EU-Erbrechtsverordnung: Kommentar 9783504384517

Der Kurzkommentar vermittelt einen fundierten Einstieg in die ab dem 17.8.2015 geltende EU-Erbrechtsverordnung (EU-ErbVO

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EU-Erbrechtsverordnung: Kommentar
 9783504384517

Table of contents :
Vorwort
Autoren
Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses
Einleitung
Kapitel I: Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen
Kapitel II: Zuständigkeit
Kapitel III: Anwendbares Recht
Kapitel IV: Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen
Kapitel V: Öffentliche Urkunden und gerichtliche Vergleiche
Kapitel VI: Europäisches Nachlasszeugnis
Kapitel VII: Allgemeine und Schlussbestimmungen
Anhang: Durchführungsverordnung (EU) Nr.1329/2014 der Kommission
Glossar
Index

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EU-Erbrechtsverordnung Kommentar

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EU-Erbrechtsverordnung Kommentar

Ulf Bergquist • Domenico Damascelli Richard Frimston • Paul Lagarde • Felix Odersky Barbara Reinhartz

Kommentatoren: Einleitung Artikel 1-3 Artikel 4-19 Artikel 20-38 Artikel 39-58 Artikel 59-61 Artikel 62-84 Glossar

Paul Lagarde Richard Frimston Felix Odersky Paul Lagarde Ulf Bergquist Domenico Damascelli Barbara Reinhartz Richard Frimston

Zitiervorschlag: Lagarde, in: Bergquist u.a., EU-ErbVO (2015), Einl. Rn. 1 Bergquist, in: Bergquist u.a., EU-ErbVO (2015), Einl. zu Kap. IV Rn. 1 Reinhartz, in: Bergquist u.a., EU-ErbVO (2015), Art. 74 Rn. 1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­nal­biblio­grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02  21 / 9  37  38-01, Fax 02  21 / 9  37  38-943 [email protected], www.otto-schmidt.de ISBN (print)  978-3-504-08000-6 ISBN (eBook)  978-3-504-38451-7

© 2015 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­wer­tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu­stimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver­viel­fäl­ti­gun­gen, Über­setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Satz: fidus Publikations-Ser­­­vice GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Re­gens­burg Printed in Germany

Vorwort

Wir, die Autoren dieses Kommentars, hoffen, dass dies ein nützliches Handbuch für diejenigen sein wird, die im Bereich des internationalen Erbrechts in den Staaten der Europäischen Union arbeiten. Deswegen wurde dieser Kommentar in den Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch veröffentlicht. (Fast) alle von uns waren Mitglieder der Expertengruppe der EU-Kommission, die die EU-Verordnung in Erbsachen verfasst haben. Wir stammen aus sechs verschiedenen EU-Ländern. Manche von uns sind Professoren, und andere Notare oder Anwälte. Dadurch hoffen wir, die Verordnung aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Erfahrungswerten zu sehen. Die Aufteilung der einzelnen Kommentierungsabschnitte finden Sie auf Seite iv. Wir bedanken uns bei den Verlegern, beim Verlag Dr. Otto Schmidt für die Arbeit mit der englischen und deutschen Version und bei Dalloz für die Arbeit mit der Französischen Version. Wir bedanken uns auch bei Anne Villeneuve (Französisch), Bernard Vowles (Englisch) und Christopher Altvater und Daniela Demirtas (Deutsch) für Übersetzungsarbeiten und bei Ann-Christine Wiklund und Kerstin Ulveland für Sekretariatsarbeit. Dezember 2014

Ulf Bergquist, Stockholm Domenico Damascelli, Bologna Richard Frimston, London Paul Lagarde, Paris Felix Odersky, München Barbara Reinhartz, Amsterdam

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Autoren Ulf Bergquist Seniorpartner bei Bergquist & Partners Rechtsanwälte, Stockholm Domenico Damascelli Professor für Internationales Recht an der Universität Salento; Notar in Bologna Richard Frimston Rechtsanwalt und Notar, Partner bei Russell-Cooke LLP, London Paul Lagarde Em. Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Paris Panthéon-Sorbonne (Paris 1), Mitglied des Institut de Droit international Felix Odersky Notar, Notare Dr. Mayr und Dr. Odersky, Dachau Barbara Elisabeth Reinhartz Professorin für Notarrecht, Universiteit van Amsterdam

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Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Autoren

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Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung 1 eines Europäischen Nachlasszeugnisses Einleitung

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Kapitel I: Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen

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Kapitel II: Zuständigkeit

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Kapitel III: Anwendbares Recht

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Kapitel IV: Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung 198 von Entscheidungen Kapitel V: Öffentliche Urkunden und gerichtliche Vergleiche

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Kapitel VI: Europäisches Nachlasszeugnis

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Kapitel VII: Allgemeine und Schlussbestimmungen

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Inhaltsverzeichnis

Anhang: Durchführungsverordnung (EU) Nr.1329/2014 der Kommission

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Index

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Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION – gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 81 Absatz 2, auf Vorschlag der Europäischen Kommission, nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses,1 gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren,2 in Erwägung nachstehender Gründe: (1) Die Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln. Zum schrittweisen Aufbau eines solchen Raums hat die Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen, Maßnahmen zu erlassen, insbesondere wenn dies für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist. (2) Nach Artikel 81 Absatz 2 Buchstabe c des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union können zu solchen Maßnahmen unter anderem Maßnahmen gehören, die die Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen und der Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten sicherstellen sollen. (3) Auf seiner Tagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere hat der Europäische Rat den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urtei1 2

ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 148. Standpunkt des Europäischen Parlaments vom 13. März 2012 (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht) und Beschluss des Rates vom 7. Juni 2012.

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len und anderen Entscheidungen von Justizbehörden als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen unterstützt und den Rat und die Kommission ersucht, ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung dieses Grundsatzes anzunehmen. Am 30. November 2000 wurde ein gemeinsames Maßnahmenprogramm der Kommission und des Rates zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen3 verabschiedet. In diesem Programm sind Maßnahmen zur Harmonisierung der Kollisionsnormen aufgeführt, die die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen vereinfachen sollen; ferner ist darin die Ausarbeitung eines Rechtsinstruments zum Testaments- und Erbrecht vorgesehen. Am 4. und 5. November 2004 hat der Europäische Rat auf seiner Tagung in Brüssel ein neues Programm mit dem Titel „Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union“4 angenommen. Danach soll ein Rechtsinstrument zu Erbsachen erlassen werden, das insbesondere Fragen des Kollisionsrechts, der Zuständigkeit, der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Erbsachen sowie die Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses betrifft. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung vom 10. und 11. Dezember 2009 in Brüssel ein neues mehrjähriges Programm mit dem Titel „Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“5 angenommen. Darin hat der Europäische Rat festgehalten, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf Bereiche ausgeweitet werden sollte, die bisher noch nicht abgedeckt sind, aber den Alltag der Bürger wesentlich prägen, z.B. Erb- und Testamentsrecht, wobei gleichzeitig die Rechtssysteme einschließlich der öffentlichen Ordnung (ordre public) und die nationalen Traditionen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu berücksichtigen sind. Die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, sollten ausgeräumt werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. In einem europäischen Rechtsraum muss es den Bürgern ABl. C 12 vom 15.1.2001, S. 1. ABl. C 53 vom 3.3.2005, S. 1. ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1.

Erwägungsgründe

möglich sein, ihren Nachlass im Voraus zu regeln. Die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger müssen effektiv gewahrt werden. (8) Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es einer Verordnung, in der die Bestimmungen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung – oder gegebenenfalls die Annahme –, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen, öffentlichen Urkunden und gerichtlichen Vergleichen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses zusammengefasst sind. (9) Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen erstrecken, und zwar auf jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge. (10) Diese Verordnung sollte weder für Steuersachen noch für verwaltungsrechtliche Angelegenheiten öffentlich-rechtlicher Art gelten. Daher sollte das innerstaatliche Recht bestimmen, wie beispielsweise Steuern oder sonstige Verbindlichkeiten öffentlich-rechtlicher Art berechnet und entrichtet werden, seien es vom Erblasser im Zeitpunkt seines Todes geschuldete Steuern oder Erbschaftssteuern jeglicher Art, die aus dem Nachlass oder von den Berechtigten zu entrichten sind. Das innerstaatliche Recht sollte auch bestimmen, ob die Freigabe des Nachlassvermögens an die Berechtigten nach dieser Verordnung oder die Eintragung des Nachlassvermögens in ein Register nur erfolgt, wenn Steuern gezahlt werden. (11) Diese Verordnung sollte nicht für Bereiche des Zivilrechts gelten, die nicht die Rechtsnachfolge von Todes wegen betreffen. Aus Gründen der Klarheit sollte eine Reihe von Fragen, die als mit Erbsachen zusammenhängend betrachtet werden könnten, ausdrücklich vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen werden. (12) Dementsprechend sollte diese Verordnung nicht für Fragen des ehelichen Güterrechts, einschließlich der in einigen Rechtsordnungen vorkommenden Eheverträge, soweit diese keine erbrechtlichen Fragen regeln, und des Güterrechts aufgrund von Verhältnissen, die mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfalten, gelten. Die Behörden, die mit einer bestimmten Erbsache nach dieser Verordnung befasst sind, sollten allerdings je nach den Umständen des Einzelfalls die Beendigung des ehelichen oder sonstigen Güterstands des Erblassers bei der Bestimmung des Nachlasses und der jeweiligen Anteile der Berechtigten berücksichtigen. 3

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(13) Fragen im Zusammenhang mit der Errichtung, Funktionsweise oder Auflösung von Trusts sollten auch vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen werden. Dies sollte nicht als genereller Ausschluss von Trusts verstanden werden. Wird ein Trust testamentarisch oder aber kraft Gesetzes im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge errichtet, so sollte im Hinblick auf den Übergang der Vermögenswerte und die Bestimmung der Berechtigten das nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht gelten. (14) Rechte und Vermögenswerte, die auf andere Weise als durch Rechtsnachfolge von Todes wegen entstehen oder übertragen werden, wie zum Beispiel durch unentgeltliche Zuwendungen, sollten ebenfalls vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen werden. Ob unentgeltliche Zuwendungen oder sonstige Verfügungen unter Lebenden mit dinglicher Wirkung vor dem Tod für die Zwecke der Bestimmung der Anteile der Berechtigten im Einklang mit dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht ausgeglichen oder angerechnet werden sollten, sollte sich jedoch nach dem Recht entscheiden, das nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden ist. (15) Diese Verordnung sollte die Begründung oder den Übergang eines Rechts an beweglichen oder unbeweglichen Vermögensgegenständen im Wege der Rechtsnachfolge von Todes wegen nach Maßgabe des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts ermöglichen. Sie sollte jedoch nicht die abschließende Anzahl (Numerus Clausus) der dinglichen Rechte berühren, die das innerstaatliche Recht einiger Mitgliedstaaten kennt. Ein Mitgliedstaat sollte nicht verpflichtet sein, ein dingliches Recht an einer in diesem Mitgliedstaat belegenen Sache anzuerkennen, wenn sein Recht dieses dingliche Recht nicht kennt. (16) Damit die Berechtigten jedoch die Rechte, die durch Rechtsnachfolge von Todes wegen begründet worden oder auf sie übergegangen sind, in einem anderen Mitgliedstaat geltend machen können, sollte diese Verordnung die Anpassung eines unbekannten dinglichen Rechts an das in der Rechtsordnung dieses anderen Mitgliedstaats am ehesten vergleichbare dingliche Recht vorsehen. Bei dieser Anpassung sollten die mit dem besagten dinglichen Recht verfolgten Ziele und Interessen und die mit ihm verbundenen Wirkungen berücksichtigt werden. Für die Zwecke der Bestimmung des am ehesten vergleichbaren innerstaatlichen dinglichen Rechts können die Behörden oder zuständigen Personen des Staates, dessen Recht auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden war, kontaktiert werden, um weitere Auskünfte zu der Art und den Wirkungen 4

Erwägungsgründe

des betreffenden dinglichen Rechts einzuholen. In diesem Zusammenhang könnten die bestehenden Netze im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen sowie die anderen verfügbaren Mittel, die die Erkenntnis ausländischen Rechts erleichtern, genutzt werden. (17) Die in dieser Verordnung ausdrücklich vorgesehene Anpassung unbekannter dinglicher Rechte sollte andere Formen der Anpassung im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Verordnung nicht ausschließen. (18) Die Voraussetzungen für die Eintragung von Rechten an beweglichen oder unbeweglichen Vermögensgegenständen in einem Register sollten aus dem Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen werden. Somit sollte das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register (für unbewegliches Vermögen das Recht der belegenen Sache (lex rei sitae)) geführt wird, bestimmen, unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen und wie die Eintragung vorzunehmen ist und welche Behörden wie etwa Grundbuchämter oder Notare dafür zuständig sind zu prüfen, dass alle Eintragungsvoraussetzungen erfüllt sind und die vorgelegten oder erstellten Unterlagen vollständig sind bzw. die erforderlichen Angaben enthalten. Insbesondere können die Behörden prüfen, ob es sich bei dem Recht des Erblassers an dem Nachlassvermögen, das in dem für die Eintragung vorgelegten Schriftstück erwähnt ist, um ein Recht handelt, das als solches in dem Register eingetragen ist oder nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, anderweitig nachgewiesen wird. Um eine doppelte Erstellung von Schriftstücken zu vermeiden, sollten die Eintragungsbehörden diejenigen von den zuständigen Behörden in einem anderen Mitgliedstaat erstellten Schriftstücke annehmen, deren Verkehr nach dieser Verordnung vorgesehen ist. Insbesondere sollte das nach dieser Verordnung ausgestellte Europäische Nachlasszeugnis im Hinblick auf die Eintragung des Nachlassvermögens in ein Register eines Mitgliedstaats ein gültiges Schriftstück darstellen. Dies sollte die an der Eintragung beteiligten Behörden nicht daran hindern, von der Person, die die Eintragung beantragt, diejenigen zusätzlichen Angaben oder die Vorlage derjenigen zusätzlichen Schriftstücke zu verlangen, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, erforderlich sind, wie beispielsweise Angaben oder Schriftstücke betreffend die Zahlung von Steuern. Die zuständige Behörde kann die Person, die die Eintragung beantragt, darauf hinweisen, wie die fehlenden Angaben oder Schriftstücke beigebracht werden können. (19) Die Wirkungen der Eintragung eines Rechts in einem Register sollten 5

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ebenfalls vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen werden. Daher sollte das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, dafür maßgebend sein, ob beispielsweise die Eintragung deklaratorische oder konstitutive Wirkung hat. Wenn also zum Beispiel der Erwerb eines Rechts an einer unbeweglichen Sache nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, die Eintragung in einem Register erfordert, damit die Wirkung erga omnes von Registern sichergestellt wird oder Rechtsgeschäfte geschützt werden, sollte der Zeitpunkt des Erwerbs dem Recht dieses Mitgliedstaats unterliegen. (20) Diese Verordnung sollte den verschiedenen Systemen zur Regelung von Erbsachen Rechnung tragen, die in den Mitgliedstaaten angewandt werden. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte der Begriff „Gericht“ daher breit gefasst werden, so dass nicht nur Gerichte im eigentlichen Sinne, die gerichtliche Funktionen ausüben, erfasst werden, sondern auch Notare oder Registerbehörden in einigen Mitgliedstaaten, die in bestimmten Erbsachen gerichtliche Funktionen wie Gerichte ausüben, sowie Notare und Angehörige von Rechtsberufen, die in einigen Mitgliedstaaten in einer bestimmten Erbsache aufgrund einer Befugnisübertragung durch ein Gericht gerichtliche Funktionen ausüben. Alle Gerichte im Sinne dieser Verordnung sollten durch die in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln gebunden sein. Der Begriff „Gericht“ sollte hingegen nicht die nichtgerichtlichen Behörden eines Mitgliedstaats erfassen, die nach innerstaatlichem Recht befugt sind, sich mit Erbsachen zu befassen, wie in den meisten Mitgliedstaaten die Notare, wenn sie, wie dies üblicherweise der Fall ist, keine gerichtlichen Funktionen ausüben. (21) Diese Verordnung sollte es allen Notaren, die für Erbsachen in den Mitgliedstaaten zuständig sind, ermöglichen, diese Zuständigkeit auszuüben. Ob die Notare in einem Mitgliedstaat durch die Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung gebunden sind, sollte davon abhängen, ob sie von der Bestimmung des Begriffs „Gericht“ im Sinne dieser Verordnung erfasst werden. (22) Die in den Mitgliedstaaten von Notaren in Erbsachen errichteten Urkunden sollten nach dieser Verordnung verkehren. Üben Notare gerichtliche Funktionen aus, so sind sie durch die Zuständigkeitsregeln gebunden, und die von ihnen erlassenen Entscheidungen sollten nach den Bestimmungen über die Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen verkehren. Üben Notare keine gerichtliche Zuständigkeit aus, so sind sie nicht durch die Zuständigkeitsregeln gebunden, und die

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öffentlichen Urkunden, die von ihnen errichtet werden, sollten nach den Bestimmungen über öffentliche Urkunden verkehren. (23) In Anbetracht der zunehmenden Mobilität der Bürger sollte die Verordnung zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege in der Union und einer wirklichen Verbindung zwischen dem Nachlass und dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt wird, als allgemeinen Anknüpfungspunkt zum Zwecke der Bestimmung der Zuständigkeit und des anzuwendenden Rechts den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes vorsehen. Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sollte die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen. (24) In einigen Fällen kann es sich als komplex erweisen, den Ort zu bestimmen, an dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sich der Erblasser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen – unter Umständen auch für längere Zeit – in einen anderen Staat begeben hat, um dort zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsstaat aufrechterhalten hat. In diesem Fall könnte – entsprechend den jeweiligen Umständen – davon ausgegangen werden, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in seinem Herkunftsstaat hat, in dem sich in familiärer und sozialer Hinsicht sein Lebensmittelpunkt befand. Weitere komplexe Fälle können sich ergeben, wenn der Erblasser abwechselnd in mehreren Staaten gelebt hat oder auch von Staat zu Staat gereist ist, ohne sich in einem Staat für längere Zeit niederzulassen. War der Erblasser ein Staatsangehöriger eines dieser Staaten oder hatte er alle seine wesentlichen Vermögensgegenstände in einem dieser Staaten, so könnte seine Staatsangehörigkeit oder der Ort, an dem diese Vermögensgegenstände sich befinden, ein besonderer Faktor bei der Gesamtbeurteilung aller tatsächlichen Umstände sein. (25) In Bezug auf die Bestimmung des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts kann die mit der Erbsache befasste Behörde in Ausnahmefällen – in denen der Erblasser beispielsweise erst kurz vor 7

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seinem Tod in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts umgezogen ist und sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass er eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Staat hatte – zu dem Schluss gelangen, dass die Rechtsnachfolge von Todes wegen nicht dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers unterliegt, sondern dem Recht des Staates, zu dem der Erblasser offensichtlich eine engere Verbindung hatte. Die offensichtlich engste Verbindung sollte jedoch nicht als subsidiärer Anknüpfungspunkt gebraucht werden, wenn sich die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes als schwierig erweist. (26) Diese Verordnung sollte ein Gericht nicht daran hindern, Mechanismen gegen die Gesetzesumgehung wie beispielsweise gegen die fraude à la loi im Bereich des Internationalen Privatrechts anzuwenden. (27) Die Vorschriften dieser Verordnung sind so angelegt, dass sichergestellt wird, dass die mit der Erbsache befasste Behörde in den meisten Situationen ihr eigenes Recht anwendet. Diese Verordnung sieht daher eine Reihe von Mechanismen vor, die dann greifen, wenn der Erblasser für die Regelung seines Nachlasses das Recht eines Mitgliedstaats gewählt hat, dessen Staatsangehöriger er war. (28) Einer dieser Mechanismen sollte darin bestehen, dass die betroffenen Parteien eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats, dessen Recht gewählt wurde, schließen können. Abhängig insbesondere vom Gegenstand der Gerichtsstandsvereinbarung müsste von Fall zu Fall bestimmt werden, ob die Vereinbarung zwischen sämtlichen von dem Nachlass betroffenen Parteien geschlossen werden müsste oder ob einige von ihnen sich darauf einigen könnten, eine spezifische Frage bei dem gewählten Gericht anhängig zu machen, sofern die diesbezügliche Entscheidung dieses Gerichts die Rechte der anderen Parteien am Nachlass nicht berühren würde. (29) Wird ein Verfahren in einer Erbsache von einem Gericht von Amts wegen eingeleitet, was in einigen Mitgliedstaaten der Fall ist, sollte dieses Gericht das Verfahren beenden, wenn die Parteien vereinbaren, die Erbsache außergerichtlich in dem Mitgliedstaat des gewählten Rechts einvernehmlich zu regeln. Wird ein Verfahren in einer Erbsache nicht von einem Gericht von Amts wegen eröffnet, so sollte diese Verordnung die Parteien nicht daran hindern, die Erbsache außergerichtlich, beispielsweise vor einem Notar, in einem Mitgliedstaat ihrer Wahl einvernehmlich zu regeln, wenn dies nach dem Recht dieses Mitgliedstaats möglich ist. Dies sollte auch

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dann der Fall sein, wenn das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht nicht das Recht dieses Mitgliedstaats ist. (30) Um zu gewährleisten, dass die Gerichte aller Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit in Bezug auf den Nachlass von Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt ihres Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatten, auf derselben Grundlage ausüben können, sollte diese Verordnung die Gründe, aus denen diese subsidiäre Zuständigkeit ausgeübt werden kann, abschließend und in einer zwingenden Rangfolge aufführen. (31) Um insbesondere Fällen von Rechtsverweigerung begegnen zu können, sollte in dieser Verordnung auch eine Notzuständigkeit (forum necessitatis) vorgesehen werden, wonach ein Gericht eines Mitgliedstaats in Ausnahmefällen über eine Erbsache entscheiden kann, die einen engen Bezug zu einem Drittstaat aufweist. Ein solcher Ausnahmefall könnte gegeben sein, wenn ein Verfahren sich in dem betreffenden Drittstaat als unmöglich erweist, beispielsweise aufgrund eines Bürgerkriegs, oder wenn von einem Berechtigten vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass er ein Verfahren in diesem Staat einleitet oder führt. Die Notzuständigkeit sollte jedoch nur ausgeübt werden, wenn die Erbsache einen ausreichenden Bezug zu dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts aufweist. (32) Im Interesse der Erben und Vermächtnisnehmer, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen als dem Mitgliedstaat haben, in dem der Nachlass abgewickelt wird oder werden soll, sollte diese Verordnung es jeder Person, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht dazu berechtigt ist, ermöglichen, Erklärungen über die Annahme oder Ausschlagung einer Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder zur Begrenzung ihrer Haftung für Nachlassverbindlichkeiten vor den Gerichten des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Form abzugeben, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist. Dies sollte nicht ausschließen, dass derartige Erklärungen vor anderen Behörden dieses Mitgliedstaats, die nach nationalem Recht für die Entgegennahme von Erklärungen zuständig sind, abgegeben werden. Die Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen möchten, Erklärungen im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, sollten das Gericht oder die Behörde, die mit der Erbsache befasst ist oder sein wird, innerhalb einer Frist, die in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vorgesehen ist, selbst davon in Kenntnis setzen, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden. (33) Eine Person, die ihre Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten begrenzen möchte, sollte dies nicht durch eine entsprechende einfache Erklärung vor 9

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den Gerichten oder anderen zuständigen Behörden des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts tun können, wenn das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht von ihr verlangt, vor dem zuständigen Gericht ein besonderes Verfahren, beispielsweise ein Verfahren zur Inventarerrichtung, zu veranlassen. Eine Erklärung, die unter derartigen Umständen von einer Person im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgeschriebenen Form abgegeben wurde, sollte daher für die Zwecke dieser Verordnung nicht formell gültig sein. Auch sollten die verfahrenseinleitenden Schriftstücke für die Zwecke dieser Verordnung nicht als Erklärung angesehen werden. (34) Im Interesse einer geordneten Rechtspflege sollten in verschiedenen Mitgliedstaaten keine Entscheidungen ergehen, die miteinander unvereinbar sind. Hierzu sollte die Verordnung allgemeine Verfahrensvorschriften nach dem Vorbild anderer Rechtsinstrumente der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen vorsehen. (35) Eine dieser Verfahrensvorschriften ist die Regel zur Rechtshängigkeit, die zum Tragen kommt, wenn dieselbe Erbsache bei verschiedenen Gerichten in verschiedenen Mitgliedstaaten anhängig gemacht wird. Diese Regel bestimmt, welches Gericht sich weiterhin mit der Erbsache zu befassen hat. (36) Da Erbsachen in einigen Mitgliedstaaten von nichtgerichtlichen Behörden wie z.B. Notaren geregelt werden können, die nicht an die Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung gebunden sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass in derselben Erbsache eine außergerichtliche einvernehmliche Regelung und ein Gerichtsverfahren beziehungsweise zwei außergerichtliche einvernehmliche Regelungen in Bezug auf dieselbe Erbsache jeweils in verschiedenen Mitgliedstaaten parallel eingeleitet werden. In solchen Fällen sollte es den beteiligten Parteien obliegen, sich, sobald sie Kenntnis von den parallelen Verfahren erhalten, untereinander über das weitere Vorgehen zu einigen. Können sie sich nicht einigen, so müsste das nach dieser Verordnung zuständige Gericht sich mit der Erbsache befassen und darüber befinden. (37) Damit die Bürger die Vorteile des Binnenmarkts ohne Einbußen bei der Rechtssicherheit nutzen können, sollte die Verordnung ihnen im Voraus Klarheit über das in ihrem Fall anwendbare Erbstatut verschaffen. Es sollten harmonisierte Kollisionsnormen eingeführt werden, um einander widersprechende Ergebnisse zu vermeiden. Die allgemeine Kollisionsnorm sollte sicherstellen, dass der Erbfall einem im Voraus bestimmbaren Erbrecht unterliegt, zu dem eine enge Verbindung besteht. Aus Gründen der 10

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Rechtssicherheit und um eine Nachlassspaltung zu vermeiden, sollte der gesamte Nachlass, d. h. das gesamte zum Nachlass gehörende Vermögen diesem Recht unterliegen, unabhängig von der Art der Vermögenswerte und unabhängig davon, ob diese in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat belegen sind. (38) Diese Verordnung sollte es den Bürgern ermöglichen, durch die Wahl des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Rechts ihren Nachlass vorab zu regeln. Diese Rechtswahl sollte auf das Recht eines Staates, dem sie angehören, beschränkt sein, damit sichergestellt wird, dass eine Verbindung zwischen dem Erblasser und dem gewählten Recht besteht, und damit vermieden wird, dass ein Recht mit der Absicht gewählt wird, die berechtigten Erwartungen der Pflichtteilsberechtigten zu vereiteln. (39) Eine Rechtswahl sollte ausdrücklich in einer Erklärung in Form einer Verfügung von Todes wegen erfolgen oder sich aus den Bestimmungen einer solchen Verfügung ergeben. Eine Rechtswahl könnte als sich durch eine Verfügung von Todes wegen ergebend angesehen werden, wenn z.B. der Erblasser in seiner Verfügung Bezug auf spezifische Bestimmungen des Rechts des Staates, dem er angehört, genommen hat oder das Recht dieses Staates in anderer Weise erwähnt hat. (40) Eine Rechtswahl nach dieser Verordnung sollte auch dann wirksam sein, wenn das gewählte Recht keine Rechtswahl in Erbsachen vorsieht. Die materielle Wirksamkeit der Rechtshandlung, mit der die Rechtswahl getroffen wird, sollte sich jedoch nach dem gewählten Recht bestimmen, d. h. ob davon auszugehen ist, dass die Person, die die Rechtswahl trifft, verstanden hat, was dies bedeutet, und dem zustimmt. Das Gleiche sollte für die Rechtshandlung gelten, mit der die Rechtswahl geändert oder widerrufen wird. (41) Für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung sollte die Bestimmung der Staatsangehörigkeit oder der Mehrfachstaatsangehörigkeit einer Person vorab geklärt werden. Die Frage, ob jemand als Angehöriger eines Staates gilt, fällt nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung und unterliegt dem innerstaatlichen Recht, gegebenenfalls auch internationalen Übereinkommen, wobei die allgemeinen Grundsätze der Europäischen Union uneingeschränkt zu achten sind. (42) Das zur Anwendung berufene Erbrecht sollte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen vom Eintritt des Erbfalls bis zum Übergang des Eigentums an den zum Nachlass gehörenden Vermögenswerten auf die nach diesem Recht bestimmten Berechtigten gelten. Es sollte Fragen im Zusammen11

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hang mit der Nachlassverwaltung und der Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten umfassen. Bei der Begleichung der Nachlassverbindlichkeiten kann abhängig insbesondere von dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht eine spezifische Rangfolge der Gläubiger berücksichtigt werden. (43) Die Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung können in einigen Fällen zu einer Situation führen, in der das für Entscheidungen in Erbsachen zuständige Gericht nicht sein eigenes Recht anwendet. Tritt diese Situation in einem Mitgliedstaat ein, nach dessen Recht die Bestellung eines Nachlassverwalters verpflichtend ist, sollte diese Verordnung es den Gerichten dieses Mitgliedstaats, wenn sie angerufen werden, ermöglichen, nach einzelstaatlichem Recht einen oder mehrere solcher Nachlassverwalter zu bestellen. Davon sollte eine Entscheidung der Parteien, die Rechtsnachfolge von Todes wegen außergerichtlich in einem anderen Mitgliedstaat gütlich zu regeln, in dem dies nach dem Recht dieses Mitgliedstaates möglich ist, unberührt bleiben. Zur Gewährleistung einer reibungslosen Abstimmung zwischen dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht und dem Recht des Mitgliedstaats, das für das bestellende Gericht gilt, sollte das Gericht die Person(en) bestellen, die berechtigt wäre(n), den Nachlass nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht zu verwalten, wie beispielsweise den Testamentsvollstrecker des Erblassers oder die Erben selbst oder, wenn das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht es so vorsieht, einen Fremdverwalter. Die Gerichte können jedoch in besonderen Fällen, wenn ihr Recht es erfordert, einen Dritten als Verwalter bestellen, auch wenn dies nicht in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vorgesehen ist. Hat der Erblasser einen Testamentsvollstrecker bestellt, können dieser Person ihre Befugnisse nicht entzogen werden, es sei denn, das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht ermöglicht das Erlöschen seines Amtes. (44) Die Befugnisse, die von den in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts bestellten Verwaltern ausgeübt werden, sollten diejenigen Verwaltungsbefugnisse sein, die sie nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht ausüben dürfen. Wenn also beispielsweise der Erbe als Verwalter bestellt wird, sollte er diejenigen Befugnisse zur Verwaltung des Nachlasses haben, die ein Erbe nach diesem Recht hätte. Reichen die Verwaltungsbefugnisse, die nach dem auf die Rechtsfolge von Todes wegen anwendbaren Recht ausgeübt werden dürfen, nicht aus, um das Nachlassvermögen zu erhalten oder die Rechte der Nachlassgläubiger 12

Erwägungsgründe

oder anderer Personen zu schützen, die für die Verbindlichkeiten des Erblassers gebürgt haben, kann bzw. können der bzw. die in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts bestellte bzw. bestellten Nachlassverwalter ergänzend diejenigen Verwaltungsbefugnisse ausüben, die hierfür in dem Recht dieses Mitgliedstaates vorgesehen sind. Zu diesen ergänzenden Befugnissen könnte beispielsweise gehören, die Liste des Nachlassvermögens und der Nachlassverbindlichkeiten zu erstellen, die Nachlassgläubiger vom Eintritt des Erbfalls zu unterrichten und sie aufzufordern, ihre Ansprüche geltend zu machen, sowie einstweilige Maßnahmen, auch Sicherungsmaßnahmen, zum Erhalt des Nachlassvermögens zu ergreifen. Die von einem Verwalter aufgrund der ergänzenden Befugnisse durchgeführten Handlungen sollten im Einklang mit dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht in Bezug auf den Übergang des Eigentums an dem Nachlassvermögen, einschließlich aller Rechtsgeschäfte, die die Berechtigten vor der Bestellung des Verwalters eingingen, die Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten und die Rechte der Berechtigten, gegebenenfalls einschließlich des Rechts, die Erbschaft anzunehmen oder auszuschlagen, stehen. Solche Handlungen könnten beispielsweise nur dann die Veräußerung von Vermögenswerten oder die Begleichung von Verbindlichkeiten nach sich ziehen, wenn dies nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht zulässig wäre. Wenn die Bestellung eines Fremdverwalters nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht die Haftung der Erben ändert, sollte eine solche Änderung der Haftung respektiert werden. (45) Diese Verordnung sollte nicht ausschließen, dass Nachlassgläubiger, beispielsweise durch einen Vertreter, gegebenenfalls weitere nach dem innerstaatlichen Recht zur Verfügung stehende Maßnahmen im Einklang mit den einschlägigen Rechtsinstrumenten der Union treffen, um ihre Rechte zu sichern. (46) Diese Verordnung sollte die Unterrichtung potenzieller Nachlassgläubiger in anderen Mitgliedstaaten, in denen Vermögenswerte belegen sind, über den Eintritt des Erbfalls ermöglichen. Im Rahmen der Anwendung dieser Verordnung sollte daher die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, einen Mechanismus einzurichten, gegebenenfalls über das Europäische Justizportal, um es potenziellen Nachlassgläubigern in anderen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, Zugang zu den einschlägigen Informationen zu erhalten, damit sie ihre Ansprüche anmelden können. (47) Wer in einer Erbsache Berechtigter ist, sollte sich jeweils nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Erbrecht bestimmen. 13

EU-Erbrechtsverordnung

Der Begriff „Berechtigte“ würde in den meisten Rechtsordnungen Erben und Vermächtnisnehmer sowie Pflichtteilsberechtigte erfassen; allerdings ist beispielsweise die Rechtsstellung der Vermächtnisnehmer nicht in allen Rechtsordnungen die gleiche. In einigen Rechtsordnungen kann der Vermächtnisnehmer einen unmittelbaren Anteil am Nachlass erhalten, während nach anderen Rechtsordnungen der Vermächtnisnehmer lediglich einen Anspruch gegen die Erben erwerben kann. (48) Im Interesse der Rechtssicherheit für Personen, die ihren Nachlass im Voraus regeln möchten, sollte diese Verordnung eine spezifische Kollisionsvorschrift bezüglich der Zulässigkeit und der materiellen Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen festlegen. Um eine einheitliche Anwendung dieser Vorschrift zu gewährleisten, sollte diese Verordnung die Elemente auflisten, die zur materiellen Wirksamkeit zu rechnen sind. Die Prüfung der materiellen Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen kann zu dem Schluss führen, dass diese Verfügung rechtlich nicht besteht. (49) Ein Erbvertrag ist eine Art der Verfügung von Todes wegen, dessen Zulässigkeit und Anerkennung in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ist. Um die Anerkennung von auf der Grundlage eines Erbvertrags erworbenen Nachlassansprüchen in den Mitgliedstaaten zu erleichtern, sollte diese Verordnung festlegen, welches Recht die Zulässigkeit solcher Verträge, ihre materielle Wirksamkeit und ihre Bindungswirkungen, einschließlich der Voraussetzungen für ihre Auflösung, regeln soll. (50) Das Recht, dem die Zulässigkeit und die materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen und bei Erbverträgen die Bindungswirkungen nach dieser Verordnung unterliegen, sollte nicht die Rechte einer Person berühren, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht pflichtteilsberechtigt ist oder ein anderes Recht hat, das ihr von der Person, deren Nachlass betroffen ist, nicht entzogen werden kann. (51) Wird in dieser Verordnung auf das Recht Bezug genommen, das auf die Rechtsnachfolge der Person, die eine Verfügung von Todes wegen errichtet hat, anwendbar gewesen wäre, wenn sie an dem Tag verstorben wäre, an dem die Verfügung errichtet, geändert oder widerrufen worden ist, so ist diese Bezugnahme zu verstehen als Bezugnahme entweder auf das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der betroffenen Person an diesem Tag oder, wenn sie eine Rechtswahl nach dieser Verordnung getroffen hat, auf das Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie an diesem Tag besaß. (52) Diese Verordnung sollte die Formgültigkeit aller schriftlichen Verfügun14

Erwägungsgründe

gen von Todes wegen durch Vorschriften regeln, die mit denen des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht in Einklang stehen. Bei der Bestimmung der Formgültigkeit einer Verfügung von Todes wegen nach dieser Verordnung sollte die zuständige Behörde ein betrügerisch geschaffenes grenzüberschreitendes Element, mit dem die Vorschriften über die Formgültigkeit umgangen werden sollen, nicht berücksichtigen. (53) Für die Zwecke dieser Verordnung sollten Rechtsvorschriften, welche die für Verfügungen von Todes wegen zugelassenen Formen mit Beziehung auf bestimmte persönliche Eigenschaften der Person, die eine Verfügung von Todes wegen errichtet, wie beispielsweise ihr Alter, beschränken, als zur Form gehörend angesehen werden. Dies sollte nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass das nach dieser Verordnung auf die Formgültigkeit einer Verfügung von Todes wegen anzuwendende Recht bestimmten sollte, ob ein Minderjähriger fähig ist, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten. Dieses Recht sollte lediglich bestimmen, ob eine Person aufgrund einer persönlichen Eigenschaft, wie beispielsweise der Minderjährigkeit, von der Errichtung einer Verfügung von Todes wegen in einer bestimmten Form ausgeschlossen werden sollte. (54) Bestimmte unbewegliche Sachen, bestimmte Unternehmen und andere besondere Arten von Vermögenswerten unterliegen im Belegenheitsmitgliedstaat aufgrund wirtschaftlicher, familiärer oder sozialer Erwägungen besonderen Regelungen mit Beschränkungen, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf diese Vermögenswerte betreffen oder Auswirkungen auf sie haben. Diese Verordnung sollte die Anwendung dieser besonderen Regelungen sicherstellen. Diese Ausnahme von der Anwendung des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts ist jedoch eng auszulegen, damit sie der allgemeinen Zielsetzung dieser Verordnung nicht zuwiderläuft. Daher dürfen weder Kollisionsnormen, die unbewegliche Sachen einem anderen als dem auf bewegliche Sachen anzuwendenden Recht unterwerfen, noch Bestimmungen, die einen größeren Pflichtteil als den vorsehen, der in dem nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht festgelegt ist, als besondere Regelungen mit Beschränkungen angesehen werden, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf bestimmte Vermögenswerte betreffen oder Auswirkungen auf sie haben. (55) Um eine einheitliche Vorgehensweise in Fällen sicherzustellen, in denen es ungewiss ist, in welcher Reihenfolge zwei oder mehr Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen verschiedenen Rechtsordnungen un15

EU-Erbrechtsverordnung

terliegen würde, gestorben sind, sollte diese Verordnung eine Vorschrift vorsehen, nach der keine der verstorbenen Personen Anspruch auf den Nachlass der anderen hat. (56) In einigen Fällen kann es einen erbenlosen Nachlass geben. Diese Fälle werden in den verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich geregelt. So kann nach einigen Rechtsordnungen der Staat – unabhängig davon, wo die Vermögenswerte belegen sind – einen Erbanspruch geltend machen. Nach anderen Rechtsordnungen kann der Staat sich nur die Vermögenswerte aneignen, die in seinem Hoheitsgebiet belegen sind. Diese Verordnung sollte daher eine Vorschrift enthalten, nach der die Anwendung des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts nicht verhindern sollte, dass ein Mitgliedstaat sich das in seinem Hoheitsgebiet belegene Nachlassvermögen nach seinem eigenen Recht aneignet. Um sicherzustellen, dass diese Vorschrift nicht nachteilig für die Nachlassgläubiger ist, sollte jedoch eine Bestimmung hinzugefügt werden, nach der die Nachlassgläubiger berechtigt sein sollten, aus dem gesamten Nachlassvermögen, ungeachtet seiner Belegenheit, Befriedigung ihrer Forderungen zu suchen. (57) Die in dieser Verordnung festgelegten Kollisionsnormen können dazu führen, dass das Recht eines Drittstaats zur Anwendung gelangt. In derartigen Fällen sollte den Vorschriften des Internationalen Privatrechts dieses Staates Rechnung getragen werden. Falls diese Vorschriften die Rück- und Weiterverweisung entweder auf das Recht eines Mitgliedstaats oder aber auf das Recht eines Drittstaats, der sein eigenes Recht auf die Erbsache anwenden würde, vorsehen, so sollte dieser Rück- und Weiterverweisung gefolgt werden, um den internationalen Entscheidungseinklang zu gewährleisten. Die Rück- und Weiterverweisung sollte jedoch in den Fällen ausgeschlossen werden, in denen der Erblasser eine Rechtswahl zugunsten des Rechts eines Drittstaats getroffen hatte. (58) Aus Gründen des öffentlichen Interesses sollte den Gerichten und anderen mit Erbsachen befassten zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen die Möglichkeit gegeben werden, Bestimmungen eines ausländischen Rechts nicht zu berücksichtigen, wenn deren Anwendung in einem bestimmten Fall mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des betreffenden Mitgliedstaats offensichtlich unvereinbar wäre. Die Gerichte oder andere zuständige Behörden sollten allerdings die Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats nicht ausschließen oder die Anerkennung – oder gegebenenfalls die Annahme – oder die Vollstreckung einer Entscheidung, einer öffentlichen Urkunde oder eines gerichtlichen Ver16

