauf Der Mietkauf hat im IT-Bereich in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Nach Angaben des BDL beliefen sich die Investitionen der Leasingwirtschaft für das Segment Mietkauf im Jahre 2015 auf den neuen Spitzenwert von rund 6,7 Mrd. Euro, womit sich das Mietkaufvolumen in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht hat.44

17

Beim Mietkauf handelt es sich um Mietverträge ohne steuerliche Vergünstigungen, die dadurch geprägt sind, dass von vornherein das Ziel des späteren Eigentumserwerbs durch den Mieter verfolgt wird.45 Die temporäre Gebrauchsüberlassung ist beim Mietkauf also nicht das eigentliche Vertragsziel, vielmehr ist der Mietkauf im Kern und von Beginn an auf einen späteren Eigentumserwerb durch den Mieter angelegt.46 Im Unterschied zum Teilzahlungsgeschäft muss der Mieter allerdings nicht zwingend eine Kaufoption ausüben, er behält vielmehr eine Wahlmöglichkeit.47

18

37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 5. Beckmann/Scharff/Scharff, Leasingrecht, § 1 Rz. 10 m.w.N. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 7. BGH v. 30.3.1988 – VIII ZR 340/86, NJW 1988, 1774 = CR 1988, 661; BGH v. 29.11.1989 – VIII ZR 323/88, NJW 1990, 829, 830 = CR 1990, 474; vgl. zu einer Konstellation im IT-Bereich OLG Rostock v. 18.3.2002 – 3 U 234/00, abrufbar unter juris. BGH v. 29.11.1989 – VIII ZR 323/88, NJW 1990, 829, 831 = CR 1990, 474. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1759. BGH v. 5.4.1978 – VIII ZR 49/77, NJW 1989, 2132; BGH v. 28.11.1994 – VIII ZR 315/93, NJW 1995, 519. https://bdl.leasingverband.de/zahlen-fakten/leasing-in-deutschland/jahres-und-strukturdaten. Vgl. Beckmann/Scharff/Scharff, Leasingrecht, § 1 Rz. 39. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing, Rz. 14. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1762.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 19 IT-Leasing 4. Steuerrechtliche Aspekte a) Wirtschaftliches Eigentum und Leasingerlasse 19

Relevant ist das Leasing für Unternehmen unter steuerlichen Gesichtspunkten vor allem wegen der erstrebten steuerlichen Zuordnung des Leasingobjekts beim Leasinggeber.48 Diese Zuordnung hängt davon ab, wer als wirtschaftlicher Eigentümer des Leasingobjektes einzustufen ist.49

20

Für die Praxis höchst relevante steuerrechtliche Vorgaben enthalten die sog. Leasingerlasse des Bundesfinanzministeriums.50 Nach der Rspr. handelt sich hierbei um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, denen die Vermutung der Richtigkeit zukommt, die aber mangels Rechtsnormqualität die Gerichte nicht binden.51 Sog. „erlasskonforme Leasingverträge“ führen dazu, dass der Leasinggeber an einem Leasingobjekt nicht nur rechtliches, sondern auch wirtschaftliches Eigentum i.S.v. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO erlangt, so dass ihm das Leasingobjekt steuerlich zuzurechnen ist.52 Die konkreten und vertragstypspezifischen Vorgaben sind Gegenstand der nachfolgend aufgeführten Erlasse: – Mobilienerlass/Vollamortisation,53 – Mobilienerlass/Teilamortisation,54 – Immobilienerlass/Vollamortisation,55 – Immobilienerlass/Teilamortisation.56

21

Für das IT-Leasing sind die sog. Mobilienerlasse von Relevanz, wobei Teilamortisationsverträge im Bereich des Hardware-Leasings jedenfalls dann als für den Leasingnehmer tendenziell uninteressant bewertet werden, wenn die Hardware – wie häufig – einer raschen technischen Entwicklung unterliegt.57

22

Erlasskonform ist ein Vollamortisationsvertrag beim IT-Leasing im Grundsatz bei fester Grundlaufzeit und vollständiger Amortisation, also wenn der Vertrag über eine bestimmte Zeit abgeschlossen wird und während dieser Laufzeit bei vertragsgemäßer Erfüllung von beiden Vertragsparteien nicht gekündigt werden kann und der Leasingnehmer mit den in der Grundmietzeit zu entrichtenden Raten mindestens die Anschaffungs- oder Herstellungskosten sowie alle Nebenkosten einschließlich der Finanzierungskosten des Leasinggebers deckt. Der Leasinggegenstand ist dem Leasinggeber allerdings nur zuzurechnen, wenn die Grundmietzeit mindestens 40 % und höchstens 90 % der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer beträgt.58 Ergänzende Details zu Besonderheiten bei Vollamortisationsverträgen mit Kauf- bzw. Verlängerungsoption finden sich im Vollamortisationserlass.59

23

Erlasskonforme Teilamortisationsverträge setzen ungeachtet zahlreicher Spielarten als gemeinsames Merkmal voraus, dass die während der Grundlaufzeit zu leistenden Leasingraten nur zu einer teilweisen Amortisation des Leasinggeberaufwandes führen. Zudem setzt der Teilamortisationserlass voraus,

48 Zu den steuerrechtlichen Vorteilen vgl. den Überblick in: MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 18 ff.; ausführlich zum Leasing im Bilanz- und Steuerrecht (auch mit internationalem Bezug) s. Graf von Westphalen/Heyd/Nemet, Der Leasingvertrag, Kap. B. 49 BFH v. 26.1.1970 – IV R 144/66, BB 1970, 291; FG Hamburg v. 27.5.2009 – 2 K 93/08, DStRE 2010, 687 (ausführlich auch zur Abgrenzung von Spezial- und Finanzierungsleasing). 50 Abdrucke der Leasingerlasse finden sich u.a. in Staudinger/Stoffels, BGB, Leasing Rz. 357 ff.; Graf von Westphalen, Der Leasingvertrag, Anhang. 51 BFH v. 9.12.1999 – III R 74/97, DB 2000, 753, 754 f. 52 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 114 Rz. 5; vgl. zu den insoweit abweichenden Vorgaben nach den International Accounting Standards (IAS): MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 26 f. 53 BMF v. 19.4.1971 – IV B/2-S 2170-31/1, BStBl. I 1971, 264 = BB 1971, 506. 54 BMF v. 22.12.1975 – IV B/2-S 2170-161/75, EStH 1994, Anhang 21 III = BB 1976, 72. 55 BMF v. 21.3.1972 – F/IV B/2-S 2170-11/72, BStBl. I 1972, 188 = BB 1972, 433. 56 BMF v. 23.12.1991 – IV B/2-S 2170-115/91, BStBl. I 1992, 13 = DB 1992, 112. 57 S. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 14. 58 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 12. 59 Zu Kaufoption und Verlängerungsoptionen vgl. nur Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 13.

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Rz. 28 Vor §§ 535 ff. BGB

dass eine unkündbare Grundmietzeit vereinbart wird, die mehr als 40 %, jedoch nicht mehr als 90 % der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer des Leasinggegenstandes beträgt.60 Im Hinblick auf die weiteren Voraussetzungen, unter denen der Leasingnehmer als wirtschaftlicher Eigentümer einzustufen ist, differenziert der Erlass auf Basis vertraglicher Anschlussabreden, namentlich für Teilamortisationsverträge mit Andienungsrecht des Leasinggebers oder mit Aufteilung des Mehrerlöses sowie Teilamortisationsverträge mit vorzeitiger Kündigungsmöglichkeit.61 Im Ergebnis ist zur Wahrung der steuerrechtlichen Vorteile von Leasingverträgen bei der konkreten 24 Ausgestaltung von Voll- bzw. Teilamortisationsverträgen in jedem Fall sorgfältig darauf zu achten, dass keine steuerschädlichen Gestaltungen Eingang in den Vertrag finden. Dies kann insb. bei auch im EDV-Bereich durchaus verbreiteten Ergänzungs- bzw. Austauschoptionen der Fall sein. Bei Ergänzungsoptionen wird ein Leasingvertrag um ein Leasingobjekt bzw. mehrere Leasingobjekte ergänzt, im Falle von Austauschoptionen können bei Ausübung von Optionsrechten des Leasingnehmers bestimmte Leasingobjekte gegen artverwandte, aber neuere Gegenstände getauscht werden. Um erlasskonforme Gestaltungen zu wahren, ist jedenfalls darauf zu achten, dass eine bestimmte Mindestzeit des ursprünglichen Leasingvertrages verstrichen sein muss und der Wert der zu ergänzenden bzw. auszutauschenden Leasingobjekte die Summe bereits gezahlter Leasingraten nicht übersteigt.62 Im Hinblick auf die Leasingerlasse ist abschließend zu unterstreichen, dass Leasingkonstruktionen, die 25 nicht unmittelbar den Vorgaben der Leasingerlasse entsprechen, nicht zwingend steuerlich abweichend zu behandeln sind, sondern sog. nicht erlasskonforme Leasingverträge unmittelbar nach Maßgabe von § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO auszulegen sind. b) Hard- und Software-Spezifika Soweit sich IT-Leasing auf klassisches Hardware-Leasing oder isolierte Standardsoftware bezieht, ergeben sich im Hinblick auf die steuerrechtliche Bewertung entsprechender Leasingverträge im Vergleich zu Leasingverträgen über sonstige Wirtschaftsgüter grundsätzlich keine Besonderheiten.

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Die Leasingfähigkeit von Software ist prinzipiell anerkannt.63 Dies gilt namentlich für den Bereich von 27 Standardsoftware, auf die sich Softwareleasing aus praktischen sowie wirtschaftlichen Gründen zumeist fokussiert.64 Ist beim IT-Leasing, insb. im Fall des Software-Leasings, eine auf die individuellen Bedürfnisse des Leasingnehmers zugeschnittene IT-Lösung betroffen, stellt sich unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten allerdings die Frage, ob derartige Software überhaupt den Gegenstand eines Leasingvertrages bilden kann.65 Die Leasingfähigkeit hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Software nach Beendigung eines entsprechenden Leasingvertrages von einem Dritten sinnvoll genutzt werden kann, so dass der Leasinggeber nach Beendigung des Leasingvertrages die Software durch Weiterveräußerung oder durch erneute Vermietung angemessen verwerten kann.66 Andernfalls erhält der Leasinggeber nach Beendigung des Leasingvertrages mit Blick auf die oftmals im Kontext der Gebrauchsüberlassung erfolgten speziellen Anpassungen von Software an die individuellen Bedürfnisse des Leasingnehmers eine für den Leasinggeber bzw. sonstige Dritte ggf. faktisch wertlose Software zurück.67 Derartige Sachverhalte begründen

60 61 62 63

64 65 66 67

Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 15. Vgl. zu Besonderheiten in diesem Kontext MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 21. Ausführlich zu diesem Themenkreis: Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 25 ff. BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 165/91, CR 1993, 203; s. auch Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 30 mit weiteren Nachweisen; Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 62 Rz. 22 und 26, jeweils mit weiteren Nachweisen; zum früheren Streitstand: Schneider/ Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 411. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 63. Überblick in: Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 62 Rz. 20 ff. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 6; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1976. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1976.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 28 IT-Leasing die Gefahr, dass das wirtschaftliche Eigentum an betroffener Software nach Maßgabe von § 39 AO dann nicht dem Zweck eines Leasingvertrages entsprechend dem Leasinggeber, sondern dem Leasingnehmer zuzurechnen ist.68 Ungeachtet dieser Risiken scheinen sich Leasinggesellschaften nicht zu scheuen, auch Individualsoftware als Leasinggut zu akzeptieren, wobei sich entsprechende Risiken beim Softwareleasing in risikoentsprechenden Konditionen widerspiegeln dürften.69 29

Ein durchaus offenes Feld bilden solche Konstellationen, in welchen Standardsoftware den Gegenstand eines Leasingvertrages bildet, diese jedoch an die Anforderungen des Leasingnehmers angepasst wird, z.B. bei der Beschaffung und Einführung komplexer Warenwirtschaftssysteme, sog. ERP-Systeme.70 Wenn der Erwerb von Nutzungsrechten an der Standardsoftware bzw. den Standardmodulen der Software den wesentlichen Teil der Finanzierung bildet, dürfte unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten noch vom wirtschaftlichen Eigentum des Leasinggebers auszugehen sein.71 Klare Grenzen lassen sich für diesen Bereich allerdings kaum bestimmen;72 dies gilt etwa für den Fall, dass im Rahmen eines Vertrages über sog. IT-Projektleasing neben der Softwarebeschaffung und Softwareanpassung sonstige Leistungen, etwa sonstige Dienst- und Beratungsleistungen oder ergänzende Individualprogrammierungen umfasst sind und „mitfinanziert“ werden.73

30

Die vorgenannten steuerrechtlichen Friktionen lassen sich in derartigen Fällen auch nicht etwa durch die Vereinbarung eines sog. Andienungsrechts kompensieren, auch wenn dadurch sichergestellt wird, dass der Leasinggeber den Leasinggegenstand zumindest durch Veräußerung an den Leasingnehmer verwerten könnte. Wirtschaftliches Eigentum des Leasinggebers setzt nämlich stets voraus, dass die nach Vertragsablauf zurückzugebende Software auch von einem Dritten genutzt werden kann.74 Dies dürfte bei – in der Praxis allerdings zunehmend weniger relevanter echter – Individualsoftware75 sowie dienstleistungsintensivem IT-Projektleasing76 oftmals ausscheiden. Steht bei Vertragsschluss fest, dass die vom Leasingvertrag betroffene Software auf Dauer in das Vermögen des Leasingnehmers übergehen wird bzw. übergehen soll, wird der Leasingnehmer als wirtschaftlicher Eigentümer i.S.v. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO und eine betreffende Konstellation insgesamt als Mietkauf zu bewerten sein.77

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Im Regelfall setzt eine Realisierbarkeit der von Leasingverträgen verfolgten steuerrechtlichen Folgen den Eigentumserwerb des Leasinggebers im Hinblick auf das leasingfinanzierte Produkt voraus. Übertragen auf den Softwarebereich erfordert dies den Erwerb dauerhafter Nutzungsrechte, ggf. einhergehend mit dem Eigentumserwerb von betroffenen Datenträgern. Um eine leasingvertragliche Überlassung und anschließende Verwertung abzusichern, ist es zielführend und grundsätzlich geboten, dass dem Leasinggeber ein nicht-ausschließliches, zeitlich unbegrenztes und übertragbares Nutzungsrecht an der Software eingeräumt wird. Gleichwohl soll sich der Vertragszweck des Leasings und auch die steuerrechtlich motivierte Wirkung eines Leasingvertrages nach teilweise vertretener Auffassung dadurch verwirklichen lassen, dass dem Leasinggeber vom Softwarelieferanten bzw. Hersteller der Soft-

68 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 6 mit weiterführenden Hinweisen; tendenziell wohl auch Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 64 am Ende; ausführlich zur steuerrechtlichen Behandlung des Software-Leasings: Engel, DStZ 1992, 721; Kilian/Heussen/v. Feeden, Kap. 90 Rz. 103 ff. 69 S. insgesamt Büschgen/Beckmann, Praxishandbuch Leasing, § 16 Rz. 15. 70 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1976. 71 So wohl auch Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 29. 72 Zu Abgrenzungsproblemen: Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 28 ff. 73 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1976. 74 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 7; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1977. 75 S. Marly, Softwarerecht, Rz. 760; großzügiger offenbar Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 62 Rz. 24. 76 So wohl Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 26, 30. 77 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 9; Beckmann/Scharff/Scharff, Leasingrecht, § 1 Rz. 39; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1977; vgl. auch FG Köln v. 20.9.2011 – 12 V 1524/11, BB 2012, 3196 (Entscheidung betrifft Hardware, für Software offengelassen).

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Rz. 34 Vor §§ 535 ff. BGB

ware jedenfalls für die Dauer der betriebsgewöhnlichen Nutzung78 befristete Nutzungsrechte eingeräumt werden.79 Insoweit dürfte allerdings eher Zurückhaltung geboten sein.80

III. Grundlagen 1. Rechtsnatur Der Finanzierungsleasingvertrag81 ist nach st. Rspr. und h.M. als atypischer Mietvertrag einzuord- 32 nen.82 Leasingverträge weisen neben ihrem mietvertraglichen Charakter Elemente des Darlehens und der Geschäftsbesorgung auf.83 Daneben verfügen Leasingverträge mit Blick auf die vertrags- bzw. leasingtypische Abtretungskonstruktion über kaufrechtliche Bezüge. Der Leasingvertrag ist, abgesehen von einzelnen verbraucherschützenden Normen, nach wie vor nicht gesetzlich geregelt, vielmehr handelt es sich um ein „nicht geregeltes Finanzierungsinstrument kautelarjuristischen Ursprungs, das seine Existenz und Entstehung steuer- und bilanzrechtlichen Überlegungen verdankt“.84 2. Leasingtypisches Dreiecksverhältnis Beim IT-Leasing sind der eigentliche Leasingvertrag zwischen dem Leasinggeber und dem Leasingnehmer und der zur Erfüllung der Gebrauchsüberlassung erforderliche Beschaffungsvertrag mit dem ITAnbieter zu unterscheiden.85 Der Leasingvertrag auf der einen und der Beschaffungsvertrag auf der anderen Seite sind rechtlich selbständig, wirtschaftlich aber miteinander verknüpft.86 Das leasingtypische Dreiecksverhältnis87 besteht aus dem Leasingvertrag zwischen Leasinggeber und Leasingnehmer und dem Kaufvertrag zwischen Lieferanten (Hard- und Softwarelieferant bzw. Implementierungsdienstleister) und Leasinggeber, wobei das leasingtypische Dreiecksverhältnis in vertraglicher Hinsicht durch die leasingtypische Abtretungskonstruktion geschlossen wird.

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3. Wesentliche Vertragspflichten Der Leasinggeber überlässt dem Leasingnehmer Hard- bzw. Software gegen ein in Raten gezahltes Entgelt zum Gebrauch, wobei die Gefahr der Haftung für Instandhaltung, Sachmängel, Untergang

78 Diese wird auf einen Zeitraum zwischen drei und – etwa bei ERP-Systemen – bis zu fünf Jahre zu taxieren sein. Vgl. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 66 f.; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16i (dort mit weiterführenden Hinweisen in Fn. 4). 79 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 14 sowie Rz. 17 zur erforderlichen Weiterübertragungsbefugnis; die Frage der Leasingfähigkeit von Software, die nur zeitlich befristet überlassen wird, hat das OLG Koblenz in einer offenbar an ein ASP-Modell angelehnten Konstellation nicht vertieft (vgl. OLG Koblenz v. 27.6.2019 – 1 U 96/19, CR 2019, 562). 80 Berechtigte Zweifel an dieser Konstruktion äußert Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 131. 81 Vertragsmuster mit Erläuterungen für die Fälle „Leasing eines kompletten EDV-Systems“, „Hardwareleasing“ und „Softwareleasing“ finden sich bei: Redeker/Brisch bzw. Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 bis 1.15. 82 St. Rspr. seit BGH v. 8.10.1975 – VIII ZR 81/74, WM 1975, 1203, 1204. Ausführlich zur vertragstypologischen Einordnung: MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 29 ff. (auch zu abweichenden Ansätzen in der Literatur, insb. zur Annahme eines Vertrages sui generis); Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Der Leasingvertrag, Kap. A; s. auch Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 15 ff. zum Streitstand beim sog. IT-Projektleasing. 83 MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 30.; ausführlich Knebel, WM 1993, 1026 ff. 84 MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 1. 85 Zur vertragstypologischen Einordnung leasingtypischer Beschaffungsverträge vgl. nur Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 63 Rz. 6 ff. sowie Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 68 ff. 86 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 2 Rz. 2. 87 Vgl. die schematische Darstellung von Auer-Reinsdorff/Conrad/Stadler/Kast, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, Kap. C § 15 Rz. 88 ff.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 34 IT-Leasing und Beschädigung der Hard- bzw. Software allein den Leasingnehmer trifft.88 Der Leasinggeber überträgt in diesem Kontext seine Ansprüche aus dem mit dem Hard- bzw. Softwarelieferanten geschlossenen Beschaffungsvertrag auf den Leasingnehmer. Im Unterschied zu einem reinen Mietverhältnis stellen die vereinbarten Leasingraten nicht nur das Entgelt für die Gebrauchsüberlassung dar, sondern sind auch dazu bestimmt, den Kapitaleinsatz des Leasinggebers einschließlich des kalkulierten Gewinns abzubilden.89 35

Gerade beim IT-Leasing spielt die konkrete und hinreichende Bezeichnung des eigentlichen Leasinggegenstandes eine wesentliche Rolle. Während beim Leasing von Hard- und Standardsoftware eine reine Benennung des Leasinggegenstandes ausreichen mag, besteht erhöhter Konkretisierungsbedarf beim Leasing über komplexe EDV-Anlagen und insb. beim IT-Projektleasing mit softwarebezogenen Anpassungsleistungen.90 Mangels objektivierbarer Kriterien (z.B. allgemeine Funktionsbeschreibungen bei Standardsoftware) sollte der Leasinggegenstand möglichst genau bezeichnet werden.91 In der Praxis wird regelmäßig dergestalt verfahren, dass der Leasinggegenstand im Vertrag selbst per Verweis auf einen entsprechenden Leistungsschein bzw. eine Vertragsanlage spezifiziert wird; in Betracht kommt ggf. auch die Beifügung einer detaillierten Rechnung.92 Entsprechende Vertragsanlagen sollten zur Vermeidung eines ggf. unklaren Leistungsgegenstandes nicht nur Angaben zu den Hard- und Softwarekomponenten enthalten, sondern spezifische Anforderungen, etwa zur Programmdokumentation oder zur etwaigen Überlassung des Quellcodes vorsehen.93 Aus Sicht des Leasinggebers ist es bei komplexeren IT-Projekten sinnvoll, den Versuch zu unternehmen, einzelne Teile der Gesamtheit der Leasingobjekte nach Risikoklassen zu unterscheiden und entsprechende Leistungen in verschiedenen Leasingverträgen aufzugliedern (z.B. Hardware, Standardsoftware, Individualsoftware).94 Im Falle solcher vertraglicher Zergliederungsversuche ist aus Sicht des Leasingnehmers jedenfalls Vorsicht angezeigt, wenn dieser – wie regelmäßig – kein Interesse an isolierten Teilleistungen hat, sondern das Leistungsinteresse auf ein insgesamt lauf- bzw. funktionsfähiges Gesamtsystem gerichtet ist.

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Bei der Anschaffung von Unternehmenssoftware, insb. beim Bezug von Software im Segment Enterprise Ressource Planning (ERP), können reine Standardlösungen die Anforderungen des Leasingnehmers häufig nicht erfüllen. Vielmehr sind regelmäßig individuelle Anpassungen von Standardsoftware oder einzelnen Modulen durch Customizing oder Parametrisierung erforderlich, wenn nicht sogar darüber hinaus vollständige Individualprogrammierungen vorgenommen werden müssen.95 Dabei ist mittlerweile zumindest unstreitig, dass auch Software, die noch erstellt werden muss, jedenfalls leasingfähig ist.96

IV. Vertragsschlussmechanismus 37

In der Praxis unterscheidet man im Wesentlichen zwei Modelle, die im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Leasingvertrages verfolgt werden.

88 BGH v. 8.10.1975 – VIII ZR 81/74, WM 1975, 1203, 1204; BGH v. 9.3.1977 – VIII ZR 192/75, WM 1977, 473; BGH v. 22.1.1986 – VIII ZR 318/84, CR 1986, 453. 89 BGH v. 15.7.1998 – VIII ZR 348/97, NJW 1998, 3270; BGH v. 11.1.1995 – VIII ZR 82/94, CR 1996, 144; Assies/ Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1769. 90 S. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 5 zum Unterschied des Konkretisierungsbedarfs bei Standardsoftware und Anpassungsprojekten, insb. zur Notwendigkeit von Pflichtenheften. 91 Vgl. nur Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 32 ff. 92 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 59. 93 S. Redeker/Brisch, IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 36. 94 Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 10. 95 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1985. 96 Vgl. Schneider/Graf von Westphalen/Schneider, Software-Erstellungsverträge, Kap. F Rz. 329 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen; Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13, Rz. 30; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 444; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bankund Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1985.

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Rz. 42 Vor §§ 535 ff. BGB

1. Standardmodell Im Regelfall wird der Abschluss eines Leasingvertrages dadurch vorbereitet, dass ein interessierter Leasingnehmer Kontakt mit einem IT-Anbieter für die zu finanzierende Hard- bzw. Software aufnimmt und die Parteien Vertragsverhandlungen aufnehmen. Ein unmittelbarer Vertragsschluss zwischen Leasingnehmer und IT-Anbieter erfolgt jedoch nicht, vielmehr wird der Vertrag über den Erwerb der vertragsgegenständlichen Hard- bzw. Software lediglich vorbereitet und dem Leasinggeber zum Zwecke der Prüfung und Übernahme einer Finanzierung übermittelt.97

38

In den meisten Fällen erfolgt die Auswahl und Einbeziehung eines Leasinggebers durch den IT-Anbieter. Namentlich größere IT-Anbieter stehen oftmals mit bestimmten Leasinggesellschaften dauerhaft und in ständiger Geschäftsverbindung.98 In der Praxis verfügen IT-Anbieter auch häufig über Leasingvertragsformulare einer bestimmten Leasinggesellschaft, die dann gemeinsam mit dem interessierten Leasingnehmer unter Berücksichtigung der ausgehandelten Konditionen99 für den Beschaffungsvertrag ausgefüllt werden. Der Antrag auf Abschluss des Leasingvertrages wird dann zusammen mit dem vorbereiteten Beschaffungsvertrag zur Annahme durch die Leasinggesellschaft an diese übermittelt.

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2. Eintrittsmodell Beim sog. Eintrittsmodell folgt der Vertragsschluss abweichenden Modalitäten. So schließt der Leasingnehmer im ersten Schritt und im eigenen Namen mit dem IT-Anbieter einen Beschaffungsvertrag über das Leasingobjekt. Tritt der Leasinggeber dann im zweiten Schritt in den Vertrag ein, handelt es sich nach h.M. um eine Vertrags- bzw. Schuldübernahme i.S.v. §§ 414 ff. BGB.100 Wenn der IT-Anbieter zunächst einen Beschaffungsvertrag mit dem Leasingnehmer und erst danach einen gesonderten Beschaffungsvertrag mit dem Leasinggeber schließt, ist naturgemäß besondere Sorgfalt geboten. In derartigen Fällen ist nämlich davon auszugehen, dass durch ein solches Vorgehen der erste Vertrag einvernehmlich aufgehoben wird; es gelten dann ausschließlich die Bedingungen des zweiten Vertrages.101

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3. Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen In Bezug auf den Leasingvertrag ergeben sich im Hinblick auf die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen grundsätzlich keine Besonderheiten.

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Der Leasinggeber hat allerdings dringend darauf zu achten, dass die oftmals umfangreichen und spezi- 42 fischen Vertragsbedingungen des IT-Anbieters mit Blick auf die leasingtypische Abtretungskonstruktion zum wirksamen Inhalt des Leasingvertrages selbst gemacht werden.102 Der Leasinggeber hat insoweit besonders darauf zu achten, dass mittels Einbeziehung seiner AGB eine weitgehende Kongruenz zwischen Leasing- und Beschaffungsvertrag hergestellt wird. Wenn die Vertragsbedingungen des ITAnbieters bereits Gegenstand der Verhandlungen zwischen Leasingnehmer und IT-Anbieter waren, werden diese selbstredend ohne weiteres in den Leasingvertrag einbezogen.103 Sofern allerdings Vertragsbedingungen des IT-Anbieters erst im Nachgang vereinbart werden, ist der Leasingnehmer vor Abschluss des Leasingvertrages über die entsprechenden Vertragsbedingungen zu informieren. Um eine hinreichende Information und Einbeziehung zu gewährleisten, sollte ein Hinweis in den Allgemei-

97 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1771. 98 S. Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 421. 99 Zu eher selteneren Fällen einer Sittenwidrigkeit im IT-Bereich vgl. BGH v. 30.1.1995 – VIII ZR 328/93, CR 1995, 527; s. zum TK-Bereich BGH v. 11.1.1995 – VIII ZR 82/94, CR 1996, 144. 100 BGH v. 24.1.1990 – VIII ZR 22/89, CR 1990, 384, 386; BGH v. 25.11.1992 – VIII ZR 176/91, NJW-RR 1993, 307, 308 = CR 1993, 435; Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 2 Rz. 34; a.A. OLG Dresden v. 26.4.1995 – 8 U 1551/94, NJW-RR 1996, 625, das von einer Erfüllungsübernahme i.S.d. § 329 BGB ausgeht; zum Streitstand: Büschgen/Beckmann, Praxishandbuch Leasing, § 6 Rz. 5. 101 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1779. 102 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 6 Rz. 15. 103 Büschgen/Beckmann, Praxishandbuch Leasing, § 6 Rz. 69.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 42 IT-Leasing nen Geschäftsbedingungen des Leasinggebers im Kontext der Regelungen über die leasingtypische Abtretungskonstruktion genügen.104 43

Gerade beim Softwareleasing kommt den Lieferanten- bzw. Herstellerbedingungen mit Blick auf insoweit regelmäßig vorzufindende Sonderbestimmungen über Gewährleistung (z.B. Möglichkeit sog. Workarounds, mehrfache Nachbesserungsversuche, SLA, etc.)105 und über Nutzungsrechte ganz erhebliche Bedeutung zu. Aus Leasinggebersicht sind die Bedingungen unabhängig vom Erfordernis einer vertraglichen Einbeziehung in jedem Fall sorgfältig zu prüfen und im Verhältnis zum Leasingnehmer „durchzureichen“,106 insb. um eine zulässige und stringente Drittverweisung auf Basis der leasingtypischen Abtretungskonstruktion rechtmäßig bzw. rechtswirksam und rechtssicher gestalten zu können. Insgesamt ist auf eine sorgfältige Synchronisation von Leasingbedingungen und relevanten Bestimmungen des Beschaffungsvertrages zu achten.107

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Da nicht selten auch die öffentliche Hand im EDV-Bereich als Leasingnehmerin auftritt, spielt häufig auch die parallele Vereinbarung bzw. Einbeziehung der EVB-IT108 in den Liefervertrag eine durchaus wesentliche Rolle.109

V. Stellung des Lieferanten 1. Stellvertreter 45

Der IT-Anbieter ist bei Abschluss eines Leasingvertrages im Regelfall kein Vertreter des Leasinggebers.110 Der IT-Anbieter ist grundsätzlich weder vom Leasinggeber zum Abschluss des Leasingvertrages noch zur Entgegennahme rechtsgeschäftlicher Erklärungen oder zur Vertragsänderung oder vorzeitigen Vertragsaufhebung berechtigt.111 Die Umstände, dass ein IT-Anbieter etwa den Kontakt zum Leasinggeber herstellt, mit der Vorbereitung des Leasingvertrages befasst ist und bei der Übergabe von Hard- und Software vom Leasinggeber als Erfüllungsgehilfe eingeschaltet wird, genügen für eine Bevollmächtigung bzw. Vertretungsbefugnis ohne Hinzutreten besonderer Umstände nicht.112 2. Erfüllungsgehilfe und Wissensvertreter

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Dem IT-Anbieter kann im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Leasingvertrages die Rolles eines Erfüllungsgehilfen des Leasinggebers gem. § 278 BGB zukommen. Dies ist der Fall, wenn der IT-Anbieter bei der Vertragsanbahnung typische Aufgaben des Leasinggebers wahrnimmt.113 Eine solche Aufgabenwahrnehmung ist etwa betroffen, wenn ein IT-Anbieter in die Anbahnung eines Leasingvertrages involviert wird oder dem IT-Anbieter Leasingverträge bzw. entsprechende Antragsformulare vom Lea-

104 Vgl. Graf von Westphalen/Assies, Der Leasingvertrag, Kap. D Rz. 37, der einen AGB-Hinweis „auf der Vorderseite des Vertrages“ als übliche Praxis vorstellt. 105 Vgl. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 37 am Ende; vgl. Söbbing, ITRB 2010, 336, 238. 106 Vgl. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 151; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 51; Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 79. 107 Auf gelegentliche Versäumnisse in der Praxis weist Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 473 hin. 108 Jeweils aktuelle Stände abrufbar unter: http://www.cio.bund.de/Web/DE/IT-Beschaffung/EVB-IT-und-BVB/ Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_node.html. 109 Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 63 Rz. 30 am Ende. 110 BGH v. 1.7.1987 – VIII ZR 117/86, CR 1988, 111; BGH v. 3.7.1985 – VIII ZR 102/84, NJW 1985, 2258. 111 BGH v. 3.7.1985 – VIII ZR 102/84, NJW 1985, 2258; OLG Frankfurt v. 6.5.1986 – 5 U 174/84, NJW 1987, 2447, 2448 = CR 1987, 856. 112 MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 43; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1781. 113 Vgl. OLG Hamm v. 15.2.2012 – 12 U 3/11, FLF 2013, 66 für den Fall, dass ein IT-Anbieter ein Blankett des Leasingnehmers abredewidrig ausfüllt.

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Rz. 51 Vor §§ 535 ff. BGB

singgeber zur Verfügung gestellt worden sind.114 Eine fortlaufende oder besonders enge Verbindung zwischen Leasinggeber und IT-Anbieter ist insoweit nicht erforderlich.115 Sofern der IT-Anbieter in die Vertragsanbahnung einbezogen ist, können im Kontext einer Erfüllungs- 47 gehilfeneigenschaft des IT-Anbieters Sorgfalts- und Aufklärungspflichten anzunehmen sein.116 Dabei ist zu beachten, dass der Leasinggeber ggü. dem Leasingnehmer nach § 278 BGB haftbar sein kann, wenn der IT-Anbieter diesbezügliche Pflichten schuldhaft verletzt.117 Gleichwohl kann nicht jedwedes pflichtwidrige Verhalten des IT-Anbieters dem Leasinggeber zugerechnet werden.118 Eine etwaige Schadensersatzpflicht des Leasinggebers wegen der Verletzung vorvertraglicher (Aufklärungs-)Pflichten durch den IT-Anbieter kann erhebliche Folgen nach sich ziehen. So kann der Leasinggeber etwa verpflichtet sein, den Leasingnehmer von den Verpflichtungen aus dem Leasingvertrag freizustellen.119 Im Zusammenhang mit der Lieferung des Leasingobjektes ist der IT-Anbieter als Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers im Hinblick auf die Pflicht des Leasinggebers zur Verschaffung des Leasinggegenstandes einzustufen.120

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Die Erfüllungsgehilfeneigenschaft des IT-Anbieters – soweit diese im konkreten Einzelfall anzunehmen ist – endet grundsätzlich mit dem Abschluss des Leasingvertrages.121 Wenn der Leasinggeber den ITAnbieter allerdings mit der Lieferung bzw. Bereitstellung des Leasingobjekts beauftragen sollte, endet die Erfüllungsgehilfeneigenschaft erst mit der Auslieferung bzw. Bereitstellung des Leasingobjekts beim Leasingnehmer.122

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Wenn der IT-Anbieter als Erfüllungsgehilfe des Leasinggebers agiert, kann in bestimmten Fällen auch eine Wissenszurechnung gem. § 166 BGB in Betracht kommen. § 166 BGB gilt nämlich für alle Personen, die vom Geschäftsherrn dazu berufen sind, als dessen Repräsentant Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen und weiterzugeben.123 § 166 BGB ist auch anwendbar, wenn der Geschäftsherr dem Verhandlungsgehilfen die Vertragsanbahnung überlässt.124 Handelt der IT-Anbieter mit Wissen und Wollen des Leasinggebers, ist der IT-Anbieter zudem regelmäßig nicht Dritter i.S.v. § 123 Abs. 2 BGB.125

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Im Unterschied zum „normalen“ Leasinggeschäft kommt dem IT-Anbieter oftmals eine besondere 51 Stellung und Funktion zu. Vielfach übernimmt der IT-Anbieter nicht nur die reine Lieferung oder Erstellung von Hard- bzw. Software, sondern erbringt aufgrund seiner Spezialkenntnisse und Fachkompetenz weitergehende Leistungen, die sich von der Klärung einzelner Fragen des Leasingnehmers bis hin zur komplexen Projektbetreuung erstrecken können.126 Dabei ist die fachliche Überlegenheit etwa eines Softwarehauses naturgemäß größer als die eines Distributors von Geräten mit Standardkonfiguration und OEM-Software.127 Unabhängig von der besonderen Stellung des Lieferanten im IT-Umfeld wendet die Rspr. grundsätzlich die gleichen Maßstäbe für die rechtliche Qualifikation eines IT-Anbieters als Stellvertreter bzw. Erfüllungsgehilfe oder Wissensvertreter an.128

114 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1782. 115 BGH v. 3.7.1985 – VIII ZR 102/84, NJW 1985, 2258, 2260; OLG Frankfurt v. 28.1.2009 – 17 U 241/08, veröffentlicht bei juris; vgl. auch OLG Düsseldorf v. 13.1.2009 – I-24 U 92/08, OLGReport Düsseldorf 2009, 685. 116 BGH v. 28.9.1988 – VIII ZR 160/87, CR 1989, 375. 117 BGH v. 3.7.1985 – VIII ZR 102/84, NJW 1985, 2258. 118 Dazu nachfolgend unter dem Gesichtspunkt von Nebenabreden bzw. Sondervereinbarungen. 119 BGH v. 3.7.1985 – VIII ZR 102/84, NJW 1985, 2258, 2261. 120 OLG Düsseldorf v. 17.6.2004 – I-10 U 185/03, NJW-RR 2005, 700. 121 BGH v. 31.5.1989 – VIII ZR 97/88, NJW-RR 1989, 1140 = CR 1990, 204. 122 BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, CR 1987, 846, 848; vgl. zur Softwareüberlassung durch Bereitstellung auf einem Server und Gewährung eines Online-Zugangs OLG Koblenz v. 27.6.2019 – 1 U 96/19, CR 2019, 562. 123 BGH v. 20.10.2004 – VIII ZR 36/03, NJW 2005, 365. 124 BGH v. 8.11.1991 – V ZR 260/90, NJW 1992, 899. 125 BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, CR 1987, 846. 126 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2012. 127 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 14. 128 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2013.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 52 IT-Leasing 3. Beratungsleistungen 52

Speziell im Bereich des IT-Leasings und mit Blick auf die oftmals erhebliche Beratungsintensität stellt sich die Frage, ob der Leasingnehmer dem Leasinggeber Beratungsfehler des IT-Anbieters entgegenhalten kann. Zentrales Anknüpfungsmerkmal bildet dabei der Umstand, ob der IT-Anbieter im Rahmen seiner Beratungsleistungen eine Aufgabe des Leasinggebers wahrnimmt.129

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Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Beratungsleistungen des IT-Anbieters im Wesentlichen die EDV-bezogenen Spezifikationen und die Beschaffenheit des Leasinggegenstandes betreffen, erscheint eine Zurechnung eher fraglich.130 Gegen eine Zurechnung spricht vor allem, dass der Leasinggeber derartige Beratungsleistungen mangels eigenen Sachverstandes nicht selbst wahrnehmen könnte, der Leasinggeber im Bereich der originären IT-Beratung auch nicht das Vertrauen des Leasingnehmers in Anspruch nimmt und der Leasingnehmer schließlich derartige Leistungen auch nicht vom Leasinggeber erwartet.131 Zahn stellt insoweit nachvollziehbar darauf ab, dass der IT-Anbieter eines EDV-Produkts maßgeblich im Hinblick auf Spezifikationen des Vertragsprodukts informiert und berät, um dem Problemlösungsbedarf des Leasingnehmers zu entsprechen,132 wobei sich der Umfang der zu erwartenden Beratungsleistungen beim IT-Leasing nach dem Beratungsbedarf und dem Erfahrungsstand des Leasingnehmers richtet.133 Die Beratung durch den IT-Anbieter beziehe sich jedoch nicht auf das „Finanzprodukt Leasing“, sondern auf die Beschaffenheit des Gegenstandes der Investition des Leasingnehmers, die über einen Leasingvertrag finanziert werden soll.134 Ausgeschlossen sein dürfte eine Zurechnung etwaigen Beratungsverschuldens in Fällen, in welchen der Leasinggeber erst im Nachgang zu einem bereits zwischen Leasingnehmer und IT-Anbieter geschlossenen Vertrag mit einer Leasingfinanzierung befasst wird.135

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Der Leasinggeber hat sich allerdings auch im IT-Umfeld jedenfalls ein etwaiges Beratungs- bzw. Auswahlverschulden des IT-Anbieters zurechnen zu lassen, wenn der Leasinggeber im Einzelfall, insb. etwa durch ein besonderes Näheverhältnis zwischen Leasinggeber und IT-Anbieter (z.B. für den Fall, dass sich ein IT-Anbieter einer konzerneigenen Vertriebsgesellschaft mit Leasingfinanzierungsangeboten bedient) Vertrauen im Hinblick auf die Auswahl des leasingfinanzierten EDV-Objekts in Anspruch nimmt.

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Um Streitigkeit aus Fällen etwaiger Fehlberatung durch den IT-Anbieter zunächst in das „passende“ Vertragsverhältnis zu verlagern, sehen IT-Leasingverträge nicht selten eine erweiterte Abtretungskonstruktion dergestalt vor, dass Ansprüche wegen Falschberatung bzw. Nebenpflichtverletzungen unter Ausschluss unmittelbarer Ansprüche gegen den Leasinggeber an den Leasingnehmer abgetreten werden. Solange sich entsprechende Abtretungskonstruktionen im Rahmen der allgemeinen Anforderungen an eine im Leasingvertragsrecht zulässige Drittverweisung halten, insb. den Leasingnehmer nicht „rechtlos“ stellen, dürfte eine entsprechende Ausweitung der leasingtypischen Abtretungskonstruktion keinen durchgreifenden Bedenken unterliegen.136 Hiervon losgelöst bleibt das Folgeproblem, dass Lieferantenzusagen über Eigenschaften und Eignung eines IT-Produkts grundsätzlich eine Beschaffenheitsvereinbarung begründen können, die dann wiederum in Gewährleistungsansprüchen des Kunden münden kann.137 129 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 33. 130 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 36; Staudinger/Stoffels, Leasing Rz. 166; differenzierend: Graf von Westphalen/Assies, Der Leasingvertrag, Kap. D Rz. 176 ff.; a.A. allerdings OLG Koblenz v. 11.11.1988 – 2 U 4/86, CR 1990, 45; OLG Stuttgart v. 18.10.1988 – 6 U 64/88, CR 1989, 600 mit zustimmender Anmerkung Breidenbach; s. auch BGH v. 16.9.1981 – VIII ZR 265/80, NJW 1982, 105. 131 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 35; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2014. 132 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 34. 133 Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 63 Rz. 133. 134 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 34 mit weiteren Nachweisen; s. auch Marly, Softwarerecht, Rz. 771, wonach sich die Differenzierung zwischen Leasing- und IT-Beratung nicht durchgesetzt habe. 135 Vgl. BGH v. 15.6.2011 – VIII ZR 279/10, NJW 2011, 2877, 2878; kritisch wegen einer reinen Betrachtung des Vertragsschlussablaufs MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing, Rz. 54. 136 S. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 39. 137 MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 55.

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Rz. 59 Vor §§ 535 ff. BGB

Unberührt bleiben bei Beratungsfehlern des IT-Anbieters selbstredend unmittelbare Ansprüche des Leasingnehmers gegen den IT-Anbieter, insb. bei Abschluss eines gesonderten Beratungsvertrages.138 Aber auch unabhängig von einem eigenständigen Beratungsvertrag kommt eine Haftung des IT-Anbieters wegen vor- bzw. nebenvertraglicher Pflichtverletzung in Betracht. So hat das OLG Köln in der Konstellation eines Vertragsschlusses auf Basis des sog. Eintrittsmodells einen direkten Anspruch des Leasingnehmers gegen den IT-Anbieter wegen fehlerhafter Beratung bejaht, die auf Freistellung des Leasingnehmers von seinen Verpflichtungen aus dem Leasingvertrag gerichtet war.139 Der BGH hat zudem einen unmittelbaren Anspruch eines Leasingnehmers gegen einen IT-Anbieter wegen einer dem Abschluss des Leasingvertrages vorausgegangenen Fehlberatung im Zusammenhang mit der Auswahl von Hardware zugesprochen.140

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4. Nebenabreden und Sondervereinbarungen Gerade im technischen Umfeld ist es nicht selten, dass zwischen dem IT-Anbieter und dem Leasing- 57 nehmer Sondervereinbarungen getroffen werden, die zum Teil ohne Kenntnis des Leasinggebers erfolgen. Derartige Sondervereinbarungen141 sind dem Leasinggeber nur zuzurechnen, sofern und soweit sich der IT-Anbieter im Rahmen des leasinggeberseitig erteilten Auftrages bewegt. Eine Zurechnung ist hingegen grundsätzlich ausgeschlossen, wenn der IT-Anbieter nur bei Gelegenheit des Auftrages tätig wird und einen atypischen Fall regelt.142 Abweichendes gilt selbstverständlich, wenn entsprechende Nebenabreden (auch) Eingang in den Leasingvertrag finden.143 Der BGH hatte sich im IT-Umfeld mit einer Konstellation zu befassen, in welcher mittels Werbeein- 58 nahmen eine „Kostenneutralität“ des Leasingvertrages herbeigeführt werden sollte.144 Der IT-Anbieter hatte mit dem Leasingnehmer anlässlich eines Leasingvertrages über eine TK-Anlage eine isolierte Kooperationsvereinbarung abgeschlossen, die dem Leasinggeber nicht bekannt war und auf deren Grundlage der Leasingnehmer gegen Entgelt für telefonische Beratungsleistungen zur Verfügung stehen sollte. Über diese Konstruktion sollten die Leasingraten faktisch ausgeglichen werden. Der BGH hat deutlich gemacht, dass ein Lieferant im Regelfall nicht in Ausübung, sondern nur bei Gelegenheit der ihm von der Leasinggesellschaft übertragenen Aufgaben tätig wird, wenn einem Leasingnehmer vom Lieferanten vorgegaukelt wird, dass wirtschaftliche Belastungen aus einem Leasingvertrag durch ein mit einem sonstigen Vertragspartner abzuschließendes Nebengeschäft kompensiert würden.145 Der innere und sachliche Zusammenhang mit dem übertragenen Aufgabenkreis, der für die Zurechnung des Verhaltens eines Erfüllungsgehilfen erforderlich sei, werde nicht schon dadurch begründet, dass der Lieferant beim Leasingnehmer den Eindruck erwecke, dass der Leasingvertrag für den Leasingnehmer durch den zusätzlichen Abschluss eines Koppelungsvertrages wirtschaftlich betrachtet für den Leasingnehmer mit keinen Kosten verbunden sei.146 In Bezug auf mündliche Nebenabreden zwischen Leasingnehmer und IT-Anbieter sollte im Leasingvertrag klargestellt werden, dass solche nicht in Betracht kommen. Hierfür erscheint eine diesbezügliche Zusicherung durch den Leasingnehmer gangbar, wobei die Leasingbedingungen um eine Regelung ergänzt werden sollten, kraft derer für den Fall mündlicher Nebenabreden zwischen Leasingnehmer und IT-Anbieter eine Bindung auch des Leasinggebers nur eintritt, wenn die Abrede dem Leasinggeber mitgeteilt wurde und er diese billigt.147

138 139 140 141 142 143 144 145 146 147

S. Auer-Reinsdorff/Conrad/Stadler/Kast, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, Kap. C § 15 Rz. 98. OLG Köln v. 13.11.1987 – 19 U 140/84, CR 1988, 723. BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, CR 1986, 79. S. zu diesem Themenkreis ausführlich auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 23 ff. Vgl. BGH v. 30.1.1995 – VIII ZR 328/93, CR 1995, 527; OLG Düsseldorf v. 19.12.1991 – 10 U 204/90, OLGReport Düsseldorf 1992, 154; OLG München v. 12.4.2002 – 21 U 4262/00, DB 2002, 2373. OLG München v. 12.4.2002 – 21 U 4262/00, DB 2002, 2373, 2374; a.A. LG Neubrandenburg v. 7.6.2004 – 3 O 67/03, VuR 2004, 443, das zu Lasten des Leasinggebers eine Schadensersatzpflicht annimmt. BGH v. 18.9.2013 – VIII ZR 281/12, CR 2014, 35. BGH v. 18.9.2013 – VIII ZR 281/12, CR 2014, 35. BGH v. 18.9.2013 – VIII ZR 281/12, CR 2014, 35. Vgl. Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 2 Rz. 99.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 60 IT-Leasing

VI. Überlassung des Leasinggegenstandes und Übernahmebestätigung 60

Bei der Überlassung von IT-Produkten sind vor allem softwarespezifische Aspekte zu berücksichtigen, die in der Praxis regelmäßig Probleme bereiten. 1. Bereitstellung des Leasingobjekts

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Der Leasinggegenstand wird dem Leasingnehmer beim IT-Leasing im Regelfall unmittelbar vom ITAnbieter bereitgestellt. Der Leasinggeber erwirbt kraft Geheißerwerbs gem. § 929 Satz 1 BGB i.V.m. § 868 BGB das Eigentum am Leasinggegenstand bzw. wird Inhaber von Nutzungsrechten an gelieferter Software. Durch die Auslieferung des Leasingobjekts erfüllt der IT-Anbieter seine Verpflichtung aus dem Beschaffungsvertrag, während der Leasinggeber unter Zuhilfenahme des Leasingnehmers als Erfüllungsgehilfe seiner Abnahmeverpflichtung gem. § 433 Abs. 2 BGB nachkommt; gleichzeitig erfüllt der Leasinggeber im Verhältnis zum Leasingnehmer durch die vermittelte Überlassung des Leasingobjekts seine Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung.148 Der Leasingnehmer ist nach der Überlassung des Leasinggegenstandes zur Zahlung der Leasingraten verpflichtet.149

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Bei Softwarelieferungen ist zu beachten, dass eine vollständige Überlassung des Leasingobjekts nur angenommen wird, wenn dem Leasingnehmer neben der Software ein verständliches Handbuch bzw. eine Bedienungsanleitung übergeben wird. Es entspricht gefestigter BGH-Rspr., dass das Fehlen einer schriftlichen Bedienungsanleitung nicht „nur“ als Sachmangel gilt, sondern als Fall der teilweisen Nichterfüllung zu werten ist.150

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Nach der Übergabe des Leasinggegenstandes an den Leasingnehmer ist der Leasinggeber nur noch verpflichtet, den Leasingnehmer nicht im Besitz zu stören und ihn bei Störungen durch Dritte zu unterstützen.151 Nach einer Entscheidung des OLG Koblenz sollen eine hinreichende Gebrauchseinräumung und eine Erfüllung der Hauptleistungspflicht des Leasinggebers auch für den Fall anzunehmen sein, dass der Leasinggeber bzw. der Lieferant die Software auf einem Servier bereitstellt und dem Leasingnehmer einen Online-Zugang zur Nutzung der Software eröffnet; eine Besitzverschaffung an der Software selbst sei nicht erforderlich.152 2. Untersuchungs- und Rügepflichten

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Vor dem Hintergrund, dass es sich bei den zugrunde liegenden Beschaffungsverträgen zwischen Leasinggeber und IT-Anbieter regelmäßig um Handelsgeschäfte i.S.v. §§ 343, 344 HGB handelt, kommt den handelsrechtlichen Untersuchungs- und Rügepflichten gem. § 377 HGB maßgebliche Bedeutung zu. Sofern und soweit der Leasinggeber bestehenden Untersuchungs- und Rügepflichten nicht nachkommt, läuft der Leasinggeber Gefahr, dass der Leasingnehmer seine mittels leasingtypischer Abtretungskonstruktion abgetretenen Gewährleistungs- und Erfüllungsansprüche verliert. Dabei ist zu beachten, dass § 377 HGB im Hinblick auf den Beschaffungsvertrag selbst dann zur Anwendung kommen soll, wenn der Leasingnehmer, der den Leasinggegenstand in Empfang nimmt, selbst kein Kaufmann ist.153 Sofern und soweit Leasingbeschaffungsverträge als Werkverträge zu qualifizieren sind, kommt § 377 HGB selbstredend nicht in Betracht, allerdings sind insoweit Abnahmeprüfungen angezeigt.

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Vor dem Hintergrund, dass Leasingobjekte beim IT-Leasing, insb. im Falle individualisierter Leistungen, nahezu ausnahmslos unmittelbar vom IT-Anbieter an den Leasingnehmer ausgeliefert werden 148 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1818. 149 BGH v. 17.2.1993 – VIII ZR 37/92, CR 1993, 491, 493. 150 Vgl. nur BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 165/91, CR 1993, 203; s. auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 65 mit weiteren Nachweisen. 151 BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, CR 1987, 846. 152 OLG Koblenz v. 27.6.2019 – 1 U 96/19, CR 2019, 562. Das Gericht nahm zudem an, dass sich der Leasingnehmer im Falle nachträglicher Zugangssperre durch den Lieferanten bzw. das Softwarehaus aufgrund leasingtypischer Abtretungskonstruktion an den Lieferanten bzw. das Softwarehaus halten müsse, Einwendungen gegen den Leasinggeber hingegen ausgeschlossen wären. 153 MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing, Rz. 86 mit weiteren Nachweisen.

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Rz. 70 Vor §§ 535 ff. BGB

und der Leasinggeber schon faktisch keine eigene Untersuchung des Leasingobjekts durchführen kann, werden in der Praxis entsprechende Untersuchungs- und Rügepflichten formularmäßig auf den Leasingnehmer übertragen.154 Der Leasingnehmer ist insb. zu einer unverzüglichen Untersuchung verpflichtet, wobei gerade im IT- 66 Umfeld die Bewertung des Unverzüglichkeitskriteriums nicht ganz trivial ist. Zwar soll eine erfolgreiche Durchführung eines im Wesentlichen ungestörten Probelaufs jedenfalls im Regelfall nicht erforderlich sein; gleichwohl sei davon auszugehen, dass bei einem umfangreichen und komplexen IT-System und den damit einhergehenden Problemen bei der Entdeckung von Mängeln eine hinreichend großzügige Bemessung der Untersuchungsfrist zuzubilligen ist.155 Vor dem Hintergrund der leasingtypischen Abtretungskonstruktion versteht es sich dabei von selbst, dass entsprechende Rügen durch den Leasingnehmer nicht ggü. dem Leasinggeber, sondern ggü. dem IT-Anbieter zu erheben sind. Im Kontext einer etwaigen Mängelrüge ist zu beachten, dass diese zwar spezifiziert vorzunehmen ist; der IT-Anbieter muss also erkennen können, inwiefern seine Lieferleistungen mangelhaft sein sollen. Es ist jedoch anzumerken, dass nach einschlägiger Rspr. des BGH die Anforderungen an eine Mangelrüge allein auf eine genaue Bezeichnung der Mangelerscheinungen beschränkt sind; zu den Ursachen der Mangelerscheinung muss zunächst nicht vorgetragen werden.156 Der Besteller genügt seiner Darlegungslast also, wenn er Mangelerscheinungen, die er der fehlerhaften Leistung des IT-Anbieters zuordnet, genau bezeichnet. Ob die Ursachen der Mangelerscheinung tatsächlich in einer vertragswidrigen Beschaffenheit der Leistung des Unternehmers zu suchen sind, ist Gegenstand des Beweises und nicht des Sachvortrags.

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3. Übernahmebestätigung Den im Kontext der Lieferung von Leasinggegenständen verwendeten Übernahmebestätigungen kommt eine besonders hohe Bedeutung zu. Insb. beim IT-Leasing treten dabei häufig Probleme auf.157

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Durch die Unterzeichnung einer Übernahmebestätigung bestätigt der Leasingnehmer dem Leasinggeber die Lieferung des Leasinggegenstandes. Der Leasinggeber hat gem. § 368 Satz 1 BGB einen Anspruch auf die Erteilung einer solchen Bestätigung. Der Leasingnehmer ist allerdings nicht verpflichtet, ein bestimmtes Formular des Leasinggebers zu verwenden.158 Es ist vielmehr ausreichend, wenn der Leasingnehmer eine Bestätigung abgibt, welche die Bestimmung des Liefergegenstandes ermöglicht und das relevante Auslieferungsdatum, sprich den Übergabezeitpunkt, dokumentiert.159

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a) Funktion Die zentrale Funktion der Übernahmebestätigung besteht in der Dokumentation der Gebrauchsüber- 70 lassung und der sich hieraus ergebenden Fälligkeit der Leasingraten.160 Bei einer Übernahmebestätigung handelt sich um eine Quittung gem. § 368 BGB. Mit dieser bestätigt der Leasingnehmer dem Leasinggeber die Auslieferung und Gebrauchstauglichkeit, mithin also die Erfüllung der Gebrauchs-

154 Vgl. zu einer entsprechenden Empfehlung für die Vertragsgestaltung Auer-Reinsdorff/Conrad/Stadler/Kast, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, Kap. C § 15 Rz. 92 ff.; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 495 weist zutreffend darauf hin, dass ohne entsprechende Vereinbarung keine Rügeobliegenheit auf Basis des Leasingvertrages besteht. 155 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 73 mit Verweis auf BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, NJW 2000, 1415, 1416 = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel; in diese Richtung auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 138. 156 BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 276/13, CR 2014, 568 (Leitsatz 1) = ITRB 2014, 198. 157 Marly, Softwarerecht, Rz. 781. 158 BGH v. 17.2.1993 – VIII ZR 37/92, CR 1993, 491, 493; BGH v. 10.10.1994 – VIII ZR 295/93, NJW 1995, 187. 159 BGH v. 10.10.1994 – VIII ZR 295/93, NJW 1995, 187. 160 BGH v. 17.2.1993 – VIII ZR 37/92, CR 1993, 491, 493; BGH v. 10.10.1994 – VIII ZR 295/93, NJW 1995, 187 speziell für den IT-Bereich.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 70 IT-Leasing überlassungspflicht aus dem Leasingvertrag.161 Ob in der Übernahmebestätigung ggü. dem Leasinggeber gleichzeitig eine Quittung zugunsten des IT-Anbieters im Verhältnis zum Leasinggeber gesehen werden kann, ist höchstrichterlich nicht geklärt.162 IT-Anbieter sehen nicht zuletzt vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Bestätigung für den Empfang des Leasinggegenstandes durch den Leasingnehmer als Erfüllungsgehilfen des Leasinggebers auf einem gesonderten Formular vor.163 b) Inhalte 71

Im Regelfall ist der Inhalt einer Übernahmebestätigung nicht auf die bloße Empfangsbestätigung hinsichtlich des Leasingobjekts beschränkt. Meistens werden entsprechende Formulare mit weiteren Erklärungen versehen. So ist oftmals vorgesehen, dass der Leasingnehmer die Gebrauchs- und Funktionstauglichkeit sowie die Mangelfreiheit des Leasingobjekts bestätigt. Zudem sind Klauseln verbreitet, auf deren Grundlage der Leasingnehmer zu bestätigen hat, dass keine über den im Leasingvertrag schriftlich fixierten Vertragsinhalt hinausgehenden Vereinbarungen, insb. nicht mit dem IT-Anbieter, getroffen wurden.164

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Nach h.M. darf im Rahmen einer Übernahmebestätigung nur eine Bestätigung des bloßen Empfangs vorgesehen werden.165 Dennoch sehen die in der Praxis üblichen Übernahmebestätigungen auch und insb. im IT-Bereich vor, dass neben dem Empfang des Leasinggegenstandes vor allem auch die Mangelfreiheit, die Ordnungs- und Vertragsgemäßheit sowie die Funktionsfähigkeit des Leasinggegenstandes bestätigt werden.166 Die diesbezügliche Praxis wird insb. vor dem Hintergrund der besonderen Konstruktion beim Finanzierungsleasing nicht als unangemessen eingestuft.167

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Da der Leasinggeber den Leasinggegenstand im Regelfall nicht selbst begutachten oder untersuchen kann, erscheint es angemessen, den Leasingnehmer zur Prüfung des Leasinggegenstandes auf Vertragsgemäßheit zu verpflichten.168 Auch der BGH hat eine Übernahmebestätigung, in welcher die Bestätigung der Übernahme des Leasinggegenstandes in einem „ordnungsgemäßen, mangelfreien, funktionsfähigen und fabrikneuen Zustand“ vorgesehen war, unbeanstandet gelassen.169 Für die Praxis der Leasinggesellschaften wird empfohlen, die Empfangsbestätigung als solche und die darüber hinausgehende Bestätigung in Bezug auf die Vertragsgemäßheit des Leasinggegenstandes in getrennten Regelungen zu verorten; im Falle einer Unwirksamkeit eines Teils der Klausel könnte auf diese Weise der Gesamtunwirksamkeit der Regelung entgegengewirkt werden.170

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In besonderem Maße problematisch sind Bestätigungsklauseln, die absichern sollen, dass zusätzlich zu einem schriftlich fixierten Leasingvertrag keine sonstigen Abreden zwischen dem Leasingnehmer und dem Leasinggeber sowie dem IT-Anbieter getroffen wurden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es aus Sicht des Leasinggebers angezeigt sein dürfte, dem Leasingnehmer klar zu machen, dass grundsätzlich keine außerhalb des schriftlichen Leasingvertrages mit Dritten getroffenen Vereinbarungen auf den Leasingvertrag „durchschlagen“. Insoweit könnte zumindest in den Allgemeinen Leasingbedingungen eine Klausel vorzusehen sein, wonach Zusicherungen Dritter und Vereinbarungen mit Dritten, insb. dem IT-Dienstleister, eine Bindung (auch) des Leasinggebers nur bewirken, wenn dieser zusätzlichen Zusicherungen und Vereinbarungen schriftlich zustimmt.171

161 BGH v. 17.2.1993 – VIII ZR 37/92, CR 1993, 491, 493; vgl. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 81 mit zahlreichen Nachweisen. 162 Dafür OLG Köln v. 23.7.1998 – 12 U 1/98, VersR 2000, 501, 502. 163 Dies empfiehlt auch Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 7 Rz. 53. 164 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1821. 165 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 7 Rz. 34. 166 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1821. 167 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 7 Rz. 39; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1821. 168 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 781, 1962. 169 BGH v. 20.10.2004 – VIII ZR 36/03, NJW 2005, 365, 367. 170 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 7 Rz. 43. 171 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1821. Zur Wirksamkeit einer solchen Klausel OLG München v. 12.4.2002 – 21 U 4262/00, DB 2002, 2373, 2374.