Erwägungsgründe

gleichs aus einem anderen Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Ordnung (ordre public) nicht versagen dürfen, wenn dies gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere gegen das Diskriminierungsverbot in Artikel 21, verstoßen würde. (59) Diese Verordnung sollte in Anbetracht ihrer allgemeinen Zielsetzung, nämlich der gegenseitigen Anerkennung der in den Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen in Erbsachen, unabhängig davon, ob solche Entscheidungen in streitigen oder nichtstreitigen Verfahren ergangen sind, Vorschriften für die Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen nach dem Vorbild anderer Rechtsinstrumente der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen vorsehen. (60) Um den verschiedenen Systemen zur Regelung von Erbsachen in den Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen, sollte diese Verordnung die Annahme und Vollstreckbarkeit öffentlicher Urkunden in einer Erbsache in sämtlichen Mitgliedstaaten gewährleisten. (61) Öffentliche Urkunden sollten in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche formelle Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung entfalten. Die formelle Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung sollte durch Bezugnahme auf Art und Umfang der formellen Beweiskraft der öffentlichen Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt werden. Somit richtet sich die formelle Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats. (62) Die „Authentizität“ einer öffentlichen Urkunde sollte ein autonomer Begriff sein, der Aspekte wie die Echtheit der Urkunde, die Formerfordernisse für die Urkunde, die Befugnisse der Behörde, die die Urkunde errichtet, und das Verfahren, nach dem die Urkunde errichtet wird, erfassen sollte. Der Begriff sollte ferner die von der betreffenden Behörde in der öffentlichen Urkunde beurkundeten Vorgänge erfassen, wie z.B. die Tatsache, dass die genannten Parteien an dem genannten Tag vor dieser Behörde erschienen sind und die genannten Erklärungen abgegeben haben. Eine Partei, die Einwände mit Bezug auf die Authentizität einer öffentlichen Urkunde erheben möchte, sollte dies bei dem zuständigen Gericht im Ursprungsmitgliedstaat der öffentlichen Urkunde nach dem Recht dieses Mitgliedstaats tun. (63) Die Formulierung „die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse“ sollte als Bezugnahme auf den 17

EU-Erbrechtsverordnung

in der öffentlichen Urkunde niedergelegten materiellen Inhalt verstanden werden. Bei dem in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäft kann es sich etwa um eine Vereinbarung zwischen den Parteien über die Verteilung des Nachlasses, um ein Testament oder einen Erbvertrag oder um eine sonstige Willenserklärung handeln. Bei dem Rechtsverhältnis kann es sich etwa um die Bestimmung der Erben und sonstiger Berechtigter nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht, ihre jeweiligen Anteile und das Bestehen eines Pflichtteils oder um jedes andere Element, das nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht bestimmt wurde, handeln. Eine Partei, die Einwände mit Bezug auf die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse erheben möchte, sollte dies bei den nach dieser Verordnung zuständigen Gerichten tun, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht über die Einwände entscheiden sollten. (64) Wird eine Frage mit Bezug auf die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse als Vorfrage in einem Verfahren bei einem Gericht eines Mitgliedstaats vorgebracht, so sollte dieses Gericht für die Entscheidung über diese Vorfrage zuständig sein. (65) Eine öffentliche Urkunde, gegen die Einwände erhoben wurden, sollte in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ursprungsmitgliedstaat keine formelle Beweiskraft entfalten, solange die Einwände anhängig sind. Betreffen die Einwände nur einen spezifischen Umstand mit Bezug auf die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse, so sollte die öffentliche Urkunde in Bezug auf den angefochtenen Umstand keine Beweiskraft in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ursprungsmitgliedstaat entfalten, solange die Einwände anhängig sind. Eine öffentliche Urkunde, die aufgrund eines Einwands für ungültig erklärt wird, sollte keine Beweiskraft mehr entfalten. (66) Wenn einer Behörde im Rahmen der Anwendung dieser Verordnung zwei nicht miteinander zu vereinbarende öffentliche Urkunden vorgelegt werden, so sollte sie die Frage, welcher Urkunde, wenn überhaupt, Vorrang einzuräumen ist, unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falls beurteilen. Geht aus diesen Umständen nicht eindeutig hervor, welche Urkunde, wenn überhaupt, Vorrang haben sollte, so sollte diese Frage von den gemäß dieser Verordnung zuständigen Gerichten oder, wenn die Frage als Vorfrage im Laufe eines Verfahrens vorgebracht wird, von dem mit diesem Verfahren befassten Gericht geklärt werden. Im Falle einer Unvereinbarkeit zwischen einer öffentlichen Urkunde und einer Entschei18

Erwägungsgründe

dung sollten die Gründe für die Nichtanerkennung von Entscheidungen nach dieser Verordnung berücksichtigt werden. (67) Eine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der Union setzt voraus, dass die Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter in der Lage sein sollten, ihren Status und/oder ihre Rechte und Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat, beispielsweise in einem Mitgliedstaat, in dem Nachlassvermögen belegen ist, einfach nachzuweisen. Zu diesem Zweck sollte diese Verordnung die Einführung eines einheitlichen Zeugnisses, des Europäischen Nachlasszeugnisses (im Folgenden „das Zeugnis“), vorsehen, das zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird. Das Zeugnis sollte entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip nicht die innerstaatlichen Schriftstücke ersetzen, die gegebenenfalls in den Mitgliedstaaten für ähnliche Zwecke verwendet werden. (68) Die das Zeugnis ausstellende Behörde sollte die Formalitäten beachten, die für die Eintragung von unbeweglichen Sachen in dem Mitgliedstaat, in dem das Register geführt wird, vorgeschrieben sind. Diese Verordnung sollte hierfür einen Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über diese Formalitäten vorsehen. (69) Die Verwendung des Zeugnisses sollte nicht verpflichtend sein. Das bedeutet, dass die Personen, die berechtigt sind, das Zeugnis zu beantragen, nicht dazu verpflichtet sein sollten, dies zu tun, sondern dass es ihnen freistehen sollte, die anderen nach dieser Verordnung zur Verfügung stehenden Instrumente (Entscheidung, öffentliche Urkunde und gerichtlicher Vergleich) zu verwenden. Eine Behörde oder Person, der ein in einem anderen Mitgliedstaat ausgestelltes Zeugnis vorgelegt wird, sollte jedoch nicht verlangen können, dass statt des Zeugnisses eine Entscheidung, eine öffentliche Urkunde oder ein gerichtlicher Vergleich vorgelegt wird. (70) Das Zeugnis sollte in dem Mitgliedstaat ausgestellt werden, dessen Gerichte nach dieser Verordnung zuständig sind. Es sollte Sache jedes Mitgliedstaats sein, in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften festzulegen, welche Behörden – Gerichte im Sinne dieser Verordnung oder andere für Erbsachen zuständige Behörden wie beispielsweise Notare – für die Ausstellung des Zeugnisses zuständig sind. Es sollte außerdem Sache jedes Mitgliedstaats sein, in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften festzulegen, ob die Ausstellungsbehörde andere zuständige Stellen an der Ausstellung beteiligen kann, beispielsweise Stellen, vor denen eidesstattliche Versicherungen abgegeben werden können. Die Mitgliedstaaten sollten der Kommission die einschlägigen Angaben zu ihren Ausstellungsbehör19

EU-Erbrechtsverordnung

den mitteilen, damit diese Angaben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. (71) Das Zeugnis sollte in sämtlichen Mitgliedstaaten dieselbe Wirkung entfalten. Es sollte zwar als solches keinen vollstreckbaren Titel darstellen, aber Beweiskraft besitzen, und es sollte die Vermutung gelten, dass es die Sachverhalte zutreffend ausweist, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder einem anderen auf spezifische Sachverhalte anzuwendenden Recht festgestellt wurden, wie beispielsweise die materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen. Die Beweiskraft des Zeugnisses sollte sich nicht auf Elemente beziehen, die nicht durch diese Verordnung geregelt werden, wie etwa die Frage des Status oder die Frage, ob ein bestimmter Vermögenswert dem Erblasser gehörte oder nicht. Einer Person, die Zahlungen an eine Person leistet oder Nachlassvermögen an eine Person übergibt, die in dem Zeugnis als zur Entgegennahme dieser Zahlungen oder dieses Vermögens als Erbe oder Vermächtnisnehmer berechtigt bezeichnet ist, sollte ein angemessener Schutz gewährt werden, wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben gutgläubig gehandelt hat. Der gleiche Schutz sollte einer Person gewährt werden, die im Vertrauen auf die Richtigkeit der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben Nachlassvermögen von einer Person erwirbt oder erhält, die in dem Zeugnis als zur Verfügung über das Vermögen berechtigt bezeichnet ist. Der Schutz sollte gewährleistet werden, wenn noch gültige beglaubigte Abschriften vorgelegt werden. Durch diese Verordnung sollte nicht geregelt werden, ob der Erwerb von Vermögen durch eine dritte Person wirksam ist oder nicht. (72) Die zuständige Behörde sollte das Zeugnis auf Antrag ausstellen. Die Ausstellungsbehörde sollte die Urschrift des Zeugnisses aufbewahren und dem Antragsteller und jeder anderen Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, eine oder mehrere beglaubigte Abschriften ausstellen. Dies sollte einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, es im Einklang mit seinen innerstaatlichen Regelungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten zu gestatten, dass Abschriften des Zeugnisses der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden. Diese Verordnung sollte Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der ausstellenden Behörde, einschließlich der Entscheidungen, die Ausstellung eines Zeugnisses zu versagen, vorsehen. Wird ein Zeugnis berichtigt, geändert oder widerrufen, sollte die ausstellende Behörde die Personen unterrichten, denen beglaubigte Abschriften ausgestellt wurden, um eine missbräuchliche Verwendung dieser Abschriften zu vermeiden. 20

Erwägungsgründe

(73) Um die internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten eingegangen sind, zu wahren, sollte sich diese Verordnung nicht auf die Anwendung internationaler Übereinkommen auswirken, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht sind, in Bezug auf die Formgültigkeit von Testamenten und gemeinschaftlichen Testamenten anstelle der Bestimmungen dieser Verordnung weiterhin die Bestimmungen jenes Übereinkommens anwenden können. Um die allgemeinen Ziele dieser Verordnung zu wahren, muss die Verordnung jedoch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkommen haben, soweit diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind. (74) Diese Verordnung sollte nicht verhindern, dass die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des Übereinkommens vom 19. November 1934 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden mit Bestimmungen des Internationalen Privatrechts über Rechtsnachfolge von Todes wegen, Testamente und Nachlassverwaltung sind, weiterhin spezifische Bestimmungen jenes Übereinkommens in der geänderten Fassung der zwischenstaatlichen Vereinbarung zwischen den Staaten, die Vertragsparteien des Übereinkommens sind, anwenden können. (75) Um die Anwendung dieser Verordnung zu erleichtern, sollten die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, über das mit der Entscheidung 2001/ 470/EG des Rates6 eingerichtete Europäische Justizielle Netz für Zivilund Handelssachen bestimmte Angaben zu ihren erbrechtlichen Vorschriften und Verfahren zu machen. Damit sämtliche Informationen, die für die praktische Anwendung dieser Verordnung von Bedeutung sind, rechtzeitig im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden können, sollten die Mitgliedstaaten der Kommission auch diese Informationen vor dem Beginn der Anwendung der Verordnung mitteilen. (76) Um die Anwendung dieser Verordnung zu erleichtern und um die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien zu ermöglichen, sollten Standardformblätter für die Bescheinigungen, die im Zusammenhang mit einem Antrag auf Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung, einer öffentlichen Urkunde oder eines gerichtlichen Vergleichs und mit einem An-

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ABl. L 174 vom 27.6.2001, S. 25.

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EU-Erbrechtsverordnung

trag auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses vorzulegen sind, sowie für das Zeugnis selbst vorgesehen werden. (77) Die Berechnung der in dieser Verordnung vorgesehenen Fristen und Termine sollte nach Maßgabe der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1182/71 des Rates vom 3. Juni 1971 zur Festlegung der Regeln für die Fristen, Daten und Termine7 erfolgen. (78) Um einheitliche Bedingungen für die Durchführung dieser Verordnung gewährleisten zu können, sollten der Kommission in Bezug auf die Erstellung und spätere Änderung der Bescheinigungen und Formblätter, die die Vollstreckbarerklärung von Entscheidungen, gerichtlichen Vergleichen und öffentlichen Urkunden und das Europäische Nachlasszeugnis betreffen, Durchführungsbefugnisse übertragen werden. Diese Befugnisse sollten im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Festlegung der allgemeinen Regeln und Grundsätze, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren,8 ausgeübt werden. (79) Für den Erlass von Durchführungsrechtsakten zur Erstellung und anschließenden Änderung der in dieser Verordnung vorgesehenen Bescheinigungen und Formblätter sollte das Beratungsverfahren nach Artikel 4 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 herangezogen werden. (80) Da die Ziele dieser Verordnung, nämlich die Sicherstellung der Freizügigkeit und der Möglichkeit für europäische Bürger, ihren Nachlass in einem Unions-Kontext im Voraus zu regeln, sowie der Schutz der Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer, der Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Verordnung besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus. (81) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Bei der Anwendung dieser Verordnung müssen die Gerich7 8

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ABl. L 124 vom 8.6.1971, S. 1. ABl. L 55 vom 28.2.2011, S. 13.

Einleitung

te und anderen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten diese Rechte und Grundsätze achten. (82) Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligen sich diese Mitgliedstaaten nicht an der Annahme dieser Verordnung und sind weder durch diese gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet. Dies berührt jedoch nicht die Möglichkeit für das Vereinigte Königreich und Irland, gemäß Artikel 4 des genannten Protokolls nach der Annahme dieser Verordnung mitzuteilen, dass sie die Verordnung anzunehmen wünschen. (83) Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Verordnung und ist weder durch diese Verordnung gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet – HABEN FOLGENDE VERORDNUNG ERLASSEN:

Einleitung I. Allgemeines II. Gerichtliche Zuständigkeit III. Anwendbares Recht 1. Allgemeines 2. Einheitlichkeit des Erbrechts 3. Die Anknüpfung an das Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers 4. Die eingeschränkte Zulassung der Privatautonomie a) Rechtswahl b) Verfügungen von Todes wegen und Erbverträge

Paul Lagarde

1 9 13 21

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5.

Der Einschluss der Verwaltung und der Abwicklung des Nachlasses in den Anwendungsbereich des Erbrechts 36 IV. Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden 39 V. Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses 44

28 30 32

23

Einleitung, Rn. 1, 2

I. Allgemeines 1 Die Verordnung Nr. 650/2012 vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit,

das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses1 schafft einen neuen Meilenstein in der Entwicklung eines internationalen europäischen Privatrechts. Das liegt sowohl an ihrer Thematik, die bisher der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten zugeschrieben wurde, als auch an ihrer Struktur, da sie zum ersten Mal Vorschriften über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in einem Text zusammenfasst.2 2 Die Bereitschaft der Unionsautoritäten, diese Fragen anzugehen, be-

steht bereits relativ lange. Der Wiener Aktionsplan zur bestmöglichen Umsetzung des Vertrags von Amsterdam über die Einrichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der vom Rat für Justiz und Inneres am 3. Dezember 1998 verabschiedet wurde,3 sah bereits vor, die Möglichkeit zu prüfen, ein Rechtsinstrument für das internationale Privatrecht der Rechtsnachfolge von Todes wegen zu entwickeln. Hierbei sollte auch die bereits im Rahmen der Haager Konferenz für internationales Privatrecht getätigte Arbeit berücksichtigt werden. Die politische Entscheidung, das internationale Privatrecht zum Erbrecht innerhalb der Europäischen Union zu vereinheitlichen, kann dann auf die Tagung des Europäischen Rats in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 zurückgeführt werden. Dort wurde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und anderen Entscheidungen von Justizbehörden zum „Eckpfeiler der gerichtlichen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen in der Union“ gemacht, wodurch die Bedeutung der Zivilsachen erweitert werden sollte. Das Maßnah1 2

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Abl. L 201 27. Juli 2012, S. 107. Vergleichbar mit dem Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über den Schutz von Kindern. Die Verordnung Nr. 4/2009 vom 18. Dezember 2008 über die Unterhaltspflichten ist an die gleiche Methode angelehnt, verweist jedoch bezüglich des Kollisionsrechts nur auf das Haager Protokoll vom 23. November 2007. Plan [31999Y0123(01)], ABl. C 19 vom 23.1.1999, S. 1-15.

Paul Lagarde

Einleitung, Rn. 3

menprogramm, das in Folge dieser Tagung erstellt wurde, sah den zunehmenden Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vor. Er sollte insbesondere durch die Ausarbeitung von Instrumenten gemäß Artikel 65 EGV (später Art. 81 Abs. 2 AEUV) zum Ausdruck kommen, die dazu bestimmt sind, die Vereinbarkeit der kollisionsrechtlichen Vorschriften und der Zuständigkeitsregeln, die in den Mitgliedstaaten anwendbar sind, vor allem im Bereich der Erbfolge zu fördern.4 Bei der Durchführung dieses Programms5 bildete die Kommission auf 3 der Grundlage einer Studie, die sie beim deutschen Notarinstitut angefordert hatte,6 eine Arbeitsgruppe, als deren Ergebnis sie am 14. Oktober 2009 einen Vorschlag für eine Verordnung machte (Kom (2009) 154 endgültig 2009/157 (COD)). Der Vorschlag bezog sich auf die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie auf die Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses. 4

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Maßnahmenprogramm [32001Y0115(01)] zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. C 12 vom 15.1.2001, S. 1-9): „Die wirtschaftlichen Folgen der Entscheidungen, die bei der Lockerung oder der Auflösung des Ehebandes eintreten, sei es zu Lebzeiten oder beim Tode eines der Ehegatten, stellen offensichtlich das Hauptinteresse für die Verwirklichung des europäischen Rechtsraums dar. In diesem Zusammenhang ist es möglich, bei der Ausarbeitung der Rechtsinstrumente zwischen dem Güterrecht und dem Erbrecht zu unterscheiden.“ Dies wurde tatsächlich so durchgeführt (s. die Vorschläge der Europäischen Kommission vom 16. März 2011, Kom (2011) 126/2 und 127/2 zum Güterrecht und den vermögensrechtlichen Auswirkungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft, die vom Rat diskutiert werden). Erneuert durch die Programme von Haag und Stockholm, die am 4.-5. November 2004 (ABI C 53, 3.3.2005, S. 1) und am 10.-11. Dezember 2009 (ABI C 115, 4.5.2010, S. 1) vom Europäischen Rat verabschiedet wurden. In Zusammenarbeit mit den Professoren Dörner (Münster) und Lagarde (Paris 1) als wissenschaftliche Koordinatoren. Die Studie wurde vom Deutschen Notarinstitut unter dem Titel „Les successions internationales dans l‘Union européenne, perspectives pour une harmonisation“ veröffentlicht, wobei auch die Ergebnisse eines Symposiums am 10. und 11. Mai 2004 in Brüssel zu diesem Thema aufgenommen wurden.

Paul Lagarde

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Einleitung, Rn. 4, 5

4 Diesem Vorschlag folgte das gewöhnliche Gesetzgebungsverfahren

gem. Art. 81 Abs. 2 AEUV,7 bei dem die Mitbestimmung des Parlaments und des Rats erforderlich ist, und nicht das besondere Verfahren, das gem. Abs. 4 für Maßnahmen gilt, die das Familienrecht betreffen. Das Verfahren nach Abs. 4 hätte die Einstimmigkeit der Ratsmitglieder nach Anhörung des Europäischen Parlaments erfordert. Im Bericht über die Gründe des Vorschlags (Rn. 3-1) hat die Kommission den Rückgriff auf das einfache Verfahren mit der Selbstständigkeit des Erbrechts gerechtfertigt: Im Unterschied zum Familienrecht hat es die Übertragung der Güter einer Person nach ihrem Tod zum Gegenstand. Das Familienrecht konzentriert sich im Vergleich dazu auf rechtliche Fragen in Bezug auf Heirat und Leben des Ehepaars sowie auf die Abstammung und den Familienstand von Personen. Das Gesetzgebungsverfahren hat sich trotzdem fast vier Jahre hingezogen, bevor es mit der Verordnung vom 4. Juli 2012 endete. 5 Die Zweckmäßigkeit oder sogar Notwendigkeit einer Verordnung zur

Erbfolge ist die eindeutige Konsequenz der unterschiedlichen Rechtsnormen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. Die Nachteile dieser Unterschiedlichkeit haben mit den wachsenden Bevölkerungsbewegungen zugenommen, die nicht nur innerhalb der Union durch deren Bürger stattfinden, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, sondern auch von Mitgliedstaaten in Drittstaaten sowie umgekehrt. Diese unterschiedlichen Regelungen sind besonders ungünstig, wenn sich einzelne vererbte Vermögensgegenstände im Hoheitsgebiet mehrerer Staaten befinden. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Ein deutsches Ehepaar hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich. Einer der beiden Ehegatten stirbt und hinterlässt neben dem Ehepartner auch eine Schwester als Erben. Beträchtliche Wertpapiere wurden bei einer französischen Bank hinterlegt. Wem stehen sie zu? Nach dem deutschen internationalen Privatrecht ist deutsches Recht als Staatsangehörigkeitsrecht des Erblassers bezüglich seiner Erbfolge einschlägig. Hiernach wird das Erbe zwischen dem überlebenden Ehegatten und der Schwester des Erblassers halbiert (§ 1931 BGB). Der Ehepartner erhält ein weiteres Viertel des Nachlasses über den Zugewinnausgleich (§ 1371 BGB). Nach dem 7

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S. Art. 294 AEUV (zuvor Art. 251 EGV).

Paul Lagarde

Einleitung, Rn. 6, 7

französischen internationalen Privatrecht ist französisches Recht als Recht des letzten Wohnsitzes des Erblassers anzuwenden. Nach diesem Recht steht dem überlebenden Ehegatten das gesamte Erbe zu (Art. 757-2 c. civ). Und wenn das Ehepaar zur Vermeidung dieser Schwierigkeiten einen Erbvertrag abgeschlossen hätte, ggf. auch mit der Schwester des Erststerbenden, wäre dieser Vertrag zwar nach deutschem Recht gültig, nach französischem jedoch nicht. Vergleichbare Probleme treten in Bezug auf das eheliche Güterrecht auf. 6 Das geschilderte Beispiel des deutschen Ehepaars mit Hauptwohnsitz in Frankreich veranschaulicht auch dies: Der Güterstand des Ehepaars wäre nach französischem Kollisionsrecht ein Güterstand des französischen Rechts, nach deutschem IPR hingegen ein Güterstand des deutschen Rechts. Da die Abwicklung des Güterstands der Abwicklung des Nachlasses vorausgeht, hängt die Zusammensetzung der Erbmasse davon ab, ob es sich bei dem Güterstand um den der communauté d’acqêts (Errungenschaftsgemeinschaft) des französischen Rechts oder um die Zugewinngemeinschaft nach deutschem Recht handelt. Die ideale Lösung wäre ein einheitliches Gesetz für den Güterstand und die Erbfolge. Der Güterstand ist jedoch vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen, da beide Regelungsbereiche unterschiedlichen Anforderungen unterliegen. Der Güterstand muss ab dem Zeitpunkt der Eheschließung bestimmt sein, und insbesondere im Fall einer Scheidung ist seine Auflösung unabhängig von jeder erbrechtlichen Frage. Außerdem kann die Privatautonomie im Güterrecht weiter reichen als bei der Erbfolge. Deshalb muss die angekündigte Verordnung über das internationale Privatrecht des Güterstands abgewartet werden, um ein einheitliches Kollisionsrechtssystem innerhalb der Union zu haben. Die vorliegende Verordnung beschränkt sich also auf das Erbrecht. Oh- 7 ne das materielle Erbrecht zu berühren, für das jeder Mitgliedstaat allein zuständig bleibt, versucht sie zu vermeiden, dass derselbe Nachlass in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt wird, oder in einem Mitgliedstaat Gegenstand einer Lösung sein kann, die in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt wird. Zu diesem Zweck hat die Verordnung innerhalb der Union die Vorschriften zur gerichtlichen Zuständigkeit, die kollisionsrechtlichen Regeln sowie die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen vereinheitlicht. Zudem hat sie es durch die Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses Paul Lagarde

27

Einleitung, Rn. 8, 9

möglich gemacht, den Status des Erben oder Vermächtnisnehmers sowie die Befugnisse zur Verwaltung und Abwicklung des Nachlasses zu beweisen. 8 Die Grundidee der Verfasser der Verordnung ist die der Einheitlichkeit:

Zunächst die Einheitlichkeit der Rechtsnachfolge von Todes wegen, d.h. dass der Nachlass, also sowohl bewegliches als auch unbewegliches Vermögen, in seiner Gesamtheit durch ein einziges Recht geregelt und demselben Gericht unterstellt wird, sowohl auf der Ebene der gerichtlichen Zuständigkeit als auch auf der der gesetzgebenden Kompetenz. Ferner die Einheitlichkeit der gerichtlichen Zuständigkeit, um Konkurrenz zwischen den Gerichten der unterschiedlichen Mitgliedstaaten zu vermeiden. Schließlich die Einheitlichkeit oder Übereinstimmung der Zuständigkeitsvorschriften mit den kollisionsrechtlichen Vorschriften, damit das zuständige Gericht so oft wie möglich sein eigenes Recht anwenden kann.

II. Gerichtliche Zuständigkeit 9 Alle europäischen Verordnungen, die die Vorschriften über die gericht-

liche Zuständigkeit vereinheitlicht haben, v.a. die Verordnungen Brüssel I und Brüssel IIa, haben das Erbrecht aus ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen. Es wurde notwendig, sich auch damit zu beschäftigen, da innerhalb der Union eine große Vielfalt an Zuständigkeitsvorschriften existierte, die der Organisation des eigenen Nachlasses durch den künftigen Erblasser Hindernisse in den Weg legten. Die Mehrzahl der Staaten sieht den Gerichtsstand des Ortes der Eröffnung des Nachlassverfahrens vor, d.h. den Gerichtsstand des letzten Wohnsitzes des Erblassers, während andere für das unbewegliche Vermögen den Gerichtsstand des Ortes, an dem sich dieses Vermögen befindet, eröffnen. Zugleich kann der Gerichtsstand der Staatsangehörigkeit des Erblassers erwähnt werden, oder sogar der der Nationalität des Antragstellers, oder auch, wie im gemeinen Recht, der Gerichtsstand des Beklagten. Entsprechend seinen Interessen kann der Anspruchsberechtigte diese Vielfalt ausnutzen und den Gerichtsstand auswählen, der für ihn am aussichtsreichsten ist. Man nehme folgendes Beispiel: Ein Italiener mit Wohnsitz in den Niederlanden besitzt unbewegliches Vermögen in Belgien. Seine Tochter hat die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Daraus ergibt sich, dass gemäß ihren jeweiligen Rechten im aktuellen 28

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Einleitung, Rn. 10–12

Zeitpunkt zuständig sind: das holländische Gericht am Wohnsitz des Erblassers für den gesamten Nachlass, das belgische Gericht für das unbewegliche Vermögen, das italienische Gericht gemäß der Staatsangehörigkeit des Erblassers für den gesamten Nachlass und das französische Gericht für das bewegliche Vermögen, falls die Tochter vor Gericht geht. Die Verordnung will dieser anarchischen Situation Abhilfe leisten, in- 10 dem sie die Zuständigkeit für erbrechtliche Vorgänge sowohl für bewegliches als auch für unbewegliches Vermögen an einem einzigen Ort zentralisiert. Gemäß Artikel 4, der die Grundregel zum Ausdruck bringt, „sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“. Dieser Anknüpfungspunkt wird gleichzeitig berücksichtigt, um das anwendbare Recht zu bestimmen (s.u. Rn. 23 ff.), was den Vorteil mit sich bringt, dass die gerichtliche Zuständigkeit mit dem anwendbaren Recht zusammenfällt. Eben diese Idee des Zusammenfalls zweier Regelungsbereiche erklärt 11 auch die Hauptausnahme von der internationalen Zuständigkeit des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers. Wenn dieser entschieden hat, seinen Nachlass dem Recht des Staates zu unterstellen, dessen Nationalität er besitzt, können die betroffenen Parteien (Erbbegünstigte, Gläubiger) vereinbaren, die ausschließliche Zuständigkeit auf die Gerichte dieses Staates zu übertragen, sofern es sich um einen Mitgliedstaat handelt (Art. 5). Die andere Ausnahme betrifft die Situation, dass der Erblasser seinen 12 gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat hatte. Dann kann es nützlich sein, den Gerichten eines Mitgliedstaats, zu dem der Nachlass eine enge Verbindung aufweist, eine subsidiäre Zuständigkeit zu geben. Darauf zielt die Verordnung ab, wenn sie die subsidiären Zuständigkeiten hierarchisiert, um dafür zu sorgen, dass innerhalb der Union nur eine Gerichtsbarkeit für den Nachlass zuständig ist (Art. 10 und 11).

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Einleitung, Rn. 13–15

III. Anwendbares Recht 1. Allgemeines 13 Die Vereinheitlichung der Kollisionsvorschriften ist eine notwendige

Ergänzung der Vereinheitlichung der Zuständigkeitsvorschriften. Wenn ein einziges Gericht unter den Mitgliedstaaten für die Regelung der Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, hätte man theoretisch auch glauben können, dass es egal ist, ob es ein anderes Recht anwendet als das, welches das Gericht eines anderen Mitgliedstaates anwenden würde, da letzteres keine Zuständigkeit für die Regelung des Nachlasses besäße. Letztendlich hätte ein einzelnes Recht die Fähigkeit, die Rechtsnachfolge von Todes wegen zu regeln: das von der Kollisionsvorschrift des Staates, dem das einzig zuständige Gericht untersteht, berufene. Wenn die Kollisionsvorschriften nicht vereinheitlicht werden, würde das anwendbare Recht allerdings letztlich vom angerufenen Gericht abhängen. Dies wäre auch der Fall nach dem Tod des Erblassers, der seine Rechtsnachfolge von Todes wegen nicht unter Kenntnis aller Umstände hätte organisieren können. Wenn die Kollisionsvorschriften hingegen vereinheitlicht werden, ist das anwendbare Recht überall innerhalb der Mitgliedstaaten gleich, egal welchem Mitgliedstaat das angerufene Gericht angehört. 14 Die Vereinheitlichung war umso wünschenswerter, als die bisher in den

Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsvorschriften sehr vielfältig sind. Sie unterscheiden sich hauptsächlich in vier Punkten: 15 Ein erster Unterschied ergibt sich aus den Systemen der Nachlassein-

heit und der Nachlassspaltung. Bei der Nachlasseinheit ist die Gesamtheit des Nachlassvermögens, also sowohl bewegliches als auch unbewegliches, unabhängig von dem Ort, an dem es sich befindet, einem einzigen Recht unterstellt (so bisher in Deutschland, Österreich, Dänemark, Spanien, baltische Staaten, Finnland, Griechenland, Ungarn, Italien, Niederlande, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Schweden, Tschechien). Das System der Nachlassspaltung unterscheidet zwischen unbeweglichem Vermögen, das dem Recht des Ortes unterfällt, in dem es belegen ist, und beweglichem Vermögen, das einem anderen Recht unterfällt (so bisher in Belgien, Bulgarien, Zypern, Frankreich, Luxem30

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Einleitung, Rn. 16, 17

burg, Malta, Irland und Vereinigtes Königreich, Rumänien). Dabei werden sowohl für die Bestimmung der Erben und ihres jeweiligen Anteils als auch für die Abwicklung des Nachlasses mehrere unterschiedliche Erbmassen geschaffen, die rechtlich vollkommen unabhängig voneinander sind. Das System der Nachlassspaltung ist ohne Zweifel praktikabler, da es davon geleitet ist, das sich lokal durchsetzende Recht des Ortes anzuwenden, an dem sich das unbewegliche Vermögen befindet, und da es die Verbindungen zwischen dem Erbstatut und dem Sachenrechtsstatut respektiert, indem es zum Beispiel vermeidet, dass ein Grundstück mit einer erbrechtlichen Form des Nießbrauchs belastet wird, der dem örtlichen Recht unbekannt ist. Sein größter Nachteil ist jedoch, dass es den zukünftigen Erblasser daran hindert, seinen Nachlass frühzeitig gerecht unter seinen Kindern aufzuteilen. Man nehme einen französischen Vater, der in Frankreich wohnt und zwei Häuser mit gleichem Wert besitzt, eins in London und eins in Paris. Er möchte das eine Haus seiner in London lebenden Tochter und das andere seinem in Frankreich wohnenden Sohn vererben. Diese gerechte Regelung wird gefährdet, falls die Tochter unter Anwendung des französischen Erbrechts ihren Pflichtteil am Pariser Haus beansprucht, obwohl der Sohn es ihr in Bezug auf das Haus in London nicht gleichtun kann, weil das englische Recht keinen Pflichtteil der Kinder kennt. Ein einheitlicher Anknüpfungspunkt für den Nachlass vermeidet dieses Problem, das nur auf die Teilung der Erbmasse zurückzuführen ist. Ein zweiter Unterschied ergibt sich zwischen Staaten, die den Nachlass 16 (die einen den gesamten Nachlass, die anderen nur das bewegliche Vermögen) an das Recht des Wohnsitzes des Erblassers anknüpfen (z.B. die bereits genannten, der Nachlassspaltung folgenden Staaten außer Rumänien und zusätzlich Dänemark) und Staaten, die an das Staatsangehörigkeitsrecht anknüpfen (z.B. Deutschland, Österreich, Spanien, Griechenland, Italien, Portugal und Schweden). Der Streit zog sich hin, die Argumente beider Seiten sind bekannt, sodass der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen war. Ein weiterer großer Unterschied besteht zwischen den Rechtsordnun- 17 gen, die dem zukünftigen Erblasser das Recht einräumen, das auf seinen Nachlass anwendbare Erbrecht zu wählen (Finnland und Niederlande, Paul Lagarde

31

Einleitung, Rn. 18–20

in geringerem Umfang Deutschland, Belgien, Bulgarien, Italien und Rumänien) und den zahlreicheren Staaten, die dies ablehnen. Letztere befürchten, dass die dem Erblasser übertragene Befugnis, das auf seinen Nachlass anwendbare Recht zu wählen, von ihm genützt wird, um die Vorschriften zu umgehen, die zum Schutz bestimmter Erben bestehen und diesen eine Pflichtteil gewähren. Der große Vorteil der professio juris ist hingegen die Rechtssicherheit. Sie ermöglicht es dem Erblasser, seinen Nachlass im Voraus als Einheit zu regeln und die Zusammenhanglosigkeit zu vermeiden, die aus der unkoordinierten Anwendung der jeweiligen Rechte resultiert, in denen sich das Nachlassvermögen befindet (wie zum Beispiel im oben genannten Beispiel des Vaters, dem ein Haus in Frankreich und ein weiteres in England gehört). 18 Schließlich sind sich die Staaten der Europäischen Union uneinig in

Bezug auf die sehr technische Frage der Verwaltung und der Abwicklung des Nachlasses, d.h. ob diese dem Erben oder, wie in den Ländern des common law, einem personal representative anvertraut wird, auf den das Nachlassvermögen übergeht und der, sobald die Gläubiger und der Fiskus befriedigt sind, das verbleibende Vermögen den Begünstigten übergibt. Das ist eine Frage des internen materiellen Rechts, die jedoch Auswirkungen auf das internationale Privatrecht hat, da die Staaten des common law diese Frage vom Anwendungsbereich des Erbstatuts ausschließen. 19 Früher als die Europäische Union und in einem größeren Rahmen hat

die Haager Konferenz über internationales Privatrecht, die über diese Probleme informiert war, versucht, diese durch das Übereinkommen vom 1. August 1989 über das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht zu lösen. Diese Konvention ist jedoch nicht in Kraft getreten, da keine ausreichende Zahl von Staaten diese ratifiziert haben. Ihre Erfahrung ging aber nicht verloren. Die Europäische Union, die bessere politische Mittel zur Verfügung hat, da die Verordnung in allen Mitgliedstaaten ohne die Erforderlichkeit einer Ratifikation unmittelbar anwendbar ist, hat einige richtungsweisende Bestimmungen aus dem Übereinkommen teilweise sogar wörtlich übernommen. 20 Im Grunde genommen hat die Verordnung zu den vier wesentlichen

Unterschieden Stellung bezogen, die bereits dargestellt wurden: Sie hat das Prinzip der Einheitlichkeit des Erbrechts aufgestellt (vgl. Rn. 21 f.), 32

Paul Lagarde

Einleitung, Rn. 21, 22

den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt gewählt (vgl. Rn. 23 ff.) und der Privatautonomie einen nicht unbedeutenden Rang zugewiesen (vgl. Rn. 28 ff.). Zuletzt hat sie dem Erbrecht einen großen Anwendungsbereich zugesprochen, der auch die Verwaltung und Abwicklung des Nachlasses umfasst (vgl. Rn. 36 ff.).

2. Einheitlichkeit des Erbrechts Wie bereits dargelegt, hat die Verordnung noch mehr als das Haager 21 Erbrechtsübereinkommen das Prinzip der Einheitlichkeit des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Rechts gefestigt. Dieses Recht ist horizontal auf das gesamte Nachlassvermögen anwendbar, egal, ob es beweglicher oder unbeweglicher Natur ist und wo es sich befindet. Es ist zugleich vertikal auf alle auf den Nachlass bezogenen Vorgänge von der Eröffnung des Nachlasses bis zu seiner Teilung anwendbar (s.u. unter Rn. 36 ff.). Auf der horizontalen Ebene muss das Erbrecht allerdings für einen be- 22 stimmten Teil des Vermögens die Anforderungen des Rechts des Ortes berücksichtigen, an dem sich das Vermögen befindet. Es ist nämlich das örtliche Recht, das im Endeffekt das letzte Wort haben wird, insbesondere falls der Vermögensgegenstand sich in einem Drittstaat befindet. Art. 30 nimmt die in Art. 15 des Haager Erbrechtsübereinkommen aufgeführte Vorschrift auf und behält die Anwendung spezieller Vorschriften des örtlichen Rechts vor, die der Rechtsnachfolge von Todes wegen Einschränkungen bezüglich „bestimmter unbeweglicher Sachen, Unternehmen oder anderer besonderer Arten von Vermögenswerten aufgrund wirtschaftlicher, familiärer oder sozialer Erwägungen“ auferlegen, wenn diese Vorschriften unabhängig von dem die Rechtsnachfolge von Todes wegen regelnden Recht anwendbar sein sollen. Hier erkennt man die Definition des hoheitlichen Rechts wieder, die ursprünglich aus der Konvention von Rom vom 19. Juni 1980 stammt und nicht zuletzt durch die Rom I und Rom II-Verordnungen wieder aufgegriffen wurde. Dieses hoheitliche Recht kann das eines Mitgliedstaats wie das eines Drittstaats sein.