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Rz. 79 Vor §§ 535 ff. BGB

c) Rechtsfolgen Die Abgabe der Übernahmebestätigung und die Annahme des Leasingobjekts betrifft vorrangig die 75 Darlegungs- und Beweislast. Gemäß § 363 BGB trifft den Leasingnehmer nach Annahme der als Erfüllung angebotenen Leistung die Beweislast, wenn der Leasingnehmer die Leistung nicht als Erfüllung gelten lassen will, weil sie eine andere als die geschuldete Leistung, oder weil sie unvollständig gewesen sei. Diesbezüglich tritt infolge der Abgabe einer Übernahmebestätigung eine Umkehr der Beweislast ein.172 Diese Umkehr der Beweislast umfasst auch Mängel.173 Eine Übernahmebestätigung ist dabei stets auf den konkreten Inhalt der Erklärung begrenzt. So vermag eine Übernahmebestätigung, die sich nur auf angelieferte Hardware, nicht aber auf ebenfalls übergebene Software bezieht, eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Fehlens einer Softwaredokumentation nicht zu begründen.174 Einer Übernahmebestätigung kommt im Übrigen nicht die Wirkung eines Schuldanerkenntnisses i.S.v. § 781 BGB zu.175 Ungeachtet der erheblichen Relevanz einer Übernahmebestätigung, die unabhängig von Fragen der eintretenden Beweislastumkehr im Verhältnis zwischen Leasinggeber und IT-Anbieter bei hierdurch veranlasster Zahlung des Leasinggebers abnahmerelevant sein kann,176 geben Leasingnehmer faktisch immer noch häufig regelmäßig vorformulierte und weitreichende Übernahmebestätigungen ab, obwohl eine tatsächliche Untersuchung des Leasinggegenstandes noch gar nicht erfolgt ist.177 Dies gilt namentlich im IT-Bereich.178

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Vor diesem Hintergrund sollte im Leasingvertrag im wechselseitigen Interesse der Vertragsparteien 77 deutlich auf die Folgen der Abgabe einer Übernahmebestätigung hingewiesen und der Leasingnehmer zu einer sorgfältigen Prüfung angehalten werden. Zu einer entsprechenden Prüfung im SoftwareBereich bzw. bei der Lieferung eines gesamten EDV-Systems zählen insb. Testdurchläufe, welche im Bereich der Softwareerstellung regelmäßig auch zum Gegenstand von Abnahmeverfahren erhoben werden.179 Je nach Einzelfall und Relevanz sollten zur Abnahmeprüfung auch eine Sichtung und Prüfung des Quellcodes nebst hinreichender Dokumentation zählen. Dem Leasingnehmer ist dringend zu empfehlen, nicht voreilig umfassende Übernahmebestätigungen zu unterzeichnen, sondern sich auf Formulierungen zu beschränken, nach welchen nur die grundsätzliche Entgegennahme des Leasinggegenstandes bestätigt wird, während die Funktionstauglichkeit erst nach gehörigem Testen zumindest der wichtigsten Programmfunktionen im realitätsnahen Tagesgeschäft bestätigt werden sollte.180 Dies gilt vor allem in Konstellationen, in welchen das Leasingobjekt durch den IT-Anbieter erst noch hergestellt bzw. auf die Bedürfnisse des Leasingnehmers angepasst werden muss, also im werkvertraglichen und abnahmerelevanten Kontext. Eine ohne angemessene Prüfung abgegebene Übernahmebestätigung muss als reine Bestätigung „ins Blaue hinein“ bezeichnet werden und kann für den Leasingnehmer ganz erhebliche Risiken begründen.

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d) Fehlerhafte Übernahmebestätigung In der Praxis, namentlich im Kontext von Leasingkonstellationen im IT-Umfeld, verursachen „fehler- 79 hafte Übernahmebestätigungen“ oftmals erhebliche Schwierigkeiten. Dabei ist der Grundsatz voranzustellen, dass der Leasingnehmer zur rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Erteilung der Übernahmebestätigung verpflichtet ist. 172 Marly, Softwarerecht, Rz. 783. 173 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75 = ITRB 2007, 55. 174 S. Marly, Softwarerecht, Rz. 784 mit Verweis auf BGH v. 4.11.1992 – VIII ZR 165/91, NJW 1993, 461, 463 = CR 1993, 203. 175 BGH v. 1.7.1987 – VIII ZR 117/86, NJW 1988, 204, 206 = CR 1987, 591. 176 OLG Düsseldorf v. 19.11.1998 – 5 U 51/98, CR 1999, 689; vgl. auch OLG Bdb. v. 6.8.2008 – 4 U 167/07, CR 2008, 763 zur Bestätigung der Vertragsgemäßheit im Kontext einer Softwarelieferung; s. auch Schneider/ Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 481. 177 Schneider/Graf von Westphalen/Schneider, Software-Erstellungsverträge, Kap. F Rz. 352. 178 Auer-Reinsdorff/Conrad/Stadler/Kast, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, Kap. C § 15 Rz. 94. 179 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1982. 180 Marly, Softwarerecht, Rz. 785; ähnlich Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 47.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 80 IT-Leasing 80

Insb. bei vorbehaltloser Unterzeichnung einer Übernahmebestätigung trotz Unvollständigkeit, Mangelhaftigkeit oder sonstiger Fehlerhaftigkeit der Lieferung kann der Leasingnehmer dem Leasinggeber gem. § 280 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet sein,181 etwa wenn der Leasinggeber auf Grundlage einer fehlerhaften Übernahmebestätigung den Kaufpreis bzw. Werklohn an den IT-Anbieter auszahlt und der Leasinggeber aufgrund einer Insolvenz des IT-Anbieters oder der Verletzung von Rügeobliegenheiten einen Ausfall erleidet.182 Nicht zu unterschätzen ist auch, dass eine falsche Übernahmebestätigung oftmals mit einer Genehmigung des Leasinggebers durch Unterlassen i.S.v. § 377 Abs. 2 HGB einhergeht und der IT-Anbieter von Gewährleistungspflichten befreit sein kann.183

VII. Urheberrechtliche Implikationen des Softwareleasings 81

Im Segment des IT-Leasings erweisen sich urheberrechtliche Implikationen als ein zentrales Problemfeld.184 1. Eigentum und Zuweisung von Nutzungsrechten

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Es ist voranzustellen, dass ein Eigentumserwerb an Software als solcher grundsätzlich nicht erfolgt.185 Auch für den Fall, dass Software auf einem Datenträger ausgeliefert wird, wird lediglich an diesem Eigentum im Rechtssinne erworben.186 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Überlassung von Software auf einem Datenträger stark rückläufig ist, was insb. durch den ganz erheblich zunehmenden Online-Vertrieb von Software sowie moderne Bezugsmöglichkeiten wie das Application Service Providing (ASP) oder Software as a Service (SaaS) bzw. Cloud Computing begründet ist.187

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Die Verwendungsmöglichkeiten und -befugnisse des Leasinggebers sowie des Leasingnehmers richten sich primär nach der Ausgestaltung der urheberrechtlichen Nutzungsrechte an der vertragsgegenständlichen Software, wobei den Nutzungsbedingungen des Herstellers naturgemäß besondere Bedeutung zukommt. 2. Lizenzierungsmodelle und Inhalt von Nutzungsrechten

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Softwareanbieter sind im Wesentlichen und in den Grenzen von §§ 69c bis 69e UrhG sowie AGBrechtlicher Restriktionen frei darin, Art und Umfang einer Nutzungsberechtigung eines Softwarenutzers auszugestalten.188 In der Praxis haben sich zahlreiche und im Detail ausdifferenzierte Lizenzmodelle bzw. Lizenztypen etabliert (z.B. dauerhafte und zeitlich befristete Nutzungsrechte, einfache und ausschließliche Nutzungsrechte, Volumenlizenzen, Unternehmenslizenzen, Netzwerklizenzen, Lizenzen für Servervirtualisierung, etc.). Für das auf eine zeitlich befristete Überlassung ausgerichtete Leasinggeschäft sind diese Lizenzmodelle nicht in jedem Fall geeignet.189 181 BGH v. 1.7.1987 – VIII ZR 117/86, NJW 1988, 204, 206 = CR 1987, 591; BGH v. 20.10.2004 – VIII ZR 36/03, NJW 2005, 365; vgl. auch OLG Karlsruhe v. 30.1.2007 – 8 U 143/06; OLG Düsseldorf v. 17.6.2004 – 10 U 22/04, OLGReport Düsseldorf, 2004, 397; OLG Karlsruhe v. 30.1.2007 – 8 U 143/06, OLGReport Karlsruhe 2007, 427 hinsichtlich eines außerordentlichen Kündigungsrechts. 182 MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 83; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 480. 183 Vgl. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 82. 184 S. Vander, CR 2011, 77; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1987 ff.; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16b ff.; Redeker, ITRB 2014, 289. 185 Vgl. Vander, CR 2011, 77; Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 73. 186 Vgl. bereits Brzuska, CR 1989, 223, 225. 187 ASP, SaaS und auch Cloud Computing basieren auf einem dezentralen Konzept, bei welchem dem Nutzer die Software als solche nicht auf Datenträgern bzw. zur Installation auf eigenen Systemen überlassen, die Software vielmehr im Wege des Fernzugriffs (z.B. als Internet-Applikation) als „Service“ zur Verfügung gestellt wird. 188 Zu den urheberrechtlichen und AGB-rechtlichen Grenzen im Einzelnen vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, §§ 69c bis 69e UrhG mit zahlreichen Nachweisen und Beispielen. 189 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1990.

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IT-Leasing

Rz. 89 Vor §§ 535 ff. BGB

Vielfach sehen Nutzungsbedingungen von Softwareherstellern Weitergabeverbote vor,190 kraft derer 85 eine Überleitung von Nutzungsrechten auf dritte Parteien untersagt wird. Derartige Vorbehalte dürften eine etwaige Verwertung betroffener Software jedenfalls faktisch deutlich und ungeachtet der grundsätzlichen Frage verkomplizieren, ob Weitergabeverbote in Allgemeinen Geschäftsbedingungen überhaupt wirksam vereinbart werden können.191 Insb. bei Standardsoftware ist zudem die Überlassung und Unterlizenzierung von Software an Dritte regelmäßig nicht gestattet bzw. ausdrücklich untersagt.192 Vor allem pauschale Weitergabe- und Übertragungsverbote sind mit urheberrechtlichen und auch AGB-rechtlichen Bestimmungen oftmals nicht zu vereinbaren, wenn ein Softwareerwerbsvertrag auf eine dauerhafte Gewährung von Nutzungsrechten an Software gerichtet ist, insb. beim klassischen Softwarekauf. Speziell für den Bereich des Softwareleasings hat das OLG Hamm eine Beschränkung eines Beschaffungsvertrages auf nicht übertragbare Nutzungsrechte sowohl als überraschende Klauseln gem. §§ 305 Abs. 1, 305c Abs. 1 BGB als auch als Abweichung vom gesetzlichen Leitbild der §§ 17 Abs. 2, 69c Nr. 3 UrhG eingeordnet.193 Dabei hat sich das Gericht zentral auf die urheberrechtliche Erschöpfung gestützt und auf die einschlägigen EuGH-Entscheidungen im Bereich „Gebrauchtsoftware“ verwiesen.194 Die Entscheidung des OLG Hamm darf allerdings keinesfalls als eine Art „Freibrief“ für die urheberrechtliche Zulässigkeit des Leasings von Software missverstanden werden.195 Auch hat das OLG Hamm mitnichten gar allgemeingültig festgestellt, dass Leasingverbote in Softwarenutzungsbedingungen unwirksam seien.196 Das OLG Hamm hat sich im Rahmen seiner stark eigentumsrechtlich geprägten Argumentation mit den eigentlich interessanten und naheliegenden Fragen einer Vermietungsberechtigung des Erwerbers und den diesbezüglichen Einschränkungen in Bezug auf die urheberrechtliche Erschöpfung gar nicht erst auseinandergesetzt.197

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Die Frage erforderlicher Nutzungsrechte im Leasingkontext ist in den letzten Jahren vor allem vor dem Hintergrund verfolgter Lizenzstrategien von Softwareherstellern in den Fokus gerückt. Teile der Softwarebranche versuchen nämlich, den gesamten Bereich des Softwareleasings unter dem Schlagwort „Rental Rights“ einer gesonderten Lizenzierungspflicht zu unterwerfen.198

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a) Leasing als Fall urheberrechtlicher Vermietung Für das Softwareleasing stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die leasingtypisch auf Zeit angelegte Überlassung von Software an den Leasingnehmer als Vermietung i.S.v. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG zu werten ist. Eine Erschöpfung des Verbreitungsrechts des Softwareherstellers käme dann nicht in Betracht, vielmehr müsste der Leasinggeber selbst über urheberrechtliche Vermietrechte verfügen, um dem Leasingnehmer Software rechtmäßig und ohne Eingriff in das Verbreitungsrecht des Softwareherstellers zur Verfügung stellen zu können.199

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Der Wortlaut von § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG trägt nur wenig zur Klärung der Anwendbarkeit der Norm auf Leasingverträge bei. Die Vorschrift verweist lediglich und allgemein auf eine „Vermietung“, woraus nach allgemeinem Sprachverständnis lediglich geschlossen werden kann, dass die mietweise Überlas-

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190 Zu typischen Klauseln vgl. Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 130; Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 407 weist darauf hin, dass eine Wirksamkeit entsprechender Klauseln mangels Verwertungsmöglichkeit steuerschädlich wäre. 191 Schneider/Graf von Westphalen/Schneider, Software-Erstellungsverträge, Kap. F Rz. 300; Vander, CR 2011, 77. 192 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 15. 193 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 217. 194 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 217 mit Hinweis auf EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 ff. = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171; BGH v. 6.7.2000 – I ZR 244/97, CR 2000, 651. 195 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1991. 196 Das in den Nutzungsbedingungen des Softwareherstellers vorgesehene „Leasingverbot“ konnte das OLG Hamm nämlich aufgrund abweichender und auch unstreitiger Leasingberechtigung des Lieferanten gänzlich offen lassen. 197 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1991. 198 Eingehend hierzu: Vander, CR 2011, 77. S. auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16b ff. insb. Rz. 16k. 199 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1993.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 89 IT-Leasing sung auf Grundlage eines echten Mietvertrages i.S.d. §§ 535 ff. BGB grundsätzlich nicht der urheberrechtlichen Erschöpfung unterliegt.200 Zivilrechtlich und auch nach allgemeinem Sprachverständnis wird die „Miete“ durch die Merkmale der Gebrauchsüberlassung auf Zeit gegen Entgelt geprägt. Soweit EDV-Systeme bzw. Software im Rahmen echter Mietverträge überlassen werden sollen, z.B. bei der Vermietung von Notebooks mit aufgespielter Software, bedarf der Anbieter folglich „echter“ Vermietrechte.201 90

In gesetzessystematischer Hinsicht liegt ein Rückgriff auf § 17 Abs. 3 UrhG nahe. Die Vorschrift enthält eine für das gesamte Urheberrecht maßgebliche Definition des Vermietungsbegriffs.202 Danach ist Vermietung im Sinne des Urheberrechts die zeitlich begrenzte, unmittelbar oder mittelbar Erwerbszwecken dienende Gebrauchsüberlassung. Diese Definition entspricht auch der § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG zugrunde liegenden Europäischen Richtlinie über den Rechtsschutz von Computerprogrammen,203 welche in Erwägungsgrund Nr. 16 eine korrespondierende Definition des Vermietungsbegriffs enthält. Danach umfasst der Begriff der Vermietung die Überlassung eines Computerprogramms oder einer Kopie davon zur zeitweiligen Verwendung und zu Erwerbszwecken. Eine systematische Auslegung des Begriffs der Vermietung indiziert, dass auch Leasingverträge grundsätzlich als Vermietung i.S.v. § 69 Nr. 3 Satz 2 UrhG einzuordnen sind, da Leasingverträge gerade durch die zeitliche Begrenzung der Überlassung des Leasinggegenstandes gegen Zahlung des auf zeitlicher Basis bemessenen Leasingentgeltes geprägt sind.204 In diese Richtung kann auch mit Blick auf den Umstand argumentiert werden, dass ein Leasingvertrag als solcher ganz überwiegend als atypischer Mietvertrag eingeordnet wird.205 Eine unreflektierte Übertragung des zugrunde liegenden vertraglichen Charakters eines Leasingvertrages – der zudem lediglich einen „atypischen“ Mietvertrag darstellt – auf urheberrechtliche Kategorien ist jedoch keineswegs zwingend, da die vertragstypologische Einordnung eine urheberrechtliche Kategorisierung nicht prädeterminiert.206

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Zu hinterfragen ist, ob die Überlassung von Software im Rahmen von Leasingverträgen auch unter teleologischen Gesichtspunkten als Vermietung i.S.v. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG zu bewerten ist. Das Problem entzündet sich dabei im Wesentlichen an der Frage, ob im Rahmen von Leasingverträgen in wirtschaftlicher Hinsicht eine lediglich – den Charakter der mietweisen Überlassung prägende – zeitlich befristete Überlassung in Rede steht oder ob bei Leasingverhältnissen die Überlassung unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten einer Veräußerung gleichzusetzen ist.207 Zudem sind die eigentlichen Zweckbestimmungen der urheberrechtlichen Erschöpfung in den Blick zu nehmen.

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Die rechtstheoretische Begründung des Erschöpfungsgrundsatzes stützt sich maßgeblich auf zwei Erwägungen:208 Zum einen soll dem verwertungsrechtlichen Interesse des Urhebers in der Regel genügt sein, wenn dieser bei der ersten Verwertungshandlung die Möglichkeit hatte, seine Zustimmung von der Zahlung eines Entgelts abhängig zu machen (sog. Belohnungsgedanke).209 Anderseits ist das Allgemeininteresse an klaren und übersichtlichen Verhältnissen im Rechtsverkehr zu berücksichtigen (sog. Verkehrssicherungsgedanke).210 Wollte man für jede Weiterveräußerung eine erneute Zustimmung des Rechteinhabers verlangen, wäre es nahezu unmöglich, mit Vervielfältigungsstücken eines 200 201 202 203 204 205 206

207 208 209 210

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Vander, CR 2011, 77, 81. Vander, CR 2011, 77, 81. Schricker/Loewenheim/Loewenheim, § 17 UrhG Rz. 32. RL 91/250/EWG vom 14.5.1991 über den Rechtsschutz von Computerprogrammen (sog. Softwarerichtlinie), ABl. EG Nr. L 122 v. 17.5.1991. Vander, CR 2011, 77, 81. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1995. S. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 73, der davon ausgeht, dass die „vertragsrechtliche Typisierung die urheberrechtliche nicht präjudiziert“; ähnlich auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16b; anderer Ansicht und mit Hinweis auf die „Einheit der Rechtsordnung“ Redeker, ITRB 2014, 289, 290. Dazu: Vander, CR 2011, 77, 81 ff.; vgl. bereits Lehmann, BB 1985, 1209, 1210, der sich bei längeren – insb. das Finanzierungsleasing prägenden – Vertragslaufzeiten für die Einräumung von Kaufoptionen oder eine unmittelbare Anwendung des Erschöpfungsgrundsatzes ausspricht. Vander, CR 2011, 77, 81. Vgl. BGH v. 23.2.1995 – I ZR 68/93, GRUR 1995, 673, 676; BGH v. 28.6.1984 – I ZR 65/82, GRUR 1985, 134. Schricker/Loewenheim/Loewenheim, § 17 UrhG Rz. 44.

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Rz. 95 Vor §§ 535 ff. BGB

Werks Handel zu treiben; Behinderungen des freien Warenverkehrs wären vorprogrammiert.211 Die zentrale Funktion des Erschöpfungsgrundsatzes im Urheberrecht besteht in der Schaffung eines gerechten Ausgleichs zwischen den wirtschaftlichen Interessen des Rechteinhabers und dem Interesse der Allgemeinheit am freien Warenverkehr. Diese Weichenstellung ist für die gebotene Auslegung der Reichweite des Erschöpfungsgrundsatzes im Urheberrecht als grundlegend heranzuziehen.212 Unter Berücksichtigung der Schutzfunktion des urheberrechtlichen Vermietrechts sowie Sinn und 93 Zweck des Erschöpfungsgrundsatzes ist zu hinterfragen, ob durch sich nach Erstverbreitung einer Softwarekopie anschließende Überlassungen infolge von Leasinggeschäften unberechtigt in schutzwürdige Interessen des Urhebers eingegriffen wird. Dabei ist zunächst die Prämisse zugrunde zu legen, dass das Verbreitungsrecht des Urhebers kraft urheberrechtlicher Erschöpfung beschränkt werden darf, da der Urheber anlässlich der Erstverbreitung Gelegenheit hatte, eine antizipierende Vergütung für die Einräumung des Verbreitungsrechts auch für spätere Veräußerungsvorgänge, auszuhandeln.213 Es wäre mit dieser Prämisse naturgemäß schwerlich in Einklang zu bringen, dass der Erwerber eines Vervielfältigungsstücks dieses nicht lediglich weiterveräußert, sondern Dritten etwa wiederholt gegen Entgelt und zeitlich befristet überlassen dürfte. Der Urheber erhielte nur ein einmaliges Entgelt für den Verkauf des Vervielfältigungsstücks, wohingegen der Erwerber in unbegrenztem Umfang weiteren Gewinn generieren dürfte, ohne dass der Urheber an diesem Gewinn partizipieren könnte.214 Diese Gefahr kann bei herkömmlichen Mietverhältnissen über Software sicherlich nicht geleugnet wer- 94 den.215 Mit Blick auf wesentliche, strukturelle Abweichungen zwischen üblichen Miet- und Leasingverträgen ist allerdings die Frage nach der Vergleichbarkeit der Interessenlage aufzuwerten. Gerade für das echte Finanzierungsleasing, bei welchem die zentrale und dem Mietrecht fremde Finanzierungsfunktion im Vordergrund steht, erscheint eine Differenzierung geboten: So ist zu hinterfragen, ob ein Finanzierungsleasingvertrag bzw. die konkret in Rede stehenden Leistungsbeziehungen und Einzelleistungen im konkreten Fall der unmittelbaren Anwendung mietvertraglicher Regelungen unterliegen, was selbst in zentralen Bereichen von (Finanzierungs-)Leasingverträgen insb. unter Berücksichtigung der leasingtypischen Abtretungskonstruktion nicht der Fall ist.216 So bleibt namentlich der BGH im Bereich des Finanzierungsleasings nicht an der grundsätzlichen und prägenden Einstufung als atypischer Mietvertrag haften, sondern legt bei der Bewertung der wechselseitigen Rechte und Pflichten aus Finanzierungsleasingverträgen einen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Funktion des Finanzierungsleasings.217 So hat der BGH im Kontext der Sittenwidrigkeit eines Finanzierungsleasingvertrages festgestellt, dass die typischen Merkmale des Finanzierungsleasings in erheblichem Umfang mit einem drittfinanzierten Kauf vergleichbar sind; das Finanzierungsleasing erfülle weitgehend die Funktionen des drittfinanzierten Kaufs und werde als alternative Finanzierungsform angeboten.218 Ob beim Finanzierungsleasing im Ergebnis unzulässige Eingriffe in das Vermietrecht des Urhebers zu verzeichnen sein können, ist mit Blick auf die vorstehenden Überlegungen und im Wesentlichen davon abhängig, ob die Gebrauchsüberlassung dem Leasinggeber eine uneingeschränkte und wiederholbare Werknutzung durch beliebig wiederholbare „Vermietungsvorgänge“ ermöglicht.219 Bei herkömmlichen Mietverträgen im Bereich Software liegt unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Schwerpunkt darauf, durch langfristige bzw. häufige Vermietung von Softwarekopien ein insgesamt hohes und vom reinen Erwerbspreis losgelöstes Mietentgelt zu erzielen. Diese Situation ist beim Finanzierungsleasing nicht gegeben. Sowohl aus Sicht des Leasinggebers als auch aus Sicht des Leasingnehmers

211 Vgl. BGH v. 23.2.1995 – I ZR 68/93, GRUR 1995, 673, 676; BGH v. 4.5.2000 – I ZR 256/97, GRUR 2001, 51, 53. 212 Vander, CR 2011, 77, 81. 213 Schricker/Loewenheim/Loewenheim, § 17 UrhG Rz. 44. 214 S. Vander, CR 2011, 77, 82 auch mit weiteren Hinweisen auf die Problematik, dass potentielle Käufer durch Mietangebote faktisch als Erwerber „wegfallen“. 215 Man denke etwa an die zeitweise Überlassung von Spielesoftware oder an die mietweise Überlassung von Notebooks samt aufgespielter Software. 216 Vander, CR 2011, 77, 82. 217 Vander, CR 2011, 77, 82. 218 BGH v. 11.1.1995 – VIII ZR 82/94, CR 1996, 144 mit Bezugnahme auf BGHZ 68, 118. 219 Vander, CR 2011, 77, 83.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 95 IT-Leasing steht die Finanzierung einer Investition, hier einer IT-Lösung, im Vordergrund, die vor allem aus steuerrechtlichen Gründen über einen Finanzierungsleasingvertrag abgebildet wird.220 Es geht also gerade nicht um die miettypische Konstellation einer zeitlich befristeten Überlassung von Software, die über das erste Überlassungsverhältnis hinaus den Gegenstand weiterer Mietverhältnisse bilden soll. Daher kommt es im Bereich von Finanzierungsleasingverträgen über Software regelmäßig nicht zu einer typische Mietüberlassungen prägenden Erweiterung des Nutzerkreises.221 Wirtschaftliche Interessen des Softwareherstellers könnten daher allenfalls durch die einer Beendigung des Leasingvertrages nachfolgende Verwertung der Software durch den Leasinggeber berührt werden, wobei wirtschaftliche Interessen des Softwareherstellers nicht ersichtlich sind, sofern der ursprüngliche Leasingnehmer die Software selbst erwirbt.222 Im Softwarebereich ist insoweit auch nicht zuletzt zu beachten, dass eine sich anschließende erneute zeitweise Überlassung nach Art und Weise einer sukzessiven Mehrfachüberlassung nicht selten ausscheidet, da Software mit Ablauf bzw. gegen Ende der betriebsgewöhnlichen Nutzungszeit veraltet sein kann.223 96

Die Verwertungssituation beim Finanzierungsleasing steht damit tendenziell einer Konstellation des Weiterverkaufs deutlich näher und greift gerade nicht miettypisch und zusätzlich in (berechtigte) Verwertungsinteressen des Softwareherstellers ein. Dies gilt in besonderem Maße für Leasingverträge über Hard- und Softwarebundle, insb. beim OEM-Vertrieb von Hardware mit installiertem Betriebssystem.224 Aufgrund der in diesen Fällen an die Hardware gekoppelten und nur mit dieser nutzbaren Software dürfte die Gefahr einer unkontrollierbaren Vervielfältigung und Mehrfachverwertung weitgehend ausgeschlossen sein, was einer potentiellen Beeinträchtigung berechtigter Interessen des Softwareherstellers erhebliche auch faktische Grenzen setzen dürfte. b) Immanente Beschränkungen des urheberrechtlichen Vermietrechts

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Das urheberrechtliche Vermietrecht gilt zudem nicht schrankenlos. Es besteht auf internationaler Ebene weitgehend Einigkeit, dass die Verkehrsfähigkeit von Gegenständen zu erhalten ist, bei denen Software quasi automatisch „mitvermietet“ wird.

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Auf internationaler Ebene sind vor allem dem TRIPs-Abkommen225 sowie dem WIPO-Urheberrechtsvertrag226 diesbezügliche Prinzipien zu entnehmen. Gemäß Art. 11 Satz 1 TRIPs haben die Mitgliedstaaten in Bezug auf Computerprogramme und Filmwerke den Urhebern und ihren Rechtsnachfolgern das Recht zu gewähren, die gewerbliche Vermietung von Originalen oder Vervielfältigungsstücken ihrer urheberrechtlich geschützten Werke an die Öffentlichkeit zu gestatten oder zu verbieten. In Bezug auf Computerprogramme findet die vorgenannte Verpflichtung gem. Art. 11 Satz 3 TRIPs keine Anwendung auf Vermietungen, bei denen das Programm selbst „nicht der wesentliche Gegenstand der Vermietung“ ist. Das WCT sieht ähnliche Regelungen vor. Gemäß Art. 7 Abs. 1 WCT haben die Urheber von Computerprogrammen das ausschließliche Recht, die gewerbsmäßige Vermietung von Originalen oder Vervielfältigungsstücken ihrer Werke an die Öffentlichkeit zu erlauben. Gemäß Art. 7 Abs. 2 WCT ist Art. 7 Abs. 1 WCT für Computerprogramme allerdings nicht anzuwenden, wenn das „Programm selbst nicht den wesentlichen Gegenstand der Vermietung“ bildet. Diese Ausnahmebestimmungen sind darauf ausgelegt, die Verkehrsfähigkeit von Gegenständen zu erhalten, bei denen Computerprogramme zwangsläufig mitvermietet werden.227 Als Folge der Wertungen gem. Art. 11 Satz 3 TRIPs bzw. dem dieser Vorschrift zugrunde liegenden Grundgedanken liegt es na-

220 221 222 223 224

Vander, CR 2011, 77, 83. Vander; CR 2011, 77, 83; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16 f. Vander, CR 2011, 77, 83. Vgl. Vander, CR 2011, 77. 83. Vander, CR 2011, 77, 83. Ob dieses Argument auch für sonstige Software überzeugt, insb. Anwendungssoftware, erscheint allerdings fraglich. Zur Abgrenzung von Softwarearten vgl. etwa ISO/IEC 2382-1. 225 Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights („TRIPs“), ABl. EG Nr. L 336 v. 23.12.1994, 214. 226 WIPO Copyright Treaty („WCT“), Beschl. des Rates v. 16.3.2000, ABl. EG Nr. L 89 v. 11.4.2000, 6. 227 Gervais, The TRIPS Agreement, Art. 11 Rz. 2.65.

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IT-Leasing

Rz. 100 Vor §§ 535 ff. BGB

he, über Art. 11 Satz 3 TRIPs eine Beschränkung von § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG vorzunehmen, wenn das betroffene Computerprogramm selbst nicht den wesentlichen Gegenstand der Vermietung bildet.228 Weitgehend offen ist allerdings die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Computerprogramm 99 den „wesentlichen Gegenstand einer Vermietung“ bildet. Es dürfte lediglich insoweit Konsens bestehen, dass Embedded Software und Firmware229 nicht als wesentliche Gegenstände einer Vermietung zu begreifen sind.230 Vor allem Steuerungseinheiten in technischen Geräten setzen regelmäßig auf Embedded Software bzw. Firmware auf;231 eingebettete Systeme verrichten den Dienst dabei in einer Vielzahl von Geräten, beispielsweise in Geräten der Medizintechnik, Waschmaschinen, Flugzeugen, Kraftfahrzeugen, Kühlschränken, Fernsehern, DVD-Playern, SetTopBoxen, Mobiltelefonen oder allgemein in Geräten der Unterhaltungselektronik.232 Ungleich schwieriger sind Konstellationen zu beurteilen, in welchen Hardware mit implementierter bzw. aufgespielter Software vermietet wird.233 Ganz überwiegend wird darauf verwiesen, dass eine Einzelfallbetrachtung für die vorzunehmende Wesentlichkeitsbewertung erforderlich sei.234 Auch wenn mit Blick auf die Vielschichtigkeit relevanter Konstellationen naturgemäß keine abstrakte oder gar allgemeingültige Aussage möglich erscheint, dürfte jedenfalls eine wertende Näherung gangbar sein: So dürfte im Falle einer Überlassung von Hardware mit bereits implementierten Computerprogrammen zumindest davon auszugehen sein, dass in Bezug auf die Software als solche tendenziell eher keine Vermietung i.S.v. Art. 11 Satz 3 TRIPs anzunehmen ist.235 Insgesamt erscheint es vertretbar, Software als solche grundsätzlich nicht als wesentlichen Gegenstand einer Vermietung einzustufen, wenn die betroffene Software eine bestimmungsgemäße Nutzung bzw. Verwendbarkeit des Mietobjekts in seiner Grundfunktion überhaupt erst möglich macht (z.B. Steuerungssoftware von Maschinen oder die Basissoftware auf einem mobilen Navigationsgerät).236 Auf diese Weise soll es nach Stimmen in der Literatur etwa möglich sein, bei Hardwarevermietung oder 100 Hardwareleasing die darin enthaltene Mitlieferung von Betriebssystemsoftware zu legitimieren und nicht von zusätzlichen Zustimmungserfordernissen bzw. Vermietrechten abhängig zu machen,237 während dies für über die grundlegende Steuerungssoftware hinausgehende Computerprogramme, etwa eigenständige Text- und Bildbearbeitungsprogramme, abweichend zu beurteilen sein soll.238 Diese Differenzierung zwischen eigentlicher Steuerungs- bzw. Betriebssystemsoftware und sonstiger zusätzlicher Anwendungssoftware dürfte vor allem mit den allgemeinen Überlegungen zu Embedded Systems korrespondieren.239 Zahlreiche Produkte im Segment Embedded Systems weisen zunehmend eine Nähe zu Personal Computern auf, ohne dass an deren freien und insoweit urheberrechtsneutralen Handelbarkeit im Bereich mietweiser Überlassung Zweifel bestünden (z.B. mobile Navigationsgeräte im Mietwagenbereich). Gleichwohl ist zu beachten, dass moderne Betriebssysteme i.d.R. nicht auf die reine Steuerung der Hardware beschränkt sind, sondern darüber hinaus auch Anwendungen bereitstellen, 228 Vander, CR 2011, 77, 80; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 79 plädiert insoweit für eine teleologische Reduktion. Alternativ kommt auch eine Zustimmungspflicht nach Treu und Glauben gem. § 34 Abs. 1 Satz 2 UrhG in Betracht. 229 Vgl. zu Firmware im Leasingkontext: Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 65. 230 Gervais, The TRIPS Agreement, Art. 11 Rz. 2.65; Busche/Stoll/Wiebe/Klopmeier, TRIPs, Art. 11 Rz. 11; im Ergebnis so wohl auch Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 79; Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 75. 231 Online Enzyklopädie Wikipedia (http://de.wikipedia.org), Stichwort: „Eingebettetes System“. 232 Vander, CR 2011, 77, 79. 233 S. Vander, CR 2011, 77, 79. 234 S. etwa Busche/Stoll/Wiebe/Klopmeier, Art. 11 Rz. 11; Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 79. 235 Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 79. 236 Vgl. Dreier/Hugenholtz/Senftleben, Concise European Copyright Law, 2006, Art. 7 WCT, S. 101 f.; Beier/Schricker/Katzenberger, From GATT to TRIPS, 1996, S. 59, 88 stellt maßgeblich auf die Zubehörfunktion der Software ab („just an accessory, not the main component“). 237 Vander, CR 2011, 77, 80 mit weiteren Nachweisen; ablehnend insgesamt: Redeker, ITRB 2014, 285. 238 S. Dreier/Hugenholtz/Senftleben, Concise European Copyright Law, 2006, Art. 7 WCT, S. 101 f.; vgl. auch Gervais, The TRIPS Agreement, Art. 11 Rz. 2.65 und Ficsor, The law of copyright and the internet, 2002, C 7.03, die sich offenbar nur gegen den Ausschluss von Vermietrechten bei Anwendungsprogrammen („application programs“, „operation of the computer for certain purposes“) aussprechen. 239 Ausführlich: Vander, CR 2011, 77, 79.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 100 IT-Leasing etwa einfache Text-Editoren oder Media-Player. In derartigen Fällen liegt es nahe, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, nämlich die Betriebssystemsoftware nach ihrer zentralen Aufgabe, nämlich die Steuerung des Systems und Funktion als Plattform für auf dem Betriebssystem aufsetzende Applikationen, zu beurteilen.240 Die rechtliche Zuordnung von Betriebssystemen zum Hardwaresystem ist auch außerhalb des Urheberrechts anzutreffen und stellt im deutschen Recht keine Besonderheit dar.241 c) Leitlinien 101

Die urheberrechtliche Bewertung von Sachverhalten des IT-Leasings hat sich mit Blick auf die Vielschichtigkeit und Bandbreite möglicher Konstellationen regelmäßig am konkreten Einzelfall zu orientieren. Ungeachtet dessen lassen sich zumindest Leitlinien für die rechtskonforme Gestaltung von ITLeasingverträgen aufstellen.

102

Der h.M. folgend benötigt der Leasinggeber grundsätzlich urheberrechtliche Vermietrechte für die rechtskonforme Durchführung des EDV-Leasings, insb. des isolierten Software-Leasings.

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Soweit dem Leasinggeber vom IT-Anbieter bzw. Softwarehersteller Vermietrechte gewährt werden, bestehen keine Friktionen. Auch in Fällen, in welchen sich der IT-Anbieter selbst mit einer Übernahme eines Vertrages durch einen Leasinggeber bzw. Fremdfinanzierer einverstanden erklärt, ist davon auszugehen, dass dem Leasinggeber damit jedenfalls konkludent ein Recht zur Vermietung an den Leasingnehmer eingeräumt wurde.242 Dies muss auch gelten, wenn der Beschaffungsvertrag von Beginn an zwischen dem IT-Anbieter und dem Leasinggeber geschlossen wurde bzw. der IT-Anbieter wusste, dass die vertragsgegenständliche IT-Lösung zu Zwecken des Leasings überlassen wird.243 Die vorgenannten und in Rspr. bzw. Literatur zumeist pauschal behandelten Fälle – konkludenter – Einräumung von Nutzungsrechten durch den IT-Lieferanten setzen allerdings voraus, dass der IT-Lieferant selbst zur Einräumung von Vermietrechten befugt ist, was zwar regelmäßig beim Angebot eigener Softwarelösungen der Fall ist, aber keineswegs beim Vertrieb von Drittsoftware sichergestellt sein dürfte.244 Insbesondere in letzteren Fällen sollte sich der Leasinggeber vorsorglich versichern, dass der IT-Lieferant zur Einräumung von Vermietrechten befugt ist, um eine in tatsächlicher Hinsicht hinreichende Rechteüberleitung sicherzustellen.

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Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Schutzzwecks von Vermietrechten und der urheberrechtlichen Erschöpfung sprechen gute Gründe dafür, dass reines Finanzierungsleasing grundsätzlich keinen Eingriff in das Vermietrecht des Urhebers darstellt. Davon ist insb. für das Bundling von Hard- und Software im Sinne eines OEM-Vertriebs auszugehen; aufgrund der Produktbündelung ist namentlich eine Gefährdung der wirtschaftlichen Interessen des Urhebers mit Blick auf die vertriebsbedingt beschränkten Möglichkeiten einer Vervielfältigung und Verbreitung der Software als solcher nicht ersichtlich. Da die grundsätzliche Frage nach der Erforderlichkeit von Vermietrechten beim Finanzierungsleasing nicht abschließend geklärt ist und die bislang wohl h.M. auch beim Finanzierungsleasing von einem erforderlichen Vermietrecht des Leasinggebers ausgeht,245 sollte aus Gründen recht-

240 Vander, CR 2011, 77, 79. 241 S. Vander, CR 2011, 77, 79 f. mit Hinweisen zu steuerrechtlichen Grundsätzen und Verweisen auf einschlägige BFH-Rechtsprechung. 242 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 26; Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 62 Rz. 34 ff. 243 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 74; vgl. auch KG v. 20.8.1997 – 23 U 731/97, EWiR 1998, 279 m. Anm. Graf von Westphalen, EWiR 1998, 279. 244 Marly, Softwarerecht, Rz. 768 nimmt insoweit auf eine Beteiligung des „Softwareherstellers“ Bezug. 245 Wandtke/Bullinger/Grützmacher, UrhR, § 69c UrhG Rz. 74; Marly, Softwarerecht, Rz. 186, 768; Martinek/ Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 62 Rz. 33; wohl auch Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 75; OLG Hamm v. 23.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 215 f.; Redeker, ITRB 2014, 289; Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 152; a.A. und jeweils mit eingehender Begründung: Vander, CR 2011, 77, 81 ff.; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16b ff.

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Rz. 108 Vor §§ 535 ff. BGB

licher Vorsorge auch insoweit die Erforderlichkeit von Vermietrechten des Leasinggebers unterstellt werden.246 Vermietrechte des Leasinggebers sind nicht geboten, wenn die zeitlich befristete Überlassung von Gegenständen betroffen ist, bei denen die Software selbst nicht den wesentlichen Gegenstand der Vermietung bildet. Dies betrifft insb. technische Gerätschaften mit integrierten Softwarekomponenten im Sinne von Embedded Systems. Ob darüber hinaus etwa auch die Überlassung von Hardware mit vorinstalliertem und auf die Hardware angepasstem Betriebssystem (sog. Bundling, z.B. im Sinne eines OEM-Vertriebs) ohne gesonderte Vermietrechte zulässig ist, muss als ungeklärt eingestuft werden.247 Die Erforderlichkeit von Vermietrechten sollte vorsorglich unterstellt werden, auch wenn sich eine Beschränkung mit guten Argumenten begründen lässt.

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d) Synchronisation von Beschaffungs- und Leasingvertrag Der Leasinggeber muss vom Softwarelieferanten im Ergebnis legitimiert werden, Nutzungsrechte an leasingvertragsgegenständlicher Software an den Leasingnehmer „durchzureichen“. Der Leasinggeber hat dringend darauf zu achten, dass er hinreichende Nutzungsrechte erwirbt, um die erforderlichen Rechte für die beabsichtigte Nutzung der Software durch den Leasingnehmer vermitteln zu können.248

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Beschafft ein Leasinggeber Software zu dem erkennbaren Zweck, die Software im Rahmen des Leasings 107 einem Dritten zur Nutzung zu überlassen, wäre ein Beschaffungsvertrag auch ohne ausdrückliche Regelung mit Blick auf den Vertragszweck gem. § 31 Abs. 5 UrhG dahingehend auszulegen, dass der Vertragszweck auch die Nutzungsüberlassung an den Leasingnehmer umfasst.249 Das OLG Hamm hat in einer Entscheidung zum IT-Leasing darauf abgestellt, dass die Einräumung eines Vermietrechts jedenfalls konkludent aus dem vom IT-Lieferanten gebilligten Zweck eines Finanzierungsleasinggeschäfts, also die Möglichkeit zur Vermietung an den Leasingnehmer zu eröffnen, abgeleitet werden könne.250 In Fällen des Eintrittsmodells könne die stillschweigende Einräumung des Vermietrechts in der Übernahmebestätigung liegen.251 Eine stillschweigende Nutzungsrechteeinräumung kann auch in den vorgenannten Fällen nicht ohne weiteres angenommen werden, wenn im Beschaffungsvertrag einzelne Nutzungsrechte konkret benannt sind und das Recht zur Überlassung gerade nicht in den Katalog der Nutzungsrechte aufgenommen worden ist.252 Um derartige Unwägbarkeiten zu vermeiden, wird Leasinggesellschaften in der Praxis dazu geraten, sich ausdrücklich das Recht einräumen zu lassen, konkret bezeichnete Nutzungsrechte auf den Leasingnehmer zu übertragen und die Software bei Beendigung des Leasingvertrages im Rahmen der Verwertung ein weiteres Mal (zeitlich befristet) einem Dritten zu überlassen.253 Für den Fall, dass der Leasingnehmer bereits und ohne Beteiligung des Leasinggebers einen Vertrag über die Beschaffung von Software geschlossen hat, sind die urheberrechtlichen Besonderheiten bei einer etwaigen Vertragsübernahme durch den Leasinggeber zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sollte vom Softwarelieferanten bzw. vom Softwarehersteller eine ausdrückliche Einwilligung eingeholt werden, wonach der Leasinggeber in den Softwarelieferungs- bzw. Softwareerstellungsvertrag eintritt und zur Vermittlung der Nutzung der Software durch den Leasingnehmer ermächtigt wird.254 Hilfsweise bzw. ergänzend kann auf äußere Umstände abgestellt werden, z.B. Bedingungen bzw. Vorgaben bei 246 Formulierungsvorschläge zur Absicherung von Vermietrechten in Leasingkonstellationen finden sich bei Redeker, ITRB 2014, 289, 290 f. 247 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2007. 248 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2010; Redeker/Brisch, IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 151. 249 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2010; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 16. 250 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 216. 251 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 216. 252 Zur Auslegung von § 31 Abs. 5 UrhG vgl. BGH v. 5.7.2001 – I ZR 311/98, NJW 2002, 896, 898 f. = CR 2002, 365 = ITRB 2002, 76. 253 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2010; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 17. 254 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2010.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 108 IT-Leasing Vornahme von Zahlungen durch die eintretende Leasinggesellschaft; so hat etwa das OLG Hamm in einer Entscheidung zum IT-Leasing darauf abgestellt, dass der Leasinggeber im Rahmen der Übersendung eines Zahlungsschecks eine „Eigentumsübertragung“ verlangt und die Zahlung von dieser abhängig gemacht hatte.255 Eine Leasingberechtigung kann und sollte beim Eintrittsmodell auch vom künftigen Leasingnehmer sichergestellt werden, wofür sich eindeutige Vorgaben bei Vertragsschluss anbieten.256 Denkbar wäre etwa der Hinweis: „Vertrag wird durch Leasing übernommen.“257

VIII. Gefahrtragung 1. Preisgefahr 109

Gemäß §§ 536 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Vermieter die Preis- bzw. Gegenleistungsgefahr zu tragen. Er verliert seinen Anspruch auf Zahlung des Mietzinses, wenn der Mietgegenstand durch Zufall untergeht oder aus sonstigen – von keiner Partei zu vertretenden – Umständen nicht mehr zu verwenden ist. a) Verlagerung

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Dieser mietvertragliche Ansatz bildet die leasingvertragliche Sonderkonstellation allerdings nicht angemessen ab, da neben der reinen Gebrauchsüberlassungspflicht auch die Finanzierungsleistung des Leasinggebers und der leasingtypische Beschaffungsvorgang zu berücksichtigen sind. Der Interessenlage beim Leasing entspricht vielmehr die Regelung des § 446 BGB, wonach die Gegenleistungsgefahr mit Übergabe der Sache dem Empfänger der Sache zugeordnet wird. Im Leasingrecht wird die Zuweisung der Gegenleistungsgefahr an den Leasingnehmer nach ganz herrschender Ansicht als angemessen i.S.v. § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB angesehen.258 b) Grenzen aa) Risikosphären

111

Preisgefahrklauseln stellen allerdings nur für den Fall eine angemessene Risikoverteilung sicher, wenn sie sich auf Risiken beschränken, die dem Einflussbereich des Leasingnehmers zuzurechnen sind.259 Problematisch sind insb. Klauseln, die dem Leasingnehmer die Gefahrtragung entsprechend § 447 BGB bereits vor Ablieferung des Leasinggegenstandes auferlegen. Kritisch sind auch vertragliche Regelungen, welche die Preisgefahr dem Leasingnehmer auch in den Fällen des Untergangs des Leasinggegenstandes zuweisen, wenn der Untergang des Leasinggegenstandes im Zusammenhang mit der Lieferung und Montage des Leasinggegenstandes oder bei vertragsgemäßer Durchführung von Nachbesserungsarbeiten in den Räumen des IT-Anbieters eintritt.260 Eine insgesamt relevante Übergabe im betriebsbereiten Zustand kann nach Ansicht von Schneider im Einzelfall auch einschließen, dass noch „Anlaufschwierigkeiten“ bzw. Fehler zu beheben sind, zu deren Beseitigung der IT-Anbieter zwecks Herstellung des betriebsbereiten Zustandes beim Leasingnehmer tätig wird.261

255 256 257 258

OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214, 216. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2010. Vgl. hierzu: OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214. BGH v. 8.10.1975 – VIII ZR 81/74, WM 1975, 1203, 1204; BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, CR 1987, 846, 847 f.; BGH v. 8.10.2003 – VIII ZR 55/03, NJW 2004, 1041; vgl. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 94 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 259 BGH v. 27.2.1985 – VIII ZR 328/83, NJW 1985, 1535, 1536 f.; a.A. Canaris, AcP 190 (1990), 437. 260 OLG Düsseldorf v. 22.6.1982 – 15 U 168/82, ZIP 1983, 1092, 1093 f.; MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 95. 261 Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 362, 464 mit Verweis auf eine „sinngemäße Ableitung“ aus BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, CR 1986, 79.

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Rz. 114 Vor §§ 535 ff. BGB

bb) Kündigungsrecht Für den Fall des Untergangs oder einer erheblichen Beschädigung des Leasinggegenstandes ist dem Leasingnehmer ein außerordentliches Kündigungsrecht einzuräumen.262 Nicht einfach zu beantworten ist die Frage, in welchen Fällen eine Beschädigung so erheblich ist, dass eine Kündigung des Vertrages möglich sein muss. In Leasingverträgen erfolgt vielfach eine Beschränkung des Kündigungsrechts unter Bezugnahme auf den erforderlichen Reparaturaufwand. Unter Berücksichtigung einschlägiger BGH-Rspr.263 könnte der relevante Schwellenwert bei ca. 2/3 zu taxieren sein.264

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Ein Recht des Leasingnehmers zur kurzfristigen Kündigung in Fällen wesentlicher Beschädigung des Leasingobjekts wird vom BGH bislang im Wesentlichen nur für das Kfz-Leasing ausdrücklich anerkannt. Speziell für den EDV-Bereich hat der BGH festgestellt, dass die besonderen Verhältnisse, die im Bereich des Kfz-Leasings ein kurzfristiges Kündigungsrecht begründen sollen, im Hinblick auf sonstige Leasingobjekte nicht in gleicher Weise gegeben seien.265 Vor diesem Hintergrund wird die Ansicht vertreten, dass eine Pflicht des Leasinggebers, dem Leasingnehmer ausdrücklich ein kurzfristiges Kündigungs- oder gleichwertiges Recht für Fälle des völligen Verlusts oder einer erheblichen Beschädigung des Leasingobjekts einzuräumen, im EDV-Bereich nicht bestehe.266 Ein mangelndes Kündigungsrecht im IT-Bereich wird zum Teil damit begründet, dass es insoweit an den für den Kfz-Leasingnehmer typischen Interessen fehle, während einer kurzen Vertragslaufzeit ein weitgehend risikofreies, weil zunächst fabrikneues Kfz zu fahren und vor der Gefahr versteckter Schäden und Reparaturausfallzeiten geschützt zu sein. Dies dürfte gerade mit Blick auf die zum Teil erheblichen Aufwendungen für Leasingobjekte im EDV-Bereich, den raschen Wertverfall von EDV-Leasingobjekten und die durchaus vergleichbare Interessenlage bei einem Verlust bzw. einer wesentlichen Beschädigung eines Kfz in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend sein. Es sprechen vielmehr gute Gründe dafür, dass auch im EDVKontext, naturgemäß abhängig von Art und Umfang der das finanzierte IT-Produkt betreffenden Investitionen, ein entsprechendes Vertragslösungsrecht zuzubilligen ist.267 Zahn weist zudem zutreffend darauf hin, dass der Leasingnehmer auch bei EDV-Produkten ein schützenswürdiges Interesse daran habe, dass die Nutzung des Leasingobjekts nicht durch nicht erkannte oder nicht völlig zu beseitigende Folgen eines Schadensfalls beeinträchtigt wird.268 Im Ergebnis empfiehlt Zahn, ein Kündigungsrecht vorzusehen, wenn der Wiederherstellungsaufwand 50 % des Zeitwertes erreicht.269

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2. Sachgefahr a) Verlagerung Dem Leasingnehmer wird leasingtypisch auch die Sachgefahr auferlegt. Die diesbezügliche Verpflichtung des Leasingnehmers zur Durchführung der Instandhaltung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung ist grundsätzlich nicht zu beanstanden,270 da der Leasingnehmer insoweit einem Käufer gleichgestellt werden kann.271 Der Leasingnehmer ist insoweit verpflichtet, sämtliche Betriebs- und 262 BGH v. 15.10.1986 – VIII ZR 319/85, NJW 1987, 377, 378; BGH v. 25.2.1998 – VIII ZR 244/97, NJW 1998, 2284, 2285. 263 BGH v. 25.2.1998 – VIII ZR 244/97, NJW 1998, 2284, 2285. 264 BGH v. 15.10.1986 – VIII ZR 319/85, NJW 1987, 377, 378 und BGH v. 25.3.1998 – VIII ZR 244/97, NJW 1998, 2284, 2285 haben die Grenze von 2/3 weder beanstandet noch ausdrücklich für zulässig erachtet. 265 BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, NJW 1988, 198, 200 = CR 1987, 846. 266 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 95. 267 Kritisch zur wohl widersprechenden BGH-Rspr.: MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 96; Martinek/ Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Ackermann, Handbuch des Leasingrechts, § 31 Rz. 22. Für ein entsprechendes Vertragslösungsrecht auch Martinek/Stoffels/Wimmer-Leonhardt/Beckmann, Handbuch des Leasingrechts, § 63 Rz. 147; Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 58 weist darauf hin, dass entsprechende Kündigungsrechte bereits weitgehend der Vertragswirklichkeit entsprechen. 268 Vgl. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 177; in diese Richtung tendiert offenbar auch MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 96. 269 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 178. 270 Vgl. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 94; Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 82. 271 BGH v. 15.10.1986 – VIII ZR 319/85, NJW 1987, 377; Beckmann/Scharff/Scharff, Leasingrecht, § 4 Rz. 2.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 114 IT-Leasing Unterhaltskosten zu tragen. Eine Grenze findet die Pflicht zur Instandhaltung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung allerdings im Kündigungsrecht des Leasingnehmers, wobei die zur Preisgefahr erfolgten Ausführungen entsprechend gelten. 115

Leasingtypisch und der Gefahrverlagerung entsprechend sehen Leasingverträge regelmäßig auch eine Versicherungspflicht des Leasingnehmers vor.272 Dabei dürfte im IT-Segment die Sachversicherung im Rahmen der „Allgemeinen Bedingungen für die Elektronikversicherung (ABE 2001)“ im Regelfall den Interessen der Parteien entsprechen; dies dürfte auch für die erweiterte „Datenversicherung für Software“ gem. TK 1928 zu den ABE 2001 gelten.273 b) Zeitpunkt

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Die Zuweisung der Sachgefahr ist grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt der Besitzverschaffung möglich. Eine Regelung, wonach bereits die Anlieferung, Aufstellung und Montage des Leasinggegenstandes auf Gefahr des Leasingnehmers erfolgen sollen, ist vor dem Hintergrund der den Leasinggeber treffenden Besitzverschaffungspflicht nicht mit § 307 BGB zu vereinbaren.274

IX. Instandhaltungspflichten des Leasingnehmers und Änderungen des Vertragsgegenstandes 1. Instandhaltungsmaßnahmen 117

Der leasingtypischen Überleitung von Instandhaltungspflichten auf den Leasingnehmer kommt im Bereich des IT-Leasings besondere Bedeutung zu. a) Interessenlage

118

Dabei sind zunächst die unterschiedlichen Interessenlagen zu vergegenwärtigen. Da die Beschaffung eines IT-Systems nicht selten betriebskritische Bereiche eines Unternehmens berührt, z.B. die Steuerung der Produktion, besteht regelmäßig das Bedürfnis, einen möglichst unterbrechungsfreien Betrieb auf Basis einer aktuellen Erfordernissen entsprechenden Softwarelösung zu gewährleisten; in Fällen eines etwaigen hard- oder softwarebedingten Systemausfalls ist ein rascher Support ebenso entscheidend wie eine kompetente und zeitnahe Lösungsbearbeitung.275 Von der Warte des Leasinggebers her ist wegen des durch Verschleiß und Veraltung von IT-Systemen bedingten Preisverfalls abzusichern, dass der Wert des Leasinggegenstandes möglichst langfristig erhalten bleibt und insb. zu diesem Zwecke erforderliche Wartungsmaßnahmen einschließlich etwaiger Aktualisierungen durchgeführt werden.276

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Insgesamt ist dabei allerdings das Problem zu konstatieren, dass sowohl Leasinggeber als auch Leasingnehmer für die Wartung und Pflege eines EDV-Systems grundsätzlich auf die Expertise von Dritten, insb. den Hersteller der betreffenden Hard- und Software oder einen spezialisierten Dritten, angewiesen sind.277 b) Wartungs- und Pflegeverträge

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Daher sehen Leasingverträge im IT-Bereich grundsätzlich eine Verpflichtung des Leasingnehmers zum Abschluss von Wartungs- und Pflegeverträgen vor. Entsprechende Klauseln realisieren dabei im Regelfall nur die ohnehin bestehenden Schutzpflichten des Leasingnehmers und sind auch im Hinblick auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unbedenklich.278 272 273 274 275 276 277 278

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S. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 98 zur Zulässigkeit einer solchen Verpflichtung. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 190, Kap. 1.15 Rz. 74. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 95. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2018. Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2018. Vgl. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 53 ff. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 110; vgl. auch MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 101.

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IT-Leasing

Rz. 124 Vor §§ 535 ff. BGB

Eine Besonderheit im Bereich des Leasingrechts bilden Wartungs- und Pflegeverträge für den IT-Bereich gleichwohl, da diese, insb. bei Softwarepflege, darauf angelegt sind, den Vertragsgenstand sukzessive zu verändern, ein Vorgang, der Leasingnehmern bei „klassischen Leasingverträgen“ ausdrücklich untersagt ist oder durch „Rückbauverpflichtungen“ bei Rückgabe zu kompensieren ist.279 Softwareleasingverträge sind also insoweit gegenteilig zu gestalten, nämlich nicht nur mit einer Berechtigung zur Änderung der Software kraft Wartung bzw. Pflege, sondern mit einer diesbezüglichen Verpflichtung.280

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Grundsätzlich ist der Leasingnehmer im Hinblick auf die Auswahl eines Anbieters für Pflege- bzw. 122 Wartungsleistungen frei, wobei sich gerade im IT-Umfeld Einschränkungen ergeben können, insb. wenn die Zahl der Fachunternehmen, die zur Durchführung entsprechender Pflege bzw. Wartung imstande sind, begrenzt ist.281 Ungeachtet dessen ist davon Abstand zu nehmen, unmittelbar im Leasingvertrag den automatischen Abschluss eines Wartungs- bzw. Pflegevertrages vorzusehen. Auch wenn im IT-Umfeld nicht selten eine Koppelung von Erwerbs- und Supportverträgen erfolgt, wäre ein entsprechender – in AGB eingebundener – Automatismus wohl als überraschend i.S.v. § 305c BGB zu bewerten.282 Wartungs- bzw. Pflegeverträge stellen bei fachgerechter Ausgestaltung eine fortwährende Betreuung 123 von IT-Systemen sicher. Im Bereich der Hardwarewartung erfolgen insb. der Austausch defekter Komponenten sowie entsprechende Präventivmaßnahmen; durch Pflegeverträge im Softwarebereich wird vielfach neben einer reinen Pflicht zur Fehlerbehebung die Verpflichtung des Softwarelieferanten bzw. Softwareherstellers normiert, die Aktualität der Software sicherzustellen und etwaige Produktaktualisierungen sowie Produktverbesserungen (Bugfixes, Updates, Upgrades, etc.) kostenfrei zu überlassen.283 Bei der Ausgestaltung von Wartungs- und Pflegeverträgen im Leasingumfeld ist vor allem auf eine 124 Synchronisation der unterschiedlichen Vertragsverhältnisse Wert zu legen.284 Insb. die Laufzeiten von Leasing- sowie Wartungs- und Pflegeverträgen sind aufeinander abzustimmen. Andernfalls, namentlich im Falle der Vereinbarung von Wartungs- und Pflegeverträgen mit kürzerer Laufzeit, droht die Gefahr, dass der Leasingnehmer seinen vertraglichen Instandhaltungspflichten nicht nachkommen kann und eine Aufrechterhaltung der Betriebsbereitschaft nicht sichergestellt ist.285 Dieser Aspekt spielt auch für den Leasinggeber eine wesentliche Rolle, da dieser in der Lage sein muss, die Software nach Vertragsschluss angemessen zu verwerten. Dies setzt auch voraus, dass erforderliche Pflegeleistungen den Anforderungen eines typischen Leasinggeschäfts entsprechend im Verhältnis zum Softwarelieferanten mit Weitergabeberechtigung an und Verwertung durch den Leasinggeber abgesichert werden. Da der Leasingnehmer dem Leasinggeber im Wartungs- bzw. Pflegekontext und nach Beendigung des Leasingvertrages eine entsprechend weiterentwickelte Software zurückzugewähren hat, steht der Leasingnehmer jedenfalls dann vor einem „Dilemma“, wenn dem Leasingnehmer im Rahmen der Pflege „nur“ eigene Nutzungsrechte an etwaigen Softwarelieferungen eingeräumt wurden und die Weitergabe vertraglich untersagt ist.286

279 Zu diesem strukturellen Unterschied s. auch Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 51. 280 Vgl. Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 87; Büschgen/Beckmann, Praxishandbuch Leasing, § 16 Rz. 62. 281 Vgl. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 86. 282 So wohl auch Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 87; vgl. auch MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 101. 283 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2021. 284 S. auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 167; Schneider/Schneider, Handbuch EDVRecht, Kap. O Rz. 544, Kap. P Rz. 43 f. 285 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2022. 286 Mit berechtigtem Hinweis auf dieses „Dilemma“: Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 51; vgl. auch Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 413 f.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 125 IT-Leasing 2. Änderungen des Vertragsgegenstandes 125

Art und Umfang von Wartungs- und Pflegeleistungen im IT-Bereich machen deutlich, dass die insoweit in Rede stehenden Maßnahmen deutlich über die üblichen leasingvertraglichen Instandhaltungsmaßnahmen hinausgehen. Betroffen sind vor allem echte Modifikationen des Leasinggegenstandes, entweder in Gestalt der Lieferung und Installation neuer Hardwarekomponenten oder des Einspielens von Bugfixes, Updates oder Upgrades für die betroffene Software.287

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Namentlich im Bereich der Softwarepflege können Probleme entstehen, wenn im Verlaufe von Pflegeverträgen leasingvertragsgegenständliche Software ergänzt bzw. verändert wird und dem Leasingnehmer – als Vertragspartner des IT-Dienstleisters – unmittelbar eigene Nutzungsrechte eingeräumt werden. Sofern solche Nutzungsrechte – wie nicht selten – als nicht übertragbar eingeräumt werden, wäre der Leasingnehmer zum Ende des Leasingvertrages rechtlich wegen einer andernfalls anzunehmenden Verletzung des Pflegevertrages daran gehindert, die (aktualisierte bzw. bearbeitete) Software an den Leasinggeber zurückzugeben;288 der Leasinggeber seinerseits wäre an einer Verwertung des entsprechenden Softwarestandes gehindert. Ähnliche Probleme können sich stellen, wenn beim Hardwareleasing Teilkomponenten ausgetauscht und dem Leasingverhältnis widersprechende Eigentumsverhältnisse in Bezug auf Austausch- bzw. Ersatzteile geschaffen werden.

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In diesem Kontext ist sicherzustellen, dass der Leasinggeber als Eigentümer bzw. originärer Inhaber von Nutzungsrechten an geleaster Software auch im Fall des Austauschs von Hardwarekomponenten bzw. bei Aktualisierungen und Modifikationen von Software Eigentümer der Hardware und Nutzungsberechtigter der Software bleibt bzw. wird.289 In zwischen IT-Anbieter und Leasingnehmer abzuschließenden Wartungs- bzw. Pflegeverträgen sollte die leasingtypische Rolle des Leasinggebers als Eigentümer bzw. Nutzungsberechtigter in Bezug genommen werden. Der Leasinggeber trifft bestenfalls Regelungen, kraft derer insb. Rechte an Updates oder Upgrades sowie sonstigen urheberrechtsrelevanten Leistungen des Wartungs- bzw. Pflegepartners auf den Leasinggeber übertragen bzw. an diesen abgetreten werden.290 Es dürfte ausreichen, wenn ein Wartungs- bzw. Pflegepartner des Leasingnehmers den Leasinghintergrund kennt, da dann von einer stillschweigenden Rechteeinräumung (auch) zugunsten des Leasinggebers ausgegangen werden könnte. Die vorgeschilderten Probleme sind also vergleichsweise einfach durch vertragliche Regelungsansätze zu vermeiden.291

X. Lieferstörungen 128

Nicht selten ergeben sich im Segment des IT-Leasings bereits im Vorfeld der eigentlichen Gebrauchsüberlassung vertragliche Friktionen. 1. Nicht zu vertretende Nichtlieferung

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Soweit eine weder vom Leasinggeber noch vom IT-Anbieter zu vertretende Nichtlieferung des EDVObjekts bzw. Unmöglichkeit in Rede steht, bereiten Nichtlieferkonstellationen dem Grunde nach keine besonderen Schwierigkeiten. Der Leasinggeber wird gem. §§ 275 Abs. 1, 326 BGB von seiner Lieferbzw. Gebrauchsüberlassungsverpflichtung befreit, der Leasingnehmer hat keine Zahlung zu leisten.292 Daher bestehen gegen vertraglich vereinbarte Rücktrittsrechte des Leasinggebers in den vorgenannten Konstellationen keine Bedenken. Weder der Grundsatz der Vertragsbindung noch der Schutz des Vertragspartners durch Sekundärrechte werden insb. in etwaig AGB-rechtlich relevanter Weise betroffen.293 287 Auf die insoweit zu regelnde Eigentums- bzw. Rechtezuordnung zugunsten des Leasinggebers weist Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 413 hin. 288 S. Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 90. 289 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2024. 290 Vgl. Söbbing, ITRB 2010, 236, 237. 291 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 90 geht hingegen davon aus, dass „ein allgemeines Lösungsmodell für diese Problematik bislang nicht besteht.“ 292 Vgl. zur Unmöglichkeit MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 88. 293 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 104.

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Rz. 132 Vor §§ 535 ff. BGB

2. Besonderheiten beim IT-Projektleasing Insb. in Fällen von Leasingverträgen über Software, welche noch auf die Bedürfnisse des Leasingneh- 130 mers anzupassen ist bzw. in Fällen des sog. IT-Projektleasings,294 sehen Leasingverträge nicht selten weitergehende vertragliche Rücktrittsrechte vor, welche einer Verlagerung von (Beschaffungs-)Risiken auf den Leasingnehmer dienen und insb. dem Umstand Rechnung tragen sollen, dass der Leasinggeber im Kontext regelmäßig erfolgender Projektleistungen, die nicht unerheblich von der Mitwirkung des Leasingnehmers abhängen, einen Projekterfolg und damit die vertragsgemäße Bereitstellung im Regelfall selbst nicht beherrschen kann. Die Frage nach der Zulässigkeit entsprechender Rücktrittsrechte dreht sich im Kern um das Problem, ob auch die – regelmäßig im Zusammenspiel zwischen Leasingnehmer und IT-Anbieter – erfolgende Erarbeitung bzw. Erstellung einer IT-Lösung formal in den Pflichtenkreis des Leasinggebers im Sinne einer Beschaffungspflicht295 fällt. Der BGH hatte sich mit einer Konstellation im Bereich des IT-Leasings zu befassen, in welcher zuguns- 131 ten des Leasinggebers ein Rücktrittsrecht unter der Voraussetzung vorgesehen war, dass die zu erstellende Softwarelösung bis zum vertraglich vorgesehenen verbindlichen Liefertermin nicht ordnungsgemäß erstellt und vom Leasingnehmer abgenommen wird oder die Projektdurchführung, gleich aus welchen Gründen, scheitert.296 In Ergänzung bestimmten die Vertragsklauseln, dass der Leasinggeber berechtigt sein sollte, den Wiedereintritt des Leasingnehmers in den mit dem IT-Anbieter geschlossenen Beschaffungsvertrag herbeizuführen und vom Leasingnehmer Ersatz aller vom Leasinggeber an den IT-Anbieter geleisteten Zahlungen zu verlangen. Der BGH ist zu dem Ergebnis gelangt, dass ein solches und im Übrigen nicht eingeschränktes Rücktrittsrecht als unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 BGB zu bewerten sei. Nach Ansicht des BGH waren die Regelungen insb. problematisch, da diese auch Fälle erfassten, in welchen der Leasinggeber selbst oder der im Rahmen der Erfüllung der den Leasinggeber treffenden Gebrauchsüberlassungspflicht als Erfüllungsgehilfe tätige IT-Anbieter die verzögerte Erstellung und Abnahme der Leasingsache bzw. das Scheitern des Projekts zu vertreten habe. Entgegen anderslautender Stimmen in der Literatur297 hat der BGH klargestellt, dass im IT-Bereich auch bei komplexeren Softwareerstellungsprojekten für eine Systemlösung, deren erfolgreiche Umsetzung und Implementierung auch von Mitwirkungspflichten des Leasingnehmers abhängig sein kann, keine besonderen Umstände vorlägen, die eine weitergehende Risikoverlagerung auf den Leasingnehmer rechtfertigen könnten. Ob der BGH die Besonderheiten des IT-Projektleasings angemessen berücksichtigt und die Erstel- 132 lungsrisiken bei leasingfinanzierten Softwareerstellungsprojekten zutreffend dem alleinigen Rechtskreis des Leasinggebers zugeordnet hat, erscheint jedenfalls diskutabel.298 Dabei ist schon bei der grundlegenden Frage anzusetzen, ob das Leistungsversprechen des Leasinggebers in Fällen des IT-Projektleasings neben der primären Leistungspflicht, das Leasingobjekt zu übergeben, auch die Herbeiführung der Voraussetzungen für eine Lieferung umfasst. Der BGH nahm ebenso wie die Vorinstanz299 an, dass die dem IT-Anbieter zukommende Aufgabe, die gemäß Beschaffungsvertrag geschuldete Lösung herzustellen und diese fristgerecht zu liefern, zugleich eine Verbindlichkeit des Leasinggebers ggü. dem Leasingnehmer darstelle.300 Ob einem Leasinggeber im Kontext eines Projektleasingvertrages allerdings im Ergebnis das vollständige Beschaffungsrisiko für eine noch zu erstellende Lösung zuzuwei294 Eine schematische Darstellung eines typischen Verlaufs findet sich bei: Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 6. 295 Grundsätzlich wird die Beschaffung als immanenter Bestandteil der Gebrauchsüberlassungspflicht eingestuft. Vgl. hierzu MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 36 mit weiteren Nachweisen. 296 BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, CR 2009, 79 = ITRB 2009, 126; vgl. hierzu die Anmerkungen von Graf von Westphalen, BB 2009, 239 und Söbbing, K&R 2009, 170. 297 Vgl. Habersack, WM 2008, 809. 298 Ausführlich zur Haftung des Leasinggebers bei vom Lieferanten verschuldetem Scheitern der Herstellung oder der fristgerechten Fertigstellung eines EDV-Projekts: Zahn in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 773 ff.; s. auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 27b. Zu den Besonderheiten beim Projektleasing s. auch Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 8 ff., 62 ff., der gleichwohl und im Ergebnis der Ansicht des BGH zugeneigt scheint. 299 OLG Hamm v. 3.8.2007 – 12 U 158/06, CR 2008, 8 m. kritischer Anm. Habersack, WM 2008, 809 ff. 300 Vgl. die Darstellung von Zahn in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 773, 789, der im Ergebnis eine differenziertere Betrachtungsweise verfolgt; vgl. auch die ablehnende Position von Habersack, WM 2008, 809, 810.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 132 IT-Leasing sen ist, erscheint allerdings keineswegs zwingend. Insoweit ist nicht zuletzt zu beachten, dass der Leasinggeber in dem vom BGH entschiedenen Sachverhalt auf Veranlassung des Leasingnehmers dazu verpflichtet war, das Leasingobjekt bei einem bestimmten IT-Anbieter zu beziehen. Zudem war der Leasinggeber aufgrund der vertraglichen Regelungen mit dem Leasingnehmer verpflichtet, den vom Leasingnehmer benannten IT-Anbieter mit der Herstellung des Leasingobjekts zu beauftragen und bereits während der Herstellung – im Sinne einer Vorfinanzierung – vorab Zahlungen auf den Werklohn zu leisten. Abweichende Gestaltungen sind für den Leasinggeber, insb. beim Eintrittsmodell, also bei Eintritt in einen bereits geschlossenen Projektvertrag, praktisch kaum durchsetzbar.301 133

Der Fall eines Vertrages über eine noch unter Mitwirkung des Leasingnehmers zu erstellende und vom Leasinggeber vorzufinanzierende IT-Lösung verursacht besondere Risiken, insb. das Projekt- und Finanzierungsrisiko sowie zusätzliche Leistungsstörungspotentiale, welche sich ganz erheblich vom Standardleasing unterscheiden.302 Namentlich das enge Verhältnis zwischen Leasingnehmer und ITAnbieter dürfte hier maßgeblich zu berücksichtigen sein. Der Leasingnehmer wirkt regelmäßig an der Konzeption, deren Umsetzung und der Erstellung eines beauftragten Systems mit; der Leasingnehmer hat fortlaufend Projektentscheidungen herbeizuführen; zudem ist der IT-Anbieter auf vollständige und sachgerechte Informationen des Leasingnehmers angewiesen.303 Ob vor diesem Hintergrund tatsächlich von einer uneingeschränkten Beschaffungspflicht des Leasinggebers ausgegangen werden kann, erscheint trotz der naturgemäß entgegenstehenden BGH-Rspr. in Sachen IT-Projektleasing fraglich. Dies gilt auch vor dem Hintergrund eines durchaus naheliegenden Vergleichs zwischen vertraglich vorgesehenen Rücktrittsrechten für den Fall des Scheiterns eines Projekts und einem klassischen und grundsätzlich zulässigen Selbstbelieferungsvorbehalt.304

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In allgemeinen Leasingbedingungen könnten Rücktrittsregelungen unter Berücksichtigung der vorstehend skizzierten BGH-Rspr. wohl in dem Sinne formuliert werden,305 dass Rücktrittsrechte des Leasinggebers ausgeschlossen sind, wenn Verzögerungen bzw. das Scheitern eines Projekts auf Pflichtverletzungen des Leasinggebers selbst oder des IT-Anbieters beruhen, soweit Letzterer im Pflichtenkreis des Leasinggebers tätig wird.306 Nach teilweise vertretener Auffassung könnte ein Rücktrittsrecht auch AGB-fest vereinbart werden, wenn sich die – auch von Mitwirkungshandlungen des Leasingnehmers abhängige – Fertigstellung des Leasingobjekts nicht absehen lasse.307

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Selbstverständlich können auch individualvertragliche Ansätze verfolgt werden, um vor allem das (Fehl-)Verhalten des IT-Anbieters in den Risikobereich des Leasingnehmers zu verlagern.308 Dabei ist selbstredend fraglich, ob sich Individualvereinbarungen als praktikable Lösungen in dem doch stark vom Massengeschäft geprägten Leasinggeschäft umsetzen lassen.309

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Um übliche Projektrisiken beim IT-Leasing bereits auf präventiver Ebene zu minimieren, könnte die regelmäßig besonders risikobehaftete Erstellungsphase eines IT-Projekts aus dem unmittelbaren Kontext des eigentlichen Leasingvertrages herausgelöst und eine reine Finanzierungsphase vorgeschaltet werden; an diese könnte sich im Falle erfolgreicher Erstellung der eigentliche Leasingvertrag anschließen.310 In die Beschaffungsphase und damit Vorfinanzierungsphase fiele dann die gesamte Erstellungs-

301 Habersack, WM 2008, 809. 302 Zahn in FS Graf von Westphalen, 2010, S. 773, 791; Habersack, WM 2008, 809 ff.; zu den erhöhten Risiken beim Projektleasing vgl. auch Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 9; Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2033. 303 Vgl. Habersack, WM 2008, 809. 304 Mit diesem Ansatz: Habersack, WM 2008, 809, 812. 305 Koch, LMK 2009, 273510 geht davon aus, dass der BGH jedenfalls in gewissem Umfang bereit ist, den Besonderheiten des Projektleasings Rechnung zu tragen, was durchaus Gestaltungsspielraum eröffnen dürfte. 306 S. Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 36. 307 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 27c. 308 Vgl. Graf von Westphalen, Anmerkung zu BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, BB 2009, 239, 240; vgl. Schneider/Graf von Westphalen/Gennen, Software-Erstellungsverträge, Kap. R Rz. 36; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 121. 309 So auch die berechtigten Bedenken von Schöttler, AnwZert ITR 24/2009, Anm. 4. 310 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2034; in diese Richtung tendiert auch das OLG Hamm v. 3.8.2007 – 12 U 158/06, CR 2008, 8, 12.

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Rz. 139 Vor §§ 535 ff. BGB

phase des IT-Projekts, während die eigentliche Leasingphase erst der Abnahme des Projekts bzw. der projektvertraglichen Leistungen folgte.311 3. Drittverweisung Die leasingtypische Abtretungskonstruktion im klassischen Sinne betrifft im Wesentlichen den Aus- 137 schluss der mietvertraglichen Gewährleistung des Leasinggebers gegen Abtretung von Gewährleistungsansprüchen aus dem Beschaffungsvertrag. Ergänzend geht die wohl herrschende Ansicht312 davon aus, dass die leasingtypische Abtretungskonstruktion auch auf Ansprüche wegen Lieferstörungen in dem Sinne ausgedehnt werden kann, dass Ansprüche wegen Lieferstörungen im leasingvertraglichen Verhältnis ausgeschlossen und im Gegenzug Ansprüche wegen Lieferstörungen aus dem Beschaffungsvertrag an den Leasingnehmer abgetreten werden und Letzterer verpflichtet wird, vorrangig gegen den IT-Anbieter vorzugehen. Dem dürfte mit Blick auf die im Vergleich zur im gewährleistungsrechtlichen Bereich allgemein als zulässig anerkannten Abtretungskonstruktion ähnliche Interessenlage zuzustimmen sein, wobei vorsorglich darauf hinzuweisen ist, dass der BGH über die Wirksamkeit und Zulässigkeit einer derartigen Abtretung noch nicht entschieden hat,313 wenngleich auch der BGH im Ergebnis jedenfalls tendenziell einer Zulässigkeit betreffender Regelungen zugeneigt zu sein scheint.314 Schließlich schützt die Abtretung den Leasinggeber nicht vor den Folgen einer Lieferstörung, wenn der Leasingnehmer im Verhältnis zum IT-Anbieter Schadensersatz statt der Leistung geltend macht, da der Rspr. des BGH315 folgend bei erfolgreicher Durchsetzung dem Leasingvertrag die Grundlage entzogen wird, so dass dieser rückabzuwickeln ist.316

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XI. Gewährleistung 1. Grundlagen Aufgrund der Rechtsnatur des Leasingvertrages als mietähnliches Verhältnis wäre der Leasinggeber grundsätzlich nach mietvertraglichen Grundsätzen zur Gewährleistung verpflichtet. Der Leasinggeber wäre vor allem zu einer dauerhaften Instandhaltung verpflichtet. Für das Leasingrecht ist allgemein anerkannt, dass der Leasinggeber mietvertragliche Gewährleistungsverpflichtungen weitgehend durch die leasingtypische Abtretungskonstruktion, sprich die quasi kompensatorische Abtretung gewährleistungsrechtlicher Ansprüche aus dem Beschaffungsvertrag, begrenzen kann. Eine Grenze bildet allerdings der Grundsatz, dass dem Leasingnehmer nicht sämtliche Rechte entzogen werden dürfen, um zu vermeiden, dass dieser faktisch rechtlos gestellt wäre.317 Die allgemein anerkannte Zulässigkeit eines mietvertraglichen Gewährleistungsausschlusses liegt vor allem in dem Umstand begründet, dass der Leasingnehmer den Leasinggegenstand sowie den IT-Anbieter selbst auswählt und der Leasinggeber allenfalls höchst begrenzten Einfluss auf den finanzierten Leasinggegenstand hat. Für die Zulässigkeit einer vertraglichen Modifikation der gesetzlichen Gewährleistungssituation wird zudem angeführt, dass der Leasingnehmer Mängel besser als der Leasinggeber beurteilen kann und der IT-Anbieter im Regelfall sowohl über höhere Fachkenntnisse als auch über bessere Abhilfemöglichkeiten verfügt.318 311 Zur Phasenunterscheidung vgl. auch Söbbing, ITRB 2010, 236; zum „idealtypischen Verlauf“ s. Graf von Westphalen/Gennen, Der Leasingvertrag, Kap. P Rz. 117. 312 Vgl. nur MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 93 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; speziell zum Bereich des EDV-Leasings s. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 26. 313 S. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 151 mit weiterführenden Hinweisen auf den Streitstand; s. ausführlich auch Graf von Westphalen/Graf von Westphalen, Der Leasingvertrag, Kap. H Rz. 30. 314 BGH v. 7.10.1992 – VIII ZR 182/91, NJW 1993, 122, 124 = CR 1993, 139; s. Redeker/Zahn, Handbuch der ITVerträge, Kap. 1.14 Rz. 153 zu einem Vorschlag für eine erweiterte Drittverweisung bzw. Abtretungsregelung. 315 S. nur BGH v. 13.11.2013 – VIII ZR 257/12, NJW 2014, 1583, 1484 mit weiteren Nachweisen. 316 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 27. 317 BGH v. 23.2.1977 – VIII ZR 124/75, NJW 1977, 848, 850. 318 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 3 Rz. 12.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 140 IT-Leasing 140

Dann kann die Geltendmachung von Sachmängeln zulässig auf den Leasingnehmer übertragen werden, wobei der Leasinggeber das Ergebnis einer gewährleistungsrechtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Leasingnehmer und dem IT-Anbieter grundsätzlich gegen sich gelten lassen muss.319 Selbstverständlich ist auch der Leasingnehmer bei für den Leasingnehmer negativem Ausgang einer Auseinandersetzung über die abgetretenen Gewährleistungsrechte an dieses Ergebnis gebunden.320 2. Leasingtypische Abtretungskonstruktion a) Herleitung und Ausgestaltung

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Die Beschränkung der mietvertraglichen Haftung des Leasinggebers wird durch die allgemein anerkannte leasingtypische Abtretungskonstruktion321 realisiert. In diesem Rahmen wird die Sachmängelhaftung aus dem Mietvertrag gegen Abtretung sämtlicher Gewährleistungsrechte aus dem Beschaffungsvertrag zwischen dem Leasinggeber und dem IT-Anbieter ausgeschlossen. Der Leasingnehmer wird auf Basis der leasingtypischen Abtretungskonstruktion nicht lediglich ermächtigt, sondern unter gleichzeitiger Abtretung aller Rechte und Ansprüche aus dem Beschaffungsvertrag gegen den IT-Anbieter verpflichtet, die abgetretenen Rechte und Ansprüche gegen den IT-Anbieter geltend zu machen.322

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Durch die leasingtypische Abtretungskonstruktion darf der Leasingnehmer nicht rechtlos gestellt werden. Um dies zu gewährleisten, muss die Übertragung der kaufrechtlichen Gewährleistungsrechte bzw. die Ermächtigung zur Ausübung unbedingt und vorbehaltlos vorgenommen werden.323 b) Subsidiäre Eigenhaftung des Leasinggebers

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Eine wirksame Drittverweisung schließt eine Eigenhaftung des Leasinggebers nicht in jedem Fall vollständig aus. Die leasingtypische Abtretungskonstruktion ist vielmehr darauf ausgelegt, dass der Leasingnehmer verpflichtet wird, vorrangig gegen den IT-Anbieter vorzugehen. Soweit den Leasinggeber im Einzelfall (z.B. bei Insolvenz des IT-Anbieters) eine subsidiäre Haftung trifft, richten sich etwaige Ansprüche des Leasingnehmers dabei nicht nach mietvertraglichen Ansprüchen. Die subsidiäre Haftung des Leasinggebers ist insoweit von dem Fall zu unterscheiden, dass die leasingtypische Abtretungskonstruktion unwirksam ist und die Gewährleistungsrechte des Leasingnehmers aus mietvertraglichen Vorschriften wieder „aufleben“.

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In der Praxis spielt die subsidiäre Eigenhaftung vor allem in Fällen einer Insolvenz des IT-Anbieters und einer hierdurch bedingten mangelnden Durchsetzbarkeit von Ansprüchen gegen den IT-Anbieter eine wesentliche Rolle. In solchen Fälle wird der Leasingnehmer im Verhältnis zum Leasinggeber so gestellt, als wäre der Kaufvertrag rückgängig gemacht worden, so dass der Leasinggeber den entstehenden Ausfall zu tragen hat.324 Weitere Gründe für das Eingreifen der subsidiären Haftung des Leasinggebers neben der Vermögenslosigkeit des IT-Anbieters können ein beim IT-Anbieter eintretender Vermögensverfall, die Löschung im Handelsregister oder die Unauffindbarkeit des IT-Anbieters sein.325 Auch im Fall der Unzumutbarkeit eines Vorgehens gegen den IT-Anbieter greift die subsidiäre Haftung des Leasinggebers ein. Ein Fall der Unzumutbarkeit wird etwa angenommen, wenn der IT-Anbieter im Fall eines vom Leasingnehmer anzustrengenden Lieferprozesses nicht einmal die notwendigen Anwaltsvorschüsse für einen Prozess aufbringen kann.326 Das Problem mangelnder Durchsetzbarkeit von Ansprü-

319 BGH v. 13.3.1991 – VIII ZR 34/90, NJW 1991, 1746. 320 BGH v. 7.10.1992 – VIII ZR 182/91, CR 1993, 139, 141. 321 Grundlegend BGH v. 23.2.1977 – VIII ZR 312/75, NJW 1977, 847, 848; speziell zum IT-Leasing vgl. OLG Koblenz v. 26.2.2015 – 3 U 812/14, MMR 2015, 512. 322 Vgl. Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 3 Rz. 11. 323 BGH v. 17.12.1986 – VIII ZR 279/85, CR 1987, 423; BGH v. 9.7.2002 – X ZR 70/00, NJW-RR 2003, 51; vgl. MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 110. 324 BGH v. 25.10.1989 – VIII ZR 105/88, NJW 1990, 314 m.w.N. = CR 1990, 334. 325 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 3 Rz. 314 ff. 326 Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 3 Rz. 331 mit Verweis auf BGH v. 10.1.2002 – III ZR 13/01, WM 2002, 1131.

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chen ist namentlich im IT-Bereich nicht zu unterschätzen, da insb. unter den zahlreich am Markt vertretenen Anbietern die Fluktuation groß ist.327 Es ist zu beachten, dass in den Fällen einer Insolvenz des IT-Anbieters der Leasingnehmer nicht ohne weiteres unmittelbar gegen den Leasinggeber vorgehen oder Zahlungen einstellen kann. So hat der BGH entschieden, dass der Leasingnehmer auch im Insolvenzfall seine Ansprüche zunächst mit einer Klage gegen den Insolvenzverwalter durchsetzen muss, wenn Letzterer die Ansprüche nicht anerkennt.328 Insoweit ist von wesentlicher Bedeutung, dass der Leasingnehmer im Falle der Zurückweisung von Ansprüchen durch den Insolvenzverwalter erst dann zu einer vorläufigen Leistungsverweigerung berechtigt ist, wenn er aus einem Rücktritt Klage gegen den Insolvenzverwalter erhoben hat.329

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3. Sach- und Rechtsmängel Für Fälle einer möglichen Sachmängelhaftung stellen sich im Segment des IT-Leasings grundsätzlich keine Besonderheiten. Das IT-Leasing wird hier gerade im Softwarebereich weniger von rechtlichen als vielmehr von tatsächlichen Problemen dominiert, insb. der Frage, ob etwa eine vermeintlich mangelhafte oder fehlende Funktion überhaupt zum geschuldeten Funktionsumfang zählt und ob vermeintliche Mängel dem Leasinggeber bzw. IT-Anbieter zuzurechnen sind oder vielmehr Anwenderfehler in Rede stehen. Eine gewisse Erleichterung für den Leasingnehmer im Kontext etwaiger Mängelrügen ergibt sich nach neuerer BGH-Rspr. dahingehend, dass der Besteller einer Softwarelösung lediglich die Mangelerscheinungen, die er auf eine fehlerhafte Leistung des Anbieters zurückführt, genau zu bezeichnen hat, während er zu den Ursachen der Mangelerscheinung nichts vorzutragen hat; dies betrifft allein Fragen des Beweises, nicht der Darlegung.330

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Im Softwarebereich stehen Rechtsmängel deutlich häufiger im Zentrum rechtlicher Auseinandersetzungen als beim sonstigen Leasinggeschäft. Nicht zuletzt die zunehmende Nutzung von Open Source Software bzw. deren Einbindung in kommerzielle Softwareentwicklungsprojekte begründen durchaus erhebliche Risiken.331

147

Um Schutzlücken oder Unklarheiten über die Reichweite der zu vereinbarenden leasingtypischen Ab- 148 tretungskonstruktion zu verhindern, sollte im Leasingvertrag keinesfalls eine Beschränkung auf Sachmängel erfolgen oder eine undifferenzierte Abtretung der „Gewährleistungsrechte“ vorgenommen werden. Rechtsmängel sollten ausdrücklich in die leasingtypische Abtretungskonstruktion einbezogen werden, da ohne diesbezügliche Klarstellung bei der Klauselgestaltung jedenfalls das Risiko besteht, dass von der leasingtypischen Abtretungskonstruktion nur Sachmängel umfasst werden.332 Zudem wird in der Literatur darauf verwiesen, dass die ausdrückliche Einbeziehung der Rechtsmängel für das Softwareleasing unabdingbar sei, da die Nutzungsrechte des Leasinggebers und des Leasingnehmers an der Software gegenüber dem Urheberrecht des Softwareherstellers abzugrenzen seien.333 4. Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen a) Auswirkungen der leasingtypischen Abtretungskonstruktion Durch eine wirksame Drittverweisungsklausel wird der Leasingnehmer dazu verpflichtet, Mängelrechte des Leasinggebers ggü. dem IT-Anbieter geltend zu machen.

327 Vgl. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 42. 328 BGH v. 13.11.2013 – VIII ZR 257/12, ZIP 2013, 177, 178 f.; s. hierzu die Anmerkung von Diehl, ZFS 2014, 209. 329 BGH v. 13.11.2013 – VIII ZR 257/12, ZIP 2013, 177, 178 f.; s. BGH v. 15.9.2015 – VIII ZR 119/14, NJW 2016, 397 zum Zurückbehaltungsrecht des Leasingnehmers für die Dauer von Rückabwicklungsprozessen. 330 BGH v. 5.6.2014 – VII ZR 276/13, CR 2014, 568 = ITRB 2014, 198. 331 Vgl. etwa LG München v. 12.7.2007 – 7 O 5245/07, CR 2008, 57; LG Frankfurt/M. v. 6.9.2006 – 2-06 O 224/06, 2/6 O 224/06, CR 2006, 729; LG Berlin v. 21.2.2006 – 16 O 134/06, CR 2006, 735. 332 Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 117; Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 150; Beckmann/Scharff/Beckmann, Leasingrecht, § 23 Rz. 109; MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 127. 333 Vgl. Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 150.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 150 IT-Leasing 150

Wesentliche Folge einer wirksamen Drittverweisungsklausel ist zunächst, dass sich der Leasingnehmer dem Leasinggeber ggü. nicht auf einen Mangel des Leasingobjekts berufen kann. Der Leasingnehmer ist vor allem nicht berechtigt, Leasingzahlungen unmittelbar einzustellen.334 Der Leasingnehmer hat sich zunächst ausschließlich an den IT-Anbieter zu halten, wobei zu beachten ist, dass dies selbst für den Fall gilt, dass die Nacherfüllung fehlgeschlagen ist oder diese vom IT-Anbieter verweigert wird. Dies gilt zur Vermeidung einer Rechtlosstellung des Leasingnehmers allerdings nicht, wenn die Durchsetzung der Gewährleistungsrechte wegen Insolvenz oder Liquidation des IT-Anbieters unmöglich oder unzumutbar ist.335 Der BGH hat zudem für einen Sachverhalt im IT-Bereich entschieden, dass eine Unzumutbarkeit selbst im Insolvenzfall nicht ohne Einschränkung anzunehmen ist. So sei der Leasingnehmer verpflichtet, Gewährleistungsansprüche durch Anmeldung zur Insolvenztabelle und bei einem Bestreiten durch den Insolvenzverwalter durch Klage auf Feststellung zur Tabelle geltend zu machen; eine im Vorfeld erfolgende Einstellung der Zahlung von Leasingraten an den Leasinggeber sei unzulässig.336 b) Mögliche Gewährleistungsrechte

151

Aufgrund der leasingtypischen Abtretungskonstruktion stehen dem Leasingnehmer sämtliche Gewährleistungsansprüche aus dem Beschaffungsvertrag gegen den IT-Anbieter zu. In Betracht kommen insb. die Rechte auf Nacherfüllung und Minderung, der Rücktritt sowie Schadensersatzansprüche.

152

Wenn der gelieferte Leasinggegenstand mit einem Mangel behaftet ist, kommen zunächst Nacherfüllungsansprüche in Betracht.

153

Im Fall einer Mangelhaftigkeit des Leasingobjekts steht auch eine Minderung in Rede. Aufgrund der leasingtypischen Abtretungskonstruktion ist der Leasingnehmer nicht unmittelbar im Verhältnis zum Leasinggeber zu einer Kürzung der Leasingraten berechtigt, vielmehr hat der Leasingnehmer dem ITAnbieter ggü. die Minderung zu erklären und ihn auf Rückzahlung des Minderungsbetrages an den Leasinggeber in Anspruch zu nehmen. Die Höhe des Minderungsbetrages bestimmt sich dabei nach § 441 Abs. 3 BGB.

154

Im Fall eines wirksamen Rücktritts wird der Beschaffungsvertrag zwischen Leasinggeber und IT-Anbieter rückabgewickelt. Der Leasingnehmer kann dabei nicht Rückzahlung des Anschaffungspreises an sich selbst verlangen, sondern ist auch ohne ausdrückliche Weisung des Leasinggebers verpflichtet, den IT-Anbieter auf Rückzahlung an den Leasinggeber in Anspruch zu nehmen.337 Der Leasinggeber kann die Gebrauchsüberlassungspflicht im Fall der Rückabwicklung des Beschaffungsvertrages naturgemäß nicht mehr erfüllen, so dass der Leasinggeber seinen Anspruch auf künftige Leasingraten verliert. Vor dem Hintergrund, dass der Leasinggeber infolge einer Rückabwicklung des Beschaffungsvertrages die Erwerbsinvestitionen zurückerlangt, ist der Leasinggeber nicht parallel berechtigt, bereits vereinnahmte Leasingraten in voller Höhe zu behalten; vielmehr ist eine Verrechnung mit Nutzungsvorteilen des Leasingnehmers angezeigt, die der Höhe nach jedenfalls bei mangelhaftem Leasinggegenstand hinter den Leasingraten zurückbleiben dürften.338

155

Regelmäßig umfasst die leasingtypische Drittverweisungsklausel auch die Abtretung von Schadensersatzansprüchen. Auf dieser Grundlage kann der Leasingnehmer eigene Schadensersatzansprüche gegen den IT-Anbieter geltend machen.339 Im EDV-Bereich kann vor allem die Frage einer Haftung bzw. Verantwortlichkeit für Datenverluste ein Sonderproblem bilden. AGB-rechtlich sind allgemeine Haftungsfreizeichnungen insoweit mit Blick auf die strenge AGB-Kontrolle auch im unternehmerischen Bereich kaum darstellbar. Gleichwohl ist zu bedenken, dass eine regelmäßige Datensicherung im IT334 BGH v. 19.2.1986 – VIII ZR 91/85, CR 1986, 458; vgl. aus jüngerer Zeit BGH v. 13.11.2013 – VIII ZR 257/12, ZIP 2014, 177 (Leitsatz 1). 335 BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 131/83, NJW 1985, 129, 130; BGH v. 5.12.1984 – VIII ZR 277/83, NJW 1985, 796, 797. 336 BGH v. 13.11.2013 – VIII ZR 257/12, ZIP 2014, 177 (Leitsatz 2). 337 Vgl. BGH v. 24.6.1992 – VIII ZR 188/91, WM 1992, 1609 = CR 1993, 685. 338 Ausführlicher zum Schicksal bereits geleisteter Leasingraten: Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 1896 ff. 339 A.A. Arnold, DStR 2002, 1051, der lediglich den Eigenschaden des Leasinggebers für erstattungsfähig hält.

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IT-Leasing

Rz. 158 Vor §§ 535 ff. BGB

Bereich – insb. bei reinen Hard- bzw. Softwareüberlassungsverträgen – eine wesentliche Eigenpflicht des Nutzers darstellen,340 so dass etwaige Versäumnisse schon insoweit zu Lasten des Leasingnehmers gehen dürften.

XII. Koppelung von Hard- und Software 1. Bewertungskriterien Die Rspr. hatte sich bereits intensiver mit Fragen der Einheit eines Hard- und Softwaregeschäfts im 156 Rahmen eines Leasingvertrages zu befassen. Als wesentliches Beurteilungskriterium ist dabei in den Blick zu nehmen, ob in den regelmäßig strittigen Fällen der vertraglichen Trennung von Hard- und Softwareleasingvertrag der für eine Verbindung der Verträge erforderliche „Einheitlichkeitswille“ zum Ausdruck kommt. Dies trifft auf eine Vielzahl von Leasingverträgen im Bereich des IT-Leasings zu.341 Nicht selten bilden „Komplettsysteme“ bzw. „Lösungen“ oder faktisch als Einheit beschriebene Gesamtsysteme den Vertragsgegenstand, so dass der für die rechtsgeschäftliche Einheit entscheidende Einheitlichkeitswille der Vertragsparteien vielfach anzunehmen sein dürfte.342 Zudem ist zu bedenken, dass der schlichte Umstand einer formalen bzw. vertraglichen „Aufteilung“ eines einheitlichen IT-Projekts in verschiedene Leistungen oftmals rein vertriebstaktischen Gesichtspunkten geschuldet ist bzw. ein dem Grunde nach einheitliches Projekt von IT-Anbietern zur formalen Vermeidung einer Gesamtverantwortlichkeit künstlich in verschiedene Verträge aufgespalten wird. 2. Auswirkungen Wenn Hard- und Software im Rahmen eines als Einheit zu wertenden Vertrages in ihrer jeweiligen 157 technischen Funktionsfähigkeit nicht vom Vorhandensein des anderen Teils abhängen, ist für den Fall, dass der IT-Anbieter zunächst nur einen der beiden Teile überlässt, von einer Teilleistung und nicht von einem Mangel auszugehen.343 Dem IT-Anbieter ist es in solchen Fällen also verwehrt, den Leasingnehmer auf das Gewährleistungsrecht zu verweisen, vielmehr kann der Leasingnehmer den Leasingvertrag beim Ausbleiben des geschuldeten Teils kündigen.344 Auch Gewährleistungsansprüche können sich bei vorliegendem Einheitswillen auf den gesamten Vertrag auswirken.345

XIII. Beendigung des Leasingvertrages Im Kontext der Beendigung von Leasingverträgen im IT-Bereich ergeben sich im Hinblick auf die leasingtypische Abrechnung von Leasingverträgen keine Besonderheiten, so dass an dieser Stelle auf die allgemeine Kommentarliteratur346 zu verweisen ist. Gleichwohl weisen IT-Leasingverträge im Kontext einer Beendigung Besonderheiten auf.

340 S. bereits OLG Frankfurt v. 9.7.1990 – 4 U 114/88, CR 1990, 767. 341 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2037. 342 Marly, Softwarerecht, Rz. 810; vgl. jedoch OLG Köln v. 12.7.1991 – 19 U 49/91, NJW-RR 1991, 1463. S. insgesamt auch Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 540 ff.; Pötzsch, CR 1989, 1063; Graf von Westphalen, CR 1987, 477. 343 Marly, Softwarerecht, Rz. 811. 344 BGH v. 1.7.1987 – VIII ZR 117/86, NJW 1988, 204, 205 = CR 1987, 591. 345 Zum Rücktrittsrecht bei einem Fall gekoppelter Hardware, Standard- und Individualsoftware s. BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, CR 1990, 707 m. kritischer Anm. Zahrnt, BB, Beilage 18/1991, S. 15 f.; s. auch Köhler, CR 1990, 711. 346 Graf von Westphalen/Artz, Der Leasingvertrag, Kap. K und L; MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing, Rz. 130 ff.; Staudinger/Stoffels, Leasing Rz. 273 ff.

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BGB Vor §§ 535 ff. Rz. 159 IT-Leasing 1. Rückgabe des Leasinggegenstandes 159

Im Hinblick auf die Rückgabe von Leasinggegenständen im IT-Bereich ist zu beachten, dass sich Rückgabeverpflichtungen im Regelfall nicht auf die schlichte Rückgabe etwaig bei Auslieferung von IT-Systemen übergebener Hardware und Software beschränken.

160

Wenn auch Software das Vertragsobjekt eines Leasingvertrages bildet, sollte ausdrücklich geregelt werden, dass der Leasingnehmer sowohl sämtliche Kopien der Software herauszugeben als auch eine vollständige Löschung der Software von eigenen Systemen vorzunehmen hat.347 Die vollständige Löschung sollte sich der Leasinggeber schriftlich bestätigen lassen. Soweit in vertraglicher Hinsicht eine softwarebezogene Rückgabeverpflichtung insgesamt durch eine Löschungspflicht ersetzt werden soll,348 dürfte Vorsicht geboten sein. Eine entsprechende Pflicht zur Löschung von Software kann – vorbehaltlich des Falls, dass etwaige Datenträger gleichwohl zurückzugeben sind – indizieren, dass der wirtschaftliche Wert der Software zum Ende des Leasingvertrages vollständig ausgeschöpft wurde und offenbar keine Möglichkeit einer Verwertung verbleibt.349 Dies könnte steuerrechtliche Auswirkungen nach sich ziehen.

161

Zudem ist zu beachten, dass die grundsätzlich in Leasingverträgen vorgesehene Regelung, wonach der Leasinggegenstand nach Vertragsbeendigung in dem ursprünglich übergebenen Zustand zurückzugeben ist, mit den regelmäßig auf Grundlange von Wartungs- und Pflegevereinbarungen erfolgenden Modifikationen des Leasinggegenstandes nicht harmoniert. Es entspricht insoweit sowohl dem Interesse des Leasinggebers als auch des Leasingnehmers, die Rückgabeverpflichtung derart auszugestalten, dass die Rückgabe sich auf die ordnungsgemäß gewartete Hardware bzw. vertragsgemäß gepflegte Software bezieht. 2. Verwertung des Leasinggegenstandes

162

Eine Verwertungsberechtigung des Leasinggebers, d.h. konkret im Falle des Softwareleasings die Weiterveräußerung von Software, ist bei kauf- bzw. werkvertraglich angelegten Beschaffungsverträgen regelmäßig gegeben. Herstellerseitig wird zwar auch im Bereich der Veräußerung von Software nach wie vor der Versuch vertraglicher Weiterveräußerungsverbote verfolgt. Auch für den Fall derartiger Verbote in Softwarenutzungsbedingungen ist der Leasinggeber i.d.R. mit Blick auf den urheberrechtlichen Erschöpfungsgrundsatz gem. § 69c Nr. 3 Satz 2 UrhG an einer Verwertung durch Weiterveräußerung nicht gehindert.

163

Namentlich das OLG Hamm hat für den Bereich des IT-Leasings gegenteilige Bestimmungen in Herstellerbedingungen für schlicht unwirksam erklärt. Das OLG Hamm hat insoweit und im Anschluss an einschlägige EuGH- und BGH-Rspr. zur Erschöpfung in Fällen von „Gebrauchtsoftware“350 die in Lizenzbestimmungen eines Herstellers vorgesehenen Beschränkungen der „Eigentumsrechte“ des Käufers sowohl als überraschende Klausel als auch als Abweichung vom urheberrechtlichen Leitbild der §§ 17 Abs. 2, 69c Nr. 3 UrhG und den wesentlichen Rechten und Pflichten eines kaufrechtlich ausgestalteten Softwareüberlassungsvertrages bewertet.351 Dem ist im Ergebnis zuzustimmen, wobei vor dem Hintergrund der ganz erheblichen Verbreitung von Veräußerungsverboten in Nutzungsbedingungen von Softwareherstellern die Annahme einer überraschenden Klausel nicht vollends überzeugen dürfte.352

347 Vgl. Marly, Softwarerecht, Rz. 808. 348 So der Vorschlag von Redeker/Brisch, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.13 Rz. 183, der ausdrücklich auf den Hintergrund der Regelung dahingehend verweist, dass eine „weitere Vermarktung kaum noch möglich“ sei. 349 Kritsch zu Löschungskonzepten auch Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.15 Rz. 79. 350 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, NJW 2012, 2565 = CR 2012, 498 = ITRB 2012, 171; BGH v. 6.7.2000 – I ZR 244/97, CR 2000, 651; vgl. auch BGH v. 3.2.2002 – I ZR 129/08, CR 2011, 223. 351 OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 115/12, CR 2013, 214 (Leitsatz 1). 352 Assies/Beule/Heise/Strube/Assies/Vander, Handbuch FA Bank- und Kapitalmarktrecht, Kap. 4 Rz. 2042.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

§ 535 BGB

3. Datenlöschung Im Kontext von Rückgaberegelungen ist es zudem zu empfehlen, die Löschung etwaig personenbe- 164 zogener Daten auf IT-Systemen vorzuschreiben. Zwar würde ein Leasingnehmer bei Rückgabe von IT-Equipment mit noch aufgespielten personenbezogenen Daten in erster Linie selbst und durchaus intensiv gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen verstoßen. Gleichwohl erscheint ein entsprechender Hinweis angemessen, um etwaige Diskussionen darüber zu vermeiden, ob den Leasinggeber bei Rücknahme etwaige nachvertragliche Pflichten wegen einer Datenherausgabe bzw. Datenlöschung treffen könnten. Sofern und soweit der Leasingnehmer entsprechenden Verpflichtungen zur qualifizierten Datenlöschung nicht nachkommen sollte, kann der Leasinggeber die Daten selbst löschen oder durch einen fachkundigen Dritten löschen lassen und die damit verbundenen Kosten dem Leasingnehmer in Rechnung stellen.353

165

4. Vorenthaltungsentschädigung Sofern und soweit der Leasingnehmer das IT-Objekt nicht vertragsgemäß zurückgibt, sondern zunächst behält, soll der Leasingnehmer nach st. Rspr. auch ohne vertragliche Abrede zur Fortentrichtung der Leasingraten nach § 546a Abs. 1 BGB verpflichtet sein.354

166

Während ein solcher Anspruch regelmäßig der Höhe nach dem vereinbarten monatlichen Leasingentgelt entspricht, könnte gerade mit Blick auf den erheblichen Wertverfall und die nicht unerhebliche Nutzungsminderung älterer Gerätschaften namentlich beim Hardwareleasing eine Korrektur nach unten angezeigt sein, um eine unverhältnismäßige Belastung des Leasingnehmers zu begrenzen.

167

§ 535 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags (1) Durch den Mietvertrag wird der Vermieter verpflichtet, dem Mieter den Gebrauch der Mietsache während der Mietzeit zu gewähren. Der Vermieter hat die Mietsache dem Mieter in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und sie während der Mietzeit in diesem Zustand zu erhalten. Er hat die auf der Mietsache ruhenden Lasten zu tragen. (2) Der Mieter ist verpflichtet, dem Vermieter die vereinbarte Miete zu entrichten. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mietvertrag (§ 535 Abs. 1 Satz 1) . . a) Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertragsgegenstand . . . . . . . . . aa) „Sache“ im Sinne des § 535 . . (1) Hardware als Mietgegenstand (2) Software als Mietgegenstand . (3) Rechenzentrumsflächen als Mietgegenstand . . . . . . . . .

3 3 3 4 4 5 6

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

(4) „Rechenzentrumsleistungen“ bzw. dedizierte Rechner als Mietgegenstand . . (5) Sonstige durch Provider zugänglich gemachte shared Hardware und Softwareleistungen als Mietgegenstand (insb. ASP- und Cloud-Angebote) . . . bb) Verpflichtung zur Gebrauchsgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Während der Mietzeit („auf Zeit“) . . . dd) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichten des Vermieters . . . . . . . . . . . .

17

18 22 24 27 29

. . . . . 16

353 Redeker/Zahn, Handbuch der IT-Verträge, Kap. 1.14 Rz. 205. 354 BGH v. 22.3.1989 – VIII ZR 155/88, NJW 1989, 1730 = CR 1990, 204; MünchKomm/Koch, Finanzierungsleasing Rz. 125 mit weiteren Hinweisen auf die einschlägige Rspr.; s. OLG Hamm v. 28.11.2012 – 12 U 105/12, CR 2013, 637 = ITRB 2013, 179 für den Fall einer Hinweispflicht des Lieferanten auf fortbestehende Zahlungspflichten nach Ablauf der Vertragslaufzeit. S. auch Schneider/Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 532.

Vander und Grützmacher

941

BGB § 535 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags a) Überlassungs- und Erhaltungspflichten des Vermieters im zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand (§ 535 Abs. 1 Satz 2) . . . . . . . . . . . . . aa) Überlassungspflichten . . . . . . . . . bb) Erhaltungspflichten . . . . . . . . . . . b) Sonstige Hauptleistungspflichten des Vermieters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nebenpflichten des Vermieters (§ 241) . . d) Nachvertragliche Pflichten des Vermieters 3. Pflichten des Mieters . . . . . . . . . . . . . . a) Pflicht zur Entrichtung der Miete (§ 535 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nebenpflichten des Mieters (§ 241) . . . .

29 30 35 40 42 47 48 48 56

4. III. 1. 2.

IV.

c) Vertraglich vereinbarte IT-spezifische Haupt- und Nebenpflichten . . . . . . . . Einrede des nicht erfüllten Vertrags (§ 320 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Änderungen des Mietgegenstandes . . . . b) Erhaltungs- und Aktualisierungspflichten c) Fälligkeit und Vorauszahlung der Miete . . d) Mieterhöhungen und Upgradeklauseln . . e) Nebenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . .

57 58 59 59 60 60 61 62 63 64 65

Literatur: Alpert, Kommerzielle Online-Nutzung von Computerprogrammen, CR 2000, 345; Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Bartsch, Grad der Marktdurchdringung von Software als rechtliches Kriterium, CR 1994, 667; Bartsch, Das BGB und die modernen Vertragstypen, CR 2000, 3; Becker/Hecht, Auswirkungen des Preisklauselgesetzes auf die IT-Vertragsgestaltung, ITRB 2008, 251; Bettinger/Scheffelt, Application Service Providing – Vertragsgestaltung und Konflikt-Management, CR 2001, 729; Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Boehm, Herausforderungen von Cloud Computing-Verträgen: Vertragstypologische Einordnung, Haftung und Eigentum an Daten, ZEuP 2016, 358; Borges/Meents (Hrsg.), Cloud Computing, Rechtshandbuch, 2016; Diedrich, Typisierung von Softwareverträgen nach der Schuldrechtsreform – Lösungsansätze für neue Abgrenzungsfragen, CR 2002, 473; Fechtner/Witzel, Preisanpassungen – Wie Unternehmen Preisänderungen nachträglich, einseitig und wirksam durchsetzen können, CR 2016, 80; Fischl, Softwarekauf mit Kündigungsklausel? – Zum urheberrechtlichen Typenzwang des § 31 Abs. 1 S. 2 UrhG, ITRB 2004, 286; Giedke, Cloud Computing: Eine wirtschaftsrechtliche Analyse mit besonderer Berücksichtigung des Urheberrechts, 2013; Gräfin von Westerholt/Berger, Der Application Service Provider und das neue Schuldrecht – Vertragsrechtliche Fragen zu seiner Stellung zwischen Lieferanten und Kunden, CR 2002, 81; Grigoleit, Unentgeltliche Verträge und Gefälligkeitsverhältnisse – Die Perspektive des Haftungsrechts, VersR 2018, 769; Grützmacher, Vertragliche Ansprüche auf Herausgabe von Daten gegenüber dem Outsourcing-Anbieter, ITRB 2004, 260; Grützmacher, Softwarelizenzverträge und CPU-Klauseln – Möglichkeiten der Vertragsgestaltung nach Maßgabe der Entscheidung des BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, ITRB 2003, 279; Grützmacher, Lizenzmetriken und Copyright – ein Widerspruch? – Ausgestaltung, Wirksamkeit und Rechtsfolgen von Lizenzbeschränkungen, ITRB 2017, 141; Habel, Know-how in Computerprogrammen – Schutz und Überlassung, CR 1991, 257; Hecht, Wertsicherungsklauseln in IT-Verträgen, ITRB 2006, 118; Heckmann, Rechtspflichten zur Gewährleistung von IT-Sicherheit im Unternehmen – Maßstäbe für ein IT-Sicherheitsrecht, MMR 2006, 280; Heydn, Identitätskrise eines Wirtschaftsguts: Software im Spannungsfeld zwischen Schuldrecht und Urheberrecht – Eine grundsätzliche Betrachtung, CR 2010, 765; Heymann, Outsourcing als Form der Kooperation, CR 2000, 23; Hilber, Handbuch Cloud Computing, 2014; Hilty, Die Rechtsnatur des Softwarevertrages – Erkenntnisse aus der Entscheidung des EuGH UsedSoft vs. Oracle, CR 2012, 625; Hoeren, Softwareüberlassung als Sachkauf, Ausgewählte Rechtsprobleme des Erwerbs von Standardsoftware, 1989; Hoeren/Sieber/Holznagel (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, Rechtsfragen des elektronischen Geschäftsverkehrs (Loseblatt-Ausgabe), 49. Aufl. 2019; Hörl, Beratungshaftung im IT-Bereich nach neuem Schuldrecht – Teil 1: Voraussetzungen von Informationspflichten, ITRB 2004, 39; Hörl, Beratungshaftung im IT-Bereich nach dem neuen Schuldrecht – Teil 2: Rechtsfolgen von Informationspflichtverletzungen, selbständige Beratungsverträge, ITRB 2004, 87; Karger, Rechtseinräumung bei Software-Erstellung, CR 2001, 357; Kloos/Wagner, Vom Eigentum zur Verfügbarkeit – Nutzungsorientierte Geschäftskonzepte im IT-Sektor aus vertragsrechtlicher Sicht, CR 2002, 865, 866; Koch, Computer-Vertragsrecht: Umfassende Erläuterungen, Beispiele und Musterformulare für den Erwerb und die Nutzung von EDV-Systemen, 7. Aufl. 2009; Koch, Application Service Providing als neue IT-Leistung – Eine erste Orientierung im Hinblick auf Leistungsbild und anwendbares Vertragsrecht, ITRB 2001, 39; Koch, Weltweit verteiltes Rechnen im Grid Computing – Eine Untersuchung der wesentlichen vertrags- und kollisionsrechtlichen Aspekte, CR 2006, 42; Koch, Verträge zur Nutzung und Lizenzierung von Datenbanken, in Conrad/Grützmacher (Hrsg.), Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, 2014, S. 647 ff.; Kosmides, Providing-Verträge, Systematik und Methodologie der Bestimmung von Rechtsnatur und Rechtsfolgen, 2010; Kremer, Anpassungspflicht für Software bei Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 116; Kremer, Vertragsgestaltung bei Anpassung von Software wegen Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 143; Langhanke, Daten als Leistung, 2018; Langhanke/Schmidt-Kessel, Consumer Data as Consideration, EuCML 2015, 218; Lenhard, Vertragstypologie von Softwareüberlassungsverträgen, Neues Urhebervertragsrecht und neues Schuldrecht unter Berücksichtigung der Open Source-Softwareüberlassung, 2006; Lutz, Helmuth, Lizenzierung von Computerprogrammen, GRUR 1976, 331, 33; Lutz, Holger, Softwarelizenzen und die Natur der Sache, Eine vertragstypologische Einordnung von Softwareüberlassungsverträgen unter

942

Grützmacher

Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 1 § 535 BGB

besonderer Berücksichtigung von Erschöpfungsgrundsatz und bestimmungsgemäßer Benutzung, 2009; Lutz/ Weigl, Second Generation IT-Outsourcing – Die Problematik des Dreiecksverhältnisses, CR 2014, 629; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Marly, Die Qualifizierung der Computerprogramme als Sache nach § 90 BGB, BB 1991, 432; Mehrings, Computersoftware und Gewährleistungsrecht, NJW 1986, 1904; Metzger, Zur Zulässigkeit von CPU-Klauseln in Softwarelizenzverträgen, NJW 2003, 1994; Metzger, Dienst gegen Daten: Ein synallagmatischer Vertrag, AcP 216 (2016), 817; Metzger, Verträge über digitale Inhalte und digitale Dienstleistungen: Neuer BGB-Vertragstypus oder punktuelle Reform?, JZ 2019, 577; Müller-Hengstenberg, Computersoftware ist keine Sache, NJW 1994, 3128; Müller-Hengstenberg, Vertragstypologie der Computersoftwareverträge – Eine kritische Auswertung höchstrichterlicher Rechtsprechung zum alten Schuldrecht für die Beurteilung nach neuem Schuldrecht, CR 2004, 161; Müller-Hengstenberg/Kirn, Vertragscharakter des Application Service Providing-Vertrags, NJW 2007, 2370; Niemann/Paul, Bewölkt oder wolkenlos – rechtliche Herausforderungen des Cloud Computings, K&R 2009, 444; Nordemann, W., CPU-Klauseln in Software-Überlassungsverträgen, CR 1996, 5; Orthwein/Bernhard, Mangelhaftigkeit von Software aufgrund Gesetzesänderung? – Das Mehrwertsteuerpaket 2010 und seine Auswirkungen auf ERP-/Buchhaltungssoftware, CR 2009, 354; Pohle/Ammann, Über den Wolken … – Chancen und Risiken des Cloud Computing, CR 2009, 273; Raue, Reichweite der vertraglichen Pflicht zur Aktualisierung von IT-Lösungen aufgrund von Gesetzesänderungen, Eine Untersuchung der vertraglichen Leistungssicherungspflichten gem. § 241 Abs. 1 BGB, CR 2018, 277; Redeker, ITRecht, 6. Aufl. 2017; Redeker, Wer ist Eigentümer von Goethes Werther?, NJW 1992, 1739; Redeker, Provider-Verträge – ihre Einordnung in die Vertragstypen des BGB, ITRB 2003, 82; Redeker, Software – ein besonderes Gut, NJOZ 2008, 2917; Redeker, Rechtsprobleme des Softwarewechsels, ITRB 2012, 165; Redeker, Das gehostete Softwareprojekt – Vertragstypologische Einordnung, Konsequenzen bei Mangelhaftigkeit, Praxishinweise, ITRB 2019, 93; Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt-Ausgabe), 39. Lieferung 9/2019; Röhrborn/Sinhart, Application Service Providing – juristische Einordnung und Vertragsgestaltung, CR 2001, 69; Schneider (Hrsg.), Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017; Schneider/Günther, Haftung für Computerviren, CR 1997, 389; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, 2017; Schoengarth, Application Service Providing, Vertragsgestaltung und Risiken, insbesondere Betriebsausfallschäden, 2005; Schuster, Softwareprojekte und Dauerschuldverhältnisse, Wie sich die Ergebnisse eines vorgelagerten Softwareprojektes auf ein anschließendes Dauerschuldverhältnis (wie etwa SaaS) auswirken können, CR 2018, 209; Schuster/Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II: Nachvertragliche Pflichten, CR 2015, 277; Schuster/Reichl, Cloud Computing & SaaS: Was sind die wirklich neuen Fragen? – Die eigentlichen Unterschiede zu Outsourcing, ASP & Co liegen im Datenschutz und der TK-Anbindung, CR 2010, 38; Specht, Daten als Gegenleistung – Verlangt die Digitalisierung nach einem neuen Vertragstypus?, JZ 2017, 763; Splittgerber/Rockstroh, Sicher durch die Cloud navigieren – Vertragsgestaltung beim Cloud Computing, BB 2011, 2179; Stichtenoth, Softwareüberlassungsverträge nach dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, K&R 2003, 105; Thewalt, Softwareerstellung als Kaufvertrag mit werkvertraglichem Einschlag – § 651 nach der Schuldrechtsreform, CR 2002, 1; Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016; v. Merveldt, Zulässigkeit langfristiger Laufzeiten für Softwareüberlassungsverträge, CR 2006, 721; Wicker, Haftet der Cloud-Anbieter für Schäden beim Cloud-Nutzer? – Relevante Haftungsfragen in der Cloud, MMR 2014, 715; Wicker, Haftungsbegrenzung des Cloud-Anbieters trotz AGB-Recht? – Relevante Haftungsfragen in der Cloud, MMR 2014, 787; Zech, Information als Schutzgegenstand, 2012; zur Megede, Bemerkungen zu Rechtsfragen im Bereich der EDV, NJW 1989, 2580.

I. Allgemeines 1. Einführung § 535 ist die zentrale Norm des Mietrechts und wurde in seiner Rechtsentwicklung letztlich, wie auch 1 die ihm folgenden Normen, durch das Wohnraummietrecht geprägt.1 Die Norm definiert den Vertragstypus Miete. Sie gilt auch für sonstige Mietgegenstände. Das Mietrecht sollte sich aber von jeher im Prinzip nicht auf Rechte – bzw. genauer auf deren Vermietung – beziehen. Derartige Verträge sollten der Rechtspacht nach § 581 Abs. 1 zugewiesen werden, weil der Gesetzgeber andernfalls eine Verwirrung befürchtete.2 Verträge, die im Kern der Verwertung fremder Rechte dienen, sind daher nach § 581 Abs. 1 entweder Rechtspachtverträge oder unbenannte Gebrauchsüberlassungsverträge.3 Im IT- und insbesondere im Softwarerecht führt das in Ansehung fließender Grenzen zwischen der regelmäßig im

1 S. zur entsprechenden wohnungsrechtlich geprägten Gesetzgebungsgeschichte Staudinger/Emmerich, § 535 BGB Rz. 1 ff. 2 Mot II 369. 3 Staudinger/Emmerich, § 535 BGB Rz. 1.

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BGB § 535 Rz. 1 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags Fokus stehenden, reinen Nutzung der urheberechtlich geschützten Software und deren Verwertung zu gewissen Abgrenzungsschwierigkeiten (s. dazu etwa bei Rz. 6 ff.). 2. Bedeutung und Anwendungsbereich 2

Die mietrechtlichen Vorschriften der §§ 535 ff. bilden im BGB zusammen mit den Normen der §§ 581–610 (Pacht, Leihe, Sachdarlehen) den Rahmen für die Vertragskategorie der Gebrauchsüberlassungsverträge. Die Regelungen der §§ 535 ff. haben im Bereich des IT-Rechts ein breites Anwendungsspektrum und in Ansehung von seit einiger Zeit vermehrt zentral von Providern vorgehaltener Software und Systeme auch eine zunehmende Bedeutung. Während klassisch vor allem die Software- und Hardwaremiete, und zwar auch als RZ-Miete,4 vorherrschte, kommt den §§ 535 ff. heute über das RZOutsourcing hinaus auch bei zahlreichen weiteren IT-Providerverträgen eine große Bedeutung zu. Das gilt namentlich für das Application Service Providing (ASP) (dazu Rz. 18 f.)5 sowie vor allem für Cloud-basierte Angebote in Form von IaaS-, PaaS- und SaaS-Leistungen (dazu Rz. 20).6 Daneben sind die §§ 535 ff. im Rahmen von Leasingverträgen relevant (dazu ausführlich Vor §§ 535 ff. Rz. 32 ff.).7

II. Norminhalt 1. Mietvertrag (§ 535 Abs. 1 Satz 1) a) Vertrag 3

Der Tatbestand des § 535 verlangt zunächst einen Vertrag. Für den eigentlichen Vertragsschluss bestehen im Mietvertragsrecht keinerlei Besonderheiten. Es gelten die §§ 145 ff. Bei Mietverträgen im IT-Recht, insbesondere bei Softwarelizenzverträgen, stellt sich aber oft die Frage eines konkludenten Vertragsschlusses sowie des Vertragsschlusses auf Basis sog. Shrink-Wrap- oder Click-Wrap-Vereinbarungen. Der Mietvertrag ist nicht per se formbedürftig. Zwar besteht gem. §§ 550, 578 Abs. 2 für Wohn- und Gewerberaummietverträge (z.B. Rechenzentrumsmiete) ein Schriftformerfordernis;8 allerdings ist dieses für den Vertragsschluss nicht konstitutiv, sondern nur mit Blick auf die bei Verträgen von mehr als einem Jahr Laufzeit dann unbestimmt lange Laufzeit relevant (dazu § 578 Rz. 6). Einzig aus § 40 Abs. 1 Satz 1 UrhG kann sich bei künftiger Software ganz ausnahmsweise ein konstitutives Formerfordernis ergeben.9 Es gilt im Übrigen für Ergänzungen und Änderungen des Vertrags allenfalls die gewillkürte Schriftform, die nach der Rspr. jedoch in AGB selbst bei einer doppelten Schriftformklausel unbeachtlich ist.10 Ein Vertragsschluss ist, soweit kein Formerfordernis besteht, auch konkludent denkbar, etwa dann wenn nach Auslaufen eines Vertrags Software weiter genutzt wird (§ 545); das gilt aber dann nicht, wenn die Verlängerung ausdrücklich abgelehnt und die Software, selbst wenn die Löschung angezeigt gewesen wäre, zwar auf den Rechnern verbleibt, aber nicht genutzt wird.11

4 BGH v. 28.10.1992 – XII ZR 92/91, CR 1993, 506; vgl. BGH v. 23.3.2005 – III ZR 338/04, CR 2005, 816. 5 Dazu BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75 = ITRB 2007, 55 – ASP; Schoengarth, Application Service Providing, passim; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1087 ff. 6 Infrastructure as a Service, Platform as a Service und Software as a Service; dazu Borges/Meents, Cloud Computing, obiter; Giedke, Cloud Computing, S. 27 ff.; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1093 f., 1117 ff.; Hilber/Kittlaus, Handbuch Cloud Computing, Teil 1 Kap. B Rz. 27 ff.; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 144 ff.; Niemann/Paul, K&R 2009, 444 ff.; Pohle/Ammann, CR 2009, 273 ff.; Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179 ff.; Schuster/Reichl, CR 2010, 38 ff. 7 Zum IT-Leasing etwa BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, CR 1986, 79; BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 131/83, MDR 1985, 315; BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189; BGH v. 29.10.2008 – VIII ZR 258/07, CR 2009, 79; OLG Frankfurt v. 17.9.1985 – 5 U 171/83, CR 1986, 554. 8 Dazu BGH v. 11.4.2018 – XII ZR 43/17, MDR 2018, 922, 922 f. = NJW-RR 2018, 1101, 1102. 9 Dazu OLG Frankfurt v. 11.8.2015 – 11 U 94/13, CR 2017, 19, 20; Wandtke/Bullinger/Wandtke, § 40 UrhG Rz. 12. 10 Dazu ausführlich BGH v. 25.1.2017 – XII ZR 69/16, NJW 2017, 1017 f. m.w.N. 11 OLG Köln v. 24.11.2014 – 19 U 17/14, unveröffentlicht, juris Rz. 35 ff.