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33

Einleitung, Rn. 23–26

3. Die Anknüpfung an das Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers 23 Die Verordnung hat das Anknüpfungsmerkmal des gewöhnlichen Auf-

enthalts dem der Staatsangehörigkeit des Erblassers vorgezogen, da es als besser geeignet angesehen wurde, um das Näheverhältnis zu einer Rechtsordnung auszudrücken, und als am häufigsten mit dem Lebensmittelpunkt des Erblassers übereinstimmend betrachtet wurde (Art. 21). Im Allgemeinen befinden sich dort der Großteil seiner Vermögenswerte und seine Hauptgläubiger. Der Wohnsitz, ein juristischer Begriff mit unterschiedlicher Bedeutung je nachdem, ob es sich um ein Land des kontinentalen Rechts oder des common law handelt, wurde deshalb absichtlich außen vor gelassen. 24 Die Schwierigkeit liegt offensichtlich darin, den Begriff des gewöhnli-

chen Aufenthalts im Bereich des Erbrechts hinreichend genau zu definieren. Die Verordnung selbst enthält daher keine Definition, so wie auch die anderen EU-Verordnungen oder die Haager Übereinkommen, die dieses Anknüpfungsmerkmal nutzen. Der Begriff, der im Großen und Ganzen mit dem Lebensmittelpunkt des Erblassers übereinstimmt, ist aber ausreichend flexibel, um sich den unterschiedlichsten Situationen anzupassen. 25 Diese Anpassung könnte ebenso mit Hilfe der im gleichen Artikel

vorhergesehenen Ausnahmeklausel vorgenommen werden (s.u. bei Art. 21). Diese Klausel, die sich an Artikel 4 Absatz 5 der Konvention von Rom vom 19. Juni 1980 anlehnt, sieht ausnahmsweise die Anwendung des Rechts eines anderen Staates als des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltsorts vor, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Erblasser offensichtlich engere Verbindungen zu diesem anderen Staat hatte. 26 Eine Ausnahme zum Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts-

orts des Erblassers liegt dann vor, wenn dieses Recht auf das Recht eines anderen Staates verweist. Der Verordnungsvorschlag der Kommission schloss jeglichen renvoi aus und unterlag aus diesem Grund heftiger Kritik. Die Verordnung nimmt eine maßvollere Position ein. Der Ausschluss erfolgt aufgrund der Vereinheitlichung der Kollisionsvorschriften innerhalb der Union von selbst, wenn die Verordnung das Recht 34

Paul Lagarde

Einleitung, Rn. 27–29

eines Mitgliedstaats bezeichnet. Er drängt sich gleichfalls auf, wenn das bezeichnete Recht durch den Erblasser bestimmt wurde (vgl. Rn. 28 ff.), denn das wäre ein Angriff auf dessen zulässige Vorausplanung, und schließlich im Fall des Eingreifens der vorgenannten Ausnahmeklausel. Außer in diesen Fällen erlaubt die Verordnung die Rück- oder Weiterverweisung in zwei Konstellationen, wenn das Recht eines Drittstaats angerufen wird (Art. 34): Zunächst, wenn das bezeichnete Recht auf das Recht eines Mitgliedstaats zurückverweist; wie zum Beispiel wenn der Staatsangehörige eines Mitgliedstaats seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in einem Staat des Mittleren Ostens hatte, der den Nachlass dem Staatsangehörigkeitsrecht unterstellt. Die Verweisung ist zudem möglich, wenn das bezeichnete Recht auf das Recht eines anderen Drittstaats weiter verweist, der sein eigenes Recht anwenden würde. Das ist die Konstellation der Weiterverweisung zwischen zwei Rechtsordnungen, der bereits durch Art. 4 des Haager Übereinkommens von 1989 zugelassen wurde. Die Einschränkungen bezüglich der Einheitlichkeit des Erbrechts blei- 27 ben also gering, wodurch jene Bestimmungen der Verordnungen noch interessanter werden, die dem privaten Willen des Erblassers einen gewissen Raum an Autonomie eröffnen, um das anwendbare Recht zu bestimmen.

4. Die eingeschränkte Zulassung der Privatautonomie Die zunehmende Bedeutung des Willenselements zur Lösung von 28 Rechtskonflikten charakterisiert das europäische internationale Privatrecht im Laufe seiner Entwicklung. Nach dem Vertragsstatut und dem Güterrecht, bei denen die Privatautonomie naturgemäß ihren Platz hat, hat sie die gesetzlichen Schuldverhältnisse, die Scheidung und nun die Rechtsnachfolge von Todes wegen durchdrungen. Die Forderung nach Autonomie, um dem Erblasser die Organisation seines Nachlasses im Voraus zu ermöglichen, ist alt, aber sie kollidiert oft mit der Sorge, die Pflichtteilsberechtigten vor möglichen Gestaltungen von Seiten des Erblassers zu schützen. Die Verordnung berücksichtigt diese zwei Anliegen, ermöglicht grundsätzlich die Privatautonomie, beschränkt diese aber auf einen engen Rahmen. Die Privatautonomie kommt in der Verordnung auf zwei Arten zum 29 Paul Lagarde

35

Einleitung, Rn. 30–32

Ausdruck, indem sie dem zukünftigen Erblasser eine beschränkte Rechtswahl erlaubt, und indem sich zahlreiche Artikel den Verfügungen von Todes wegen und den Erbverträgen widmen.

a) Rechtswahl 30 Die Verordnung erlaubt dem Erblasser, das Staatsangehörigkeitsrecht

(oder das Recht einer von mehreren Staatsangehörigkeiten), das er zum Zeitpunkt seiner Rechtswahl oder zum Zeitpunkt seines Todes besitzt, zur Regelung seines gesamten Nachlasses zu wählen (Art. 17). Anders als das Haager Erbrechtsübereinkommen lässt die Verordnung die Wahl des Rechts des gewöhnlichen Aufenthaltsorts zum Zeitpunkt der Wahl nicht zu. Tatsächlich hätte eine solche Wahlmöglichkeit die größte Gefährdung für den Pflichtteil dargestellt. Es wäre ausreichend gewesen, wenn eine Person während ihres Lebens kurz ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Staat gehabt hätte, der keinen Pflichtteil kennt, um dieses Recht zu wählen. Damit könnte der Erblasser sich für die Zukunft die Option schaffen, über sein Vermögen zum Nachteil derjenigen zu verfügen, die gemäß dem Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers oder gemäß seinem Staatsangehörigkeitsrecht pflichtteilsberechtigt sind. 31 Die Begrenzung der Wahlmöglichkeit beugt diesem Einwand vor. Falls

ein Franzose mit gewöhnlichem Aufenthalt in London stirbt, ohne ein Testament errichtet zu haben, wird seine Rechtsnachfolge von Todes wegen durch das englische Recht geregelt, das keinen Pflichtteil kennt. Das ist derzeit zumindest für das bewegliche Vermögen die Lösung. Die Verordnung ermöglicht nun diesem Franzosen die Wahl des französischen Rechts, welches ein Noterbrecht anerkennt. Es gibt folglich von solch einer Wahl nichts zu befürchten. Falls es sich um einen Engländer handelt, der bei seinem Tod seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich hat, werden seine Erben durch das französische Noterbrecht gesichert, falls er keine Rechtswahl getroffen hat. Die Lage ändert sich, wenn er das englische Recht wählt. Aber wenn man den Engländern nicht eine Änderung ihres internen Rechts auferlegen wollte (was außerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen liegt), ist es nicht möglich, eine Wahl des englischen Rechts zu verbieten.

b) Verfügungen von Todes wegen und Erbverträge 32 Man kann die Privatautonomie auch mit der wichtigen Stellung in Ver36

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Einleitung, Rn. 33–35

bindung bringen, welche die Verordnung den Verfügungen von Todes wegen und den Erbverträgen einräumt (Art. 24-28). Die Verordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten natürlich nicht, solche Rechtsinstitute in ihre nationale Gesetzgebung einzuführen, die sie nicht kennen, insbesondere das gemeinschaftliche Testament und den Erbvertrag. Die Staaten müssen sie aber zumindest auf ihrem Gebiet anerkennen, wenn sie nach dem anwendbaren Recht wirksam sind. Der Vorteil, als wirksam angesehen zu werden, tritt bei letztwilligen 33 Verfügungen auf mehrere Arten zutage. In erster Linie ist das auf ihre materielle Wirksamkeit anwendbare Recht das, welches die Rechtsnachfolge von Todes wegen geregelt hätte, wenn der Erblasser zum Zeitpunkt der Verfügung gestorben wäre. Damit müssen die beteiligten Personen nicht den Tod des Erblassers abwarten, um zu wissen, ob die Verfügung unter Berücksichtigung des tatsächlich anwendbaren Erbrechts wirksam ist. Die gleiche Regel gilt für den Erbvertrag mit dem Unterschied, dass der Vertrag gemäß dem hypothetischen Erbstatut mehrerer Personen wirksam sein muss, falls er den Nachlass all dieser Personen betrifft.8 Zweitens ermöglicht die Verordnung dem Verfügenden oder den Par- 34 teien eines Erbvertrags, ihr Staatsangehörigkeitsrecht zum Zeitpunkt der letztwilligen Verfügung oder des Abschlusses des Vertrags zur Bestimmung ihrer bzw. seiner Wirksamkeit zu wählen. Und diese Autonomie wird für Erbverträge, die den Nachlass mehrerer Personen betreffen, noch verstärkt, weil die Wahl des anwendbaren Rechts sich nur auf das Staatsangehörigkeitsrecht einer dieser Personen zu diesem Zeitpunkt erstrecken kann. Schließlich übernimmt die Verordnung bezüglich der Formwirksamkeit 35 dieser Verfügungen im Wesentlichen die sehr vorteilhaften Alternativregelungen des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht.

8

Gleiche Lösung wie im schweizerischen Recht (Artikel 95 IPRG). S. ein erst kürzlich stattgefundener Anwendungsfall, Bundesgericht 29. Mai 2012, ATF 138 III 489, JdT 2013 II 210.

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Einleitung, Rn. 36–38

5. Der Einschluss der Verwaltung und der Abwicklung des Nachlasses in den Anwendungsbereich des Erbrechts 36 Das Prinzip der Einheitlichkeit des Erbrechts tritt – man könnte sagen

in vertikaler Weise – auch darin zu Tage, dass das Erbstatut alle erbrechtlichen Vorgänge von der Eröffnung des Nachlasses bis zu seiner Teilung als Ganzes regelt. Dies sieht Artikel 23 vor, indem er den Grundsatz aufstellt, dass das Erbrecht die „gesamte“ Rechtsnachfolge von Todes wegen umfasst, und in nicht abschließender Weise die Fragen aufzählt, die in seinen Anwendungsbereich fallen. Im Gegensatz zum Haager Übereinkommen vom 1. August 1989, das die Bestimmung des Anwendungsbereichs den vertragsschließenden Staaten überlassen hat, sieht die Verordnung vor, dass das maßgebliche Erbrecht auf den Übergang von Rechten, Vermögenswerten und Pflichten auf die Erben und Vermächtnisnehmer sowie auf die Befugnisse der Erben, Vermächtnisnehmer und Nachlassverwalter anwendbar ist.

37 Der Übergangs des Nachlasses ist eine der Fragen, bei denen es sehr

schwierig ist, die Staaten des kontinentalen Zivilrechts und die des common law aneinander anzugleichen, bzw. allgemeiner ausgedrückt: die Rechtsordnungen, die das Prinzip der Universalsukzession durch den Erben des Erblassers vorsehen, und denen, die das Prinzip der Nachfolge in einzelne Nachlassgegenstände beibehalten. Im ersten Fall erhält der Erbe ipso jure die Befugnis zur Verwaltung des Nachlasses, zumindest wenn er das Erbe nicht ausschlägt (wenn auch mit geringen Unterschieden). Im zweiten Fall wird der Nachlass von einem personel representative verwaltet. Dieser muss, auch wenn er vom Erblasser zur Vollstreckung seines Testaments ernannt wird, durch das Gericht in sein Amt eingeführt werden (grant of representation). Normalerweise ist er jedoch nicht dazu verpflichtet, sich um das Nachlassvermögen zu kümmern, das sich in einem anderen Staat befindet. Folglich ist es Aufgabe des Erbrechts, die Art der Übertragung von Vermögenswerten und die Zuteilung der Verwaltungs- und Abwicklungsbefugnisse festzulegen. 38 Es wird nicht immer einfach sein, die Wahrung dieser Lösung in Staa-

ten sicherzustellen, in denen Vermögenswerte belegen sind, falls sie dem zweiten der beschriebenen Systeme angehören. Die Besitzer des Nachlassvermögens werden zögern, es einer anderen Person als dem 38

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Einleitung, Rn. 39–43

personal representative auszuhändigen, der in dieser Eigenschaft gerichtlich anerkannt wurde. Die Verordnung sieht für das angerufene Gericht daher auch die Möglichkeit vor, in diesem Punkt das Erbrecht zu verdrängen und die Ernennung eines Verwalters vorzunehmen, falls das lokale Recht eine solche Ernennung fordert (Art. 29).

IV. Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden Die Bestimmungen über die Anerkennung und Vollstreckung von Ent- 39 scheidungen und öffentlichen Urkunden auf dem Gebiet der Rechtsnachfolge von Todes wegen bieten kaum Überraschungen. Das liegt daran, dass es den Autoren der Verordnung ausreichte, die in den anderen EU-Verordnungen existierenden Vorschriften, insbesondere die der Brüssel I-Verordnung in ihrer ursprünglichen Fassung mit minimalen Angleichungen wieder aufzunehmen. Wie in dieser Verordnung findet die Anerkennung von Entscheidungen 40 kraft Gesetzes ohne Rückgriff auf jegliches weiteres Verfahren statt, außer wenn die Anerkennung selbst Gegenstand eines Streits wird. Entsprechend derselben Verordnung, aber im Unterschied zur Brüs- 41 sel Ia-Verordnung und zu einigen anderen neueren Texten, hält die Verordnung das Exequatur-Verfahren vor jeglicher Vollstreckung der Entscheidung in einem anderen als dem ursprünglichen Mitgliedstaat aufrecht. Diesbezüglich gab es keinen Handlungsbedarf, der die Befreiung vom Exequatur-Verfahren rechtfertigt. Für öffentliche Urkunden wollte man die vielleicht unfreiwillig geschaf- 42 fene Unklarheit durch die Fassung der Brüssel IIa-Verordnung beseitigen, gemäß der Urkunden „unter denselben Bedingungen wie Entscheidungen anerkannt und für vollstreckbar erklärt“ werden (Art. 46). Falls sie unter denselben Bedingungen wie Entscheidungen anerkannt werden, würde dies bedeuten, dass sie nur aus den von der Verordnung vorgesehenen Gründen nicht anerkannt werden dürften (Art. 22 und 23), unter denen aber die Nichtigkeit des durch die öffentliche Urkunde festgestellte negotium nicht aufgeführt ist. Die Verordnung zerstreut diese Bedenken. Der terminologischen An- 43 Paul Lagarde

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Einleitung, Rn. 44–46

schaulichkeit halber beseitigt sie für öffentliche Urkunden den Begriff der Anerkennung und ersetzt ihn durch den der Annahme. Grundsätzlich unterscheidet sie exakt zwischen der formellen Beweiskraft, der Authentizität und der materiellen Wirksamkeit. Die erste richtet sich nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaates. Einwände gegen die zweite können nur vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaates geltend gemacht werden, während Einwände gegen die dritte vor dem Gericht geltend gemacht werden können, das für die Entscheidungen über den Nachlass zuständig ist (Art. 59).

V. Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses 44 Um seine Rechte am Nachlass geltend zu machen, muss der Erbe oder

Vermächtnisnehmer in der Lage sein, seinen Rechtsstatus zu beweisen. Zugleich muss der Berechtigte (Erbe, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter) seine Befugnisse nachweisen, um Nachlassvermögen in Besitz zu nehmen, es zum Verkauf anzubieten und alle Tätigkeiten zur Verwaltung des Nachlasses ausüben zu können. Das gilt in jedem nationalen Recht, aber aufgrund der Unterschiede in der Gesetzgebung erst recht für grenzüberschreitende Erbfälle. 45 Der Beweis der Erbenstellung und der diesbezüglichen Befugnisse wird

in der Regel durch die Herstellung eines geschriebenen Dokuments getätigt, dessen Eigenschaften und Ausstellungsvoraussetzungen durch das Recht eines jeden Staates festgelegt sind. Derzeit wird den nationalen Dokumenten, die zum Beweis der Rechtsstellung des Erben geeignet sind, durch die fehlende Angleichung des Rechts der Mitgliedstaaten jegliche internationale Glaubwürdigkeit entzogen. Der französische Notar, der eine beglaubigte Urkunde ausstellt, macht dies zumeist entsprechend dem französischen Recht oder entsprechend dem Recht, das seiner Ansicht nach gemäß dem französischen internationalen Privatrecht anwendbar ist, wobei das Risiko eines Fehlers besteht. Der deutsche Nachlassrichter, der einen Erbschein ausstellt, macht dies genauso, so dass die Dokumente im Fall eines französisch-deutschen Erbfalles nicht miteinander übereinstimmen werden. 46 Das Haager Übereinkommen vom 2. Oktober 1973 über die internatio-

nale Nachlassverwaltung hat bereits versucht, dieses Problem zu lösen, indem sie ein „internationales Zertifikat, das die zur Verwaltung des 40

Paul Lagarde

Einleitung, Rn. 47, 48

Nachlasses befugte(n) Person(en) bezeichnet“ einführen wollte. Aber diese Konvention ist nur zwischen drei Staaten, die heute Mitglieder der Europäischen Union sind, in Kraft getreten. Die Idee wurde jedoch durch die Verordnung wieder aufgenommen. Damit der Beweis der Erbenstellung in jedem Mitgliedstaat einfach erbracht werden kann, führt die Verordnung ein Europäisches Nachlasszeugnis ein. Es wird mit dem Ziel ausgestellt, in einem anderen Mitgliedstaat benutzt zu werden und enthält insbesondere die Rechtsstellung und die Rechte eines jeden Erben oder Vermächtnisnehmers sowie die Nachlassverwalter und ihre Befugnisse. Diese Art des Beweises ist jedoch nur eine Möglichkeit, die den Erben 47 angeboten wird. Sie können sich auch mit Beweisen des nationalen Rechts zufriedengeben. Der Vorteil der Inanspruchnahme eines Europäischen Nachlasszeugnisses liegt allerdings in seiner Anerkennung in allen Mitgliedstaaten von Rechts wegen und der an ihm haftenden Gutglaubenswirkung. Es beweist die Rechtsstellung des Erben und Vermächtnisnehmers sowie die Befugnisse des Testamentsvollstreckers und sonstiger Verwalter. Dritte Personen, wie zum Beispiel Bankmitarbeiter, die in gutem Glauben das Nachlassvermögen dem Zeugnisinhaber überlassen, sind von der Haftung befreit, und jene Personen, die etwas aus dem Nachlassvermögen vom Inhaber eines Nachlasszeugnisses erhalten, werden so behandelt, als wenn sie von einem zur Verfügung über das betreffende Vermögen Berechtigten erworben haben (Art. 69). Gemäß diesem Artikel stellt das Zeugnis auch „ein wirksames Schriftstück für die Eintragung des Nachlassvermögens in das einschlägige Register eines Mitgliedstaats dar“. Diese Bestimmung muss aber mit dem Ausschluss der „Art der dinglichen Rechte“ sowie jeder „Eintragung von Rechten an beweglichen oder unbeweglichen Vermögensgegenständen in einem Register, einschließlich der gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Eintragung“ sowie der „Wirkungen der Eintragung oder der fehlenden Eintragung solcher Rechte in einem Register“ (Art. 1 Abs. 2 lit. k und l) aus dem Anwendungsbereich der Verordnung kombiniert werden, also mit der faktischen Unterwerfung unter die lex rei sitae. Das Zeugnis ist in der Verordnung in Bezug auf seinen Zweck, seine 48 Ausstellung, seinen Inhalt, seine Wirkungen und die Voraussetzungen für eine Berichtigung, Änderung oder den Widerruf sowie die RechtsPaul Lagarde

41

Einleitung, Rn. 49, 50

behelfe, denen es ausgesetzt ist, sehr detailliert geregelt (Art. 62-73). Es wird in dem Mitgliedstaat ausgestellt, dessen Gerichte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig sind, entweder durch ein Gericht dieses Staates oder durch „eine andere Behörde, die nach innerstaatlichem Recht für Erbsachen zuständig ist“ (Art. 64). Dies schließt insbesondere Notare ein. Die Verordnung sieht die Erstellung eines einheitlichen Musters sowohl für die Anforderung dieses Zeugnisses als auch für das Zeugnis an sich vor (Art. 80). Dies müsste es den Gerichten der unterschiedlichen Staaten ermöglichen, das Zeugnis trotz unterschiedlicher Sprachen einzuordnen. 49 Die Verordnung bindet alle Mitgliedstaaten, darunter auch Kroatien,

weil sie Teil dessen ist, was einst als gemeinschaftlicher Besitzstand bezeichnet wurde. Dänemark, das die Anwendung der im dritten Teil unter Überschrift V des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehenen Maßnahmen (Raum der Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit) ausgeschlossen hat,9 sowie das Vereinigte Königreich und Irland, die die Verordnung nicht verabschieden wollten, aber die Möglichkeit behalten, sie später zu übernehmen,10 bleiben allerdings außerhalb des vereinheitlichten Bereichs und müssen im Sinne dieser Verordnung als Drittstaaten betrachtet werden.11 50 Die Verordnung tritt in den von ihr gebundenen Staaten gleichzeitig

und in gleicher Weise in Kraft. Gemäß Artikel 83 Absatz 1 findet sie auf „die Rechtsnachfolge von Personen Anwendung, die am 17. August 2015 oder danach verstorben sind“. Zudem sind Übergangsregelungen geplant, um die früher getroffenen Rechtswahlen und die bereits errichteten Verfügungen von Todes wegen für gültig zu erklären. Sie bleiben wirksam, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die durch Kapitel III oder durch nationale Vorschriften, die im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts oder der Staatsangehörigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt ihrer Errichtung in Kraft gewesen sind, festgelegt sind. 9

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11

42

S. das Protokoll Nr. 22 über den Vertrag der Arbeitsweise der Europäischen Union. S. das Protokoll Nr. 21 über den Vertrag der Arbeitsweise der Europäischen Union. Siehe Bergquist in Art. 39 Rn. 3 und Odersky in Art. 4 Rn. 12, andere Auffassung aber bei Frimston, Art. 3 Rn. 44.

Paul Lagarde

Artikel 1

Kapitel I: Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen Artikel 1: Anwendungsbereich (1) Diese Verordnung ist auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden. Sie gilt nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten. (2) Vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen sind: a) der Personenstand sowie Familienverhältnisse und Verhältnisse, die nach dem auf diese Verhältnisse anzuwendenden Recht vergleichbare Wirkungen entfalten; b) die Rechts-, Geschäfts- und Handlungsfähigkeit von natürlichen Personen, unbeschadet des Artikels 23 Absatz 2 Buchstabe c und des Artikels 26; c) Fragen betreffend die Verschollenheit oder die Abwesenheit einer natürlichen Person oder die Todesvermutung; d) Fragen des ehelichen Güterrechts sowie des Güterrechts aufgrund von Verhältnissen, die nach dem auf diese Verhältnisse anzuwendenden Recht mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfalten; e) Unterhaltspflichten ausser derjenigen, die mit dem Tod entstehen; f) die Formgültigkeit mündlicher Verfügungen von Todes wegen; g) Rechte und Vermögenswerte, die auf andere Weise als durch Rechtsnachfolge von Todes wegen begründet oder übertragen werden, wie unentgeltliche Zuwendungen, Miteigentum mit Anwachsungsrecht des Überlebenden (joint tenancy), Rentenpläne, Versicherungsverträge und ähnliche Vereinbarungen, unbeschadet des Artikels 23 Absatz 2 Buchstabe i; h) Fragen des Gesellschaftsrechts, des Vereinsrechts und des Rechts der juristischen Personen, wie Klauseln im Errichtungsakt oder in der Satzung einer Gesellschaft, eines Vereins oder einer juristischen Person, die das Schicksal der Anteile verstorbener Gesellschafter beziehungsweise Mitglieder regeln; i) die Auslösung, das Erlöschen und die Verschmelzung von Gesellschaften, Vereinen oder juristischen Personen; j) die Errichtung, Funktionsweise und Auflösung eines Trusts; k) die Art der dinglichen Rechte und l) jede Eintragung von Rechten an beweglichen oder unbeweglichen Vermögensgegenständen in einem Register, einschliesslich der gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Eintragung, sowie die Wirkun-

Richard Frimston

43

Artikel 1, Rn. 1–3

gen der Eintragung oder der fehlenden Eintragung solcher Rechte in einem Register. I. Übersicht II. Rechtsnachfolge von Todes wegen III. Nichtanwendung auf Steuerund Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten Besondere Ausnahmen 1. Personenstand und Familienverhältnisse 2. Rechtsfähigkeit von natürlichen Personen 3. Verschollenheit oder Abwesenheit 4. Eheliches Güterrecht

1 8

12 15 19 23 25

5. Unterhaltspflichten 6. Formgültigkeit mündlicher Verfügungen von Todes wegen 7. Unentgeltliche Zuwendungen, Rentenpläne, Versicherungsverträge 8. Gesellschaftsrecht 9. Auflösung von Gesellschaften 10. Trusts 11. Art der dinglichen Rechte 12. Eintragung in einem Register

31 34 42 49 53 56 61 68

I. Übersicht 1 Kapitel 1 der Verordnung, bestehend aus den Artikeln 1 bis 3, regelt den

Anwendungsbereich der Verordnung und enthält einige Begriffsbestimmungen. 2 Artikel 1 enthält den Schlüssel zur Auslegung der Verordnung, indem

er den Anwendungsbereich der Verordnung definiert. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass kein Teil der Verordnung anwendbar ist, wenn eine Frage außerhalb ihres definierten Anwendungsbereichs liegt. Deshalb könnten sich z.B. Teile der Verordnung inhaltlich auch auf Steuerfragen beziehen, da aber Steuer- und Zollsachen außerhalb des Anwendungsbereich der Verordnung liegen, kann diese Steuern nie direkt beeinflussen. 3 Nach Auffassung des EuGH muss die Auslegung der EU-Verordnungen

nach unabhängigen, unionsweiten, autonomen Prinzipen erfolgen. Eine unabhängige Auslegung ist erforderlich, um eine gleiche und einheitliche Verwendung der Verordnung zu sichern.1

1

44

C-29/76 in Verbindung mit der Brüssel Ia-Verordnung.

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Artikel 1, Rn. 4–11

Der EuGH schaut dabei zunächst auf die Zwecke und die Systematik 4 der jeweiligen Verordnung und ergänzend auf die allgemeinen Prinzipien, die auf der Gesamtheit der nationalen Rechtssysteme beruhen.2 Im Bereich des Erbrechts wird es vermutlich schwieriger als in jedem 5 anderen Bereich allgemeine Prinzipen aus der Gesamtheit der nationalen Rechtssysteme abzuleiten. Beispielsweise unterscheidet sich die Haltung der Mitgliedstaaten zu ordre public-Fragen sehr und wird vermutlich auch den EuGH vor einige Probleme stellen. Art. 1 Abs. 1 hat Art. 1 Abs. 1 Brüssel Ia-Verordnung zum Vorbild, je- 6 doch mit einigen Begrenzungen. Die Gesamtheit des Europäischen Rechtsrahmens beruht auf einer Ket- 7 te an Verordnungen, wobei diese jeweils systematisch so aufgebaut sind, dass eine Rechtskategorie, die von einer Verordnung geregelt ist, vom Anwendungsbereich der anderen ausgenommen wird.

II. Rechtsnachfolge von Todes wegen Der Begriff der Rechtsnachfolge von Todes wegen ist in Artikel 3 Abs. 1 8 lit. a definiert, nicht aber der Begriff des Nachlasses. Im „EUR-Lex – Gemeinsamer Leitfaden für Personen, die in den Ge- 9 meinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken“3 ist klargestellt, dass es Aufgabe der Erwägungsgründe ist, konzise Gründe für die wichtigsten Regeln der Verordnung zu bestimmen, ohne die Artikel zu wiederholen oder umzuschreiben. Die Einleitung darf nicht normative Vorschriften oder politische Aufforderungen enthalten. Die Verordnung wurde unter Berufung auf Art. 81 des Vertrages über 10 die Arbeitsweise der EU im Bereich der rechtlichen Zusammenarbeit erlassen. Die Zwecke der Verordnung, die in den Erwägungsgründen 1 bis 9 auf- 11 geführt sind, umfassen unter anderem das reibungslose Funktionieren 2 3

C-29/76 Rn. 3. http://eur-lex.europa.eu/techleg/index.html.

Richard Frimston

45

Artikel 1, Rn. 12–16

des Binnenmarkts und die Erweiterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen auf die Bereiche Erbrecht und Testament, die den Alltag der Bürger wesentlich prägen.

III. Nichtanwendung auf Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten 12 Die Ausnahme von Steuer- und Zollsachen sowie von verwaltungs-

rechtlichen Angelegenheiten hat Art. 1 Brüssel Ia-Verordnung als Vorlage, jedoch mit weniger Begrenzungen. 13 Erwägungsgrund 10 stellt dazu fest: „Daher sollte das innerstaatliche

Recht bestimmen, wie beispielsweise Steuern oder sonstige Verbindlichkeiten öffentlich-rechtlicher Art berechnet und entrichtet werden, seien es vom Erblasser im Zeitpunkt seines Todes geschuldete Steuern oder Erbschaftssteuern jeglicher Art, die aus dem Nachlass oder von den Berechtigten zu entrichten sind. Das innerstaatliche Recht sollte auch bestimmen, ob die Freigabe des Nachlassvermögens an die Berechtigten nach dieser Verordnung oder die Eintragung des Nachlassvermögens in ein Register nur erfolgt, wenn Steuern gezahlt werden.“4 14 Wann immer die Anwendung der Verordnung in Betracht gezogen wird,

muss man sich – auch wenn sich das von selbst versteht – daran erinnern, dass jede Frage außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung nicht von den Regeln der Verordnung bestimmt wird.

IV. Besondere Ausnahmen 1. Personenstand und Familienverhältnisse 15 Art. 1 Abs. 2 lit. a hat Teile des Art. 1 Abs. 2 lit. a der Brüssel Ia-Ver-

ordnung als Vorlage, jedoch mit einigen Erweiterungen. 16 Der Begriff „Familienverhältnisse“ ist nicht definiert, aber mit der Phra-

se „Verhältnisse, die nach dem auf diese Verhältnisse anzuwendenden 4

46

Die Ausnahme von Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten kann gegen die Ausnahme in dem 1989 Haager Erbrechtsübereinkommen (siehe Waters-Bericht Absatz 38) kontrastiert werden.

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Artikel 1, Rn. 17–22

Recht vergleichbare Wirkungen entfalten“ ist vermutlich beabsichtigt, Eltern-Kind-Verhältnisse und andere Abstammungsverhältnisse wie z.B. durch Adoption u. ä. einzuschließen. Verhältnisse, die zu Ehen vergleichbar sind, sollen vermutlich offiziell anerkannte Formen von Partnerschaften umfassen, unabhängig davon, ob diese zwischen Personen des gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts bestehen. Damit werden z.B. eingetragene Partnerschaften in Deutschland, Holland, Irland und Großbritannien umfasst. Es wird Aufgabe der Gerichte des Forumstaates sein, bei Anwendung seines eigenen internationales Privatrecht festzustellen, welches Recht auf solche Verhältnisse anwendbar ist. Die Frage, ob ein besonderes Familienverhältnis existiert, liegt außer- 17 halb des Anwendungsbereichs der Verordnung. Jeder Mitgliedstaat muss deswegen seine eigenen nationalen Regeln auf diese Frage anwenden. Obwohl die Verordnung die Zuständigkeit und das anwendbare Erb- 18 recht bestimmt, bedeutet dies, dass Umstände vorliegen können, bei denen sich jeweils unterschiedliche Personen als Erben nach dem nationalen Recht jedes Mitgliedstaats qualifizieren können.

2. Rechtsfähigkeit von natürlichen Personen Lit. b hat Teile von Art. 1 Abs. 2 lit. b der Brüssel Ia-Verordnung als 19 Vorlage, doch mit einigen Erweiterungen. Diese Ausnahme sollte auch dem Haager Erbrechtsübereinkommen 20 von 1989 gegenübergestellt werden, welches die Testierfähigkeit in Artikel 1 Abs. 2 lit. b vom Anwendungsbereich ausnimmt. Die Verordnung macht im Gegensatz dazu keine Ausnahme für die in 21 Art. 23 Abs. 2 lit. c geregelte Erbfähigkeit und über die in Art. 26 geregelte Fähigkeit, eine letztwillige Verfügung zu errichten. Fragen von Täuschung, Nötigung, Irrtum oder Zwang werden generell 22 nicht der Rechtsfähigkeit einer Person zugerechnet, sondern als Fragen der Willensbildung betrachtet. Manche Staaten könnten dies aber als Fragen, die mit der Rechtsfähigkeit einer Person zusammenhängen, betrachten. Das nach Art. 24 auf die materielle Wirksamkeit letztwilliger Richard Frimston

47

Artikel 1, Rn. 23–28

Verfügungen anwendbare Recht regelt nun aber sämtliche dieser Fragen, unabhängig davon wie sie national qualifiziert werden.5

3. Verschollenheit oder Abwesenheit 23 Absatz 2 lit. c hat keine spezielle Vorlage. 24 Die Zuständigkeit, das Verfahren und das anzuwendende Recht bei Fra-

gen zur Verschollenheit einer Person oder einer Todesvermutung werden damit nach den sehr unterschiedlichen nationalen Gesetzen der Mitgliedstaaten behandelt.

4. Eheliches Güterrecht 25 Lit. d hat Teile von Art. 1 Abs. 2 lit. a der Brüssel Ia-Verordnung als

Vorlage, ist jedoch etwas spezifischer definiert. 26 Lit. d folgt auch Artikel 1 Abs. 2 lit. c des Haager Erbrechtsübereinkom-

mens von 1989. 27 Die Formulierung „Verhältnisse, die nach dem auf diese Verhältnisse

anzuwendenden Recht mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfalten“, beabsichtigt, eheähnliche Verhältnisse einzuschließen, d.h. offiziell anerkannte Formen von Partnerschaften, unabhängig ob sie zwischen Personen des gleichen Geschlechts oder unterschiedlichen Geschlechts bestehen (wie z.B. eingetragene Lebenspartner in Deutschland, Holland, Irland und Großbritannien). Es bleibt Aufgabe der Gerichte des jeweiligen Forumstaates, unter Anwendung des jeweiligen internationalen Privatrechts festzustellen, welches Recht auf solche Verhältnisse anwendbar ist. 28 Die international-privatrechtlichen Fragen des Güterrechts werden von

den vorgeschlagenen Verordnungen KOM (2011) 126 und KOM (2011) 127 behandelt werden. Nach Art. 3 des Entwurfs dieser Verordnungen sollen die Gerichte, die nach der Erbrechtsverordnung international zuständig sind, auch für Entscheidungen zum ehelichen Güterrecht oder zu anderen in der Verordnung definierten Formen ehelichen Eigentums 5

48

Vgl. Absatz 43 des Waters-Bericht.

Richard Frimston

Artikel 1, Rn. 29–34

zuständig sein, wenn diese im Zusammenhang mit der Erbschaft des verstorbenen Ehegatten oder registrierten Partners stehen. Angemerkt werden kann dazu, dass die Verordnung KOM (2011) 126 29 auf die Güterrechts- und Eigentumsverhältnisse, die sich aus einer Ehe ergeben, anzuwenden ist, unabhängig davon, ob es sich um eine Ehe zwischen gemischtgeschlechtlichen oder gleichgeschlechtlichen Personen handelt. Entsprechend ist KOM (2011) 127 auf das Güterrecht bei eingetragenen Partnern anzuwenden, unabhängig davon, ob das Partnerschaftsverhältnis zwischen gleichgeschlechtlichen oder gemischtgeschlechtlichen Personen besteht. In den endgültigen Verordnungen können sich aber selbstverständlich noch Abweichungen zu den Vorschlägen der EU-Kommission ergeben. Unabhängig davon weist Erwägungsgrund 12 darauf hin, dass die Be- 30 hörde, die mit einer bestimmten Erbsache nach dieser Verordnung befasst ist, je nach den Umständen des Einzelfalls die Beendigung des ehelichen oder sonstigen Güterstands des Erblassers bei der Bestimmung des Nachlasses und der jeweiligen Anteile der Berechtigten berücksichtigten soll.

5. Unterhaltspflichten Lit. e hat Teile von Art. 1 Abs. 2 lit. c der Brüssel Ia-Verordnung als 31 Vorlage, jedoch mit einigen Begrenzungen. Diese Fragen sind nun in der EU-Unterhaltsverordnung 4/2009 und im 32 Haager Protokoll 39 vom 23. November 2007 behandelt. Ob eine Unterhaltspflicht aufgrund eines Todesfalls oder einer anderen 33 Ursache entsteht, wird im Normalfall klar sein. Das anzuwendende Erbrecht wird Unterhaltspflichten, die aufgrund eines Todesfalls entstehen, regeln.

6. Formgültigkeit mündlicher Verfügungen von Todes wegen 34

Lit. f hat keine besondere Vorlage.

Richard Frimston

49

Artikel 1, Rn. 35–40

35 Die Definition des Begriffs „Verfügungen von Todes wegen“ ist in Art. 3

Abs. 1 lit. d enthalten. 36 In der Mehrheit der Mitgliedstaaten werden Fragen der Formgültigkeit

von Verfügungen von Todes wegen gemäß dem Haager Testamentsformübereinkommen von 1961 geregelt. Artikel 10 dieses Übereinkommens erlaubt es den Teilnahmestaaten, sich vorzubehalten, mündliche Verfügungen von Todes wegen nicht anzuerkennen. Viele Teilnahmestaaten haben von diesem Recht auch Gebrauch gemacht. 37 Auch wenn die Erbrechtsverordnung – wie sich aus Kapitel VII ergibt –

in Erbsachen zwischen den Mitgliedstaaten das Haager Übereinkommen von 1961 überlagert, gilt dies nicht, wenn es um die Formgültigkeit mündlicher Verfügungen von Todes wegen geht. Solche Verfügungen werden also in manchen Fällen noch vom Haager Testamentsformübereinkommen geregelt. 38 Das Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989 definiert einen Erbver-

trag als schriftlich errichteten Vertrag. Es ist nicht ganz klar, ob eine Verfügung von Todes wegen schriftlich errichtet sein muss, um innerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung zu liegen, oder ob es ausreichend ist, dass sie schriftlich nachgewiesen ist. Nach Ansicht des Verfassers muss die Verfügung jedoch schriftlich errichtet werden, da eine mündliche Verfügung außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung liegt, auch wenn sie später schriftlich dokumentiert wird. Es wird jedoch Fälle geben, bei denen der Unterschied zwischen einer schriftlichen Verfügung und einer schriftlich nachgewiesenen Verfügung nicht einfach feststellbar ist. 39 Ob eine Frage der Formgültigkeit oder der materiellen Wirksamkeit be-

troffen ist, muss vom zuständigen Gericht entschieden werden. Dies wird aber nur relevant werden, wenn das anzuwendende Recht gemäß Artikel 22 gewählt wurde, so dass dieses Recht nicht das Recht des Forums ist. 40 Die Frage der Formgültigkeit mündlicher Verfügungen von Todes we-

gen wird nach den nationalen Gesetzen jedes zuständigen Mitgliedstaats entschieden.

50

Richard Frimston

Artikel 1, Rn. 41–46

In derselben Weise erfolgt eine testamentarische Regelung über andere 41 Fragen als Erbsachen, z.B. zur Ernennung eines Vormunds für ein Kind, außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung; sie könnte aber innerhalb des Anwendungsbereichs des Haager Testamentsformübereinkommens von 1961 liegen.

7. Unentgeltliche Zuwendungen, Rentenpläne, Versicherungsverträge Lit. g hat Artikel 1 Abs. 2 lit. d des Haager Erbrechtsübereinkommens 42 von 1989 als Vorlage, ergänzt dies jedoch um die spezifische Ausnahme der Ausgleichung und Anrechnung unentgeltlicher Zuwendungen bei der Bestimmung der Erbanteile gemäß Artikel 23 Abs. 2 lit. i der Verordnung. Wie in Erwägungsgrund 14 beschrieben, sind damit unentgeltliche Zu- 43 wendungen und das Anwachsungsrecht eines überlebenden Miteigentümers vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen, jedoch mit der erwähnten Ausnahme in Artikel 23 Abs. 2 lit. i. Für diese erbrechtlichen Wirkungen der unentgeltlichen Zuwendungen wird das anzuwendende Recht von Art. 23 bestimmt. Absatz 4.1 des Erklärenden Memorandums stellt fest, dass die in Ab- 44 satz 2 lit. g genannte Ausnahme der Verordnung nicht nur die verschiedenen Formen von Miteigentum (joint tenancy) nach angelsächsischem Recht umfasst, sondern auch alle vergleichbaren Formen von unentgeltlichen Zuwendungen nach kontinentalem Recht. Es ist offensichtlich wichtig, festzustellen, ob spezielle Rechtsarten von 45 der Ausnahme des Absatz 2 lit. g umfasst sind oder nicht. Da diese Beurteilung auf dem Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989 gründet, ist es behilflich, den Waters-Bericht in einigen Einzelheiten zu berücksichtigen. Absatz 46 des Waters-Berichts stellt fest, dass alle Transaktionen mit 46 Finanzinstituten aller Arten ausdrücklich ausgenommen sind. Um dies zweifellos festzustellen, bedeutet dies, dass z.B. viele Bankkonten mit Bezugsberechtigung – an denen der Inhaber ein lebenslanges Recht behält, zugleich aber ein Begünstigter zum Kontoinhaber im Fall des ToRichard Frimston

51

Artikel 1, Rn. 47, 48

des des ursprünglichen Inhabers bestimmt wird – außerhalb des Anwendungsbereichs des Übereinkommens liegen, so dass Finanzinstitute in Ausführung dieser Verpflichtungen nicht von dem Übereinkommen berührt werden. 47 Absatz 46 führt weiter aus, dass die grundsätzliche Schwierigkeit für die

Kommission darin bestand, dass der Erbvertrag ein Begriff des kontinentalen Rechts ist, und dass das common law diesen Bereich nur mit den Begriffen der testamentarischen bzw. nicht testamentarischen Verfügung behandelt. Weiter in Absatz 92 heißt es: Im common law gibt es eine Anzahl sogenannter „Testamentssubstitute“ bzw. nicht-testamentarischer Vermögensverfügungen, die als Verfügungen inter vivos angesehen werden. Solche Verfügungen erhalten eine immer größere finanzielle Bedeutung in allen wirtschaftlich weit entwickelten Staaten des common law. Dies umfasst inter vivos-Trusts, gemeinsame Bankkonten mit Anwachsungsrecht des überlebenden Inhabers, Lebensversicherungen mit Bestimmung eines Bezugsberechtigten beim Tod des Versicherungsnehmers und Beitragszahlers sowie Rentenpläne, bei denen ein bestimmter Begünstigter die Rentenauszahlungen in der Form einer gemeinsamen Leibrente mit Fortzahlung im Todesfall eines anderen Begünstigten erhält. Es gibt ferner ein fünftes Testamentssubstitut in der Form einer „joint tenancy“ an Vermögensgegenständen (typisch bei Ehegatten am gemeinsamen Familienheim), d.h. mit dem Recht des überlebenden Eigentümers/Ehegatten den ganzen Vermögensgegenstand zu übernehmen. Keine dieser Rechtskonstruktionen wird als „Verfügung von Todes wegen“ angesehen, und soll auch nicht so verstanden werden. Art. 1 Abs. 2 lit. d ist so formuliert, diese Testamentssubstitute zu erfassen und zu unterstreichen, dass die Verordnung in keiner Weise diese Fallgruppen betrifft. Auch wenn Art. 1 Abs. 2 lit. d einen sehr breiten Anwendungsbereich bezüglich aller inter vivos-Dispositionen inklusive Schenkungen hat, können diese aber selbstverständlich nach dem gemäß Art. 7 Abs. 2 lit. c anwendbaren Erbrecht eine Pflicht zur Ausgleichung und Anrechnung bei der Bestimmung der Anteile der einzelnen Berechtigten mit sich bringen. Aber auch dann regelt das Übereinkommen in keiner Weise die Gültigkeit solcher Schenkungen oder ihrer sonstiger Wirkungen bzw. das Erlöschen dieser Wirkungen. 48 Diese Überlegungen sind auch auf Art. 1 Abs. 2 lit. g der Erbrechtsver52

Richard Frimston

Artikel 1, Rn. 49–57

ordnung zutreffend. Alle „Testamentssubstitute“ sind daher in gleicher Weise ausgenommen.