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Rz. 7 § 535 BGB

b) Vertragsgegenstand aa) „Sache“ im Sinne des § 535 Der Begriff der Sache im Sinne des § 535 entspricht § 90. Danach sind Sachen im ersten Ansatz nur 4 körperliche Gegenstände. Das eröffnet mit Blick auf Software mangels einer § 453 entsprechenden Regelung (zu dieser § 453 Rz. 1 ff.) Diskussionen,12 soweit es nicht um die klassische Überlassung körperlicher Gegenstände, sondern um davon mehr oder minder losgelöste Gebrauchsmöglichkeiten geht, wie sie heute gang und gäbe sind (dazu unter Rz. 18, 22 ff.). (1) Hardware als Mietgegenstand Unproblematisch als Sache im Sinne von § 90 zu qualifizieren ist Hardware. Das betrifft die in der Pra- 5 xis verbreitete Hardware- und Systemmiete,13 für die für den öffentlichen Sektor sogar spezielle, wenn auch mittlerweile veraltete Vertragsbedingungen in Form der BVB-Miete14 geschaffen wurden. Obwohl Hardware natürlich immer auch Software und damit nichtkörperliche Immaterialgüter enthält, die einen wesentlichen Teil ihres Wertes ausmachen mag, liegt im Schwerpunkt eine Sache vor, so dass bei einer zeitlich befristeten oder kündbaren Überlassung gegen gesondertes Entgelt die §§ 535 ff. eingreifen. Das gilt zweifelsohne jedenfalls dann, wenn die Hardware einen Großteil des Wertes ausmacht. (2) Software als Mietgegenstand Mit Blick auf die in der Hardware verkörperte15 oder auf Datenträgern vorgehaltene Software (insb. Computerprogramme und Datenbanken)16 ist die Einordnung in das mietvertragliche Regime streitig. Das gilt vor allem bei der Überlassung auf Datenträgern oder gar online. Zwar ist auch ein überlassener Datenträger (etwa eine Harddisk, ein USB-Stick oder eine DVD)17 als solcher Sache im Sinne der §§ 90, 535. Allerdings stellt nicht dieser, sondern (wirtschaftlich) regelmäßig vielmehr die auf diesem verkörperte Software den eigentlichen Mietgegenstand dar.18

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Teils wird für die Frage der Anwendbarkeit gleichwohl auf den Datenträger abgestellt.19 So wird von 7 der wohl noch h.M. vertreten, dass zentral für die Einordnung von Software als Mietsache die Tatsache sei, dass die Software sich auf einem Datenträger befindet und zumindest insofern als Sache angese12 Dazu grundlegend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 712 ff. sowie schon Hoeren, Softwareüberlassung als Sachkauf, S. 30 ff. und Marly, BB 1991, 432 ff. 13 Aus der Rspr. etwa BGH v. 5.10.1981 – VIII ZR 259/80, MDR 1982, 400; BGH v. 21.2.1990 – VIII ZR 116/89, CR 1991, 152; OLG Hamm v. 30.11.1988 – 30 U 201/86, CR 1989, 910, 911; OLG Hamm v. 11.1.1993 – 31 U 107/92, NJW-RR 1993, 1527; LG Essen v. 16.1.1986 – 43 O 129/84, CR 1987, 428, 430; zu diesen Formen von Mietverträgen ausführlich Schneider/Schneider/Kahlert, Handbuch EDV-Recht, Kap. O Rz. 307 ff.; Hardwarebeschaffungsverträge; Redeker/Bräutigam/Thalhofer, Handbuch der IT-Verträge, 39. Lieferung 09.2019, Kap. 1.8. 14 Besondere Vertragsbedingungen für die Miete von EDV-Anlagen und -Geräten (abrufbar unter https://www.cio. bund.de/Web/DE/IT-Beschaffung/EVB-IT-und-BVB/Noch_geltende_BVB/noch_geltende_bvb_node.html; abgerufen 14.10.2019). 15 Das können ROMs, EPROMs, EEPROMs, Flash-Speicher oder ähnliche Verkörperungen insbesondere in embbeded Systems sein. 16 Für Datenbanken etwa Conrad/Grützmacher/Koch, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, § 42 Rz. 10. 17 Historisch wurden Computerprogramme sogar als Lochkarten und sodann in der Folge teils noch über den Abdruck von Programmlistings in Büchern oder Zeitschriften zugänglich gemacht, was die Diskussion über die Sachqualität zunächst dämpfte (vgl. dazu Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 713 f.; Marly, BB 1991, 432 ff.). Heute geschieht Letzteres nur noch ganz ausnahmsweise in Lehrmaterialien. 18 Vgl. dazu BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP. 19 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 715 ff. Vgl. für eine direkte Anwendung und Bejahung der Sacheigenschaft – schon vor der Schuldrechtsreform – im Falle eines Kaufrechtvertrags BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, BGHZ 102, 135, 144 = CR 1988, 994 m. Anm. Ruppelt; BGH v. 4.3.1997 – X ZR 141/95, CR 1997, 470 m. Anm. Lehmann; BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel; im Fall der Miete: LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154; im Fall eines Leasings: BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, CR 1986, 79; BGH v. 7.3.1990 – VIII ZR 56/89, CR 1990, 707 m. Anm. Köhler; bei einem Werklieferungsvertrag (mit Blick auf § 377 HGB) BGH v. 14.7.1993 – VIII ZR 147/92, CR 1993, 681, 683 sowie wohl

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BGB § 535 Rz. 7 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags hen wird.20 Der BGH spricht teils davon, dass es für die Einordnung als körperliche Sache allein entscheidend sei, dass es sich um eine auf einem Datenträger verkörperte Standardsoftware handele, bzw. spricht von einem „verkörperten Computerprogramm“.21 Es ist danach nicht erforderlich, dass ein Datenträger überlassen und Besitz an diesem geschaffen wird, sehr wohl aber, dass erst die Speicherung der Software auf diesem die Nutzungsmöglichkeit eröffnet. Es reicht nach dieser Auffassung also die „Gebrauchsüberlassung“ ohne Besitzverschaffung, sofern Letztere für die den vertraglichen Vereinbarungen entsprechende Gebrauchsgewährung nicht erforderlich ist.22 Hierfür lässt sich anführen, dass es ohne Bedeutung ist, auf welchem Informationsträger eine Software verkörpert ist, vielmehr dass die Software eben stets verkörpert und damit bzw. nur so nutzbar ist.23 In der Tat wird, wie der BGH betont hat, auch ein Buch, dessen Sachqualität nicht angezweifelt wird und das primär das Ergebnis einer schöpferischen Geistestätigkeit ist, ausschließlich wegen seines geistigen Inhalts und nicht wegen seines Informationsträgers, des Papiers, erworben.24 Auch wäre eine von der kaufvertraglich – seit der Schuldrechtsreform 2002 auf Basis von § 453 – gebotenen Einordnung für die dauerhafte Überlassung abweichende Einordnung wenig überzeugend. 8

Richtiger erscheint es aber, sich nicht der Hilfskonstruktion der Überlassung eines Datenträgers zu bedienen, sondern die Diskussion zu führen, ob die Software selbst trotz ihres immateriellen Charakters Mietgegenstand sein kann. Denn nach der in der Rechtsprechung allgemein vertretenen Schwerpunkttheorie25 kommt es für die Bestimmung des Vertragstyps darauf an, was den maßgeblichen Schwerpunkt des Vertrags ausmacht. Zudem würde sonst allein die Frage der Überlassung – auf einem Datenträger oder per elektronischer Datenübertragung – trotz des gegen Null tendierenden Wertes einfacher Datenträger und im Übrigen für die vertragliche Beurteilung vollständig gleicher Sach- und Interessenlage über die Rechtsnatur des Vertrags entscheiden.26

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So wird in der älteren wie aber auch in der jüngeren Literatur vielfach zu Recht vertreten, bei Software als Immaterialgut handele es sich trotz ihrer Verkörperung auf einem Datenträger nicht um eine Sache.27 Hierfür spricht zum einen gerade die Regelung des § 453, der, wenn auch zugegebenermaßen zunächst einmal nur für das Kaufrecht,28 klarstellt, dass das Kaufrecht nicht nur für Sachen, sondern auch für Rechte und sonstige Gegenstände gilt, für die §§ 433 ff. dann entsprechend heranzuziehen sind (da-

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auch zum Warenzeichenrecht BGH v. 2.5.1985 – I ZB 8/84 (BPatG), CR 1986, 130, 132; Hoeren, Softwareüberlassung als Sachkauf, Rz. 78; Marly, BB 1991, 432 ff. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; OLG Hamburg v. 15.12.2011 – 4 U 85/11, MMR 2012, 740 = CR 2012, 359 = ITRB 2012, 102; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 715 ff.; Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 499; vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 12. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75 f. = ITRB 2007, 55. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 Rz. 19 = ITRB 2007, 55; zustimmend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 744. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP: auch unter Hinweis auf die sonstige kauf- und mietvertragliche Rspr. zu Software. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP. Etwa allgemein BGH v. 15.6.1951 – I ZR 121/50, BGHZ 2, 331, 333; BGH v. 29.10.1980 – VIII ZR 326/79, MDR 1981, 399, 400; BGH v. 21.4.2005 – III ZR 293/04, WuM 2005, 399, 400; BGH v. 13.10.2006 – V ZR 289/05, WM 2006, 2374, 2375; mit IT-rechtlichem Bezug BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, CR 2010, 109, 110 = ITRB 2010, 77; BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, CR 2010, 327, 328 – Internet-Systemvertrag. Ähnlich, wenn auch mit anderen Schlussfolgerungen Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 724, 744. Etwa Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Fritzsche, § 90 BGB Rz. 26; Habel, CR 1991, 257, 260; Mehrings, NJW 1986, 1904, 1905; Müller-Hengstenberg, NJW 1994, 3128, 3130 f.; Müller-Hengstenberg/Kirn, NJW 2007, 2370, 2373; Redeker, NJW 1992, 1739, 1740; Redeker, NJOZ 2008, 2917, 2919; Zech, Information als Schutzgegenstand, S. 336 f.; zur Megede, NJW 1989, 2580, 2582; Staudinger/Stieper, § 90 BGB Rz. 12 f.; wohl auch MünchKomm/ Stresemann, § 90 BGB Rz. 25; im Kontext des § 651 und der Schuldrechtsreform: Müller-Hengstenberg, CR 2004, 161, 164; Diedrich, CR 2002, 473, 475; Thewalt, CR 2002, 1, 5; Kloos/Wagner, CR 2002, 865, 866. Dieses betonend und die Gegenauffassung vertretend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 727 f.: Kaufrecht könnte aus systematischen Gründen nicht die Sachqualität von Software regeln. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 729 stellt überdies auch in Frage, dass § 453 drei gleichrangige Gruppen von Kaufgegenständen regele, und hält insofern fest, dass es sich bei § 453 nur um eine gar nicht notwendige Klarstellung handele. Das überzeugt schon in Ansehung der früheren Rechtsprechung nicht (vgl. dazu BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, CR 1988, 124, 127; BGH v. 18.10.1989 – VIII ZR 325/88, CR 1990, 24, 26; OLG Stuttgart v.

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zu § 453 Rz. 4).29 Damit wird gesetzgeberisch noch einmal bestätigt,30 dass Immaterialgüter wie Software keine Sachen i.S.v. § 90 sind. § 453 vollzieht mithin nach, was der BGH in einigen Urteilen durchaus auch angedeutet hat, dass nämlich das Kaufrecht auf den Erwerb von Standardsoftware nur entsprechend herangezogen werden kann.31 Mit § 453, der insofern eine Lücke im einstigen Kaufrecht schloss, hat der Gesetzgeber aber mit Blick auf § 90 eine solche für andere Vertragstypen letztlich gesetzlich anerkannt. Zum anderen soll es aber auch nach der h.M. nicht entscheidend sein, ob die Software auf einem Datenträger oder aber per Datenfernübertragung (etwa online über das Internet) überlassen wird.32 Allerdings wird beim Online-Download mit zeitlich begrenztem Nutzungsrecht während der Vertragsdauer weder ein Datenträger (also keine Sache) überlassen noch der Gebrauch eines solchen für die Dauer des Vertrags gewährt; mithin würde die von der h.M. vorgenommene Qualifikation der eben nicht mehr verkörperten Software als Sache spätestens hier an ihre Grenzen stoßen. Auch stellten sich bei der Qualifikation von Software als Sache aufgrund ihrer Verkörperung abstruse sachenrechtliche Fragen wie die, ob die Bearbeitung von Software nach § 950 zu einem Miteigentum am Datenträger führte.33 Denn der von der h.M. vertretene Ansatz setzt denklogisch beim Eigentum am Datenträger als Sache an; richtig ist, dass sich durch die Änderungen der Programm- oder sonstigen Daten eines Datenträgers kein Miteigentum am Datenträger ergeben kann.34 All dies spricht gegen den Kunstgriff des Abstellens auf die Verkörperung der Software im Datenträger. Lehnt man, wie hier vertreten, die Qualifikation von Software als Sache i.S.v. § 90 ab, stellt sich die 10 Frage, welche Konsequenzen dieses für die vertragsrechtliche Einordnung der Softwareüberlassung hat. Denkbar ist es, die Lösung des Problems jenseits der §§ 535 ff. zu suchen. So gehen einige Vertreter dieser Auffassung davon aus, dass ein Pachtvertrag (§ 581) vorliegt,35 wobei relativierend ergänzt wird, dass aufgrund der teilweise analogen Anwendung mietvertraglicher Vorschriften der Unterschied nicht besonders groß sei.36 Diese Auffassung ist aber abzulehnen, weil regelmäßig keinerlei Früchte gezogen werden,37 es mithin an einem prägenden Merkmal des Pachtvertrags fehlt. Demgegenüber vertreten andere Stimmen in der Literatur die Auffassung, es handele sich zumindest bei der Softwarelizenzierung um einen Vertrag sui generis, eben einen Lizenzvertrag, auf den nur die Regelungen des allgemeinen und nur hilfsweise und analog solche des besonderen Schuldrechts

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8.11.1988 – 6 U 135/87, CR 1989, 692, 693; zum Leasing OLG Köln v. 12.7.1991 – 19 U 49/91, CR 1991, 667). Dazu eingehend Diedrich, CR 2002, 473, 476 ff. BT-Drucks. 14/6040, 242: „Gemäß Absatz 1 sind die Vorschriften über den Sachkauf auch auf den Kauf ‚sonstiger Gegenstände‘ entsprechend anzuwenden. Damit folgt die Vorschrift der Rechtsprechung, die schon heute die Vorschriften des Kaufvertragsrechts, soweit sie passen, z.B. auf die entgeltliche Übertragung von … (nicht geschützten) Erfindungen, technischem Know-how, Software, Werbeideen usw. anwendet.“ (kursiv nicht im Original). „Nur“ für eine „zumindest entsprechende Anwendung“ beim normalen Kauf von Standardsoftware BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, CR 1988, 124, 127; bei der Übertragung per Kabel zumindest entsprechende Anwendung BGH v. 18.10.1989 – VIII ZR 325/88, CR 1990, 24, 26 m. Anm. Heymann, CR 1990, 112; OLG Stuttgart v. 8.11.1988 – 6 U 135/87, CR 1989, 692, 693; im Fall des Leasing OLG Köln v. 12.7.1991 – 19 U 49/91, CR 1991, 667. S. Alpert, CR 2000, 345, 348 f.; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 721 a.E. sowie Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 499; vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 12; BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; OLG Hamburg v. 15.12.2011 – 4 U 85/11, MMR 2012, 740 = CR 2012, 359 = ITRB 2012, 102. Vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 724. Staudinger/Stieper, § 90 BGB Rz. 12 f. unter Hinweis auf BGH v. 10.7.2015 – V ZR 206/14, NJW 2016, 317 Rz. 19 = CR 2016, 253 – Kanzler Kohls Tonbänder; Lutz, Softwarelizenzen und die Natur der Sache, S. 28 f. Lutz, GRUR 1976, 331, 334; Heydn, CR 2010, 765, 773; ebenso Lenhard, Vertragstypologie von Softwareüberlassungsverträgen, S. 189 f., 220 f., der bei der Überlassung eines Datenträgers von einem Hinzutreten eines mietrechtlichen Vertragsgegenstands spricht; vgl. auch BGH v. 3.6.1981 – VIII ZR 153/80, NJW 1981, 2684. Für das ASP Alpert, CR 2000, 345, 348; für das Verhältnis Softwarehersteller zum ASP-Anbieter Koch, ITRB 2001, 39, 41. Vgl. Redeker, IT-Recht, Rz. 596. So für normale Endnutzerlizenzverträge auch LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154, 155; AuerReinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 24, die aber für Verträge mit Vertriebsrechten offenbar zum Pachtrecht tendiert.

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BGB § 535 Rz. 11 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags anzuwenden seien.38 Verwiesen wird darauf, dass bei der Lizenzierung einer Marke auch niemand auf die Idee käme, das Mietrecht anzuwenden.39 Aber bei der Marke fehlt es eben auch, anders als bei Software, an jeglichen Anknüpfungspunkten an eine Sache sowie an der Möglichkeit funktioneller Mängel. Das allgemeine Schuldrecht biete insofern – wie auch sonst – keine ausreichend spezifischen Regelungen, um einer zeitlich befristeten Softwareüberlassung gerecht zu werden.40 Und auch die Frage, ob Software oder überlassene Daten urheber- oder leistungsschutzrechtlich geschützt sind,41 kann schon wegen des auch im Immaterialgüterrecht geltenden Trennungsprinzips nicht entscheidend sein.42 12

Richtig ist es, das Mietrecht mit einer im Vordringen befindlichen Meinung43 auf die zeitlich befristete Softwareüberlassung analog anzuwenden. Hierfür spricht zunächst § 453, der, wie dargelegt, einerseits als ein Indiz gegen die direkte Anwendung des § 90 auf Software zu verstehen ist (s. Rz. 4, 9), anderseits aber auch, wie zu Recht betont wird, nicht dazu führen darf, dass Software nur im Kaufvertragsrecht und nicht auch im Mietrecht Sachen gleichgestellt wird (so auch die h.M. mit gegenteiliger Schlussfolgerung; s. Rz. 7). Letztlich ist die hier vertretene Auffassung auch auf der Linie mit Teilen der Rspr. zur Rechtslage vor Einführung des § 453, bei der – jedenfalls für die Datenübertragung ohne Datenträger (Übertragung per Kabel oder Download) ohnehin – eine lediglich analoge Anwendung des § 90 und der entsprechenden vertragsrechtlichen Normen im Raum stand.44 Und schließlich kann auch die Argumentation der h.M. eine analoge Anwendung des Mietrechts, wie gesagt, bei der befristeten Überlassung nicht restlos vermeiden, soweit es um die Datenübertragung per Kabel oder Online geht, bei der ein fremder Datenträger eben nicht dauerhaft zum Gebrauch zur Verfügung gestellt wird (s. zum Kriterium der Ermöglichung der Nutzung Rz. 18 und Rz. 20 ff.).45 Insofern überzeugt es auch nicht, hier auf die EuGH-Rspr. zu UsedSoft46 und die dort erfolgte extensive Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Computerprogramm-RL zu verweisen.47 Denn zum einen ändert die urheberrechtliche Lage nichts an der (zudem nationalen) sachenrechtlichen Rechtslage; zum anderen wäre auch die urheberrechtliche Entscheidung des EuGH in sich schlüssiger und damit richtiger, hätte sie nicht den Weg der weiten Auslegung des Verbreitungsrechts gewählt, sondern den Erschöpfungsgrundsatz schlichtweg auf die 1:1-Onlineüberertragung entsprechend herangezogen.48

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Letztlich zeigt sich im Rahmen des § 535, dass der Gesetzgeber die Entkopplung der Software vom Datenträger zumindest mit Blick auf das Mietrecht nicht im Blick hatte. § 453 steht dabei der Planwidrigkeit der Lücke nicht entgegen, wurde 2002 im Rahmen der Schuldrechtsreform doch primär das all38 So insbesondere Hilty, CR 2012, 625, 637; wohl auch Nordemann, CR 1996, 5, 6 ff.; s. auch Metzger, NJW 2003, 1994, 1995: „Nach der gesetzlichen Konzeption ist demnach zumindest auch ein typengemischter Vertrag mit Elementen des Kauf- und Lizenzvertrags möglich.“; Metzger, AcP 216 (2016), 817, 835; zur Diskussion des Konzepts des Lizenzvertrags als Vertragstyp sui generis (im Ergebnis ablehnend) Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 697 ff. m.w.N. 39 Hilty, CR 2012, 625, 626. 40 Ebenso wenig kann von einem reinen Know-how-Lizenzvertrag (vgl. dazu auch Habel, CR 1991, 257, 259 ff.) ausgegangen werden; dazu ausführlich Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 700 ff. 41 Die urheberrechtliche Ebene hervorhebend Hilty, CR 2012, 625, 637. 42 S. zu sonstigen Gegenargumenten Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 731 ff., insb. 734. 43 Stichtenoth, K&R 2003, 105, 108; Staudinger/Stieper § 90 BGB Rz. 12 f.; wohl auch MünchKomm/Stresemann, § 90 BGB Rz. 25; vgl., wenn auch ablehnend, auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 727. 44 S. BGH v. 4.11.1987 – VIII ZR 314/86, CR 1988, 124, 127; BGH v. 18.10.1989 – VIII ZR 325/88, CR 1990, 24, 26; OLG Stuttgart v. 8.11.1988 – 6 U 135/87, CR 1989, 692, 693; zum Leasing OLG Köln v. 12.7.1991 – 19 U 49/91, CR 1991, 667. 45 Das OLG Köln v. 24.11.2014 – 19 U 17/14, unveröffentlicht, juris Rz. 62, hat u.a. deshalb angenommen, dass ggf. auch kein Mietrecht anzuwenden sei und – zumindest insofern – zu Unrecht auch die Anwendung mietrechtlicher Regelungen abgelehnt. 46 EuGH v. 3.7.2012 – C-128/11, CR 2012, 498 – UsedSoft. 47 So aber zur Rechtfertigung der h.M. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 721 a.E.; im Weiteren stützt Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 722 dies damit, dass der Begriff der sachenrechtlichen Übergabe zwar in Frage stehe, dem Gedanken der Publizität aber durch die tatsächliche Sachherrschaft über die Kopie genüge getan würde und die Besitzaufgabe bedeutungslos sei, um dann final zu attestieren, dass die Fragestellung offen bleiben könne, weil auch eine analoge Anwendung zu identischen Ergebnissen käme (Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 725). 48 Dazu ausführlich Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69c UrhG Rz. 36.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 17 § 535 BGB

gemeine Schuldrecht und aufgrund der EU-Richtline zum Verbrauchsgüterkauf 49 teils auch das Kaufrecht modernisiert. Demgegenüber ging es in den Mietrechtsreformen regelmäßig nur um Aspekte der Wohnraummiete (s. dazu Rz. 1). De lege ferenda wäre eine § 453 entsprechende Klarstellung im Rahmen der Umsetzung der Digitalen Inhalte-Richtline,50 die auch Software erfasst, wünschenswert. Die Richtlinie macht hier, wie Erwägungsgrund 12 zeigt, keine zwingenden Vorgaben.

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Auch Verträge über noch herzustellende Software können Mietverträge sein (dazu näher Rz. 28).51 Davon zu unterscheiden sind demgegenüber Softwarelizenzverträge, die die Nutzung bzw. Vervielfältigung gegen stückzahlbezogene Einmalentgelte erlauben; hier dürfte es sich eher um kaufrechtlich geprägte Sukzessivlieferungsverträge handeln (s. dazu unter Rz. 28).

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(3) Rechenzentrumsflächen als Mietgegenstand Dem Gewerberaummietrecht unterfallen auch Verträge über die Vermietung von RZ-Flächen.52 In diesem Sinne Mietvertrag ist auch der „Back-up-Vertrag“ für ein sog. kaltes oder warmes Back-up eines Rechenzentrums.53 Beim kalten Back-up-Vertrag werden im Schwerpunkt Immobilien, eben Rechenzentrumsflächen, und ggf. auch Infrastruktursysteme, nicht aber die IT-Systeme und Hardware überlassen bzw. vorgehalten (zum warmen RZ-Back-up-Vertrag für das gesamte Ausweichrechenzentrum samt IT-Systemen und Hardware s. Rz. 17).54 Auch das Server-Housing stellt regelmäßig eine Miete dar.55

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(4) „Rechenzentrumsleistungen“ bzw. dedizierte Rechner als Mietgegenstand Auch die reine Zur-Verfügung-Stellung von Rechnerkapazität begründet durch die „Überlassung“ des Rechners nach h.M. einen Mietvertrag, ohne dass dann auch die RZ-Räume selber Mietgegenstand sind; das Nutzungsverhältnis über den Rechner, aufgrund dessen dem Mieter die Rechnerkapazität zu bestimmten Tageszeiten für ihren Gebrauch zur Verfügung gestellt wird, ist als Mietvertrag (allenfalls mit gewissen Werkvertragselementen) und nicht als Pachtvertrag zu qualifizieren.56 Erst recht gilt das für die Zur-Verfügung-Stellung bzw. die Zugänglichmachung dedizierter Rechner eines Rechenzentrums. Allerdings wird für das Webhosting von der h.M. in der Rspr. wegen des Schwerpunkts in der Gewährleistung der Abrufbarkeit der Kundenwebsite im Internet von einem Werkvertrag ausgegangen.57 Auch das Business Process Outsourcing (BPO) unterfällt anders als das klassische IT-Outsour49 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. EU Nr. L 171 v. 7.7.1999, 12 ff. 50 Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. EU Nr. L 136 v. 22.5.2019, 1 ff. 51 Redeker, IT-Recht, Rz. 597; a.A. Karger, CR 2001, 357, 359: typenkombinierter Miet- und Werkvertrag; vgl. auch OLG Köln v. 14.2.2001 – 19 U 176/95, JurPC WebDok. 31/2002, Rz. 68, 84. 52 OLG Frankfurt v. 3.2.2012 – 2 U 122/11, ZMR 2012, 943; nachgehend BGH v. 23.10.2013 – XII ZR 21/12: Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen; LG Köln v. 8.5.2007 – 85 O 68/06, unveröffentlicht, juris Rz. 14. 53 Paulus, CR 1992, 1, 4 ff.: auch zur Abgrenzung zum Pool-Vertrag nach §§ 705 ff. 54 Paulus, CR 1992, 1, 2. 55 So auch Redeker, ITRB 2003, 82, 85; a.A. Kosmides, Providing-Verträge, S. 226 f.: Dienst- oder Werkvertrag wegen im Schwerpunkt geschuldeter Dialogfähigkeit bzw. Netzwerkleistung. 56 BGH v. 28.10.1992 – XII ZR 92/91, CR 1993, 506 m.w.N.; Heymann, CR 2000, 23, 24 f. (auch bei Client-Server-Verträgen, aber nicht bei vom Provider durchgeführten Batch-Läufen); im Grundsatz das Mietrecht bejahend, aber relativierend Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. U Rz. 138 f.; a.A. offenbar Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179: Rechnerleistung in der Regel Dienstvertragscharakter; Kosmides, Providing-Verträge, S. 164: wegen der erfolgsbezogenen Erzeugung von Daten Werkvertrag. 57 So OLG Düsseldorf v. 26.2.2003 – 18 U 192/02, CR 2003, 581 (Werkvertrag); tendenziell auch BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, CR 2010, 327, 328 – Internet-Systemvertrag; ausführlich Kosmides, Providing-Verträge, S. 227 ff. (regelmäßig Dienst-, ausnahmsweise Werkvertrag); a.A., jeweils von der Vermietung dedizierter WebServer ausgehend, OLG Köln v. 14.1.2011 – 19 U 106/07, unveröffentlicht, juris Rz. 2, 48; LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396; AG Berlin-Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR

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BGB § 535 Rz. 17 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags cing regelmäßig nicht dem Mietrecht.58 Mietvertrag ist auch der Vertrag über ein sog. warmes Back-up eines Rechenzentrums, bei dem die Rechner und Systeme in einem Rechenzentrum vorgehalten werden, um jederzeit hochgefahren werden zu können (zum kalten Back-up s. Rz. 16).59 (5) Sonstige durch Provider zugänglich gemachte shared Hardware und Softwareleistungen als Mietgegenstand (insb. ASP- und Cloud-Angebote) 18

Auch beim ASP-Vertrag soll Vertragsgegenstand nach der h.M. mit der Software stets eine verkörperte geistige Leistung und damit eine Mietsache i.S.d. §§ 535 ff. sein, weil der Informationsträger (vergleichbar dem Buch) trotz des vertragsprägenden geistigen Inhalts die nötige Sachqualität für die Einordnung als Miete begründet; dem steht – wie unter Rz. 4, 12, 20 ff. ausgeführt – laut BGH nicht entgegen, dass der Mieter keinen Besitz an den verkörperten Computerprogrammen erlangt, sondern diese ihm nur über das Internet zugänglich sind, weil der Mietvertrag keine Besitzverschaffung, sondern lediglich eine Gebrauchsüberlassung voraussetzt.60 Mit Blick auf die Software ist dieses in Frage zu stellen bzw. eine analoge Anwendung der §§ 535 ff. vorzugswürdig (s. dazu unter Rz. 12), in Ansehung der Hardware (dazu Rz. 5) liegt beim ASP aber eine Anwendung des Mietrechts, ob direkt oder analog noch einmal näher. Im Ergebnis ist jedenfalls nahezu unstreitig, dass die mietvertraglichen Regelungen anzuwenden sind.61 Soweit vereinzelt wegen der mangelnden Überlassung eines Datenträgers für die Anwendung des Pachtrechts plädiert wird,62 verkennt dieses, dass diese Frage zumindest bei einer analogen Anwendung des Mietrechts keine Rolle spielt, sowie die Gebrauchsgewährung an der Infrastruktur und die sonstigen Einwände gegen die Anwendung der pachtrechtlichen Vorschriften (dazu ausführlich Rz. 12). Wenig überzeugend ist auch die mehr oder minder pauschale Anwendung des Dienstvertragsrechts.63 Die insofern von Redeker vorgebrachten Argumente, die Datenverarbeitungsanlage des Systembetreibers stünde dem Nutzer ja nie vollständig zur Verfügung und der Systembetreiber schulde innerhalb eines komplexen IT-Systems nur die intensive Steuerung eines Programmablaufs, während dem Kunden dabei gleichgültig sei, welche konkrete Software auf welchem Rechner er nutze,64 überzeugen nicht. Denn auch Redeker attestiert, dass es dem Kunden darauf ankäme, ein korrekt arbeitendes Programm (bzw. System) nutzen zu können.65 Mithin geht es gerade nicht bloß um ein für den Dienstvertrag typisches Bemühen.66 Vielmehr spricht das alternativ, wenn überhaupt, für einen Werkvertrag. Diese Auffassung hat in der Tat das LG Essen67 mit der Begründung vertreten, dass „Gegenstand der Vereinbarung […] nicht nur die Überlassung und Nutzung von Software, son-

58 59 60 61

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2002, 297 m. zust. Anm. Runte; je nach Regelungskomplex differenzierend LG Mannheim v. 7.12.2010 – 11 O 273/10, unveröffentlicht, juris Rz. 33 ff. Heymann, CR 2000, 23, 25 f. Paulus, CR 1992, 1, 5 f.: auch zur Abgrenzung zum Pool-Vertrag nach §§ 705 ff. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; sich dem anschließend OLG Hamburg v. 15.12.2011 – 4 U 85/11, MMR 2012, 740; ganz ähnlich schon Gräfin von Westerholt/Berger, CR 2002, 81, 84; Koch, ITRB 2001, 39, 40 f. BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; BGH v. 4.3.2010 – III ZR 79/09, CR 2010, 327, 328 Rz. 19 – Internet-Systemvertrag; OLG Hamburg v. 15.12.2011 – 4 U 85/11, MMR 2012, 740 = ITRB 2012, 102; aus der Literatur etwa Gräfin von Westerholt/Berger, CR 2002, 81, 84; Hilber/Intveen/ Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 149 ff.; Bettinger/Scheffelt, CR 2001, 729, 731 f.; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1105; Borges/Meents/Meents, Cloud Computing, § 4 Rz. 75 ff.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 20, 47, 52; vgl. Röhrborn/Sinhart, CR 2001, 69, 70 f.: Miet-, in Ausnahmefällen Pachtrecht; Kosmides, Providing-Verträge, S. 251 ff. (ganz ausnahmsweise bei auf Dienstleistungen oder Arbeitsleistung gerichteten ASP-Services Dienst- oder Werkvertrag, a.a.O., S. 253 f.); wohl auch Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 499, Kap. U Rz. 11, 60. Vgl. Schoengarth, Application Service Providing, S. 65 ff.: Vertrag sui generis, Mietrecht teils analog anwendbar. Alpert, CR 2000, 345, 348 f. Dafür aber Redeker, IT-Recht, Rz. 1129 ff.; zwischen Dienst- und Werkvertrag schwankend Müller-Hengstenberg/Kirn, NJW 2007, 2370, 2371 ff. Redeker, IT-Recht, Rz. 1131. Redeker, IT-Recht, Rz. 1131. So auch für das Cloud-Computing Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 82. LG Essen v. 16.12.2016 – 16 O 174/16, CR 2017, 427 = ITRB 2017, 185; dem für den Einzelfall beipflichtend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1106.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 21 § 535 BGB

dern [im Schwerpunkt] auch Serverhosting sowie Wartungsarbeiten und täglich verfügbarer Kundensupport“ seien.68 Richtig bleibt aber, das zudem in toto besser passende Mietrechtsregime anzuwenden. Denn beim ASP-Vertrag handelt es sich eben, anders als beim Dienst- und Werkvertrag, um einen Vertrag, bei dem nicht die Herstellung, sondern die zeitlich befristete Gebrauchsüberlassung der Software im Mittelpunkt steht,69 die mithin dessen Schwerpunkt bildet. Zudem sind Wartungs- bzw. Pflegearbeiten dem Mietrecht nicht fremd, stellt doch die Erhaltung der Mietsache nach § 535 Abs. 1 Satz 2 sogar eine Hauptpflicht des Vermieters dar.70 Das heißt aber nicht, dass einzelne Leistungen, wie etwa die Programmpflege, Programmupdates, Da- 19 tensicherung, Hotline-Service und Einweisung in die Software, soweit diese vereinbart worden sind, nicht doch auch anderen Vertragstypen wie etwa dem Dienst- oder Werkvertrag zugeordnet werden könnten.71 Der BGH hat insofern anerkannt, dass es sich beim ASP-Vertrag um einen zusammengesetzten Vertrag handelt, bei dem jeder Vertragsteil nach dem Recht des auf ihn zutreffenden Vertragstypus zu beurteilen ist, soweit dies nicht im Widerspruch zum Gesamtvertrag steht (dazu auch Rz. 40).72 Das Gleiche gilt nach ganz h.M. auch für moderne Formen des Cloud-Computing wie etwa IaaS, PaaS und SaaS (Infrastructure as a Service, Platform as a Service und Software as a Service); auch hier sind die §§ 535 ff. (zumindest entsprechend) anzuwenden.73 Dies gilt unabhängig davon, ob eine Public oder eine Private Cloud genutzt wird. Dies gilt, obwohl hier ebenfalls die Mietsache nicht körperlich ist bzw. überlassen wird,74 weil dieses für den vertragsgemäßen Gebrauch beim Cloud-Computing eben nicht erforderlich ist. In der Tat sind insbesondere SaaS-Leistungen kaum vom ASP zu unterscheiden.75 Auch Cloud-Leistungen führen zu einem typengemischten Vertrag, bei dem aber wiederum die Betrachtung des Schwerpunkts des Vertrags (dazu Rz. 40) zum Mietrecht führt.76

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Ein Mietverhältnis begründet ggf. auch die (reine) Zurverfügungstellung von Speicherplatz (Storage)77 bzw. von Hardwarekapazitäten78 im Rahmen von ASP- bzw. Cloud-Leistungen. Das gilt auch für das diesen ähnliche Grid-Computing, jedenfalls soweit der Rechnerbetreiber dem Nutzer nur seinen Rechner zum Gebrauch zugänglich macht und Letzterer die Nutzung eigenständig steuert; bei zusätzli-

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68 So in der Tat LG Essen v. 16.12.2016 – 16 O 174/16, CR 2017, 427 = ITRB 2017, 185 mit der Begründung, dass „Gegenstand der Vereinbarung ist nicht nur die Überlassung und Nutzung von Software, sondern [im Schwerpunkt] auch Serverhosting sowie Wartungsarbeiten und täglich verfügbarer Kundensupport“ sei; zwischen Dienst- und Werkvertrag schwankend auch Müller-Hengstenberg/Kirn, NJW 2007, 2370, 2371 ff. 69 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75 = ITRB 2007, 55 – ASP. 70 Vgl. zum Cloud-Computing auch Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 91. 71 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; vgl. Schneider, Handbuch EDVRecht, Kap. R Rz. 504. 72 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP unter Hinweis auf BGH v. 9.12.1974 – VII ZR 182/73, BGHZ 63, 306, 309 ff. und BGH v. 19.12.2001 – XII ZR 233/99, BGHReport 2002, 399 = MDR 2002, 749. 73 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1105, 1121; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 81 ff.; vgl. Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 274 f.: mietvertraglicher Schwerpunkt trotz eventueller eigenständiger Dienst- und Werkleistungen aufgrund von vertraglichen Pflichten zu technischen Verbesserungen, Anpassungsleistungen, Datensicherungs- bzw. Back-up-Lösungen sowie Supportdiensten; ähnlich auch Boehm, ZEuP 2016, 358, 366; Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179; skeptischer demgegenüber und beim SaaS zu Werkvertrag tendierend Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. U Rz. 12, 60 ff. 74 Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 83. 75 Zu den marginalen Unterschieden, wenn auch nicht ganz überzeugend, Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1093 f. Marly behandelt das ASP und SaaS in einem Atemzug (ASP/SaaS) und grenzt diese, wenn auch nicht ganz konsistent, gegenüber dem (sonstigen) Cloudcomputing ab (vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1087 ff., 1117 ff.). Laut Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 44 werden beim SaaS weniger individuelle Anpassungen an die Bedürfnisse des Kunden vorgenommen; auch diese Abgrenzung überzeugt nicht. Nochmals andere Abgrenzungskriterien finden sich bei Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. U Rz. 121 ff. 76 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 52; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1121. 77 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179. 78 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1106.

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BGB § 535 Rz. 21 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags chen Leistungen (Entwicklungstätigkeiten oder der Durchführung von Rechenoperationen) liegt eventuell ein Geschäftsbesorgungsvertrag (als Werk- oder Dienstvertrag) vor.79 Hier steht zudem die unzweifelhaft eine Mietsache darstellende Hardware (dazu Rz. 5) stärker im Vordergrund.80 Auch ein Vertrag über die Online-Nutzung von Datenbanken ist regelmäßig als Mietvertrag zu qualifizieren.81 Keine Anwendung findet das Mietrecht auf den Access-Provider-Vertrag und den VPN-Vertrag (dazu Vor §§ 433 ff. Rz. 32 f.), weil hier nicht die Nutzung der Rechner des Providers, sondern der Transport von Daten in das und aus dem Internet den Schwerpunkt der Leistung bildet.82 Anderes mag für sonstige TK-Verträge über Standleitungen und Festverbindungen gelten (dazu Vor §§ 433 ff. Rz. 31). bb) Verpflichtung zur Gebrauchsgewährung 22

Der Mietvertrag wird geprägt durch die Pflicht des Mieters zu Gebrauchsgewährung. Diese ist von der Verschaffung des unmittelbaren Besitzes zu unterscheiden. Der Mietvertrag setzt nach dem Wortlaut und Sinn des § 535 keine Besitzverschaffung, sondern lediglich eine Gebrauchsüberlassung voraus.83 Daher steht der Anwendbarkeit des Mietrechts auf Providerverträge auch nicht entgegen, wenn der Mieter keinen Besitz an den verkörperten Computerprogrammen erlangt, sondern ihm diese nur über das Internet zugänglich werden.84 Nur wenn der Gebrauch der Mietsache notwendig deren Besitz voraussetzt, gehört zur Gebrauchsgewährung auch die Verschaffung des Besitzes.85 Ist daher eine Besitzverschaffung für den vertragsgemäßen Gebrauch (dazu unter Rz. 29 ff.) nicht erforderlich, wie bei der Fern- bzw. Onlinenutzung von Software per ASP, so genügt es für die Gebrauchsgewährung, wenn dem Mieter der Zugang zur Mietsache verschafft wird, der auch online erfolgen kann.86

23

Weiter ist der tatsächliche Gebrauch für die Miete nicht konstitutiv, so dass z.B. der vertragsmäßige Gebrauch i.S.d. § 535 (dazu Rz. 29 ff.) beim sog. kalten „Back-up-Vertrag“ nicht die tatsächliche oder gar ständige Nutzung einer RZ-Ausweichfläche, sondern nur deren ständige Abrufbarkeit87 voraussetzt. Inhaltlich bestimmt sich das Nutzungsrecht bei der Softwareüberlassung im Wesentlichen aus dem Vertragszweck und den eingeräumten (urheberrechtlichen oder anderweitigen) Nutzungsrechten; eine besondere Bedeutung kommt insofern § 69d Abs. 1 und 2 UrhG zu.88 cc) Während der Mietzeit („auf Zeit“)

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Mietverträge sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf eine bestimmte oder auch unbestimmte Zeit89 geschlossen sind. Sie sind, wenn nicht nur auf eine feste Zeit geschlossen, zumindest (ordentlich) kündbar. Ist keine Kündigungsregelung getroffen, gelten insofern, soweit sonst eindeutig Miete vorliegt, die gesetzlichen Regelungen.90

79 Koch, CR 2006, 42, 46; sich anschließend Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 56 f. 80 Schließlich ist auch der Rechenzentrumsvertrag unstreitig ein Mietvertrag (BGH v. 23.6.1992 – X ZR 92/90, NJW-RR 1993, 178 = CR 1993, 424; vgl. BGH v. 23.3.2005 – III ZR 338/04, CR 2005, 816; BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP). 81 Conrad/Grützmacher/Koch, Recht der Daten und Datenbanken im Unternehmen, § 42 Rz. 13; wohl auch Kosmides, Providing-Verträge, S. 243, 251 f. 82 BGH v. 23.3.2005 – III ZR 338/04, CR 2005, 816. 83 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP. 84 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP. 85 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP unter Verweis auf BGH v. 17.7.2002 – XII ZR 86/01, CR 2003, 259, 260 und BGH v. 1.2.1989 – VIII ZR 126/88, MDR 1989, 628. 86 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; so schon BGH v. 28.10.1992 – XII ZR 92/91, CR 1993, 506 zur Qualifizierung der Nutzung eines Rechners, dessen Rechnerkapazität der Beklagten u.a. durch Fernzugang mittels DATEX-T eingeräumt wurde, als Mietvertrag. 87 Paulus, CR 1992, 1, 4. 88 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1356; s. dazu auch ausführlich Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69d UrhG Rz. 6 ff. 89 Zur Unwägbarkeit dieser Begrifflichkeit Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 125. 90 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 13.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 27 § 535 BGB

Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich gegenüber Ratenkaufverträgen sowie bei kaufvertraglich gestalteten Verträgen, bei denen einerseits eine Einmalvergütung geschuldet,91 andererseits aber durch den Lizenzgeber nur eine Überlassung auf eine feste Zeit vorgesehen ist.92 Hier ist im Ergebnis wohl von einem Mietvertrag auszugehen.93 Verfehlt94 ist insofern eine urheberrechtliche Entscheidung des 1. Senats des BGH, bei dem dieser aufgrund der automatischen Deaktivierung und Funktionsunfähigkeit der Software nach Ablauf der einjährigen Laufzeit von einem Kaufvertrag ausging, weil das Recht zur Nutzung der Software für die gesamte Zeit der Funktionsfähigkeit des Computerprogramms und damit dauerhaft eingeräumt worden sei.95 Bei Hersteller-AGB dürfte das dazu führen, dass die Vergütungsregelung mit Blick auf die Vorfälligkeit nach § 307 unwirksam (dazu § 579 Rz. 4) und die Vergütung monatlich aufzuteilen oder gar erst im Nachhinein zu zahlen ist. Ähnliches soll nach Stimmen in der Literatur schon gelten, wenn ein Vertrag auf Überlassung gegen Einmalvergütung überhaupt kündbar ist.96 Ein Grenzfall ist schließlich ein Vertrag, bei dem mit jeder Zubestellung oder Erneuerung von Komponenten eine neue Mindestmietdauer beginnen soll.97 Ins Mietrecht führt tendenziell – zumindest bei AGB – auch die zusätzliche Vereinbarung regelmäßig wiederkehrender Zusatzentgelte nach Maßgabe der Nutzungsintensität oder anderer Abrechnungsmetriken.98

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Anderseits ist ein nur außerordentlich kündbarer Vertrag99 bei Vereinbarung eines außerordentlichen 26 Kündigungsrecht nicht bzw. zumindest – etwa bei einem zeitlich unbeschränkten Nutzungsrecht – nicht zwingend als Mietvertrag zu klassifizieren.100 Bei AGB wird sich der Kunde aber gem. §§ 306, 307 u.U. auf die für ihn günstigen Mietregelungen berufen können, und dann ggf. auch auf die Unwirksamkeit des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung samt Rückzahlungspflicht für Vorleistungen. Aber auch eine Argumentation, dass die Vereinbarung einer außerordentlichen Kündigung unwirksam ist, ist in Ansehung des Kaufrechts aufgrund von § 307 möglich.101 Teils wird auch argumentiert, dass mangels Anhaltspunkten für eine Überlassung auf Zeit eine kaufrechtliche Einordnung nahe liege.102 Dem kann aber aus Sicht des Lizenzgebers (vgl. § 31 Abs. 5 UrhG) und aus Sicht des Mieters, wenn dieses in der konkreten Situation für ihn günstig ist, ggf. das AGB-Recht entgegenstehen. dd) Sonstiges Irrelevant für die Einordnung als Mietvertrag ist eine Bezeichnung als Lizenzvertrag, so dass durch- 27 aus ein Kaufvertrag vorliegen kann.103 Das gilt zumindest in AGB auch dann, wenn ergänzt wird, dass die „Software nicht verkauft“ würde.104 91 92 93 94 95

96 97 98 99 100 101 102 103 104

Redeker, IT-Recht, Rz. 596 ff. So z.B. BGH v. 18.10.1989 – VIII ZR 325/88, CR 1990, 24, 26. So Koch, Computer-Vertragsrecht, Teil 5 Rz. 14 ff.; Redeker, IT-Recht, Rz. 598. Kritisch auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 14. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, CR 2015, 711, 712 = ITRB 2015, 277 – Green-IT; noch deutlicher die Vorinstanz OLG Frankfurt v. 12.11.2013 – 11 U 32/12, Rz. 32 f., juris: „… zwar Rechte bezüglich der Verwendung der Software lediglich für die Dauer der Servicelaufzeit übertragen. … Bei der vorliegenden Vertragskonstruktion ist allerdings davon auszugehen, dass … ein Kaufvertrag vorliegt, der dem gesamten Geschäft das Gepräge gibt [und] … dass die Klägerin beim Verkauf des Programms eine Vergütung erzielt, die dem wirtschaftlichen Wert der Nutzung des Programms für ein Jahr entspricht. … für einen von vornherein festgelegten Zeitraum. … Eine Rückgabe wäre auch sinnlos, weil das Programm – ohne die erforderlichen Aktualisierungen – nach Zeitablauf veraltet und nutzlos ist.“ Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 557, 559 f. 564, der dann sogar § 547 anwenden will. OLG Köln v. 21.1.1994 – 19 U 223/93, OLGR 1994, 45. So für CPU-abhängige Upgrade-Klauseln auch v. Merveldt, CR 2006, 721, 722; wohl a.A. Bartsch, CR 1994, 667, 670; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 15. Zur Zulässigkeit solcher Abreden Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 13 m.w.N. So auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 16; pauschal dagegen Redeker, IT-Recht, Rz. 599. Vgl. Fischl, ITRB 2004, 286, 287; Redeker, IT-Recht, Rz. 534; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 16; a.A. LG Köln v. 14.9.2011 – 28 O 482/05, CR 2012, 77, 78 f. = ITRB 2012, 57 (zum in der CR unzureichend abgedruckten Sachverhalt s. Wiedergabe bei juris). Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 17. Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 125. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 28.

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BGB § 535 Rz. 28 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags 28

Neben solchen terminologischen Schwierigkeiten ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten bei typengemischten Verträgen (dazu Rz. 40). Das gilt insbesondere bei vorgeschalteten Softwareprojekten, wie sie sowohl für spätere auf Zeit geschlossene (einem kaufvertraglichen Sukzessivlieferungsvertrag105 ähnelnden) Lizenzverträge, Softwaremietverträge wie auch für Cloud-Verträge durchaus üblich sind. Plädiert wird hier etwa bei einem einheitlichen Vertrag für die „Customized Cloud“ für eine Schwerpunktbetrachtung.106 Nach anderer Auffassung soll die klassische Softwaremiete bzw. bei der Cloud das Hosten der Standardsoftware einschließlich der Pflegeleistungen Mietrecht und das Einführungsprojekt Werkvertragsrecht unterliegen.107 2. Pflichten des Vermieters a) Überlassungs- und Erhaltungspflichten des Vermieters im zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand (§ 535 Abs. 1 Satz 2)

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Die Überlassungs- und Erhaltungspflichten nach Abs. 1 Satz 2 sind Hauptleistungspflichten des Vermieters (§ 320). Sie sind letztlich Ausfluss der Pflicht zur Gebrauchsgewährung nach Abs. 1 Satz 1.108 Die Überlassung wie die Erhaltung haben im zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu erfolgen (Abs. 1 Satz 2). Die Bestimmung kann vertraglich erfolgen, mitunter auch konkludent; fehlt es an einer solchen Vereinbarung ist auf den Nutzungszweck bzw. die nach allgemeiner Verkehrsanschauung bzw. -sitte in Ansehung der Umstände übliche Beschaffenheit abzustellen.109 Explizite Abreden können sich konkret auf die Performance, das Antwortzeitverhalten der Software und die Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit beziehen oder auch nur den Nutzungszweck der Software oder sonstigen Mietgegenstände umschreiben.110 Aus dem Nutzungszweck ergibt sich dann der geforderte geeignete Zustand. Vertragliche Abreden auf Basis von AGB, die zur Unterschreitung der üblichen Beschaffenheit führen, sind an § 307 zu messen.111 Dabei unterliegen Leistungsbeschreibungen nur dem Transparenzgebot nach § 307 Abs. 3 Satz 2, während Leistungsnebenabreden auch der vollen Inhaltskontrolle unterliegen (s. insbesondere auch zu SLA § 536 Rz. 24, 46).112 aa) Überlassungspflichten

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Eine Überlassung im Sinne von § 535 liegt zunächst bei der Übertragung des unmittelbaren Besitzes vor.113 Die Überlassung muss zum Vertragsbeginn erfolgen, und zwar mangels vereinbartem Termin sofort. Teils ist der Mieter auch bereits im Besitz der Mietsache (so etwa bei Outsourcingverträgen im Wege eines Sale and Lease Back). Dann ist die Besitzverschaffung entbehrlich. Erfolgt die Überlassung nicht zeitgerecht, stellt sich die Frage der (zumindest zeitweisen) Unmöglichkeit und der damit verbundenen Rechte.114 Die Überlassung erfordert bei Software nicht nur, dass die Software für die gesamte Vertragsdauer belassen, sondern dass die Gebrauchsmöglichkeit nicht ohne rechtfertigenden Grund verhindert werden darf.115

105 Vgl. Schuster, CR 2018, 209, 212. 106 Schuster, CR 2018, 209, 211. 107 Sofern die Softwareherstellung/-anpassung nicht bloß geringfügig und daher untergeordnet ist, für die klassische, mietweise Softwareüberlassung Lenhard, Vertragstypologie von Softwareüberlassungsverträgen, S. 224 f., 279, der allerdings generell statt Miet-, Pachtrecht anwenden will; für Cloud-Sachverhalte Redeker, ITRB 2019, 93, 94; vgl. auch Karger, CR 2001, 357, 359: typenkombinierter Miet- und Werkvertrag. 108 Vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1345. 109 BGH v. 23.9.2009 – VIII ZR 300/08; vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 63. 110 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 64. 111 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 63. 112 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 64. 113 Blank/Börstinghaus/Blank, § 535 BGB Rz. 287. 114 Dazu näher Blank/Börstinghaus/Blank, § 535 BGB Rz. 288 f. 115 OLG Brandenburg v. 4.6.2008 – 4 U 167/07, CR 2008, 763, 766 = ITRB 2009, 5: sonst wegen § 320 automatischer Verlust des Anspruchs auf Mietzins; vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1345.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 34 § 535 BGB

Nicht per se von der Überlassungspflicht umfasst ist bei der klassischen Software-Miete (also nicht 31 beim ASP oder beim Cloud Computing) die Installation (s. dazu auch § 536 Rz. 12).116 Allerdings argumentiert die Lit. mitunter, dass diese bei Vereinbarung derselben Teil der Überlassungspflicht sei, weil erst die Installation dem Kunden ermögliche, vertragsgemäß von der Software Gebrauch zu machen; mangels Abrede soll immerhin bei komplexer Software die Unterstützung bei der Installation von der Überlassungspflicht umfasst sein.117 Jedenfalls ist eine Installationsdokumentation zu überlassen.118 Streitig ist, ob die Pflicht zur Überlassung in einem zum vertragsmäßen Gebrauch geeigneten Zustand, was mit Blick auf § 320 relevant ist, es auch erfordert, eine Benutzer- oder sonst geschuldete Dokumentation zu liefern.119 Nach der Rspr. ist hier mitunter lediglich von einem Mangel auszugehen.120 Richtig scheint es, zu prüfen, wie komplex die Software bzw. das System ist und ob zumindest eine digitale softwareimmanente Bedienhilfe angeboten ist. Je nach den Umständen im Einzelfall mag dann ein Fall einer mangelnden Überlassung oder auch nur ein Mangel vorliegen. Eine weitere Frage ist, ob auch eine Einweisung geschuldet ist; hiervon ist mangels vertraglicher Abrede zumindest bei einer ausreichenden Dokumentation nicht auszugehen. Der BGH hat für die Softwareüberlassung per ASP entschieden, dass die Software nicht körperlich 32 übergeben werden muss und dass die Verschaffung der Nutzungsmöglichkeiten auf einem per Internet oder sonstiger Datenfernübertragung verbundenen Server reicht.121 Gleiches ist für Cloud-Services anzunehmen. Weiter wird in der Literatur für Cloud-Services, was wiederum auch für das ASP zu unterstellen ist, aufgrund von § 535 Abs. 1 Satz 2 „eine für die gesamte Dauer des Vertrages 100%ige Verfügbarkeit der Services“, d.h. eine „ununterbrochene Verfügbarkeit der Cloud-Services“ unberührt von der Notwendigkeit von Wartungsarbeiten und Arbeiten zur Beseitigung von Defekten angenommen (insofern sind Abreden zum Leistungsumfang angebracht, s. dazu § 536 Rz. 6, 24, 31, 46).122 Bei der (Gewerbe-)Raummiete von RZ-Flächen geht es überdies um den Zugang zu den Räumen. 33 So verletzt der Vermieter seine Pflichten aus einem Gewerberaummietvertrag, die unbeeinträchtigte Nutzung der Mieträume zu überlassen (§ 535 Abs. 1), wenn er den ungehinderten Zugang zu den Räumen verwehrt und so den Mieter daran hindert, dessen eigene Server aus den Räumen zu entfernen.123 Bei der Vermietung von RZ-Flächen gehört der Anschluss der Räume an die zu diesem Zweck vorzuhaltende Energieversorgung zu den Hauptpflichten des Vermieters, die Räume in zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und zu erhalten, so dass es ihm (mangels abweichender Regelungen) im Verhältnis zum Mieter obliegt, selber oder durch einen Erfüllungsgehilfen den Energiebezug zu gewährleisten und die hierfür erforderlichen Anlagen vorzuhalten.124 Die Beweislast für eine ordnungsgemäße Überlassung trägt der Vermieter. Sie kehrt sich jedoch um, wenn eine vereinbarte Abnahme oder Freigabe der Mietsache durch den Mieter erfolgt ist.125 Die Vereinbarkeit einer solchen Klausel mit dem Mietrecht ist bisher nicht in Abrede gestellt worden;126 in 116 Tendenziell a.A. Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 526, 588. 117 Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 526, 588; sich anschließend Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 67. 118 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 67. 119 So Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 587; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 67. 120 So wohl, allerdings etwas inkonsistent OLG Stuttgart v. 24.2.1998 – 6 U 123/97, CR 1999, 74, 75: Für Kassensysteme, die sich von sonstigen Computersystemen weitgehend unterscheiden, ist keine Benutzerdokumentation im üblichen Sinne geschuldet, wenn sie weitestgehend selbsterklärend ist; wird für die Nutzung aber fremde Hilfe benötigt, ist das System dann mangelhaft; ebenso mit ausführlicher Begründung schon die Vorinstanz LG Stuttgart v. 30.7.1997 – 18 O 458/96, BB 1998, Beilage 4, 13, 14 f. 121 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP. 122 Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 204, 219, die daher dringend zu abweichenden Regelungen der Verfügbarkeit raten; vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1124. 123 OLG Frankfurt v. 3.2.2012 – 2 U 122/11, ZMR 2012, 943 f.; nachgehend BGH v. 23.10.2013 – XII ZR 21/12 (juris): Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen. 124 LG Köln v. 8.5.2007 – 85 O 68/06, unveröffentlicht, juris Rz. 14. 125 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 70. 126 Redeker, IT-Recht, Rz. 600 unter Hinweis auf § 8 der für die Miete von Hardware immer noch einschlägigen, gültigen BVB-Miete; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 70 unter Hinweis auf die Gewährleistungsbeschränkung des § 536b und die Anzeigepflicht des § 536c.

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BGB § 535 Rz. 34 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags AGB bestehen mit Blick auf § 309 Nr. 11 lit. b) bzw. § 307 diesbezüglich Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit (dazu auch unter § 309 Rz. 78).127 Änderungsrechte hinsichtlich des überlassenen Mietgegenstands bestehen nicht. Vertraglich vereinbarte Änderungsrechte sind denkbar, unterfallen in AGB aber engen Grenzen (dazu unter Rz. 60). bb) Erhaltungspflichten 35

Die Erhaltungspflichten richten sich auf die Maßnahmen, die erforderlich sind, um den vertragsmäßen Gebrauch zu ermöglichen.128 Klassischerweise sind dies Instandhaltungs- und Instandsetzungspflichten.129 Dabei ist auf Basis des § 535 Abs. 1 als Teil des Gebrauchserhaltungsanspruchs auch eine nicht verjährende Mängelbeseitigung geschuldet.130 Dabei kann der Mieter wegen § 243 Abs. 2 selbst bei Gattungsschulden die Lieferung einer neuen Mietsache zur Fehlerbeseitigung ablehnen;131 eine andere Frage ist, ob der Vermieter sich in AGB ein entsprechendes Mängelbeseitigungsrecht vorbehalten kann (dazu Rz. 61). Die Erhaltungspflichten enden, wenn der Aufwand die Opfergrenze des § 275 Abs. 2 übersteigt.132

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Die während der Mietzeit bestehenden Erhaltungspflichten spielen im IT-Recht mit Blick auf eine Abnutzung im eigentlichen Sinne nur bei Hardware und RZ-Flächen eine Rolle und ggf. auch bei Datenträgern. Heute wird Software aber nur noch selten133 auf einem Datenträger geliefert. In der Literatur wird zudem diskutiert, ob der Datenträger sich „abnutzt“, so dass die Erhaltungspflicht eingreife, wenn ein Kopierschutz die Übertragung der Software auf neue Hardware verhindert.134 Es spricht in der Tat einiges dafür, dass die Erhaltungspflicht in solchen Fällen auch beim Tausch von Hardware eingreift (s. aber auch Rz. 37).

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Im Übrigen ist Software in einem Zustand zu erhalten, dass sie zum vertragsgemäßen Gebrauch geeignet bleibt.135 Hierzu gehört zunächst einmal die Pflicht zur proaktiven Fehlerbeseitigung.136 Weiter ist der Vermieter nach der hier vertretenen Auffassung auch verpflichtet, für eine ausreichende IT-Sicherheit zu sorgen.137 Soweit eine Software sonst nicht mehr nutzbar ist, dürfte sie auch an Schnittstellen oder Kompatibilitätsanforderungen von Drittsoftware und -produkten anzupassen sein. Schließlich umfasst dies die Pflicht, die Software an Gesetzesänderungen138 (einschließlich

127 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 71. 128 Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 36. 129 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 72; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 102 f. 130 BGH v. 17.2.2010 – VIII ZR 104/09, MDR 2010, 562; str. 131 BGH v. 2.12.1981 – VIII ZR 273/80, MDR 1982, 483. 132 BGH v. 20.7.2005 – VIII ZR 342/03, MDR 2006, 199; BGH v. 22.1.2014 – VIII ZR 135/13, NJW 2014, 1881 f. = WuM 2014, 277 f.; vgl. BGH v. 26.9.1990 – VIII ZR 205/89, MDR 1991, 329. 133 Klassische Datenträger werden kaum noch ausgeliefert. Im Übrigen ist noch an in embedded Systems verbauten SSD-Karten, die eine begrenzte Anzahl von Zugriffen haben können, zu denken. 134 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1346. 135 Vgl. auch Art. 7 der Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. EU Nr. L 136 v. 22.5.2019, 1 ff. 136 Vgl. auch Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 275; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 74 spricht nur von Mängelbehebung. 137 A.A. OLG Köln v. 16.7.2013 – I-19 U 50/13, MMR 2014, 101, 101 f. = ITRB 2014, 29: keine Pflicht zu Software-Updates zum verbesserten Schutz einer Telefonanlage vor Hackerangriffen; vgl. demgegenüber aber auch BGH v. 7.6.2006 – XII ZR 34/04, NJW-RR 2006, 1157: unzureichende Einbruchssicherheit in ein Gebäude ist ein Mangel. 138 LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1346; Kremer, ITRB 2013, 116, 117; Kremer, ITRB 2013, 143, 145; Orthwein/Bernhard, CR 2009, 354, 355; Raue, CR 2018, 277, 278; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 74, 161; vgl. auch Redeker, ITRB 2012, 165, 167; zur individuellen und AGB-mäßigen Beschränkbarkeit s. Kremer, ITRB 2013, 143, 144 f.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 40 § 535 BGB

Steueränderungen139 und Währungsumstellungen)140 anzupassen. Das gilt zumindest bis zu einer eventuell eingreifenden Opfergrenze nach § 313 (dazu § 313 Rz. 15 f.) oder § 275 Abs. 2. Im übergeordneten Sinne besteht insoweit eine – nach der hier vertreten Auffassung aber beschränkte – Aktualisierungspflicht.141 Die Vorhersehbarkeit notwendiger Anpassungsmaßnahmen ist dabei keine Anspruchsvoraussetzung.142 Ausgeprägt und vielschichtig sind die Erhaltungspflichten nach § 535 Abs. 1 Satz 2 beim Outsourcing, 38 ASP und Cloud-Computing. Hier sollen laut Stimmen in der Literatur Wartungs- und Pflegeleistungen mit Blick auf Hard- und Software wie insbesondere die (proaktive) Fehlerbeseitigung,143 aber auch die Sorge um die Sicherheit und Kompatibilität von Abs. 1 Satz 2144 umfasst sein.145 Da insbesondere Cloud-Lösungen fortwährend weiterentwickelt werden müssen, um sie auf dem aktuellen Stand zu halten, sind nach h.M. auch Aktualisierungsmaßnahmen bis zu einem gewissen Grad gesetzlich geschuldet.146 Nicht von der Erhaltungspflicht umfasst sind aber technische oder sonstige Verbesserungen147 oder (individuelle) Anpassungsleistungen.148 Die Aussage, es ergebe sich aus der Gebrauchserhaltungspflicht, keine Modernisierungs- oder Aktualisierungspflicht,149 ist unzutreffend; richtig ist vielmehr, dass Modernisierungen oder Aktualisierungen (nur) soweit geschuldet sind, wie dieses für die Gebrauchserhaltung erforderlich ist.150 Abzugrenzen sind die mietvertraglichen Erhaltungspflichten insofern von vertraglich vereinbarten Pflege- und Anpassungsleistungen sowie der Verpflichtung zur Lieferung neuer, verbesserter Versionen (insbesondere Upgrades);151 so hat der Mieter aus dem Mietvertrag in aller Regel kein Recht, signifikante Funktionserweiterungen zu verlangen. Selbst eine Anpassung an den Komfort und die Funktionalitäten neuer Produkte ist (ausgenommen kompatibilitätserhaltender Anpassungen, dazu Rz. 29 ff.) nicht ohne Weiteres geschuldet.152

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b) Sonstige Hauptleistungspflichten des Vermieters Streiten kann man darüber, ob und inwieweit über § 535 Abs. 1 hinaus noch sonstige Hauptleistungspflichten des Vermieters bestehen bzw. bestehen können.153 Denkbar ist dieses aufgrund vertraglicher Abreden bzw. insbesondere bei typengemischten Verträgen aufgrund des Pflichtenprogramms eines 139 Etwa des Umsatzsteuersatzes, vgl. LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1346. 140 LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1346. 141 Vgl. Raue, CR 2018, 277, 278 ff. 142 LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8. 143 Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 275; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 102 f. 144 Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 275; laut Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 102 f. Gefahren, die aus der Mietsache selbst herrühren. 145 Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 275. 146 Hoeren/Sieber/Holznagel/Redeker, Multimedia-Recht, Teil 12 Rz. 408; deutlich zurückhaltender Borges/ Meents, Cloud Computing, Rechtshandbuch, § 4, Rz. 76, 235: ohne andere Abrede nur Erhaltung des Stands der Technik zum Vertragsschluss und keine Modernisierungs- oder Aktualisierungsmaßnahmen. 147 Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 275 beziehen sich dabei auch auf den wenig griffigen Begriff des „Updates“. Updates können aber auch reine Aktualisierungen ohne inhaltliche Verbesserungen sein, die dann doch der Unterhaltungspflicht unterfallen. Vgl. im Übrigen auch LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1346. 148 Pohle/Ammann, CR 2009, 273, 275: „jedenfalls jenseits der bloßen Parametrisierung von Software (Customizing)“ 149 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 73. 150 In diesem Sinne etwa auch Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 39 und Hinweis auf BGH v. 6.10.2004 – VIII ZR 355/03, MDR 2005, 74, wobei die Entscheidung u.U. noch restritiver zu lesen ist. 151 Dazu ausführlich Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 75 ff. 152 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 73. 153 Wichtig scheint dieser Streit auf den ersten Blick für die Frage, inwieweit die Haftung für Pflichtverstöße AGBmäßig (§ 307) eingeschränkt werden kann. Denn Hauptleistungspflichten sind per se Kardinalpflichten; für Nebenpflichten kommt es hingegen darauf an, ob diese wesentlich sind (vgl. BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 137/83, MDR 1985, 225, 226; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, AGB-Recht, § 309 BGB Rz. 33, 35).