8. Gesellschaftsrecht Lit. h hat Art. 1 Abs. 2 lit. f Rom I-Verordnung und Art. 1 Abs. 2 lit. d 49 Rom II-Verordnung als Vorlage, jedoch mit einigen Änderungen, um an Erbsachen angepasst zu werden. Es gibt keine Hinweise zu dieser Ausnahme im Erklärenden Memoran- 50 dum oder in den Erwägungsgründen. Ob eine Frage als gesellschaftsrechtlich oder erbrechtlich behandelt 51 wird, ist vom nationalen Recht des zuständigen Gerichts zu bestimmen. Diese Ausnahme muss auch im Zusammenhang mit der Übertragung 52 von Unternehmen im Sinne des Art. 30 der Erbrechtsverordnung beachtet werden. Denn solche Übertragungen können generell aus dem Anwendungsbereich der Verordnung fallen.

9. Auflösung von Gesellschaften Lit. i hat keine besondere Vorlage, stellt aber ein Spiegelbild zu den Re- 53 geln in Abs. 2 lit. j für Trusts dar. Es gibt keine Hinweise zu dieser Ausnahme im Erklärenden Memoran- 54 dum oder in der Einleitung. Ob eine Frage als gesellschaftsrechtlich oder erbrechtlich behandelt 55 werden muss, ist vom nationalen Recht des zuständigen Gerichts zu bestimmen.

10. Trusts 56

Lit. j hat keine besondere Vorlage.

Gemäß Erwägungsgrund 13 soll Absatz 2 lit. j nicht als genereller Aus- 57 schluss von Trusts verstanden werden: Wird ein Trust testamentarisch oder aber kraft Gesetzes im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge errichtet, Richard Frimston

53

Artikel 1, Rn. 58–63

soll im Hinblick auf den Übergang der Vermögenswerte und die Bestimmung der Berechtigten das nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht gelten. 58 Absatz 4.1 des Erklärenden Memorandums stellt dasselbe fest: Die Aus-

nahme der Trusts stellt kein Hindernis dar, das nach dieser Verordnung für Erbsachen geltende Recht anzuwenden. 59 Die Ausnahme von Trusts ist verständlich, weil die Verordnung die Ei-

gentumssysteme generell nicht beeinträchtigen soll, v.a. nicht die unterschiedlichen Kategorien von Eigentumsrechten. Es gibt bisher keine Verordnung, die die international-privatrechtlichen Fragen für Trusts regelt, wobei diese aber in dem Haager Trustübereinkommen von 1985 behandelt werden. 60 Im Vergleich mit anderen Haager Übereinkommen, z.B. dem Haager

Übereinkommen für den internationalen Schutz für Erwachsene aus dem Jahr 2000 sollte die Ausnahme restriktiv ausgelegt und auf Regeln, die die Funktion von Trusts betreffen, eingeschränkt werden.

11. Art der dinglichen Rechte 61 Lit. k hat keine besondere Vorlage. 62 Gemäß Erwägungsgrund 15 ist Grund für diese Ausnahme, dass die

Verordnung nicht die abschließende Anzahl (numerus clausus) der dinglichen Rechte berühren soll, die das innerstaatliche Recht einiger Mitgliedstaaten kennt. Ein Mitgliedstaat soll nicht verpflichtet sein, ein dingliches Recht an einer in diesem Staat belegenen Sache anzuerkennen, wenn sein Recht dieses Recht nicht kennt. 63 Das Erklärende Memorandum behandelt diese Frage eingehend. Ab-

satz 4.1 erläutert die Ausnahme in der Weise, dass die Verordnung auf den Erwerb dinglicher Rechte am Nachlassvermögen anwendbar ist, nicht aber auf den Inhalt solcher Rechte. Die Verordnung berührt nicht den numerus clausus der Eigentumsrechte in den Mitgliedstaaten, die Klassifizierung von Eigentum und anderer dinglicher Rechte, und die Feststellung von Sonderrechten des Inhabers solcher Rechte. Demnach ist es grundsätzlich nicht möglich, ein dingliches Recht zu begründen 54

Richard Frimston

Artikel 1, Rn. 64–71

oder zu ändern, ohne dass das Gesetz des Staats, in dem sich der Gegenstand befindet, ein solches dingliches Recht kennt. Beispielsweise kann ein Nießbrauch nicht in einem Staat, der ein solches Recht nicht kennt, eingeführt werden. Diese Ausnahme berührt jedoch nicht die Übertragung solcher dinglichen Rechte, die von dem Mitgliedstaat, in dem sich der Gegenstand befindet, anerkannt werden. Diese Ausnahme soll jedoch nicht die Anpassung von dinglichen Rech- 64 ten nach Artikel 31, wie in Erwägungsgrund 16 beschrieben, verhindern. Das heißt auch wenn die Art (Inhalt) der dinglichen Rechte vom An- 65 wendungsbereich der Verordnung ausgenommen ist, ist die notwendige Anpassung solcher Rechte nicht ausgenommen. Die Grenzen zwischen diesen beiden Fragen können im Einzelfall un- 66 klar sein, bis sie vom EuGH festgestellt sind. Um Unsicherheit zu vermeiden, stellt Erwägungsgrund 17 fest, dass die 67 in der Verordnung ausdrücklich vorgesehene Anpassung unbekannter dinglicher Rechte andere Formen der Anpassung im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Verordnung nicht ausschließen sollte.

12. Eintragung in einem Register 68

Lit. l hat keine besondere Vorlage.

Das Erklärende Memorandum Absatz 4.1 stellt fest, dass die Eintragung 69 von Eigentumsrechten, insbesondere die Funktion des Grundbuchs und die Wirkungen einer Eintragung oder einer unterlassenen Eintragung im Grundbuch, ausgenommen sind. Die Anzahl und der Umfang der relevanten Erwägungsgründe verdeut- 70 lichen, dass dieser Absatz bei den Verhandlungen auch zu politischen Schwierigkeiten geführt hat. Erwägungsgrund 18 behandelt umfassend die Frage der Eintragung in 71 einem Register: „Die Voraussetzungen für die Eintragung von Rechten an beweglichen oder unbeweglichen Vermögensgegenständen in einem Richard Frimston

55

Artikel 1, Rn. 72, 73

Register sollten aus dem Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen werden. Somit sollte das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register (für unbewegliches Vermögen das Recht der belegenen Sache (lex rei sitae)) geführt wird, bestimmen, unter welchen gesetzlichen Voraussetzungen und wie die Eintragung vorzunehmen ist und welche Behörden wie etwa Grundbuchämter oder Notare dafür zuständig sind zu prüfen, dass alle Eintragungsvoraussetzungen erfüllt sind und die vorgelegten oder erstellten Unterlagen vollständig sind bzw. die erforderlichen Angaben enthalten. Insbesondere können die Behörden prüfen, ob es sich bei dem Recht des Erblassers an dem Nachlassvermögen, das in dem für die Eintragung vorgelegten Schriftstück erwähnt ist, um ein Recht handelt, das als solches in dem Register eingetragen ist oder nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, anderweitig nachgewiesen wird. Um eine doppelte Erstellung von Schriftstücken zu vermeiden, sollten die Eintragungsbehörden diejenigen von den zuständigen Behörden in einem anderen Mitgliedstaat erstellten Schriftstück annehmen, deren Verkehr nach dieser Verordnung vorgesehen ist. Insbesondere sollte das nach dieser Verordnung ausgestellte Europäische Nachlasszeugnis im Hinblick auf die Eintragung des Nachlassvermögens in ein Register eines Mitgliedstaats ein gültiges Schriftstück darstellen. Dies sollte die an der Eintragung beteiligten Behörden nicht daran hindern, von der Person, die die Eintragung beantragt, diejenigen zusätzlichen Angaben oder die Vorlage derjenigen zusätzlichen Schriftstücke zu verlangen, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, erforderlich sind, wie beispielsweise Angaben oder Schriftstücke betreffend die Zahlung von Steuern. Die zuständige Behörde kann die Person, die die Eintragung beantragt, darauf hinweisen, wie die fehlenden Angaben oder Schriftstücke beigebracht werden können.“ 72 Es muss dabei daran erinnert werden, dass Steuersachen in jedem Fall

vom Anwendungsbereich der Verordnung nach Art. 1 Abs. 1 ausgenommen sind. 73 Erwägungsgrund 19 behandelt die ausgenommenen Wirkungen einer

Eintragung von Rechten in einem Register: „Daher sollte das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, dafür maßgebend sein, ob beispielsweise die Eintragung deklaratorische oder konstitutive Wirkung hat. Wenn also zum Beispiel der Erwerb eines Rechts an einer 56

Richard Frimston

Artikel 2, Rn. 1–5; Artikel 3

unbeweglichen Sache nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, die Eintragung in einem Register erfordert, damit die Wirkung erga omnes von Registern sichergestellt wird oder Rechtsgeschäfte geschützt werden, sollte der Zeitpunkt des Erwerbs dem Recht dieses Mitgliedstaats unterliegen.“ Artikel 2: Zuständigkeit in Erbsachen innerhalb der Mitgliedstaaten Diese Verordnung berührt nicht die innerstaatlichen Zuständigkeiten der Behörden der Mitgliedstaaten in Erbsachen.

1

Artikel 2 hat keine besondere Vorlage.

Es gibt weder in dem Erklärenden Bericht noch in den Erwägungsgrün- 2 den Hinweise zu diesem Artikel. Der Zweck des Artikels ist in erster Linie ein deklaratorischer, indem er 3 die Tatsache unterstreicht, dass die Verordnung international-privatrechtliche Fragen behandelt, mangels solcher Fragen aber die Zuständigkeit der Behörden der Mitgliedstaaten unberührt bleibt. Auch wenn dies die Verordnung nicht immer ausdrücklich sagt, kommt 4 sie nur in grenzüberschreitenden Situationen zur Anwendung. Beispielsweise stellt Art. 62 Abs. 3 fest, dass das Europäische Nachlasszeugnis nicht an die Stelle innerstaatlicher Schriftstücke tritt. In der Praxis wird es in der Regel klar sein, wann eine grenzüberschrei- 5 tende Situation vorliegt. Artikel 3: Begriffsbestimmungen (1) Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck a) „Rechtsnachfolge von Todes wegen“ jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge; Richard Frimston

57

Artikel 3

b) „Erbvertrag“ eine Vereinbarung, einschließlich einer Vereinbarung aufgrund gegenseitiger Testamente, die mit oder ohne Gegenleistung Rechte am künftigen Nachlass oder künftigen Nachlässen einer oder mehrerer an dieser Vereinbarung beteiligter Personen begründet, ändert oder entzieht; c) „gemeinschaftliches Testament“ ein von zwei oder mehr Personen in einer einzigen Urkunde errichtetes Testament; d) „Verfügung von Todes wegen“ ein Testament, ein gemeinschaftliches Testament oder einen Erbvertrag; e) „Ursprungsmitgliedstaat“ den Mitgliedstaat, in dem die Entscheidung ergangen, der gerichtliche Vergleich gebilligt oder geschlossen, die öffentliche Urkunde errichtet oder das Europäische Nachlasszeugnis ausgestellt worden ist; f) „Vollstreckungsmitgliedstaat“ den Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckbarerklärung oder Vollstreckung der Entscheidung, des gerichtlichen Vergleichs oder der öffentlichen Urkunde betrieben wird; g) „Entscheidung“ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats in einer Erbsache erlassene Entscheidung ungeachtet ihrer Bezeichnung einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten; h) „gerichtlicher Vergleich“ einen von einem Gericht gebilligten oder vor einem Gericht im Laufe eines Verfahrens geschlossenen Vergleich in einer Erbsache; i) „öffentliche Urkunde“ ein Schriftstück in Erbsachen, das als öffentliche Urkunde ein einem Mitgliedstaat förmlich errichtet oder eingetragen worden ist und dessen Beweiskraft i) sich auf die Unterschrift und den Inhalt der öffentlichen Urkunde bezieht und ii) durch eine Behörde oder eine andere vom Ursprungsmitgliedstaat hierzu ermächtigte Stelle festgestellt worden ist. (2) Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Begriff „Gericht“ jedes Gericht und alle sonstigen Behörden und Angehörigen von Rechtsberufen mit Zuständigkeiten in Erbsachen, die gerichtliche Funktionen ausüben oder in Ausübung einer Befugnisübertragung durch ein Gericht oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln, sofern diese anderen Behörden und Angehörigen von Rechtsberufen ihre Unparteilichkeit und das Recht der Parteien auf rechtliches Gehör gewährleisten und ihre Entscheidungen nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sie tätig sind,

58

Richard Frimston

Artikel 3, Rn. 1–4

a) vor einem Gericht angefochten oder von einem Gericht nachgeprüft werden können und b) vergleichbare Rechtskraft und Rechtswirkung haben wie eine Entscheidung eines Gerichts in der gleichen Sache. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission nach Artikel 79 die in Unterabsatz 1 genannten sonstigen Behörden und Angehörigen von Rechtsberufen mit. I.

Begriffsbestimmungen in der Verordnung 1. Rechtsnachfolge von Todes wegen 2. Erbvertrag 3. Gemeinschaftliches Testament 4. Verfügung von Todes wegen 5. Ursprungsmitgliedstaat

1 4 10 14 16 21

6. Vollstreckungsmitgliedstaat 7. Entscheidung 8. Gerichtlicher Vergleich 9. Öffentliche Urkunde 10. Gericht II. Begriffe, die in der Verordnung nicht definiert sind 1. Mitgliedstaat und Drittstaat 2. Gewöhnlicher Aufenthalt

23 25 27 29 31 35 40 58

I. Begriffsbestimmungen in der Verordnung 1

Artikel 3 definiert einige in der Verordnung verwendete Begriffe.

Wie bereits oben beim Anwendungsbereich hervorgehoben wurde, hat 2 der EuGH festgestellt, dass die Auslegung von EU-Verordnungen auf unabhängigen autonomen und unionsweiten Prinzipen basiert.1 Auch wenn ein zuständiges Gericht eigene nationale Rechtsprinzipien 3 anwendet, muss es die autonome Auslegung von Begriffen und Definitionen der Verordnung beachten.

1. Rechtsnachfolge von Todes wegen Das Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989 beinhaltet keine Defi- 4 nition der „Rechtsnachfolge von Todes wegen“. Aus Absatz 39 des Waters-Berichts geht aber hervor, dass der Begriff in dem Übereinkommen nur die Verteilung, nicht aber den konkreten Übergang der Vermögenswerte behandelt. 1

Z.B. C-29/76 in Zusammenhang mit der Brüssel I-Verordnung.

Richard Frimston

59

Artikel 3, Rn. 5–12

5 In der Verordnung hat der Begriff eine viel weitere Bedeutung und be-

inhaltet sowohl die Verteilung als auch den konkreten Übergang der Vermögenswerte, jedoch mit einigen Beschränkungen. 6 Auch wenn der Begriff „Nachlass“ selbst nicht definiert wird, deutet die

Definition in Art. 3 Abs. 1 lit. a darauf hin, dass dieser Begriff weit ausgelegt werden soll. 7 Erwägungsgrund 9 stellt fest, dass die Verordnung einen weiten An-

wendungsbereich hat und sich auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen erstreckt, und zwar auf jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge.2 8 Absatz 4.1 des Erklärenden Memorandums stellt fest, dass der Begriff

„Rechtsnachfolge von Todes wegen“ autonom ausgelegt werden muss und alle Teile der Erbfolge, insbesondere den Übergang des Nachlasses, dessen Verwaltung und dessen Auflösung umfasst.

9 Es muss aber erneut betont werden, dass die Definitionen in der Ver-

ordnung nur dann einschlägig sind, wenn die Verordnung überhaupt anwendbar ist. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung sind diese nicht einschlägig. Deswegen sind diese Definitionen nicht auf solche Rechte, die nach Art. 1 Abs. 2 lit. g ausgenommen sind, anwendbar.

2. Erbvertrag 10 Dieser Buchstabe hat Artikel 8 des Haager Erbrechtsübereinkommens

von 1989 als Vorlage. 11 Das Thema ist ausführlich in den Absätzen 90-93 des Waters-Berichts

behandelt. 12 Absatz 93 des Waters-Berichts deutet an, dass die französische „donati2

60

Dieser Erwägungsgrund basiert offenbar auf der Beschreibung der Rechtsnachfolge von Todes wegen in Absatz 28 des Waters-Berichts.

Richard Frimston

Artikel 3, Rn. 13–19

on entre époux“ von dem Begriff umfasst sein soll, da sie Schenkungen von zukünftige Vermögenswerten betrifft, aber eine „donation-partage“, die eine Schenkung von existierenden Vermögenswerten darstellt, außerhalb der Definition liegt. Die Absätze des Waters-Berichts sind behilflich, sowohl Verträge, die 13 vermutlich innerhalb der Definition liegen, zu verstehen, als auch die Perspektive des common law zu verstehen, wonach solche Verträge historisch außerhalb dieses Begriffs liegen.

3. Gemeinschaftliches Testament Dieser Buchstabe hat Artikel 4 des Haager Testamentsformüberein- 14 kommens von 1961 als Vorlage. Es ist anzunehmen, dass diese Definition eine autonome Bedeutung in- 15 nerhalb der EU haben soll und deshalb einen weiteren Anwendungsbereich als z.B. in Deutschland hat.

4. Verfügung von Todes wegen Dieser Buchstabe hat das Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989 16 als Vorlage, wenn auch der Begriff in dem Übereinkommen ohne eine besondere Definition verwendet wird. Das Haager Testamentsformübereinkommen von 1961 benutzt dage- 17 gen den Begriff „testamentarische Verfügungen“. Im Hinblick darauf, dass der Begriff im Haager Erbrechtsübereinkom- 18 men nicht definiert wird, nimmt Absatz 41 des Waters-Berichts an, dass er solche inter vivos-Verfügungen ausschließt, die unmittelbare Wirkung auf die Eigentumsrechte haben. Die Verfügung oder Übertragung darf demnach erst nach dem Tod des Erblassers eintreten. Artikel 1 Abs. 2 lit. g schließt in jedem Fall Schenkungen vom Anwen- 19 dungsbereich der Verordnung aus. Im Einzelfall kann der Unterschied zwischen einer Verfügung von Todes wegen und einer sonstigen lebzeitigen Verfügung schwierig festzustellen sein.

Richard Frimston

61

Artikel 3, Rn. 20–27

20 Die Auslegung einer Verfügung von Todes wegen wird, zusammen mit

anderen Fragen der materiellen Wirksamkeit, in Artikel 26 geregelt; das darauf anzuwendende Recht wird von den Artikeln 24 und 25 bestimmt.

5. Ursprungsmitgliedstaat 21 Dieser Buchstabe hat Artikel 1 Abs. 2 lit. d der Brüssel Ia-Verordnung

als Vorlage, erweitert diese aber so, dass er auch Hinweise zu dem Europäischen Nachlasszeugnis beinhaltet. 22 Siehe dazu auch nachfolgend die Ausführungen zu dem Begriff „Mit-

gliedstaat“ (Rn. 40 ff.).

6. Vollstreckungsmitgliedstaat 23 Dieser Buchstabe hat Artikel 1 Abs. 2 lit. e der Brüssel Ia-Verordnung

als Vorlage, jedoch mit weniger Begrenzungen. 24 Siehe dazu auch nachfolgend die Ausführungen zu dem Begriff „Mit-

gliedstaat“ (Rn. 40 ff.).

7. Entscheidung 25 Dieser Buchstabe hat Artikel 1 Abs. 2 lit. a der Brüssel Ia-Verordnung

als Vorlage, erweitert diese aber im Vergleich zu der engen Definition des Begriffs „Urteil“. Es gibt aber keine ausdrückliche Regel, die einstweilige Maßnahmen in die Definition einschließt; diese Frage wird unter Kapitel IV behandelt. 26 Die Definition des Begriffs „Gericht“ ist in Artikel 3 Abs. 2 enthalten. Er

schließt in einer umfassenden Beschreibung auch Behörden und Juristen mit Zuständigkeit in Erbsachen ein.

8. Gerichtlicher Vergleich 27 Dieser Buchstabe hat Artikel 1 Abs. 2 lit. b der Brüssel Ia-Verordnung

als Vorlage, erweitert diese aber, so dass er alle Gerichte auch in Drittstaaten einschließt. 62

Richard Frimston

Artikel 3, Rn. 28–32

Die Definition des Begriffs „Gericht“ ist in Artikel 3 Abs. 2 enthalten. Er 28 schließt in einer umfassenden Beschreibung auch Behörden und Juristen mit Zuständigkeit in Erbsachen ein.

9. Öffentliche Urkunde Dieser Buchstabe hat Artikel 1 Abs. 2 lit. c der Brüssel Ia-Verordnung 29 als Vorlage, erweitert diese aber so, dass er öffentliche Urkunden, die in einem Mitgliedstaat errichtet oder eingetragen worden sind, einschließt, vorausgesetzt, dass sie von einer zuständigen Behörde errichtet wurden. Kapitel V behandelt ausführlich die Anerkennung öffentlicher Urkun- 30 den.

10. Gericht Artikel 3 Abs. 2 erweitert die Definition des Begriffs „Gericht“, so dass 31 dieser auch Behörden und Juristen mit Zuständigkeit in Erbsachen umfasst, jedoch mit einigen Begrenzungen. In Erwägungsgrund 20 wird dies wie folgt erläutert: „Diese Verordnung 32 sollte den verschiedenen Systemen zur Regelung von Erbsachen Rechnung tragen, die in den Mitgliedstaaten angewandt werden. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte der Begriff ‚Gericht‚ daher breit gefasst werden, so dass nicht nur Gerichte im eigentlichen Sinne, die gerichtliche Funktionen ausüben, erfasst werden, sondern auch Notare oder Registerbehörden in einigen Mitgliedstaaten, die in bestimmten Erbsachen gerichtliche Funktionen wie Gerichte ausüben, sowie Notare und Angehörige von Rechtsberufen, die in einigen Mitgliedstaaten in einer bestimmten Erbsache aufgrund einer Befugnisübertragung durch ein Gericht gerichtliche Funktionen ausüben. Alle Gerichte im Sinne dieser Verordnung sollten durch die in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln gebunden sein. Der Begriff ‚Gericht‘ sollte hingegen nicht die nichtgerichtlichen Behörden eines Mitgliedstaats erfassen, die nach innerstaatlichem Recht befugt sind, sich mit Erbsachen zu befassen, wie in den meisten Mitgliedstaaten die Notare, wenn sie, wie dies üblicherweise der Fall ist, keine gerichtliche Funktionen ausüben.“

Richard Frimston

63

Artikel 3, Rn. 33–40

33 Absatz 4.1 des Erklärenden Memorandums legt dar, dass Erbschaftsan-

gelegenheiten in der Regel außergerichtlich geregelt werden. Der Begriff „Gericht“ wurde daher in der Verordnung weit gefasst und schließt auch andere Amtsträger wie Notare und Geschäftsstellenbeamte ein, soweit diesen Befugnisse übertragen wurden, die in die Zuständigkeit der Gerichte fallen. 34 Damit ist klargestellt, dass die Definition des Begriffs „Gericht“ nur

dann Notare und andere Juristen umfasst, wenn sie gerichtliche Funktionen ausüben.

II. Begriffe, die in der Verordnung nicht definiert sind 35 Einige Begriffe werden in der Verordnung nicht ausdrücklich definiert. 36 Ein Teil dieser Begriffe, wie z.B. der Begriff „Nachlass“, kann ohne

Schwierigkeiten ausgelegt werden, auch wenn sie nicht definiert werden. 37 Andere Begriffe wie „Mitgliedstaat“ und „gewöhnlicher Aufenthalt“

wurden während der Gesetzgebungsarbeit eingehend diskutiert. Jedoch wurde schließlich keine Definition des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ in die Verordnung aufgenommen, wobei aber zumindest einige Erwägungsgründe eine Anleitung für die Auslegung geben. 38 Auch die Definition des Begriffs „Mitgliedstaat“ ist problematisch. 39 Diese zwei Begriffe werden daher im Folgenden erläutert.

1. Mitgliedstaat und Drittstaat 40 Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union weist darauf

hin, dass ein Drittstaat ein Staat ist, der kein Mitgliedstaat ist,3 während der Begriff „Mitgliedstaat“ alle Staaten einschließt, die Parteien der EU-Verträge sind.

3

64

Siehe z.B. Artikel 63 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU.

Richard Frimston

Artikel 3, Rn. 41–48

In der Verordnung gibt es keine ausdrückliche Definition der Begriffe 41 „Mitgliedstaat“ und „Drittstaat“. In vielen EU-Verordnungen findet sich dagegen ein ausdrücklicher 42 Ausschluss, durch den der Begriff „Mitgliedstaat“ auf die Staaten begrenzt wird, die durch die jeweilige Verordnung gebunden sind. In der Brüssel I-Verordnung stellt z.B. Artikel 1 Abs. 3 klar (nun in der Brüssel Ia-Verordnung hinzugefügt), dass der Begriff „Mitgliedstaat“ alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark umfasst. Ebenso regelt Artikel 1 Abs. 4 der Rom I-Verordnung, dass der Begriff „Mitgliedstaat“ im Sinne dieser Verordnung die Staaten bezeichnet, auf die diese Verordnung anwendbar ist; in Artikel 3 Abs. 4 und Artikel 7 umfasst der Begriff dagegen alle Mitgliedstaaten. Es gibt unterschiedliche Ansichten dazu, ob in der Erbrechtsverord- 43 nung Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich vom Begriff „Mitgliedstaat“ umfasst sind. Nach einer Sichtweise sind alle drei Staaten Mitgliedstaaten der EU- 44 Verträge und in den Erwägungsgründen 82 und 83 daher auch als „Mitgliedstaaten“ bezeichnet. Der abschließende Satz der Verordnung („Diese Verordnung ist in allen 45 ihren Teilen verbindlich und gilt gemäß den Verträgen unmittelbar in den Mitgliedstaaten.“) kann so ausgelegt werden, dass diese drei Staaten als Mitgliedstaaten betrachtet werden. Aufgrund den dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen 46 Union beigefügten Protokollen Nr. 21 und Nr. 22 sind diese drei Staaten allerdings weder von der Verordnung gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet. Andere Mitgliedstaaten haben dagegen nicht den Vorteil ähnlicher Protokolle; die Verordnung ist deswegen für diese unmittelbar bindend. Wenn es gewollt gewesen wäre, diese drei Staaten vom Begriff „Mit- 47 gliedstaat“ auszuschließen, wäre dies ausdrücklich unproblematisch möglich gewesen. Im ursprünglichen Entwurf der Erbrechtsverordnung KOM (2009) 154 48 Richard Frimston

65

Artikel 3, Rn. 49–53

war in Artikel 1 Abs. 2 auch folgende Regelung vorgesehen: „In dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck ‚Mitgliedstaat‘ alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks [, des Vereinigten Königsreichs und Irlands].“ Diese Regelung hat den Gesetzgebungsprozess aber nicht überstanden und wurde von der Verordnung schließlich nicht übernommen. 49 Mit der Erbrechtsverordnung am ehesten vergleichbar ist möglicher-

weise die Verordnung über Insolvenzverfahren,4 die auf alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks anwendbar ist. In dieser Verordnung gibt es ebenfalls keine Definition, die Dänemark vom Begriff „Mitgliedstaat“ ausschließt. 50 Die externe Evaluierung der Insolvenzverordnung5 sah dennoch Däne-

mark als einen Drittstaat an.6 Für eine solche Auslegung gibt es jedoch bislang keine offizielle Bestätigung. Die Entscheidung des EuGH in der Sache Seagon v Deko Marty7 behandelte Fragen, bei denen Deutschland und Belgien beteiligt waren, und die Entscheidung des höchsten schwedischen Gerichts in der Sache Siv Ing Benum AS v Kinovox-Benum AB8 behandelte Fragen, bei denen Schweden und Norwegen beteiligt waren und die Anwendbarkeit des nordischen Vertrags von 1933. Diese Entscheidungen erwähnen aber nicht ausdrücklich die jetzt aktuelle Frage. 51 Möglicherweise meint jedoch das schwedische Gericht, dass die Situa-

tion zwischen Schweden und Dänemark unterschiedlich zu der zwischen Schweden und Norwegen behandelt werden müsste. 52 Außerdem wurde argumentiert, dass es eine ungerechte Situation zwi-

schen den Mitgliedstaaten schaffen würde, wenn alle EU-Mitgliedstaaten in den Begriff eingeschlossen wären. 53 Man könnte aber auch so argumentieren, dass es durchaus europäische

Politik sein kann, dass das Erbrecht der einzelnen Mitgliedstaaten in 4 5 6 7 8

66

(EG) No. 1346/2000 von 29. Mai 2000. JUST/2011/JCIV/PR/0049/A4. Z.B. in den Kommentaren aus Deutschland. C-339/07 vom 12. Februar 2009. Ö 743-11 vom 31. Januar 2013.

Richard Frimston

Artikel 3, Rn. 54–57

der ganzen EU anerkannt und umgesetzt werden soll, auch wenn manche Mitgliedstaaten nicht durch die Verordnung gebunden sind. In den meisten Fällen würde es dabei auch keine Unklarheiten geben, 54 da Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich nicht durch die Verordnung gebunden sind und die Verordnung nicht selbst verwenden werden. Die wichtigste Auswirkung dieser Meinungsverschiedenheiten würde 55 damit nur die Frage eines renvoi betreffen. Artikel 34 Abs. 1 ist nur auf Drittstaaten anwendbar. Konsequenz daraus wäre, dass dieser Artikel nicht auf Mitgliedstaaten anwendbar ist, auch wenn diese von der Verordnung nicht gebunden sind. Das bedeutet, dass es keine Rückverweisung durch Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich geben wird – wobei diese Frage natürlich aufgrund der unterschiedlichen Auslegungen nicht klar zu beantworten ist. Nach einer anderen Sichtweise müssen diese drei Staaten als Drittstaa- 56 ten im Sinne der Erbrechtsverordnung angesehen werden. Denn es sei nicht begründbar, warum die Verordnung von einem französischen Gericht verlangen solle, eine Entscheidung in Erbsachen von einem britischen Gericht anzuerkennen, wohingegen ein britisches Gericht nicht verpflichtet sei, eine französische Entscheidung anzuerkennen.9 Diese wichtige Frage sollte so bald wie möglich gelöst werden, entweder durch den EuGH oder durch eine Ergänzung zumindest der Erwägungsgründe. Um Unsicherheiten zu vermeiden, sollten Personen mit Beziehungen 57 zu Dänemark, Irland und dem Vereinigten Königreich, bei denen möglicherweise auf das Recht anderer Mitgliedstaaten, die von der Verordnung gebunden sind, zurückverwiesen werden könnte, überlegen, eine eindeutige Rechtswahl gemäß Artikel 22 zu treffen.

9

Vgl. auch Lagarde, Einleitung Rn. 49, Odersky, Art. 4 Rn. 12, und Bergquist, Art. 39 Rn. 3.

Richard Frimston

67

Artikel 3, Rn. 58–63

2. Gewöhnlicher Aufenthalt 58 Die Verordnung gibt keine nähere Definition des Begriffs „gewöhnli-

cher Aufenthalt“. 59 Die Brüssel Ia-Verordnung verwendet den Begriff „Wohnsitz“ und ver-

weist allgemein darauf, dass Mitgliedstaaten ihre nationale Gesetze anwenden sollen. 60 Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ wurde aber in vielen EU-Ver-

ordnungen als Anknüpfungspunkt verwendet, z.B. in der Brüssel IIaVerordnung, der Unterhaltsverordnung, der Rom I-Verordnung, der Rom II-Verordnung und der Rom III-Verordnung. 61 Im Zusammenhang mit der Brüssel IIa-Verordnung haben die Gerichte

in England und Wales entschieden,10 dass i) der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ eher vom Zentrum der Lebensinteressen einer Person als von einer speziellen Dauer des Aufenthalts bestimmt wird; ii) eine Person zu jedem Zeitpunkt nur einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der Verordnung haben kann, auch wenn sie Wohnsitze in mehr als einem Staat hat. 62 Die Brüssel IIa-Verordnung enthält ferner besondere Bestimmungen,

die eine Änderung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ unterbinden, bis ein Aufenthalt von mindestens 6 oder 12 Monaten vorliegt.11

63 Der EuGH hat in der Sache Mercredi v Chaffe12 geäußert, dass der Be-

griff „gewöhnlicher Aufenthalt“ für die Zwecke der Art. 8 und 10 der Brüssel IIa-Verordnung dahingehend auszulegen ist, dass darunter der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dabei sind, wenn es sich um einen Säugling handelt, der in einen anderen Mitgliedstaat als den seines gewöhnlichen Aufenthalts verbracht wurde und der sich dort mit seiner Mutter erst seit einigen Tagen befindet, u.a. zum einen die 10 11 12

68

In der Sache Marinos v Marinos [2007] EWHC 2047. Festgestellt in Rn. 5 f. in Artikel 3 Abs. 1 lit. a. C-497/10 vom 22. Dezember 2010.

Richard Frimston

Artikel 3, Rn. 64–66

Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Mutter in diesen Staat zu berücksichtigen und zum anderen, insbesondere wegen des Alters des Kindes, die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen der Mutter und des Kindes in dem betreffenden Mitgliedstaat. Es sei Sache des nationalen Gerichts, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Für die Anwendung der Erbrechtsverordnung ist es klar, dass der Be- 64 griff „gewöhnlicher Aufenthalt“ eine noch stärkere Beziehung als beim „gewöhnlichen Aufenthalt“ in anderen EU-Verordnungen fordert. Das Erklärende Memorandum stellt dazu fest: Als Anknüpfungskriteri- 65 um wird in der Verordnung nicht die Staatsangehörigkeit des Erblassers, sondern sein letzter gewöhnlicher Aufenthalt herangezogen, weil dieser dem Mittelpunkt seiner Lebensinteressen und häufig dem Ort entspricht, an dem sich der größte Teil seines Vermögens befindet. Diese Anknüpfung begünstigt die Integration im Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts und schließt jede Diskriminierung von Personen aus, die in diesem Staat wohnen, ohne dessen Staatsangehörigkeit zu besitzen. Das Kollisionsrecht mehrerer Mitgliedstaaten und alle modernen Rechtsinstrumente wie das Haager Erbrechtsübereinkommen stellen daher auf den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungskriterium ab. Erwägungsgrund 23 der Verordnung erläutert: „In Anbetracht der zu- 66 nehmenden Mobilität der Bürger sollte die Verordnung zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege in der Union und einer wirklichen Verbindung zwischen dem Nachlass und dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt wird, als allgemeinen Anknüpfungspunkt zum Zwecke der Bestimmung der Zuständigkeit und des anzuwendenden Rechts den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes vorsehen. Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sollte die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Richard Frimston

69

Artikel 3, Rn. 67–69

Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen.“ 67 Erwägungsgrund 24 setzt fort: „In einigen Fällen kann es sich als kom-

plex erweisen, den Ort zu bestimmen, an dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sich der Erblasser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen – unter Umständen auch für längere Zeit – in einen anderen Staat begeben hat, um dort zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsstaat aufrechterhalten hat. In diesem Fall könnte – entsprechend den jeweiligen Umständen – davon ausgegangen werden, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in seinem Herkunftsstaat hat, in dem sich in familiärer und sozialer Hinsicht sein Lebensmittelpunkt befand. Weitere komplexe Fälle können sich ergeben, wenn der Erblasser abwechselnd in mehreren Staaten gelebt hat oder auch von Staat zu Staat gereist ist, ohne sich in einem Staat für längere Zeit niederzulassen. War der Erblasser ein Staatsangehöriger eines dieser Staaten oder hatte er alle seine wesentlichen Vermögensgegenstände in einem dieser Staaten, so könnte seine Staatsangehörigkeit oder der Ort, an dem diese Vermögensgegenstände sich befinden, ein besonderer Faktor bei der Gesamtbeurteilung aller tatsächlichen Umstände sein.“ 68 Demgemäß wird deutlich, dass die Erbrechtsverordnung eine nähere

Beziehung zu einem Land fordert als andere EU-Verordnungen, um einen „gewöhnlichen Aufenthalt“ zu begründen. 69 Diese Frage, wie auch Erwägungsgrund 25 und die Bedeutung der Ar-

tikel 21 Abs. 1 und 2, sind näher in Kapitel III kommentiert.

70

Richard Frimston

Artikel 4, Rn. 1, 2

Kapitel II: Zuständigkeit Artikel 4: Allgemeine Zuständigkeit Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. I.

Allgemeines zur internationalen Zuständigkeit 1. Ausschließliche Regelung der internationalen Zuständigkeit 1 2. Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht 4

3.

Zuständigkeit zur Erteilung des Europäischen Nachlass6 zeugnisses (ENZ) II. Einzelne Voraussetzungen 1. Entscheidung in Erbsachen für den gesamten Nachlass 7 9 2. Gewöhnlicher Aufenthalt 3. Rechtsfolge 12

I. Allgemeines zur internationalen Zuständigkeit 1. Ausschließliche Regelung der internationalen Zuständigkeit Die Art. 4-11 der Verordnung enthalten eine abschließende Regelung, 1 die die nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten zur internationalen Zuständigkeit ihrer Gerichte vollständig ausschließt (bis auf die Sonderregel zu einstweiligen Maßnahmen in Art. 19).1 Sie unterscheiden sich damit insbesondere von Art. 4 Abs. 1 Brüssel I-VO und Art. 7 Abs. 1, 14 EU-EheVO, die zumindest einen teilweisen Rückgriff auf nationales Zuständigkeitsrecht eröffnen. Dabei folgt die Verordnung in Art. 4-19 von Aufbau und Struktur dem Vorbild der Art. 3-14 der EU-UntVO, so dass bei Zweifelfragen häufig auf dazu ergangene Rechtsprechung und Kommentierungen zurückgegriffen werden kann. Wie sich aus der Klarstellung des Art. 2 und der Formulierung „Gerich- 2 te“ (im Plural) in Art. 4 ergibt, regelt die Verordnung aber nur die in-

1

Vgl. dazu auch Erwägungsgrund 30. Unberührt bleiben dagegen Regelungen zur internationalen Zuständigkeit aus internationalen Übereinkommen, die einzelne Mitgliedstaaten gemäß Art. 75 binden.

Felix Odersky

71

Artikel 4, Rn. 3, 4

ternationale Zuständigkeit, und nicht zugleich – im Unterschied zu Art. 3 lit. a und lit. b EU-UntVO – die örtliche Zuständigkeit. Welches Gericht innerhalb des zuständigen Mitgliedstaats örtlich, sachlich oder funktionell zuständig ist, richtet sich daher nach dessen nationalem Verfahrenrecht. 3 Dies hat besondere Bedeutung, da vergleichbare Entscheidungen in

Erbsachen in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht nur von unterschiedlichen Gerichten (einschließlich von Notaren oder Behörden im Sinne des Art. 3 Abs. 2) getroffen werden, sondern auch im Rahmen von streitigen und nicht-streitigen Verfahren ergehen. Die Verordnung hat bewusst darauf verzichtet, unterschiedliche Zuständigkeitsregeln für typische Streitverfahren vor Prozessgerichten und nicht-streitigen Verfahren in Erbsachen, die ggf. auf Antrag nur eines Beteiligten oder auch von Amts wegen eingeleitet werden,2 vorzusehen, um Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den Verfahrenstypen zu vermeiden.3 Dies führt jedoch dazu, dass die einzelnen Zuständigkeitsregeln im Unterschied zu anderen EU-Verordnungen, die zwar als Vorbild dienten, aber praktisch nur kontradiktorische Verfahren betreffen, nun für alle Verfahrenarten angewendet werden müssen.

2. Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht 4 Neben diesem ausschließlichen Zuständigkeitssystem verfolgt die Ver-

ordnung das Ziel, einen „Gleichlauf“ von internationaler Zuständigkeit (forum) und anwendbarem Recht (ius) herzustellen.4 Dies kommt darin zum Ausdruck, dass die Grundregel des Art. 4 in gleicher Weise wie Art. 21 Abs. 1 an den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts anknüpft, und dass der Regelungskomplex der Art. 5-9 (Unzuständigkeitserklärung des Gerichts am gewöhnlichen Aufenthaltsort und neue Zustän2

3

4

72

Die von Amts wegen einzuleitenden Verfahren erfahren dabei in Art. 8 und Art. 14 Abs. 3 eine ausdrückliche Regelung, die aber die notwendige Anpassung der anderen Zuständigkeitsvorschriften an die nicht-streitigen Verfahren nicht erübrigt; vgl. dazu näher die Erläuterung bei den einzelnen Artikeln. Dass die Verordnung alle Verfahrenstypen umfasst, kommt ferner in der ausdrücklichen Erwähnung im Erwägungsgrund 59 zum Ausdruck. Vgl. auch Erwägungsgrund 27.

Felix Odersky

Artikel 4, Rn. 5

digkeit der Gerichte des Landes, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besaß) strikt daran gekoppelt ist, dass zuvor der Erblasser gemäß Art. 22 sein Staatsangehörigkeitsrecht gewählt hat. Mit diesem Gleichlaufprinzip soll erreicht werden, dass das zuständige Gericht in den meisten Fällen sein eigenes Sachrecht anwenden kann, und damit in der Regel ein schnelleres, kostengünstigeres Verfahren mit höherer Richtigkeitsgewähr erfolgt. Auch wenn diese wichtigen Vorteile im Sinne der Verfahrensokönomie 5 im Vordergrund stehen, ist dies im Einzelfall mit dem Nachteil verbunden, dass der gewöhnliche Aufenthalt und damit die Frage der Zuständigkeit ex ante für einen Antragsteller schwer vorherzusehen ist (mit dem Risiko eines Antrags bei einem unzuständigen Gericht) und das angerufene Gericht bereits im Rahmen seiner Zuständigkeitsprüfung umfangreiche Tatsachenermittlungen anstellen muss. Ferner ergibt sich die Gefahr, dass Gerichte in verschiedenen Mitgliedstaaten im Ergebnis zu einer unterschiedlichen Auslegung des – in Europa eigentlich einheitlichen – Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts kommen. Sofern dies in einem positiven Kompetenzkonflikt mündet, bei dem zwei Gerichte zur Bejahung ihrer Zuständigkeit neigen, ist dieser vorrangig nach Art. 17 zu lösen. In anderen Fällen, insbesondere wenn sich ein zuerst angerufenes Gericht für unzuständig hält, weil es den letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers in einem anderen Mitgliedstaat sieht (mit der Gefahr eines sog. negativen Kompentenzkonflikts, bei dem sich kein Gericht für zuständig hält), kann die Verordnung aus kompetenzrechtlichen Gründen keine bindende Verweisung an die Gerichte eines anderen Mitgliedstaates vorsehen. Nach den vom EuGH im Fall Gothaer Versicherungen u.a. zu Art. 32, 33 Brüssel I-VO aufgestellten Grundsätzen, ist aber davon auszugehen, dass eine rechtskräftige Entscheidung, mit der sich ein Gericht für unzuständig erklärt, auch bezüglich der Entscheidungsgründe und damit auch der Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Mitgliedstaaten über Art. 39 ff. anzuerkennen ist.5

5

Vgl. dazu ausführlich Geimer/Schütze/Wall, Int. Rechtsverkehr, EU-ErbVO Art. 4 Rn. 109 ff.

Felix Odersky

73

Artikel 4, Rn. 6, 7

3. Zuständigkeit zur Erteilung des Europäischen Nachlasszeugnisses (ENZ) 6 Über Art. 64 sind die Vorschriften der Art. 4, 7, 10 oder 11 entspre-

chend für die Internationale Zuständigkeit der Gerichte zur Erteilung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ENZ) anzuwenden. Auch dieses Zeugnis kann also nur von dem für den gesamten Nachlass ausschließlich international zuständigen Gericht (im Sinne des Art. 3 Abs. 2) ausgestellt werden. Zugleich geht der Verordnungsgeber aber wohl davon aus, dass es sich bei der Ausstellung des Zeugnisses um eine Tätigkeit sui generis und nicht um eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. g handelt, da sonst die Zuständigkeitsregeln des Art. 4 ff. unmittelbar anzuwenden wären. Dies lässt den Schluss zu, dass Gerichte in den einzelnen Mitgliedstaaten mangels einer verdrängenden Zuständigkeitsregel der Verordnung weiterhin nach ihrem nationalen Recht zuständig bleiben können, vergleichbare Zeugnisse nach nationalem Recht (wie z.B. einen deutschen Erbschein) auszustellen, auch wenn sie international nicht für Entscheidungen in dem Erbfall zuständig sind. Diese Zeugnisse sind aber umgekehrt nicht nach Art. 39 ff. in anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen, da sie wie das ENZ keinen Entscheidungscharakter haben.6

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Entscheidung in Erbsachen für den gesamten Nachlass 7 Art. 4 bezieht sich zunächst auf Gerichte im Sinne von Art. 3 Abs. 2,

was auch sonstige Behörden und Amtsträger, insb. Notare umfassen kann, die in Erbsachen gerichtliche Funktionen ausüben. Abzugrenzen ist dabei die sonstige Tätigkeit von Notaren, wenn diese nicht als Gericht tätig sind, sondern im Einverständnis aller Beteiligten z.B. die Erbenstellung ermitteln oder im Rahmen der Erbauseinandersetzung tätig werden. In diesem Fall sind Notare nicht an die Zuständigkeitsvorschriften der Art. 4 ff. gebunden, was auch in Erwägungsgrund 36 zum Ausdruck kommt. 6

74

Vgl. dazu Geimer/Schütze/Wall, Int. Rechtsverkehr, EU-ErbVO, Art. 4 Rn. 34 ff.

Felix Odersky

Artikel 4, Rn. 8, 9

Inhaltlich umfasst Art. 4 ferner alle Entscheidungen im Sinne von Art. 3 8 Abs. 1 lit. g, die die Erbfolge im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a und 23 betreffen.7 Die zusätzliche Einfügung, dass dies für den gesamten Nachlass gilt, hat darüber hinaus nur klarstellende Bedeutung und drückt das Prinzip der Nachlasseinheit auch im zuständigkeitsrechtlichen Sinne aus. Mit der positiven Zuständigkeit für alle Erbsachen stellt die Verordnung das Gegenstück zu anderen EU-Verordnungen, wie z.B. Art. 1 Abs. 2 lit. a der Brüssel I-VO dar,8 die das Gebiet des Erbrechts vom jeweiligen Anwendungsbereich ausnehmen. Damit ist die Zuständigkeit nach Art. 4 abzugrenzen von den Fällen, in denen eine Frage des Erbrechts nur die Vorfrage in einem anderen zivilrechtlichen Streitverhältnis darstellt.9

2. Gewöhnlicher Aufenthalt Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts entspricht Art. 21 Abs. 1 und 9 ist aufgrund des angestrebten Gleichlaufs von forum und jus in gleicher Weise auszulegen, so das es auch im Bereich der internationalen Zuständigkeit immer nur einen gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes geben kann. Da die Verordnung den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht näher definiert, ist dieser autonom auszulegen, wobei die tatsächliche Subsumtion – insbesondere unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe Nr. 23 und 24 – für die Zwecke der Erbrechtsverordnung nicht exakt in gleicher Weise wie in anderen europäischen Rechtsakten erfolgen muss.10

7

8 9

10

Insb. in der deutschen Fassung der Verordnung werden in Art. 3 Abs. 1 lit. a und Art. 4. zwar unterschiedliche Begriffe verwendet, wobei dies aber keine eigenständige Bedeutung hat, wenn man die synonymen Begriffe in der englischen und französischen Fassung liest. Bzw. Art. 1 Abs. 2 lit. f der Brüssel Ia-VO. Im Urteil v 17.9.2009, C-347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse, Tz. 44, ging der EuGH z.B. davon aus, dass es sich um eine Zivil- und Handelssache gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Brüssel I-VO handelt, auch wenn inzident die Vorfrage zu prüfen ist, ob der Anspruch auf einen bestimmten Erben überging. Vgl. dazu und zur bisherigen Interpretation durch den EuGH die Erläuterung bei Art. 21 Abs. 1.

Felix Odersky

75

Artikel 4, Rn. 10

10 In den meisten Fällen wird die Bestimmung des gewöhnlichen Aufent-

haltsortes im Sinne eines „Daseinsmittelpunktes“ keinerlei Schwierigkeiten bereiten und unkompliziert zu ermitteln sein. Bei den zweifelhaften Fällen, bei denen der Erblasser Wohnsitze zeitgleich in mehrerer Ländern hatte, oder diese in den Jahren vor seinem Tod aus verschiedenen Gründen (mehrfach) wechselte, können folgende typische Fallgruppen gebildet werden:11 – Sogenannte „Berufspendler“, wie z.B. der Bankmitarbeiter, der unter der Woche seinen Wohnsitz in London hat, aber am Wochenende zu seiner Ehefrau nach Paris fliegt, oder die polnische Pflegekraft, die zwar seit mehreren Jahren in München lebt, aber alle paar Wochen zu ihrer Familie nach Polen fährt. Wenn der Wohnsitz in einem Land in erster Linie beruflich begründet ist, wird man für die Zwecke der Erbrechtsverordnung – im Unterschied zu möglichen anderen Regelungen im europäischen Recht – den gewöhnlichen Aufenthaltsort länger in dem Land suchen, in dem der privat genutzte Wohnsitz liegt, da nach Erwägungsgrund 24 den sozialen Verbindungen zu Familie und Freunden ein besonderes Gewicht zukommen soll. Entsprechend wird man z.B. Studenten behandeln, solange die Bindung zu Eltern bzw. dem bisherigen sozialen Umfeld noch Gewicht hat. Auch bei Arbeitnehmern, die zwar zusammen mit ihrer engeren Familie im Ausland leben, aber nur für einen zeitlich begrenzten Zeitraum dorthin abgeordnet sind (z.B. sog. „Expats“), wird man häufig aus den Gesamtumständen des Einzelfalls noch keinen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsorts ableiten. Andererseits bedarf es keines „animus manendi“ wie beim anglo-amerikanischen domicile-Begriff, so dass ein zeitlich eher vager Rückkehrwille in das Heimatland nicht den Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsorts verhindert, wenn am Wohnsitz bereits ein familiäres oder soziales Umfeld entstanden ist. – Die sog. „Mallorca-Rentner“, die ausschließlich aus privaten Gründen jeweils über mehrere Monate in zwei verschiedenen Ländern leben. Zunächst entscheidend wird sein, ob diese tatsächlich an beiden Wohnorten vergleichbare soziale Beziehungen (Familien- und Freundeskreis u. ä.) aufbauen und eine entsprechende Integration in das soziale Umfeld erfolgt. Wenn danach kein entsprechender

11

76

Vgl. dazu auch Erwägungsgrund 24.

Felix Odersky

Artikel 4, Rn. 11, 12

Vorrang für ein Land erkennbar ist, stellt Erwägungsgrund 24 der Verordnung klar, dass ausnahmsweise auch die Staatsangehörigkeit oder die Tatsache, dass alle wesentlichen Vermögenswerte in einem Land belegen sind, als besonderer Faktor bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung aller Umstände herangezogen werden können. – Unklar bleibt schließlich, wie der gewöhnliche Aufenthalt von Personen bestimmt wird, die keinen eigenen Willen zur Wohnsitznahme mehr bilden konnten, z.B. weil sie als Pflegefall zur Familie in ein anderes Land geholt oder in ein Pflegeheim ins Ausland verbracht wurden. Auch wenn der gewöhnliche Aufenthaltsort ohne rechtsgeschäftlichen Willen verlegt werden kann, wird man bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung berücksichtigen müssen, wenn die Aufenthaltsänderung ohne jegliches subjektive Element erfolgt ist, und für einen Wechsel des Aufenthaltsorts eine verstärkte Komponente im Rahmen des sozialen Umfelds (v.a. in der tatsächlichen Einbindung in das familiäre Umfeld, das ihn betreut) verlangen. Zu beachten ist, dass Art. 4 keine Parallelvorschrift zu Art. 21 Abs. 2 11 enthält, das Gericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers also ausnahmsweise ein abweichendes Sachrecht anwenden muss. Auch eine Unzuständigerklärung gemäß Art. 6 kommt in diesem Fall nicht in Betracht, da diese auf ein abweichendes Sachrecht aufgrund Rechtswahl beschränkt ist. In der Praxis wird dies aber ohne große Bedeutung bleiben, da der Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 2 unklar ist und der Richter in der Regel alle dabei gewonnenen Erkenntnisse schon in die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts fließen lassen wird.

3. Rechtsfolge Die allgemeine Zuständigkeit nach Art. 4 ist nur dann eröffnet, wenn 12 der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hatte. Lag der Aufenthaltsort dagegen in einem Drittstaat (einschließlich dem Vereinigten Königreich, Dänemark oder Irland), richtet sich die internationale Zuständigkeit der Gerichte dieses Drittstaates ausschließlich nach dessen nationalen Vorschriften.

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Artikel 5, Rn. 1

Eine ggf. konkurrierende internationale Zuständigkeit der Mitgliedstaaten kann sich in diesem Fall ausschließlich aus den Sonderregeln der Art. 10 und 11 oder über eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5, 7 lit. b ergeben. Artikel 5: Gerichtsstandsvereinbarung (1) Ist das vom Erblasser nach Artikel 22 zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählte Recht das Recht eines Mitgliedstaats, so können die betroffenen Parteien vereinbaren, dass für Entscheidungen in Erbsachen ausschließlich ein Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig sein sollen. (2) Eine solche Gerichtsstandsvereinbarung bedarf der Schriftform und ist zu datieren und von den betroffenen Parteien zu unterzeichnen. Elektronische Übermittlungen, die eine dauerhafte Aufzeichnung der Vereinbarung ermöglichen, sind der Schriftform gleichgestellt. I. Allgemeines II. Einzelne Voraussetzungen 1. Art. 5 Absatz 1 a) Rechtswahl nach Art. 22

1 2 2

b) Betroffene Parteien c) Vereinbarung 2. Art. 5 Absatz 2

6 10 14

I. Allgemeines 1 Art. 5 übernimmt das Konzept einer Gerichtsstandsvereinbarung, wie

dieses aus Art. 23 Brüssel I-VO1 und Art. 4 EU-UntVO bekannt ist, schränkt dieses aber im Erbrecht inhaltlich auf den Gleichlauf mit dem vom Erblasser nach Art. 22 gewählten Staatsangehörigkeitsrecht ein.2 Art. 5 enthält dabei keine eigene Zuständigkeitsvorschrift, sondern nur Regelungen zur Zulässigkeit und zu den Voraussetzungen einer Gerichtsstandsvereinbarung. Deren Folgen richten sich dann nach Art. 6 lit. b (Unzuständigerklärung des eigentlich nach Art. 4 bzw. 10 zustän-

1 2

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Bzw. entsprechend Art. 25 Brüssel Ia-VO. Vgl. dazu auch Erwägungsgründe 27 und 28.

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Artikel 5, Rn. 2, 3

digen Gerichts) und Art. 7 lit. b (Begründung einer neuen Zuständigkeit). Insbesondere aus der zwingenden Regelung des Art. 6 lit. b ergibt sich, dass in Folge der Gerichtsstandsvereinbarung nur eine neue ausschließliche Zuständigkeit und nicht wahlweise eine weitere, konkurrierende Zuständigkeit vereinbart werden kann.3

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Art. 5 Absatz 1 a) Rechtswahl nach Art. 22 Zwingende Voraussetzung einer Gerichtsstandsvereinbarung nach 2 Art. 5 ist, dass der Erblasser zuvor eine Rechtswahl nach Art. 22 getroffen hat. Insbesondere in Fällen gesetzlicher Erbfolge ist damit eine Gerichtsstandsvereinbarung von vornherein ausgeschlossen, selbst wenn alle Erben oder am Verfahren Beteiligten in einem anderen Land als dem Staat, dessen Gerichte nach Art. 4 zuständig sind, leben, oder dort wesentliche Nachlassgegenstände belegen sind. Die Chance, den Erben, die in einem anderen Land als der Erblasser leben, eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 zu eröffnen, kann damit künftig in der Praxis ein Motiv für den Erblasser sein, ein Testament mit einer Rechtswahl auf sein Staatsangehörigkeitsrecht zu errichten, selbst wenn seine eigentlichen Gestaltungsziele (wie z.B. die Erbeinsetzung zu bestimmten Quoten) auch durch die gesetzliche Erbfolge oder nach dem Testamentsrecht am Aufenthaltsort erreicht werden könnten. Die Rechtswahl des Erblassers muss den Anforderungen des Art. 22 ge- 3 nügen, wobei dafür ggf. schon im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung des Gerichts die Auslegung erfolgen muss, ob in einem Testament eine konkludente Rechtswahl nach Art. 22 Abs. 2 enthalten ist. Auch eine nach Art. 83 Abs. 2 fortbestehende Rechtswahl bzw. eine nach Art. 83 Abs. 4 fingierte Rechtswahl wird man für eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 ff. ausreichen lassen. Bezog sich aber eine nach Art. 83 Abs. 2 fortbestehende Rechtswahl nur auf einen Teil des Nachlasses, wie z.B. auf bestimmte Immobilien, wird man dies nicht als gleichwertig zu der Verweisung auf Art. 22 ansehen, selbst wenn sich das anhängige 3

Im Unterschied dazu vgl. z.B. den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 letzter Halbsatz EU-UntVO: „… sofern die Parteien nicht anderes vereinbaren.“

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Artikel 5, Rn. 4–7

Verfahren nur auf diesen Teil des Vermögens beziehen sollte. Ebenfalls nicht ausreichend ist eine isolierte Rechtswahl nach Art. 24 Abs. 2 oder Art. 25 Abs. 3, da sich der Wortlaut des Art. 5 nur auf Art. 22 bezieht. 4 Eine Gerichtsstandsvereinbarung ist nach Art. 5 außerdem nur mög-

lich, wenn der Erblasser das Recht eines Mitgliedstaats gewählt hat. Hat der Erblasser dagegen das Recht eines Drittstaats gewählt, so können die Beteiligten keine Gerichtsstandsvereinbarung treffen und damit das nach Art. 4 zuständige Gericht nicht derogieren. 5 Auch wenn die Verordnung den Gleichlauf von anwendbarem Erbrecht

und internationaler Zuständigkeit zum Ziel hat,4 können aufgrund des einschränkenden Wortlauts die Art. 5 bis 7 nicht entsprechend angewendet werden, wenn das Erbrecht eines anderen Mitgliedstaats als dem des gewöhnlichen Aufenthaltsorts nicht aufgrund einer Rechtswahl sondern aufgrund einer Rückverweisung gemäß Art. 34 Abs. 1 lit. a zur Anwendung kommt.

b) Betroffene Parteien 6 Die Gerichtsstandsvereinbarung ist von allen betroffen Parteien zu tref-

fen, wobei dieser Begriff autonom auszulegen ist. Eine nähere Definition der betroffenen Parteien enthält die Verordnung aber nicht, so dass deren Bestimmung insbesondere in nicht-streitigen Verfahren erhebliche Zweifel birgt. Erwägungsgrund 28 stellt dazu Folgendes klar: „Abhängig insbesondere vom Gegenstand der Gerichtsstandsvereinbarung müsste von Fall zu Fall bestimmt werden, ob die Vereinbarung zwischen sämtlichen von dem Nachlass betroffenen Parteien geschlossen werden müsste oder ob einige von ihnen sich darauf einigen könnten, eine spezifische Frage bei dem gewählten Gericht anhängig zu machen, sofern die diesbezügliche Entscheidung dieses Gerichts die Rechte der anderen Parteien am Nachlass nicht berühren würde.“ 7 Die Verordnung strebt damit einerseits eine flexible Lösung nach Art

und Umfang des angestrebten Verfahrens an. Andererseits sind als betroffen immer alle Beteiligten anzusehen, auf deren Rechte das konkrete Verfahren Einfluss haben kann. Einfach sind damit in der Regel die betroffenen Parteien nur in streitigen Verfahren zu bestimmen, wenn die 4

80

Vgl. z.B. Erwägungsgrund 27.

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Artikel 5, Rn. 8, 9

rechtskräftige Entscheidung nur diese Parteien bindet. Entsprechend der Handhabung bei den anderen EU-Verordnungen genügt in diesen Fällen, wenn die Vereinbarung von Kläger und Beklagten bzw. Antragsteller und -gegner getroffen wird. Schwieriger und unsicherer gestaltet sich die Bestimmung der betroffe- 8 nen Parteien bei nicht-streitigen Verfahren, die von Amts wegen oder auf Antrag nur eines Beteiligten durchzuführen sind. Dies umfasst insbesondere die Verfahren, die auf die Feststellung der Erben bzw. Begünstigten oder der Gültigkeit eines Testaments gerichtet sind, wobei über die Verweisung des Art. 64 auch der Antrag auf Ausstellung eines ENZ zu diesen umfassenden Verfahren gehört. Betroffen sind bei solchen allgemeinen Nachlassverfahren zweifellos alle tatsächlichen Erben. Ergibt sich die Erbfolge aus einem Testament, wird man aber wohl auch die potentiellen gesetzlichen Erben als betroffen ansehen, da diese im Verfahren geltend machen könnten, dass das Testament unwirksam ist und sie die tatsächlichen Erben sind. Im Übrigen werden diese häufig zum Kreis der Noterb- oder Pflichtteilsberechtigten gehören. Betroffen sind wohl ferner alle weiteren Personen, denen (möglicherweise) unmittelbare Rechte am Nachlass zustehen, wie z.B. die Begünstigten eines Vindikationslegats oder ein Testamentsvollstrecker. Um andererseits Art. 5 noch handhabbar zu gestalten, wird man dagegen Personen, die einen bloßen Anspruch gegen den bzw. die Erben haben (wie z.B. der Vermächtnisnehmer beim Damnationslegat oder bloße Nachlassgläubiger) nicht als ausreichend betroffen ansehen, zumal diesen offen steht, ihre Klage von dem nach Art. 4 zuständigen Gericht anhängig zu machen, auch wenn zuvor ein Gericht eines anderen Landes aufgrund der Gerichtsstandsvereinbarung der Erben ein allgemeines Nachlassverfahren durchgeführt oder einen ENZ erteilt hat. Stellt sich erst später heraus, dass nicht alle betroffenen Parteien der 9 Gerichtsstandsvereinbarung zugestimmt haben (z.B. weil erst später ein weiterer Erbe bekannt wird), kann die Zuständigkeit der Gerichte in dem Land, dessen Recht der Erblasser nach Art. 22 gewählt hat, weiterhin ausgeübt werden, wenn alle tatsächlichen Verfahrensparteien diese Zuständigkeit nach Art. 7 lit. c ausdrücklich anerkennen oder sich gemäß Art. 9 auf das Verfahren eingelassen haben.

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Artikel 5, Rn. 10–12

Hat das nach Art. 4 eigentlich zuständige Gerichte Zweifel, wer zu den betroffenen Parteien zählt, wird es sich ferner in der Praxis empfehlen, zusätzlich auf Antrag nur einer beteiligten Partei eine Unzuständigerklärung nach Art. 6 lit. a auszusprechen, da dann die Frage der internationalen Zuständigkeit nicht mehr davon abhängt, ob alle betroffenen Parteien an der Vereinbarung tatsächlich mitgewirkt haben.

c) Vereinbarung 10 Der Begriff der „Vereinbarung“ ist nicht nur als bloße Verweisung auf

das innerstaatliche Recht des angerufenen Gerichts zu verstehen, sondern autonom auszulegen. Dies setzt eine übereinstimmende Willenserklärung mit Bindungswirkung voraus, woraus sich ergibt, dass die Gerichte eines bestimmten Landes für das angestrebte Verfahren zuständig sein sollen. Aus der Einhaltung der Schriftform nach Abs. 2 leitet sich in der Regel die Vermutung ab, dass die Einigung der Parteien tatsächlich zustande gekommen ist.5 11 Weitere inhaltliche Anforderungen an das Zustandekommen einer ent-

sprechenden Vereinbarung, die Rechtsfolgen etwaiger Willensmängel und Fragen der Auslegung einer getroffenen Vereinbarung sind dagegen nicht in der Verordnung geregelt und richten sich wohl einheitlich nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Erbrecht gemäß Art. 22 gewählt wurde. Ebenso empfiehlt es sich Vorfragen, wie die Geschäftsfähigkeit zum Abschluss einer Gerichtsstandsvereinbarung oder die Zulässigkeit einer Vertretung unselbständig nach dem anwendbaren Erbrecht anzuknüpfen, um zu vermeiden, dass die nach Art. 6 lit. b und 7 lit. b beteiligten Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Wirksamkeit der Vereinbarung kommen. 12 Nach dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 kann vereinbart werden, dass „ein

Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats“ zuständig sind. Dieser Wortlaut entspricht Art. 4 Abs. 1 EU-UntVO, der auch eine Vereinbarung bezüglich eines bestimmten örtlichen Gerichts eröffnet. Nach der Formulierung der Art. 6 und 7, die jeweils nur auf die Gerichte des betroffenen Mitgliedstaats (in Mehrzahl) abstellen, ist aber davon auszu5

82

EuGH, Urteil v 14.12.1976, C-24/76, Estasis Salotti, Tz. 7; EuGH, Urteil v 20.2. 1997, C-106/95, MSG, Tz. 15; EuGH, Urteil v 9.11.2000, C-387/98, Coreck, Tz. 13.

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Artikel 5, Rn. 13–15

gehen, dass sich eine Vereinbarung nach Art. 5 immer nur auf die internationale Zuständigkeit der Gerichte eines Landes beziehen kann, auch wenn die Beteiligten ein bestimmtes Gericht benennen. Beschränkungen bezüglich des Zeitpunkts der Gerichtsstandsvereinba- 13 rung enthält die Verordnung nicht. Damit können potentielle Erben auch schon zu Lebzeiten des Erblassers eine entsprechende Vereinbarung unter sich treffen, z.B. auch im Rahmen eines Erbvertrags mit dem Erblasser. Allerdings kann der Erblasser selbst keine entsprechende Anordnung treffen und ist auch nie selbst „betroffene Partei“, so dass eine solche Vereinbarung ihm gegenüber nie bindend wird, sondern von den Erben später wieder aufgehoben werden kann.

2. Art. 5 Absatz 2 Art. 5 Abs. 2 regelt abschließend die Formvoraussetzungen für eine Ge- 14 richtsstandsvereinbarung, so dass etwaige weitergehende Formvorschriften der lex fori ausgeschlossen sind. Die Formvorschriften sollen gewährleisten, dass die Einigung der betroffenen Parteien über den Gerichtsstand tatsächlich feststeht. Die Schriftform ist gewahrt, wenn jede betroffene Partei ihre Willenserklärung schriftlich niederlegt, wobei dies auch in getrennten Schriftstücken erfolgen kann, sofern aus ihnen die inhaltliche Übereinstimmung hinreichend deutlich hervorgeht. Nachdem bei den Parallelvorschriften des Art. 23 Brüssel I-VO und Art. 4 Abs. 2 EU-UntVO unsicher beurteilt wird, ob für die Einhaltung der Schriftform eine Unterschrift erforderlich ist, verlangt nun Art. 5 ausdrücklich, dass die Gerichtsstandsvereinbarung zu datieren und zu unterschreiben ist. Der Schriftform gleichgestellt ist nach Satz 2 eine elektronische Über- 15 mittlung (wie z.B. durch wechselseitige E-Mails), sofern sie eine dauerhafte Aufzeichnung der Vereinbarung ermöglicht, unabhängig davon ob die Beteiligten das Dokument tatsächlich speichern. Da nach dem Wortlaut von Satz 2 die elektronische Übermittlung nur der Schriftform gleichgestellt ist, entfällt dadurch aber nicht das Erfordernis der Unterzeichnung. Dabei ist unklar, wie diese im Zuge der elektronischen Übermittlung geleistet werden kann. Ausreichend ist wohl, dass das eigentliche Schriftstück samt Unterschrift gescannt und übermittelt wird. Felix Odersky

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Artikel 6, Rn. 1, 2

Als gleichwertig wird man außerdem eine qualifizierte elektronische Signatur ansehen. Andere Formen der elektronischen Absenderkennung werden dagegen für den Begriff der Unterzeichnung nicht ausreichend sein. Artikel 6: Unzuständigerklärung bei Rechtswahl Ist das Recht, das der Erblasser nach Art. 22 zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählt hat, das Recht eines Mitgliedstaats, so verfährt das nach Art. 4 oder Art. 10 angerufene Gericht wie folgt: a) Es kann sich auf Antrag einer der Verfahrensparteien für unzuständig erklären, wenn seines Erachtens die Gerichte des Mitgliedstaats des gewählten Rechts in der Erbsache besser entscheiden können, wobei es die konkreten Umstände der Erbsache berücksichtigt, wie etwa den gewöhnlichen Aufenthalt der Parteien und den Ort, an dem die Vermögenswerte belegen sind, oder b) es erklärt sich für unzuständig, wenn die Verfahrensparteien nach Art. 5 die Zuständigkeit eines Gerichts oder der Gerichte des Mitgliedstaats des gewählten Rechts vereinbart haben.

I. Allgemeines 1 Art. 6 und 7 korrespondieren untereinander: Um den Gleichlauf zwi-

schen dem vom Erblasser gewählten Staatsangehörigkeitsrecht und der internationalen Zuständigkeit herzustellen,1 kann bzw. muss sich das nach Art. 4 allgemein zuständige Gericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers (im Folgenden kurz als „Aufenthaltsgericht“ bezeichnet) gemäß Art. 6 für unzuständig erklären. Zugleich wird eine neue internationale Zuständigkeit der Gerichte in dem Land, dessen Recht der Erblasser als sein Staatsangehörigkeitsrecht gewählt hat, begründet (im Folgenden kurz als „Staatsangehörigkeitsgericht“ bezeichnet). 2 Systematisch beinhaltet die Verordnung dabei zwei unterschiedliche

Verfahren: 1

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Zum Gleichlaufprinzip vgl. Art. 4 Rn. 4 ff.

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Artikel 6, Rn. 3, 4

– Einen zwingenden Zuständigkeitswechsel gemäß Art. 6 lit. b und 7 lit. b, wenn eine wirksame Gerichtsstandsvereinbarung gemäß Art. 5 getroffen wurde. Dem steht der Sonderfall des Art. 7 lit. c gleich, wenn alle Verfahrensparteien die Zuständigkeit des Staatsangehörigkeitsgerichts ausdrücklich anerkannt haben. – Alternativ in Art. 6 lit. a und Art. 7 lit. a ein echtes forum-non-conveniens-Verfahren, bei dem es im Ermessen des Aufenthaltsgerichts liegt, ob das Verfahren durch das Staatsangehörigkeitsgericht besser entschieden werden kann. Der Kommissionsvorschlag enthielt dazu noch ein Kooperationsmodell nach dem Vorbild von Art. 15 EUEheVO, das allerdings für Nachlassverfahren als zu schwerfällig erschien, so dass die „Verweisung“ nun allein in die Entscheidung des Aufenthaltsgerichts gestellt wurde. Die Verordnung enthält keine besondere Regelung zu dem Fall, dass 3 nur eine einzige Person von einem nicht-streitigen Nachlassverfahren „betroffen“ im Sinne des Art. 5 ist. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn nur eine Person gesetzlicher Alleinerbe wurde und ein allgemeines Nachlassverfahren durchzuführen oder ein ENZ zu erteilen ist. Dabei kann es begrifflich nicht zu einer „Vereinbarung“ im Sinne des Art. 5 kommen, so dass nur ein Antrag auf Unzuständigerklärung nach Art. 6 lit. a gestellt werden könnte, der jedoch im Ermessen des Aufenthaltsgerichts liegt. Es dürfte jedoch nichts dagegen sprechen, in diesem Fall eine unmittelbare Zuständigkeit des Staatsangehörigkeitsgerichts zumindest nach Art. 7 lit. c zu eröffnen mit der Folge, dass das Aufenthaltsgericht sich zwingend nach Art. 6 lit. b für unzuständig erklären muss. Art. 6 bezieht sich nach dem Wortlaut auf Gerichte, die nach Art. 4 oder 4 nach Art. 10 zuständig sind. Die praktische Bedeutung in Fällen der subsidiären Zuständigkeit des Art. 10 dürfte jedoch marginal sein, da Art. 10 selbst auf die Staatsangehörigkeit des Erblassers abstellt, sofern sich im betreffenden Land auch Nachlassgegenstände befinden. Von einem nach Art. 10 zuständigen Gericht wäre Art. 6 daher allenfalls zu beachten, wenn der Erblasser seine Staatsangehörigkeit nach Errichtung seines Testaments, in dem die Rechtswahl des Art. 22 enthalten ist, gewechselt hat, oder wenn im Land seiner Staatsangehörigkeit keinerlei Nachlassgegenstände belegen sind.

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Artikel 6, Rn. 5–7

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Rechtswahl nach Art. 22 5 Für beide Varianten der Unzuständigerklärung ist zwingende Voraus-

setzung, dass der Erblasser eine Rechtswahl auf sein Staatsangehörigkeitsrecht getroffen, und dabei das Recht eines Mitgliedstaats gewählt hat. Dies entspricht inhaltlich Art. 5 Abs. 1, so dass insoweit auf die dortige Kommentierung (Art. 5 Rn. 2 ff.) verwiesen werden kann.

2. Unzuständigerklärung nach Art. 6 lit. a 6 Die Unzuständigerklärung nach Art. 6 lit. a setzt den Antrag einer Ver-

fahrenspartei voraus. Der Begriff der Verfahrenspartei wird in der Regel dem Begriff der „betroffenen Parteien“ in Art. 5 entsprechen, wobei aber genügt, wenn nur eine dieser Personen den Antrag stellt. Das Verfahren nach Art. 6 lit. a kommt damit nicht nur in den Fällen, in denen sich die Beteiligten nicht einigen können, in Betracht, sondern v.a. auch dann, wenn Unsicherheiten bestehen, wer zu den betroffenen Parteien im Sinne des Art. 5 zählt (vgl. Art. 5 Rn. 6 ff.). 7 Das Aufenthaltsgericht hat so sodann nach seinem Ermessen zu prüfen,

ob das Staatsangehörigkeitsgericht in der Erbsache besser entscheiden kann, wobei dies nach dem Wortlaut der Verordnung auf konkreten Umständen der Erbsache beruhen muss. Beispielhaft für solche konkreten Umstände nennt die Verordnung den gewöhnlichen Aufenthalt der Parteien und den Ort, wo Nachlassgegenstände belegen sind. Bei dem verwendeten Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts wird man jedoch keine vergleichbare dauerhafte Bindung der Beteiligten wie in Art. 4 und 21 verlangen bzw. keine besonderen Ermittlungen anstellen müssen, da auch der bloße Wohnsitz der Parteien ein wichtiger „konkreter Umstand“ im Sinne der Verordnung sein kann. Dieser kann ggf. auch erst während des Verfahrens geändert werden. Bei den Nachlassgegenständen wird man besonders auf Immobilien oder sonstige in Registern eingetragenen Vermögensgegenstände achten, da in diesem Fall eine bessere Entscheidungsmöglichkeit des Staatsangehörigkeitsgerichts aufgrund der Kombination von anwendbarem Erbrecht und dem nach Art. 1 Abs. 2 lit. l zur Anwendung kommenden nationalen Sachrecht ergeben kann. 86

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Artikel 6, Rn. 8–11

Aus der Betonung der „konkrete Umstände“ in Art. 6 lit. a ergibt sich 8 im Umkehrschluss, dass der bloße abstrakte Vorteil, dass das Staatsangehörigkeitsgericht den Erbfall nach seinem eigenen Recht (ggf. billiger und schneller) entscheiden kann, nicht für eine Unzuständigerklärung des Aufenthaltsgerichts reichen soll. Allein der Umstand, dass das Aufenthaltsgericht ein ihm fremdes Erbrecht anwenden muss, sollte also nicht zur Unzuständigerklärung führen, sofern nicht die erwähnten zusätzlichen konkreten Umstände im Staatsangehörigkeitsland hinzutreten. Allerdings ist zu beachten, dass das Aufenthaltsgericht nach seinem Ermessen entscheidet, wogegen nur die betroffenen Beteiligten etwaige Rechtsmittel gemäß der lex fori einlegen können. Das Staatsangehörigkeitsgericht ist dagegen nach dem Wortlaut des Art. 7 lit. a nicht zur Überprüfung des Beschlusses, ob es tatsächlich zur Entscheidung besser geeignet ist, berechtigt.

3. Unzuständigerklärung nach Art. 6 lit. b Liegt eine Gerichtsstandsvereinbarung aller betroffenen Parteien nach 9 Art. 5 vor, hat sich das Aufenthaltsgericht zwingend für unzuständig zu erklären. Ein Ermessensspielraum steht ihm in diesem Fall nicht zu. Art. 6 enthält dagegen nach seinem Wortlaut keine korrespondierende 10 Norm zu Art. 7 lit. c, wenn zunächst eine Verfahrenspartei das Staatsangehörigkeitsgericht angerufen und alle weiteren betroffenen Parteien dessen Zuständigkeit anerkannt haben. Da jedoch der EuGH auch die rügelose Einlassung als einen Fall der stillschweigenden Zuständigkeitsvereinbarung interpretiert,2 spricht nichts dagegen, die übereinstimmende Anerkennung als Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne des Art. 5 zu werten, so dass auch in diesem Fall das Aufenthaltsgericht sich für unzuständig zu erklären hat. Die Verordnung beinhaltet ferner keine Aussage darüber, bis wann eine 11 Gerichtsstandsvereinbarung möglich ist. Dies dürfte daher auch noch jederzeit nach Anrufung des Aufenthaltsgerichts (im Sinne des Art. 14) zulässig sein, auch wenn das entsprechende Nachlassverfahren bereits 2

Vgl. EuGH, Urteil v 20.5.2010, C-111/09, CPP/Bilas, Tz. 20 ff.

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Artikel 7, Rn. 1

fortgeschritten ist.3 Sollten zu diesem Zeitpunkt bereits Entscheidungen des Aufenthaltsgerichts ergangen sein, die noch nicht rechtskräftig wurden,4 bleiben diese aber wohl wirksam, sofern sie nicht durch das dann zuständige Staatsangehörigkeitsgericht aufgehoben werden.5 Artikel 7: Zuständigkeit bei Rechtswahl Die Gerichte eines Mitgliedstaats, dessen Recht der Erblasser nach Art. 22 gewählt hat, sind für die Entscheidungen in einer Erbsache zuständig, wenn a) sich ein zuvor angerufenes Gericht nach Art. 6 in derselben Sache für unzuständig erklärt hat, b) die Verfahrensparteien nach Art. 5 die Zuständigkeit eines Gerichts oder der Gerichte dieses Mitgliedstaats vereinbart haben oder c) die Verfahrensparteien die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ausdrücklich anerkannt haben. I. Allgemeines II. Einzelne Voraussetzungen 1. Rechtswahl nach Art. 22 2. Zuständigkeit nach Art. 7 lit. a

1 3

3.

Zuständigkeit nach Art. 7 lit. b 4. Zuständigkeit nach Art. 7 lit. c

6 7

4

I. Allgemeines 1 Art. 7 korrespondiert mit Art. 6, indem es eine neue umfassende inter-

nationale Zuständigkeit begründet, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne des Art. 5 treffen, oder sich das Aufenthaltsgericht nach Art. 6 für unzuständig erklärt hat.1

3

4

5 1

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In gleicher Weise kann auch noch später ein Antrag nach Art. 6 lit. a gestellt werden, wobei das Gericht in diesem Fall die fortgeschrittene Dauer des Verfahrens in seine Ermessenserwägung einbeziehen kann. Darunter fällt über die Verweisung des Art. 64 auch ein bereits ausgestelltes ENZ. Vgl. entsprechend Art. 9 Rn. 7. Zu den hier verwendeten Begriffen des „Aufenthaltsgerichts“ und des „Staatsangehörigkeitsgerichts“ vgl. Art. 6 Rn. 1.