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BGB § 535 Rz. 40 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags anderen Vertragstypus. Bei diesen besteht heute Einigkeit, dass weder die sog. Absorptionstheorie,154 nach der für alle Vertragsbestandteile und -leistungen das Recht der Hauptleistung verbindlich ist, noch die Kombinationstheorie,155 die für die jeweiligen Einzelleistungen die entsprechenden Normen anwenden will, in ihrer Reinform zu interessengerechten Lösungen führen.156 Vielmehr ist, ausgehend von den besonderen Umständen des Einzelfalls, auf die Interessenlage der Vertragsparteien sowie auf Sinn und Zweck der vertraglichen Vereinbarungen abzustellen; insofern ist bei einer Verbindung mehrerer gleichwertiger Leistungen der mutmaßliche Wille der Vertragsparteien zu unterstellen, auf die jeweilige Leistungspflicht diejenigen Rechtsvorschriften anzuwenden, die für diese zur Geltung kämen, wenn sie in einem gesonderten Vertrag begründet worden wären.157 Ggf. ist ein interessengerechter Ausgleich zu finden. Allerdings ist bei Normwidersprüchen auf den Schwerpunkt des Vertrages (dazu auch Rz. 8, 18 f.) abzustellen.158 Das schließt es nicht aus, auch Bestimmungen eines anderen Vertragsrechts heranzuziehen, bei dem der Schwerpunkt des Vertrags nicht liegt, wenn allein hierdurch die Eigenart des Vertrags richtig gewürdigt werden kann.159 41

Insofern kann insbesondere bei den stark typengemischten Providerverträgen (Outsourcing, ASP und Cloud-Computing) auch nicht ausgeschlossen werden, dass zusätzliche Hauptleistungspflichten implizit oder explizit vereinbart werden. Das gilt etwa bei Cloud-Verträgen für Schulungsleistungen, Supportleistungen, Softwareverbesserungen und die Datensicherung160 oder für die Re-Migration (Re-Transition) beim Outsourcing.161 Und auch bei der normalen Softwareüberlassung auf Zeit finden sich oftmals Abreden über die drei ersten Kategorien von Leistungen. c) Nebenpflichten des Vermieters (§ 241)

42

Als Nebenpflichten treffen den Vermieter vor allem Beratungspflichten (dazu allgemein § 241 Rz. 12 f.; zur vorvertraglichen Beratungspflichten § 311 Rz. 4 ff.).162 Weiter muss der Vermieter etwa ihm angezeigte Mängel darauf überprüfen, ob sie wirklich Mängel sind oder ob die Symptome nur auf Fehlbedienungen beruhen.163

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Auch hat der Vermieter aus allgemeinen Sorgfalts- und Schutzpflichten heraus für einen ausreichenden Virenschutz zu sorgen.164 Soweit im Übrigen vertreten wird, dass Sicherungspflichten sich allen154 Zu dieser ausführlich Kosmides, Providing-Verträge, S. 91 ff. 155 Tendenziell eher für die Anwendung der Kombinationstheorie im IT-Recht Bartsch, CR 2000, 3, 7 ff.; Lenhard, Vertragstypologie von Softwareüberlassungsverträgen, S. 206 f.; dagegen etwa Kosmides, Providing-Verträge, S. 94. 156 Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Gehrlein, § 311 BGB Rz. 21; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 28; Palandt/Grüneberg, Überbl v § 311 BGB Rz. 25. 157 BGH v. 13.9.2007 – I ZR 207/04, NJW 2008, 1072, 1073 = VersR 2008, 845, 846; BGH v. 10.7.2015 – V ZR 206/14, CR 2016, 253, 255; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Gehrlein, § 311 BGB Rz. 21; MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 28 f.; Palandt/Grüneberg, Überbl v § 311 BGB Rz. 25. 158 BGH v. 12.1.2017 – III ZR 4/16, MDR 2017, 334; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Gehrlein, § 311 BGB Rz. 21; Palandt/Grüneberg, Überbl v § 311 BGB Rz. 25 f.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch ITund Datenschutzrecht, § 13 Rz. 52; vgl. BGH v. 8.10.2009 – III ZR 93/09, CR 2010, 109, 110 f. = ITRB 2010, 77; BGH v. 15.3.2018 – III ZR 126/17, MDR 2018, 512 f.; vgl. auch MünchKomm/Emmerich, § 311 BGB Rz. 29. 159 BGH v. 12.1.2017 – III ZR 4/16, MDR 2017, 334; Palandt/Grüneberg, Vor § 311 BGB Rz. 25 f.; vgl. BGH v. 10.7.2015 – V ZR 206/14, CR 2016, 253, 255; so mit Blick auf die Anwendung der mietrechtlichen Kündigungsregelungen beim nach h.M. dem Werkvertragsrecht unterfallenden Webhosting LG Mannheim v. 7.12.2010 – 11 O 273/10, unveröffentlicht, juris Rz. 33 ff.; vgl. zur Ermittlung der anzuwenden Normen bei Typenkombinations- und Typverschmelzungsverträgen sowie typenfremden Verträgen ausführlich Kosmides, Providing-Verträge, S. 99 ff., 108 ff., 115 f. 160 Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 90 ff. 161 Vgl. Lutz/Weigl, CR 2014, 629, 630. 162 OLG Hamm v. 11.1.1993 – 31 U 107/92, Zahrnt ECR, OLG 115 = NJW-RR 1993, 1527; allgemein Hörl, ITRB 2004, 39; Hörl, ITRB 2004, 87; zu vorvertraglichen Beratungspflichten beim Leasingvertrag BGH v. 6.6.1984 – VIII ZR 83/83, CR 1986, 7. 163 OLG Hamm v. 11.1.1993 – 31 U 107/92, Zahrnt ECR, OLG 115 = NJW-RR 1993, 1527; zustimmend Redeker, IT-Recht, Rz. 601. 164 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1346; ausführlich Schneider/Günther, CR 1997, 389 ff.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 45 § 535 BGB

falls auf Schutzmaßnahmen gegenüber Gefahren beschränken, die aus der Mietsache selbst herrühren (dazu auch unter Rz. 38),165 ist dies kritisch zu hinterfragen. Gerade bei den RZ-basierten Providerleistungen, also dem Outsourcing und Cloud-Computing, scheint es entgegen dieser Auffassung166 richtiger zu sein, davon auszugehen, dass Maßnahmen wie etwa eine USV und Brandschutz geschuldet sind, auch wenn diese außerhalb der Mietsache im engeren Sinne ergriffen werden müssen. Sie mögen im Einzelfall sogar Hauptpflichten sein. Auch muss der Vermieter im Vorhinein auf sich abzeichnende Probleme mit der Konnektierung bei technischen Umstellungen hinweisen.167 Als weitere Nebenpflichten des Vermieters im Sinne von Leistungstreue- und Leistungssicherungspflichten kommen Aktualisierungspflichten in Betracht, wobei diese regelmäßig bereits von § 535 Abs. 1 Satz 2 umfasst sind.168 In Ansehung seiner allgemeinen Leistungstreue- und Leistungssicherungspflichten darf der Vermieter in die Software keine Sperren (zur Frage der Mängelhaftung § 536 Rz. 16) einbauen, zumal wenn erbrachte Leistungen gefährdet würden, um diese als Druckmittel in Form der Androhung einer kurzfristigen Sperrung der Software zum Abschluss eines Wartungsvertrags zu nutzen.169

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Daneben dürfte bei Providerleistungen bei Outsourcing, ASP und Cloud-Computing auch ohne Vereinbarung zumindest eine Nebenpflicht170 zum sorgsamen Umgang mit den Daten bestehen.171 Diese umfasst insbesondere die auf die Verfügbarkeit und Unversehrtheit abzielende Pflicht zum Schutz gegen einen Verlust und die Manipulation der Daten172 durch (1) die Gewähr der physischen Datensicherheit unter Berücksichtigung der Maßstäbe des BSIG, einschlägigen technischen Normen (insb. ISO/IEC 27002:2013)173, des Datenschutzrechts174 und des TMG,175 (2) die Sorge um einen Schutz gegen unerlaubte Datenzugriffe bzw. gar Angriffe unter Berücksichtigung eben dieser Maßstäbe176 und (3) ausreichende und angemessene Datensicherungsmaßnahmen.177 Daneben können auch ohne vertragliche Vereinbarung Nebenpflichten mit Blick auf den Schutz vor unerlaubten Zugriffen bzw. Datensicherheit im Sinne einer Vertraulichkeit178 sowie den datenschutzkonformen Umgang mit den Daten (zu Rechtsmängeln auf Basis von Datenschutzverstößen § 536 Rz. 21) bestehen. Schließlich wird vertreten, dass gegen Vertragsende als Nebenpflicht auch eine Verpflichtung zur Migrati-

45

165 Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 104: nicht Störungen von außen und externe Bedrohungen. 166 Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 104: kein Brandschutz geschuldet, weil Gefahr von nicht vermieteter Immobilie ausgeht. 167 Offenlassend, ob nicht sogar/„nur“ Mangel LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396 f. 168 Raue, CR 2018, 277, 278 ff. 169 BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, CR 1987, 358, 360; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1345. 170 Für die Einordnung als Hauptpflicht Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 231; sich (offenbar) anschließend Wicker, MMR 2014, 787, 788. 171 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1124: vertragswesentliche Kardinalpflicht; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 82. 172 Der Verlust aufgrund von Softwarefehlern, aufgrund des Ausfalls von Systemen und/oder mangelhafter Instandhaltungsmaßnahmen tangiert hingegen die Hauptleistungspflichten aus § 535 und führt mithin zur Mängelhaftung (vgl. Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 82 ff.). Gleiches gilt für die Unversehrtheit der Daten. 173 Dazu https://de.wikipedia.org/wiki/ISO/IEC_27002 (abgerufen am 20.10.2019). 174 Vgl. Art. 32 DSGVO. 175 Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 110 ff. 176 Heckmann, MMR 2006, 281, 283; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 147 ff. m.w.N. (auch zum Umfang der Pflichten etwa durch technische Schutzvorkehrungen und ein angemessenes Authentifizierungsverfahren). 177 Ausführlich Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 122 ff. m.w.N.; vgl. Borges/ Meents, Cloud Computing, Rechtshandbuch, § 4, Rz. 206; a.A. wohl etwa Wicker, MMR 2014, 715, 718: „… kann vereinbart werden …“; wohl auch Hoeren/Sieber/Holznagel/Redeker, Multimedia-Recht, Teil 12 Rz. 383: „Leistungen müssen im Einzelnen vereinbart werden“. Zur Art der Datensicherung Borges/Meents, Cloud Computing, Rechtshandbuch, § 4, Rz. 204 ff.; zu Umfang, Frequenz und Ort der Sicherung Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 139 f. 178 Heckmann, MMR 2006, 280, 281 f., 283.

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BGB § 535 Rz. 45 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags onsunterstützung bestehen könne,179 wenn nicht gar von einer Hauptpflicht auszugehen ist (dazu Rz. 42). In der Rspr. wurde die unbedachte Datenlöschung zum Vertragsende als Nebenpflichtverletzung qualifiziert.180 46

Derartige Nebenpflichten können, soweit sie wesentlich sind, auch Kardinalpflichten sein.181 Dies trifft auf die sich um den sicheren Umgang mit Daten rankenden Pflichten (Datensicherung, Zugriffsund Datenschutz)182 sowie auf die Pflicht zur Sorge um einen ausreichenden Virenschutz zu.183 d) Nachvertragliche Pflichten des Vermieters

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Auch ohne Regelung gibt es in Outsourcing-, ASP- oder Cloud-Verträgen einen Anspruch auf Herausgabe der Daten.184 Inhaltlich wird man zumindest die Übergabe in einem marktüblichen technischen Format fordern können (§ 243), während teils vertreten wird, es bestünde ggf. sogar nur ein Anspruch auf Beschreibung der Dateiformate und Herausgabe der Daten im gespeicherten Format.185 Die Pflicht geht damit über § 539 hinaus (s. dazu § 539 Rz. 9). Auch kann § 273 Abs. 1 ausgeschlossen sein, wenn die Daten existenziell sind.186 Schließlich ist mitunter § 667 heranzuziehen(s. dazu § 667 Rz. 6 f.).187 3. Pflichten des Mieters a) Pflicht zur Entrichtung der Miete (§ 535 Abs. 2)

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Die Hauptleistungspflicht des Mieters (§ 320) besteht in der Entrichtung der Miete. Regelmäßig handelt es sich dabei um eine Geldzahlung. Diese ist Gegenleistung für die Überlassung und Erhaltung des Mietgegenstands sowie auch für die im IT-Bereich regelmäßig korrespondierende Einräumung der Nutzungsrechte. Im engeren Sinne nicht Teil der Miete sind zusätzliche Leistungen etwa im Bereich der Beratung, der Schulung, des User-Supports (außerhalb der Gewährleistung) sowie der Anpassung und Weiterentwicklung der Software, so dass hier auch Raum für eine gesonderte Vergütung bliebe.188

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Bei der Vermietung von RZ-Flächen ist, soweit nicht anders vereinbart, die vom Vermieter geschuldete Energieversorgung mit dem Mietzins abgegolten.189

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Die Miete muss nicht zwingend in einer Geldzahlung bestehen. So sind auch anderweitige geldwerte Leistungen durchaus denkbar,190 wenn auch im IT-Recht zumindest im Unternehmensverkehr bisher eher untypisch. Diskutieren kann man, inwieweit Daten eine geldwerte Gegenleistung darstellen kön179 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1129; Schuster/Hunzinger, CR 2014, 277, 278 f. unter Hinweis auf OLG München v. 22.4.1999 – 6 U 1657/99, CR 1999, 484, 485: „für den Fall der Beendigung […] einen reibungslosen Übergang auf ein Fremdsystem zu ermöglichen“. 180 OLG Dresden v. 5.9.2012 – 4 W 961/12, CR 2013, 196 f. 181 Vgl. BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 137/83, MDR 1985, 225, 226; Ulmer/Brandner/Hensen/Christensen, AGBRecht, § 309 BGB Rz. 33, 35. 182 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1124; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 231; Wicker, MMR 2014, 787, 788. 183 Schneider/Günther, CR 1997, 389, 394. 184 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1129; Redeker, ITRB 2012, 165, 167; Schuster/Hunzinger, CR 2014, 277, 281; OLG München v. 22.4.1999 – 6 U 1657/99, CR 1999, 484 zu einem speziellen Rechenzentrumsvertrag; s. auch Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179, 2181. 185 Redeker, ITRB 2012, 165, 167 unter Hinweis auf OLG München v. 22.4.1999 – 6 U 1657/99, CR 1999, 484; vgl. dazu auch Splittgerber/Rockstroh, BB 2011, 2179, 2184 „Modalitäten der Vertragsbeendigung [sollten] genau festgelegt werden. Dies umfasst insbesondere die Art und Form der Übergabe der Daten (Online, Speichermedium, etc.), die Qualität der Daten …“. 186 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1129. 187 Dazu ausführlich Grützmacher, ITRB 2004, 260, 262; OLG Düsseldorf v. 17.10.2011 – 14e O 219/10, CR 2012, 801, 802 ff.; s. auch OLG Dresden v. 5.9.2012 – 4 W 961/12, CR 2013, 196 f. = ITRB 2013, 56: vertragliche Nebenpflichten und § 823 Abs. 2 i.V.m. § 303a StGB bei Löschung; a.A. Schuster/Hunzinger, CR 2014, 277, 280 f. 188 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 3. 189 LG Köln v. 8.5.2007 – 85 O 68/06, unveröffentlicht, juris Rz. 14. 190 BGH v. 20.5.1994 – V ZR 292/92, MDR 1994, 796; BGH v. 17.7.2002 – XII ZR 86/01, CR 2003, 255, 260; Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 71; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Zehelein, § 535 BGB Rz. 509 m.w.N.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 52 § 535 BGB

nen.191 Mangels persönlichkeitsrechtlichem Einschlag unproblematisch ist das bei nicht personenbezogen Daten, während personenbezogene Daten – zumeist des Nutzers – nicht ein gesichertes dauerhaftes, da widerrufliches Entgelt darstellen würden. Nach Umsetzung des Art. 3 Abs. 1 der Digitalen Inhalte-Richtline192 werden künftig bei Verbraucherverträgen aber auch personenbezogene Daten als Gegenleistung in Betracht kommen; insoweit bleibt abzuwarten, ob und wie die Richtlinie im Mietrecht umgesetzt wird. Auch übernommene Nebenkosten (etwa Betriebskosten) oder die Instandsetzungs- und Instandhaltungsleistungen, wie sie im IT-Recht wohl nur bei der RZ-Miete von Relevanz sind, unterfallen der Miete.193 Fehlt es an Geld- oder geldwerten Leistungen, liegt eine Leihe vor.194 Das gilt tendenziell bei unentgeltlichen Online-Spielen oder auch – regelmäßig werbefinanzierten – unentgeltlichen Apps195 und ASP196- bzw. Cloud197-Angeboten. Und auch bei unentgeltlichen open-source-basierten Cloud-Angeboten mag man in diese Richtung denken.198

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Die geldwerte Gegenleistung muss sich auf einen (befristeten) Leistungs- bzw. eben Mietzeitraum be- 52 ziehen. Es handelt sich insofern regelmäßig um befristete, d.h. in der Zukunft entstehende Forderungen.199 Abzugrenzen ist das Entgelt i.S.v. § 535 Abs. 2 einerseits von gestundeten Einmalzahlungen beim Ratenkauf,200 die sofort entstehen, und andererseits von den an weitere Bedingungen, insbesondere Bestellungen oder Nutzungen, geknüpften Zahlungen etwa beim Stücklizenzvertrag. Die Mietzahlungspflicht orientiert sich vor diesem Hintergrund oftmals primär an Zeitabschnitten sowie sekundär an der Nutzungsintensität. Hier wird sie insbesondere bei der Softwaremiete an die Nutzerzahl geknüpft. Diese Anknüpfung kann urheberrechtlich bedingt sein, muss dieses aber, wie etwa auch im Fall von named-usern, nicht sein.201 Sie kann auch an Kriterien wie die Leistungsfähigkeit der eingesetzten Systeme (Rechenleistung),202 verarbeitetes Datenvolumen oder die Anzahl durchgeführter Transaktionen anknüpfen.203 Gleiches gilt auch für die Vermietung im Rahmen von Providerleistungen.204 An den Nachweis derartiger vergütungspflichtiger Leistungen werden durch die Rspr. teils hohe Anforderung gestellt.205 Traffic soll selbst dann abrechenbar sein, wenn dieser auf DDoS-Attacken und dem

191 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 21, 29; zu personenbezogenen Daten Langhanke, Daten als Leistung, S. 96 ff.; Langhanke/Schmidt-Kessel, EuCML 2015, 218, 221 f.; Specht, JZ 2017, 763, 765 ff.; vgl. auch Metzger, AcP 216 (2016), 817, 849 f.: Preisgabe der Daten als Vertragspflicht; deutlicher mit Blick auf die Digitale Inhalte-RL Metzger, JZ 2019, 577, 580, der insofern feststellt, dass „die Bereitstellung von personenbezogenen Daten durch den Verbraucher die gleichen vertraglichen Ansprüche gegen den Anbieter auslöst, wie die Zahlung eines Entgelts“. 192 Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen, ABl. EU Nr. L 136 v. 22.5.2019, S. 1 ff.; s. auch Metzger, JZ 2019, 577, 580. 193 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 72. 194 Vgl. AG Karlsruhe v. 19.5.2015 – 8 C 377/14, CR 2015, 569 f.: typengemischter Vertrag, der sowohl leihvertragliche wie auch auftragsrechtliche Elemente aufweist. 195 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 29 f., die auch erwägt, ob überhaupt ein Rechtsbindungswille besteht. 196 Vgl. Röhrborn/Sinhart, CR 2001, 69, 71. 197 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1163; Wicker, MMR 2014, 715, 717. 198 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1105 m.w.N.; Kosmides, Providing-Verträge, S. 250; mitunter fehlt es hier aber sogar am Rechtsbindungswillen, so dass nur ein Gefälligkeitsverhältnis vorliegt (vgl. dazu Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69c UrhG Rz. 110; auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 29; Grigoleit, VersR 2018, 769, 786). 199 BGH v. 4.11.2009 – XII ZR 170/07, MDR 2010, 195; BGH v. 17.9.2009 – IX ZR 106/08, MDR 2010, 290; Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 70. 200 Der Ratenkauf wiederum ist vom in der Softwarebranche nicht unüblichen Mietkauf abzugrenzen. 201 H.M., vgl. Grützmacher, ITRB 2017, 141, 142 m.w.N. 202 BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, CR 2003, 323, 324 f. = ITRB 2003, 262 – CPU-Klausel. 203 Vgl. Grützmacher, ITRB 2017, 141, 142; vgl. Kosmides, Providing-Verträge, S. 249. 204 So etwa Abrechnung von Traffic von vermieteten Webservern (OLG Düsseldorf v. 26.2.2003 – 18 U 192/02, CR 2003, 581 f.; OLG Köln v. 14.1.2011 – 19 U 106/07, unveröffentlicht, juris Rz. 54). 205 OLG Düsseldorf v. 26.2.2003 – 18 U 192/02, CR 2003, 581 f.; OLG Köln v. 14.1.2011 – 19 U 106/07, unveröffentlicht, juris Rz. 57 ff.: abstrakte Funktionsfähigkeit des Systems zur Abrechnung reicht nicht.

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BGB § 535 Rz. 52 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags insofern durch Dritte verursachten, erhöhten Datentransfer beruht.206 Auch wenn insoweit keine direkte Anknüpfung an Zeitabschnitte mehr erfolgt, handelt es sich tendenziell um Miete (dazu Rz. 25).207 53

Regelmäßig, aber nicht zwingend erfolgt die Zahlung für wiederkehrende Zeitabschnitte (s. aber zum AGB-Recht § 579 Rz. 4 f.). Auch Einmalzahlungen (für einen beschränkten) Mietzeitraum sind denkbar.208 Grenzfälle sind die in der Softwarebranche durchaus üblichen (Voraus-)Zahlungen für ein Jahr ohne Verlängerungsoption, bei denen letztlich immer eine Neubestellung erforderlich ist. Der BGH geht in seiner urheberrechtlichen Entscheidung Green-IT (dazu schon Rz. 25) sogar davon aus, dass in dieser Situation Kaufrecht anzuwenden sei.209 In der Literatur ist das zu Recht auf Ablehnung gestoßen.210 Nicht im engeren Sinne Mietzinszahlung sind zusätzliche Einmalvergütungen für Nebenleistungen wie etwa die Anpassung der Software oder die Einrichtung der Nutzer.211 Inwieweit solche Zahlungen, wenn sie überfällig sind, im Rahmen eines eventuellen Kündigungsgrunds nach § 543 Abs. 2 Nr. 3 zu berücksichtigen sind, ist offen.

54

Die Fälligkeit ergibt sich mangels anderweitiger Abrede aus §§ 556b Abs. 1, 579 (s. dazu § 579 Rz. 1). Monats-, quartalsweise oder halb- bzw. ganzjährliche Vorauszahlungen sind durchaus üblich (s. zur AGB-Konformität derartiger Regelungen Rz. 25). Bei einer (einzigen) Vorauszahlung für mehrere Jahre ist hingegen von einem Kaufvertrag mit im Zweifel AGB-rechtswidriger Kündigungsregelung oder von einem Mietvertrag mit AGB-rechtswidriger Vorfälligkeitsklausel auszugehen (vgl. Rz. 26 und Rz. 25). Für die Verjährung gelten die §§ 195, 199.

55

Mieterhöhungen können individuell relativ unproblematisch im Voraus vereinbart werden. Eine solche Vereinbarung ist jedoch am Preisklauselgesetz zu messen. § 1 Abs. 1 PreisKG darf die Miete grundsätzlich nicht unmittelbar und selbsttätig durch den Preis oder Wert von anderen Gütern oder Leistungen bestimmt werden, die mit dem Mietgegenstand oder den mit der Miete verbundenen Leistungen nicht vergleichbar sind. Erlaubt sind daher konkret im Vorhinein vereinbarte prozentuale oder gar konkret bezifferte Erhöhungen. Zulässig sind, vom Verbot des § 1 Abs. 1 PreisKG abweichend nach § 1 Abs. 2 PreisKG weiter Leistungsvorbehaltsklauseln (Nr. 1), die hinsichtlich des Ausmaßes der Änderung der geschuldeten Miete einen Ermessensspielraum lassen, der es ermöglicht, die neue, erhöhte Miete nach Billigkeitsgrundsätzen zu bestimmen (s. auch § 315 Rz. 24 ff., 41 ff.), Spannungsklauseln (Nr. 2), bei denen die in ein Verhältnis zueinander gesetzten Güter oder Leistungen im Wesentlichen gleichartig oder zumindest vergleichbar sind, sowie Kostenelementeklauseln (Nr. 3), nach denen die geschuldete Miete insoweit von der Entwicklung der Preise oder Werte für Güter oder Leistungen abhängig gemacht wird, als diese die Selbstkosten des Vermieters bei der Erbringung der Gegenleistung unmittelbar beeinflussen.212 Zulässig können insofern im Rahmen des IT-Rechts sog. Indexklauseln sein;213 Voraussetzung ist dabei natürlich, dass an einen sachgerechten Index angeknüpft wird. Klauseln, die im Rahmen der Preisanpassung lediglich zu einer Ermäßigung der Geldschuld führen können, sind nach § 1 Abs. 2 Nr. 4 PreisKG unproblematisch. b) Nebenpflichten des Mieters (§ 241)

56

Der Mieter ist, wie § 541 zeigt, zum vertragsgemäßen Gebrauch verpflichtet (s. auch § 543 Abs. 2 Nr. 2). Der Mieter darf insoweit keine vertraglich vereinbarten Nutzungsbeschränkungen missachten.214 Er darf etwa eine Einzelplatzversion nicht im Netzwerkbetrieb nutzen oder Programme auf 206 207 208 209 210 211 212 213 214

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AG Gelnhausen v. 6.10.2005 – 51 C 202/05, CR 2006, 208 f. Vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 86. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 21. BGH v. 19.3.2015 – I ZR 4/14, CR 2015, 711, 712 = ITRB 2015, 277 – Green-IT; noch deutlicher die Vorinstanz OLG Frankfurt v. 12.11.2013 – 11 U 32/12, Rz. 32 f., juris. Etwa Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 14. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 87. Dazu ausführlich mit Klauselvorschlägen Becker/Hecht, ITRB 2008, 251; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 268 ff.; s. auch Hecht, ITRB 2006, 118. Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 90, 97 ff.; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 270. Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 571.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 58 § 535 BGB

mehreren vernetzten Rechnern installieren und so eine zeitliche Mehrfachnutzung ermöglichen, die vereinbarte Nutzerzahl überschreiten oder entgegen § 540 Abs. 1 Satz 1 (dazu § 540 Rz. 5) die Software untervermieten.215 Demgegenüber besteht eine Gebrauchs- oder Betriebspflicht regelmäßig nicht.216 Weiter bestehen als Nebenpflichten Erhaltungs-, Verkehrssicherungs- und Obhutspflichten (s. auch die Anzeigepflicht nach § 536c, dazu § 536c Rz. 1, 3).217 Die sonst im Mietrecht übliche Pflicht zur Duldung der Durchführung von Instandhaltungsmaßnahmen218 oder der Besichtigung bei Verdacht des vertragswidrigen Gebrauchs dürfte im IT-Recht nur ausnahmsweise gegeben sein,219 nämlich bei der Hardware- und bei der Rechenzentrumsflächenmiete. Solche Maßnahmen bzw. Besichtigungen dürfen nie zur Unzeit erfolgen.220 Sie dürfen aber auch nicht so ausgeweitet werden, dass sie in einer weitergehenden Durchsuchung nicht vertragsgegenständlicher Räume und Bereiche münden.221 Demgegenüber wird der Vermieter wohl die heute durchaus branchenübliche Ermöglichung der Fernwartung zumindest soweit einfordern können, wie diesem nicht die IT-Sicherheit oder der Daten- und Geheimnisschutz entgegenstehen.222 c) Vertraglich vereinbarte IT-spezifische Haupt- und Nebenpflichten Mitunter finden sich weitere, vertraglich vereinbarte IT-spezifische Haupt- und Nebenpflichten. So 57 finden sich in Softwarelizenzverträgen regelmäßig Pflichten, Software nicht auf Systemen mit höherer Kapazität zu nutzen. Derartige Beschränkungen, etwa in Form sog. CPU-Klauseln oder der Begrenzung nach Anzahl von Cores, stellen keine urheberrechtlichen, sondern vertragliche Beschränkungen dar,223 führen also zu dem Vertragspartner auferlegten Unterlassungspflichten. Im Zweifel vertragliche und nicht mehr aus § 536c folgende Verpflichtungen sind sog. Schutzklauseln,224 d.h. Klauseln, „alle Vorkehrungen zu treffen, um den unbefugten Zugang Dritter zu dem Lizenzprogramm zu verhindern“.225 Die vertragliche Pflicht zu aktivem Schutz des Lizenzprogramms schließt die Pflicht zur Duldung von geeigneten Schutzmaßnahmen des Softwareherstellers ein, soweit dadurch nicht berechtigte Nutzungsinteressen des Lizenznehmers unzumutbar beeinträchtigt werden. Diskutiert wird weiter, inwieweit dem Mieter untersagt werden kann, die Software oder Systeme mit solcher/solchen von Dritten zu verbinden,226 bzw. zumindest nicht ohne zusätzliche Vergütung für eine sog. indirekte Nutzung.227 Bei Software können zudem Auditpflichten vereinbart sein. In Frage stehen dabei jeweils die AGB-rechtlichen Grenzen (zur Wirksamkeit in AGB § 307 Rz. 49).228 4. Einrede des nicht erfüllten Vertrags (§ 320 Abs. 1) Da die Hauptleistungspflichten des Mieters und des Vermieters sich synallagmatisch gegenüberstehen, ist es dem Mieter vorbehaltlich abweichender Abreden etwa erlaubt, seine Mietzahlung in gebührendem Umfang zurückzuhalten, wenn die Mietsache nicht oder nicht im gebrauchsfähigen bzw. in einem mangelhaften Zustand überlassen wird. Andersherum kann der Vermieter diese zwar mangels Sachherrschaft nicht bei der „physischen“ Überlassung der Software zurückhalten bzw. gar weg215 Beispiele von Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1349 f. 216 Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 84 f. 217 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1351; dazu allgemein näher Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 81 ff. 218 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1353; weitergehend wohl Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 572. 219 Vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1353 f. 220 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1353. 221 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1354. 222 Vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 165 f. 223 BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, CR 2003, 323, 324 f. = ITRB 2003, 262 – CPU-Klausel. 224 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1352; s. auch Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 573. 225 BGH v. 3.6.1981 – VIII ZR 153/80, NJW 1981, 2684, 2685. 226 Redeker, IT-Recht, Rz. 616. 227 Dabei handelt es sich je nach Gestaltung um eine urheberrechtliche oder vertragliche Beschränkung oder auch nur um eine schlichte Vergütungshandlung; dazu auch Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69c UrhG Rz. 8 sowie § 69d UrhG Rz. 11, 48, 54. 228 Dazu Wandtke/Bullinger/Grützmacher, Vor §§ 69a UrhG Rz. 38 m.w.N.

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58

BGB § 535 Rz. 58 Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags nehmen (§§ 858, 862), sehr wohl aber grundsätzlich bei ASP- oder SaaS-Angeboten die entsprechenden Leistungen einstellen oder sperren.229 Zu Recht fordert Roth-Neuschild hier analog § 45k TKG eine vorherige Fristsetzung mit Sperrungsandrohung.230 Zudem dürften unverhältnismäßige Sperren auch treuwidrig (§§ 320 Abs. 2, 242) sein.231 Teils werden Sperren auch auf das Zurückbehaltungsrecht nach § 273 gestützt.232

III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes Recht 59

Da die Erhaltungspflichten des Abs. 1 Satz 2 kein zwingendes Recht darstellen, ist es zumindest in individuellen Verträgen möglich, die Gebrauchstauglichkeit vertraglich zu verkürzen und so oder auch direkt die Aktualisierungspflicht zu beschränken oder gar auszuschließen.233 2. AGB-Recht a) Änderungen des Mietgegenstandes

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Rechte des Vermieters zu Änderungen des Mietgegenstandes sind in AGB nur zulässig, soweit hierdurch die Nutzbarkeit des Mietgegenstandes nicht wesentlich beeinträchtigt wird.234 Insoweit sind dann auch Verpflichtungen zur Nutzung von Updates zulässig.235 Besonders problematisch hingegen sind Verpflichtungen zur Änderung, die dazu führen, dass der Mieter sonstige Software oder Hardware ebenfalls ändern muss.236 Anderseits müssen auch solche Änderungen mitunter im Sinne des technischen Fortschritt zulässig sein. Das gilt erst recht für Cloud-Angebote, die sonst gar nicht fortentwickelt werden können. Wo die Rechtsprechung hier die Grenzen ziehen wird, bleibt abzuwarten. Vertragliche Änderungsverbote des Mieters stoßen AGB- wie urheberrechtlich an ihre Grenzen, wo sie Mängelbeseitigungsrechte des Mieters237 bzw. das gesetzlich zwingende Recht zur Fehlerbehebung nach § 69d Abs. 1 UrhG negieren.238 b) Erhaltungs- und Aktualisierungspflichten

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Die Erhaltungs- und Aktualisierungspflichten nach Abs. 1 Satz 2 können schon in Ansehung von § 307 kaum eingeschränkt werden; erst recht gilt das in Ansehung der AGB-rechtlichen Transparenzpflichten.239 Spiegelbildlich ist eine weitere Pflegevergütung für bereits im Rahmen der Erhaltungspflicht geschuldete Tätigkeiten (insbesondere der Mängelbeseitigung) unwirksam.240 Zu Recht wird weiter etwa bezweifelt, dass den Pflichten zu Schönheitsreparaturen beim Wohnraum entsprechende Instandhaltungspflichten auf den Mieter übertragen werden können, weil der Mieter die Software ja nicht abnutzt bzw. beschädigt und für die Instandhaltung faktisch auch der Quellcode beim Mieter vorliegen müss-

229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240

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Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 106. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 106. Vgl. dazu allgemein Palandt/Grüneberg, § 320 BGB Rz. 10. OLG Köln v. 14.1.2011 – 19 U 106/07, unveröffentlicht, juris Rz. 48. Raue, CR 2018, 277, 283 f. Vgl. auch Redeker, IT-Recht, Rz. 600: nur, soweit durch die Änderungen die Gebrauchsmöglichkeiten einschließlich des Betriebs von mit der Mietsache verbundenen Anlagen nicht beeinträchtigt werden. Vgl. Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 580. Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 580. Redeker, IT-Recht, Rz. 600; Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 580. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69d UrHG Rz. 56. Vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 188; anders Raue, CR 2018, 277, 283 f., der unter Hinweis auf Fuchs in Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, § 307 BGB Rz. 356 nur die Transparenzpflichten als Schranke sieht. Schneider, Handbuch EDV-Rechts, Kap. M Rz. 403 f.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 79, 188.

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Inhalt und Hauptpflichten des Mietvertrags

Rz. 65 § 535 BGB

te.241 Demgegenüber dürfe es insbesondere für Software auch in AGB zulässig sein, zur Erfüllung des Mängelbeseitigungsrechts auch eine Neuauslieferung (dazu Rz. 35) zu gestatten, soweit die Aufwendungen für den Mieter bei der Neuinstallation zumutbar bleiben.242 Weiter dürften auch die oftmals in SLA zur Fehlerbeseitigung vereinbarten Reaktions- und Fehlerbeseitigungszeiten der AGB-Kontrolle nach § 307 unterliegen; zu prüfen ist, welche Zeiten im Sinne bzw. in Abweichung der unverzüglichen gesetzlichen Beseitigungspflicht noch als angemessen anzusehen sind. Schließlich wird teils vertreten, die Erhaltungspflicht dürfe auch nicht für unvorhersehbare Ereignisse (etwa Gesetzesänderungen) ausgeschlossen werden.243 Hieran mag man aber zweifeln, weil für diese die Gegenleistung unkalkulierbar ist; die Lösung dürfte insofern eher in § 313 liegen (dazu § 313 Rz. 15 f.). c) Fälligkeit und Vorauszahlung der Miete Zur Zulässigkeit der Abbedingung der Fälligkeit und Vorauszahlung der Miete wird auf § 579 Rz. 4 verwiesen.

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d) Mieterhöhungen und Upgradeklauseln Klauseln zur Mieterhöhung dürften regelmäßig AGB-rechtswidrig sein. De facto lassen sich Preisanpassungsklauseln in Ansehung der extrem strengen Rechtsprechung nicht AGB-rechtskonform gestalten.244 Keinesfalls darf mit diesen noch ein zusätzlicher Gewinn erzielt werden können.245 Lediglich Kostenelemente-Klauseln tragen aufgrund jüngerer BGH-Rspr. eine gewisse Chance, rechtskonform gestaltet werden zu können.246 Zulässig sind laut der Rspr. weiter im gewissen Rahmen auch sog. Upgrade- bzw. CPU-Klauseln, die eine zusätzliche Vergütung bei Verwendung anderer Rechner mit größerer Kapazität (Upgrades) fordern.247

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e) Nebenpflichten Auch exzessive Schutzklauseln (dazu Rz. 57), die dem Mieter unzumutbare organisatorische Pflichten zum Softwareschutz auferlegen, und weitergehende Besichtigungsrechte sind nach § 307 unwirksam.248

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IV. Verweise/Kontext Die Erhaltungspflichten des § 535 bilden letztlich auch die primäre Stufe der Gewährleistung (Mangelbeseitigung) und stehen daher in engem Kontext mit §§ 536, 536a.

241 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 80; vgl. Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 402. 242 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 162. 243 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 188. 244 Etwa zur Vermietung von Fernmeldeanlagen BGH v. 12.7.1989 – VIII ZR 297/88, CR 1990, 31, 32 ff.; zu Internetangeboten BGH v. 11.10.2007 – III ZR 63/07, CR 2008, 104 ff. = ITRB 2008, 57; s. für langfristige Lieferverträge im Unternehmensverkehr auch BGH v. 16.1.1985 – VIII ZR 153/83, ZIP 1985, 284, 285; dazu allgemein Fechtner/Witzel, CR 2016, 808 ff.; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 276 ff. 245 BGH v. 21.9.2005 – VIII ZR 38/05, WM 2005, 2335, 2336 f.; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 95. 246 BGH v. 25.11.2015 – VIII ZR 360/14, WM 2016, 658; dazu Fechtner/Witzel, CR 2016, 808, 810 ff.; vgl. auch Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 280 f. 247 BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, CR 2003, 323, 324 f. = ITRB 2003, 262 – CPU-Klausel; zustimmend Metzger, NJW 2003, 1994; Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 535, 576; dazu im Detail Grützmacher, ITRB 2003, 279, 280; vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69d UrhG Rz. 43, 51. 248 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1352, 1354.

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BGB § 536 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln

§ 536 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln (1) Hat die Mietsache zur Zeit der Überlassung an den Mieter einen Mangel, der ihre Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch aufhebt, oder entsteht während der Mietzeit ein solcher Mangel, so ist der Mieter für die Zeit, in der die Tauglichkeit aufgehoben ist, von der Entrichtung der Miete befreit. Für die Zeit, während der die Tauglichkeit gemindert ist, hat er nur eine angemessen herabgesetzte Miete zu entrichten. Eine unerhebliche Minderung der Tauglichkeit bleibt außer Betracht. (1a) […] (2) Absatz 1 Satz 1 und 2 gilt auch, wenn eine zugesicherte Eigenschaft fehlt oder später wegfällt. (3) Wird dem Mieter der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache durch das Recht eines Dritten ganz oder zum Teil entzogen, so gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend. (4) […] I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachmängel (§ 536 Abs. 1) . . . . . . . . . aa) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Bestimmung der Soll-Beschaffenheit . (2) Abgleich mit der Ist-Beschaffenheit . . bb) IT-spezifische Mängel . . . . . . . . . . b) Rechtsmängel (§ 536 Abs. 3) . . . . . . . . 2. Aufhebung oder erhebliche Minderung der vertragsgemäßen Gebrauchstauglichkeit (§ 536 Abs. 1) oder Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft (§ 536 Abs. 2) . . . . . . . . . a) Aufhebung oder erhebliche Minderung der vertragsgemäßen Gebrauchstauglichkeit . b) Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft (§ 536 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zusicherungsfähige Eigenschaft . . . . bb) Zusicherung . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 2 4 4 4 5 6 9 10 20

3.

4.

5. 22 23 26 27 28

6. III. 1. 2. IV.

cc) Folge des Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorhandensein zur Zeit der Überlassung an den Mieter oder Entstehung während der Mietzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorhandensein zur Zeit der Überlassung . b) Entstehung während der Mietzeit . . . . . c) Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Mieters von den Mängeln bei Vertragsschluss oder Annahme (§ 536b) . . Kein Ausschluss mangels unverzüglicher Anzeigen (§ 536c) . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen: gesetzliche Minderung . . . . Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . .

V. Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . .

32 33

34 35 36 38

39 40 41 43 44 45 49 51

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Backu, Softwareerstellung und Dokumentation – Die Grundsätze des „Ob“ und „Wie“ einer Dokumentation bei Erstellung von Individualsoftware, ITRB 2001, 248; Bartsch, Rechtsmängelhaftung bei der Überlassung von Software, CR 2005, 1; Bieber, Mängel und Mietminderung in der Gewerbe- und Wohnraummiete, NZM 2006, 683; Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Braun, Die Zulässigkeit von Service-Level-Agreements – am Beispiel der Verfügbarkeitsklausel, 2006; Bräutigam, SLA: In der Praxis alles klar? – Optimale Konkretisierung von Umfang und Qualität geschuldeter Einzelleistungen beim IT-Outsourcing, CR 2004, 248; Bub/Treier (Hrsg.), Geschäfts- und Handbuch der Wohnraummiete, 5. Aufl. 2019; Derleder, Mängelrechte des Wohnraummieters nach Miet- und Schuldrechtsreform, NZM 2002, 676; Dörner, Gewährleistung für Softwaremängel, Jura 1993, 578; Emmerich, Neues Mietrecht und Schuldrechtsmodernisierung, NZM 2002, 362; Feil/Leitzen, VB-IT Überlassung Typ B – Der neue IT-Beschaffungsvertrag für die befristete Überlassung von Standardsoftware, CR 2002, 480; Grützmacher, Die juristische Beurteilung von DRM-Maßnahmen und Sperren im Rahmen verschiedener Lizenzmodelle – Teil 2, Zulässigkeit der Absicherung von Nutzungs- und Weitergabebeschränkungen, ITRB 2015, 141; Heussen, Unvermeidbare Softwarefehler, Neue Entlastungsmöglichkeiten für Hersteller, CR 2004, 1; Heussen/Schmidt, Inhalt und rechtliche Bedeutung der Normenreihe DIN/ISO 9000 bis 9004 für die Unternehmenspraxis, CR 1995, 321-333; Hilber, Handbuch Cloud Computing, 2014; Jobke, Produktaktivierung und Registrierung bei Software für den Massenmarkt, 2010; Kilian, Vertragsgestaltung und Mängelhaftung bei Computersoftware, CR 1986, 187; Kilian/Heussen (Hrsg.), Computerrechts-Handbuch (Loseblatt-Ausgabe), 33. EL Februar 2017; Koch, Handbuch Software- und Datenbank-Recht, 2003; Koch, Urheberrechtliche Zulässigkeit technischer Beschränkungen und Kontrolle der Software-

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Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln

Rz. 3 § 536 BGB

Nutzung, CR 2002, 629; Kremer, Vertragsgestaltung bei Anpassung von Software wegen Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 143; Lehmann (Hrsg.), Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen: Urheberrecht, Patentrecht, Warenzeichenrecht, Wettbewerbsrecht, Kartellrecht, Vertrags- und Prozessrecht, Produzentenhaftung, 2. Aufl. 1993; Lögering, Rückforderung überzahlter Miete nach Minderung, NZM 2010, 113; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Peter, Verfügbarkeitsvereinbarungen beim ASP-Vertrag – Beschreibung der Leistung oder mängelhaftungsbeschränkende Abrede?, CR 2005, 404; Redeker, ITRecht, 6. Aufl. 2017; Runte, Produktaktivierung – Zivilrechtliche Fragen der „Aktivierung“ von Software, CR 2001, 657; Schack, Die Zusicherung beim Kauf, AcP 185 (1985), 333; Schneider (Hrsg.), Handbuch EDV-Recht, 5. Aufl. 2017; Schoengarth, Application Service Providing, Vertragsgestaltung und Risiken, insbesondere Betriebsausfallschäden, 2005; Scholz, Gewährleistungsansprüche bei Mängeln im Hard- und Softwarebereich, MDR 1989, 107; Schuster, Rechtsnatur der Service Level bei IT-Verträgen – Wie die Gestaltung von Service Levels die Leistung, die Gewährleistung und den Vertragstyp konkretisiert, CR 2009, 205; Schuster/Hunzinger, Pflichten zur Datenschutzeignung von Software – Wie die Pflichten zur Verwendung datenschutzkonformer IT-Lösungen auf die vertragliche Sollbeschaffenheit von Software durchschlägt, CR 2017, 141; Stadler, Garantien in IT-Verträgen nach der Schuldrechtsmodernisierung – Vertragstypübergreifende Darstellung der verschiedenen Garantieformen, Abgrenzungsfragen, Rechtsmängelhaftung und grundlegende Haftungsfolgen, CR 2006, 77; Ulmer, D., Elektronischer Ersatz für Handbücher, ITRB 2001, 64; Wicker, Haftet der Cloud-Anbieter für Schäden beim Cloud-Nutzer? – Relevante Haftungsfragen in der Cloud, MMR 2014, 715.

I. Allgemeines 1. Einführung Dem Mietrecht fehlt eine zentrale Norm zur Bestimmung des Mangelbegriffs, wie sie im Kaufrecht mit den §§ 434, 435 und im Werkvertragsrecht mit § 633 besteht; auch fehlen den §§ 437 und 634 vergleichbare Normen, die die Rechte des Mieters auflisten. Die Schuldrechtsreform 2002 hat dieses nicht geändert.1 Gleichwohl ähneln die §§ 536 ff. dem kauf- und werkvertraglichen Mangelrecht, wobei an die Stelle des Rücktritts bei der Miete die Kündigung (§ 543) tritt. Darüber hinaus kennt das Mietrecht die Garantiehaftung für ursprüngliche Mängel (§ 536a Abs. 1, 1. Alt.). Ein wesentlicher Unterschied zum Kauf- und Werkvertragsrecht ist aber, dass im Mietrecht ausgenommen bei zugesicherten Eigenschaften für einen Mangel die Tauglichkeit erheblich gemindert sein muss, unerhebliche Fehler also keinen Mangel darstellen (s. Rz. 23). Ein Unterschied der Minderungsregelung des § 536 liegt darin, dass diese kraft Gesetzes eintritt (s. Rz. 41).

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Der Gewährleistung kommt im Mietrecht schon deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie während der Laufzeit des Vertrags (und damit der Nutzungsdauer der Software bzw. IT-Systeme) permanent besteht. Dieses wirft die Frage auf, inwieweit es neben der Gewährleistung noch einer Wartung bedarf (dazu § 535 Rz. 19, 38 f., 61). Auf der anderen Seite führt dieses auch dazu, dass der Anspruch auf Erfüllung trotz Kenntnis des Mieters von einem Mangel bei Vertragsschluss neben dem Minderungsrecht greift und dem Vermieter sogar in den Grenzen von § 242 nach § 320 verzugs- und damit kündigungsverhindernd entgegengehalten werden kann.2

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Die Regelungen des § 536 Abs. 1–3 gelten prinzipiell für alle Mietverhältnisse. Die Gewährleistung ist abzugrenzen vom allgemeinen Leistungsstörungsrecht der §§ 275 ff. Die §§ 536 ff. gelten vorrangig.

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1 Zu deren Einfluss auf die §§ 536, 536a ausführlich Emmerich, NZM 2002, 362 ff. 2 BGH v. 18.4.2007 – XII ZR 139/05, MDR 2007, 1065, 1066 f.; BGH v. 7.5.1982 – V ZR 90/81, MDR 1982, 836, 837.

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BGB § 536 Rz. 4 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln

II. Norminhalt 1. Mangel a) Sachmängel (§ 536 Abs. 1) 4

Wie im Kauf- und Werkvertragsrecht liegt ein Mangel im Mietrecht grundsätzlich dann vor, wenn die Ist- hinter der Soll-Beschaffenheit zurückbleibt (dazu Rz. 6 ff.) und dieses die Tauglichkeit der Mietsache erheblich beeinträchtigt (dazu Rz. 23 f.). Es gilt insofern ein subjektiver Mangelbegriff.3 aa) Begriff

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Ein Sachmangel liegt bei einer nachteiligen Abweichung der Ist- von der Soll-Beschaffenheit vor, soweit dadurch die Tauglichkeit der Mietsache zum konkret vorausgesetzten vertragsgemäßen Gebrauch ganz aufgehoben oder erheblich gemindert wird.4 Zur Bestimmung von Mängeln sind daher auch für IT-Sachverhalte die Soll- und die Ist-Beschaffenheit festzustellen und zu vergleichen. (1) Bestimmung der Soll-Beschaffenheit

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Dem subjektiven Mangelbegriff entsprechend sind für die Bestimmung der Soll-Beschaffenheit primär die vereinbarten Eigenschaften, mithin die vertraglich versprochene Beschaffenheit entscheidend.5 Diese resultiert bei Software insbesondere aus der Produktbeschreibung; das ist regelmäßig das Handbuch bzw. die Programmbeschreibung.6 Bei Providerleistungen kann die Soll-Beschaffenheit zudem durch das SLA beschrieben sein.7 Das gilt etwa für Verfügbarkeitsangaben in Prozent.8 Abzugrenzen sind derartige bloße Beschreibungen oder Vereinbarungen der Soll-Beschaffenheit von Zusicherungen i.S.v. Abs. 2 oder gar selbstständigen Garantieerklärungen (dazu Rz. 26) einerseits und Haftungsbeschränkungen in Form von Nebenabreden andererseits (dazu näher Rz. 46).9 Beschaffenheitsvereinbarungen können auch durch schlüssiges Verhalten (konkludent) getroffen werden.10

7

Fehlt es an einer ausdrücklichen Beschaffenheitsvereinbarung, ist sekundär auf die Verkehrsanschauung und damit ggf. auf den Standard zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses (bei vergleichbaren Mietobjekten) bzw. ggf. auch technische Normen (etwa DIN-Normen)11 abzustellen.12 Entscheidend sind3 St. Rspr. etwa BGH v. 1.7.1981 – VIII ZR 192/80, MDR 1982, 13; BGH v. 16.2.2000 – XII ZR 279/97, NJW 2000, 1714, 1715; BGH v. 4.5.2005 – XII ZR 254/01, MDR 2000, 821; BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, MDR 2010, 1103; BGH v. 15.12.2010 – XII ZR 132/09, MDR 2011, 14. 4 Vgl. auch Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 592, der den Unterschied dieser Zweistufigkeit im Vergleich zum Kauf- und Mietrecht hervorhebt und kritisiert, dass die weiteren Kategorien „von der vereinbarten Beschaffenheit bis zum üblichen Gebaruch“ fehlten. 5 St. Rspr., etwa BGH v. 6.10.2004 – VIII ZR 355/03, MDR 2005, 743, 743; BGH v. 4.5.2005 – XII ZR 254/01, MDR 2005, 975, 976; BGH 23.9.2009 – VIII ZR 300/08, NJW 2010, 1133, 1134 = WuM 2009, 659, 660; BGH v. 19.12.2012 – VIII ZR 152/12, MDR 2013, 262, 263; BGH v. 29.4.2015 – VIII ZR 197/14, MDR 2015, 819 f.; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1457. 6 Vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 150: Programmbeschreibung auch wenn diese nur im Laufe der Vertragsverhandlungen ausgetauscht wurde. 7 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1108: „Leistungsbeschreibung“; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 201 ff., insb. Rz. 203: „Verfügbarkeit … als Bestandteil der Leistungsbeschreibung“. 8 Vgl. zur überzeugenden Herleitung, dass es sich um Leistungsabreden und nicht um Beschränkungen von Leistungsversprechen handelt, Peter, CR 2005, 404, 406 ff. 9 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1108 f. 10 BGH v. 23.9.2009 – VIII ZR 300/08, WuM 2009, 659, 660; BGH v. 29.4.2015 – VIII ZR 197/14, MDR 2015, 819 f.; a.A. zum alten Kaufrecht Schack, AcP 185 (1985), 333, 352. 11 Zu den im IT-Bereich relevanten Normen etwa Heussen/Schmidt, CR 1995, 321 ff.; Koch, Handbuch Softwareund Datenbank-Recht, Berlin/Heidelberg 2003, S. 28 ff.; zu beachten ist, dass DIN-Normen de facto sogar hinter den anerkannten Regeln der Technik zurückbleiben können, vgl. BGH v. 14.5.1998 – VII ZR 184/97, NJW 1998, 2814, 2815; BGH v. 26.7.2004 – VIII ZR 281/03, NJW 2004, 3174. 12 BGH v. 6.10.2004 – VIII ZR 355/03, MDR 2005, 743, 743; BGH v. 23.9.2009 – VIII ZR 300/08, NJW 2010, 1133, 1134; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 3.

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Rz. 12 § 536 BGB

dabei, was sich für das IT-Recht entsprechend hören lässt, im Wohn- und Gewerberaummietrecht der Standard zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses.13 Teils wird aber auch auf die Verkehrsanschauung zum Zeitpunkt der Errichtung bzw. Herstellung der Mietsache abgestellt.14 Hintergrund ist, dass die Anpassung an neue Standards, wie es auch im IT-Umfeld der Fall sein kann, über Gebühr teuer sein kann. Daneben wird man, auch wenn dieses im Gesetz nicht geregelt ist,15 den üblichen, also den gewöhnlichen Gebrauch mit heranziehen.16 Unterschiede mit Blick auf die Ermittlung der Soll-Beschaffenheit bestehen im Vergleich zum Kaufrecht insofern, als es an einer Norm mangelt, die klarstellt, dass auch werbliche Aussagen des Vermieters zu berücksichtigen sind (s. demgegenüber im Kaufrecht § 434 Abs. 1 Satz 3; dazu § 434 Rz. 26 ff.). Allerdings ist der Unterschied in der Praxis mitunter nicht allzu groß, weil es auch im Mietvertragsrecht (entsprechend § 434 Abs. 1 Satz 3) nicht ausgeschlossen erscheint, Werbung des Herstellers bzw. Vermieters (etwa in Prospekten oder elektronischen Präsentationen) für die Bestimmung der Soll-Beschaffenheit heranzuziehen.17

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(2) Abgleich mit der Ist-Beschaffenheit Ist die Soll-Beschaffenheit ermittelt, ist sie mit der Ist-Beschaffenheit abzugleichen. Prozessual lässt sich dieser Abgleich oft nur durch ein Sachverständigengutachten bewerkstelligen, ggf. im Wege eines selbstständigen Beweissicherungsverfahrens (§ 485 ZPO). Das gilt mangels näherer vertraglicher Vereinbarungen sowohl für die Soll- als auch für die Ist-Beschaffenheit.

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bb) IT-spezifische Mängel Bei Software liegt ein Mangel einerseits nicht dann vor, wenn deren Funktionalität im Vergleich mit bei anderer Software vorhandenen Funktionen bzw. deren Nutzerfreundlichkeit abfällt.18 Anderseits kann der abstrakte Vergleich zweier Programme (Zusage, dass Programm A besser als B ist) sehr wohl zur Mangelhaftigkeit führen.19 Auch kann es mangels anderweitiger Vereinbarungen schon auf die Frage der mittleren Art und Güte (§ 243) und mithin darauf ankommen, ob etwa eine bestimmte Funktionalität marktüblich ist, also im Markt verbreitet oder zumindest auch sonst zu finden ist, wenn sie die Nutzbarkeit einschränkt; auch sind Nutzungsbeschränkungen relevant.

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Im Übrigen finden sich zu konkreten Mängeln bei Standardsoftware auch einschlägige Rechtspre- 11 chung und Äußerungen in der Literatur.20 Danach gilt: Mangelhaft ist eine Software, die Funktionsmängel hat. Diese können technisch wie fachlich-funktional sein. Technische Mängel liegen etwa vor, wenn Software erst gar nicht installierbar ist21 oder aufgrund von Programmfehlern wiederholt abstürzt.22 Eine Software kann auch mangelhaft sein, wenn Abstürze nicht auf Programmfehler, sondern auf einer Überlastung der eingesetzten Hardware beruhen, soweit die Parteien vom Einsatz dieser Hardware im Vorfeld ihrer vertraglichen Vereinbarung ausgegangen sind, weil somit das Funktionieren auf der Hardware als Soll-Beschaffenheit vereinbart war.23 13 BGH v. 6.10.2004 – VIII ZR 355/03, MDR 2005, 743, 743; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 3. 14 So zu einem Gebäude BGH v. 26.7.2004 – VIII ZR 281/03, NJW 2004, 3174, 3175; Bub/Treier/Kraemer, Geschäfts- und Handbuch der Wohnraummiete, Kapitel III Rz. 2789. 15 Dieses hervorhebend Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 593. 16 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1457. 17 Redeker, IT-Recht, Rz. 602; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 150; für Angaben eines Wohnungsmaklers BGH v. 23.6.2010 – VIII ZR 256/09, MDR 2010, 916; vgl. auch Kremer, ITRB 2013, 143, 144. 18 Vgl. Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, 33. EL Februar 2017, 1. Abschnitt, Teil 3, Rz. 121. 19 Laut LG München v. 21.3.1991 – 7 O 3919/89, CR 1992, 474, 475 f. kein Mangel, wenn neue Software hinsichtlich einzelner Funktionen partiell hinter alter zurückbleibt. 20 S. dazu die Übersichten mit zahlreichen Beispielen bei Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. M Rz. 1469 ff. und Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1474 ff.; s. auch die systematische, abstrakte Übersicht über Mängelarten bei Kilian, CR 1986, 187, 191 und Heussen, CR 2004, 1, 7 f. 21 Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 588. 22 OLG Köln v. 25.7.2003 – 19 U 22/03, CR 2004, 173, 174. 23 So zum Kaufrecht LG Bonn v. 27.2.2004 – 10 O 618/03, juris Rz. 24.

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BGB § 536 Rz. 12 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln Ausreichend soll es auch sein, dass eine Software bei einer Fehlbedienung hängen bleibt, ohne dass sie entsprechende erklärende Fehlertexte ausgibt oder dass es Hinweise zur Fehlerbehebung im Handbuch gibt.24 Auch eine mangelnde Performance kann einen Sachmangel begründen, so etwa, wenn das Programm oder die durch das Programm gesteuerte Hardware nicht ausreichend schnell abläuft.25 Auch eine unzureichende Robustheit gegen Bedienfehler kann zu einem technischen Funktionsmangel führen. 13

Ein funktionaler Mangel liegt vor, wenn (inhaltliche) Funktionen, die versprochen wurden, fehlen oder nicht ordnungsgemäß ablaufen. Nicht ordnungsgemäß ist eine Software dabei etwa, wenn sie zu einer inhaltlich fehlerhaften Datenverarbeitung führt, etwa zur Erzeugung von falschen Daten26 oder von „Datenmüll“.27 Auch das Fehlen versprochener Funktionen kann einen Mangel darstellen. Denkbar sind auch ergonomische Mängel.28 Einfache graphische Fehler stellen im Zweifel keinen Mangel dar.29

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Auch ein ungeeigneter Software-Treiber kann die Mangelhaftigkeit von Hardware-/Software-Produkten begründen.30 Mängel können in einer mangelhaften Kompatibilität bzw. Interoperabilität begründet sein. So ist eine Software mangelhaft, wenn es über die zur Interaktion mit einem Hardwaresystem erforderlichen, marktgängigen Steuerbefehle nicht verfügt.31 Allerdings haben Gerichte teils auch entschieden, dass eine fehlende IBM-Kompatibilität mangels entsprechender Vereinbarung einer solchen einst keinen Fehler darstellte;32 letztlich wird man hier aber immer einzelfallbezogen prüfen müssen, was mangels ausdrücklicher Beschaffenheitsvereinbarung aufgrund der Verkehrsauffassung (§ 157) erwartet werden durfte (vgl. Rz. 7). Mangelbegründende Funktionsfehler können dabei auch auf der Softwareumstellung eines Drittsystems beruhen, mit denen das gelieferte System bzw. die gelieferte Software zusammenarbeiten soll.33

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Auch eine mangelhafte Datenbasis kann zur Mangelhaftigkeit der Software führen. Dass eine offline mit CD-ROMs arbeitende Software aktuelle Daten noch nicht hat, die ein mit einer Datenbank online arbeitendes Programm schon zur Verfügung stellt, ist allerdings nach der Rspr. eine systembedingte Gegebenheit und kein Fehler.34

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Auch Programm- bzw. Ablaufsperren und DRM-Mechanismen können Mängel darstellen. Das gilt insbesondere, wenn diese über das hinaus einschränkend wirken, was zur Absicherung urheberrechtlicher Beschränkungen erforderlich ist,35 oder wenn entsprechende, zugehörige Passwörter oder Dongle nicht ausgeliefert werden.36 Von diesen Fällen abgesehen wird zwar in der Literatur in Anlehnung an eine insoweit aber nicht eindeutige Rechtsprechung teils davon ausgegangen, dass kein Mangel vorliegt bzw. es nur eine unerhebliche Einschränkung der Gebrauchstauglichkeit ist, wenn eine Programmsperre zu keiner Behinderung bei der Programmnutzung führt bzw. diese auch nicht droht.37 24 OLG Karlsruhe v. 10.7.1991 – 6 U 87/90, Marly RC 1991 Nr. 17 = Zahrnt, ECR OLG 78. 25 Für einen infolge der Programmgestaltung unzumutbar langsam laufenden Drucker KG v. 1.6.1990 – 14 U 4238/86, CR 1990, 768, 769. 26 So etwa im Fall falscher Ergebnisse aufgrund einer fehlerhaften Kalkulationsfunktion OLG Köln v. 2.4.1993 – 19 U 202/92, CR 1993, 426, 427 f. 27 Für einen Fall verstümmelter bzw. unverständlicher Texte OLG Karlsruhe v. 10.7.1991 – 6 U 87/90, Marly RC 1991 Nr. 17 = Zahrnt, ECR OLG 78. 28 Keinen Mangel soll aber ein Programmablauf auf vier Masken darstellen, wenn der Maskenwechsel ein flüssiges Arbeiten nicht behindert; OLG Nürnberg v. 20.10.1992 – 3 U 2087/92, CR 1993, 359. 29 Zumindest, wenn sie nur in (teilweise) bedeutungslose Anzeigen münden, vgl. OLG Köln v. 2.4.1993 – 19 U 202/92 CR 1993, 426, 428. 30 LG Tübingen v. 22.9.1994 – 1 S 121/94, CR 1995, 222. 31 So für die zur Ansteuerung eines Druckers nötigen Steuerzeichen: LG Heilbronn v. 16.12.1993 – 1 KfH O 262/89, BB 1994, Beilage 7, 7 = CR 1994, 281. 32 AG Ulm v. 29.4.1994 – 4 C 2823/93, CR 1995, 407, 408. 33 OLG Stuttgart v. 23.2.1993 – 6 U 174/92, CR 1994, 152. 34 LG Köln v. 22.10.1992 – 86 O 103/92, CR 1993, 564, 565. 35 Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69c UrhG Rz. 71 m.w.N. 36 OLG Celle v. 3.3.1992 – 20 U 69/90, CR 1994, 217. 37 So Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, 33. EL Februar 2017, 1. Abschnitt, Teil 3, Rz. 125; tendenziell auch BGH v. 3.6.1981 – VIII ZR 153/80, NJW 1981, 2684; BGH v. 25.3.1987 – VIII ZR 43/86, CR 1987, 358; OLG Düsseldorf v. 30.1.1992 – 5 U 193/90, OLGR 1992, 137; OLG Köln v. 9.8.1995 – 19 U 294/94,

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Rz. 18 § 536 BGB

So wird von der wohl h. Lit. zu Recht vertreten, dass ein Mangel vorliegt, wenn aufgrund der Programmsperre oder des DRM-Mechanismus eine Softwarenutzung bei einem Austausch oder einer Änderung der Hardware nicht mehr möglich ist.38 Richtig ist, dass heute etwa gerade Produktaktivierungsmechanismen regelmäßig zu erheblichen Einschränkungen bzw. einem Mehraufwand für den Nutzer39 und damit Mängeln führen. So wird vom Hersteller auf Basis eines individuellen Lizenzschlüssels (Product Key) und einer aus der Abfrage von Hardwaremerkmalen errechneten und via Internet oder per Telefon zu übertragenden Installations-ID (Hashwert) eine einzigartige BestätigungsID oder ein Produktaktivierungs-Key generiert und für die jeweilige Installation zur Verfügung gestellt.40 Derartige Produktarchivierungsmechanismen erfordern aber einen manuellen oder automatischen Herstellerkontakt; d.h., es müssen hier Daten an den Hersteller übermittelt werden, auf deren Basis dieser die Bestätigungs-ID bzw. den Produktaktivierungs-Key generiert. Daraus resultiert für den Anwender – ausgenommen bei vollautomatischen Online-Verifikationsverfahren – ein nicht unerheblicher und daher mangelrelevanter Zusatzaufwand;41 und zudem besteht das Risiko, dass er die entsprechenden Informationen/Keys vom Anbieter bei einem plötzlich erforderlichen Hardwarewechsel, und zwar erst recht im Insolvenzfall, nicht erhält.42 Entscheidend ist im Übrigen, ob die Nutzung in einer Form eingeschränkt wird, die sich auch vertraglich nicht vereinbaren lässt,43 und ob diese auch so eingeschränkt wurde. Ähnlich stellen bei im Fernzugriff (z.B. per ASP oder SaaS) zur Verfügung gestellter Software auch die mangelnde oder beschränkte Zugriffsmöglichkeit einen Mangel dar.44 Dies kann auch für ein insoweit mangelhaftes Antwortzeitverhalten gelten. Auch die beschränkte Verfügbarkeit von Servern (etwa auch die Nichtabrufbarkeit gehosteter Inhalte) stellt einen Mangel dar.45

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Einen Mangel begründen können auch unzureichende Benutzerhandbücher, -informationen bzw. -hilfen. Dabei ist strittig, ob deren Fehlen einen Fall der Nichterfüllung darstellen (dazu auch § 535 Rz. 31)46 oder (lediglich) Mängelrechte begründen.47 Nicht erforderlich ist nach wohl heute h.M. ein

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NJW 1996, 733 ff. = CR 1996, 285 m. Anm. Wuermeling; OLG Frankfurt v. 14.12.1999 – 11 U 7/99, CR 2000, 146 m. Anm. Chrocziel; differenzierend Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 602. Vgl. Grützmacher, ITRB 2015, 141, 142; Koch, CR 2002, 629, 633; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1754; (wenn auch zu § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2) ausführlich Jobke, Produktaktivierung und Registrierung bei Software für den Massenmarkt, S. 66 ff.; zu § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 auch Faust, K&R 2002, 584; vgl. auch offen lassend Runte, CR 2001, 657, 662; s. auch OLG Frankfurt a.M. v. 14.12.1999 – 11 U 7/99, CR 2000, 146 ff.; LG Frankfurt a.M. v. 17.12.1998 – 2/3 O 266/97, CR 1999, 147. Das OLG München hat diese Aspekte in einer Entscheidung zur wettbewerbsrechtlichen Irreführung wie folgt zusammengefasst: „[Der Lizenznehmer] wird allenfalls davon ausgehen, dass er bei der erstmaligen Installation der Software eine zusammen mit dem Datenträger ausgehändigte Code- oder sonstige Identifikationsnummer eingeben muss, um die Betriebsfähigkeit des Programms herzustellen.“ (OLG München v. 12.10.2000 – 29 U 3680/00, CR 2001, 11, 13 = ITRB 2001, 8). Vgl. Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Produktaktivierung; Abruf: Stand Dezember 2019); Grützmacher, ITRB 2015, 141, 142. An der Erheblichkeit zweifelnd Runte, CR 2001, 657, 662. Vgl. Grützmacher, ITRB 2015, 141, 142; s. auch OLG München v. 12.10.2000 – 29 U 3680/00, CR 2001, 11, 13: wegen des Registrierungs- bzw. Aktivierungsaufwands insbesondere auch bei erneuter Installation auf Austauschhardware irreführende Werbung ebenso LG München v. 4.4.2000 – 7 O 115/00, CR 2000, 506, 507: zudem sittenwidrige Nötigung; vgl. auch Runte, CR 2001, 657, 660 ff. Vgl. Redeker, IT-Recht, Rz. 329. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1123; vgl. Bräutigam, CR 2004, 248, 250 f.; Schuster, CR 2009, 205, 209; Wicker, MMR 2014, 715, 716. AG Berlin-Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297 m. zust. Anm. Runte. So zu Recht Czermin, CR 1986, 272: weder Substanzmangel noch Umweltfehler, sondern schlichtweg fehlendes Bedienungs-Know-how; Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 587. Dafür OLG Frankfurt v. 22.1.1985 – 5 U 86/84, CR 1986, 270, 271 f.; OLG Frankfurt a.M. v. 17.12.1991 – 5 U 265/90, CR 1993, 93; Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, 33. EL Februar 2017, 1. Abschnitt, Teil 3, Rz. 125; für Kassensysteme wird von einem Mangel des Systems ausgeganen, wenn es ohne Bedienerhandbuch ausgliefert wird, dann aber nicht selbsterklärend ist, so OLG Stuttgart v. 24.2.1998 – 6 U 123/97, CR 1999, 74, 75; LG Stuttgart v. 30.7.1997 – 18 O 458/96, BB 1998, Beilage 4, 13, 14 f.; für IT-Leasingverträge offen lassend BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189, 192.

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BGB § 536 Rz. 18 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln Benutzerhandbuch als Hardcopy-Version;48 vielmehr reichen elektronische Informationen aus. Im Einzelfall immer zu Mängeln können qualitativ minderwertige Benutzerhandbücher, -informationen und -hilfen führen. Unzureichend ist dabei insbesondere eine Benutzungsanleitung, die nur für den ITFachmann, nicht aber für den normalen Anwender, für den die Software gedacht ist, verständlich ist, die nicht in Relation zum Schulungsaufwand steht, mangelhaft nummeriert bzw. (hinsichtlich der Themen) mangelhaft strukturiert ist oder bei der eine komplette Auflistung aller Programmfehlermeldungen mit Hinweisen auf mögliche Ursachen und deren Beseitigung fehlt.49 19

Keinen Mangel soll der Vorhalt begründen, dass ein Programm „konzeptionell veraltet und nicht dem Standard entsprechend“ ist, weil das Alter eines Programms für sich keinen Mangel darstelle.50 Allerdings kann es sehr wohl Grenzen geben, wo gerade eine konzeptionell veraltete Software als mangelhaft zu bezeichnen ist. Denkbar ist dieses etwa, wenn hierdurch die Wartungskosten auch für den Mieter steigen, wenn etwa für eine Applikation veraltete Betriebssystemsoftware, Middleware oder Datenbanksoftware genutzt werden muss, die vom Hersteller schlimmstenfalls nicht mehr offiziell (eol) gepflegt wird, oder wenn die Interoperabilität mit anderen Produkten in Gefahr ist. b) Rechtsmängel (§ 536 Abs. 3)

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Rechtsmängel bestehen, wenn der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache ganz oder in Teilen durch Rechte eines Dritten eingeschränkt oder entzogen wird. IT-spezifisch sind diese Rechte in erster Linie entgegenstehende Schutzrechte Dritter, insbesondere Urheber- und Patentrechte.51 Allerdings gibt es teils den Nutzer schützende Lizenzbedingungen (s. Ziffer 4 GPLv2 Rz. 14 ff.), so dass immer auf die Perspektive des Nutzers abzustellen ist, und sich bei Open Source Software etwa nicht bloß die Frage der Berechtigung des Vermieters stellt.52 Auch Kennzeichenrechte (insbesondere Marken- und Titelschutzrechte) stehen aus Sicht des Mieters nur dann entgegen, wenn er die Software unter dem Kennzeichen vertragsgemäß untervermieten will und darf. Die Eigennutzung ist i.d.R. unproblematisch; denn das Vernichtungsrecht des Kennzeichenrechtsinhabers nach § 18 MarkenG richtet sich nur gegen den Verletzer, also normalerweise den Vermieter. In gewissem Maße spiegelbildlich liegt ein Rechtsmangel dann vor, wenn Rechte nicht in ausreichendem Umfang eingeräumt53 oder wieder entzogen wurden.54

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Als Rechtsmängel kommen im Zweifel auch datenschutzrechtliche Beschränkungen bzw. eine unzureichende datenschutzrechtliche Compliance von Hardware, Software oder auch Rechenzentren in Betracht.55 Bei Computerhardware können auch die Eigentumsrechte Dritter die Rechtsmängel begründen bzw. auch die Doppelvermietung sowie bei der Untervermietung wegen § 546 Abs. 2 die Beendigung des Hauptmietverhältnisses.56 Nach überkommener Meinung soll die bloße Existenz bzw. das Bestehen von Rechten Dritter noch keine Mängel begründen, vielmehr ist der tatsächliche Gebrauch der Rechte samt der daraus resultierenden Gebrauchsbeeinträchtigung erforderlich.57 Überzeugend ist das aber im Kontext von Schutzrechten nicht. Diese sind schließlich strafbewehrt, so dass der 48 Ulmer, D., ITRB 2001, 64, 65 f.; offen lassend Schneider, Handbuch EDV-Rechts, Kap. M Rz. 63; jedenfalls ausreichend soweit ausdruckbar nach Koch, Handbuch Software- und Datenbankrecht, Kap. Rz. 87, 91 (mit weitergehenden Ausführungen); restriktiv dagegen Backu, ITRB 2001, 248, 251. 49 So zum Kaufrecht OLG Hamm v. 11.12.1989 – 31 U 37/89, CR 1990, 715, 716. 50 Kilian/Heussen/Moritz, Computerrechts-Handbuch, 33. EL Februar 2017, 1. Abschnitt, Teil 3, Rz. 121. 51 Dazu mit Blick vor allem auf das Kauf- und Werkvertragsrecht Bartsch, CR 2005, 1; vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 155. 52 Darauf abstellend aber Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 155. 53 Vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1357: Mieter verliert Anspruch auf Vergütung. 54 Vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1357; OLG Brandenburg v. 4.6.2008 – 4 U 167/07, CR 2008, 763, 766 = ITRB 2009, 5 (zu einem Leasingvertrag): Mieter verliert Anspruch auf Vergütung. 55 S. dazu Schuster/Hunzinger, CR 2017, 141 ff. 56 Allg. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 38, 212 m.w.N. 57 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 212 unter Hinweis auf BGH v. 30.10.1974 – VIII ZR 69/73, BGHZ 63, 138 = NJW 1975, 44, 46; BGH v. 4.10.1995 – XII ZR 215/94, NJW 1996, 46 = MDR 1996, 252; BGH v. 23.12.1998 – XII ZR 49/97, NJW-RR 1999, 845; BGH v. 10.7.2008 – IX ZR 128/07, NJW 2008, 2771 = MDR 2008, 1148.

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Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln

Rz. 24 § 536 BGB

Mieter schon vor diesem Hintergrund tunlichst den Gebrauch einstellen sollte. Aber auch sonst überzeugt die Auffassung nicht, weil sie zur Missachtung der Rechte Dritter und damit der Rechtsordnung anhält. Hingegen reicht es in der Tat nicht, dass Schutzrechte Dritter nur behauptet bzw. geltend gemacht werden; sie müssen nach dem eindeutigen Wortlaut („entzogen“) und nach dem Sinn des § 536 Abs. 3 auch tatsächlich bestehen.58 2. Aufhebung oder erhebliche Minderung der vertragsgemäßen Gebrauchstauglichkeit (§ 536 Abs. 1) oder Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft (§ 536 Abs. 2) Negative Abweichungen der Ist- von der Soll-Beschaffenheit sind nur dann relevant, wenn sie die ver- 22 tragsgemäße Gebrauchstauglichkeit zumindest erheblich mindern (dazu unter Rz. 23 ff.) oder aber wenn eine zugesicherte Eigenschaft fehlt (dazu unter Rz. 26 ff.). a) Aufhebung oder erhebliche Minderung der vertragsgemäßen Gebrauchstauglichkeit Anders als im Kauf- und Werkvertragsrecht liegt im Mietvertragsrecht ein Mangel grundsätzlich – aus- 23 genommen bei einem Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft (dazu unter Rz. 26 ff.) – nur vor, wenn die Gebrauchstauglichkeit der Mietsache nicht nur unwesentlich beeinträchtigt wird (Abs. 1 Satz 3). Dies ist mangels konkreter Vereinbarungen eine Frage des Einzelfalls. Dabei wird teils auf den Behebungsaufwand abgestellt,59 während andere betonen, dass dieser nicht allein entscheidend sei, sondern vor allem auch die Auswirkungen für den Mieter zu beachten seien.60 Für die Erheblichkeit ist bei mehreren Mängeln nicht bloß auf den einzelnen Mangel abzustellen, sondern ggf. die Summe der Mängel.61 Auch wenn eine Funktionalität im Gundsatz gegeben und nur für bestimmte Verarbeitungen nicht nutzbar ist, liegt ein erheblicher Mangel, möglicherweise sogar eine (vollständige) Aufhebung der Gebrauchstauglichkeit vor.62 Die Abgrenzung ist schwierig. Streitig ist z.B., ob eine Virenverseuchung eines Computers, wie in der Rspr. vertreten, einen unerheblichen Mangel darstellt63 oder einen erheblichen, wofür der Aufwand für die Beseitigung einer einmal eingetretenen Virenverseuchung spricht.64 Weiter soll auch ein durch einen Treiberwechsel zu beseitigender Fehler einen unerheblichen Mangel darstellen;65 nicht immer ist ein Treiberwechsel aber trivial.66 Bei Nichteinhaltung eines vertraglich vereinbarten Leistungsstandards (SLA) durch den Auftragnehmer (z.B. eines Service Levels in Form von Verfügbarkeitswerten) wird der vertragsgemäße Gebrauch erheblich beeinträchtigt, so dass mangels anderweitiger Vereinbarungen ein (verschuldensunabhängiges) Minderungsrecht besteht.67

58 Vgl. auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1464 unter Hinweis auf den Wortlaut der werkvertraglichen Regelung („geltend machen können“); Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 154. 59 BGH v. 30.6.2004 – XII ZR 251/02, WuM 2004, 531 f.; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536 BGB Rz. 45 m.w.N. 60 So allgemein Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1467 unter Hinweis auf die werkvertragliche Entscheidung des OLG Köln v. 6.3.1998 – 19 U 228/97, CR 1998, 459, 461. 61 Allgemein Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1467; zum Werkvertragsrecht OLG Köln v. 6.3.1998 – 19 U 228/97, CR 1998, 459, 460 f. 62 BGH v. 5.10.1981 – VIII ZR 259/80, MDR 1982, 400 f.: schon „die verminderte Tauglichkeit eines [vermieteten IT-Sytems] hinsichtlich einer unstreitig erheblichen Teilfunktion, nämlich der Abrechnung mit den Krankenkassen, [kann] ihre Tauglichkeit insgesamt aufheben, weil die Einführung und Verwendung der Anlage überhaupt nur vorteilhaft ist, wenn sie alle ihre Funktionen einwandfrei erfüllt“; vgl. dazu auch Lehmann/Köhler/ Fritzsche, Kap. XIII. Rz. 195. 63 LG Regensburg v. 17.6.1997 – 2 S 168/96, NJW-RR 1998, 1353. 64 Redeker, CR 2007, 558, 559; vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1468. 65 So zum Werkvertragsrecht wohl LG Nürnberg-Fürth v. 16.12.1991 – 9 O 5720/90, CR 1992, 336 m. hinsichtlich der Terminologie zu Recht krit. Anm. Brandi-Dohrn. 66 So im Kontext der Entscheidung des Urteils LG Nürnberg-Fürth zu Recht Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1468. 67 Bräutigam, CR 2004, 248, 250 f.; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1123; Schuster, CR 2009, 205, 209; vgl. Wicker, MMR 2014, 715, 716.

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BGB § 536 Rz. 25 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln 25

Die Beweislast für die Erfüllung der mietvertraglich vereinbarten Leistungen liegt von Gesetzes wegen zunächst beim Vermieter.68 Denn nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen muss der Vermieter beweisen, dass er seine vertragliche Pflicht, dem Mieter die Mietsache in vertragsgemäßem Zustand zu überlassen, erfüllt hat.69 Wenn der Mieter dann allerdings die ihm überlassene Mietsache als Erfüllung angenommen hat, obliegt, wie sich aus § 363 ergibt, diesem die Beweislast dafür, dass die Mietsache zum Zeitpunkt der Übergabe mangelhaft war.70 Für die Frage, wer die Beweislast trägt, kommt es somit, wie der BGH betont, darauf an, ob die Mietsache überlassen und vom Mieter angenommen worden ist.71 Allerdings ist das, wie der BGH bestätigt hat, beim ASP noch nicht dann der Fall, wenn der Vermieter durch die bloße Überlassung der Software die vertraglich geschuldete Leistung nicht vollständig erbracht hätte, weil eine zusätzlich vertraglich vereinbarte Einweisung erfolgte und der Mieter daher erst danach in der Lage war, die Mietsache vertragsgemäß zu nutzen.72 b) Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft (§ 536 Abs. 2)

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Durch Abs. 2 erfolgt eine Gleichstellung der Haftung auch in Fällen, bei denen die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 3 nicht vorliegen. Die mietrechtliche Zusicherung ist eine Garantie i.S.v. § 276 Abs. 1 Satz 1 und hatte einst ihr Äquivalent in §§ 459 Abs. 2, 463 Satz 1, 633 Abs. 1 a.F. bzw. nach der Schuldrechtsreform nun in entsprechenden Regelungen zu Beschaffenheitsgarantien, so dass auch auf entsprechende Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann.73 Teils wird vertreten, dass auch das Nichtvorhandensein eines Rechtsmangels nach § 536 Abs. 3 i.V.m. § 536 Abs. 2 zugesichert werden könne.74 Der Wortlaut des § 536 Abs. 2, der nur auf Abs. 1 verweist, gibt dieses allerdings nicht her. Abzugrenzen ist die Gewährleistung nach § 536 Abs. 2 vom selbstständigen Garantieversprechen gem. § 311 Abs. 1, das eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung außerhalb des Gewährleistungsrechts begründet und nach §§ 195 ff. verjährt. Als Beispiel für ein solches Garantieversprechen wird in der Literatur etwa angeführt, dass ein Anbieter garantieren könnte, durch den Einsatz seiner Software werde ein zusätzlicher wirtschaftlicher Erfolg (Umsatzsteigerung oder Kostenoptimierung) eintreten.75 aa) Zusicherungsfähige Eigenschaft

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Eigenschaften sind alle Umstände, die für die Brauchbarkeit der Mietsache von Bedeutung sind oder unabhängig von ihrer Bedeutung für die Gebrauchstauglichkeit Einfluss auf die allgemeine Bewertung der Mietsache haben.76 Dieses können die Beschaffenheit der Sache selbst wie auch jedes tatsächliche oder rechtliche Verhältnis77 bzw. Beziehungen des Mietgegenstands zu seiner Umwelt sein, die für die Brauchbarkeit und den Wert des Mietobjekts von Bedeutung sind.78 Diese Beziehungen müssen jedoch

68 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1107. 69 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP m.w.N.; Palandt/Weidenkaff, § 535 BGB Rz. 33. 70 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; BGH v. 13.2.1985 – VIII ZR 154/84, MDR 1986, 49, 50; für das Leasing und Kauf nach Entgegennahme der Sache: BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189, 191 m. Anm. Bokelmann; BGH v. 2.6.2004 – VIII ZR 329/03, MDR 2004, 1181, LS. 71 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP. 72 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP unter Hinweis auf die kaufrechtliche Entscheidung BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, BGHZ 143, 307, 313 = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel; sich anschließend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1107. 73 So etwa auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1458. 74 So Stadler, CR 2006, 77, 80 unter Hinweis auf Derleder, NZM 2002, 676, 683. 75 Stadler, CR 2006, 77, 79. 76 Vgl. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 207 unter Hinweis auf RG v. 31.5.1905 – V 596/04, RGZ 61, 86; BGH v. 8.5.1972 – VIII ZR 36/71, LM 549 BGB, Nr. 4; etwas anders Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1459. 77 Palandt/Weidenkaff, § 536 BGB Rz. 26. 78 BGH v. 16.2.2000 – XII ZR 279/97, WM 2000, 1012, 2014; BGH v. 21.9.2005 – XII ZR 66/03, MDR 2006, 506, 507.

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Rz. 29 § 536 BGB

ihren Grund in der Beschaffenheit des Mietobjekts selbst haben, von ihm ausgehen, ihm auch für eine gewisse Dauer anhaften und nicht lediglich durch Heranziehung von Umständen in Erscheinung treten, die außerhalb der Mietsache liegen.79 Nach Stimmen in der Literatur reicht bei Software auch, dass das Merkmal für den Anwender von Interesse ist.80 bb) Zusicherung Eine Zusicherung liegt vor, wenn der Vermieter zu erkennen gibt, dass er für das Bestehen bzw. Nicht- 28 bestehen der Eigenschaft (und alle Folgen ihres Fehlens) unbedingt einstehen will.81 Vorherrschend muss eine Einstandspflicht sein und nicht bloß die reine Mitteilung von Tatsachen (Wissen).82 Die bloße Überlassung eines Lasten-/Pflichtenheftes oder von Auswahlkriterien allein, führt daher noch nicht zu einer Zusicherung; anders kann es sein, wenn die Bedeutung bestimmter Anforderungen vom Mieter betont bzw. vom Vermieter bekräftigt wird.83 Der bloße Verweis auf technische Normen84 (s. dazu aber unter Rz. 7, 31) oder die reine Beschreibung in Prospekten reichen für die Qualifikation als Zusicherung nicht (dazu auch unter Rz. 7, 31).85 Auch einfache, übliche Bestätigungen stellen noch keine Zusicherung dar.86 Auf der anderen Seite ist eine Schriftform nicht erforderlich, und zwar selbst dann nicht, wenn es im Übrigen eine schriftliche Leistungsbeschreibung wie etwa ein Pflichtenheft gibt.87 Die Beweis- und Darlegungslast dafür, dass eine (unstreitige) mündliche Aussage inhaltlich als zugesicherte Eigenschaft zu werten ist, dürfte aber höher liegen.88 Zusicherungen können explizit oder implizit erfolgen. So sieht etwa das Formular der EVB-IT Überlassung Typ B in Ziff. 4 vor, dass zugesicherte Eigenschaften vereinbart werden können.89 Eine explizite Zusicherung liegt insbesondere auch bei der Verwendung der Worte „sichert zu“ vor.90 Tendenziell gilt das auch für die Verwendung der Formulierung „gewährleisten“,91 bei der aber mehr Interpretationsspielraum besteht. Zugesicherte Eigenschaften können ganz ausnahmsweise und unter Anlegung entsprechend strenger Anforderungen auch stillschweigend vereinbart sein.92 Die Abgrenzung zwischen bloßer Soll-Beschaffenheit und Zusicherung ist dann oft diffizil. So können etwa je nach den Umständen des Einzelfalls dem Vertrag beigefügte Spezifikationen in der Produktbeschreibung (oder im Pflichtenheft) als Zusicherungen interpretiert werden.93 Auch eine Zusatzvereinbarung, in der eine technische Eigenschaft noch einmal besonders herausgestellt wird, spricht tendenziell für eine Zusicherung.94 – Erst recht gilt dieses, wenn bestimmte Eigenschaften, die ursprünglich nur im Lasten-/Pflichtenheft beschrieben wurden, im Laufe der Vertragsverhandlungen in eine gesonderte vertragliche Ver-

79 BGH v. 16.2.2000 – XII ZR 279/97, WM 2000, 1012, 2015; BGH v. 21.9.2005 – XII ZR 66/03, MDR 2006, 506, 507. 80 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1459. 81 Vgl. Palandt/Weidenkaff; § 536 BGB Rz. 24; zum Kaufrecht BGH v. 30.11.1990 – V ZR 91/89, NJW 1991, 912; vgl. auch Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 209; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1459. 82 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1459 f.; sich diesem anschließend Auer-Reinsdorff/Conrad/RothNeuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 152. 83 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 153. 84 Vgl. BGH v. 7.10.1987 – VIII ZR 255/86, NJW 1988, 1018, 1019. 85 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 209 unter Hinweis auf OLG Düsseldorf v. 9.11.2010 – 24 U 223/09, NZM 2011, 550, 550 f. 86 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536 BGB Rz. 209. 87 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1460; vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 153. 88 Vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 153: „in aller Regel keine Zusicherungen“. 89 Vgl. Feil/Leitzen, CR 2002, 480, 481. 90 Vgl. zum Kaufrecht OLG München v. 5.7.1991 – 14 U 42/91, CR 1991, 607, 609. 91 Bejahend LG Essen v. 16.1.1986 – 43 O 129/84, CR 1987, 428, 430. 92 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1459; vgl. Palandt/Weidenkaff, § 536 BGB Rz. 25. 93 Stadler, CR 2006, 77, 79. 94 Vgl. zum Kaufrecht OLG München v. 5.7.1991 – 14 U 42/91, CR 1991, 607, 608.

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BGB § 536 Rz. 29 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln einbarung überführt werden.95 – Zu Recht wird betont, dass letztlich ein gesteigerter Grad des Bewusstseins für eine Einstandspflicht besteht.96 30

Bei Software kann eine Zusicherung etwa vorliegen, wenn mit einer Softwareeigenschaft (z.B. Daten-, Betriebssystem- oder Source-Code-Kompatibilität)97 das störungsfreie Funktionieren der Software oder gar des Betriebs des Nutzers „steht und fällt“, wenn für die Parteien die überragende Bedeutung der fehlerfreien Verwendbarkeit erkennbar war und somit der Vertragswille zu unterstellen ist, dass der Anbieter die Gewähr für das Vorhandensein dieser Verwendbarkeit als konkrete Eigenschaft übernehmen und für die Folgen ihres Fehlens einstehen wollte.98 Auch die ergonomische Gestaltung der Bildschirmmasken99 und die (deutsche) Sprachausführung100 können zugesichert sein.

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Schwierigkeiten kann etwa die Abgrenzung von Service-Level-Vereinbarungen (SLA) in Form von reinen Angaben zur Soll-Beschaffenheit von Zusicherungen101 bereiten. Gleiches gilt für Werbeaussagen und Prospekte, die oftmals nicht über allgemeine Anpreisungen und Beschreibungen der Mietsache hinaus gehen,102 sowie CE-Kennzeichen, Zertifizierungen und technische Güte- oder sonstige Qualitätszeichen,103 für die im Zweifel nicht von einer Zusicherung auszugehen ist. cc) Folge des Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft

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Nach Abs. 2 führt das Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft zu einem Minderungsrecht selbst dann, wenn dieses allein in Ansehung der Vorschriften des Abs. 1 mangels negativem Einfluss auf die Gebrauchstauglichkeit nicht der Fall wäre. Auch unerhebliche Beeinträchtigungen der Tauglichkeit führen damit zum Minderungsrecht, wie sich daraus ergibt, dass Abs. 2 nicht auf den Satz 3 des Abs. 1 verweist. c) Sonstiges

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Eines Verschuldens bedarf es im Übrigen nicht. Allerdings wird in der IT-rechtlichen Literatur in Anlehnung an die Überlagerung des Risikos mit Blick auf vom Mieter gewünschte Veränderungen der Mietsache bei der Raummiete auf den Mieter vertreten, dass vom Mieter gewünschte Änderungen an einer Standardsoftware nur geringfügig sein dürfen, weil andernfalls das werkvertragliche Sachmängelrecht passender sei.104 3. Vorhandensein zur Zeit der Überlassung an den Mieter oder Entstehung während der Mietzeit

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Schon aus Gründen der Beweislast sind die Fälle des Vorhandenseins von Mängeln zur Zeit der Überlassung und danach zu unterscheiden; nur ersterenfalls trifft sie nämlich den Vermieter. 95 Anschaulich LG Essen v. 16.1.1986 – 43 O 129/84, CR 1987, 428, 430. 96 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1461 unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Frankfurt v. 26.1.1996 – 24 U 110/94, NJW-RR 1997, 555, 556 = CR 1996, 473 zum alten Kaufrecht, nach der es darauf ankommt, ob der Lizenznehmer die Aussage „100 % Source-Code-Kompatibilität“ den Umständen nach dahin bewertet, dass der Lizenzgeber „in jeder Hinsicht für das tatsächliche Vorhandensein dieser Eigenschaft und für alle Folgen ihres Fehlens einstehen“, mit anderen Worten auf höchster Vertrauensstufe „die vertragsmäßige Gewähr hierfür übernehmen“ wolle. 97 Zum Kaufrecht OLG Frankfurt v. 26.1.1996 – 24 U 110/94, NJW-RR 1997, 555, 556 = CR 1996, 473. 98 Zum Kaufrecht OLG München v. 5.7.1991 – 14 U 42/91, CR 1991, 607, 608. 99 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1460. 100 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1460 unter Hinweis auf die kaufrechtliche Entscheidung des OLG Hamm 8.3.1988 – 21 U 41/87, CR 1989, 995. 101 Zu Letzterem tendiert offenbar recht schnell Wicker, MMR 2014, 715, 716. 102 BGH v. 16.2.2000 – XII ZR 279/97, WM 2000, 1012, 1015; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1462. 103 Für die Bezugnahme auf DIN-Normen Scholz, MDR 1989, 107, 108; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1462 f. unter Hinweis auf die zum alten Kaufrecht ergangene Entscheidung des OLG Naumburg v. 17.4.2003 – 7 U 75/02, MDR 2004, 23, 24; einen selbständigen Garantievertrag für Abgasreinigungssoftware unter Hinweis auf die Rspr. zu CE-Kennzeichen, Prüf- und Gütezeichen ablehnend OLG Braunschweig v. 19.2.2019 – 7 U 134/17, ZIP 2019, 815, 817 m.w.N. 104 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1362.

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Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln

Rz. 38 § 536 BGB

a) Vorhandensein zur Zeit der Überlassung Ist ein Mangel unstreitig vorhanden, bestehen die Mängelrechte im Grundsatz. Wird dieser nur behauptet, kommt es für die Beweislast darauf an, wann die Sache überlassen wurde. Nach der Rspr. des BGH ist dafür entscheidend, ob der Mieter in die Lage versetzt wird, die Mietsache vertragsgemäß zu nutzen, was eine Frage des im Einzelfall vereinbarten Leistungsumfangs ist.105 Eine vertragsgemäße Überlassung der Mietsache liegt jedenfalls aber dann nicht vor, wenn der Vermieter durch die bloße Überlassung der Software die vertraglich geschuldete Leistung nicht vollständig erbracht hätte; davon ist etwa auszugehen, wenn der Vermieter die zusätzlich vertraglich vereinbarte Einweisung nicht durchgeführt hat106 und der Mieter dementsprechend noch nicht in der Lage ist, die Mietsache vertragsgemäß zu nutzen.107

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b) Entstehung während der Mietzeit Eine Besonderheit der mietvertraglichen Gewährleistung ist, dass sie auch für zum Zeitpunkt der erstmaligen Überlassung noch nicht bestehende Mängel greift. Dabei wird allerdings mit Blick auf die Voraussetzungen eines möglichen Schadensersatzanspruchs differenziert (vgl. § 536a).

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Insofern ist ein System, welches aufgrund von sich ändernden gesetzlichen oder sonstigen Vorschriften erst nach Mietbeginn unbrauchbar wird, als mangelhaft anzusehen.108 Dieses korreliert mit den Erhaltungspflichten des Vermieters aus § 535,109 die den Vermieter zu einer gewissen Softwarepflege bzw. Wartung des Systems zwingen (dazu § 535 Rz. 37, 39).

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c) Beweislast Nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen muss der Vermieter vor Überlassung beweisen, dass er seine 38 vertragliche Pflicht, dem Mieter die Mietsache in vertragsgemäßem Zustand zu überlassen, erfüllt hat.110 Nach Überlassung der Mietsache und Annahme der Sache als Erfüllung obliegt demgegenüber nach § 363 dem Mieter die Beweislast dafür, dass die Mietsache zum Zeitpunkt der Übergabe mangelhaft war.111 Denn § 363 erlegt dem Gläubiger die Beweislast auf, wenn er die Leistung des Schuldners als Erfüllung angenommen hat. Eine Annahme als Erfüllung, die anders als die Abnahme gem. § 640 kein Rechtsgeschäft, sondern eine tatsächliche Handlung ist, liegt dabei vor, wenn der Mieter durch sein Verhalten zum Ausdruck bringt, dass er die Mietsache als im Wesentlichen vertragsgemäße Leistung ansieht.112 Das kann in Ansehung von § 363 auch noch bei negativen Tatsachen wie der Nichtlieferung eines Handbuchs (dazu Rz. 18) gelten.113

105 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 77 = ITRB 2007, 55 – ASP. 106 Vgl. für den Kauf von Software: BGH v. 22.12.1999 – VIII ZR 299/98, BGHZ 143, 307, 313 = CR 2000, 207 m. Anm. Chrocziel. 107 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 77 = ITRB 2007, 55 – ASP. 108 So auch Redeker, IT-Recht, Rz. 603; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 161; LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8: zur DM-Euro-Umstellung; a.A. wohl OLG Hamm v. 22.2.1989 – 31 U 197/87, CR 1990, 37 f. für ein Zahnarztsystem, das kassenärztlichen Vorschriften nicht mehr entsprach. 109 Vgl. Redeker, IT-Recht, Rz. 603. 110 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 f. = ITRB 2007, 55 – ASP; Palandt/Weidenkaff, 65. Aufl., § 535 BGB Rz. 33. 111 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP; BGH v. 13.2.1985 – VIII ZR 154/84, NJW 1985, 2328, 2329 = MDR 1986, 49. 112 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 120/04, CR 2007, 75, 76 = ITRB 2007, 55 – ASP unter Hinweis darauf, dass ein allgemeiner Vorbehalt, dass die Vertragsmäßigkeit der Leistung nicht anerkannt werde, die Annahme als Erfüllung nach der Rspr. (RG v. 16.4.1909 – II 483/08, RGZ 71, 23) nicht ausschließe. 113 So für einen IT-Leasingvertrag BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189, 191 f.

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BGB § 536 Rz. 39 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln 4. Keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Mieters von den Mängeln bei Vertragsschluss oder Annahme (§ 536b) 39

Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Mieters kann die Minderungsrechte ausschließen (dazu näher § 536b Rz. 3 ff.). 5. Kein Ausschluss mangels unverzüglicher Anzeigen (§ 536c)

40

Die Minderungsrechte können mangels unverzüglicher Anzeige sich erst nach Vertragsschluss zeigender Mängel ausgeschlossen sein (§ 536c Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 Nr. 1). Es reicht insofern zumindest bei Laien aber, die Symptome grob anzuzeigen.114 6. Rechtsfolgen: gesetzliche Minderung

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Unmittelbare Rechtsfolge des § 536 Abs. 1 ist die verschuldensunabhängige Minderung des Mietzinses; eine Minderungserklärung ist hierfür nicht erforderlich; denn § 536 führt kraft Gesetz zu einer Änderung der Vertragspflicht und nicht bloß zu einem Gestaltungsrecht.115 Dabei entfällt der Mietzinsanspruch im Falle der Aufhebung der Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch komplett, im Falle der Minderung nur anteilig. Die Höhe der Mietminderung im Fall der Minderung der Gebrauchstauglichkeit ist in Ansehung des Umfangs der Reduzierung zu bestimmen. Eine Berechnung wie § 441 Abs. 3 ist mangels Praktikabilität nicht (mehr) vorgesehen.116 Die Reduzierung soll vielmehr, wie in der Praxis üblich und weil weniger kompliziert, unter Zugrundelegung von Prozentsätzen geschätzt werden.117 Die Rspr. und IT-rechtliche Literatur legt eine eher großzügige Minderungsquote nahe.118

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Während hierfür gerade im Wohnraummietrecht auf eine umfassende Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann, gibt es im IT-Recht nur vereinzelte Fälle.119 Denkbar ist auch, dass Parteien eine Absprache treffen, die nach § 536 bei Beeinträchtigung des vertragsmäßigen Gebrauchs der Mietsache ohne Weiteres eintretende Minderung des vereinbarten Mietzinses durch die Verpflichtung des Vermieters zu ersetzen, die Aufwendungen des Mieters zur Behebung der Gebrauchsbeeinträchtigung – etwa durch den Einsatz eines Ersatzprogramms – in Höhe eines bestimmten Betrages zu erstatten; haben die Parteien mit einer solchen Abrede aber vertraglich eine Bewertung hinsichtlich des Umfangs der Minderung des Werts der gemieteten Gesamtanlage getroffen, ist diese Regelung auch für die Zeit der Vorenthaltung der Mietsache nach Beendigung des Mietverhältnisses wirksam.120

III. Abdingbarkeit 43

Das Minderungsrecht kann abbedungen oder auch durch die Festlegung von vertraglichen Leistungsparametern konkretisiert bzw. im Vergleich zu Leistungen mittlerer Art und Güte verschärft oder entschärft werden. Bei Service-Level-Vereinbarungen (SLA) kann dieses eventuell implizit durch die Ver-

114 Großzügig für die Anzeige eines ausgefallenen Druckers ohne nähere Beschreibung OLG Hamm v. 11.1.1993 – 31 U 107/92, NJW-RR 1993, 1527. 115 BGH v. 29.10.1986 – VIII ZR 144/85, MDR 1987, 312; BGH v. 21.2.1990 – VIII ZR 116/89, CR 1991, 152; BGH v. 15.12.2010 – XII ZR 132/09, MDR 2011, 149 f.; BGH v. 4.9.2018 – VIII ZR 100/18, WuM 2018, 712, 714, s. auch LS 1.: „Zahlt der Mieter trotz vorhandener Mietmängel vorbehaltlos die ungeminderte Miete, ist die bereicherungsrechtliche Rückforderung der überzahlten Miete nicht gemäß § 814 Alt. 1 BGB ausgeschlossen, wenn er infolge einer unzutreffenden Parallelwertung in der Laiensphäre davon ausging, dass eine wirksame Mietminderung die Zustimmung des Vermieters voraussetzt.“ 116 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/4553, 40; widersprüchlich Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1361, 1362. 117 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/4553, 40. 118 Vgl. OLG Hamm v. 11.1.1993 – 31 U 107/92, NJW-RR 1993, 1527: Reduzierung auf Null bei einem nicht funktierenden Drucker einer Computeranlage; Redeker, IT-Recht, Rz. 605. 119 Zum Leasing etwa BGH v. 17.12.1986 – VIII ZR 279/85, MDR 1987, 575 f. = CR 1987, 423. 120 BGH v. 21.2.1990 – VIII ZR 116/89, CR 1991, 152.

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Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln

Rz. 46 § 536 BGB

einbarung einer Mängelbeseitigungsfrist erfolgen, so dass im Zweifel während des Laufes einer solchen Frist das Mietminderungsrecht ausgeschlossen ist.121 1. Zwingendes Recht Das Minderungsrecht ist in den Grenzen des § 202 sowie in den Grenzen des § 536d abdingbar. § 536 Abs. 4 gilt nur für Wohnraummiete.

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2. AGB-Recht Der komplette Ausschluss der mietrechtlichen Gewährleistung ist – ausgenommen beim Leasing, bei dem als Substitut die kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüche abgetreten werden (dazu Vor §§ 535 ff. Rz. 139 ff.), –122 AGB-rechtlich unzulässig (§ 307 Rz. 28). Das gilt auch für den Ausschluss der Gewährleistung bei Änderungen.123 Es ist weiter in der Rechtsprechung strittig, inwieweit das Minderungsrecht (außerhalb des Wohnraumrechts) in AGB ausgeschlossen werden kann.124 Zu Recht wird insofern betont, dass es jedenfalls gegen § 307 verstößt, das Minderungsrecht vollständig auszuschließen,125 weil die Überlassung einer mangelfreien Sache gerade als Essentialia geschuldet ist.126 Das Minderungsrecht soll sich zudem während der Nachbesserungszeit nicht beschränken lassen, weil die Überlassung der mangelfreien Sache Kardinalpflicht sei.127 Das allein überzeugt aber nicht, weil dieses eine andere Frage addressiert. Vertreten wird schließlich aber, dass, was für die RZ-Miete relevant sein kann, die Minderung wegen Flächenabweichung ausgeschlossen werden darf.128

45

AGB-rechtlich problematisch können unter dem Aspekt der Beschränkung der gesetzlichen Gewähr- 46 leistung, insbesondere nach § 307 Abs. 1, auch Service-Level-Vereinbarungen (SLA) sein; dies gilt zumindest dann, wenn sie nicht bloße Leistungsbeschreibung sind, also nicht bloß Art, Umfang oder Güte der Leistung festlegen (dazu auch Rz. 6), sondern den Umfang der vertraglich bestehenden Leistungspflicht, also das Leistungsversprechen wieder einschränken.129 Zu Unrecht ist das in der Rechtsprechung auch für prozentuale Verfügbarkeitsklauseln angenommen worden;130 die zumindest dann als zulässig zu erachten sind, wenn die Abweichungen der zugesagten Verfügbarkeit von einer 100%igen Verfügbarkeit sich im handelsüblichen bzw. zumutbaren Rahmen halten.131 Zudem ist ins-

121 Schuster, CR 2009, 205, 207, der aber wegen der verbleibenden Unsicherheit empfiehlt, diesen Gesichtspunkt ausdrücklich zu regeln. 122 S. für das IT-Leasing schon BGH v. 20.6.1984 – VIII ZR 131/83, NJW 1985, 129, 130. 123 Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 584, der solche Änderungen in AGB aber mitunter dann für zulässig hält, wenn die Änderungen die Fehleranalyse oder -beseitigung wesentlich erschweren oder unmöglich machen. 124 Die Anwendung von § 11 Nr. 10 a) AGBG a.F. (= § 308 Nr. 8 b) bb) BGB) mangels Lieferung (für das Leasing) abl. BGH v. 24.4.1985 – VIII ZR 65/84, BGHZ 94, 180, 186 ff. = MDR 1985, 757; a.A. OLG Düsseldorf v. 15.12.1983 – 10 U 119/83, MDR 1984, 1025 f. S. zur Frage des Ausschlusses der Minderung bzw. von Aufrechnungs- und Zurückbehaltungsrechten in diesem Kontext auch ausführlich Schneider, Handbuch EDVRecht, Kap. R Rz. 595 ff. 125 BGH v. 12.3.2008 – XII ZR 147/05, MDR 2008, 909; BGH v. 23.4.2008 – XII ZR 62/06, MDR 2008, 1089 f., wonach es in Ansehung von §§ 305c, 307 Abs. 1 Satz 2 reicht, dass eine Klausel derart gelesen werden kann. 126 Redeker, IT-Recht, Rz. 607. 127 Redeker, IT-Recht, Rz. 607 unter Hinweis auf BGH v. 24.10.2001 – VIII ARZ 1/01, NJW 2002, 673, 675 = MDR 2002, 330 f. 128 Bieber, NZM 2006, 683, 688. 129 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1108 f.; vgl. BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181, 182 = ITRB 2001, 76; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 64, 202 ff.; Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 200 ff. 130 LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396, 397 = ITRB 2007, 106: „99 % im Jahresmittel“ sind ein „verhüllte[r] Haftungsausschluss“. 131 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 64, 212 f.; Hilber/ Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 204 f.; Braun, Die Zulässigkeit von Service-Level-Agreements am Beispiel der Verfügbarkeitsklausel, S. 109. Insofern war die Entscheidung LG Karlsruhe

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BGB § 536 Rz. 46 Mietminderung bei Sach- und Rechtsmängeln besondere das AGB-rechtliche Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 2 zu beachten.132 Eine Klausel, welche ungeplante Wartungsarbeiten von der geleisteten Wartungszeit ausnimmt, ist zumindest dann unter beiden Aspekten problematisch, wenn diese Ausnahme nicht explizit auf vom Anbieter nicht zu vertretene Wartungsarbeiten begrenzt wird; problematisch ist eine solche Klausel auch unter dem Aspekt der nach §§ 307, 308 Nr. 4 und 309 Nr. 7 b unzulässigen Leistungsvorbehaltsklauseln.133 Anders stellt sich die Situation dar, wenn die Prozentsätze für die Verfügbarkeit von Systemen während bestimmter Zeiträume vereinbart werden. Zwar wird hier teils vertreten, dass eben auch dieses eine Beschränkung der Leistung darstelle;134 richtig ist es aber, hierin eine zudem ausreichend transparente Leistungsabrede zu sehen, weil es sich hier um verständliche und in der Summe auch nicht unkalkulierbare Leistungsangaben handelt.135 47

Demgegenüber ist es zulässig, den Mieter für die Geltendmachung der Minderung auf das Bereicherungsrecht zu verweisen, so dass dieser die Minderung nicht direkt in Abzug bringen kann, sondern diese aus § 812 vorgehen muss.136

48

In Einkaufs-AGB unzulässig sind Service-Level-Agreements, die in Garantien münden würden.137

IV. Einzelfälle und -fragen 49

Zahlt der Mieter mehr Miete, als dem Vermieter in Ansehung der Minderung qua Gesetzes (Rz. 41) zustehen, steht ihm ein bereicherungsrechtlicher Kondiktionsanspruch zu.138 Zahlt der Mieter trotz vorhandener Mietmängel vorbehaltlos die ungeminderte Miete, ist die bereicherungsrechtliche Rückforderung der überzahlten Miete nicht gemäß § 814 Alt. 1 ausgeschlossen, wenn er infolge einer unzutreffenden Parallelwertung in der Laiensphäre davon ausging, dass eine wirksame Mietminderung die Zustimmung des Vermieters voraussetzt.139 In sonstigen Fällen kann einem Bereicherungsanspruch mitunter § 814 entgegenstehen,140 im Fall anfänglicher Mängel sogar § 536b.141

50

Für das Leasing gelten andere Grundsätze (vgl. Vor §§ 535 ff. Rz. 109 ff., 150, 153 f.). Für die öffentliche Hand wird auf § 9 der Besondere Vertragsbedingungen für die Miete von EDV-Anlagen und -Geräten (BVB-Miete) hingewiesen.

132 133

134 135

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137 138 139 140 141

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v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396, 397 = ITRB 2007, 106 wegen des Abstellens auf das Jahresmittel im Ergebnis dann doch richtig. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1109; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch ITund Datenschutzrecht, § 13 Rz. 202; so mit Hinweisen zur Gestaltung auch Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 203, 209 ff. Für die Unwirksamkeit BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181, 183 = ITRB 2001, 76 m. insofern krit. Anm. Stögmüller; a.A. die Vorinstanz: OLG Köln v. 14.4.2000 – 6 U 135/99, CR 2000, 537, 540; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1109; ähnlich auch für allerdings dienstvertragliche Mobilfunkleistungen OLG Düsseldorf v. 31.10.1996 – 6 U 206/95, BB 1996, 2643, 2647. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 64, 205; Braun, Die Zulässigkeit von Service-Level-Agreements am Beispiel der Verfügbarkeitsklausel, S. 99. So zu Recht und ausführlich Peter, CR 2005, 404, 406 ff., 411 f.; Schoengarth, Application Service Providing, S. 259. Zu attestieren ist, dass der Hinweis des BGH v. 12.12.2000 – XI ZR 138/00, CR 2001, 181, 183 = ITRB 2001, 76 in seiner Entscheidung zum Online-Banking, dass wenn „sich aus [der] Vereinbarung … keine zeitliche[n] Nutzungsbeschränkungen [ergäben], … dem Kunden der Onlinezugriff auf den Rechner … grundsätzlich unbeschränkt zu[stünde]“ nicht eindeutig ist. Betont werden kann das Wort „zeitliche“ im engeren Sinne; genauso gut ist ein allgemeiner Gegenschluss denkbar. BGH v. 27.1.1993 – XII ZR 141/91, NJW-RR 1993, 519, 520; KG v. 17.9.2012 – 8 U 87/11, GE 2012, 1636; Redeker, IT-Recht, Rz. 607 weist darauf hin, dass nicht klar ist, ob das auch gegenüber Verbrauchern gilt; s. aber auch OLG Stuttgart v. 29.9.2008 – 5 U 65/08, NZM 2009, 32 f.: Zahlungspflicht des Mieters dann nur Zugum-Zug gegen Sicherheitsleistung. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 206. BGH v. 26.10.1994 – VIII ARZ 3/94, MDR 1995, 142 f.; BGH v. 18.4.2007 – XII ZR 139/05, MDR 2007, 1065, 1066 f.; OLG Düsseldorf v. 13.1.2005 – 10 U 86/04, ZMR 2005, 450; Lögering, NZM 2010, 113 m.w.N. So wörtlich BGH v. 4.9.2018 – VIII ZR 100/18, WuM 2018, 712, LS 1. S. dazu ausführlich Lögering, NZM 2010, 113 ff. Vgl. BGH v. 16.7.2003 – VIII ZR 274/02, ZIP 2003, 1502.

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Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels

§ 536a BGB

V. Verweise/Kontext Die §§ 536b, c sind zu beachten. Weiter besteht ein enger Kontext zur Überlassungs- und Erhaltungspflicht gem. § 535.

§ 536a Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels (1) Ist ein Mangel im Sinne des § 536 bei Vertragsschluss vorhanden oder entsteht ein solcher Mangel später wegen eines Umstands, den der Vermieter zu vertreten hat, oder kommt der Vermieter mit der Beseitigung eines Mangels in Verzug, so kann der Mieter unbeschadet der Rechte aus § 536 Schadensersatz verlangen. (2) Der Mieter kann den Mangel selbst beseitigen und Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen, wenn 1. der Vermieter mit der Beseitigung des Mangels in Verzug ist oder 2. die umgehende Beseitigung des Mangels zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Bestands der Mietsache notwendig ist. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung und Historie der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mangel im Sinne des § 536 . . . . . . . . . . 2. Mangel bei Vertragsschluss (§ 536a Abs. 1 Alt. 1) . . . . . . . . . . . . . . 3. Mangel nach Vertragsschluss (§ 536a Abs. 1 Alt. 2) . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehen des Mangels nach Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertretenmüssen des Vermieters . . . . . . c) Kein Ausschluss gem. § 536c . . . . . . . . 4. Verzug des Vermieters mit der Beseitigung eines Mangels (§ 536a Abs. 1 Alt. 3) . . . . . 5. Keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Mieters von den Mängeln bei Vertragsschluss oder Annahme (§ 536b) . .

. .

5 5

.

7

.

8

. 8 . 9 . 12

6. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruch auf Schadensersatz . . . . . . b) Selbsthilferecht und Aufwendungsersatz (§ 536a Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . aa) Voraussetzungen und Umfang des Selbsthilferechts . . . . . . . . . (1) Verzug mit Mängelbeseitigung (§ 536a Abs. 2 Nr. 1) . . . . . . . . . (2) Not- und Eilmaßnahmen (§ 536a Abs. 2 Nr. 2) . . . . . . . . . (3) Inhalt des Selbsthilferechts . . . . . bb) Voraussetzungen und Inhalt des Aufwendungsersatzanspruchs . . .

. . 15 . . 16 . . 21 . . 22 . . 23 . . 25 . . 27 . . 29

. 13

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

. 14

IV. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . . 32 V. Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Boehm, Herausforderungen von Cloud Computing-Verträgen: Vertragstypologische Einordnung, Haftung und Eigentum an Daten, ZEuP 2016, 358; Brandi-Dohrn, Die gewährleistungsrechtliche Einordnung des Software-Überlassungsvertrages, CR 1986, 63; Emmerich, Neues Mietrecht und Schuldrechtsmodernisierung, NZM 2002, 362; Grützmacher, Lizenzmetriken und Copyright – ein Widerspruch? – Ausgestaltung, Wirksamkeit und Rechtsfolgen von Lizenzbeschränkungen, ITRB 2017, 141; Heussen, Unvermeidbare Softwarefehler – Neue Entlastungsmöglichkeiten für Hersteller, CR 2004, 1, 6; Kilian, Vertragsgestaltung und Mängelhaftung bei Computersoftware, CR 1986, 187; Kremer, Anpassungspflicht für Software bei Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 116; Kremer, Vertragsgestaltung bei Anpassung von Software wegen Änderungen der Rechtslage, ITRB 2013, 143; Lehmann (Hrsg.), Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen: Urheberrecht, Patentrecht, Warenzeichenrecht, Wettbewerbsrecht, Kartellrecht, Vertrags- und Prozessrecht, Produzentenhaftung, 2. Aufl. 1993; Malatidis, „Co-Creation“ und „Success as a Service“ im Rahmen von (Standard-)SaaS – Kein Standard für das BGB, ITRB 2017, 109; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Mehrings, Computersoftware und Gewährleistungsrecht, NJW 1986, 1904; Redeker, IT-

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BGB § 536a Rz. 1 Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels Recht, 6. Aufl. 2017; Röttgen, Schadenersatzhaftung für Softwaremängel des Vorlieferanten – Ist der Softwarelieferant Erfüllungsgehilfe i.S.v. § 278 BGB?, ITRB 2017, 191; Schmidt-Futterer (Hrsg.), Mietrecht, Großkommentar des Wohn- und Gewerberaummietrechts, 14. Aufl. 2019; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, Baden Baden 2017; Schuster, Softwareprojekte und Dauerschuldverhältnisse – Wie sich die Ergebnisse eines vorgelagerten Softwareprojektes auf ein anschließendes Dauerschuldverhältnis (wie etwa SaaS) auswirken können, CR 2018, 209; Wicker, Haftet der Cloud-Anbieter für Schäden beim Cloud-Nutzer? – Relevante Haftungsfragen in der Cloud, MMR 2014, 715; Wicker, Haftungsbegrenzung des Cloud-Anbieters trotz AGB-Recht? – Relevante Haftungsfragen in der Cloud, MMR 2014, 787.

I. Allgemeines 1. Einführung und Historie der Norm 1

Die Ansprüche des § 536a zielen nicht mehr auf eine gewährleistungsrechtliche Nacherfüllung, sondern beziehen sich auf die Nichterfüllung. Eine Besonderheit des mietvertraglichen Gewährleistungsgenauer Schadensersatzrechts ist die Garantiehaftung für anfänglich bestehende Mängel. Anders als der Verkäufer, der Ware oft nur handelt, trägt der Vermieter eine langfristige Verantwortung für die Mietsache; dies lässt es angemessen erscheinen, dass er sich um die Mietsache im Vorfeld des Vertragsschlusses kümmert und diese unter Beobachtung hält bzw. eben für Mängel verschuldensunabhängig haftet. Insoweit unterscheidet sich die Haftung von dem des Verkäufers, der sich zumindest exkulpieren kann (§§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1 Satz 2). Im Übrigen erlaubt die Schadensersatzregelung, den Ersatz sämtlicher Nichterfüllungsschäden (Schadensersatz statt der Leistung) zu verlangen; das betrifft dann nicht nur wie beim Nacherfüllungsanspruch und der Minderung das Äquivalenz-, sondern eben auch das Integritätsinteresse des Mieters (bzw. ersatzberechtigter Dritter). Im Rahmen der Schuldrechtsreform 2002 ist die Norm kaum modifiziert worden.1 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

Gerade im Softwarebereich werden (von den Fällen sich ändernder Umstände abgesehen; dazu § 536 Rz. 36 f. sowie Rz. 8 ff.) Mängel von Anfang an vorhanden sein, so dass der Anbieter schnell einer Garantiehaftung ausgesetzt sein dürfte; in diesem Segment hat diese also eine hohe Bedeutung.2 Es überzeugt auch nicht, die Anwendung der Garantiehaftung auf Softwaresachverhalte auszuschließen3 oder einzuschränken.4 Denn der Vermieter steht auch dort als Eigentümer/Verfügungsbefugter mit entsprechenden Entscheidungsbefugnissen über die Mietsache in der Verantwortung.5 Auch kann die Garantiehaftung selbst in AGB ausgeschlossen werden (s. unter Rz. 31).

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Schadensersatzansprüche können „unbeschadet der Rechte aus § 536“ geltend gemacht werden, also neben bzw. zusätzlich zur Minderung. Abzugrenzen ist der Anwendungsbereich des § 536a im Übrigen von Fällen des Untergangs der Mietsache vor Vertragsschluss (§ 311 Abs. 1) und nach Vertragsschluss (§ 275 Abs. 1), die früher als anfängliche und nachträgliche objektive Unmöglichkeit bezeichnet wurden.6 Weiter unterfällt auch der Fall des anhaltenden Besitzes des Vormieters, der früher als Unvermögen klassifiziert worden wäre, gem. den §§ 275, 311a Abs. 2 bzw. 326 Abs. 5.7 Demgegenüber ist nach h.M. ein Rückgriff auf den Aufwendungsersatzanspruch des § 539 Abs. 1 gesperrt, soweit die Vo-

1 Dazu ausführlich Emmerich, NZM 2002, 362 ff. 2 Vgl. Redeker, IT-Recht, Rz. 611. 3 So aber (zumindet im Ergebnis) Mehrings, NJW 1986, 1904, 1908; vgl. auch Brandi-Dohrn, CR 1986, 63, 68 ff.; Kilian, CR 1986, 187, 194 f. 4 Für einen Haftungsausschluss im Fall von auch bei äußerster Sorgfalt nicht erkennbaren Mängeln bzw. eine Beschränkung auf bestimmte Schäden Lehmann/Köhler/Fritzsche, Rechtsschutz und Verwertung von Computerprogrammen, Kap. XIII., Rz. 193. 5 Redeker, IT-Recht, Rz. 611. 6 Zu diesen Konstellationen sowie Konstellationen der sog. Teilzerstörung oberhalb der sog. „Opfergrenze“ Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 4 ff. und 9 ff. 7 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 11.

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Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels

Rz. 7 § 536a BGB

raussetzungen des § 536a Abs. 2 nicht vorliegen.8 Inwieweit die Haftung für Ansprüche aus c.i.c. ausgeschlossen ist,9 ist strittig (dazu Rz. 5). Auch die Haftung nach §§ 280, 281 ist durch das geschlossene System des § 536a verdrängt, soweit es nicht um die Haftung für Nebenpflichtverletzungen, sondern bloß für Mängel geht. Die Norm des § 536a findet aufgrund von §§ 581 Abs. 2, 586 Abs. 2 auch im Pachtrecht Anwendung.

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II. Norminhalt 1. Mangel im Sinne des § 536 Es muss zunächst ein Mangel im Sinne des § 536 vorliegen (dazu § 536 Rz. 5 ff.). Das meint ggf. auch das Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft.10 Insofern kann auf die dortige Kommentierung verwiesen werden (§ 536 Rz. 26 ff.). Zu beachten ist weiter, dass § 536a nach h.M. erst nach der Übergabe11 der Mietsache anzuwenden ist, wie sich ebenfalls aus der Verweisung auf § 536, namentlich auf dessen Abs. 1, und dessen Wortlaut („… zur Zeit der Überlassung …“) ergibt.12 Davon abweichend soll auch der Fall der Doppelvermietung von § 536a erfasst sein, wie sich aus dem Verweis auf § 536 Abs. 3 ergibt.13

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Offengelassen hat der BGH aber ausdrücklich, ob es in besonderen, von dem typischen Bild des Mietvertrages abweichenden Fallgestaltungen (etwa bei der Vermietung erst noch herzustellender Sachen der sog. Vermietung auf dem Reißbrett) gerechtfertigt sein kann, Ausnahmen von dieser Regel zuzulassen.14 Gerade diese Konstellation ist aber für das IT-Recht eine typische.15 Richtig erscheint es in der Konsequenz des Verweises auf § 536 gleichwohl, von einer vorgeschalteten Herstellungs- und insoweit Erfüllungsphase und sodann Gewährleistungsphase auszugehen und daher in dieser Konstellation – analog den Gegebenheiten beim Werkvertragsrecht – bis zur Annahme bzw. (vertraglich vereinbarten) Abnahme auf die Regelungen des allgemeinen Schuldrechts, insbesondere die §§ 280 ff. abzustellen.16

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2. Mangel bei Vertragsschluss (§ 536a Abs. 1 Alt. 1) Liegt ein Mangel bereits vor Vertragsschluss vor, ist ein weiteres Verschulden des Vermieters nicht erforderlich. Bei diesen sog. ursprünglichen Mängeln greift vielmehr die Garantiehaftung des § 536a Abs. 1 Alt. 1. Das gilt entsprechend für den Zeitpunkt einer Vertragsverlängerung, nicht aber bei einer Verlängerungsoption des Mieters oder einer Verlängerungsklausel.17 Insoweit weist Marly nicht ganz zu Unrecht darauf hin, dass bei Software, weil diese nicht verschleißt, grundsätzlich immer ein die Garantiehaftung begründender Konstruktionsmangel vorliege.18 Allerdings weisen bei Software gerade die Pflege ebenso wie auch die Änderung des technischen und auch regulatorischen Umfelds ein nicht nur unerhebliches Potential zur Entstehung von Mängeln (s. dazu § 536 Rz. 36 f. sowie auch nachfol8 BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, MDR 2008, 440 f. m.w.N. auch zur Gegenauffassung; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 17. 9 Dazu auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1366. 10 Vgl. BGH v. 15.6.1964 – VIII ZR 255/62, MDR 1964, 915 f.; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 10; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 16; Schmidt-Futterer/Eisenschmid, § 536a BGB Rz. 10. 11 Vor allem in Abgrenzung zur culpa in contrahendo (c.i.c.). 12 BGH v. 18.6.1997 – XII ZR 192/95, MDR 1997, 921, 922; BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 12/97, NJW 1999, 635 = WuM 1999, 324; OLG Naumburg v. 30.6.1999 – 6 U 92/98, OLGR Naumburg 2000, 218; Blank/Börstinghaus/ Blank, § 536a BGB Rz. 2; a.A. (zumindest teils) Emmerich, NZM 2002, 362, 363 ff. 13 BGH v. 20.4.2005 – XII ZR 29/02, WM 2005, 1575, 1577; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 3. 14 So wörtlich BGH v. 18.6.1997 – XII ZR 192/96, NJW 1997, 2813, 2814. 15 Schuster, Softwareprojekte und Dauerschuldverhältnisse – Wie sich die Ergebnisse eines vorgelagerten Softwareprojektes auf ein anschließendes Dauerschuldverhältnis (wie etwa SaaS) auswirken können, CR 2018, 209. 16 Ohne Begründung ebenso Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 3; ähnlich für einen Fall der Unmöglichkeit auch BGH v. 25.11.1998 – XII ZR 12-97, NJW 1999, 635. 17 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 17. 18 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1363; ähnlich Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 173 („zumindest im Quellcode angelegt“).