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Artikel 7, Rn. 2–5

Dabei ist die unmittelbare Anrufung des Staatsangehörigkeitsgerichts in 2 Folge einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 gemäß Art. 7 lit. b zulässig, ohne dass zuvor das Aufenthaltsgericht angerufen und dessen Unzuständigkeit festgestellt werden muss. Damit kann es zur Anrufung sowohl des Aufenthaltsgerichts als auch des Staatsangehörigkeitsgerichts kommen, wenn unterschiedliche Meinungen über den Kreis der betroffenen Parteien im Sinne des Art. 5 bestehen. Da Art. 6 und 7 keine zwingende Reihenfolge für die Zuständigkeitsprüfung festlegen, haben die Gerichte in diesem Fall nach Art. 17 zu verfahren.

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Rechtswahl nach Art. 22 Zwingende Voraussetzung für die Begründung einer neuen internatio- 3 nalen Zuständigkeit nach Art. 7 ist, dass der Erblasser eine wirksame Rechtswahl nach Art. 22 getroffen, und dabei das Recht eines Mitgliedstaats gewählt hat. Dies entspricht inhaltlich Art. 5 Abs. 1, so dass insoweit auf die dortige Kommentierung (Art. 5 Rn. 2 ff.) verwiesen werden kann.

2. Zuständigkeit nach Art. 7 lit. a Art. 7 lit. a korrespondiert in erster Linie mit Art. 6 lit. a und setzt zwin- 4 gend voraus, dass sich zuvor das allgemein zuständige Gericht für unzuständig erklärt hat. Das Staatsangehörigkeitsgericht ist also nicht berechtigt, ein Verfahren zu eröffnen, solange das Aufenthaltsgericht nicht seine Unzuständigkeit erklärt hat, selbst wenn es sich selbst für besser zur Entscheidung geeignet erachtet. Andererseits ist das Staatsangehörigkeitsgericht an eine zuvor ergange- 5 ne Unzuständigkeitserklärung des Aufenthaltsgerichts nach Art. 6 lit. a gebunden, auch wenn diese aus Sicht des Staatsangehörigkeitsgerichts zu Unrecht erfolgte. Da Art. 7 lit. a insgesamt auf Art. 6 (und nicht nur auf Art. 6 lit. a verweist, gilt dies in gleicher Weise, wenn nicht alle Voraussetzungen des Art. 6 lit. b in Verbindung mit Art. 5 vorlagen, z.B. weil nicht alle betroffenen Parteien der Vereinbarung zustimmten, das Aufenthaltsgericht sich aber (irrtümlich) für unzuständig erklärte. Das Staatsangehörigkeitsgericht wird also automatisch zuständig und hat Felix Odersky

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Artikel 7, Rn. 6–8

keine Möglichkeit, sich für unzuständig zu erklären oder das Verfahren an das Aufenthaltsgericht „zurückzuverweisen“, wenn sich das Aufenthaltsgericht zuvor gemäß Art. 6 für unzuständig erklärt hat.

3. Zuständigkeit nach Art. 7 lit. b 6 Haben die betroffenen Parteien eine wirksame Gerichtsstandsvereinba-

rung im Sinne des Art. 5 getroffen, wird das Staatsangehörigkeitsgericht nach Art. 7 lit. b für den gesamten Nachlass international zuständig. In diesem Fall kann das Staatsangehörigkeitsgericht unmittelbar von jedem Verfahrensbeteiligten angerufen werden, ohne dass es zuvor einer Befassung des Aufenthaltsgerichtes oder dessen Unzuständigkeitserklärung bedarf.

4. Zuständigkeit nach Art. 7 lit. c 7 Gemäß Art. 7 lit. c kann die Zuständigkeit des Staatsangehörigkeitsge-

richts von den Verfahrensparteien anerkannt werden. Der Begriff Verfahrenspartei ist dabei in gleicher Weise wie in lit. b zu verstehen, so dass alle betroffenen Parteien im Sinne von Art. 5 mitwirken müssen.2 8 Art. 7 lit. c überschneidet sich damit von der Funktion mit der Regelung

der rügelosen Einlassung in Art. 9. Formal unterscheiden sich diese beiden Regelungen, dass in Art. 7 lit. c eine aktive Zustimmung verlangt wird, wohingegen Art. 9 schon dann eingreift, wenn eine Partei sich in anderer Weise auf das Verfahren einlässt, ohne sofort die Unzuständigkeit zu rügen. Art. 9 setzt ferner voraus, dass das Staatsangehörigkeitsgericht bereits „seine Zuständigkeit nach Art. 7 ausübt“ und sich erst später herausstellt, dass eine betroffen Partei im Sinne des Art. 5 nicht mitgewirkt hat. Stellt das Gericht dagegen bereits im Rahmen seiner Zuständigkeitsprüfung nach Art. 15 fest, dass nicht alle Voraussetzungen des Art. 5 vorliegen, darf es nicht auf die einfachere rügelose Einlassung vertrauen, sondern muss um ausdrückliche Anerkennung gemäß Art. 7 lit. c ersuchen. Art. 7 lit. c hat daher in zwei Fällen Bedeutung: – Wenn nur eine von mehreren Verfahrensparteien das Staatsangehö2

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Zum Begriff der betroffenen Parteien vgl. Art. 5 Rn. 6 ff.

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Artikel 8, Rn. 1

rigkeitsgericht anruft, muss es sich nicht sofort für unzuständig erklären, sondern kann anfragen, ob alle betroffenen Parteien seine Zuständigkeit anerkennen. Nach der Intention der Verordnung wird man das Gericht auch zu einer solchen Verfahrensweise für verpflichtet halten. – Ist nur eine einzige Person Verfahrenspartei, kann in seinem Antrag zugleich eine ausreichende Anerkennung nach Art. 7 lit. c gesehen werden (vgl. dazu Art. 6 Rn. 3). Artikel 8: Beendigung des Verfahrens von Amts wegen bei Rechtswahl Ein Gericht, das ein Verfahren in einer Erbsache von Amts wegen nach Art. 4 oder nach Art. 10 eingeleitet hat, beendet das Verfahren, wenn die Verfahrensparteien vereinbart haben, die Erbsache außergerichtlich in dem Mitgliedstaat, dessen Recht der Erblasser nach Art. 22 gewählt hat, einvernehmlich zu regeln.

Art. 8 ergänzt den Regelungskomplex der Art. 5 bis 7 für die spezielle 1 Konstellation, dass ein nach Art. 4 bzw. 10 international zuständiges Gericht von Amts wegen ein Nachlassverfahren durchführen müsste, alle Verfahrensparteien ein entsprechendes Verfahren aber außergerichtlich in dem Land führen wollen, dessen Recht der Erblasser nach Art. 22 gewählt hat.1 Beispiel Der Erblasser verstarb mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in Tschechien, so dass dort ein Nachlassverfahren von Amts wegen eröffnet wird; alle Erben, die in Frankreich wohnen, wünschen jedoch die Feststellung der Erben bei ihrem Notar durch einen acte de notoriété. In dieser spezielle Konstellation ergibt sich die Besonderheit, dass die Beteiligten keine Gerichtsstandsvereinbarung im Sinne der Art. 5 treffen können, da sie nicht die Zuständigkeit eines Gerichts im Sinne des Art. 3 Abs. 2 im Land der Staatsangehörigkeit festlegen können. Damit 1

Vgl. dazu auch Erwägungsgrund 29 Satz 1.

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Artikel 8, Rn. 1–3; Artikel 9

könnten die Beteiligten ohne die Sonderregel des Art. 8 die zwingende Zuständigkeit und Tätigkeit des Aufenthaltsgerichts nicht derogieren. 2 Voraussetzung für die Anwendung des Art. 8 ist, dass die Verfahrens-

parteien eine außergerichtliche Einigung in dem Mitgliedstaat, dessen Recht der Erblasser nach Art. 22 gewählt hat, treffen. Insoweit stimmt Art. 8 mit den Voraussetzungen für eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 Abs. 1 überein. Art. 8 schreibt aber keine bestimmten Formvorschriften für diese Vereinbarung vor, so dass Art. 5 Abs. 2 nicht unmittelbar anwendbar ist, sondern die Vereinbarung auch auf andere Weise dokumentiert werden kann. 3 Problematisch an dem Regelungskonzept des Art. 8 erweist sich aller-

dings, dass es nur die Vereinbarung nicht aber die tatsächliche Durchführung der außergerichtlichen Regelung verlangt. Im Ergebnis führt also Art. 8 dazu, dass die Beteiligten nach europäischem Recht jedes von Amts wegen vom Aufenthaltsgericht einzuleitende Nachlassverfahren durch Unterzeichnung einer entsprechenden Vereinbarung beenden können. 4 Für Verfahren, die nur auf Klage oder auf Antrag einer Partei durch-

geführt werden, ist Art. 8 nicht anwendbar, da die Verordnung davon ausgeht, dass in allen Mitgliedstaaten ein solches Verfahren durch einfache Antragsrücknahme erledigt werden kann. Dies kommt auch in Erwägungsgrund 29 Satz 2 und 3 zum Ausdruck, der klarstellt, dass es den Beteiligten offensteht, in solchen Fällen eine einvernehmliche Regelung vor jeder beliebigen Stelle (ohne Begrenzung auf einen Mitgliedstaat) zu erzielen. Artikel 9: Zuständigkeit aufgrund rügeloser Einlassung (1) Stellt sich in einem Verfahren vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, das seine Zuständigkeit nach Art. 7 ausübt, heraus, dass nicht alle Parteien dieses Verfahrens der Gerichtstandsvereinbarung angehören, so ist das Gericht weiterhin zuständig, wenn sich die Verfahrensparteien, die der Vereinbarung nicht angehören, auf das Verfahren einlassen, ohne den Mangel der Zuständigkeit des Gerichts zu rügen. (2) Wird der Mangel der Zuständigkeit des in Absatz 1 genannten Gerichts von

92

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Artikel 9, Rn. 1–3

Verfahrensparteien gerügt, die der Vereinbarung nicht angehören, so erklärt sich das Gericht für unzuständig. In diesem Fall sind die nach Art. 4 oder Art. 10 zuständigen Gerichte für die Entscheidung in der Erbsache zuständig.

I. Allgemeines Art. 9 übernimmt das Vorbild einer durch rügelose Einlassung begrün- 1 deten Zuständigkeit aus Art. 5 EU-UntVO sowie Art. 24 Brüssel I-VO, stellt dieses System jedoch unter enge Voraussetzungen. Grund dafür ist, dass der EuGH die rügelose Einlassung zwar als eine nachträgliche stillschweigende Zuständigkeitsvereinbarung interpretiert, jedoch nicht die jeweiligen Schranken, die diese Verordnungen für die eigentliche Zuständigkeitsvereinbarung aufstellen, übernimmt.1 Art. 9 begrenzt daher die Möglichkeit der rügelosen Einlassung ausschließlich auf den Fall, dass nicht alle betroffenen Parteien im Sinne des Art. 5 an einer Gerichtsstandsvereinbarung mitgewirkt haben. Ist die Gerichtsstandsvereinbarung aus anderen Gründen unwirksam, z.B. weil die Formvorschriften des Art. 5 Abs. 2 nicht eingehalten wurden, kann dies nicht durch eine rügelose Einlassung geheilt werden.

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Rügelose Einlassung gemäß Absatz 1 Die Anwendung des Art. 9 setzt voraus, dass das Staatsangehörigkeits- 2 gericht bereits seine Zuständigkeit nach Art. 7 ausübt,2 und sich dann herausstellt, dass nicht alle Parteien der erforderlichen Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 angehören. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn ein tatsächlicher Erbe, der in jedem Fall zu den betroffenen Parteien im Sinne des Art. 5 zählt, erst später bekannt wird. Der Begriff der rügelosen Einlassung kann in gleicher Weise wie in 3 1

2

Vgl. EuGH, Urteil v 7.3.1985, C-48/84, Spitzley/Sommer, Tz. 13; EuGH, Urteil v 20.5.2010, C-111/09, CPP/Bilas, Tz. 20 ff. Zur Abgrenzung zur Gerichtsstandsanerkennung nach Art. 7 lit. c vgl. Art. 7 Rn. 8.

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Artikel 9, Rn. 4, 5

Art. 5 EU-UntVO bzw. Art. 24 Brüssel I-VO interpretiert werden. Der Begriff ist autonom auszulegen, so dass eine rügelose Einlassung im Sinne der europäischen Verordnungen abweichend von dem gleichen Begriff in den nationalen Rechten eintreten kann (z.B. also schon zu einem früheren Zeitpunkt als nach der lex fori oder durch bloße Verfahrensanträge). Dabei ist die Zuständigkeitsrüge spätestens mit der Stellungnahme zu erheben, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht des angerufenen Gerichts als das erste Verteidigungsvorbringen anzusehen ist.3 Eine rügelose Einlassung kann damit z.B. schon in dem ersten Schreiben an das Gericht liegen, wenn dieses eine Erwiderung zu bestimmten Aspekten des Rechtsstreits (auch nur formeller Art) enthält, ohne zugleich die fehlende Zuständigkeit zu rügen. Eine Pflicht zur Belehrung über die Folgen einer rügelosen Einlassung sieht Art. 9 nicht vor, so dass eine unterlassene Belehrung entgegen etwaiger zwingenden Vorschriften der lex fori nicht verhindern kann, dass die Wirkungen des Art. 9 eintreten.4 4 Die Form der Rüge wird von der lex fori des angerufenen Gerichts be-

stimmt. Inhaltlich reicht jedoch immer eine allgemein formulierte Zuständigkeitsrüge aus, auch wenn sich diese von der Ausdrucksweise eher auf eine örtliche Unzuständigkeit bezieht. Es muss auch nicht das aus Sicht des Rügenden tatsächlich zuständige Gericht bezeichnet werden. Dem rügenden Verfahrensbeteiligten steht es dabei frei, hilfsweise Einlassungen zur Sache zu machen, sofern ausreichend zum Ausdruck kommt, dass er auch die Unzuständigkeit des Gerichts rügt. 5 Ein bloßes Schweigen, auch auf eine ausdrückliche Stellungnahmefrist

des Gerichts, kann dagegen nie als rügelose Einlassung angesehen werden. Führt also das Gericht auf Antrag einer Verfahrenspartei ein nichtstreitiges Verfahren durch, bei dem es nicht zwingend der aktiven Mitwirkung der weiteren betroffenen Parteien bedarf, und äußern sich diese trotz Aufforderung des Gerichts nicht, kann das Gericht das Verfahren nicht nach Art. 9 weiterführen. 3 4

94

Vgl. EuGH, Urteil v 24.6.1981, C-150/80, Elefanten Schuh, Tz. 16. Umgekehrt ist eine vorsorgliche Belehrung durch das Gericht natürlich zulässig. Im Hinblick auf die Neufassung des Art. 26 Abs. 2 der Brüssel Ia-VO, die eine Belehrung u.a. für Verbraucher vorsieht, mag dies auch einem zukünftigen europäischen Standard entsprechen.

Felix Odersky

Artikel 9, Rn. 6, 7; Artikel 10

2. Unzuständigerklärung nach Absatz 2 Rügt eine betroffene Partei rechtzeitig die fehlende Zuständigkeit des 6 Staatsangehörigkeitsgerichts, so hat sich dieses nach Art. 2 für unzuständig zu erklären. In diesem Fall lebt die allgemeine Zuständigkeit nach Art. 4 oder subsidiär nach Art. 10 wieder auf. Absatz 2 wird man entsprechend anwenden können, sollten die Parteien eine getroffene Gerichtsstandsvereinbarung wieder aufheben. Abgesehen von dieser Zuständigkeitsfolge schweigt die Verordnung je- 7 doch zu der Frage, wie etwaige Entscheidungen, die das Staatsangehörigkeitsgericht bereits getroffen hat, die aber (noch) nicht rechtskräftig wurden, zu behandeln sind. Ebenso ist das Schicksal eines bereits ausgestellten ENZ nicht geklärt. Nach dem Rechtsgedanken von Art. 22 Abs. 2 Brüssel IIa-VO wäre vertretbar, dass diese Entscheidungen in Kraft bleiben, bis das wieder zuständige Aufenthaltsgericht anderweitig entscheidet.5 Artikel 10: Subsidiäre Zuständigkeit (1) Hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat, so sind die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass zuständig, wenn a) der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats im Zeitpunkt seines Todes besaß, oder, wenn dies nicht der Fall ist, b) der Erblasser seinen vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat hatte, sofern die Änderung dieses gewöhnlichen Aufenthalts zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts nicht länger als fünf Jahre zurückliegt. (2) Ist kein Gericht in einem Mitgliedstaat nach Absatz 1 zuständig, so sind dennoch die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für Entscheidungen über dieses Nachlassvermögen zuständig.

5

Vgl. Dutta, FamRZ 2013, S. 4, 7.

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Artikel 10, Rn. 1–4

I. Allgemeines 1 Hatte der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt nicht in

einem Mitgliedstaat sondern in einem Drittstaat (einschließlich dem Vereinigten Königreich, Dänemark oder Irland), besteht keine allgemeine Zuständigkeit nach Art. 4. Weist der Nachlass in diesem Fall Berührungspunkte zu einem Mitgliedstaat auf, weil in diesem Nachlassgegenstände belegen sind, wird es aber regelmäßig ein Bedürfnis für die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats geben. Art. 10 enthält dafür eine subsidiäre Zuständigkeitsregel, wobei diese in Verbindung mit Art. 11 einen abschließenden Zuständigkeitskatalog enthält, so dass ein Rückgriff auf nationale Auffangregeln zur internationalen Zuständigkeit in jedem Fall ausgeschlossen ist.1 2 Art. 10 Abs. 1 eröffnet dabei – in gleicher Weise wie Art. 4 – eine um-

fassende internationale Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für den gesamten Nachlass, wohingegen Art. 10 Abs. 2 nur eine Art Auffangzuständigkeit eines oder mehrerer Mitgliedstaaten für das in ihrem Gebiet befindliche Nachlassvermögen darstellt.

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Belegenheit von Nachlassgegenständen 3 Grundvoraussetzung nach Art. 10 Abs. 1 und 2 ist, dass die Gerichte

eines Mitgliedstaates nur dann international zuständig sein können, wenn sich im eigenen Land Nachlassvermögen befindet. Die Frage, wo einzelne Nachlassgegenstände belegen sind, regelt die Verordnung nicht ausdrücklich. Die Einordnung wird man aber im Wege einer autonomen Auslegung nach einem natürlichen und international verbreiteten Verständnis in der Regel unproblematisch vornehmen können. 4 Ebenfalls nicht geregelt ist die Frage, auf welchen Zeitpunkt es für die

Prüfung, wo Nachlassgegenstände belegen sind, ankommt. Denkbar wäre alternativ der Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts (Art. 14) oder der Zeitpunkt des Todes des Erblassers. Um eine willkürliche Veränderung der in der Verordnung abschließend aufgestellten Zuständigkeits1

96

Vgl. dazu Erwägungsgrund 30.

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Artikel 10, Rn. 5–7

vorschriften zu verhindern, muss man aber wohl auf den Zeitpunkt des Todes des Erblassers abstellen. Wird Nachlassvermögen nach dessen Tod, aber vor der Anrufung eines Gerichts verlagert, kann damit weder die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats, in dem sich zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers Nachlassgegenstände befanden, ausgeschlossen noch eine neue internationale Zuständigkeit eines Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich zuvor kein Nachlassvermögen befand, begründet werden.

2. Zuständigkeit nach Abs. 1 lit. a und b Wie Erwägungsgrund 30 klarstellt, stellt Art. 10 Abs. 1 in den Unterab- 5 sätzen a) und b) eine zwingende Zuständigkeitsreihenfolge auf. Sofern also der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats hatte, in dem sich auch Nachlassvermögen befindet, ist dieses Land für den gesamten Nachlass ausschließlich zuständig, so dass die Zuständigkeiten nach lit. b und Absatz 2 nicht mehr zur Anwendung kommen. Die Verordnung regelt dabei nicht die Frage der Zuständigkeit, wenn 6 der Erblasser die Staatsangehörigkeit mehrerer Mitgliedstaaten besaß. Den Vorrang einer effektiven Staatsangehörigkeit kennt die Verordnung aber nicht. Damit sind nach dem Wortlaut der Verordnung und dem Grundgedanken des Art. 22 Abs. 1 Satz 2 ggf. mehrere Mitgliedstaaten, bei denen die Voraussetzungen des Art. 7 lit. a vorliegen, international umfassend zuständig. Werden Klagen oder Anträge aufgrund dieser konkurrierenden Zuständigkeit in mehreren Staaten eingereicht, sind diese nach Art. 17 zu behandeln. Nur wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit ausschließlich eines 7 Drittstaats (oder des Vereinigten Königreichs, Dänemarks oder Irlands) besaß, oder ausnahmsweise im Land seiner Staatsangehörigkeit keinerlei Nachlassgegenstände hinterließ, kommt die hilfsweise Anknüpfung an den früheren gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers in einem Mitgliedstaat zur Anwendung. Zu beachten ist jedoch, dass nach dem Wortlaut von lit. b die einschränkende 5-Jahres-Frist, in der ein gewöhnlicher Aufenthalt des Erblassers in einem Mitgliedstaat vorgelegen haben muss, von der Anrufung des Gerichts im Sinne des Art. 14 (und damit überraschenderweise nicht vom Zeitpunkt des Todes des Erblassers!) zurückgerechnet wird. Felix Odersky

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Artikel 10, Rn. 8; Artikel 11, Rn. 1, 2

3. Beschränkte Zuständigkeit nach Abs. 2 8 Befinden sich zwar Nachlassgegenstände in einem oder mehreren Mit-

gliedstaaten, liegen aber die Voraussetzungen des Absatz 1 lit. a und b nicht vor, ist jeder Mitgliedstaat, in dem sich Nachlassvermögen befindet, nach Absatz 2 hilfsweise zuständig. Diese internationale Zuständigkeit ist jedoch auf Entscheidungen beschränkt, die das im jeweiligen Mitgliedstaat belegene Nachlassvermögen betreffen. Sind demgemäß mehrere Mitgliedstaaten zuständig, entsteht keine konkurrierende Zuständigkeit, sondern sind ggf. parallele Verfahren durchzuführen. Artikel 11: Notzuständigkeit (forum necessitatis) Ist kein Gericht eines Mitgliedstaats aufgrund anderer Vorschriften dieser Verordnung zuständig, so können die Gerichte eines Mitgliedstaats in Ausnahmefällen in einer Erbsache entscheiden, wenn es nicht zumutbar ist oder es sich als unmöglich erweist, ein Verfahren in einem Drittstaat, zu dem die Sache einen engen Bezug aufweist, einzuleiten oder zu führen. Die Sache muss einen ausreichenden Bezug zu dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts aufweisen.

I. Allgemeines 1 Art. 11 entspricht fast wortgleich Art. 7 EU-UntVO. Durch die Notzu-

ständigkeit soll der Justizgewährungsanspruch des Antragstellers im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Grundrechte-Charta gewährleistet werden. Aufgrund des abschließenden Systems der internationalen Zuständigkeit in der Verordnung (vgl. Art. 4 Rn. 1) könnte andernfalls eine Verweigerung des erforderlichen Rechtsschutzes eintreten. Art. 11 verdrängt dabei vergleichbare nationale Notzuständigkeitsregeln der Mitgliedstaaten. 2 Art. 11 eröffnet dem angerufenen Gericht eine Ermessensentscheidung

(„können entscheiden“), wobei das Gericht einen strengen Maßstab anzulegen hat, da die Notzuständigkeit nach dem Wortlaut der Verordnung nur „in Ausnahmefällen“ gewährt werden soll.

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Artikel 11, Rn. 3–6

II. Einzelne Voraussetzungen Die Notzuständigkeit setzt zunächst voraus, dass kein Gericht eines 3 Mitgliedstaats nach anderen Vorschriften der Verordnung international zuständig ist. Dies umfasst nicht nur Art. 4 und 11, sondern ggf. auch eine Zuständigkeit nach Art. 7 lit. b und c und – sofern inhaltlich einschlägig – Art. 13 und 19. Sodann ist zu prüfen, in welchem Drittstaat, zu dem die Nachlasssache 4 einen engen Bezug hat, das angestrebte Verfahren durchgeführt werden könnte. Ein solch enger Bezug zum Drittstaat ist zumindest immer dann gegeben, wenn die Gerichte dieses Drittstaats bei einer spiegelbildlichen Anwendung der Art. 4 und 10 zuständig wären. Darüber hinaus wird man einen engen Bezug immer dann annehmen, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Drittstaates hatte, unabhängig davon, ob sich dort auch Nachlassgegenstände im Sinne des Art. 10 befinden. Es muss sich ferner als unzumutbar oder unmöglich erweisen, das an- 5 gestrebte Verfahren in dem bzw. in allen so ermittelten Drittstaaten durchzuführen. Als Beispiel für eine Unmöglichkeit nennt Erwägungsgrund 31 den Fall eines Bürgerkriegs. Den Fall der Unzumutbarkeit umschreibt dieser Erwägungsgrund, wenn „von einem Berechtigten vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass er ein Verfahren in diesem Land einleitet“. Dies kann generell erfüllt sein, wenn man aus europäischer Sicht in dem betroffenen Drittstaat kein rechtsstaatliches Verfahren erwarten kann (z.B. wegen Ausländerdiskriminierung oder weitgehender Korruption der Gerichte), kann aber auch nur in der Person des konkreten Antragstellers begründet sein (z.B. bei politischer Verfolgung). Unzumutbarkeit kann ferner auch vorliegen, wenn von vornherein feststeht, dass eine im Drittstaat ergangene Entscheidung aus Sicht des Mitgliedstaats, in dem sie benötigt wird, nicht anerkennungsfähig ist (z.B. wegen eines ordre-public-Verstoßes). Keinesfalls unzumutbar sind dagegen zeitlich und finanziell aufwändigere Verfahren im Drittstaat, wenn dieser ansonsten über ein geordnetes Rechtswesen verfügt. Die Notzuständigkeit wird schließlich nach Art. 11 Satz 2 nur in dem 6 Mitgliedstaat eröffnet, zu dem die Erbsache einen ausreichenden Bezug Felix Odersky

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Artikel 12, Rn. 1

hat. Da die Belegenheit von Nachlassvermögen bereits eine Zuständigkeit nach Art. 10 Abs. 2 begründet, kommt dies in Betracht, wenn der Antragsteller seinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat hat. Auch die entsprechende Staatsangehörigkeit des Erblassers kann wohl einen solchen Bezug ergeben, zumindest wenn dadurch auch das Erbrecht des betreffenden Mitgliedstaats zur Anwendung kommt (z.B. aufgrund Rechtswahl nach Art. 22, wenn nicht zugleich die Zuständigkeit nach Art. 7 eröffnet ist, oder aufgrund Rückverweisung nach Art. 34 Abs. 1 lit. a). Artikel 12: Beschränkung des Verfahrens (1) Umfasst der Nachlass des Erblassers Vermögenswerte, die in einem Drittstaat belegen sind, so kann das in der Erbsache angerufene Gericht auf Antrag einer der Parteien beschließen, über einen oder mehrere dieser Vermögenswerte nicht zu befinden, wenn zu erwarten ist, dass seine Entscheidung in Bezug auf diese Vermögenswerte in dem betreffenden Drittstaat nicht anerkannt oder gegebenenfalls nicht für vollstreckbar erklärt wird. (2) Absatz 1 berührt nicht das Recht der Parteien, den Gegenstand des Verfahrens nach dem Recht des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts zu beschränken.

I. Allgemeines 1 Art. 12 schränkt den in Art. 4 und 10 Abs. 1 niedergelegten Grundsatz,

dass die internationale Zuständigkeit eines Mitgliedstaats den gesamten Nachlass umfasst, ein, wenn zu erwarten ist, dass die Entscheidung in einem Drittstaat, in dem Nachlassvermögen belegen ist, nicht anerkannt oder vollstreckt wird. Inhaltlich handelt es sich dabei eigentlich eher um eine Frage des Rechtschutzbedürfnisses (d.h. es besteht der Einwand, dass die weitere Durchführung eines Verfahrens lediglich formalistischen Charakter hat, weil die Entscheidung aus anderen Gründen nicht durchgesetzt werden kann) als einer Zuständigkeitsregel, zumal die Zuständigkeit nach Art. 15 bereits zu Beginn des Verfahrens geprüft werden müsste und nicht mit komplizierten Ermittlungen über die Anerkennung im Ausland überfrachtet werden sollte.

100

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Artikel 12, Rn. 2–5

Der Grund für die Regelung in Art. 12 bleibt etwas unklar, zumal dieser 2 in den Erwägungsgründen nicht erwähnt wird und kein Vorbild in anderen EU-Verordnungen existiert. Eigentlich müsste sich die Verordnung gar nicht um die Anerkennungsfähigkeit einer Entscheidung in Drittstaaten kümmern, da die dortige Anerkennungs- und Vollstreckungsfähigkeit ein Faktum ist, das sich mangels Rechtssetzungskompetenz der EU allein nach nationalem Recht des betroffenen Drittstaats richtet. Hintergrund der Regelung ist damit wohl die Befürchtung, dass der Europäische Gesetzgeber eine universelle internationale Zuständigkeit begründet, das zuständige Gericht dann aber nach seinem nationalen Recht verpflichtet sein könnte, ein von Amts wegen durchzuführendes Nachlassverfahren auf den gesamten Welt-Nachlass auszudehnen, was zu zusätzlichen Belastungen des Gerichts und der Beteiligten (wie z. B. Ermittlungspflichten, zusätzliche Kosten) führen kann. Art. 12 schafft daher eine vorrangige Regelung, erbrechtliche Verfahren räumlich zu begrenzen, auch wenn die lex fori des angerufenen Gerichts eine solche Verfahrensbegrenzung nicht kennt. Das Recht der Parteien, weitergehende oder andersartige Verfahrensbegrenzungen nach nationalem Recht zu beantragen oder zu vereinbaren, bleibt davon ohnehin unberührt (Art. 12 Abs. 2).

II. Einzelne Voraussetzungen Voraussetzung für Art. 12 ist zunächst, dass Nachlassgegenstände in 3 einem Drittstaat belegen sind, wobei man dafür wohl die gleichen Grundsätze wie in Art. 10 heranziehen kann. Insbesondere wird man auch hier eine nach dem Tod des Erblassers erfolgte Verlagerung der Gegenstände in den Drittstaat nicht als ausreichenden Grund für eine Begrenzung des Verfahrens ansehen können. Ferner muss zu erwarten sein, dass die angestrebte Entscheidung des 4 nach der Verordnung zuständigen Gerichts in diesem Drittstaat nicht anerkannt oder nicht vollstreckt würde. Das Gericht selbst hat dies ausreichend zu prüfen. Liegen diese Voraussetzung vor, kann das Gericht nach seinem Ermes- 5 sen beschließen, das Verfahren so zu beschränken, dass es über diese Nachlassgegenstände nicht mitentscheidet, sofern eine Partei dies beantragt. Der Begriff der Partei ist bei Amtsverfahren wohl in gleichem SinFelix Odersky

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Artikel 13, Rn. 1

ne wie in Art. 5 zu verstehen. Der Beschluss des Gerichts kann dabei alle im Drittstaat belegenen Gegenstände oder auch nur einzelne dieser Gegenstände (z.B. einzelne Immobilien) ausnehmen. Aufgrund der Antragsbindung des Gerichts wird man wohl davon ausgehen, dass sich aber auch schon der Antrag der Partei nur auf einzelne Gegenstände beschränken kann, so dass das Gericht von sich aus nicht weitere Gegenstände als im Antrag bezeichnet, von seiner Entscheidung ausnehmen darf. Artikel 13: Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils Außer dem gemäß dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vor einem Gericht eine Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung der betreffenden Person für die Nachlassverbindlichkeiten abgeben kann, für die Entgegennahme solcher Erklärungen zuständig, wenn diese Erklärungen nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vor einem Gericht abgegeben werden können.

I. Allgemeines 1 Art. 13 hat kein Vorbild in anderen EU-Verordnungen, da er sich auf

spezifisch erbrechtliche Anwendungsfälle bezieht. Die Verordnung schafft eine zusätzliche internationale Zuständigkeit, um es Erben und anderen Begünstigten, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in dem gleichen Land haben, dessen Gerichte nach den allgemeinen Vorschriften der Art. 4-11 international zuständig sind, zu ermöglichen, in ihrem Heimatland zu Gericht zu gehen. Art. 13 ergänzt Art. 28, der für diese Fälle anordnet, dass die erforderlichen Erklärungen auch in der im Heimatland vorgesehenen Form abgegeben werden können. Die Verordnung schafft damit eine zusätzliche internationale Zuständigkeit insbesondere für Fälle, in denen die nach Art. 28 lit. b anwendbaren örtlichen Formvorschriften eine Beteiligung eines Gerichts vorsehen. 102

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Artikel 13, Rn. 2–5

Weder Art. 13 noch Art. 28 regeln dagegen, wie eine solche Erklärung 2 dem eigentlich zuständigen Gericht bekannt wird. Erwägungsgrund 32 geht aber davon aus, dass Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen, Erklärungen im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, das Gericht oder die Behörde, die mit der Erbsache befasst ist oder sein wird, selbst davon in Kenntnis setzen. Ist der Zugang der Erklärung bei dem für den Erbfall grundsätzlich zuständigen Gericht eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Erklärung, muss sich der Beteiligte also ein Protokoll o. ä. vom Heimatgericht ausstellen lassen und selbst bei dem in der Hauptsache zuständigen Gericht einreichen. Ist nach dem anwendbaren Erbrecht für die Abgabe dieser Erklärung eine bestimmte Frist vorgesehen, wird diese auch erst mit Eingang bei diesem Gericht gewahrt. Art. 13 beinhaltet keine Regelung der örtlichen Zuständigkeit. Welches 3 Gericht dem Erklärenden örtlich zur Verfügung steht, hat daher das nationale Recht zu bestimmen, sofern nicht ausnahmsweise eine internationale Zuständigkeit ausgeschlossen ist (vgl. dazu Rn. 7 ff.). Erwägungsgrund 32 stellt ferner klar, dass die internationale Zuständig- 4 keit sonstiger Behörden unberührt bleibt. Sollen Ausschlagungserklärungen durch Behörden oder einen Notar entgegengenommen oder beglaubigt werden, richtet sich deren Zuständigkeit nach dem jeweiligen nationalen Recht und die inhaltliche Wirksamkeit ausschließlich nach dem anwendbaren Erbrecht. Öffentliche Urkunden über die im Ausland aufgenommenen Erklärungen sind ggf. nach Art. 59 ff. anzunehmen.

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Art der Erklärung Wie in Art. 28 ist die Sondervorschrift des Art. 13 nicht für alle gegen- 5 über einem Gericht abzugebenden Erklärungen, sondern nur für die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung für Nachlassverbindlichkeiten vorgesehen.1 Erwägungsgrund 33 stellt dazu 1

Vgl. dazu die weiteren Erläuterungen bei Art. 28.

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Artikel 13, Rn. 6, 7

klar, dass von den Erklärungen zur Haftungsbegrenzung nicht die Fälle umfasst sind, bei denen das anwendbare Recht vom Erben die Durchführung eines besonderen Verfahrens, wie z.B. die Errichtung eines Inventars, verlangt. Es darf sich also inhaltlich nur um Erklärungen handeln, bei denen sich die Tätigkeit des Ortsgerichts in einer bloßen Entgegennahme beschränkt. 6 Ferner ist erforderlich, dass die Erklärung nach dem anwendbaren Erb-

recht auch vor einem Gericht abgegeben werden kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn man dazu zwingend bei Gericht erscheinen muss, oder wenn das anwendbare Erbrecht dem Beteiligten zumindest die Wahl eröffnet, seinen Erklärungen zu Protokoll eines Gerichts abzugeben. Sieht dagegen das anwendbare Erbrecht für die maßgebliche Erklärung überhaupt kein Tätigwerden eines Gerichts vor (z.B. weil die Ausschlagung nur schriftlich beim Gericht einzureichen ist, oder ausschließlich gegenüber einem Notar oder einer anderen Behörde, die nicht als Gericht im Sinne des Art. 3 Abs. 2 fungieren, oder unmittelbar gegenüber einem anderen Beteiligten erfolgt), werden auch die Gerichte am Heimatort des Beteiligten nicht zuständig. Dies gilt selbst dann, wenn sie nach ihrem eigenen – ggf. über Art. 28 lit. b anwendbaren – Recht zur Entgegennahme vergleichbarer Erklärungen berufen wären. Erfolgt zum Beispiel nach dem anwendbaren Erbrecht eine Vermächtnisausschlagung nur durch Erklärung gegenüber dem Erben, werden die Gerichte in anderen Ländern nicht nach Art. 13 zuständig, auch wenn eine Vermächtnisausschlagung nach der Ortsform des Art. 28 lit. b vor einem Gericht abgegeben werden müsste. Dem Beteiligten ist es in diesen Fällen zuzumuten, seine Erklärung in der einfacheren Form des anwendbaren Erbrechts ohne zusätzliche Einschaltung der Gerichte an seinem Heimatort abzugeben.

2. Doppelte Zuständigkeitsprüfung 7 Nach dem letzten Halbsatz von Art. 13 sind die Gerichte am Heimatort

des Erklärenden auch nur zur Entgegennahme solcher Erklärungen zuständig, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vor einem Gericht abgegeben werden können. Es handelt sich daher um eine Art doppelte Zuständigkeitsprüfung, nach der die Gerichte am Heimatort nicht 104

Felix Odersky

Artikel 13, Rn. 8, 9

zwingend wesensfremde Tätigkeiten des ausländischen Rechts vornehmen müssen, die ihnen unbekannt sind. Unproblematisch erfüllt wird diese Voraussetzung immer dann sein, 8 wenn die eigene maßgebliche Ortsform nach Art. 28 lit. b die Abgabe der Erklärung vor einem Gericht vorsieht. Will der Beteiligte dagegen vor seinem Heimatgericht eine Erklärung in 9 der Form des anwendbaren Erbrechts abgeben (gemäß Art. 28 lit. a), ist der Umfang dieser „Zuständigkeitssperre“ vom Wortlaut unklar. Zunächst wird sicherlich kein Gericht durch Art. 13 gezwungen, eine ihm völlig wesensfremde Tätigkeit auszuüben. Kennt z.B. ein Land keinerlei erbrechtlichen Ausschlagungserklärungen, die vor einem Gericht abzugeben sind, muss es aufgrund der Einschränkung der Verordnung auch nicht eine solche ihm unbekannte Tätigkeit in internationalen Fällen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus kann der Umfang dieser Einschränkung aus dem Zusammenspiel mit Art. 28 sinnvoll gelöst werden: Das Gericht muss keine ihm unbekannte Tätigkeit des anwendbaren Erbrechts ausüben, wenn die Ortsform des Art. 28 lit. b eine vergleichbare Tätigkeit ohne Einschaltung eines Gerichts ermöglicht. Sieht zum Beispiel das anwendbare Erbrecht vor, dass die Erbschaftsausschlagung durch Erklärung vor einem Gericht erfolgt, ist dies aber nach dem Heimatrecht des Begünstigten durch einfache schriftliche Erklärung möglich, gibt es keinen Bedarf, dass das Gericht am Heimatort diese ihm unbekannte Tätigkeit (im Sinne des Art. 28 lit. a) ausübt, da der Ausschlagende seine Erklärung bereits aufgrund Art. 28 lit. b ohne Einschaltung eines Gerichts abgeben kann. Über diese Einschränkung hinaus, sollten aber keine zu strengen Anforderungen an die Vergleichbarkeit der gerichtlichen Tätigkeit gestellt werden, um die Intention der Verordnung, dem Beteiligten den unkomplizierten Zugang zu einem Gericht in seinem Aufenthaltsstaat zu eröffnen, zu erreichen. Die internationale Zuständigkeit des Gerichts vor Ort sollte daher nur dann abgelehnt werden können, wenn das betroffene nationale Recht keinerlei vergleichbare Tätigkeit kennt. In diesem Sinne könnte z.B. jede Form von Begünstigung (Erbschaft, Vermächtnis Felix Odersky

105

Artikel 14, Rn. 1, 2

oder Pflichtteil) nach dem anwendbaren Erbrecht ausgeschlagen werden, auch wenn das angerufene Gericht nach seinem eigenen Recht nur zur Empfangnahme einzelner dieser Erklärungen zuständig wäre. Nach der Art der Tätigkeit macht es aber für das angerufene Gericht keinen erheblichen Unterschied, auf welche Art der Begünstigung sich die Ausschlagungserklärung konkret bezieht. Artikel 14: Anrufung eines Gerichts Für die Zwecke dieses Kapitels gilt ein Gericht als angerufen a) zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht worden ist, vorausgesetzt, dass der Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Beklagten zu bewirken, b) falls die Zustellung vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, dass der Kläger es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen, oder c) falls das Gericht das Verfahren von Amts wegen einleitet, zu dem Zeitpunkt, zu dem der Beschluss über die Einleitung des Verfahrens vom Gericht gefasst oder, wenn ein solcher Beschluss nicht erforderlich ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die Sache beim Gericht eingetragen wird.

I. Allgemeines 1 Art. 14 lit. a und b stimmt mit Art. 30 Brüssel I-VO, Art. 16 Brüs-

sel IIa-VO und Art. 9 EU-UntVO überein. Im Hinblick darauf, dass sich diese Absätze vom Wortlaut und nach dem Vorbild der anderen Verordnungen nur auf streitige Verfahren beziehen, wurde auf Vorschlag des Europäischen Parlaments lit. c angefügt, um auch die von Amts wegen eröffneten Nachlassverfahren zu erfassen. 2 Die Vorschrift enthält eine autonome Definition des Zeitpunkts, zu

dem in einer Erbsache Rechtshängigkeit bei dem Gericht eines Mitgliedstaats eintritt, und steht damit im Zusammenhang mit der Rechts106

Felix Odersky

Artikel 14, Rn. 3, 4

hängigkeitssperre des Art. 17. Die Vereinheitlichung des Rechtshängigkeitsbegriffs in den EU-Verordnungen soll einen einheitlichen frühen Zeitpunkt festlegen, um zu vermeiden, dass eine von mehreren Parteien aufgrund unterschiedlicher nationaler Rechtshängigkeitsvorschriften einen zeitlichen Vorteil im Zugang zu einem Gericht erhält. Im Hinblick darauf, dass die internationale Zuständigkeit nach Art. 4 ausschließlich ist, und damit konkurrierende Zuständigkeiten im Bereich des Erbrechts nahezu ausgeschlossen sind, wird aber – im Unterschied zu den anderen EU-Verordnungen – Art. 14 und 17 in der Praxis keine große Bedeutung zukommen. Der in Art. 14 festgelegte Zeitpunkt ist dagegen nicht maßgeblich dafür, 3 ob die nach dem anwendbaren Erbrecht oder dem Verfahrensrecht der lex fori geltenden Ausschluss- oder Verjährungsfristen des anwendbaren Erbrechts eingehalten wurden. Ob diese rechtzeitig durch Klage oder Antrag gewahrt werden, ist ausschließlich nach dem anwendbaren Erbrecht und den Rechtshängigkeitsvorschriften der lex fori zu beurteilen.1

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Streitige Verfahren, Art. 14 lit. a und b Die Regelung des Art. 14 lit. a und b bezieht sich vom Wortlaut und 4 nach dem Vorbild der anderen EU-Verordnungen auf streitige Verfahren, bei denen ein verfahrenseinleitendes Schriftstück vom Kläger oder Antragsteller nicht nur bei Gericht eingereicht, sondern auch einer Gegenpartei zugestellt werden muss. Die Regelungen der lit. a und b sollen dabei im Hinblick auf die zwei in Europa vorherrschenden Systeme der Prozesseinleitung den frühestmöglichen Zeitpunkt der Rechtshängigkeit zu Gunsten des Antragstellers festlegen. In Ländern, bei denen nach der lex fori die Klage zuerst beim Gericht einzureichen ist, ist dies nach lit. a der Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei Gericht eingereicht worden ist. Sofern in dem Land des angerufenen Gerichts zuerst die Zustellung 1

Vgl. Rauscher/Andrae, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Art. 9 EG-UntVO Rn. 5.

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Artikel 14, Rn. 5, 6

beim Beklagten vorgesehen ist, ist dagegen nach lit. b der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat. 5 Weitere Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass der Kläger die ihm

nach der lex fori obliegenden Maßnahmen trifft, um im Fall des lit. a die Zustellung des Schriftstücks an den Beklagten zu bewirken bzw. um im Fall des lit. b das Schriftstück bei Gericht einzureichen. Welche Maßnahmen dies sind, bestimmt sich nach der lex fori des angerufenen Gerichts. Danach kann es z.B. erforderlich sein, dass eine erforderliche Zahl von Abschriften der Klage eingereicht und ein Gerichtskostenvorschuss bezahlt wird. Daneben sind auch spezifische europarechtliche Vorschriften zu beachten, wie z.B. dass der Antragsgegner die Zustellung mangels Übersetzung gem. Art. 8 EU-ZustVO zurückweisen kann. Gibt es für die vom Kläger durchzuführenden Maßnahmen nach der lex fori bestimmte rechtliche oder gerichtliche Fristen (wie z.B. die Anforderung der Gerichtskosten innerhalb einer bestimmten Zahlungsfrist), sind diese Fristen auch für die Einhaltung der Pflichten im Sinne des Art. 14 maßgeblich. Sind dort keine Fristen bestimmt, wird man verlangen, dass der Kläger die erforderlichen Maßnahmen ohne schuldhaftes Zögern nachholt.2 Beruht dagegen ein Zustellungsmangel nicht auf einem Versäumnis des Klägers, bleibt die Rechtshängigkeitswirkung des Art. 14 erhalten.3 Kommt es zu Verzögerungen, die der Kläger zu verantworten hat, entfällt zunächst die Rechtshängigkeit der Klage. Holt der Kläger die erforderlichen Maßnahmen später nach, so ist nach überwiegender Meinung zu den anderen EU-Verordnungen für die Rechtshängigkeit der Zeitpunkt der Nachholung maßgeblich, nicht erst der Zeitpunkt der späteren tatsächlichen Zustellung nach der lex fori. 6 In der Neufassung der Brüssel Ia-VO wurde in Art. 32 zur Klarstellung

ergänzt, dass die für die Zustellung verantwortliche Stelle im Sinne von lit. b die Stelle ist, die die zuzustellenden Schriftstücke zuerst erhält, und 2

3

Vgl. Rauscher/Rauscher, Art. 16 Brüssel IIa-VO, Rn. 7; Rauscher/Leible, Art. 30 Brüssel I-VO, Rn. 4a. Vgl. OLG Karlsruhe v 28.3.2006, 8 U 218/05; IPRspr. 2006 NR. 111.

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Felix Odersky

Artikel 14, Rn. 7, 8; Artikel 15

dass das Gericht das Datum der Einreichung des maßgeblichen Schriftstücks zu vermerken hat. Auch wenn sich die entsprechenden Formulierungen noch nicht in Art. 14 finden, wird man eine entsprechende Handhabung als einheitlichen europarechtlichen Konsens ansehen.

2. Amtsverfahren, Art. 14 lit. c Da Art. 14 lit. a und b auf streitige Verfahren zugeschnitten sind, wurde 7 das Vorbild der anderen EU-Verordnungen um lit. c ergänzt, der sich vom Wortlaut auf Verfahren bezieht, die von Amts wegen eingeleitet werden (wie z.B. das Verlassenschaftsverfahren in Österreich oder das Nachlassverfahren in Tschechien). Das Gericht gilt in diesem Fall im Wege der Fiktion als angerufen (auch wenn überhaupt kein Antrag eines Beteiligten vorliegt), sobald es den Beschluss über die Einleitung eines Verfahrens getroffen hat, oder die Erbsache beim Gericht eingetragen wurde. Keine ausdrückliche Regelung findet sich dagegen in der Verordnung 8 für die zahlreichen erbrechtlichen Verfahren, bei denen das Gericht zwar nur auf Antrag eines Beteiligten tätig wird, aber keine Zustellung an einen Antragsgegner erfolgen muss. Den spätesten Zeitpunkt, zu dem der Antrag anhängig wird, kann man auch in diesen Fällen unproblematisch aus lit. c ableiten, d.h. wenn das angerufene Gericht durch Beschluss das Verfahren eröffnet hat oder die Eintragung erfolgt ist. Verzögert sich dies aber bei Gericht, käme es zu der kaum erklärbaren Diskrepanz, dass ein Antrag, der später dem Antragsgegner zugestellt werden muss, nach lit. a bereits mit Einreichung bei Gericht rechtshängig wird, wohingegen der Antrag auf ein sonstiges Nachlassverfahren (d.h. ohne Zustellung an andere Personen) erst mit der Bearbeitung durch das Gericht anhängig würde. Es spricht daher viel dafür, in diesen Fällen lit. a analog anzuwenden, so dass das Gericht schon als angerufen gilt, sobald der Antrag dort eingeht. Artikel 15: Prüfung der Zuständigkeit Das Gericht eines Mitgliedstaats, das in einer Erbsache angerufen wird, für die es nach dieser Verordnung nicht zuständig ist, erklärt sich von Amts wegen für unzuständig. Felix Odersky

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Artikel 15, Rn. 1–3

I. Allgemeines 1 Art. 15 stimmt mit dem fast wortgleichen Art. 10 EU-UntVO überein,

die sich beide auch an Art. 25 Brüssel I-VO und Art. 17 Brüssel IIa-VO orientieren. Zweck der Regelung ist es, die Entscheidung durch ein nach den Art. 4 ff. zuständiges Gericht sicherzustellen, da bei der späteren Anerkennung und Vollstreckung in anderen Mitgliedstaaten nicht mehr der Einwand erhoben werden kann, das Gericht sei international nicht zuständig gewesen. 2 Wie bereits in der Literatur zum vergleichbaren Art. 10 EU-UntVO dis-

kutiert wird, enthält die Verordnung – im Gegensatz zu Art. 26 Abs. 1 Brüssel I-VO – keine ausdrückliche Regelung für den Fall, dass eine Zuständigkeit aufgrund rügeloser Einlassung in Betracht kommt. Nach der Systematik der Verordnung wird man aber Art. 15 in der Weise einschränken, dass Art. 7 lit. c und Art. 9 vorrangig zu beachten sind: Lässt sich eine an einer Gerichtsstandsvereinbarung nicht beteiligte Partei auf das Verfahren ein, ist die internationale Zuständigkeit über Art. 9 Abs. 1, 7 lit. b eröffnet, so dass eine Unzuständigerklärung nach Art. 15 erst erfolgen darf, wenn den Beteiligten die Möglichkeit zur Einlassung gegeben wurde. Wird daraufhin der Mangel der Zuständigkeit gerügt, erfolgt die Unzuständigkeitserklärung bereits auf Antrag nach Art. 9 Abs. 2. Für Art. 15 bleibt damit bei Verfahren, bei denen Art. 9 grundsätzlich in Betracht kommt, nur Raum, wenn sich die nicht beteiligte Partei weder auf das Verfahren einlässt noch die Unzuständigkeit rügt.

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Amtsermittlungspflicht 3 Die Verordnung regelt wörtlich nur die Pflicht des Gerichts, seine inter-

nationale Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen. Keine ausdrückliche Anordnung enthält die Verordnung dagegen zu der Frage, ob das Gericht auch die Pflicht hat, die dafür relevanten Tatsachen (insb. zur Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts) von Amts wegen zu ermitteln und dazu ggf. Beweis zu erheben. Nach einer insbesondere zu Art. 10 EU-UntVO vertretenen Auffassung soll sich diese Frage nach der lex fori des Gerichts richten, so dass das 110

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Artikel 15, Rn. 4, 5

nationale Recht darüber entscheiden würde, ob das Gericht eine eigene Aufklärungspflicht hat oder ob der Beibringungsgrundsatz gilt, wonach das Gericht seine Zuständigkeit auf Grundlage der von den Parteien übermittelten Unterlagen prüft.1 Eine solche Handhabung würde aber dem Geist der Verordnung widersprechen, da zum einen die nur eingeschränkt zulässige Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 6 durch gesteuerte Informationen umgangen und zum anderen der angestrebte Gleichlauf zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht gestört werden könnte. Insoweit unterscheidet sich die EU-ErbVO auch von der EU-UntVO, die in viel weiterem Umfang eine internationale Zuständigkeit aufgrund Gerichtsstandsvereinbarung oder rügelosem Einlassen ermöglicht. Zumindest für die wesentlichen Umstände (insbesondere die doppelt relevanten Tatsachen, die nicht nur die internationale Zuständigkeit bestimmen, sondern auch für das anwendbare Erbrecht maßgeblich sind) wird man damit eine Amtsermittlungspflicht auch autonom aus der Verordnung ableiten können.2 Die Prüfungspflicht des Gerichts bezieht sich zunächst nur auf die ge- 4 setzlichen Zuständigkeiten nach Art. 4 und 11. Die Derogation der Zuständigkeit durch eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 6 lit. b in Verbindung mit Art. 5 ist dagegen nur dann zu prüfen, wenn sich einer der Beteiligten auf diese beruft oder sich dafür im Verfahren Anhaltspunkte ergeben. Da die Derogation auf dem Parteiwillen beruht, obliegt es auch allein den Parteien, diese dem Gericht bekannt zu machen.

2. Rechtsfolgen Steht die internationale Unzuständigkeit fest, hat sich das Gericht für 5 unzuständig zu erklären. In welcher Form dies erfolgt, richtet sich nach nationalem Prozessrecht.

1

2

Vgl. z.B. Rauscher/Andrae, Art. 10 EU-UnthVO, Rn. 10; Geimer/Schütze/Reuß, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 10 EU-UntVO, Rn. 4. Vgl. Geimer/Schütze/Jäger, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 15 EU-ErbVO Rn. 10.

Felix Odersky

111

Artikel 15, Rn. 6; Artikel 16

Eine bindende Verweisung zu den Gerichten eines bestimmten anderen Mitgliedstaats kennt die Verordnung dagegen nicht. Die Entscheidung eines ausländischen Gerichts über die eigene Unzuständigkeit bindet aber Gerichte in anderen Mitgliedstaaten, und zwar sowohl hinsichtlich des Tenors als auch hinsichtlich der den Tenor tragenden Entscheidungsgründe.3 6 Hält sich ein Gericht zu Unrecht für international zuständig, berührt

dies die Wirksamkeit einer etwaigen Sachentscheidung nicht. Von anderen Mitgliedstaaten ist eine solche Entscheidung anzuerkennen und zu vollstrecken, ohne das der Einwand der Unzuständigkeit erhoben werden kann (vgl. dazu den eingeschränkten Katalog des Art. 40) Es liegt also an den Beteiligten, sich gegen eine solche fehlerhafte Entscheidung durch geeignete Anträge oder Rechtsmittel nach dem nationalen Prozessrechts des Gerichts zu wenden. Artikel 16: Prüfung der Zulässigkeit (1) Lässt sich der Beklagte, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Staates als des Mitgliedstaats hat, in dem das Verfahren eingeleitet wurde, auf das Verfahren nicht ein, so setzt das zuständige Gericht das Verfahren so lange aus, bis festgestellt ist, dass es dem Beklagten möglich war, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück so rechtzeitig zu empfangen, dass er sich verteidigen konnte oder dass alle hierzu erforderlichen Maßnahmen getroffen wurden. (2) Anstelle des Absatzes 1 des vorliegenden Artikels findet Artikel 19 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) Anwendung, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nach der genannten Verordnung von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu übermitteln war. 3

Vgl. zu Art. 32 f. Brüssel I-VO a.F: EuGH, Urteil v 15.11.2012, C-456/11, Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a., Tz. 41; Geimer/Schütze/Jäger, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 15 EU-ErbVO Rn. 15; a. A. noch Rauscher/Andrae, Art. 10 EU-UntVO Rn. 15 mit Nachweisen zu den in der Literatur vertretenen Auffassungen.

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Artikel 16, Rn. 1, 2

(3) Ist die Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 nicht anwendbar, so gilt Artikel 15 des Haager Übereinkommens vom 15. November 1965 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nach Maßgabe dieses Übereinkommens ins Ausland zu übermitteln war.

I. Allgemeines Art. 16 stimmt mit Art. 11 EU-UntVO überein. Auch Art. 18 Brüs- 1 sel IIa-VO und Art. 26 der Brüssel I-VO (bzw. Art. 28 Brüssel Ia-VO) beinhalten nahezu identische Vorschriften. Die Regelung soll es einem Beklagten, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in dem Staat des entscheidenden Gerichts hat, ermöglichen, Kenntnis vom verfahrenseinleitenden Schriftstück zu erhalten, um sich verteidigen zu können. Art. 16 sichert damit den Anspruch auf rechtliches Gehör und steht in seiner Funktion zeitlich vor der Zuständigkeitsprüfung des Art. 15; der Wortlaut, der in Abs. 1 vom „zuständigen Gericht“ spricht, sollte daher eher als „das angerufene“ Gericht verstanden werden.1 Die drei Absätze des Art. 16 stehen zueinander in einem sich ausschlie- 2 ßenden Verhältnis, wobei die Absätze 2 und 3 auf Art. 19 EU-ZustVO und Art. 15 HZÜ verweisen. Da diese unmittelbar Anwendung finden, wenn ihr Geltungsbereich eröffnet ist, haben die Absätze 2 und 3 lediglich hinweisenden Charakter. Hat ein am Verfahren beteiligter Antragsgegner seinen Wohnsitz in einem anderen Land als im dem des angerufenen Gerichts, ergibt sich damit folgende Prüfungsreihenfolge:2 – Vorrangig nach Art. 19 EU-ZustVO, auf den Art. 16 Abs. 2 verweist, sofern die Zustellung in einem Mitgliedstaat der EU erfolgen muss;3 1 2

3

Vgl. Geimer/Schütze/Jäger, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 16 Rn. 6. Bezüglich der Regelungen der EU-ZustVO und des HZÜ kann auf die einschlägigen Publikationen verwiesen werden, so dass diese hier nicht näher erläutert werden. Dies gilt über Art. 1 Abs. 3 EU-ZustVO auch für Dänemark; vgl. Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen, ABlEU Nr. L 300 vom 17.11.2005 S. 55 sowie Mitteilung Däne-

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Artikel 16, Rn. 3–6

– Greift die EU-ZustVO nicht ein, nach Art. 15 HZÜ, der weitgehend dem Art. 19 EU-ZustVO entspricht, wenn der Wohnsitz in einem Vertragsstaat des HZÜ außerhalb der EU liegt; – Hilfsweise nach der autonomen Regelung des Art. 16 Abs. 1. 3 Zu beachten ist jedoch, dass die EU-ZustVO und das HZÜ keine An-

wendung finden, wenn die Anschrift des Empfängers des verfahrenseinleitenden Schriftstücks nicht bekannt ist.4 Damit gelten diese Rechtsnormen nicht für eine öffentliche Zustellung. Die autonome Regelung des Art. 16 Abs. 1 ist damit immer dann zu beachten, wenn eine öffentliche Zustellung erfolgen soll, oder der Empfänger des Schriftstücks seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Staat außerhalb der EU hat, der auch nicht zu den Mitgliedstaaten des HZÜ gehört. 4 Nach dem Wortlaut der Regelung passt Art. 16 nur für streitige Verfah-

ren, so dass in Verfahren, die vom Amts wegen durchgeführt werden (bzw. auf Antrag eines Beteiligten ohne direkten Antragsgegner), der Schutz des rechtlichen Gehörs grundsätzlich nach den nationalen Verfahrensvorschriften zu wahren ist. Im Hinblick auf den hohen Wert dieses Grundsatzes (vgl. Art. 6 EMRK und Art. 47 EU-Grundrechtscharta) sollten die nationalen Verfahren aber zumindest einem Art. 16 Abs. 1 vergleichbaren Schutzmechanismus entsprechen.

II. Einzelne Voraussetzungen, Art. 16 Abs. 1 5 Erste Voraussetzung dafür, dass das Gericht die Pflichten des Art. 16

Abs. 1 zu erfüllen hat, ist, dass der Zustellungsempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat als in dem des Gerichts hat. Da aber der gewöhnliche Aufenthaltsort in Zweifelsfällen kaum verlässlich feststellbar ist, wird man Art. 16 Abs. 1 in der Regel auch dann anwenden, wenn die Zustellung am tatsächlichen oder angeblichen Wohnsitz des Zustellempfängers im Drittstaat erfolgen muss. 6 Eine Nichteinlassung auf das Verfahren liegt immer dann vor, wenn

sich der Beklagte weder persönlich noch durch einen ggf. vorhandenen

4

marks zur Änderung der EU-ZustVO vom 20.11.2007, ABlEU Nr. L 331 vom 10.12.2008 S. 21. Vgl. Art. 1 Abs 2 EU-ZustellVO; EuGH, Urteil v 15.3.2012, C-292/2010, de Visser.

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Artikel 16, Rn. 7, 8

Vertreter äußert. Der Begriff ist autonom auszulegen, wobei grundsätzlich auf die Rechtsprechung des EuGH zum entsprechenden Begriff in anderen Verordnungen zurückgegriffen werden kann. Unsicher zu beurteilen ist dabei aber, ob es für eine Einlassung schon genügt, wenn der Beklagte lediglich die Zuständigkeit rügt.5 Nach dem Zweck des Art. 16, dass lediglich sichergestellt werden soll, dass der Beklagte von dem Verfahren Kenntnis erlangt und die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen, sollte dies aber ausreichen.6 Rechtsfolge einer Nichteinlassung ist die Aussetzung des Verfahrens. 7 Dies hat so lange zu erfolgen, bis entweder feststeht, dass der Beklagte das verfahrenseinleitende Schriftstück rechtzeitig empfangen konnte, um sich zu verteidigen, oder alle erforderlichen Maßnahmen getroffen wurden, um die rechtzeitige Kenntnisnahme zu ermöglichen. In dem verfahrenseinleitenden Schriftstück, durch das der Beklagte erstmals von dem Verfahren Kenntnis erhält, müssen die wesentlichen Elemente des Rechtsstreits aufgezeigt werden, damit der Antragsgegner die sachgerechte Entscheidung treffen kann, ob er sich auf das Verfahren einlässt. Die Frage der Rechtzeitigkeit der Zustellung hat das Gericht nach 8 pflichtgemäßem Ermessen danach zu beurteilen, ob eine ordnungsgemäße Verteidigung möglich ist. Der Beklagte muss dafür nicht nur die Möglichkeit zur Kenntnis vom Verfahren an sich, sondern auch vom Inhalt der Anträge erhalten haben.7 Eine tatsächliche Kenntnisnahme ist aber nicht erforderlich. Durch Fahrlässigkeit oder z.B. Boten verursachte Verzögerungen gehen zu Lasten des Antragsgegners. Das gleich gilt bei einer bewussten Vereitelung der Zustellung. Fehler im Zustellverfahren schließen nicht die tatsächliche Kenntnisnahmemöglichkeit im Sinne des Art. 16 aus. Eine fehlende Übersetzung kann aber den erforderlichen Zeitrahmen verlängern. 5

6

7

Nach dem Urteil des EuGH v 14.10.2004, Rs C-39/02, Mærsk Olie & Gas A/S, genügt dies wohl nicht; anders dagegen aber bei der Rüge zu sonstigen Verfahrensvoraussetzungen EuGH, Urteil v 21.4.1993, C-172/91 Sonntag/Waidmann. Ebenso Rauscher/Andrae, Art. 11 EU-UntVO Rn. 5; Rauscher/Rauscher, Art. 18 Brüssel IIa-VO, Rn. 8. Vgl. EuGH, Urteil v 14.12.2006, C-283/05, ASML Netherlands BV/SEMIS.

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Artikel 16, Rn. 9, 10; Artikel 17

9 Mit dem alternativen Merkmal, dass „alle hierzu erforderlichen Maß-

nahmen getroffen wurden“, wird dem Kläger eine Fortsetzung des Prozesses ermöglicht, wenn die Möglichkeit der Kenntnisnahme nicht sicher festgestellt werden kann oder die zur Zustellung getroffenen Maßnahmen nicht zum Erfolg geführt haben. Ein wichtiger Anwendungsfall dieser Alternative liegt dann vor, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück dem Beklagten öffentlich zugestellt werden muss, weil sein Aufenthaltsort nicht ermittelt werden kann. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat sich das angerufene Gericht in diesem Fall zu vergewissern, dass alle Nachforschungen, die der Sorgfaltsgrundsatz und der Grundsatz von Treu und Glauben gebieten, vorgenommen worden sind, um den Beklagten ausfindig zu machen.8 10 Für den Fall, dass das Gericht gegen die Vorschriften des Art. 16 ver-

stößt, muss sich der Beklagte, der später von dem Verfahren Kenntnis erhält, mit Rechtsmitteln im laufenden Verfahren wehren, da die Sachentscheidung sonst in anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist (vgl. dazu Art. 40 lit. b). Artikel 17: Rechtshängigkeit (1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. (2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig. I. Allgemeines II. Einzelne Voraussetzungen 1. Doppelte Rechtshängigkeit a) Parallel anhängige Verfahren

8

1 3

b) Parteienidentität c) Streitgegenstandsidentität 2. Rechtsfolgen

5 7 9

4

Vgl. EuGH, Urteil v 15.3.2012, C-292/2010, de Visser, Tz. 55; EuGH, Urteil v 17.11.2011, C-327/10, Hypoteční banka s.a., Tz. 52.

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Artikel 17, Rn. 1–5

I. Allgemeines Art. 17 stimmt mit Art. 12 EU-UntVO und Art. 27 Brüssel I-VO über- 1 ein. Mit dem darin verankerten strengen Prioritätsprinzip soll verhindert werden, dass sich in der Sache widersprechende und damit nach Art. 40 lit. c nicht anerkennungsfähige Entscheidungen ergehen. Da aber die EU-ErbVO keine konkurrierenden Zuständigkeiten kennt, wird die praktische Bedeutung der Vorschrift bei Erbsachen eher gering bleiben. Tatsächlich relevant dürfte die Regelung nur werden, wenn der gewöhnliche Aufenthaltsort des Erblassers im Sinne von Art. 4 umstritten oder unsicher zu beurteilen ist, und deswegen zunächst Verfahren in verschiedenen Ländern eingeleitet werden. Die Vorschrift gilt nur im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander. 2 Ob dagegen ein Gericht zu beachten hat, dass eine Rechtsache bereits bei einem Gericht in einem Drittstaat anhängig ist, bestimmt sich ausschließlich nach dessen nationalem Prozessrecht.

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Doppelte Rechtshängigkeit Damit eine doppelte Rechtshängigkeit im Sinne des Art. 17 vorliegt, 3 müssen folgende – europarechtlich autonom zu ermittelnden – Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:

a) Parallel anhängige Verfahren In zwei Mitgliedstaaten müssen Verfahren über Erbsachen (im Sinne 4 von Art. 4) anhängig sein. Für den Zeitpunkt der Anhängigkeit gilt dabei Art. 14.

b) Parteienidentität Die Parteien müssen in beiden Verfahren identisch sein, wobei es auf 5 die Parteirolle (Beklagter/Kläger) und die Art der Klagen (z.B. Leistungsklage gegen Feststellungsklage) nicht ankommt. Dies ist auch der Fall, wenn zwar nicht dieselben Parteien unmittelbar am Verfahren beteiligt sind, aber ihre Interessen soweit übereinstimmen, dass das gegenüber dem einen ergangene Urteil auch Rechtskraft gegenüber dem anFelix Odersky

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Artikel 17, Rn. 6, 7

deren entfalten würde.1 Im Erbrecht kann dies z.B. der Fall sein, wenn ein Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter am Verfahren beteiligt ist, der von ihm geführte Prozess aber auch gegen den Erben Rechtskraft entfaltet. Bei Teilidentität tritt die Wirkung des Art. 17 nur hinsichtlich der unmittelbar identischen Parteien ein, wobei in dem Fall hinsichtlich der anderen Parteien eine Verbindung nach Art. 18 in Betracht kommt. 6 Nach dem Wortlaut und dem Vorbild der früheren EU-Verordnungen

wäre dabei Art. 17 nur für streitige Verfahren anzuwenden („zwischen denselben Parteien“). Parallele Nachlassverfahren, die vom Amts wegen durchgeführt werden (bzw. auf Antrag eines Beteiligten ohne direkten Antragsgegner), würden damit nicht von Art. 17 umfasst, so dass die Gerichte nur nach ihrem nationalen Prozessrecht prüfen müssten, inwieweit sie das Verfahren weiter betreiben dürfen. Nachdem aber die Verordnung in Art. 14 Abs. 3 auch die Verfahren von Amts wegen erwähnt, spricht vieles dafür, Art. 17, der mit Art. 14 in engem Zusammenhang steht, auch auf solche parallelen Verfahren entsprechend anzuwenden. Nur auf diese Weise lässt sich unabhängig von den jeweiligen nationalen Rechten effektiv verhindern, dass sich widersprechende Entscheidungen (wie z.B. die Feststellung der Erben nach unterschiedlichem Recht) ergehen, die dann ggf. nach Art. 40 nicht anerkennungsfähig wären. Für eine solche weite Auslegung spricht auch der Erwägungsgrund 35, nach dem generell vermieden werden soll, dass „dieselbe Erbsache“ bei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht wird, ohne dies auf streitige Verfahren zu beschränken. Ferner erlaubt Erwägungsgrund 36, der konstatiert, dass außergerichtliche Verfahren (z.B. vor Notaren) in verschiedenen Ländern von den Beteiligten selbst koordiniert werden müssen, den Umkehrschluss, dass Art. 17 alle gerichtlichen Verfahren, auf die die Verordnung anwendbar ist, umfassen soll.

c) Streitgegenstandsidentität 7 Ferner muss der Streitgegenstand der beiden Verfahren identisch sein,

1

Vgl. EuGH, Urteil v 19.5.1998, C-351/96, Drouot assurances.

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Felix Odersky

Artikel 17, Rn. 8, 9

d.h. die Verfahren müssen auf dieselbe Grundlage gestützt sein und denselben Gegenstand betreffen.2 Unter Grundlage ist derselbe Lebenssachverhalt zu verstehen. Außerdem müssen die beiden Verfahren im Wesentlichen auf dieselben bzw. vergleichbare Rechtsvorschriften gestützt sein. Bei Verfahren in Erbsachen wird dieselbe Grundlage meist schon dann anzunehmen sein, wenn es sich um denselben Erbfall und dessen Folgen handelt. Derselbe Gegenstand liegt vor, wenn die Verfahren im Kern denselben 8 Zweck verfolgen (Kernpunkttheorie). Dabei kommt es nicht auf die formale Ähnlichkeit der Anträge an, sondern auf das damit verfolgte prozessuale Ziel unter Berücksichtigung der rechtlich-wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten. So können z.B. Feststellungsklagen und Leistungsklagen den gleichen Zweck verfolgen und sich gegenseitig ausschließen. Im Erbrecht werden z.B. Verfahren mit dem Ziel der Feststellung der Erben oder der Erbquoten oder der Gültigkeit eines Testaments in der Regel den gleichen Gegenstand haben. Ferner umfassen in zwei Ländern eingereichte Klagen auf Zahlung eines Pflichtteils in Geld oder auf Herabsetzung des Erbteils aufgrund eines Noterbrechts den gleichen Gegenstand, da es im wirtschaftlichen Kern um die Mindestbeteiligung des enterbten Angehörigen am Nachlass geht.3

2. Rechtsfolgen Liegt demgemäß eine doppelte Rechtshängigkeit vor, muss das gemäß 9 Art. 14 später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen solange aussetzen, bis das zuerst angerufene Gericht abschließend über seine Zuständigkeit entschieden hat (Art. 16 Abs. 1). In welcher Form die Aussetzung erfolgt, richtet sich nach dem nationalen Prozessrecht des angerufenen Gerichts. Sobald die internationale Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts positiv feststeht, muss sich das später angerufene Gericht für un2

3

Vgl. dazu EuGH, Urteil v 8.12.1987, C-144/86, Gubisch Maschinenfabrik, Tz. 14 ff.; EuGH, Urteil v 6.12.1994, C-406/92, Tatry/Maciej Rataj, Tz. 39. Vgl. Geimer/Schütze/Jäger, Internationaler Rechtsverkehr, EU-ErbVO Art. 17 Rn. 18.

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Artikel 18, Rn. 1

zuständig erklären (Art. 16 Abs. 2). Dies ist der Fall, wenn das zuerst angerufenen Gericht rechtskräftig über seine eigene internationale Zuständigkeit entschieden hat, sei es implizit durch Urteil in der Hauptsacheentscheidung, sei es durch eine isolierte Entscheidung über die Frage der Zuständigkeit. Das später angerufene Gericht ist dabei in keinem Fall zur Prüfung der internationalen Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts berechtigt, sondern an dessen Entscheidung gebunden. Erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig, setzt das später angerufene Gericht das Verfahren fort und prüft seinerseits seine internationale Zuständigkeit. Artikel 18: Im Zusammenhang stehende Verfahren (1) Sind bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren, die im Zusammenhang stehen, anhängig, so kann jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen. (2) Sind diese Verfahren in erster Instanz anhängig, so kann sich jedes später angerufene Gericht auf Antrag einer Partei auch für unzuständig erklären, wenn das zuerst angerufene Gericht für die betreffenden Verfahren zuständig ist und die Verbindung der Verfahren nach seinem Recht zulässig ist. (3) Verfahren stehen im Sinne dieses Artikels im Zusammenhang, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen. I. Allgemeines II. Einzelne Voraussetzungen 1. Zusammenhang mehrerer Verfahren, Art. 18 Abs. 1 und 3

1

3

2. Rechtsfolgen a) Aussetzung des Verfahrens, Abs. 1 b) Erklärung der Unzuständigkeit, Abs. 2

5 5 8

I. Allgemeines 1 Art. 18 stimmt – bis auf die geänderte Überschrift – mit Art. 13

EU-UntVO und Art. 28 Brüssel I-VO überein. Zweck der Vorschrift

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Artikel 18, Rn. 2

ist es, zu einer geordneten Rechtspflege innerhalb der EU beizutragen, indem sich widersprechende Entscheidungen in verschiedenen Mitgliedstaaten vermieden werden, auch wenn sich deren unmittelbare Rechtsfolgen nicht gegenseitig ausschließen würden und diese getrennt vollstreckt werden könnten.1 Da aber die Verordnung keine konkurrierenden Zuständigkeiten kennt, 2 wird die praktische Bedeutung der Vorschrift bei reinen Erbsachen sehr gering bleiben, zumal Art. 18 nachrangig zu Art. 17 und natürlich auch zur Pflicht zur Prüfung der eigenen Zuständigkeit gemäß Art. 15 ist. Vorstellbar wäre allenfalls, dass unterschiedliche Parteien vergleichbare Fälle (z.B. jeweils auf Erfüllung eines Vermächtnisses aus einem umstrittenen Testament oder auf Zahlung eines Pflichtteils) bei Gerichten unterschiedlicher Länder anhängig machen, weil nur in einem Fall eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 zu Stande kommt. Etwas größere Bedeutung könnte die Vorschrift aber bekommen, wenn man sie nicht nur auf parallele Verfahren in Erbsachen anwendet, sondern wenn man damit auch einen Zusammenhang mit Klagen herstellt, die in den Anwendungsbereich anderer EU-Verordnungen fallen bzw. deren internationale Zuständigkeit auf dem jeweiligen nationalen Recht beruht. In diesem Fall könnte z.B. ein Zusammenhang einer Erbsache mit einem unterhaltsrechtlichen Verfahren aus Anlass des Todes einer Partei oder einer güterrechtlichen Vorfrage hergestellt werden. Im Hinblick darauf, dass der Wortlaut des Art. 18 keine Einschränkung auf Erbsachen enthält, spricht viel dafür, dass auch ein solcher Zusammenhang ausreichend ist.2 Entscheidend ist dann lediglich, dass das Verfahren, in dem die Anwendung des Art. 18 zu prüfen ist, eine Erbsache zum Gegenstand hat, da ansonsten der Anwendungsbereich der Verordnung nicht eröffnet ist. Das frühere Verfahren kann sich dagegen auch auf eine andere Rechtsfrage beziehen, die möglicherweise vorgreiflich für das Erbverfahren ist.

1 2

Vgl. EuGH, Urteil v 6.12.1994, C-406/92, Tatry/Maciej Rataj, Tz. 52. So z.B. entsprechend zur EU-UntVO Rauscher/Andrae, Art. 13 EU-UntVO, Rn. 2.

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Artikel 18, Rn. 3–5

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Zusammenhang mehrerer Verfahren, Art. 18 Abs. 1 und 3 3 Wie auch bei der Rechtshängigkeitsvorschrift des Art. 17 ist Art. 18 nur

einschlägig, wenn mindestens zwei Klagen vor Gerichten unterschiedlicher Mitgliedstaaten anhängig gemacht wurden. Art. 18 gilt also nicht, wenn ein weiteres Verfahren in einem Drittstaat begonnen wurde. Ob das Gericht des Mitgliedstaats dieses in irgendeiner Weise zu beachten hat, ergibt sich ausschließlich aus dessen nationalem Prozessrecht. Für den Zeitpunkt der Anhängigkeit der Klagen gilt Art. 14. 4 Die beiden Verfahren müssen ferner „im Zusammenhang stehen“

(Abs. 1), was in Abs. 3 autonom definiert wird. Im Hinblick darauf, dass Art. 18 nachrangig zu Art. 17 ist, wird dieser Begriff eher weit interpretiert. Er geht über den engeren Streitgegenstandsbegriff des Art. 17 hinaus; ferner ist keine Parteiidentität bei beiden betroffenen Verfahren notwendig. Für einen Zusammenhang ist es bereits ausreichend, dass die Verfahren auf demselben Sachverhalt beruhen, wenn sich hieraus widersprechende Ergebnisse ergeben können. Dies ist zumindest immer dann der Fall, wenn die daraus resultierenden Entscheidungen unvereinbar im Sinne des Art. 40 lit. c wären. Die Rechtsprechung des EuGH geht darüber aber noch hinaus, so dass ein Zusammenhang auch dann bestehen kann, wenn die Entscheidungen getrennt vollstreckt werden könnten und auf eine unterschiedliche, sich nicht gegenseitig ausschließende Rechtsfolge gerichtet sind.3 Ausreichend für einen Zusammenhang ist danach bereits ein drohender Widerspruch in tragenden Urteilsgründen, z.B. weil Rechts- und Tatsachenfragen zu klären sind, die in beiden Verfahren eine maßgebliche Rolle spielen können, oder sich die Ergebnisse des Erstverfahrens im Zweitverfahren verwerten lassen.

2. Rechtsfolgen a) Aussetzung des Verfahrens, Abs. 1 5 Bei Vorliegen der vorgenannten Voraussetzungen kann das im Sinne 3

Vgl. EuGH, Urteil v 6.12.1994, C-406/92, Tatry/Maciej Rataj, Tz. 53.

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Artikel 18, Rn. 6–9

des Art. 14 später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzen. Ein Antrag einer Partei ist dafür nicht notwendig. Das Gericht entscheidet über die Aussetzung nach seinem Ermessen, so dass es unterschiedliche Gründe (wie z.B. prozessökonomische Überlegungen, den Grad der Wahrscheinlichkeit, dass es zu widersprechenden Entscheidungen kommt, den Grad des Zusammenhangs der beiden Verfahren, die erwartete Dauer der Verfahren usw.) berücksichtigen kann. Danach wird eine Aussetzung besonders ratsam sein, wenn in dem früheren Verfahren rechtliche oder tatsächliche Vorfragen zu klären sind, die auch für das spätere Verfahren relevant sind. Die Aussetzung kann in jedem Verfahrensstadium erfolgen, was sich 6 aus dem Umkehrschluss zu Abs. 2, der nur auf die erste Instanz Bezug nimmt, ergibt. In welcher Form die Aussetzung erfolgt, richtet sich nach dem nationalen Prozessrecht. Das zuerst angerufene Gericht hat nach dem einschränkenden Wortlaut 7 des Art. 18 dagegen keine Möglichkeit, das bei ihm anhängige Verfahren auszusetzen, selbst wenn es sich bei dem späteren Verfahren um die Klärung einer wesentlichen Vorfrage für das früher anhängig gemachte Verfahren handelt. Allerdings kann sich möglicherweise aus dem nationalen Prozessrecht des früher angerufenen Gerichts ein entsprechendes Aussetzungsrecht ergeben, da Art. 18 keine Sperrwirkung gegen die lex fori entfaltet.

b) Erklärung der Unzuständigkeit, Abs. 2 Unter den zusätzlichen Voraussetzungen des Abs. 2 kann sich das spä- 8 ter angerufene Gericht für unzuständig erklären, um eine Verbindung der Verfahren bei dem zuerst angerufenen Gericht zu ermöglichen. Formale Voraussetzungen dafür sind zunächst, dass sich beide Verfahren in erster Instanz befinden, und dass eine der Parteien (unabhängig von der Parteirolle) beantragt, dass sich das Gericht für unzuständig erklärt. Darüber hinaus muss sich das später angerufene Gericht vergewissern, 9 dass das zuerst angerufene Gericht auch für die bei ihm ggf. neu anhängig zu machende Erbsache international zuständig ist, und dass nach dem nationalen Prozessrecht des zuerst angerufenen Gerichts eine VerFelix Odersky

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Artikel 19, Rn. 1

bindung der beiden Verfahren zulässig ist. Eine ausdrückliche Verweisung an das andere Gericht sieht die Verordnung dagegen nicht vor, so dass die später eingereichte Klage nach der Unzuständigkeitserklärung erneut in dem Mitgliedstaat, in dem bereits das erste Verfahren anhängig ist, eingelegt werden muss. Daraus ergibt sich jedoch, dass Art. 18 Abs. 2 – im Unterschied zu Abs. 1 – bei Erbsachen keine praktische Relevanz haben wird. Denn wenn das später angerufene Gericht in einer Erbsache international zuständig ist (was es gemäß dem zu Art. 18 vorrangigen Art. 15 von Amts wegen zu prüfen hat), kann aufgrund der ausschließlichen Zuständigkeitsregeln der Verordnung das zuerst angerufene Gericht für die gleiche Klage nicht ebenfalls zuständig sein. Soll dies erst durch eine nachträgliche Gerichtsstandsvereinbarung erreicht werden, wäre wiederum die Unzuständigkeitserklärung des Art. 6 vorrangig. Artikel 19: Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen Die im Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen können bei den Gerichten dieses Staates auch dann beantragt werden, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache nach dieser Verordnung die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats zuständig sind.