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BGB § 536a Rz. 7 Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels gend Rz. 8 ff. und § 535 Rz. 35 ff.) auch nach Vertragsschluss auf. Bei noch herzustellenden Mietobjekten soll der Zeitpunkt der Fertigstellung bzw. Übergabe abgestellt werden,19 was insbesondere für vorgeschaltete Softwareerstellungs- bzw. IT-Projekte oder auch den Rechenzentrumsumbau relevant sein kann. 3. Mangel nach Vertragsschluss (§ 536a Abs. 1 Alt. 2) a) Entstehen des Mangels nach Vertragsschluss 8

Entsteht ein Mangel erst nach Vertragsschluss, erfordert eine Haftung ein Vertretenmüssen des Vermieters (dazu Rz. 9 ff.). Für die Frage, ob der Mangel nach Vertragsschluss entsteht, ist bei späterer schriftlicher Bestätigung ggf. auf den vorherigen formlosen Vertragsschluss abzustellen.20 Weiter ist es nicht erforderlich, dass der als Gefahrenquelle vorhandene Mangel auch schon hervorgetreten ist.21 Insofern greift die Regelung bei noch herzustellenden Mietsachen mit deren Fertigstellung und Übergabe.22 Unter Abs. 1 Alt. 2 können auch später gelieferte neue Version (Updates oder Upgrades) fallen.23 Allerdings gilt das nur, wenn diese im Rahmen der Erhaltungspflicht geliefert werden. Jedenfalls wenn etwa für Upgrades eine Zusatzzahlung erfolgt, stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr die Haftung nach Abs. 1 Alt. 1 greift, weil der Mietgegenstand letztlich durch eine weitergehende Vereinbarung ergänzt wird. b) Vertretenmüssen des Vermieters

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Das Vertretenmüssen des Vermieters erfordert ein Verschulden des Vermieters (§ 276) oder eines Erfüllungsgehilfen (§ 278). Soweit bzw. da im IT-Recht die Leistungen oft durch Unternehmen angeboten werden, greift nur in wenigen Fällen § 276, etwa bei der Verletzung von Organisationspflichten24 durch die Organe einer Kapitalgesellschaft oder Gesellschafter einer Personengesellschaft. Zumeist wird für Arbeitnehmer und sonstige Mitarbeiter gem. § 278 gehaftet. Der Vermieter hat z.B. die Lieferung eines mangelhaften Patches, Updates oder Upgrade im Rahmen der Softwarepflege zu vertreten25 oder auch das spätere Entfallen der Tauglichkeit der Software aufgrund sich ändernder Umstände (s. dazu § 536 Rz. 36 f.), also Mängel mangels Pflege. Bei Providerleistungen haftet der Vermieter nach § 278 regelmäßig auch für Subunternehmer;26 gem. § 278 zuzurechnen sind ggf. etwa zuliefernde Telekommunikationsbetreiber oder Unternehmen, deren sich der Vermieter für die erforderlichen Wartungsarbeiten oder die Installation von Einrichtungen für den Service als Subunternehmer bedient.27 Grenzen ergeben sich aber möglicherweise, wo Mängel aus zugekauften Systemen oder Softwareprodukten auf die Providerleistung durchschlagen; denn im Kaufrecht ist durch die Rechtsprechung28 anerkannt, dass § 278 nicht greift.29 19 BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 212/52, MDR 1953, 540, 541; OLG München v. 1.12.1995 – 21 U 3013/95, OLGR 1996, 25, 26; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 17. 20 BGH v. 22.1.1968 – VIII ZR 195/65, NJW 1968, 885, 886; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 10. 21 OLG Dresden v. 28.7.2006 – 5 U 581/06, NJW-RR 2006, 1601, 1602; OLG München v. 1.12.1995 – 21 U 3013/95, ZMR 1996, 322, 323; BGH v. 22.1.1968 – VIII ZR 195/65, NJW 1968, 885, 886; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 10. 22 Vgl. BGH v. 29.4.1953 – VI ZR 212/52, NJW 1953, 1180; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 10. 23 So pauschal Redeker, IT-Recht, Rz. 613; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 177. 24 S. etwa zu den weitreichenden Organisationspflichten bei der Einholung von Schutzrechten OLG Hamburg v. 17.4.2002 – 5 U 24/01, CR 2003, 59 = ITRB 2002, 203; OLG Karlsruhe v. 23.4.2008 – 6 U 180/06, CR 2009, 217, 219 f.; Grützmacher, ITRB 2017, 141, 146. 25 Vgl. zur Haftung nach § 278 BGH v. 13.5.2015 – XII ZR 65/14, MDR 2015, 878, 879; vgl. auch Redeker, ITRecht, Rz. 613. 26 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1110; Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 105; vgl. Röttgen, ITRB 2017, 191, 193. 27 LG Berlin v. 28.1.2014 – 15 O 300/12, K&R 2014, 284, 286; vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1110. 28 St. Rspr. seit BGH v. 21.6.1967 – VIII ZR 26/65, BGHZ 48, 118 = NJW 1967, 1903; auch nach der Schuldrechtsreform bestätigt durch BGH v. 15.7.2008 – VIII ZR 211/07, CR 2008, 617, 620; BGH v. 19.6.2009 – V ZR 93/08, BB 2009, 1939, 1941; für einen Werklieferungsvertrag BGH v. 2.4.2014 – VIII ZR 46/13, MDR 2014, 702, 703). 29 Röttgen, ITRB 2017, 191, 193. Vgl. auch zum IT-Leasing BGH v. 30.9.1987 – VIII ZR 226/86, CR 1987, 846, 848.

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Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels

Rz. 13 § 536a BGB

Entscheidend ist, ob der Mieter mit Blick auf die Überlassungs- und Erhaltungspflichten der verkehrsüblichen Sorgfalt genügt hat. Bei der Unterlassung von Pflege- und Wartungsmaßnahmen fragt sich etwa, in welchen Intervallen diese erfolgen müssen, um der verkehrsüblichen Sorgfalt zu genügen; im Zweifel ist auf den Stand der Technik abzustellen, was verschiedenste technische Überprüfungsmaßnahmen umfassen kann.30 Für die mangelnde Verfügbarkeit eines Servers aufgrund aus der Sphäre des Mieters stammender Ursachen haftet Vermieter hingegen nicht.31

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Der Mieter hat zwar grundsätzlich die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch nach § 536a 11 darzulegen und zu beweisen (näher zur Beweislast für das Vorliegen eines Mangels § 536 Rz. 38); davon abweichend hat aber der Vermieter den Entlastungsbeweis für das Vertretenmüssen zu erbringen, soweit die Ursache des Mangels aus dem Herrschafts- und Einflussbereich des Vermieters rührt.32 Diese Verteilung der Darlegungs- und Beweislast folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift und den allgemeinen Regeln; die Ausnahme, dass sich der Vermieter entlasten muss, wenn feststeht, dass die Schadensursache in seinem Herrschafts- und Einflussbereich gesetzt worden ist, beruht auf der im Mietrecht geltenden Verteilung der Darlegungs- und Beweislast nach Verantwortungsbereichen.33 In der Literatur wird insofern vertreten, dass die Darlegungs- und Beweislast zur Entlastung für das Vertretenmüssen etwa beim ASP unzweifelhaft beim Vermieter läge, während diese bei der Installation der Software in der IT-Umgebung des Mieters wegen dessen Verantwortung für diese nicht so eindeutig sei.34 Allerdings relativiert sich dieses Gegenargument, weil bei Prüfung des Verschuldens der Pflichtverstoß des Vermieters bereits dargelegt und bewiesen sein muss. c) Kein Ausschluss gem. § 536c Schadensersatzansprüche für nach Vertragsschluss auftretende Mängel können mangels unverzüglicher Anzeige sich erst nach Vertragsschluss zeigender Mängel ausgeschlossen sein (§ 536c Abs. 1, 2 Satz 2 Nr. 2).

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4. Verzug des Vermieters mit der Beseitigung eines Mangels (§ 536a Abs. 1 Alt. 3) Der Verzug des Vermieters mit der Mängelbeseitigung setzt mehr als eine Anzeige nach § 536c voraus. 13 Er erfordert vielmehr einen Schuldnerverzug i.S.v. § 286, mithin Fälligkeit und eine Mahnung (§ 286 Abs. 1) oder – dann ist die Fälligkeit entbehrlich – eine vereinbarte oder angekündigte Mängelbeseitigung oder besondere Umstände (§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 4). So kann in der telefonischen Aufforderung, ein unverschuldet nicht verfügbares System zu entstören, eine Mahnung i.S.v. Abs. 1 liegen, die nach Ablauf einer angemessenen Abhilfefrist zum Verzug führt.35 Ein Verzug nach § 286 Abs. 2 Nr. 2 ergibt sich mitunter aus entsprechenden Service-Level-Vereinbarungen (SLA), während Nr. 4 u.U. bei besonders schwerwiegenden Mängeln (Stillstand elementarer IT-Systeme bzw. Software)36 in Betracht kommen mag. Ein fehlendes Vertretenmüssen (§§ 276, 278) steht dem Verzug entgegen und ist vom Vermieter zu beweisen. Kann der Mangel nicht behoben werden, liegt kein Verzug und insofern kein Gewährleistungsfall, sondern ein Fall der Unmöglichkeit vor.37

30 Schneidereit, Haftung für Datenverlust im Cloud Computing, S. 102 f. mit technischen Ausführungen zur Wartung von Serverfarmen. 31 AG Berlin-Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297, 298 m. zust. Anm. Runte für den Fall einer Überlastung eines Webservers aufgrund des übermäßigen Ansturms von Kunden auf ein Angebot des Mieters. 32 BGH v. 25.1.2006 – VIII ZR 223/04, NJW 2006, 1061; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 11; vgl. Wicker, MMR 2014, 715, 716; wohl auch BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, NJW 2008, 1216, 1217; zu konkreten Möglichkeiten des Entlastungsbeweises bei Softwaremängeln allgemein Heussen, CR 2004, 1, 6. 33 BGH v. 25.1.2006 – VIII ZR 223/04, NJW 2006, 1061 unter Hinweis auf BGH v. 18.5.1994 – XII ZR 188/92, NJW 1994, 2019 und BGH v. 3.11.2004 – VIII ZR 28/04, NJW-RR 2005, 381. 34 Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 178. 35 AG Berlin-Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297, 298 f. m. zust. Anm. Runte, aber Zweifeln hinsichtlich der langen Abhilfrist von anderthalb Tagen und der Erforderlichkeit der Mahnung. 36 Vgl. auch Runte, CR 2002, 297, 300. 37 Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 12.

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BGB § 536a Rz. 14 Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels 5. Keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Mieters von den Mängeln bei Vertragsschluss oder Annahme (§ 536b) 14

Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Mieters kann die Gewährleistungsrechte nach § 536a ausschließen (dazu näher § 536b Rz. 3 ff.). 6. Rechtsfolgen

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Der Mieter hat neben dem Recht auf Minderung ein Wahlrecht zwischen Schadensersatz gem. § 536a Abs. 1 und Aufwendungsersatz gem. § 536a Abs. 2. Während § 536a a.F. noch den Zusatz „wegen Nichterfüllung“ aufwies, ist dieser in der Fassung seit der Schuldrechtsreform nicht mehr existent; gleichwohl geht es inhaltlich um Schadensersatz statt der Leistung (i.S.v. § 280 Abs. 3 i.V.m. §§ 283, 282) oder Aufwendungsersatz i.S.v. § 284.38 a) Anspruch auf Schadensersatz

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Ersatzberechtigt ist zunächst der Mieter. Aber auch Dritte, die in den Schutzbereich des Vertrags einbezogen sind, können Schadensersatzansprüche geltend machen.39 Gerade bei IT-Leistungen, die oftmals zur Kommunikation, in vernetzten Systemen oder zur Datenverarbeitung (auch) für Dritte erbracht werden, wird im Einzelfall genau zu prüfen sein, wie weit diese Schutzwirkung zu Gunsten Dritter reicht. Erforderlich sind hierfür eine besondere Leistungsnähe, die bei Personen gegeben ist, die mit den Leistungen wie der Mieter selbst in Berührung kommen,40 und für die ein Einziehungsinteresse besteht, denen der Mieter Schutz und Fürsorge „schuldet“. Regelmäßig erfordert das einen Vertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis mit den Dritten mit personenbezogenem Einschlag.41

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Umfasst vom Schadensersatz sind der Schadensersatz statt der Leistung (Nichterfüllungsschäden) sowie der Ersatz mangelbedingter Aufwendungen, wobei dieser insbesondere durch Abs. 2 beschränkt wird. Der Schaden bestimmt sich nach der sog. Differenzhypothese, wobei hierbei grds. die Mangelhaftigkeit, bei Alt. 3 des Abs. 1 aber der Verzug mit der Mangelbeseitigung Ausgangspunkt für die Differenzbetrachtung ist. Daher sind etwa erfolgte Minderungen der Vergütung gegenüber dem Schaden aufgrund Nutzungsausfall schadensmindernd anzusetzen.42

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Zu ersetzen sind Körper- und Sachschäden, wie sie in der IT insbesondere bei Steuerungs- und embbeded Systemen zu erwarten sind, sowie damit verbundene Folgeschäden. Ggf. kann es auch ein Schmerzensgeld nach § 253 geben.43 Nichterfüllungsschäden umfassen, was für das IT-Recht besonders wichtig ist, aber insbesondere sämtliche Vermögensschäden wie etwa den geminderten Gebrauchswert der Mietleistung/-sache, den entgangenen Gewinn i.S.v. § 25244 sowie auch Mangelfolgeund Begleitschäden (etwa, soweit diese nicht für die Mängelbeseitigung selbst anfallen [s. Rz. 19, 21 ff.], Ausbau- und Wiedereinbaukosten, Transportkosten, Untersuchungskosten, Kosten und Schäden aufgrund von Datenverlusten sowie Kosten für die Anschaffung neuer Hardware oder Software sowie für Mitarbeiterschulungen).45 Ein solcher Schaden kann auch die entgangene Untermiete (Unterlizenzierung, Ausfall von Einnahmen beim Service-Providing in der Kette, etc.) begründen. Als 38 Jauernig/Teichmann, § 536a BGB Rz. 8; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 14. 39 BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152, 3153: Arbeitnehmer; OLG Rostock v. 14.12.2006 – 3 W 52/06, NJW-RR 2007, 1092; OLG Köln v. 8.11.2000 – 11 U 41/00, MDR 2001, 561: Besucher. 40 BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152, 3153; BGH v. 15.2.1978 – VIII ZR 47/77, NJW 1978, 883. 41 S. etwa BGH v. 16.2.2005 – XII ZR 216/02, ZMR 2005, 520, 521; OLG Rostock v. 14.12.2006 – 3 W 52/06, NJW-RR 2007, 1092. 42 MünchKomm/Häublein, § 536a BGB Rz. 12 m.w.N. 43 OLG Düsseldorf v. 28.5.2009 – I-24 U 151/08, OLGR 2009, 727 f.; OLG Rostock v. 14.12.2006 – 3 W 52/06, NJW-RR 2007, 1092 = OLGR Rostock 2007, 431 f. 44 BGH v. 17.6.1998 – XII ZR 206/96, NZM 1998, 666 = WM 1998, 1787; Wicker, MMR 2014, 715, 716; für den Ausfall eines Webservers LG Karlsruhe v. 12.1.2007 – 13 O 180/04 KfH I, CR 2007, 396, 398; AG Berlin-Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297, 299 m. zust. Anm. Runte. 45 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1364; für den Ersatz der Kosten eines neuen IT-Systems und nutzloser Aufwendungen in einem Fall der Softwaremiete, LG Freiburg v. 29.1.1987 – 12 O 46/85, CR 1988,

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Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels

Rz. 21 § 536a BGB

Nichterfüllungsschäden erstattungsfähig sind weiter Kosten für eine (vorübergehende) Ausweichlösung und Kosten für die Mangelfeststellung wie etwa Sachverständigenkosten bzw. sonstige Kosten der Beweissicherung.46 Sind Umsatz- und Zuwachsverluste für die Zeiträume mangelnder Einsatzfähigkeit einer gemieteten Software bewiesen, so ist der Beweis des ersten Anscheins dafür erbracht, dass der Umsatzrückgang wesentlich auf die Störanfälligkeit der Anlage und die Fehlerhaftigkeit der Programme zurückzuführen ist.47 Je nach Konstellation kommen mitunter auch frustrierte Aufwendungen als Schäden in Betracht, nämlich etwa Kosten für die Implementierung, die Softwareanpassung und das Customizing sowie die Schulung.48 Auch Kündigungsfolgeschäden sind, ohne dass es auf eine formgerechte Kündigung ankommt, umfasst.49 Denkbar ist insofern z.B. die Erstattung der Kosten für die Suche einer Ersatzlösung, der Ersatz von Migrationskosten und Kosten für eine angemessene Ersatzlösung sowie auch die Kompensation der etwaigen Differenz zwischen der bisherigen und neuen Miete bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Vermieter seinerseits hätte ordentlich kündigen können.50 Es sind also auch die Kosten der für notwendige Deckungsgeschäfte angefallenen Aufwendungen zu ersetzen.51 Auch kann der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens erhoben werden.52 Mangelbeseitigungskosten werden nur unter dem Vorbehalt des Abs. 2 kompensiert.53

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Schadensersatzmindernd ist nach § 254 ein Mitverschulden des Mieters zu berücksichtigen; das gilt auch im Falle der Garantiehaftung nach § 536a Abs. 1 Alt. 1.54 Dieses kann sich insbesondere auch aus § 536c ergeben.55

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b) Selbsthilferecht und Aufwendungsersatz (§ 536a Abs. 2) Aus Abs. 2 folgt unter dessen Voraussetzungen ein Recht, also eine Befugnis, aber keine Pflicht des Mie- 21 ters zur Selbsthilfe.56 Allenfalls kann eine mangelnde Beseitigung zum Mitverschulden (§ 254) führen, wenn sie dem Mieter zumutbar ist. Führt der Mieter allerdings die Mängelbeseitigung durch, muss er dieses sorgfältig und fachgerecht tun (§ 241). Das Recht schließt Schadensersatzansprüche nicht aus.57 Liegt andersherum die Voraussetzung für das Selbsthilferecht nicht vor, kann der Mieter seine Aufwendungen auch nicht über GoA, § 812, §§ 683, 684, 812 oder 539 Abs. 1 geltend machen.58

46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

382, 385; sowie für Hardware, Software und Schulungen bei einer Systemmiete LG Essen v. 16.1.1986 – 43 O 129/84, CR 1987, 428, 431. S. auch Boehm, ZEuP 2016, 358, 377 f. BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, NJW 2008, 1216; Mangelerforschungskosten sollen hingegen Abs. 2 zugeordnet werden; s. hierzu Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 28; auch BGH v. 21.4.2010 – VIII ZR 131/09, NJW 2010, 2050, 2052. LG Freiburg v. 29.1.1987 – 12 O 46/85, CR 1988, 382, 384; sich diesem anschließend Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1364. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 181. BGH v. 31.10.2012 – XII ZR 126/11, MDR 2013, 82, 83; vgl. BGH v. 3.7.2013 – VIII ZR 191/12, MDR 2013, 1025. BGH v. 12.1.1972 – VIII ZR 26/71, MDR 1972, 411, LS 1. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 27–30, unter Hinweis auf die Rspr. zum Kaufrecht, namentlich BGH v. 3.7.2013 – VIII ZR 169/12, NJW 2013, 2959. BGH v. 2.11.2016 – XII ZR 153/15, MDR 2017, 572. BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, MDR 2008, 440 f.; OLG Düsseldorf v. 5.2.2009 – I-10 U 128/08, MDR 2009, 801; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1364. BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, MDR 1977, 743 f. BGH v. 21.7.2010 – XII ZR 189/08, NJW 2010, 3152; BGH v. 5.12.1990 – VIII ZR 331/89, NJW-RR 1991, 970, 971; OLG Düsseldorf v. 11.2.2003 – 24 U 87/02, WuM 2003, 386. RG v. 17.9.1920 – III 92/20, RGZ 100, 42, 44; OLG Düsseldorf v. 11.2.2003 – 24 U 87/02, WuM 2003, 386 f. = OLGR Düsseldorf 2003, 381, 382; a.A. Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 17: Obhutspflicht. Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 17. BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, NJW 2008, 1216, 1217; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 17.

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BGB § 536a Rz. 22 Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels aa) Voraussetzungen und Umfang des Selbsthilferechts 22

Das Selbsthilferecht (und auf der Selbsthilfe dann aufbauend der Aufwendungsersatzanspruch) besteht in zwei alternativen Fallkonstellationen (Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2). (1) Verzug mit Mängelbeseitigung (§ 536a Abs. 2 Nr. 1)

23

In der ersten Fallvariante besteht das Selbsthilferecht beim Verzug mit der Mängelbeseitigung, ohne dass es hierfür einer Fristsetzung bedarf. Regelmäßig basiert dieser Verzug auf einer Mahnung (§ 286 Abs. 1). Das Selbsthilferecht tritt dann nach einer angemessenen Mangelbeseitigungszeit ein.59 Sind hingegen im Rahmen von Service-Level-Vereinbarungen (SLA) Zeiten zur Fehlerbehebung vereinbart (s. dazu auch § 536 Rz. 43), tritt das Recht mit Ablauf entsprechender Service-Level-Zeiten ein (§ 286 Abs. 2 Nr. 2). Zudem liegt ein Verzug ohne Mahnung vor, wenn der Vermieter die Mangelbeseitigung ernsthaft und endgültig verweigert hat (§ 286 Abs. 2 Nr. 3), also etwa diese von Beginn an ablehnt und trotz nochmaliger Leistungsaufforderung nicht durchführt60 oder diese trotz Ankündigung nicht durchführt.61 Zurückhaltung ist – gerade im IT-Bereich – geboten, schon bei von vorherein untauglichen Fehlerbehebungsversuchen auf Abs. 2 Nr. 3 abzustellen.62 Auf § 286 Abs. 2 Nr. 4 wird sich der Mieter nur ganz ausnahmsweise berufen können;63 in den meisten Fällen wird dann ohnehin schon § 536a Abs. 2 Nr. 2 eingreifen.

24

Der Verzug des Vermieters endet bei Annahmeverzug gem. § 293, also z.B. wenn der Mieter nicht die notwendigen technischen Voraussetzungen für die Fehlerbehebung schafft (z.B. Untersuchungen der Systeme ablehnt, Zugriffsmöglichkeiten oder eine Fernwartung, soweit diese datenschutzrechtlich zulässig ist, unterbindet). (2) Not- und Eilmaßnahmen (§ 536a Abs. 2 Nr. 2)

25

Soweit Abs. 2 Nr. 2 vorschreibt, dass die Selbsthilfe alternativ dann erfolgen kann, wenn die umgehende Beseitigung des Mangels zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Bestands der Mietsache notwendig ist, zielt dieses auf Not- und Eilmaßnahmen.64 Notmaßnahmen liegen nur vor, soweit der Erhalt oder die Wiederherstellung der Mietsache objektiv die umgehende Mängelbeseitigung in Form der Selbsthilfe erfordern;65 die Mängelbeseitigung kann dann wegen der Dringlichkeit u.U. sogar ohne Anzeige des Mangels (§ 536c Abs. 1) bzw. Mahnung im Wege der Selbsthilfe erfolgen.66 Die drohende Zerstörung, Beschädigung oder der drohende Verlust der Mietsache dürfen keinen Aufschub dulden.67

26

Im Gegensatz zu Notmaßnahmen dienen sonstige Eilmaßnahmen nicht dem Schutz der Mietsache, sondern dem dringenden objektiven Interesse des Mieters an der Abwendung von erheblichen Schäden,68 wobei ebenfalls die vorherige Aufforderung zur Mangelbeseitigung an den Vermieter entbehrlich ist.69

59 Vgl. KG v. 15.5.2000 – 8 U 4583/99, MDR 2000, 1240. 60 Vgl. BGH v. 17.10.2008 – V ZR 31/08, NJW 2009, 1813, 1816; vgl. weiter zu den strengen Anforderungen allg. BGH v. 21.12.2005 – VIII ZR 49/05, MDR 2006, 677, 678; BGH v. 18.9.1985 – VIII ZR 249/84, MDR 1986, 224 f. 61 BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, WuM 2008, 147 m.w.N. 62 So aber AG Wetzlar v. 11.8.2005 – 38 C 2034/04 (38), WuM 2005, 715. 63 Abl. etwa OLG Düsseldorf v. 5.2.2009 – I-10 U 128/08, ZMR 2009, 362: prinzipieller Vorrang der Möglichkeit zur Prüfung und Mangelbeseitigung. 64 Terminologie nach Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 39 f. 65 S. auch BGH v. 20.1.1993 – VIII ZR 22/92, NJW-RR 1993, 522, 523 zu § 547 Abs. 1 BGB a.F. 66 So BT-Drucks. 14/4553, 41; vgl. BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, MDR 2008, 440. 67 BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, NJW 2008, 1216; BGH v. 20.1.1993 – VIII ZR 22/92, NJW-RR 1993, 522, 523; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 16. 68 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536a BGB Rz. 62; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 40. 69 BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, NJW 2008, 1216 f.

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Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels

Rz. 30 § 536a BGB

(3) Inhalt des Selbsthilferechts Gegenstand des Selbsthilferechts ist die Mietsache (samt deren Zubehör).70 Soweit und solange dieses in Ansehung der drohenden Konsequenzen opportun ist, muss dem Vermieter bei mehreren (gleich) geeigneten Mängelbeseitigungsmaßnahmen die Gelegenheit gegeben werden, sich für eine zu entscheiden;71 auch ist u.U. Rücksicht auf dessen wirtschaftliche Interessen zu nehmen.72 Dabei reicht es nach h.M., dass der Mieter an der Mietsache nur ein Mitbenutzungsrecht hat.73 Dritte sind im eigenen Namen zu beauftragen; das Recht gibt keine Vollmacht zur Beauftragung im Namen des Vermieters.

27

Praktische Schwierigkeiten bereitet im IT-Recht, dass die Systeme beim Application Service Providing und bei Cloud Services sowie oftmals auch beim Outsourcing für den Mieter kaum zugänglich sind. Insofern stellt sich die Frage, ob der Zugang zu den Systemen notfalls erzwungen werden kann. Weiter ist bei der Mängelbeseitigung im Rahmen von Software zu bedenken, dass Computerprogramme und Datenbanken urheberrechtlich gegen Änderungen geschützt sind (§§ 69a, 69c Nr. 2 und §§ 4, 23 UrhG). Hier helfen mitunter die §§ 69d Abs. 1 und 55a UrhG, wobei Computerprogramme dazu zudem oftmals noch dekompiliert werden müssen.74 Denn nicht selten fehlt der Zugriff auf den nötigen Quellcode. In der Rechtsprechung wird daher auch vertreten, der Mieter habe einen Anspruch aus § 536a Abs. 2 auf Herausgabe des Quellcodes.75 Der Kritik in der Literatur, ein solcher Anspruch ergäbe sich aus dem Wortlaut des § 536a Abs. 2 nicht,76 wurde zu Recht damit entgegnet, dass die Leistungstreuepflicht, nach der der Leistungserfolg weder gefährdet noch beeinträchtigt werden darf, zu einer Pflicht führe, einen solchen Rechtsbehelf zu ermöglichen.77

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bb) Voraussetzungen und Inhalt des Aufwendungsersatzanspruchs Der Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen besteht unter denselben Voraussetzungen wie das Selbsthilferecht selber (s. unter Rz. 22 ff.). Der Anspruch richtet sich nicht auf Schadensersatz, sondern auf Aufwendungs-, mithin Wertersatz (vgl. §§ 256, 257, 284). Umfasst sind nur erforderliche Maßnahmen, also solche, die ex tunc objektiv sach- und fachgerecht sowie geeignet erscheinen.78 Maßstab ist dabei bei Abs. 2 Nr. 1 die Herstellung des vertragsgemäßen Zustands der Mietsache und bei Nr. 2 die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Sache.79 Der Mieter kann, insbesondere wenn Dritte eingeschaltet werden, einen Vorschuss verlangen.80

29

III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes Recht Die Haftung nach § 536a ist ausgenommen in Fällen des § 202 sowie in den Grenzen des § 536d dispositiv.

70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 17. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 38. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 38. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Wiederhold, § 536a BGB Rz. 38. Dazu Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69d UrhG Rz. 26 m.w.N. auch zum Meinungsstreit über den Umfang der Erlaubnis zu dekompilieren. LG Wuppertal v. 28.9.2001 – 11 O 94/01, CR 2002, 7, 8. Kremer, ITRB 2013, 116, 118, Fn. 25. So überzeugend Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 183. OLG Brandenburg v. 13.11.2002 – 3 U 166/98, ZMR 2003, 909, 914; Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 18. Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 18. BGH v. 7.5.1971 – V ZR 94/70, NJW 1971, 1450, 1451 = MDR 71, 657; BGH v. 28.5.2008 – VIII ZR 271/07, MDR 2008, 966; BGH v. 21.4.2010 – VIII ZR 131/09, MDR 2010, 798, 799; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1363.

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BGB § 536a Rz. 31 Schadens- und Aufwendungsersatzanspruch des Mieters wegen eines Mangels 2. AGB-Recht 31

Die verschuldensunabhängige Haftung nach § 536a kann trotz § 307 in AGB in eine verschuldensabhängige Haftung abbedungen werden.81 Unwirksam ist hingegen eine Regelung, die die Haftung für anfängliche Mängel komplett ausschließt. Im Übrigen gelten für die Haftungsbeschränkung die allgemeinen Grundsätze (s. dazu § 307 Rz. 28).82 Unzulässig auch im Sinne einer Haftungsbeschränkung sind laut der Rspr. Klauseln, auf deren Basis ein Provider sich vorbehält, Systeme wegen mutmaßlicher Gefahren herunterzufahren.83 Weiter ist die Haftung für zugesicherte Eigenschaften nicht abdingbar. Und auch das Selbstbeseitigungsrecht des Abs. 2 hingegen ist nach § 307 in AGB nicht abdingbar.84

IV. Einzelfälle und -fragen 32

Besonderheiten gelten bei Leasingverträgen, bei denen das mietrechtliche Gewährleistungsregime weitgehend durch kaufrechtliche Mangelansprüche ersetzt wird (dazu Vor §§ 535 ff. Rz. 139 ff. sowie § 536 Rz. 45).

V. Verweise/Kontext 33

Die Voraussetzungen der §§ 536b, 536c sind zu prüfen.

§ 536b Kenntnis des Mieters vom Mangel bei Vertragsschluss oder Annahme Kennt der Mieter bei Vertragsschluss den Mangel der Mietsache, so stehen ihm die Rechte aus den §§ 536 und 536a nicht zu. Ist ihm der Mangel infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben, so stehen ihm diese Rechte nur zu, wenn der Vermieter den Mangel arglistig verschwiegen hat. Nimmt der Mieter eine mangelhafte Sache an, obwohl er den Mangel kennt, so kann er die Rechte aus den §§ 536 und 536a nur geltend machen, wenn er sich seine Rechte bei der Annahme vorbehält. I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Kenntnis eines Mangels (§ 536b Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grob fahrlässige Unkenntnis des Mangels und Arglist (§ 536b Satz 2) . . . . . . . . . a) Grob fahrlässige Unkenntnis . . . . . . b) Arglist des Vermieters . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

1 1 2 3

3. Annahme der Mietsache ohne Vorbehalt (§ 536b Satz 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen (ggf. auch Sanktionen) . . . . . 5. Verlust des Minderungsrechts bei ungeminderter Mietzahlung analog § 536b . . . . . . .

10

. .

3

. . . . . .

5 6 7

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 12

8 9

Literatur: BeckOK Mietrecht, Schach/Schultz/Schüller (Hrsg.), Online-Kommentar, 17. Edition, Stand: 1.9.2019; Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Grützmacher, Die juristische Beurteilung von DRM-Maßnahmen und Sperren im Rahmen verschiedener Lizenzmodelle – Teil 2, Zulässigkeit der Absicherung von Nutzungs- und Weitergabebeschränkungen, ITRB 2015, 141; Gsell, (Negative) Beschaffenheitsvereinbarungen und Mangelkennt81 82 83 84

Redeker, IT-Recht, Rz. 611. Dazu für das Cloud-Computing Boehm, ZEuP 2016, 358, 370 ff. Vgl. AG Berlin-Charlottenburg v. 11.1.2002 – 208 C 192/01, CR 2002, 297, 299 m. Anm. Runte. Palandt/Weidenkaff, § 536a BGB Rz. 7.

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Kenntnis des Mieters vom Mangel bei Vertragsschluss oder Annahme

Rz. 3 § 536b BGB

nis im Mietrecht, NZM 2016, 702; Jobke, Produktaktivierung und Registrierung bei Software für den Massenmarkt, 2010; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Schmidt, H., Fortbestand des Erfüllunganspruchs trotz Mangelkenntnis, NZM 2013, 705.

I. Allgemeines 1. Einführung Laut h.M. soll § 536b einen stillschweigenden Gewährleistungsverzicht regeln.1 Weiter soll die Norm der Bestimmung des vom Vermieter geschuldeten vertragsgemäßen Gebrauchs dienen.2 Beides überzeugt schon deshalb nicht, weil Satz 2 einen Verlust der Rechte auch bei grob fahrlässiger Unkenntnis von den Mängeln vorsieht. Die Norm ist daher richtigerweise einfach als gesetzlicher Gewährleistungsausschluss anzusehen.

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Nach h.M. findet § 536b nur auf die Ansprüche aus §§ 536, 536a, nicht aber auf § 535 Abs. 1 Satz 2 Anwendung.3 Das erscheint inkonsequent; denn sollte der Mieter nach Vertragsschluss über § 535 Abs. 1 Satz 2 die Herstellung eines mangelfreien Zustands eingefordert und erreicht haben, fragt sich, warum dann bei in der Folge wieder auftauchenden symptomgleichen Mängeln keine Gewährleistungsrechte bestehen sollten.4 Richtig ist es, nach der Mängelbeseitigung gem. § 535 Abs. 1 Satz 2 für die Zukunft nicht mehr von einem Ausschluss aufgrund § 536b auszugehen. Andersherum widerspricht die Differenzierung im Übrigen auch dem in der Literatur als Normzweck apostrophierten Bestimmung des vertragsgemäßen Gebrauchs (s. Rz. 1). Würde wirklich der vertragsgemäße Gebrauch modifiziert, dürfte auch § 535 Abs. 1 Satz 2 nicht mehr greifen. § 536b greift auch bei fehlenden zugesicherten Eigenschaften5 sowie bei Rechtsmängeln.6 Nach § 543 Abs. 4 Satz 1 wird auch das Recht zur außerordentlichen Kündigung gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ausgeschlossen. Unberührt sollen hingegen Ansprüche aus unerlaubter Handlung bleiben.7

2

II. Norminhalt 1. Positive Kenntnis eines Mangels (§ 536b Satz 1) Entscheidend für einen Ausschluss der Gewährleistung nach Satz 1 ist eine positive Kenntnis des Mangels oder das Fehlen einer Zusicherung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses.8 Dabei muss der Mieter nach wohl h.M. sogar die Tragweite des Mangels erkannt haben.9 Andere fordern dieses nur bezogen auf Rechtsmängel, dort die Rechtsfolgen,10 und lassen es im Übrigen ausreichen, wenn der Mieter die tatsächlichen Umstände kennt, aus denen sich künftige Beeinträchtigungen ergeben.11 Für Rechtsmän-

1 So z.B. Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 1; s. zur Ratio des § 536b auch ausführlich Gsell, NZM 2016, 702, 703 ff. 2 BeckOK MietR/Schüller, § 536b BGB Rz. 1. 3 BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 186/60, VersR 1961, 886 = BB 1961, 989; OLG Köln v. 28.10.1991 – 2 U 185/90, NJW-RR 1993, 466, 467; Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 1. 4 S. dazu auch Gsell, NZM 2016, 702, 705 f.; Schmidt, NZM 2013, 705, 708. 5 OLG Hamburg v. 12.4.2005 – 4 U 162/04, ZMR 2005, 856; Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 1, 6. 6 Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 1, 6. 7 BGH v. 11.7.1961 – VI ZR 186/60, VersR 1961, 886 = BB 1961, 989; Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 1. 8 Nicht ausreichend ist die Kenntnis zum Zeitpunkt der Übergabe; s. etwa für IT-Leasingverträge BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189, 192. 9 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536b BGB Rz. 4; wohl auch BGH v. 20.12.1978 – VIII ZR 114/77, NJW 1979, 713, 714 = MDR 1979, 488. 10 Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 5. 11 Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 5 m.w.N. zur Rspr.

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BGB § 536b Rz. 3 Kenntnis des Mieters vom Mangel bei Vertragsschluss oder Annahme gel muss der Mieter nicht nur deren Folgen erkannt haben, sondern auch damit rechnen, dass der Dritte seine Rechte ausübt.12 4

Bei Software stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit Demoprogramme, Testversionen oder Shareware, die durch eine kostenlose Probezeit gekennzeichnet sind,13 die Gewährleistung gem. § 536b ausschließen. Letztlich ist die Frage oft einzelfallbezogen zu entscheiden. So hat etwa das LG Oldenburg entschieden, dass von einer Kenntnis des Mangels nicht ausgegangen werden kann, wenn zuvor ein Demoprogramm installiert wurde, weil dies regelmäßig nur die Durchführung aller Funktionen, nicht jedoch die Speicherung variabler Daten ermöglicht.14 Die fehlende Kenntnis zumindest über die Reichweite des Mangels führt etwa auch dazu, dass Hinweise auf Zwangsaktivierungsmechanismen und Programmsperren, soweit sie zur Mangelhaftigkeit der Software führen, nicht zum Ausschluss der Gewährleistung nach § 536b Abs. 1 führen; denn regelmäßig fehlt es an der erforderlichen Präzision der Hinweise.15 Erforderlich wäre es, darüber aufzuklären, wann genau und unter welchen Umständen die Sperre greift, was sie bewirkt und wie sie wieder aufgehoben werden kann.16 Bei Ausfällen und Abstürzen gebrauchter Hardware (samt Datenverlusten) reicht es nicht, zu wissen, dass altersbedingte Abnutzungserscheinungen bestehen.17 2. Grob fahrlässige Unkenntnis des Mangels und Arglist (§ 536b Satz 2)

5

Auch die grob fahrlässige Unkenntnis von Mängeln kann außer im Fall von Zusicherungen die Gewährleistung ausschließen. a) Grob fahrlässige Unkenntnis

6

Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Mieter mit Blick auf die Mängel und deren Auswirkungen die verkehrsübliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß außer Acht lässt. Das kann auch insbesondere dann gegeben sein, wenn der Mieter zumutbare Nachforschungen im Verdachtsfall unterlässt, mit denen er sonst den Mangel erkannt hätte.18 D.h. aber nicht, dass eine Verpflichtung zur Untersuchung auch ohne Anlass bzw. Verdacht besteht. So muss der Mieter von IT-Systemen bzw. Softwarelösungen keine Erkundigung darüber einholen, zumal wenn diese gerade auf seinen Bedarf zugeschnitten sind, ob diese vollumfänglich für die in Aussicht gestellten Zwecke eingesetzt werden können, es sei denn, dass er vor Abschluss des Mietvertrags von Problemen in dieser Hinsicht Kenntnis erlangt hätte.19 Weiter wird etwa bei Zwangsaktivierungsmechanismen und Programmsperren zu Recht davon ausgegangen, dass die regelmäßig dürftigen Hinweise noch nicht einmal zu einer grob fahrlässigen Unkenntnis dieser Mängel führen.20 Gleichwohl erhöhen Demoprogramme, Testversionen oder Shareware (s. dazu schon unter Rz. 4) die Chance des Vermieters, sich im Einzelfall auf eine grob fahrlässige Unkenntnis berufen zu können.

12 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536b BGB Rz. 6; Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 5; zu Letzterem BGH v. 4.10.1995 – XII ZR 215/94, MDR 1996, 252. 13 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 898 f. 14 So LG Oldenburg v. 3.11.1994 – 15 O 3539/93, CR 1995, 222, LS zum Kaufrecht; vgl. zu Demoprogrammen auch Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1447. 15 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1754; Jobke, Produktaktivierung und Registrierung bei Software für den Massenmarkt, S. 81; Grützmacher, ITRB 2015, 141, 145. 16 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1754. 17 OLG Hamm v. 30.11.1988 – 30 U 201/86, CR 1989, 910, 913. 18 Vgl. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536b BGB Rz. 9; BGH v. 18.4.2007 – XII ZR 139/05, MDR 2007, 1065, 1065. 19 BGH v. 5.10.1981 – VIII ZR 259/80, ZIP 1981, 1341, 1342 (nicht abgedruckt in MDR 1982, 400). 20 Jobke, Produktaktivierung und Registrierung bei Software für den Massenmarkt, S. 81; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1754.

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Kenntnis des Mieters vom Mangel bei Vertragsschluss oder Annahme

Rz. 12 § 536b BGB

b) Arglist des Vermieters Grobe Fahrlässigkeit führt nicht zum Gewährleistungsausschluss, wenn der Vermieter mit Blick auf die Mängel arglistig gehandelt hat. Das ist der Fall bei Verschweigen von Mängeln mit Blick auf solche Eigenschaften, auf die es dem Mieter evident ankommt und die nicht so unmittelbar ersichtlich sind sowie bei unzutreffenden Erklärungen ins Blaue hinein. Eine Täuschungsabsicht ist nicht erforderlich.21

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3. Annahme der Mietsache ohne Vorbehalt (§ 536b Satz 3) Die dritte Alternative eines Tatbestands, der zum Verlust von Mängelrechten führen kann, ergibt sich 8 aus § 536b Satz 3. Er betrifft die Annahme der Mietsache ohne Vorbehalt der Geltendmachung von Mängeln. Anerkannt ist insofern, dass ein solcher Vorbehalt ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten erfolgen kann.22 4. Rechtsfolgen (ggf. auch Sanktionen) Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis schließt nur die Gewährleistung, nicht aber Erfüllungsansprüche aus,23 die eingeklagt werden können (Vollstreckung über § 887 ZPO). Gleiches gilt für die Annahme ohne Vorbehalt.24 Der Mieter kann also gleichwohl die Überlassung eines mangelfreien Mietgegenstands und mitunter auch Schadensersatz wegen Nichterfüllung (Schadensersatz wegen Verzögerung/Verzug, Schadensersatz statt der Leistungen oder Schadensersatz wegen Unmöglichkeit) verlangen.25

9

5. Verlust des Minderungsrechts bei ungeminderter Mietzahlung analog § 536b Analog gilt § 536b mitunter, sofern der Mieter zahlt, obwohl er den Mangel kennt.26 Allerdings gilt das nur mit Blick auf das Minderungsrecht.

10

III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes Recht § 536b ist abdingbar.27 Das gilt sowohl für Verschärfungen des Ausschlusses, soweit diese nicht § 202 konterkarieren, wie auch dessen Aufweichung oder gar vollständigen Ausschluss.

11

2. AGB-Recht Eine Abbedingung zu Lasten des Mieters in allgemeinen Vermietbedingungen verstößt gegen §§ 307 ff. Hingegen dürfte es zulässig sein, den Ausschluss im Fall grob fahrlässiger Unkenntnis zu Gunsten des Mieters abzubedingen.

21 22 23 24

Blank/Börstinghaus/Blank, § 536b BGB Rz. 17. Zu einem Computer-Leasingvertrag BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189, 193. BGH v. 18.4.2007 – XII ZR 139/05, MDR 2007, 1065, 1066; Schmidt, NZM 2013, 705, 709 ff. S. zur Frage, inwieweit sich der Mieter dann beim Leasingvertrag noch auf § 320 berufen kann, BGH v. 5.7.1989 – VIII ZR 334/88, CR 1990, 189, 193. 25 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536b BGB Rz. 18a. 26 BGH v. 18.6.1997 – XII ZR 63/95, MDR 1997, 1112, 1113. 27 BGH v. 22.10.2003 – XII ZR 126/00, NJW-RR 2004, 12; Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 3.

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12

BGB § 536c Rz. 1 Während der Mietzeit auftretende Mängel; Mängelanzeige durch den Mieter

§ 536c Während der Mietzeit auftretende Mängel; Mängelanzeige durch den Mieter (1) Zeigt sich im Laufe der Mietzeit ein Mangel der Mietsache oder wird eine Maßnahme zum Schutz der Mietsache gegen eine nicht vorhergesehene Gefahr erforderlich, so hat der Mieter dies dem Vermieter unverzüglich anzuzeigen. Das Gleiche gilt, wenn ein Dritter sich ein Recht an der Sache anmaßt. (2) Unterlässt der Mieter die Anzeige, so ist er dem Vermieter zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Soweit der Vermieter infolge der Unterlassung der Anzeige nicht Abhilfe schaffen konnte, ist der Mieter nicht berechtigt, 1. die in § 536 bestimmten Rechte geltend zu machen, 2. nach § 536a Abs. 1 Schadensersatz zu verlangen oder 3. ohne Bestimmung einer angemessenen Frist zur Abhilfe nach § 543 Abs. 3 Satz 1 zu kündigen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anzeigepflicht (§ 536c Abs. 1) . . . . . . . . . a) Sich-Zeigen eines Mangels (§ 536c Abs. 1 Satz 1 Alt. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maßnahmen gegen bei Vertragsschluss unvorhergesehene Gefahr erforderlich (§ 536c Abs. 1 Satz 1 Alt. 2) . . . . . . . . . c) Anmaßung von Rechten an der Sache durch Dritte (§ 536c Abs. 1 Satz 2) . . . . d) „Im Laufe der Mietzeit“ . . . . . . . . . . .

3 3 3 5 6 7

e) Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige . 2. Rechtsfolgen des Verstoßes gegen die Anzeigepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schadensersatzpflicht (§ 536c Abs. 2 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verlust der Gewährleistungsrechte aus §§ 536, 536a und 543 Abs. 3 Satz 1 . . . . . c) Verlust der Einrede des § 320 . . . . . . . . d) Recht des Vermieters zur außerordentlichen Kündigung . . . . . . . . . . . . . .

8

10

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 14 15

10

11 12 13

Literatur: Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Steyl, Die Anforderungen an das Verschulden des Mieters bei dem Schadensersatzanspruch gemäß § 536c Abs. 2 Satz 1 BGB, WuM, 2016, Beilage zu Heft 7 (FS Eisenschmid), 37.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Geregelt werden mit § 536c Obhutspflichten und deren Rechtsfolgen. Dabei ist es allgemein anerkannt, dass, wie sich auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergibt, die Anzeigepflicht des Abs. 1 Ausfluss der allgemeinen Pflicht des Mieters zur Obhut der Mietsache ist.1 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

§ 536c Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 hat bei Software nur eine eingeschränkte Bedeutung (s. Rz. 5), allerdings nicht, wie teils in den Raum gestellt wird, praktisch keine.2

1 BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237 unter Hinweis auf Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB II, S. 223; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1351. 2 So aber Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1351.

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Während der Mietzeit auftretende Mängel; Mängelanzeige durch den Mieter

Rz. 6 § 536c BGB

II. Norminhalt 1. Anzeigepflicht (§ 536c Abs. 1) a) Sich-Zeigen eines Mangels (§ 536c Abs. 1 Satz 1 Alt. 1) Ein Mangel i.S.v. § 536c liegt über den (mitumfassten) Mangel i.S.v. § 536 nicht nur bei einem Fehler 3 vor, der den Gebrauch der Sache durch den Mieter erheblich beeinträchtigt, sondern bei jedem Hervortreten eines schlechten Zustandes der Mietsache.3 Dieses betrifft auch Mängel, die durch Abnutzung entstehen,4 was im Bereich des IT-Rechts nur bei Hardware denkbar ist (z.B. bei defekten Sektoren einer Festplatte). Auch wenn keine Nachforschungspflicht besteht,5 zeigt sich ein Mangel nach h.M. nicht erst dann, wenn er vom Mieter im Sinne positiven Wissens zur Kenntnis genommen wird, sondern schon dann, wenn er diesen hätte erkennen müssen, wenn er übersieht, „was jedermann sieht“.6 Nicht erfüllt ist der Tatbestand hingegen in Fällen, in denen zwar einem besonnenen und gewissenhaften Mieter ein Mangel auffallen mag, dessen Erkennbarkeit sich aber nicht unbedingt jedem Mieter aufdrängen muss, wenn also der Mieter nicht ganz naheliegende Feststellungen unterlässt.7 Auch der Vergleich mit § 536b Satz 2 spricht dafür, dass es letztlich auf grob fahrlässige Unkenntnis ankommt.8 Grobe Fahrlässigkeit in diesem Sinne liegt nicht vor, wenn sich der Mangel nicht aufdrängen musste.9 Bei einfacher Fahrlässigkeit mag aber bei Ansprüchen des Mieters § 254 eingreifen, und zwar auch im Fall der Garantiehaftung nach § 536a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1.10 Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis eines Erfüllungsgehilfen ist zuzurechnen.11

4

b) Maßnahmen gegen bei Vertragsschluss unvorhergesehene Gefahr erforderlich (§ 536c Abs. 1 Satz 1 Alt. 2) Eine abstrakte Gefahr reicht. Zu denken ist hier bei Systemen und Software an Sicherheitsrisiken oder 5 bei Rechenzentrumsflächen an den Ausfall des Stroms oder der Klimatisierung. Gefahren i.S.v. § 536c Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 liegen auch dann vor, wenn sie den Gebrauch der Mietsache nicht (akut) beeinträchtigen. Auch hier reicht, ohne dass eine Nachforschungspflicht besteht, grob fahrlässige Unkenntnis (s. Nachweise unter Rz. 4). Keine Gefahren dieser Art sind die abstrakte Gefahr der (unautorisierten) Nutzung oder Weitergabe von Software durch Dritte.12 c) Anmaßung von Rechten an der Sache durch Dritte (§ 536c Abs. 1 Satz 2) Satz 2 betrifft Rechtsmängel. Gerade für Software- und Technologiesachverhalte ist diese Regelung in Ansehung drohender Urheber- und Patentstreitigkeiten besonders relevant.

3 BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/78, NJW 1977, 1236. 4 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 2. 5 BGH v. 17.3.1976 – VIII ZR 274/74, WM 1976, 537, 538 = MDR 1976, 753; BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237. 6 BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237 unter Hinweis auf diese Formulierung von Mittelstein, Die Miete, 4. Aufl., S. 354; s. auch Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 3: wenn der Mangel von einem durchschnittlichen Mieter ohne Weiteres wahrgenommen werden kann. 7 BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237. 8 BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237. 9 BGH v. 7.6.2006 – XII ZR 34/04, NJW-RR 2006, 1157, 1158 = MDR 2007, 22, 23. 10 BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237. 11 OLG Karlsruhe v. 18.9.1987 – 14 U 30/86, NJW-RR 1988, 528. 12 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1352.

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6

BGB § 536c Rz. 7 Während der Mietzeit auftretende Mängel; Mängelanzeige durch den Mieter d) „Im Laufe der Mietzeit“ 7

Die Norm greift entgegen dem Wortlaut, aber entsprechend dem Telos der Norm nur während des Zeitraums der Überlassung der Mietsache.13 Die Anzeigepflicht beginnt mit der Übergabe und endet mit der Rückgabe.14 e) Obliegenheit zur unverzüglichen Anzeige

8

Die Anzeige des Mieters hat unverzüglich, mithin ohne schuldhaftes Zögern zu erfolgen. Das Verschulden bzw. die Frist zur Anzeige richtet sich insofern auch nach der Art des Mangels bzw. der bestehenden Gefahren. Aus der Anzeige müssen Art und Umfang eines Mangels erkennbar sein.15 Reine Unmutsäußerungen reichen nicht.16 Die Anzeige kann – unberührt daraus ggf. resultierender Beweisprobleme – auch formlos erfolgen.

9

Die Anzeigepflicht lebt nach zunächst erfolgter Anzeige dann wieder auf, wenn der Mangel zunächst beseitigt wurde bzw. der Mieter Grund zu der Annahme haben durfte, dass die Behebung erfolgreich war; demgegenüber obliegt allerdings zunächst dem Vermieter die Prüfung der Mängelbehebung.17 Anders herum besteht die Pflicht mitunter nicht, wenn der Vermieter den Mangel, die Gefahr oder die Anmaßung der Rechte durch einen Dritten nachweislich selber kannte oder kennen musste.18 2. Rechtsfolgen des Verstoßes gegen die Anzeigepflicht a) Schadensersatzpflicht (§ 536c Abs. 2 Satz 1)

10

Nach Abs. 2 Satz 1 besteht ein Schadensersatzanspruch (§§ 249 ff.), soweit der Mieter die Verletzung der Anzeigepflicht durch Unterlassen, einen falschen Inhalt19 oder Verspätung zu vertreten (§§ 276, 278) und dadurch einen Schaden verursacht hat.20 b) Verlust der Gewährleistungsrechte aus §§ 536, 536a und 543 Abs. 3 Satz 1

11

Bei einer Verletzung der Anzeigepflicht stehen dem Mieter zudem keine Ansprüche auf Minderung (§ 536), Schadensersatz (§ 536a Abs. 1) oder Kündigung ohne wichtigen Grund (§ 543 Abs. 3 Satz 1) zu. Der Vermieter hat dazu aber zu beweisen, dass die Verletzung der Anzeigepflicht ursächlich dafür war, dass die Mängel nicht (rechtzeitig) beseitigt wurden.21 c) Verlust der Einrede des § 320

12

Nach h.M. führt die Verletzung der Anzeigepflicht dazu, dass die Einrede nach § 320 nach Treu und Glauben (§ 242) erst ab der ordnungsgemäßen Anzeige des Mangels durch den Vermieter oder ab der davon unabhängigen Kenntniserlangung des Vermieters vom Mangel besteht.22 d) Recht des Vermieters zur außerordentlichen Kündigung

13

Schließlich besteht ganz ausnahmsweise ein Recht des Vermieters zur außerordentlichen Kündigung nach § 543 Abs. 2 Nr. 2, wenn der Mieter seiner Anzeigepflicht wiederholt nicht nachkommt und so 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 7. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 7. LG Köln v. 7.9.1989 – 1 S 117/89, WuM 1990, 17; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 13. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 13. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 7. Vgl. BGH v. 13.7.2010 – VIII ZR 129/09, WM 2011, 285, 289; BGH v. 4.4.1977 – VIII ZR 143/75, NJW 1977, 1236, 1237; Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 5, 9. A.A. § 280 Abs. 1 oder § 536 Abs. 2 Satz 1 analog, vgl. Palandt/Weidenkaff, § 536c BGB Rz. 10. Dazu ausführlich Steyl, WuM, 2016, Beilage zu Heft 7, 37 ff. Vgl. auch grds. zur Beweislast für die Anzeige BGH v. 14.11.2001 – XII ZR 142/99, NJW-RR 2002, 515, 516. BGH v. 3.11.2010 – VIII ZR 330/09, NJW-RR 2011, 447, 448 Rz. 13 f.; str., umfassend zum Streitstand Blank/ Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 22.

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Vertraglicher Ausschluss von Rechten des Mieters wegen eines Mangels

Rz. 2 § 536d BGB

die Mietsache erheblich gefährdet.23 Der einfache Verstoß reicht hierfür hingegen in aller Regel nicht.24

III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes Recht Die Regelungen des § 536c sind abdingbar.

14

2. AGB-Recht Eine dem Mieter auferlegte, über § 536c hinausgehende Verpflichtung ist gem. § 307 unwirksam.25 Das gilt insbesondere auch für eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung des Mieters bei Verletzung der Anzeigepflicht,26 wobei nach dem BGH die Verschuldensabhängigkeit nicht explizit formuliert sein muss.27

15

§ 536d Vertraglicher Ausschluss von Rechten des Mieters wegen eines Mangels Auf eine Vereinbarung, durch die die Rechte des Mieters wegen eines Mangels der Mietsache ausgeschlossen oder beschränkt werden, kann sich der Vermieter nicht berufen, wenn er den Mangel arglistig verschwiegen hat. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1. Arglistiges Verschweigen eines Mangels . . . . 2. Rechtsfolge: partielle Unwirksamkeit . . . . . .

4 5

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Literatur: Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017.

I. Allgemeines 1. Einführung Die Regelung folgt dem Grundprinzip des § 202 und entspricht zahlreichen Parallelregelungen des besonderen Schuldrechts (so z.B. §§ 444, 639).

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich Die Regelung gilt gleichermaßen für Sach- wie für Rechtsmängel.

23 24 25 26 27

2

Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 23. LG Berlin v. 11.12.1989 – 62 S 310/89, MM 1991, 29. Palandt/Weidenkaff, § 536b BGB Rz. 4. Blank/Börstinghaus/Blank, § 536c BGB Rz. 29. BGH v. 20.1.1993 – VIII ZR 10/92, MDR 1993, 339, 340; a.A. noch die Vorinstanz OLG Frankfurt v. 19.12.1991 – 6 U 108/90, NJW-RR 1992, 396, 401 f.

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BGB § 536d Rz. 3 Vertraglicher Ausschluss von Rechten des Mieters wegen eines Mangels

II. Norminhalt 3

Eine Beschränkung der Mängel- und Gewährleistungsrechte ist unwirksam, soweit der Mangel arglistig verschwiegen wurde. 1. Arglistiges Verschweigen eines Mangels

4

Arglistig verschweigt der Vermieter einen Mangel bei Vertragsschluss, wenn er weiß oder glaubt, dass der Mieter den Mangel nicht kenne und dass der Mieter den Vertrag in Kenntnis des Mangels nicht abschließen würde, oder wenn er eine nichtvorhandene Eigenschaft vorspiegelt.1 Die Beweislast liegt beim Mieter. 2. Rechtsfolge: partielle Unwirksamkeit

5

Gewährleistungsbeschränkungen und Ausschlüsse (einschließlich der Verkürzung der Gewährleistungsfrist) sind im Falle des arglistigen Verschweigens des Mangels durch den Vermieter unwirksam. Mit der Formulierung „nicht berufen“ wird zum Ausdruck gebracht, dass die Vereinbarung im Übrigen wirksam bleibt.2 § 139 findet keine Anwendung. Eine weitergehende Unwirksamkeit, wenn auch nicht Gesamtnichtigkeit des Vertrags, mag dann aber im Fall von Formularbedingungen aus §§ 305 ff. resultieren (Blue-Pencil-Test).

III. Abdingbarkeit 6

Die Regelung ist unabdingbar.

§ 537 Entrichtung der Miete bei persönlicher Verhinderung des Mieters (1) Der Mieter wird von der Entrichtung der Miete nicht dadurch befreit, dass er durch einen in seiner Person liegenden Grund an der Ausübung seines Gebrauchsrechts gehindert wird. Der Vermieter muss sich jedoch den Wert der ersparten Aufwendungen sowie derjenigen Vorteile anrechnen lassen, die er aus einer anderweitigen Verwertung des Gebrauchs erlangt. (2) Solange der Vermieter infolge der Überlassung des Gebrauchs an einen Dritten außerstande ist, dem Mieter den Gebrauch zu gewähren, ist der Mieter zur Entrichtung der Miete nicht verpflichtet. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Befreiung von der Miete bei persönlichen Gebrauchshindernissen (§ 537 Abs. 1) . a) In der Person liegender Hinderungsgrund zur Ausübung seines Gebrauchsrechts . . .

1 2 2 2

b) Rechtsfolge: keine Befreiung von der Entrichtung der Miete, aber ggf. Anrechnung (§ 537 Abs. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mangelnde Gebrauchsmöglichkeit aufgrund Überlassung des Gebrauchs an einen Dritten (§ 537 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

4 5

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Lehmann-Richter, Die Vermietung an den nicht nutzenden Mieter, PIG 83 (2008), 181; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018.

1 Palandt/Weidenkaff, § 536c BGB Rz. 1. 2 Blank/Börstinghaus/Blank, § 536d BGB Rz. 1.

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Entrichtung der Miete bei persönlicher Verhinderung des Mieters

Rz. 5 § 537 BGB

I. Allgemeines § 537 regelt das Verwendungsrisiko und stellt klar, dass dieses prinzipiell beim Mieter liegt, auch wenn der Mieter nicht zum Gebrauch verpflichtet ist. Nach h.M. soll § 537 Abs. 1 Satz 1 entsprechend anzuwenden sein, wenn der Mieter sich wegen seiner Nichtabnahme lediglich zum Annahmeverzug befindet, die verpasste Mietzeit also noch nachgeholt werden kann.1

1

II. Norminhalt 1. Keine Befreiung von der Miete bei persönlichen Gebrauchshindernissen (§ 537 Abs. 1) a) In der Person liegender Hinderungsgrund zur Ausübung seines Gebrauchsrechts § 537 Abs. 1 regelt den Fall, dass der Mieter durch einen in seiner Person liegenden Grund an der Aus- 2 übung seines Gebrauchsrechts gehindert wird. Auf ein Verschulden kommt es nicht an. So befreit auch ein vom Mieter nicht zu vertretender Hinderungsgrund den Mieter nicht, soweit die persönliche Verhinderung aus seiner Risikosphäre resultiert.2 Das ist etwa der Fall, wenn die Nutzung einer Software die Anschaffung bzw. Beistellung weiterer Hardware bzw. Systeme, Software oder auch Datenleitungen durch den Mieter oder mit ihm verbundener Vertragspartner erfordert oder ein Systemwechsel durch den Mieter die Softwarenutzung hindert.3 Letzteres dürfte aber dann nicht gelten, wenn die Software durch den Vermieter nicht pflichtgemäß aktualisiert wurde und deshalb zu einem neuen System nicht mehr kompatibel ist (dazu § 535 Rz. 37, 39). b) Rechtsfolge: keine Befreiung von der Entrichtung der Miete, aber ggf. Anrechnung (§ 537 Abs. 1) In den Fällen des Abs. 1 Satz 1 erfolgt keine Befreiung der Verpflichtung zur Mietzinszahlung. Soweit der Vermieter sich jedoch nach Abs. 1 Satz 2 den Wert der ersparten Aufwendungen sowie derjenigen Vorteile anrechnen lassen muss, die er aus einer anderweitigen Verwertung des Gebrauchs erlangt, sind die Anwendungsfälle im IT-Recht begrenzt. Bei Software ist aufgrund deren ökonomischer Nichtrivalität ein Vorteil aus einer anderweitigen Verwertung kaum denkbar, es sei denn, dass der Vermieter nur in einem begrenzten Maß zu Vermietung berechtigt ist.4 Eher schon mag Satz 2 daher bei Hardware und Systemen und erst recht bei der Rechenzentrumsmiete von Bedeutung sein.

3

2. Mangelnde Gebrauchsmöglichkeit aufgrund Überlassung des Gebrauchs an einen Dritten (§ 537 Abs. 2) Abs. 2 ist deklaratorisch. Denn soweit Abs. 2 regelt, dass die Mietzahlungspflicht nicht besteht, solange der Vermieter infolge der Überlassung des Gebrauchs an einen Dritten außerstande ist, dem Mieter den Gebrauch zu gewähren, wird in Ansehung von § 320 und § 536 eine Selbstverständlichkeit geregelt. Bei Software wird die Norm regelmäßig nicht greifen (wie zuvor Rz. 3).

4

III. Abdingbarkeit § 537 ist dispositiv.

5

1 Vgl. dazu Staudinger/Emmerich, § 537 BGB Rz. 5; s. weiter auch für den Fall der Abnahmepflicht LehmannRichter, PIG 83 (2008), 181, 197 f. 2 BGH v. 14.11.1990 – VIII ZR 13/90, NJW-RR 1991, 267. 3 Vgl. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1368; Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch ITund Datenschutzrecht, § 13 Rz. 83. 4 Nicht thematisiert von Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 84.

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BGB § 538 Rz. 1 Abnutzung der Mietsache durch vertragsgemäßen Gebrauch

§ 538 Abnutzung der Mietsache durch vertragsgemäßen Gebrauch Veränderungen oder Verschlechterungen der Mietsache, die durch den vertragsgemäßen Gebrauch herbeigeführt werden, hat der Mieter nicht zu vertreten. 1

Die Norm hat bei Software keine praktische Bedeutung. Nicht kommentiert.

§ 539 Ersatz sonstiger Aufwendungen und Wegnahmerecht des Mieters (1) Der Mieter kann vom Vermieter Aufwendungen auf die Mietsache, die der Vermieter ihm nicht nach § 536a Abs. 2 zu ersetzen hat, nach den Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag ersetzt verlangen. (2) Der Mieter ist berechtigt, eine Einrichtung wegzunehmen, mit der er die Mietsache versehen hat. I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwendungsersatz . . . . . . . . . . . a) Erstattungsfähige Aufwendungen . aa) Aufwendungen . . . . . . . . . bb) Vorliegen einer GoA . . . . . . cc) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

1 1 2 3 3 3 3 4 5

b) Rechtsfolge: Wertersatz . . . . . . . . . . c) Passivlegitimation und Verjährung . . . . 2. Wegnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Abwendung des Wegnahmerechts durch Zahlung gem. § 552 Abs. 1 . . . . c) Rechtsfolgen (ggf. auch Sanktionen) . . .

. . . .

6 7 8 8

. .

10 11

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

IV. Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Culmsee/Dorschel, E-Mails als Nebenpflicht – Treuepflichten bei der Bereitstellung von E-Mail-Accounts, Folgeüberlegungen zu OLG Dresden, Beschl. v. 5.9.2012 – 4 W 961/12, CR 2013, 195; Grützmacher, Vertragliche Ansprüche auf Herausgabe von Daten gegenüber dem Outsourcing-Anbieter, ITRB 2004, 260; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Müller, Ansprüche auf Herausgabe von Daten, in Conrad/Grützmacher, Rechte der Daten und Datenbanken im Unternehmen, 2014, S. 313; Roth-Neuschild, Cloud Way out – Exit-Strategien bei Nutzung von Cloud Services, ITBR 2013, 213; Schuster/ Hunzinger, Vor- und nachvertragliche Pflichten beim IT-Vertrag – Teil II: Nachvertragliche Pflichten CR 2015, 277.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

Der seit dem 1.9.2001 geltende Aufwendungsersatzanspruch des § 539 Abs. 1 korreliert mit § 536a Abs. 2 und greift gewissermaßen subsidiär, wenn die Aufwendungen nicht zur Mangelbeseitigung bzw. für Not- und Eilmaßnahmen getätigt werden. Deutlicher sprach die Vorgängernorm des § 547 Abs. 2 a.F. insofern von „sonstigen Verwendungen“. Die Änderung des Wortlauts in „Aufwendungen“ erfolgte allerdings lediglich zur Vereinheitlichung der Terminologie.1 § 539 Abs. 2 hingegen gewährt dem Mieter das Recht zur Entfernung von Einrichtungen, mit denen er die Mietsache versehen hat. Bei

1 BT-Drucks. 14/4553, 42.

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Ersatz sonstiger Aufwendungen und Wegnahmerecht des Mieters

Rz. 6 § 539 BGB

der Geschäftsraummiete gilt zudem § 552 Abs. 1 i.V.m. § 578 Abs. 2, nach dem dieses Wegnahmerecht durch Zahlung einer angemessenen Entschädigung abgewendet werden kann. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich § 539 Abs. 1 ist auf Aufwendungen während der Mietzeit – und zwar auf alle Arten von Mietverhält- 2 nissen und damit auch auf die verschiedensten IT-rechtlichen Mietverträge – anwendbar. Gleichwohl dürfte die Bedeutung im IT-Recht von der Rechenzentrumsmiete abgesehen beschränkt sein. Hingegen wird mit Blick auf § 539 Abs. 2 diskutiert, inwieweit dieser dem Mieter einen Anspruch auf Herausgabe seiner Daten (insbesondere zum Vertragsende) gibt (dazu § 535 Rz. 9).

II. Norminhalt 1. Aufwendungsersatz a) Erstattungsfähige Aufwendungen aa) Aufwendungen Aufwendungen sind alle freiwilligen Vermögensopfer, die der Erhaltung, der Wiederherstellung oder 3 der Verbesserung des Mietgegenstands dienen.2 Aufwendungen im Sinne von § 539 Abs. 1 sind dabei in Abgrenzung zum Ersatzanspruch gem. der Regelung des § 536a Abs. 2 „sonstige“Aufwendungen, also solche, welche letzterer nicht unterfallen (vgl. § 536a Rz. 29).3 § 539 Abs. 1 greift aber nicht bei eigenmächtigen, nicht den Voraussetzungen des § 536a Abs. 2 genügenden Mängelbeseitigungen (z.B. Reparaturen).4 bb) Vorliegen einer GoA Ein Anspruch besteht – insofern stellt die Verweisung eine Rechtsgrundverweisung dar – nur bei Vorliegen der §§ 677–687. Aufwendungen müssen also mit einem Fremdgeschäftsführungswillen sowie im Interesse und mit dem zumindest mutmaßlichen Willen des Vermieters (§ 683) oder im öffentlichen Interesse (§ 679) erfolgt sein; alternativ müssen sie vom Vermieter genehmigt worden sein (§ 684 Satz 2).

4

cc) Einzelfälle Typische, erstattungsfähige Aufwendungen sind Verbesserungs- und Modernisierungsmaßnahmen. 5 Mit Blick auf die Miete von Büroflächen hat das LG Hamburg entschieden, dass es sich bei „der Klimaanlage im EDV-Raum, der Telefonanlage und der EDV-Verkabelung nicht um Aufwendungen der Mieter zur Erhaltung und Wiederherstellung der Mietsache handelte, sondern um bewegliche Sachen, die mit der Mietsache verbunden worden sind, um ihrem wirtschaftlichen Zweck zu dienen“.5 Ob dieses mit Blick auf eine dauerhaft als solche vermietete Rechenzentrumsfläche genauso gelten würde, erscheint fraglich. b) Rechtsfolge: Wertersatz Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen besteht ein Wert-, kein Schadensersatzanspruch. §§ 256, 257 finden Anwendung.

2 Palandt/Weidenkaff, § 539 BGB Rz. 5. 3 Vgl. Palandt/Weidenkaff, § 539 BGB Rz. 5. 4 BGH v. 16.1.2008 – VIII ZR 222/06, MDR 2008, 440 f.; Blank/Börstinghaus/Blank, § 539 BGB Rz. 3; a.A. Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Zehelein, § 539 BGB Rz. 4; Palandt/Weidenkaff, § 539 BGB Rz. 2. 5 LG Hamburg v. 24.1.2012 – 311 O 302/11, ZMR 2012, 871, 872.

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BGB § 539 Rz. 7 Ersatz sonstiger Aufwendungen und Wegnahmerecht des Mieters c) Passivlegitimation und Verjährung 7

Der Anspruch entsteht zum Zeitpunkt der Aufwendungen und richtet sich gegen den Vermieter zu diesem Zeitpunkt.6 Der Anspruch verjährt gem. § 548. 2. Wegnahmerecht a) Einrichtungen

8

Teile der Einrichtung sind Sachen mit eigenständiger Bedeutung, die mit der Mietsache (fest) verbunden sind und ihrer Bestimmung nach dem Zweck der Mietsache dienen.7 Für eine eingebaute Klimaanlage im EDV-Raum, die Telefonanlage und die EDV-Verkabelung bei der Miete von Büroflächen hat die Rechtsprechung entschieden, dass es sich um Einrichtungen handelt, für die gesetzlich zunächst (nur) ein Recht des Mieters auf Wegnahme vorgesehen ist.8

9

Mangels Sachqualität und (fester) Verbundenheit mit der Mietsache scheidet die direkte Anwendung des Wegnahmerechts nach Abs. 2 auf Daten etwa bei ASP-, Cloud- oder Outsourcingverträgen aus.9 Sie hilft dem Mieter ohnehin regelmäßig nicht, da der Mieter nach § 539 Abs. 2 nur zur Wegnahme berechtigt, der Anbieter als Vermieter spiegelbildlich nur zur Duldung und nicht zur aktiven Herausgabe verpflichtet ist; anders mag sich dies nur darstellen, wenn der Mieter technisch in der Lage ist, auf die Daten beim Anbieter zuzugreifen.10 Richtig ist es vielmehr, mit der h.M. von einem Anspruch entweder aus § 242 wegen nebenvertraglicher Pflichten (dazu § 535 Rz. 42, 45 und 47) oder aus § 675 i.V.m. § 667 (dazu § 667 Rz. 6 f.) auszugehen.11 Denn selbst wenn man § 539 Abs. 2 mit Blick auf immaterielle Daten und die eigentlich geforderte Sachqualität für analogiefähig hielte, erwächst aus einem Anspruch auf Duldung in der Tat – auch bei analoger Anwendung – kein Anspruch auf Herausgabe. b) Keine Abwendung des Wegnahmerechts durch Zahlung gem. § 552 Abs. 1

10

Das Wegnahmerecht lässt sich bei der Wohnraum- und gewerblichen Miete bis zum Ausbau der Einrichtungen (ein Abtransport ist nicht erforderlich) durch eine angemessene Entschädigungszahlung oder ein Annahmeverzug begründendes, entsprechendes Zahlungsangebot gem. § 552 abwenden. c) Rechtsfolgen (ggf. auch Sanktionen)

11

Der Anspruch geht auf ein Wegnahmerecht, mithin auf Duldung der Wegnahme, aber nicht auf Herausgabe.

III. Abdingbarkeit 12

Beide Absätze sind abdingbar.

6 7 8 9

BGH v. 5.10.2005 – XII ZR 43/02, NJW-RR 2006, 294, 295 = WM 2006, 645, 646 f. BGH v. 13.5.1987 – VIII ZR 136/86, BGHZ 101, 37, 41. LG Hamburg v. 24.1.2012 – 311 O 302/11, ZMR 2012, 871, 872. A.A. für eingebrachte Daten, wenn auch ohne nähere Ausführungen, offenbar Roth-Neuschild, ITBR 2013, 213, 215. 10 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1129; Schuster/Hunzinger, CR 2015, 277, 281. 11 Grützmacher, ITRB 2004, 260, 262; Culmsee/Dorschel, CR 2013, 290; Conrad/Grützmacher/Müller, § 24 Rz. 5 f.; zu §§ 667, 675 OLG Düsselsorf v. 17.10.2011 – 14e O 219/10, CR 2012, 801, 802 ff.; vgl. Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 233 f., 236; s. auch OLG Dresden v. 5.9.2012 – 4 W 961/12, CR 2013, 196 f. = ITRB 2013, 56: vertragliche Nebenpflichten und § 823 Abs. 2 i.V.m. § 303a StGB bei Löschung; die Anwendung von § 675 i.V.m. § 667 ablehnend Schuster/Hunzinger, CR 2014, 277, 280 f.

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Gebrauchsüberlassung an Dritte

Rz. 2 § 540 BGB

IV. Verweise/Kontext Aufgrund § 578 Abs. 2 ist § 552 Abs. 2 zu beachten.

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§ 540 Gebrauchsüberlassung an Dritte (1) Der Mieter ist ohne die Erlaubnis des Vermieters nicht berechtigt, den Gebrauch der Mietsache einem Dritten zu überlassen, insbesondere sie weiter zu vermieten. Verweigert der Vermieter die Erlaubnis, so kann der Mieter das Mietverhältnis außerordentlich mit der gesetzlichen Frist kündigen, sofern nicht in der Person des Dritten ein wichtiger Grund vorliegt. (2) Überlässt der Mieter den Gebrauch einem Dritten, so hat er ein dem Dritten bei dem Gebrauch zur Last fallendes Verschulden zu vertreten, auch wenn der Vermieter die Erlaubnis zur Überlassung erteilt hat. I. 1. 2. II. 1.

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . . Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbot der Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 540 Abs. 1 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . a) Gebrauchsüberlassung an einen Dritten . b) Ohne Erlaubnis . . . . . . . . . . . . . . .

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c) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2. Kündigungsrecht (§ 540 Abs. 1 Satz 2) . . . . . 9 3. Zurechnung des Vertretenmüssens Dritter (§ 540 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Literatur: Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Gather, Die Überlassung der Mietsache an einen Dritten, DWW 2009, 242; Harsch, Untervermietung und Erlaubnis per einstweiliger Verfügung, MDR 2013, 754; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018; Redeker, Information als eigenständiges Rechtsgut – Zur Rechtsnatur der Information und dem daraus resultierenden Schutz, CR 2011, 634; Sonnenschein, Untervermietung und sonstige Gebrauchsüberlassung an Dritte, PiG Band 23 (1986), 167.

I. Allgemeines 1. Einführung § 540 Abs. 1 hält die wirtschaftliche Verwertung und sonstige Gebrauchsüberlassung des Mietgegenstandes in kontrollierten Bahnen. Dieses entspricht dem Grundsatz, dass der Mietgegenstand dem Mieter zum persönlichen Mietgebrauch, d.h. zum Gebrauch in eigener Person überlassen wird; das Mietverhältnis soll insofern nach dem Willen des Gesetzgebers vom persönlichen, gegenseitigen Vertrauen getragen sein und dem Vermieter soll kein Mieter aufgedrängt werden können.1 Die Haftungszurechnung des § 540 Abs. 2 ist Ausfluss des Grundsatzes, dass der Mieter für den Erhalt der Mietsache verantwortlich ist, und zwar eben auch bei Überlassung an Dritte.

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich § 540 findet auf die verschiedensten Arten von Mietverträgen sowie eingeschränkt auf Pachtverhältnisse Anwendung. Soweit zudem Software oder Daten überlassen werden, bedarf es nicht nur aus dem Mietvertragsverhältnis heraus (§ 540 Abs. 1) der Erlaubnis des Vermieters, sondern auch einer Zustimmung mit Blick auf die Unterlizenzierung der Schutzrechte. Insofern laufen Urheberrecht und Ver-

1 Vgl. BGH v. 5.11.2003 – VIII ZR 371/02, MDR 2004, 141; BGH v. 26.1.1994 – XII ZR 93/92, NJW-RR 1994, 558.

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BGB § 540 Rz. 2 Gebrauchsüberlassung an Dritte tragsrecht hier parallel;2 übersehen werden darf aber nicht, dass der Vermieter, wenn er nicht zugleich exklusiver Rechteinhaber ist, möglicherweise in persona keine Berechtigung zur Unterlizenzierung besitzt.

II. Norminhalt 3

Dem Mieter ist es ohne die Erlaubnis des Vermieters nach Abs. 1 Satz 1 untersagt, den Gebrauch der Mietsache einem Dritten zu überlassen, insbesondere sie weiter zu vermieten (dazu Rz. 5 ff.). Bei einer Verweigerung der Erlaubnis kann der Mieter nach Abs. 1 Satz 2 außerordentlich, wenn auch nur mit der gesetzlichen Frist, kündigen; das Kündigungsrecht besteht nicht, wenn in der Person des Dritten ein wichtiger Grund vorliegt (dazu Rz. 9 ff.).

4

Überlässt der Mieter den Gebrauch einem Dritten, so hat er laut Abs. 2 ein dem Dritten bei dem Gebrauch zur Last fallendes Verschulden zu vertreten, auch wenn der Vermieter die Erlaubnis zur Überlassung erteilt hat (dazu Rz. 12 f.). Dieses gilt auch beim unselbständigen Mitgebrauch durch Dritte.3 1. Verbot der Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 540 Abs. 1 Satz 1) a) Gebrauchsüberlassung an einen Dritten

5

Eine Gebrauchsüberlassung an einen Dritten im Sinne des § 540 Abs. 1 Satz 1 liegt vor, wenn der Dritte aufgrund vertraglicher Vereinbarung mit dem Mieter ein eigenständiges Besitzrecht hat.4 Klassischer Fall ist die sog. Untermiete. Ausreichend ist nach h.M. die Einräumung von Mitbesitz.5 Demgegenüber unterfällt die Überlassung an Angestellte, die lediglich Besitzdiener sind und kein eigenes Besitzrecht haben, § 540 Abs. 1 Satz 1 nicht;6 Gleiches gilt für Familienmitglieder.7 Dies korrespondiert auch mit der Auslegung des berechtigten Nutzers in § 69d Abs. 1 UrhG.8

6

Bezogen auf Rechenzentrumsflächen und physische IT-Systeme liegt eine Gebrauchsüberlassung an Dritte mithin bei der klassischen Untervermietung, aber auch der Leihe vor. Schwierigkeiten bereitet hingegen die Abgrenzung beim als Miete zu qualifizierenden ASP und Cloud-Computing (dazu unter § 535 Rz. 18 ff.). Hier kann die Mitbenutzung durch Dritte9 dann als Gebrauchsüberlassung an diese angesehen werden, wenn diese ein eigenständiges Zugangsrecht (z.B. eigene Login-Kennung und/oder Passwort) erhalten. Die Grenzziehung ist schwierig. b) Ohne Erlaubnis

7

Die Überlassung an Dritte ist (nur) mit der Erlaubnis des Vermieters zulässig.10 Sie kann als einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung (§ 130) gegenüber dem Mieter oder – analog § 182 – gegenüber dem Untervermieter bzw. sonstigen Dritten erklärt werden. Dies kann grundsätzlich auch stillschweigend geschehen. Die Erlaubnis kann regelmäßig formlos erteilt werden. Str. ist lediglich, ob die gesetzliche Schriftform des § 550 auch für den Untervermieter greift, wenn der Hauptmietvertrag für mehr als ein Jahr abgeschlossen wurde.11 Die Erlaubnis kann auch allgemein gefasst und dazu auf bestimmte Nutzungszwecke beschränkt werden; sie erstreckt sich im Zweifel nicht auf eine weitere Unter2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Redeker, CR 2011, 634, 637 f. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1369. Blank/Börstinghaus/Blank, § 540 BGB Rz. 20. BGH v. 5.11.2003 – VIII ZR 371/02, MDR 2004, 141 f.; OLG Hamm v. 17.8.1982 – 4 REMiet 1/82, MDR 1983, 56; BayObLG v. 29.11.1983 – Re Miet 9/82, MDR 1984, 316; Blank/Börstinghaus/Blank, § 540 BGB Rz. 28. Vgl. Blank/Börstinghaus/Blank, § 540 BGB Rz. 45; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1350. Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1350. Vgl. Wandtke/Bullinger/Grützmacher, § 69d UrhG Rz. 34. Analog der langfristigen Überlassung eines Wohnungsschlüssels; vgl. Blank/Börstinghaus/Blank, § 540 BGB Rz. 38. Insoweit gilt § 553 nur für Wohnraum. Zu möglichen vertraglichen Ansprüchen bei der Geschäftsraummiete Harsch, MDR 2013, 754, 755 (sowie zu deren Durchsetzung per einstweiliger Verfügung, a.a.O. 755 ff.). Abl. LG Kiel v. 6.5.1991 – 1 S 227/89, WuM 1994, 610; bejahend Sonnenschein, PiG 23 (1986), 167, 173.

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Gebrauchsüberlassung an Dritte

Rz. 13 § 540 BGB

vermietung.12 Die Erlaubnis kann nur bei einem entsprechenden Vorbehalt aus wichtigem Grund widerrufen werden. c) Rechtsfolge Die unbefugte Gebrauchsüberlassung führt ggf. zu Schadensersatzansprüchen sowie auch zu einem Kündigungsrecht des Vermieters nach §§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 573 Abs. 2 Nr. 1 (anders u.U. bei Wohnraum). Darüber hinaus können überschießende (Unter-)Mieteinahmen nach § 812 bzw. § 816 abgeschöpft werden.13

8

2. Kündigungsrecht (§ 540 Abs. 1 Satz 2) Ein Recht zur Kündigung steht dem Mieter zu, wenn der Vermieter seine Erlaubnis ohne wichtigen 9 Grund verweigert. Die Verweigerung hat grundsätzlich explizit zu erfolgen. Str. ist, ob dem gleich steht, dass der Vermieter eine konkrete – eine allgemeine reicht nicht – Anfrage nicht innerhalb einer gesetzten bzw. angemessenen Frist beantwortet.14 Ein wichtiger Grund, der die Verweigerung erlaubt, muss in der Person bzw. den persönlichen Verhältnissen des Dritten liegen. Das kann sich etwa auf die Zuverlässigkeit des Untermieters beziehen. Bei der gewerblichen Miete kann es auch auf die wirtschaftliche Lage des Untermieters15 oder auf die Überbeanspruchung der Mietsache, Beeinträchtigung von Mitmietern oder Wettbewerbsverbote ankommen.16 Ausreichend ist insofern aber auch, wenn sich die Nutzungsart ändert.17 Das Kündigungsrecht ist analog § 314 Abs. 3 zeitnah auszuüben.18 Bei IT-Sachverhalten ist mitunter zu bedenken, dass der Vermieter gar nicht die nötigen Rechte zur Vergabe von u.U. erforderlichen Unterlizenzen besitzt (eine Erschöpfung der Rechte tritt nicht ein, vgl. §§ 17 Abs. 2, 69c Nr. 3 Satz 2 und § 87b Abs. 2 UrhG; teils könnte § 27 UrhG eingreifen); in diesem Fall erscheint die Verweigerung der Zustimmung – auch wenn sie nicht in der Person des Dritten begründet ist – gleichwohl zulässig. Zumindest hat der Mieter in diesem Fall keinen Anspruch auf Einräumung einer Unterlizenz.

10

Neben dem Recht aus Abs. 1 Satz 2 kann auch ein Recht zur außerordentlichen Kündigung nach § 543 Abs. 2 Nr. 1 bestehen, wenn der Mieter einen gesetzlichen oder vertraglichen Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis hat.19

11

3. Zurechnung des Vertretenmüssens Dritter (§ 540 Abs. 2) Ohne dass es auf ein Verschulden des Mieters ankäme, haftet dieser für den Untermieter oder sonstigen 12 Dritten. Es gelten insofern die Grundsätze des § 278. Eine Haftung besteht insofern insbesondere für Verstöße gegen den Hauptmietvertrag und alle Handlungen im Rahmen des Mietverhältnisses.20 Das muss auch für Schutzrechts- und Lizenzverstöße gelten. Die erweiterte Haftung greift im Fall der unerlaubten wie aber gerade auch im Rahmen der erlaubten Gebrauchsüberlassung. Bei der unerlaubten Gebrauchsüberlassung tritt aber möglicherweise noch ein Schadensersatzanspruch gegen den Mieter aus schuldhaftem Handeln hinzu.

12 Palandt/Weidenkaff, § 540 BGB Rz. 7. 13 BGH v. 13.12.1995 – XII ZR 194/93, NJW 1996, 838, 839 f.; BGH v. 21.9.2001 – V ZR 228/00, NJW 2002, 60, 61. 14 Dafür OLG Köln v. 1.9.2000 – 19 U 53/00, ZMR 2001, 186; dagegen OLG Koblenz v. 30.4.2001 – 4 W-RE 525/00, WUM 2001, 272, 273; differenzierend Blank/Börstinghaus/Blank, § 540 BGB Rz. 74 mit zahlreichen weiteren Rspr.-Nachw. 15 BGH v. 15.11.2006 – XII ZR 92/04, NJW 2007, 288, 289 Rz. 17 ff. 16 Palandt/Weidenkaff, § 540 BGB Rz. 12. 17 Palandt/Weidenkaff, § 540 BGB Rz. 11. 18 Vgl. Blank/Börstinghaus/Blank, § 540 BGB Rz. 77; s. auch Palandt/Weidenkaff, § 540 BGB Rz. 13. 19 BGH v. 11.1.1984 – VIII ZR 237/82, NJW 1984, 1031 f. 20 Palandt/Weidenkaff, § 540 BGB Rz. 15.

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BGB § 540 Rz. 14 Gebrauchsüberlassung an Dritte

III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes Recht 14

§ 540 ist (ausgenommen bei Wohnraum) abdingbar; zulässig ist etwa ein sog. Untervermietverbot.21 2. AGB-Recht

15

Zumindest bei der Geschäftsraummiete ist ein Untervermietverbot auch in AGB zulässig.22 Demgegenüber verstößt ein Schriftformerfordernis mit Blick auf die Zustimmung zur Drittüberlassung in Formularverträgen gegen § 307.23 Unwirksam sind in AGB auch uneingeschränkte Widerrufsvorbehalte mit Blick auf die Zustimmung.24

§ 541 Unterlassungsklage bei vertragswidrigem Gebrauch Setzt der Mieter einen vertragswidrigen Gebrauch der Mietsache trotz einer Abmahnung des Vermieters fort, so kann dieser auf Unterlassung klagen. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

1 1 2

II. Norminhalt . . . . . . . . . . . 1. Vertragswidriger Gebrauch . . 2. Fortsetzung trotz Abmahnung a) Abmahnung . . . . . . . . .

3 3 6 6

. . . .

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b) Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 8

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 10 11

IV. Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Literatur: Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Grützmacher, Lizenzmetriken und Copyright – ein Widerspruch? – Ausgestaltung, Wirksamkeit und Rechtsfolgen von Lizenzbeschränkungen, ITRB 2017, 141; Marly, Praxishandbuch Softwarerecht – Rechtsschutz und Vertragsgestaltung, 7. Aufl. 2018.

I. Allgemeines 1. Einführung 1

§ 541 normiert, was selten ist, einen vertraglichen Unterlassungsanspruch. Sichergestellt werden soll die vertragsgemäße Nutzung des Mietgegenstands. 2. Bedeutung und Anwendungsbereich

2

§ 541 erlangt im IT-Recht dort besondere Bedeutung, wo nicht zugleich ein urheber- oder patentrechtlicher Unterlassungsanspruch besteht, also insbesondere bei Nutzungsbeschränkungen, die nicht nur urheberrechtlicher, sondern nur vertraglicher Natur sind (dazu Rz. 4). Der Anspruch kann während der Dauer des Mietverhältnisses geltend gemacht werden. § 1004 ist, weil dort keine Abmahnung erforderlich ist, aus Gründen des Mieterschutzes neben § 541 nicht anwendbar.1 Allerdings muss eine Geltendmachung von auf Schutzrechten basierenden Unterlassungsansprüchen (insb. § 1004 BGB 21 BGH v. 4.7.1990 – VIII ZR 288/89, NJW 1990, 3016, 3017 = CR 1991, 407. 22 Palandt/Weidenkaff, § 540 BGB Rz. 2; offen gelassen von BGH v. 24.5.1995 – XII ZR 172/94, MDR 1995, 1115; a.A. LG Bonn v. 20.2.2002 – 2 O 346/01, NJW-RR 2002, 1234, 1235. 23 BGH v. 15.5.1991 – VIII ZR 38/90, MDR 1991, 628; BGH v. 24.5.1995 – XII ZR 172/94, MDR 1995, 1115. 24 BGH v. 11.2.1987 – VIII ZR 56/86, MDR 1987, 753. 1 BGH v. 17.4.2007 – VIII ZB 93/06, NJW 2007, 2180, 2180.

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Unterlassungsklage bei vertragswidrigem Gebrauch

Rz. 6 § 541 BGB

analog i.V.m. § 97 UrhG) möglich sein, zumal dort i.d.R. von den Gerichten auch zunächst eine Abmahnung gefordert wird.

II. Norminhalt 1. Vertragswidriger Gebrauch Vertragswidrig ist jeder nicht vertragsgemäße Gebrauch. Es reicht ein objektiv pflichtwidriges Handeln. Ein Verschulden ist nicht erforderlich. Auch irrige Annahmen des Mieters sind unbeachtlich. Es genügt auch das Handeln Dritter, denen der Mietgegenstand überlassen wurde (vgl. zudem auch § 540 Abs. 2).

3

Bei Räumlichkeiten (RZ-Miete) und Hardware können etwa Beschädigungen, Veränderungen oder 4 nicht dem vereinbarten Nutzungszweck entsprechenden Nutzungen wie auch die unbefugte Untervermietung bzw. sonstige Überlassung an Dritte (§ 540 Abs. 1) einen vertragswidrigen Gebrauch darstellen.2 Bei Software- und Datenüberlassungsverträgen kommen insbesondere Verstöße gegen die Lizenzbedingungen in Betracht. Dabei führen diese zwar oft zu zusätzlichen selbständigen (zumeist) urheberrechtlichen Unterlassungsansprüchen, aber eben auch Ansprüchen nach § 541. Bei bloßen vertraglichen Verstößen gegen Lizenzbedingungen, die nicht zugleich Urheberrechtsverletzungen darstellen, greifen nur die vertraglichen Unterlassungsansprüche nach § 541 (§ 535 Rz. 57; § 97 UrhG Rz. 67 ff.).3 Liegen für bestimmte Formen der Nutzung nur spezielle Vergütungsregelungen vor, in denen nur eine zusätzliche Vergütung und nicht auch eine Nutzungsbeschränkung vereinbart wurde, stehen Unterlassungsansprüche auch auf Basis von § 541 in Frage.4 Ob es hingegen, wie Marly offenbar meint, für einen Anspruch aus § 541 reicht, dass eine Gefahr unautorisierter Vervielfältigungen droht, weil der Mieter die Software ungesichert aufbewahrt,5 darf bezweifelt werden.

5

2. Fortsetzung trotz Abmahnung a) Abmahnung Die Abmahnung ist eine empfangsbedürftige, rechtsgeschäftsähnliche Erklärung, auf die Vorschriften für Rechtsgeschäfte (insbesondere auch § 174) entsprechende Anwendung finden. Die Abmahnung kann formlos erfolgen. Aus der Abmahnung muss sich das konkret vorgeworfene vertragswidrige Verhalten bzw. Unterlassen ergeben; die Abmahnung muss zum Unterlassen bzw. Abstellen des vertragswidrigen Verhaltens bzw. Zustands auffordern. Der Widerruf einer bis dato erteilten Erlaubnis stellt für sich noch keine Abmahnung dar, kann aber mit dieser kombiniert werden.6 Eine Fristsetzung oder Androhung von Rechtsfolgen ist nicht erforderlich.7 Bei Arglist des Mieters8 oder ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung9 kann die Abmahnung ausnahmsweise entbehrlich sein.

2 Weitere Bsp. für die normale Wohn- und Gewerberaummiete bei Palandt/Weidenkaff, § 541 BGB Rz. 6 f.; vertiefend zum Verstoß gegen Gebrauchsbeschränkungen Blank/Börstinghaus/Blank, § 541 BGB Rz. 30 ff. 3 S. dazu auch Dreier/Schulze/Specht, § 97 UrhG Rz. 7; s. zur Abgrenzung vertraglicher von urheberrechtlichen Beschränkungen ferner BGH v. 24.10.2002 – I ZR 3/00, CR 2003, 323, 324 f. – CPU-Klausel; Grützmacher, ITRB 2017, 141 ff. 4 Allgemein Grützmacher, ITRB 2017, 141, 145. 5 Marly, Praxishandbuch Softwarerecht, Rz. 1371, 1375 mit den veralteten Beispielen der Aufbewahrung in einem stark frequentierten Verkaufsraum oder auf einem Messestand. 6 Blank/Börstinghaus/Blank, § 541 BGB Rz. 6. 7 Palandt/Weidenkaff, § 541 BGB Rz. 8. 8 BGH v. 29.11.1967 – VIII ZR 103/65, WM 1968, 252, 253. 9 BGH v. 19.2.1975 – VIII ZR 195/73, WM 1975, 365, 366.

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BGB § 541 Rz. 7 Unterlassungsklage bei vertragswidrigem Gebrauch b) Fortsetzung 7

Der Unterlassungsanspruch gem. § 541 ist sodann gegeben, wenn der Mieter trotz Kenntnis von der Abmahnung sein vertragswidriges Verhalten fortsetzt. Der Mieter muss mit Zugang der Abmahnung umgehend im möglichen und zumutbaren Umfang tätig werden.10 3. Rechtsfolgen

8

Ist nach erfolgter Abmahnung ein für die Abstellung des vertragswidrigen Verhaltens bzw. Zustands angemessener Zeitraum bzw. eine gesetzte angemessene Frist fruchtlos vergangen, hat der Vermieter das Recht, eine Unterlassungsklage zu erheben bzw. ggf. auch eine einstweilige Verfügung zu beantragen.11 Die urheberrechtliche Dringlichkeitsvermutung dürfte dabei nur bei der Verletzung urheberrechtsrelevanter Beschränkungen bestehen.12 Ggf. kann im Rahmen der Unterlassungsklage (bzw. des Antrags auf einstweilige Verfügung) die Androhung von Ordnungsgeldern (§ 890 Abs. 2 ZPO) beantragt werden. Wenn der Mieter den vertragswidrigen Gebrauch bzw. Zustand nach der Abmahnung abstellt, soll die danach eingereichte Klage unzulässig sein.13 Diese Auffassung überzeugt nicht. Richtig erscheint, dass es hierzu zudem einer strafbewehrten Unterlassungserklärung bedarf, um die Wiederholungsgefahr zu beseitigen; nur das liegt auf der Linie der Androhung von Ordnungsgeldern (§ 890 Abs. 2 ZPO) im Streitfall.

III. Abdingbarkeit 9

Die Norm ist dispositiv. 1. Zwingendes Recht

10

Das Tatbestandsmerkmal der Abmahnung kann individuell abbedungen werden.14 2. AGB-Recht

11

Eine Formularklausel, nach der eine Abmahnung nicht erforderlich ist, ist AGB-rechtswidrig.15

IV. Verweise/Kontext 12

S. für Schutzrechtsverletzungen auch die Kommentierung zu § 97 UrhG Rz. 5 ff., 67 ff.

§ 542 Ende des Mietverhältnisses (1) Ist die Mietzeit nicht bestimmt, so kann jede Vertragspartei das Mietverhältnis nach den gesetzlichen Vorschriften kündigen. (2) Ein Mietverhältnis, das auf bestimmte Zeit eingegangen ist, endet mit dem Ablauf dieser Zeit, sofern es nicht 1. in den gesetzlich zugelassenen Fällen außerordentlich gekündigt oder 2. verlängert wird. 10 Palandt/Weidenkaff, § 541 BGB Rz. 9. 11 Blank/Börstinghaus/Blank, § 541 BGB Rz. 21; Palandt/Weidenkaff, § 541 BGB Rz. 5: auch ohne Wiederholungsgefahr. 12 Vgl. Grützmacher, ITRB 2017, 141, 145. 13 Blank/Börstinghaus/Blank, § 541 BGB Rz. 21. 14 Blank/Börstinghaus/Blank, § 541 BGB Rz. 12. 15 Vgl. Blank/Börstinghaus/Blank, § 541 BGB Rz. 12.

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Ende des Mietverhältnisses

Rz. 3 § 542 BGB

Literatur: Auer-Reinsdorff/Conrad (Hrsg.), Handbuch IT- und Datenschutzrecht, 3. Aufl. 2019; Blank/Börstinghaus (Hrsg.), Miete, 5. Aufl. 2017; Flatow, Typische Fehler bei der Kündigungserklärung, WuM 2004, 316; Grützmacher, Teilkündigungen bei Softwarepflege- und Softwarelizenzverträgen – Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der AGB- und kartellrechtlichen Aspekte, ITRB 2011, 133; Hilber, Handbuch Cloud Computing, 2014; Redeker, IT-Recht, 6. Aufl. 2017; Redeker, Rechtsprobleme des Softwarewechsels, ITRB 2012, 165; v. Merveldt, Zulässigkeit langfristiger Laufzeiten für Softwareüberlassungsverträge, CR 2006, 721. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

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II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1. Unbestimmte Mietzeit und ordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 a) Unbestimmte bzw. unbefristete Mietzeit . . 3 b) Kündigung nach gesetzlichen Vorschriften . 4 aa) Gesetzliche Fristen . . . . . . . . . . . . 4 bb) Kündigungserklärung . . . . . . . . . . 5 (1) Inhalt der Erklärung . . . . . . . . . . . 6 (2) Teilkündigung . . . . . . . . . . . . . . 7 (3) Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 (4) Fristgerechter Zugang . . . . . . . . . . 9 (5) Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . 10

2. Befristete Mietzeit und außerordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmte bzw. befristete Mietzeit . . . b) Außerordentliche Kündigung i.S.v. § 542 Abs. 2 Nr. 1 (oder sonstige vorzeitige Beendigung) . . . . . . . . . . c) Verlängerung i.S.v. § 542 Abs. 2 Nr. 2 . . 3. Kein Ausschluss der Kündigung insb. nach § 242 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 11 . . 11 . . 12 . . 13 . . 14 . . 15

III. Abdingbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Zwingendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 IV. Einzelfälle und -fragen . . . . . . . . . . . . . 19 V. Verweise/Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

I. Allgemeines 1. Einführung § 542 regelt das Ende des Mietverhältnisses. § 542 Abs. 1 stellt klar, dass ein Mietvertrag, der auf unbestimmte Zeit geschlossen ist, ordentlich gekündigt werden kann, und zwar nach Maßgabe der entsprechenden gesetzlichen Vorschriften. Ebenso ist § 542 Abs. 2 rein deklaratorisch; er stellt klar, dass ein auf eine bestimmte Zeit abgeschlossener Vertrag durch Zeitablauf endet oder vorher außerordentlich gekündigt oder aber verlängert werden kann.

1

2. Bedeutung und Anwendungsbereich § 542 umschreibt mit der ordentlichen Kündigung und dem Zeitablauf bzw. ggf. der außerordentli- 2 chen Kündigung die Normalfälle der Beendigung des Mietverhältnisses und verweist dazu auf (gerade im Wohnraummietrecht) bestehende Spezialnormen. Darüber hinaus sind aber natürlich auch die Beendigung des Mietvertrags durch Anfechtung, Aufhebungsvertrag, Bedingungseintritt, Unmöglichkeit oder Wegfall der Geschäftsgrundlage (dazu § 313 Rz. 7 ff.) denkbar.1

II. Norminhalt 1. Unbestimmte Mietzeit und ordentliche Kündigung a) Unbestimmte bzw. unbefristete Mietzeit Ein Mietvertrag mit unbestimmter bzw. unbefristeter Mietzeit liegt vor, wenn in diesem vertraglich keine Begrenzung der Mietzeit vorgesehen wurde, sei es ausdrücklich oder schweigend bzw. konkludent, oder wenn ein zunächst befristetes Mietverhältnis nach Ablauf der Mietzeit in ein unbefristetes Mietverhältnis übergeht. Zudem kann eine unbestimmte Mietzeit aus der Versäumung des Schriftformerfordernisses des § 550 Satz 1 resultieren, wie es insbesondere bei der Gewerberaum- und damit auch bei der Rechenzentrumsmiete besteht (§ 578 Abs. 2). Ein auf unbestimmte Zeit abgeschlossener 1 Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 3 ff.

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BGB § 542 Rz. 3 Ende des Mietverhältnisses Vertrag liegt auch vor, wenn eine Kündigungsfrist vorgesehen ist („… kann mit einer Frist von 30 Tagen gekündigt werden“). Anders liegt der Fall bei periodischen Verlängerungsklauseln mit Kündigungsmöglichkeit („… ist auf ein Jahr geschlossen und verlängert sich um ein Jahr, wenn er nicht mit einer Frist von 30 Tagen zum Vertragsjahresende gekündigt wird.“); diese unterfallen Abs. 2 Nr. 22 und führen zu Mietverträgen auf bestimmte Zeit sowie zur Anwendung von § 193.3 Negativ abgrenzen lässt sich die unbestimmte Mietzeit von der bestimmten Mietzeit (dazu unter Rz. 11). b) Kündigung nach gesetzlichen Vorschriften aa) Gesetzliche Fristen 4

Gerade das Wohnraumrecht sieht in §§ 573c-d, 568, 569 und 576 diverse Regelungen zu spezifischen Kündigungsfristen vor. Demgegenüber sind vorbehaltlich abweichender vertraglicher Kündigungsfristen im IT-Bereich vor allem die Fristen des § 580a relevant.4 So wird sogar für das nach h.M. in der Rspr. (dazu § 535 Rz. 17) dem Werkvertragsrecht unterfallende Webhosting zu Recht vertreten, dass für die Kündigung § 580a analog anzuwenden ist.5 So wären dem Wortlaut nach für die Rechenzentrumsmiete, da Vermietung von Geschäftsräumen (§ 535 Rz. 16), die Fristen des § 580a Abs. 2 und für die Miete von Software,6 Hardware und sonstigen Systemen sowie ASP- und Cloud-Services, da Vermietung von beweglichen Sachen (§ 535 Rz. 18 ff.), § 580a Abs. 3 anwendbar (zum AGB-Recht Rz. 18). Allerdings ist insofern zu erwägen, ob nicht im Sinne einer teleologischen Reduktion bzw. lediglich beschränkten Analogie zumindest bei Providerleistungen nur § 580a Abs. 2, nicht aber Abs. 3 anzuwenden ist, weil der Nutzer für IT-Leistungen nicht von heute auf morgen einen neuen Anbieter suchen kann.7 Gesetzliche Vorschrift im Sinne des § 542 Abs. 1 ist zudem auch die Regelung der außerordentlichen Kündigung in § 543. In der Praxis sind die Kündigungsfristen regelmäßig vertraglich bestimmt. Besonderheiten gelten im Insolvenzfall (dazu unter § 103 InsO Rz. 27). bb) Kündigungserklärung

5

Die Kündigung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung (§ 130), die mit ihrem Zugang ex nunc wirksam wird.8 Sie kann auch konkludent erklärt werden.9 Die einmal erklärte und vor weiteren Erklärungen zugegangene Kündigung kann nicht mehr widerrufen oder zurückgenommen werden (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 2).

2 Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 10. 3 OLG Dresden v. 8.11.2013 – 5 U 1101/13, MDR 2014, 80 unter Hinweis auf die pachtrechtliche Entscheidung BGH v. 16.10.1974 – VIII ZR 74/73, MDR 1975, 132. 4 Vgl. LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154, 155; auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 223; Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 614; Hilber/ Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 358 f. 5 LG Mannheim v. 7.12.2010 – 11 O 273/10, unveröffentlicht, juris Rz. 33 ff.; für die direkte Anwendung auf Basis von Miet- bzw. Pachtrecht OLG Köln v. 13.5.2002 – 19 U 211/01, CR 2002, 832. 6 So LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154, 155 (zur entsprechenden Fassung des § 565 Abs. 4 Nr. 2 a.F.). 7 So LG Mannheim v. 7.12.2010 – 11 O 273/10, unveröffentlicht, juris Rz. 38 ff., insb. Rz. 40; zu Recht weist auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 223 darauf hin, dass die Fristen des § 580a im IT-Recht oft nicht passen; für die Anwendbarkeit des Abs. 3 auf Webhosting-Verträge auf Basis einer von der h.M. abweichenden Anwendung von Miet- bzw. Pachtrecht auf diese OLG Köln v. 13.5.2002 – 19 U 211/01, CR 2002, 832 und auf die Softwaremiete LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154, 155 (jeweils zur Abs. 3 entsprechenden Fassung des § 565 Abs. 4 a.F.). Hilber/Intveen/Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 358 f. empfehlen eine vertragliche Abbedingung von § 580a Abs. 3. Kein Problem sieht hierin offenbar Schneider, Handbuch EDV-Recht, Kap. R Rz. 614 („mit praktisch zwei Tagen Frist“). 8 BGH v. 9.5.2012 – VIII ZR 327/11, NJW 2012, 2270, 2273 Rz. 29. Zu den Formalien und typischen Fehlern bei der Erklärung ausführlich Flatow, WuM 2004, 316 ff. 9 BGH v. 10.10.2001 – XII ZR 93/99, NJW-RR 2002, 8, 9.

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Rz. 9 § 542 BGB

(1) Inhalt der Erklärung Die Kündigung muss den Willen zur Beendigung des Mietverhältnisses klar zum Ausdruck bringen. 6 Im Übrigen bedarf es vorbehaltlich abweichender Vereinbarungen – dann ist dieses Wirksamkeitsvoraussetzung – keiner Angabe des Kündigungsgrundes.10 Die Kündigung darf als Gestaltungsrecht weder bedingt11 noch befristet12 werden, sehr wohl aber nachrangig zur außerordentlichen Kündigung erklärt werden. Eine unwirksame außerordentliche Kündigung kann zudem bei dem eindeutigen Willen, sich in jedem Fall zum nächstmöglichen Termin vom Vertrag lösen zu wollen, in eine ordentliche Kündigung umgedeutet werden (§§ 133, 140).13 Auch eine versehentliche Falschbezeichnung des zu kündigenden Miet- als Pflegevertrag kann unschädlich sein, wenn zwischen den Parteien kein sonstiger Vertrag besteht.14 Weiter ist es auch nicht erforderlich, zusätzlich zu erklären, dass die gekündigten Softwareprodukte bzw. Systeme stillgelegt wurden (dazu auch § 546a Rz. 3).15 (2) Teilkündigung Eine Teilkündigung ist nach h.M. grundsätzlich nur dann zulässig, wenn sie im Vertrag vorgesehen ist.16 Nicht analogiefähig ist die Sonderregelung zugunsten des Vermieters für Nebenräume und Grundstücksteile in § 573b.17 Wie auch in der Rechtsprechung zum Wohnungsmietrecht zum Vorliegen eines18 oder zweier19 Verträge (für Wohnung und Garage) ist aber im Einzelfall genau zu analysieren, ob zusätzliche Mietgegenstände – bei Software zusätzliche User- oder sonstige Lizenzen – unter einem bereits bestehenden Vertrag nachbestellt wurden oder ob zwei Verträge mit eigenen Laufzeiten vorliegen.20 Auch ist es im Ausnahmefall denkbar, dass ein Teilkündigungsrecht aus kartellrechtlichen Gründen besteht.21

7

(3) Form Einer besonderen Form bedarf die Kündigung (ausgenommen bei Wohnraum, § 568 Abs. 1) nicht. Oftmals sind aber gewillkürte Formerfordernisse zu beachten (§ 543 Rz. 28, 40; s. auch zum Einschreiben Rz. 9). In Analogie zu § 144 kann eine eigentlich formunwirksame Kündigung durch Annahme wirksam werden.22

8

(4) Fristgerechter Zugang Die Kündigung ist – ggf. bei Begründungszwang (dazu § 543 Rz. 40) samt Angabe der Gründe – emp- 9 fangsbedürftig gem. § 130 Abs. 1 Satz 1. Für den fristgerechten Zugang kommt es darauf an, wann die Erklärung so in den Machtbereich des Erklärungsempfängers (oder dessen Vertreters) gelangt ist, dass unter gewöhnlichen Umständen mit ihrer Kenntnisnahme gerechnet werden konnte.23 Bei Briefkästen und Postfächern ist entscheidend, wann nach der Verkehrssitte üblicherweise mit der Leerung zu rech10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 14. BGH v. 22.10.2003 – XII ZR 112/02, NJW 2004, 284 f.; anders bei sog. Rechtsbedingungen. BGH v. 22.10.2003 – XII ZR 112/02, NJW 2004, 284, 284 f. Dazu BGH v. 12.1.1981 – VIII ZR 332/79, NJW 1981, 976, 977; BGH v. 16.7.2003 – XII ZR 65/02, NJW 2003, 3053, 3054; BGH v. 24.11.2006 – LwZR 6/05, NJW 2007, 1269, 1270; BGH v. 24.7.2013 – XII ZR 104/12, NJW 2013, 3361, 3362; Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 19. LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154, 155. LG Köln v. 25.10.1995 – 20 S 9/95, CR 1996, 154, 155. Blank/Börstinghaus/Blank, § 542 BGB Rz. 96; Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 16 mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung aus dem Wohnungs- und gewerblichen Mietrecht; Grützmacher, ITRB 2011, 133, 134; Redeker, ITRB 2012, 165, 167. Grützmacher, ITRB 2011, 133, 134. Etwa BGH v. 12.10.2011 – VIII ZR 251/10, NJW 2012, 224, 225. BGH v. 4.6.2013 – VIII ZR 422/12, NJW-RR 2013, 1355. Grützmacher, ITRB 2011, 133, 135 f. Grützmacher, ITRB 2011, 133, 135 f. Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 15. BGH v. 13.2.1980 – VIII ZR 5/79, NJW 1980, 990; BGH v. 5.12.2007 – XII ZR 148/05, NJW 2008, 843, 843.

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BGB § 542 Rz. 9 Ende des Mietverhältnisses nen ist. Bei der persönlichen Übergabe tritt die Kenntnisnahme regelmäßig sofort ein. Bei der Ablage in Geschäftsräumen ist entscheidend, dass die Abgabe bei einer vom Empfänger zur Entgegennahme der Post bestimmten Stelle erfolgt.24 Die Vereinbarung einer Kündigung per Einschreiben (mit Empfangsbekenntnis) dient regelmäßig nur der Beweissicherung, ist also auch wirksam zugegangen, wenn sie nachweislich (nur) per Brief oder Fax eingegangen ist.25 (5) Stellvertretung 10

Die Stellvertretung aufgrund Vollmacht bei der Kündigung (§ 174) ist möglich. Auch der Kündigungsempfänger kann vertreten werden.26 2. Befristete Mietzeit und außerordentliche Kündigung a) Bestimmte bzw. befristete Mietzeit

11

Bei einem auch als Zeitmietvertrag bezeichneten Mietvertrag mit bestimmter Mietzeit ist diese entweder kalendermäßig festgelegt („… endet am 31.12.2024.“) bzw. bestimmbar („… endet ein Jahr nach Unterschrift.“) oder aber bis zum absehbaren Eintritt eines bestimmten Ereignisses vereinbart.27 Auch bei Verlängerungsklauseln im Sinne von Abs. 2 Nr. 2 (s. Rz. 13) liegt eine bestimmte Mietzeit vor. Der Mietvertrag mit einer bestimmten Mietzeit endet – ausgenommen im Fall der Klauseln zur Verlängerung bei Schweigen oder u.U. auch im Fall des § 545 (dazu Nachweis bei § 545 Rz. 5) – im Normalfall durch Zeitablauf. Die ordentliche Kündigung ist ausgeschlossen. b) Außerordentliche Kündigung i.S.v. § 542 Abs. 2 Nr. 1 (oder sonstige vorzeitige Beendigung)

12

Vorzeitig kann der Mietvertrag bei einer bestimmten bzw. befristeten Mietzeit nur durch eine außerordentliche Kündigung (vor allem nach § 543 oder auch §§ 540 Abs. 1 Satz 2, 544, 580), bei vereinbarten Sonderkündigungsrechten oder durch eine sonstige vorzeitige Beendigung durch Anfechtung, Aufhebungsvertrag, Eintritt einer auflösenden Bedingung, unverschuldeter Unmöglichkeit oder Wegfall der Geschäftsgrundlage beendet werden. Im Fall der Insolvenz des Mieters gilt für unbewegliche Gegenstände oder Räume § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO und damit das Mietverhältnis zunächst fort, wobei der Insolvenzverwalter ein Kündigungsrecht nach § 109 Abs. 1 Abs. 1 Satz 1 InsO hat;28 sonst – so etwa bei Softwarelizenz- oder ASP- und Cloud-Verträgen – gilt § 103 InsO (dazu § 103 InsO Rz. 27). Die in den Verträgen oft zu findenden Lösungsklauseln sind regelmäßig nach § 119 InsO unwirksam. c) Verlängerung i.S.v. § 542 Abs. 2 Nr. 2

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Eine Verlängerung kann durch individuelle Abrede herbeigeführt werden. Oder es kann vertraglich von vornherein vorgesehen sein, dass sich das Mietverhältnis verlängert, wenn keine der Parteien sich innerhalb einer bestimmten Frist vor Vertragsende anderweitig erklärt; die Verlängerung wird mithin durch Schweigen vereinbart (s. auch Rz. 11).29 Schließlich finden sich Vertragsgestaltungen, die – zumeist dem Mieter – die Option bieten, die Mietzeit durch einseitige Erklärung zu verlängern. Das Mietverhältnis wird sodann inhaltsgleich bis zum entsprechend verlängerten Mietende fortgesetzt.

24 Blank/Börstinghaus/Blank, § 542 BGB Rz. 83 unter Hinweis auf BGH v. 17.5.1991 – V ZR 92/90, NJW 1991, 2700. 25 H.M., BGH v. 21.1.2004 – XII ZR 214/00, MDR 2004, 560, 561; Blank/Börstinghaus/Blank, § 542 BGB Rz. 85; Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 15; anders bei expliziter Wirksamkeitsvoraussetzung; vgl. OLG Naumburg v. 15.4.1999 – 7 U 94/98, ZMR 1999, 708 Rz. 11 = BeckRS 9998, 37086. 26 Blank/Börstinghaus/Blank, § 542 BGB Rz. 93 f. 27 Palandt/Weidenkaff, § 542 BGB Rz. 9: bei Ungewissheit über den Eintritt des Ereignisses Vertrag auf unbestimmte Zeit mit auflösender Bedingung i.S.v. § 158 BGB. 28 Dazu näher Blank/Börstinghaus/Blank, § 542 BGB Rz. 152 ff. 29 BGH v. 14.10.2015 – XII ZR 84/14, NJW-RR 2016, 14; vgl. OLG Düsseldorf v. 10.7.1996 – 9 U 10/96, NJW-RR 1998, 11: beendende Erklärung ist keine Kündigung.

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Rz. 17 § 542 BGB

3. Kein Ausschluss der Kündigung insb. nach § 242 Eine Kündigung könnte analog zur Rspr. zu Softwarepflegeverträgen dann ausgeschlossen sein, wenn 14 sie rechtsmissbräuchlich ist, etwa wenn sie als Druckmittel zur Durchsetzung einer höheren Miete eingesetzt wird.30 Auf der anderen Seite muss es dem Vermieter auch möglich sein, die Miete zu erhöhen. Anders als bei gekaufter Software dürfte einer Kündigung innerhalb kurzer vertraglicher Fristen bei vermieteter Software nicht das generelle Amortisationsrisiko entgegenstehen.31 Nicht zu verkennen ist aber, dass die Rechtsprechung teils auch auf Investitionen für die Anpassung abgestellt hat,32 wie sie auch bei gemieteter Software vorkommen kann (§ 535 Rz. 28). Ganz ausnahmsweise ist es auch denkbar, dass je nach Umständen des Einzelfalls auch der kartellrechtliche Kontrahierungszwang einer Kündigung entgegensteht.33 4. Rechtsfolgen Mit dem Mietende enden die primären Leistungspflichten des Vermieters sowie die Verpflichtung des Mieters zur Zahlung der Miete. D.h. aber nicht, dass es nicht gerade auch auf Seiten des Vermieters nachlaufende Nebenpflichten gibt (dazu § 535 Rz. 47 sowie § 241 Rz. 32 ff.). Insbesondere sind etwa ASP- und Cloud-Provider nach dem Ende der Mietzeit verpflichtet, nach § 242 bzw. dem Datenschutzrecht (personenbezogene) Daten herauszugeben bzw. zu löschen (dazu Art. 28 DSGVO Rz. 107 ff.; § 535 Rz. 47; § 539 Rz. 9).

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III. Abdingbarkeit 1. Zwingendes Recht Laufzeit und Kündigungsrechte können individuell gestaltet werden. Ihre Grenze erfahren sie, genauer der Ausschluss der Kündigungsrechte, allenfalls im Rahmen von § 544 bzw. § 138 (s. zu § 242 auch Rz. 14).34

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2. AGB-Recht Strittig ist, welche Mindestmietdauer der Vermieter in AGB vorgeben darf. Vertreten wird, dass im Fall 17 der Softwaremieter der Vermieter eine maximale Dauer von höchstens 5 Jahren35 oder 4-5 Jahren36 vorgeben darf. Eingeschränkt wird das bei einer als besonders flexibel beworbenen Softwaremiete, bei der schon eine Mietdauer bzw. Kündigungsfrist von mehr als 12 Monaten überraschend i.S.v. § 305c Abs. 1 sein soll.37 Richtig dürfte jedenfalls sein, dass die teils mehr als großzügige Rechtsprechung zur Zulässigkeit von 12- bzw. 10-jährigen Bindungen bei Mietverträgen über Breitbandkabelanschlüsse bzw. Fernsprechnebenstellen- und Telefonanlagen38 schon deshalb nicht anzuwenden ist, weil die In30 OLG Koblenz v. 27.5.1993 – 5 U 1938/92 CR 1993, 626, 628. 31 Anders die Rspr. bei Softwarekauf: OLG Koblenz v. 27.5.1993 – 5 U 1938/92 CR 1993, 626, 627 f.; LG Köln v. 16.10.1997 – 83 O 26/97, CR 1999, 218; LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 416 = ITRB 2004, 173; zurückhalender OLG Koblenz v. 12.1.2005 – 1 U 1009/04, CR 2005, 482, 483 = ITRB 2005, 152; vgl. weiter OLG Köln v. 17.7.1998 – 19 U 9/98, CR 1998, 720 f. 32 LG Bonn v. 19.12.2003 – 10 O 387/01, CR 2004, 414, 416 = ITRB 2004, 173. 33 Vgl. zum Vertriebskartellrecht BGH v. 26.1.2016 – KZR 41/14, WRP 2016, 1267, 1269 f. 34 Vgl. BGH v. 8.5.2018 – VIII ZR 200/17, MDR 2018, 855, 856; vgl. auch BGH v. 7.5.1975 – VIII ZR 210/73, NJW 1975, 1268, 1269; Palandt/Grüneberg, § 314 BGB Rz. 13. 35 v. Merveldt, CR 2006, 721, 723 ff., 727. 36 Redeker, IT-Recht, Rz. 601; vgl. auch Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 220. 37 Redeker, IT-Recht, Rz. 601; wohl zustimmend Auer-Reinsdorff/Conrad/Roth-Neuschild, Handbuch IT- und Datenschutzrecht, § 13 Rz. 220. 38 BGH v. 10.2.1993 – XII ZR 74/91, MDR 1993, 418 f.; BGH v. 13.2.1985 – VIII ZR 154/84, MDR 1986, 49 Rz. 7, 18; OLG Düsseldorf v. 13.3.1997 – 10 U 55/96, BB 1997, 1439 Rz. 5; OLG Karlsruhe v. 27.9.1993 – 17 U 57/93, NJW-RR 1994, 953; OLG Stuttgart v. 18.3.1993 – 19 U 248/92, NJW-RR 1994, 952; abl. LG Saarbrücken v. 28.2.2002 – 11 S 319/00, NJW-RR 2002, 1715 f.

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BGB § 542 Rz. 17 Ende des Mietverhältnisses novationszyklen im IT-Bereich wesentlich schneller sind und dem Mieter nicht das Veralterungsrisiko aufgebürdet werden darf.39 Dieses gilt erst recht in Ansehung der Tatsache, dass die Innovationszyklen auch bei sonstigen IT-Systemen sich im Vergleich zu den 80iger und frühen 90iger Jahren drastisch verkürzt haben und andernfalls der technische Fortschritt behindert würde. Unwirksam sowohl nach § 305c Abs. 1 als auch nach § 307 ist weiter eine Vertragsgestaltung, nach der der Austausch bzw. die Erneuerung von Komponenten bei einer ohnehin langen Mindestmietzeit dazu führt, dass diese Mindestlaufzeit jeweils neu beginnt und der Mietvertrag damit praktisch unkündbar wird.40 18

Der Ausschluss der ordentlichen Kündigung oder die Verkürzung der Kündigungsfrist zu Lasten des Mieters in Abweichung zu § 580a sind in AGB unwirksam.41

IV. Einzelfälle und -fragen 19

Im Fall der Kündigung können sowohl der Vermieter als auch der Mieter Anspruch auf Ersatz von sog. Kündigungsfolgeschäden haben.42 Umfasst sein können etwa Rechtsanwaltskosten, Mietausfallschäden, Renovierungskosten, sonstige Aufwände oder Mehrkosten für die Neuanmietung.

V. Verweise/Kontext 20

Auf § 580a i.V.m. § 578 Abs. 2 wird hingewiesen.

§ 543 Außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund (1) Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. (2) Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn 1. dem Mieter der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache ganz oder zum Teil nicht rechtzeitig gewährt oder wieder entzogen wird, 2. der Mieter die Rechte des Vermieters dadurch in erheblichem Maße verletzt, dass er die Mietsache durch Vernachlässigung der ihm obliegenden Sorgfalt erheblich gefährdet oder sie unbefugt einem Dritten überlässt oder 3. der Mieter a) für zwei aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung der Miete oder eines nicht unerheblichen Teils der Miete in Verzug ist oder b) in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung der Miete in Höhe eines Betrages in Verzug ist, der die Miete für zwei Monate erreicht. Im Falle des Satzes 1 Nr. 3 ist die Kündigung ausgeschlossen, wenn der Vermieter vorher befriedigt wird. Sie wird unwirksam, wenn sich der Mieter von seiner Schuld durch Aufrechnung befreien konnte und unverzüglich nach der Kündigung die Aufrechnung erklärt. 39 v. Merveldt, CR 2006, 721, 725 f. 40 OLG Köln v. 21.1.1994 – 19 U 223/93, OLGR 1994, 45. 41 BGH v. 30.5.2001 – XII ZR 273/98, NJW 2001, 3480; Palandt/Weidenkaff, § 580a BGB Rz. 3; Hilber/Intveen/ Hilber/Rabus, Handbuch Cloud Computing, Teil 2 Rz. 360. 42 Dazu im Detail Blank/Börstinghaus/Blank, § 542 BGB Rz. 112 ff.

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Außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund

§ 543 BGB

(3) Besteht der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Mietvertrag, so ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten angemessenen Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. Dies gilt nicht, wenn 1. eine Frist oder Abmahnung offensichtlich keinen Erfolg verspricht, 2. die sofortige Kündigung aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen gerechtfertigt ist oder 3. der Mieter mit der Entrichtung der Miete im Sinne des Absatzes 2 Nr. 3 in Verzug ist. (4) Auf das dem Mieter nach Absatz 2 Nr. 1 zustehende Kündigungsrecht sind die §§ 536b und 536d entsprechend anzuwenden. Ist streitig, ob der Vermieter den Gebrauch der Mietsache rechtzeitig gewährt oder die Abhilfe vor Ablauf der hierzu bestimmten Frist bewirkt hat, so trifft ihn die Beweislast. I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung und Historie der Norm . . . . . . 2. Bedeutung und Anwendungsbereich . . . . .

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II. Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wichtiger Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses im Sinne von § 543 Abs. 1 . . aa) Zu berücksichtigende Umstände des Einzelfalls, insbesondere Verschulden . bb) Abwägung der beiderseitigen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Festhalten bis Ablauf der Kündigungsfrist oder sonstiger Vertragsbeendigung unzumutbar . . . . . . . . . . . . b) Wichtige Gründe im Sinne von § 543 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nichtgewährung oder Entzug des vertragsgemäßen Gebrauchs der Mietsache (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1) . . . . (1) Nichtgewährung oder Entzug des vertragsgemäßen Gebrauchs . . . . . . . . (2) Kein Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 536b und 536d (§ 543 Abs. 4 Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Beweislast nach § 543 Abs. 4 Satz 2 . . bb) Erhebliche Verletzung durch Gefährdung der Mietsache durch Vernachlässigung der dem Mieter obliegenden Sorgfalt oder unbefugte Drittüberlassung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2) . . . . (1) Erhebliche Gefährdung durch Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1) . . . . (2) Unbefugte Gebrauchsüberlassung an Dritte (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erheblicher Zahlungsverzug des Mieters (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3) . . . . .

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