I. Allgemeines 1 Art. 19 wurde Art. 31 Brüssel I-VO und Art. 14 EU-UntVO nachgebil-

det. Auch wenn dabei der Wortlaut etwas geänderte wurde, entspricht der Inhalt der Vorschrift diesen Vorbildern, so dass auch die bisherige Rechtsprechung des EuGH zum einstweiligen Rechtschutz herangezogen werden kann. Art. 19 ermöglicht es dem Gericht eines Mitgliedstaates auch dann einstweiligen Maßnahmen in Erbsachen, die in seinem nationalen Verfahrensrecht vorgesehen sind, zu treffen, wenn Gerichte eines anderen Mitgliedstaats in der Hauptsache nach Art. 4 ff. zuständig sind. Die Vorschrift enthält also eine Durchbrechung des sonst in der Verordnung durchgehaltenen Prinzips der ausschließlichen Zuständig124

Felix Odersky

Artikel 19, Rn. 2–4

keiten und zugleich – wie bei den anderen Verordnungen – einen Systembruch, indem nationalen Zuständigkeitsvorschriften ein gewisser Raum eingeräumt wird. Ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, geht die Verordnung davon aus, 2 dass auch das nach Art. 4 ff. in der Hauptsache international zuständige Gericht berechtigt ist, einstweilige Maßnahmen nach seiner lex fori zu treffen. Ein Rückgriff auf Art. 19 ist dafür nicht erforderlich, so dass auch die vom EuGH dafür aufgestellten einschränkenden Voraussetzungen vom Hauptsachegericht nicht zu beachten sind.1 Ist das Hauptsacheverfahren bereits eröffnet, sperrt dies aber nicht das Wahlrecht des Antragstellers, weiterhin nach Art. 19 in einem anderen Mitgliedstaat einstweilige Maßnahmen zu beantragen. Das später angerufene Gericht kann in diesem Fall aber nicht mehr die abweichende Ansicht vertreten, selbst nach Art. 4 ff. international zuständig zu sein (da es in diesem Fall das Verfahren nach Art. 17 aussetzen müsste), sondern darf nur im Rahmen der einschränkenden Voraussetzungen des Art. 19 und seinem nationalen Recht handeln. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat das Gericht, das einstweilige 3 Maßnahmen erlässt, die von ihm angenommene Zuständigkeitsgrundlage ausdrücklich zu nennen. Unterlässt es dies, besteht die Vermutung, dass die Maßnahme nach dem engeren Art. 19 erlassen wird.2

II. Einzelne Voraussetzungen 1. Voraussetzungen nach nationalem Recht und EuGH Art. 19 lässt nach seinem Wortlaut grundsätzlich einstweilige Maß- 4 nahmen nach der lex fori des angerufenen Gerichts eines Mitgliedstaats zu. Damit beinhaltet Art. 19 keine eigene Zuständigkeitsvorschrift, sondern fungiert gleichsam als „Türöffner“, so dass das angerufene Gericht nach seinem nationalen Recht zu entscheiden hat, ob es international zuständig ist. Ferner richten sich die Voraussetzungen, welche Maß1

2

EuGH, Urteil v 11.11.1998, C-391/95, Van Uden/Deco-Line, Tz. 22; EuGH, Urteil v 27.4.1999,C-99/96, Mietz/Intership Yachting, Tz. 41. Vgl. EuGH, Rs C-99/96, Mietz/Intership Yachting, Tz. 55.

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125

Artikel 19, Rn. 5, 6

nahmen das Gericht treffen kann, nach dessen nationalem Prozess- und Erbrecht. 5 Darüber hinaus stellte der EuGH aber zu den anderen EU-Verordnun-

gen zwei weitere einschränkende Voraussetzungen auf. Diese Rechtsprechung kann weitgehend auf die Erbverordnung übertragen werden, wobei nochmals betont wird, dass dies nur für nationale Verfahren nach Art. 19 gilt, nicht aber für Maßnahmen, die das nach Art. 4 ff. zuständige Hauptsachegericht anordnet. Zum Einen fordert der EuGH, dass eine reale Verknüpfung zwischen dem Gegenstand der beantragten Maßnahmen und der gebietsbezogenen Zuständigkeit des Mitgliedstaates des angerufenen Gerichts besteht, damit die gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung nicht einfach umgangen werden.3 Dies wird zumindest dann gegeben sein, wenn die angeordnete Maßnahme Nachlassgegenstände betrifft, die in dem Land des angerufenen Gerichts belegen sind. 6 Zum Anderen muss durch das Gericht sichergestellt sein, dass der

einstweilige oder auf eine Sicherung gerichtete Charakter der Maßnahme gewahrt ist, wobei sich aus der Anordnung selbst der einstweilige Charakter der Maßnahme ergeben muss.4 Der Begriff der einstweiligen Maßnahmen umfasst damit in erster Linie Anordnungen nach einzelstaatlichem Recht, die eine Veränderung der Sach- und Rechtslage verhindern sollen, um Rechte zu sichern, deren Anerkennung im Übrigen bei dem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt wird.5 Bei rein sichernden Maßnahmen ist der vorläufige Charakter in der Regel damit unproblematisch gewahrt. Problematischer sind dagegen Maßnahmen zur vorläufigen Erfüllung von Leistungspflichten, wie diese z.B. im Unterhaltsrecht häufiger anzutreffen sind. Zwar ist aus Sicht des EuGH eine einstweilige Gewäh3 4

5

Vgl. EuGH, C-391/95, Van Uden/Deco-Line, Tz. 40 f. Vgl. EuGH, C-391/95, Van Uden/Deco-Line, Tz. 41; EuGH, Urteil v 21.5.1989, Denilauler/Couchet, Tz. 15 ff. Vgl. EuGH, Urteil v 28.4.2005, C-104/03, St Paul Dairy Industries, Tz. 13; EuGH, Urteil v 26.3.1992, C-261/90, Reichert und Kockler/Dresdner Bank, Tz. 34.

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Artikel 19, Rn. 7, 8

rung der in der Hauptsache geforderten Leistungen möglich, wenn das unter Abwägung der Parteiinteressen geboten erscheint. Allerdings verlangte der EuGH, dass in einem solchen Fall die Rückgewähr der Leistung im Fall der negativen Entscheidung in der Hauptsache z.B. durch Sicherheitsleistung gesichert wird.6 Im dem vom EuGH entschiedenen Fall ging es allerdings um eine vertragliche Gegenleistung. Es bleibt daher offen, ob diese einschränkende Interpretation auch für Erbsachen gilt, bei denen sich bestimmte Ansprüche auch auf Naturalleistungen (wie z.B. der Einräumung eines Wohnungsrechts ab dem Tod des Erblassers) beziehen können, die nicht ohne Schaden für den Begünstigten bis zur Klärung der Hauptsache vorenthalten werden können. Nach dem Vorbild der anderen EU-Verordnungen und der Rechtspre- 7 chung des EuGH beschränken sich die einstweiligen Maßnahmen damit in der Regel auf lokale Anordnungen, um die spätere Durchsetzung der Rechte eines Beteiligten im Hauptsacheverfahren zu sichern. Keine besondere Regelung findet sich dagegen für etwaige von Amts wegen einzuleitenden Verfahren, die z.B. der Sicherung von Nachlassgegenständen dienen, bis ein Erbe ermittelt wurde. Da es in diesen Fällen in der Regel zu keinem späteren Hauptsacheverfahren kommt, sondern die Anordnungen des Gerichts einfach enden bzw. aufgehoben werden, wenn der vorläufige Sicherungszweck entfällt, könnte die Zulässigkeit nach Art. 19 in Frage stehen. Allerdings sollte man aus dem unabweisbaren Bedürfnis für solche Sicherungsmaßnahmen und der Tatsache, dass die Verordnung grundsätzlich auch von Amts wegen eingeleitete Nachlassverfahren umfassen will, eine entsprechende Anwendung des Art. 19 befürworten.

2. Rechtsfolgen Sind demgemäß einstweilige Anordnungen nach Art. 19 in Verbindung 8 mit dem jeweiligen nationalen Recht zulässig, richten sich auch die inhaltlichen Wirkungen der getroffenen Maßnahmen nach der lex fori, also dem nationalen Verfahrens- und Erbrecht des die Anordnung treffenden Gerichts. Auch solche Entscheidungen sind aber grundsätzlich von anderen Mitgliedstaaten gemäß Art. 39 ff. anzuerkennen, sofern

6

Vgl. EuGH, C-391/95, Van Uden/Deco-Line, Tz. 45.

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127

Artikel 19, Rn. 9; Artikel 20, Rn. 1

sich deren Wirkungen nach dem Inhalt der Entscheidung ausnahmsweise über das jeweilige Landesgebiet des Gerichts hinaus erstreckt. 9 Nicht ausdrücklich geregelt ist dagegen die Frage, ob und wie einstwei-

lige Anordnungen, die nach Art. 19 getroffen wurden, außer Kraft treten, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht später die aus seiner Sicht angemessenen einstweiligen Maßnahmen anordnet. Eine dem Art. 20 Abs. 2 Brüssel IIa-VO vergleichbare Regelung enthält die Verordnung nicht, so dass man von keinem automatischen Außerkrafttreten der nach Art. 19 angeordneten Maßnahmen ausgehen kann. Aus dem Ausnahmecharakter des Art. 19 wird man aber wohl zumindest die Pflicht des Gerichts ableiten, die von ihm getroffenen Maßnahmen von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei aufzuheben, wenn das Hauptsachegericht vergleichbare Maßnahmen getroffen hat, und damit das weitere Rechtschutzinteresse des Antragstellers entfällt. Das gleiche gilt, wenn die Anordnungen beider Gerichte inhaltlich unvereinbar sind.

Kapitel III: Anwendbares Recht Dieses Kapitel verdankt dem Haager Übereinkommen vom 1. August 1989 über das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht seine Struktur und einige seiner Lösungen.1 Artikel 20: Universelle Anwendung Das nach dieser Verordnung bezeichnete Recht ist auch dann anzuwenden, wenn es nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist.

1 Diese Vorschrift kommt sinngemäß in jeder kollisionsrechtlichen Ver1

Siehe den Bericht von W.M. Waters zu diesem Übereinkommen, Actes et documents de la 16ème session (1988), t. II, S. 526 ff.

128

Paul Lagarde

Artikel 20, Rn. 2; Artikel 21, Rn. 1, 2

ordnung (Art. 2 Rom I; Art. 3 Rom II; Art. 4 Rom III) sowie in den Haager Übereinkommen seit 1960 vor. In der hier kommentierten Verordnung macht es die Vorschrift möglich, eine Dualität von Kollisionsnormen zu vermeiden, von denen die eine auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten anwendbar wäre und die andere auf Beziehungen zu Drittstaaten. Beispiel 1 2 Der Erblasser mit deutscher Staatsangehörigkeit hatte seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in New York. Der deutsche Richter, der gemäß dem derzeitigen deutschen Kollisionsrecht (Art. 25 Abs. 1 EGBGB) bezüglich der Erbfolge deutsches Recht anwenden würde, muss das Recht des Staates New York anwenden, wenn der Erbfall eintritt, nachdem die Verordnung in Kraft getreten ist. Artikel 21: Allgemeine Kollisionsnorm (1) Sofern in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. (2) Ergibt sich ausnahmsweise aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen als dem Staat hatte, dessen Recht nach Absatz 1 anzuwenden wäre, so ist auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.

I. Allgemeines Dieser Artikel ist einer der wichtigsten der Verordnung. Er beinhaltet 1 zwei grundsätzliche Prinzipien: zum einen die Einheitlichkeit der Erbfolge (das anwendbare Recht wird auf die gesamte Erbschaft angewendet) und zum anderen die Maßgeblichkeit des Rechts des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers. Das erste Prinzip beendet die im internationalen Privatrecht einiger 2 Paul Lagarde

129

Artikel 21, Rn. 3, 4

Mitgliedstaaten vorhandene Spaltung zwischen beweglichen und unbeweglichen Vermögenswerten innerhalb des Nachlasses. Diese Spaltung könnte zwar die Antwort auf die realistische Ansicht sein, dass der Staat, in dem sich ein unbeweglicher Vermögensgegenstand befindet, nach dem Tod dessen Eigentümers immer das letzte Wort über das Schicksal der Immobilie haben wird. Der Dualismus hat jedoch den großen Nachteil, dass er den Nachlass in mehrere Teile zerstückelt, die unterschiedlichen Gesetzen unterfallen, und dass er es damit dem zukünftigen Erblasser schwer macht, seine Erbfolge zu regeln, insbesondere wenn nur eines der anwendbaren Gesetze ein Pflichtteilsrecht kennt. Dieser Nachteil wird vermieden, wenn die Gesamtheit der Nachlassgegenstände, also sowohl die beweglichen als auch die unbeweglichen, einem einzigen Rechtssystem untersteht (vgl. das Beispiel in Rn. 15 der Einleitung). 3 Das zweite in Art. 21 der Verordnung aufgestellte Prinzip besagt, dass

die Erbfolge dem Recht des Staates unterfällt, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieser Anknüpfungspunkt wurde gegenüber dem der Staatsangehörigkeit des Erblassers, welcher vom internationalen Privatrecht zahlreicher Mitgliedstaaten herangezogen wurde, bevorzugt. Er wurde als sachnäher angesehen, da sich der Interessenschwerpunkt und der Hauptteil des Vermögens des Verstorbenen am häufigsten in dem Staat befinden, in dem sein gewöhnlicher Aufenthalt war. Darüber hinaus ist dieser Anknüpfungspunkt auch in erster Linie für die richterliche Zuständigkeit vorgesehen und macht es möglich, die Einheitlichkeit von forum und jus zu sichern.

II. Absatz 1 4 Art. 21 Abs. 1 ist anzuwenden „sofern in dieser Verordnung nichts an-

deres vorgesehen ist“. Es handelt sich somit um eine Generalklausel, die immer dann heranzuziehen ist, wenn keine Rechtswahl nach den Voraussetzungen des Art. 22 vorliegt. Dieses objektive Anknüpfungsmerkmal, das grundsätzlich auf die gesamte Erbfolge anzuwenden ist, kann aber auch in Bezug auf einzelne Aspekte der Erbfolge verdrängt werden oder mit anderen Vorschriften konkurrieren. Beispiele dafür sind die Form einer schriftlichen Verfügung von Todes wegen (Art. 27), die Form einer Annahme- oder Ausschlagungserklärung (Art. 28), beson130

Paul Lagarde

Artikel 21, Rn. 5–8

dere Regelungen für die Bestellung und die Befugnisse eines Nachlassverwalters in bestimmten Situationen (Art. 29) oder besondere Regelungen mit Beschränkungen, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf bestimmte Vermögenswerte betreffen (Art. 30). Mit dem Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts wendet die Verord- 5 nung einen im internationalen Privatrecht der Mitgliedstaaten wohlbekannten Begriff an. Dieser Begriff wurde nämlich in zahlreichen Verordnungen (unter anderem Brüssel I, Brüssel II, Rom I, Rom II, Rom III, EU-Unterhaltsverordnung) und auch in den Haager Übereinkommen nach dem zweiten Weltkrieg verwendet. Da dieser Begriff in einem Text der Union vorkommt, kann seine Defi- 6 nition jedoch nicht der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten überlassen werden. Folglich ist es Aufgabe des Europäischen Gerichtshofes, eine eigenständige Definition zu entwickeln.1 Diese Definition ist nicht unveränderlich, und der EuGH hat mehrmals daran erinnert, dass die Interpretation dieses Begriffs „unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und der mit der betreffenden Regelung verfolgten Zielsetzung zu ermitteln ist.“2 Die Definition des gewöhnlichen Aufenthalts ist somit für Anpassun- 7 gen entsprechend des zu betrachtenden Rechtsgebiets geeignet. In Fragen der sozialen Sicherheit sowie des öffentlichen Dienstes hat 8 der Gerichtshof den gewöhnlichen Aufenthalt als den „Ort, den der Betroffene als ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewählt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen, wobei für die Feststellung des ständigen Wohnsitzes alle hierfür wesentlichen tatsächlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind“ definiert.3 1

2

3

S. insbesondere die Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro, C-327/82, S. 107, Rn. 11; vom 6. März 2008, Nordania Finans et BG Factoring, C-98/07, S. I-1281, Rn. 17, und auch vom 2. April 2009, A, C-523-07, S. I-2805, Rn. 34. S. insbesondere die Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro –C-27/82, S. 107, Rn. 11; vom 6. März 2008, Nordania Finans et BG Factoring, C-98/07, S. I-1281, Rn. 17, vom 2. April 2009, A, C-523-07, S. I-2805, Rn. 34, vom 22. Dezember 2010, C-497/10, Rn. 45. 15. September 1994, Magdalena Fernández/Kommission, C-452/93 P, Rn. 22; s.

Paul Lagarde

131

Artikel 21, Rn. 9, 10

9 Für die Anwendung der Brüssel II-Verordnung hat der Gerichtshof er-

klärt, „die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Bereichen des Rechts der Europäischen Union … kann nicht unmittelbar auf die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung übertragen werden.“4 Er war der Meinung, die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts müsse im Hinblick auf den Zusammenhang vorgenommen werden, in den sich die Vorschriften der Verordnung und das von ihr verfolgte Ziel einordnen lassen. Außerdem vertritt er die Ansicht, dass dieser Begriff für ein Kind so auszulegen ist, „dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist.“5

10 Folglich scheinen die einzelnen Elemente, die tatsächlich bei der Be-

stimmung des gewöhnlichen Aufenthalts berücksichtigt werden müssen, je nach Situation zu variieren. Für das Gebiet der Erbfolge finden sich in den Erwägungsgründen Nr. 23 und 24 der Verordnung nützliche Hinweise: „(23) Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sollte die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen. (24) In einigen Fällen kann es sich als komplex erweisen, den Ort zu bestimmen, an dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sich der Erblasser aus

4 5

bereits 12. Juli 1973, Éts Angenieux c/ Hackenberg, Sammlung 13/73; CJCE, 9. Oktober 1984, Witte c/ Europäisches Parlament, Sammlung 188/83; 11. November 2004, Adanez-Vega, Sammlung C-372/02, Rn. 37. 2. April 2009, C-523/07, Rn. 36. 2. April 2009, C-523/07, Rn. 44; gleichfalls 22. Dez. 2010, C-497/10.

132

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Artikel 21, Rn. 11

beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen – unter Umständen auch für längere Zeit – in einen anderen Staat begeben hat, um dort zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsstaat aufrechterhalten hat. In diesem Fall könnte – entsprechend den jeweiligen Umständen – davon ausgegangen werden, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in seinem Herkunftsstaat hat, in dem sich in familiärer und sozialer Hinsicht sein Lebensmittelpunkt befand. Weitere komplexe Fälle können sich ergeben, wenn der Erblasser abwechselnd in mehreren Staaten gelebt hat oder auch von Staat zu Staat gereist ist, ohne sich in einem Staat für längere Zeit niederzulassen. War der Erblasser ein Staatsangehöriger eines dieser Staaten oder hatte er alle seine wesentlichen Vermögensgegenstände in einem dieser Staaten, so könnte seine Staatsangehörigkeit oder der Ort, an dem diese Vermögensgegenstände sich befinden, ein besonderer Faktor bei der Gesamtbeurteilung aller tatsächlichen Umstände sein.“ Diese Angaben ermöglichen es in fast allen Situationen, den maßgeb- 11 lichen Anknüpfungspunkt herauszufinden. Beispiel 1 Der Erblasser, der französischer Staatsangehörigkeit ist, hat mehrere Jahrzehnte lang als Notar in Abidjan (Elfenbeinküste) gearbeitet. Als er an Krebs erkrankte, ist er nach Paris gezogen, um sich dort behandeln zu lassen. Dort ist er drei Jahre später gestorben. Er hat seine Wohnung in Abidjan behalten, bezahlte dort Sozialabgaben und hat in seiner Steuererklärung aus Solidarität Abidjan als Wohnsitz angegeben. Diese Tatsachen scheinen deutlich zu zeigen, dass der Erblasser seine Bindungen und seinen Interessenschwerpunkt an der Elfenbeinküste behalten hat. Somit ist sein gewöhnlicher Aufenthalt gem. Art. 21 der Verordnung an der Elfenbeinküste und damit müsste nach der Verordnung das Recht der Elfenbeinküste auf seine Erbfolge angewendet werden. Beispiel 2 Der Erblasser, der die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, hat sein Berufsleben in Österreich verbracht. Mit 70 Jahren lässt er sich auf Mallorca mit der Absicht nieder, dort bis zu seinem Tod zu bleiben. Der Großteil seines Vermögens befindet sich in Österreich. Objektiv betrachtet lässt sich feststellen, dass der ErblasPaul Lagarde

133

Artikel 21, Rn. 12

ser seinen Lebensmittelpunkt endgültig und bewusst nach Spanien verlagert hat (anders als im Beispiel zuvor), und dass deshalb das spanische Recht auf seine Erbfolge angewendet werden müsste und dass spanisches Recht eventuelle interne spanische Gesetzkonflikten lösen muss. Beispiel 3 Ein Österreicher arbeitet in Deutschland und lebt dort dauerhaft, aber seine Ehefrau ist in Österreich geblieben. Er besitzt eine Wohnung in Österreich und verbringt jedes zweite Wochenende dort, um bei seiner Frau zu sein. Hier könnte man zwischen dem deutschen und dem österreichischen Recht schwanken, aber angesichts der Hinweise in Nr. 24 der Präambel spricht der Sachverhalt eher für das österreichische Recht. Beispiel 4 Eine Person mit doppelter Staatsangehörigkeit (französisch und spanisch) verbringt sechs Monate im Jahr in Paris und die anderen sechs auf Mallorca. Sie hat Vermögen in beiden Ländern und an weiteren Orten. In diesem Grenzfall ist es unmöglich, zu bestimmen, ob der gewöhnliche Aufenthalt in Frankreich oder in Spanien ist, und die Verordnung sieht im Gegensatz zur Brüssel IIa-Verordnung6 keinen subsidiären Anknüpfungspunkt wie zum Beispiel den Ort des Todes vor. In einem solchen Fall sind weitere Nachforschungen darüber, zu welchem Land der Erblasser die engsten Bindungen hatte, die einzige Lösung. Dabei kommt dem Ermessensspielraum des Richters ausschlaggebende Bedeutung zu.

III. Absatz 2 12 Dieser Absatz formuliert eine Ausnahmeklausel, die von anderen Ver-

ordnungen übernommen wurde (Art. 4 Abs. 3, 5 Abs. 3, 8 Abs. 4 Rom I; Art. 4 Abs. 3, 10 Abs. 4, 11 Abs. 4, 12 Abs. 2 lit. c Rom II). Sie verdrängt die Anknüpfung des Absatz 1, wenn der Sachverhalt Verbindungen des Erblassers zu einem Staat aufzeigt, die offensichtlich enger sind als die Verbindungen zu dem Recht, auf das sich das objektive Anknüpfungsmerkmal bezieht. 6

Art. 12, s. auch EuGH 2. April 2009, 523/07, Rn. 43.

134

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Artikel 21, Rn. 13, 14

13

Erwägungsgrund 25 liefert dazu folgende Hinweise: „In Bezug auf die Bestimmung des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts kann die mit der Erbsache befasste Behörde in Ausnahmefällen – in denen der Erblasser beispielsweise erst kurz vor seinem Tod in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts umgezogen ist und sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass er eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen Staat hatte – zu dem Schluss gelangen, dass die Rechtsnachfolge von Todes wegen nicht dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers unterliegt, sondern dem Recht des Staates, zu dem der Erblasser offensichtlich eine engere Verbindung hatte. Die offensichtlich engste Verbindung sollte jedoch nicht als subsidiärer Anknüpfungspunkt gebraucht werden, wenn sich die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes als schwierig erweist.“

Diese Klausel sollte nur sehr selten angewendet werden, da – ungeachtet 14 des letzten Satzes des oben wiedergegebenen Erwägungsgrunds Nr. 25 – unter dem gewöhnlichen Aufenthalt der Ort verstanden wird, an dem der Erblasser seinen Interessenschwerpunkt hatte und damit dieser Ort danach bestimmt wird, wie eng der Erblasser mit ihm verbunden war. Beispiel 5 Ein Deutscher war bis zu seinem Tod Beamter im Europarat. Er hat in Straßburg gewohnt und ist dort auch gestorben. Als sein gewöhnlicher Aufenthalt wurde Straßburg bestimmt und das französische Recht stellt eindeutig den objektiven Anknüpfungspunkt dar. Es ist dennoch möglich, dass er wichtige Verbindungen zu Deutschland bewahrt hat. Er könnte zum Beispiel einen Auftrag von der deutschen Regierung erhalten und beabsichtigt haben, zum Zeitpunkt seines Ruhestands nach Deutschland zurückzukehren, um dort seine letzten Jahre zu verbringen. Die Ausnahmeklausel kann in einem solchen Fall unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zur Anwendung des deutschen Rechts führen.

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Artikel 22, Rn. 1, 2

Artikel 22: Rechtswahl (1) Eine Person kann für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen, dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört. Eine Person, die mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt, kann das Recht eines der Staaten wählen, denen sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört. (2) Die Rechtswahl muss ausdrücklich in einer Erklärung in Form einer Verfügung von Todes wegen erfolgen oder sich aus den Bestimmungen einer solchen Verfügung ergeben. (3) Die materielle Wirksamkeit der Rechtshandlung, durch die die Rechtswahl vorgenommen wird, unterliegt dem gewählten Recht. (4) Die Änderung oder der Widerruf der Rechtswahl muss den Formvorschriften für die Änderung oder den Widerruf einer Verfügung von Todes wegen entsprechen.

I. Allgemeines 1 Das Recht, für die Rechtsnachfolge von Todes wegen eine Rechtswahl

zu treffen, bietet gemeinsam mit dem Prinzip der Einheitlichkeit der Erbfolge (s. Art. 21 Rn. 1) dem Erblasser die Möglichkeit, seine gewünschte Rechtsnachfolge im Voraus zu organisieren (s. Einleitung Rn. 28 ff.). 2 Denn zum einen kann der zukünftige Erblasser im Zweifel sein, welches

Recht auf seine Rechtsnachfolge von Todes wegen angewendet werden würde, wenn er kein Recht wählt. Das könnte entweder daran liegen, dass er zu dem Zeitpunkt, in dem er seine Erbfolge plant, nicht weiß, wo sein letzter gewöhnlicher Aufenthalt sein wird (s. Art. 21 Rn. 11 Beispiele 2 und 3), oder andererseits daran, dass er Schwierigkeiten verhindern will, die mit der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts speziell in seiner Situation auftreten können (s. Art. 21 Rn. 11 Beispiele 4 und 5). Diese Ungewissheit besteht nicht nur in Bezug auf das anwendbare Recht, sondern auch in Bezug auf das zuständige Gericht, da der Anknüpfungspunkt grundsätzlich der gleiche ist. Zum anderen kann selbst dann, wenn das objektive Anknüpfungsmerkmal vorhersehbar ist, das hierdurch bestimmte Recht nicht zu dem zukünftigen Erblasser passen. 136

Paul Lagarde

Artikel 22, Rn. 3, 4

Zum Beispiel kann der Staat, dem das Recht entstammt, mit dem kultursoziologischen Hintergrund des Erblassers in Zwiespalt stehen und die Erwartungen des Erblassers und seiner Erben enttäuschen. Eine Wahl des anwendbaren Erbrechts ermöglicht die Überwindung 3 dieser Schwierigkeiten. Zudem kann sie bezüglich der internationalen Zuständigkeit nach dem Todesfall durch eine Gerichtsstandvereinbarung zwischen den betroffenen Parteien (Erben, Vermächtnisnehmer, Gläubiger usw.) vervollständigt werden. Art. 5 erlaubt nämlich, die Zuständigkeit auf die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats zu übertragen, dessen Recht der Erblasser gewählt hat, und so die Einheit von forum und jus wiederherzustellen. Die Möglichkeit der Rechtswahl darf jedoch nicht zu neuen Schwierig- 4 keiten führen. Dies wäre der Fall, wenn sie nicht so stark eingeschränkt wäre. Im Gegensatz zum Haager Erbrechtsübereinkommen, das eine Rechtswahl auch anerkannte, wenn das gewählte Recht das des gewöhnlichen Aufenthalts im Zeitpunkt der Wahl oder im Zeitpunkt des Todes war, schränkt die Verordnung diese Wahlmöglichkeit auf das Recht des Staates ein, dem der Erblasser angehört. Damit vermeidet sie, dass die Wahl eines Rechts mit dem Ziel vorgenommen wird, die legitimen Erwartungen der Pflichtteilsberechtigten zu enttäuschen. Darauf weist auch Erwägungsgrund 38 hin.1 Beispiel 1 Ein Niederländer mit Hauptwohnsitz in Amsterdam, wo auch seine Familie wohnt, arbeitet hauptsächlich in London, wo er einen weiteren Wohnsitz hat. Unter der Woche lebt er in London, verbringt aber seine Wochenenden sowie die Feiertage in Amsterdam. Für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen wählt er das englische Recht, wobei er weiß, dass ein Gericht Schwierigkeiten haben würde, sich bezüglich seines gewöhnlichen Aufenthalts zwischen London und Amsterdam zu entscheiden. Diese Wahl ist dann nicht rechtswirksam, sie könnte aber dem Gericht eine Hilfestellung bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers sein.

1

Allgemein zur Frage, ob die Sonderstellung der öffentlichen Ordnung das anwendbare Recht verdrängen kann s. Art. 35 Rn. 6 f.

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137

Artikel 22, Rn. 5–7

Beispiel 2 Ein Deutscher mit gewöhnlichem Aufenthalt in New York wählt das Recht dieses Staates. Er kehrt nach Deutschland zurück und lässt sich dort nieder, wo er einige Jahre später stirbt. Die Wahl des Rechts von New York ist nicht wirksam. Sie könnte es nur dann sein, wenn der Erblasser vor seinem Tod die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hätte.

II. Absatz 1 5 Absatz 1 enthält drei wichtige Präzisierungen über die Reichweite der

Rechtswahl. 6 Erstens muss sich die Wahl ebenso wie die objektive Anknüpfung auf

die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen erstrecken (s. Art. 21 Rn. 1 ff.). Es ist dem zukünftigen Erblasser nicht erlaubt, durch seine Wahl wieder eine Nachlassspaltung zwischen beweglichen und unbeweglichen Gütern einzuführen. Siehe im gleichen Sinne Art. 23 Abs. 1. 7 Zweitens wird der mögliche Konflikt, der aufgrund eines Wechsels der

Staatsangehörigkeit des Erblassers zwischen dem Zeitpunkt der professio juris und des Todes entstehen könnte, auf die für die Autonomie des Erblassers günstigste Weise geregelt. Jede Person kann „das Recht des Staates wählen, dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört“. Die Formulierung ist nicht so eindeutig wie die des entsprechenden Artikels 5 des Haager Erbrechtsübereinkommens, der die Wahl eines bestimmten Rechts ermöglicht, und diese Wahl nach dem Tod für rechtsgültig erklärt, wenn das gewählte Recht dem Staat entstammt, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser im Todeszeitpunkt tatsächlich besaß. Der Sinn von Art. 22 der Verordnung ist dennoch derselbe. Die abstrakte Wahl des zukünftigen Erblassers, der das Rechts des Staates wählt, dessen Staatsangehörigkeit er am Tag seines Todes haben wird, ist unbestimmt und wohl unzulässig. Welches Recht wäre tatsächlich anwendbar, wenn der Erblasser nach seiner Wahl eine weitere Staatsangehörigkeit angenommen hätte, ohne die ursprüngliche aufzugeben? Beispiel 3 Der Erblasser, der die doppelte Staatsangehörigkeit von Frankreich 138

Paul Lagarde

Artikel 22, Rn. 8–10

und Belgien besitzt, hat das irische Recht für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählt. Diese Wahl wird rechtsgültig, falls er am Tag seines Todes die irische Staatsangehörigkeit besitzt. Dabei spielt es weder eine Rolle, wo sich sein gewöhnlicher Aufenthalt befand, noch ob er seine anderen beiden Staatsangehörigkeiten behalten hat. Er hätte auch das französische oder das belgische Recht wirksam wählen können, sogar wenn er die Staatsangehörigkeit des Staats, dessen Recht er gewählt hat, später verloren hätte. Beispiel 4 Der französische Erblasser wählt in seinem Testament „das Recht des Staates, dem er im Zeitpunkt seines Todes angehört“. Inzwischen hat er die schwedische Staatsangehörigkeit angenommen und gleichzeitig die französische behalten. Es scheint, dass seine Wahl nicht wirksam sein kann, da sie keine Entscheidung zwischen dem französischen und dem schwedischen Recht ermöglicht. Drittens enthält Absatz 1 noch eine weitere Präzisierung für den Fall, 8 dass eine Person mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt. Satz 2 dieses Absatzes erklärt die Rechte aller dieser Staaten für gleich wichtig und erlaubt dem zukünftigen Erblasser, eines seiner nationalen Rechte zu wählen. Dadurch wird der Vorrang einer Staatsangehörigkeit verdrängt, wenn dieser fraglich ist, sowie auch die Schwierigkeiten und Ungewissheiten bei der Bestimmung der effektiven Staatsangehörigkeit, wenn der Betroffene zwei Staatsbürgerschaften besitzt. Die Bestimmung der Staatsangehörigkeit, also die Frage, ob der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses oder jenes Staates besaß, hängt vom Recht des betroffenen Staates ab, was auch Erwägungsgrund 41 klarstellt.

III. Absatz 2 Dieser Absatz bezieht sich auf Wortwahl und Form der Rechtswahl.

9

Die Form entspricht der Form einer Verfügung von Todes wegen. Für 10 das Recht, nach dem sich die formelle Wirksamkeit dieser Verfügung richtet, muss man sich auf die Kollisionsnorm des Art. 27 beziehen. Diese betrifft, im Gegensatz zum Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über Rechtskonflikte im Bereich der Form von Verfügungen von Todes wegen, die ihr Vorbild war, nur auf schriftliche Verfügungen Paul Lagarde

139

Artikel 22, Rn. 11–13

von Todes wegen. Aus der Tatsache, dass die Verordnung über die mündliche Errichtung einer Verfügung von Todes wegen schweigt, kann man ableiten, dass die Rechtswahl bezüglich der Rechtsnachfolge von Todes wegen schriftlich erfolgen muss. 11 Der Text ordnet an, dass die Rechtswahl ausdrücklich erfolgen muss

oder sich aus den Bestimmungen der Verfügung ergeben muss. Eine stillschweigende Rechtwahl lehnt dieser Wortlaut also ab, auch wenn sie sich eindeutig aus den Umständen des Falles“ ergeben würde.2 Es ist notwendig, dass der Richter, der Notar oder der Rechtsanwalt keine Probleme hat festzustellen, dass eine Rechtswahl vorgenommen wurde (vgl. Erwägungsgrund 39),3 wenn z.B. der Erblasser in seiner Verfügung Bezug auf spezifische Bestimmungen des Rechts des Staates, dem er angehört, genommen hat oder das Recht des Staates in anderer Weise erwähnt hat.

IV. Absatz 3 12 Die materielle Wirksamkeit der Rechtshandlung, durch die die Rechts-

wahl vorgenommen wird, unterliegt dem gewählten Recht. Dadurch will Absatz 3 die Interessen des Erklärenden umsetzen. Dieser kann zwar durch Irrtum, arglistige Täuschung oder Gewalt beeinträchtigt sein, nicht aber in seiner Fähigkeit, sein Recht selbst zu wählen. Diese Wahl behält zunächst ihre Grundlage in der Verordnung, unbeschadet der Frage, welche Haltung das gewählte Recht hierzu hat.

V. Absatz 4 13 Die Änderung oder der Wiederruf der Rechtswahl muss den Formvor-

schriften für die Änderung oder den Widerruf einer Verfügung von Todes wegen entsprechen. Es wird daher auf Art. 27 Abs. 2 verwiesen. Dies bedeutet nicht, dass die Form der Änderung oder des Widerrufs die gleiche wie die der Erklärung sein muss, sondern dass die Rechtsgültigkeit dieser Form nach einem der Rechte bewertet werden muss, die in Art. 27 Abs. 1 aufgeführt sind. 2

3

Vgl. im Unterschied zu den Verordnungen Art. 3 Abs. 1 Rom I; Art. 14 Abs. 1 Rom II. Waters-Bericht, Nr. 65.

140

Paul Lagarde

Artikel 23

Artikel 23: Reichweite des anzuwendenden Rechts (1) Dem nach Artikel 21 oder Artikel 22 bezeichneten Recht unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen. (2) Diesem Recht unterliegen insbesondere: a) die Gründe für den Eintritt des Erbfalls sowie dessen Zeitpunkt und Ort; b) die Berufung der Berechtigten, die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile und etwaiger ihnen vom Erblasser auferlegter Pflichten sowie die Bestimmung sonstiger Rechte an dem Nachlass, einschließlich der Nachlassansprüche des überlebenden Ehegatten oder Lebenspartners; c) die Erbfähigkeit; d) die Enterbung und die Erbunwürdigkeit; e) der Übergang der zum Nachlass gehörenden Vermögenswerte, Rechte und Pflichten auf die Erben und gegebenenfalls die Vermächtnisnehmer, einschließlich der Bedingungen für die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft oder eines Vermächtnisses und deren Wirkungen; f) die Rechte der Erben, Testamentsvollstrecker und anderer Nachlassverwalter, insbesondere im Hinblick auf die Veräußerung von Vermögen und die Befriedigung der Gläubiger, unbeschadet der Befugnisse nach Artikel 29 Absätze 2 und 3; g) die Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten; h) der verfügbare Teil des Nachlasses, die Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit sowie etwaige Ansprüche von Personen, die dem Erblasser nahe stehen, gegen den Nachlass oder gegen den Erben; i) die Ausgleichung und Anrechnung unentgeltlicher Zuwendungen bei der Bestimmung der Anteile der einzelnen Berechtigten und j) die Teilung des Nachlasses. I. Allgemeines II. Absatz 1 III. Absatz 2 1. Lit. a 2. Lit. b 3. Lit. c 4. Lit. d 5. Lit. e a) Übergang der zum Nachlass gehörenden Vermögenswerte, Rechte und Pflichten auf die Erben und Vermächtnisnehmer

Paul Lagarde

1 2 3 4 7 12 15 18

b) Die Bedingungen für die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft oder eines Vermächtnisses und deren Wirkungen 6. Lit. f 7. Lit. g 8. Lit. h 9. Lit. i 10. Lit. j

25 29 33 36 39 44

19

141

Artikel 23, Rn. 1–4

I. Allgemeines 1 Dieser Artikel definiert die Reichweite des anwendbaren Erbrechts. Er-

wägungsgrund 42 besagt deutlich: „Das zur Anwendung berufene Erbrecht sollte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen vom Eintritt des Erbfalls bis zum Übergang des Eigentums an den zum Nachlass gehörenden Vermögenswerten auf die nach diesem Recht bestimmten Berechtigten gelten.“

II. Absatz 1 2 Diese Bestimmung bestätigt erneut das Prinzip der Einheitlichkeit der

Erbfolge. Egal, ob das Erbrecht auf objektiver Grundlage (Art. 21) oder von einer professio juris (Art. 22) bestimmt wird, gilt die Einheitlichkeit der Rechtsnachfolge von Todes wegen. Dies besagt zum einen, dass die Rechtsnachfolge von Todes wegen auf die Gesamtheit der Nachlassgegenstände angewandt wird, also sowohl auf bewegliche als auch auf unbewegliche Güter. Zum anderen ist das Erbrecht auf alle Rechtsfragen anwendbar, die durch die Erbfolge aufgeworfen werden, von der Eröffnung der Erbschaft bis zur Teilung des Nachlasses.

III. Absatz 2 3 Dieser Absatz listet alle Fragen auf, die dem Erbrecht unterliegen. Die

Aufzählung ist beispielhaft und lässt somit Raum für die Berücksichtigung weiterer erbrechtlicher Fragen. Sie ist deutlich von der korrespondierenden Aufzählung in Art. 7 des Haager Übereinkommens vom 1. August 1989 beeinflusst. Allerdings ist sie umfassender und bezieht Stellung zu Fragen, die das Haager Erbrechtsübereinkommen offenlässt, wie z.B. die Verwaltung der Erbschaft.

1. Lit. a 4 Der normale Anlass für den Eintritt des Erbfalls ist selbstverständlich

der Tod. Das ist ein einfaches Ereignis, dessen Datum im Allgemeinen bekannt ist. Es ist allerdings nicht das einzige. Für den Fall, dass eine Person bei einer Katastrophe verschwunden ist, ohne dass ihr Körper gefunden wurde oder dass eine Person nicht wieder nach Hause zurückkehrt ist und keine Neuigkeiten über ihr Verbleiben vorliegen, gibt 142

Paul Lagarde

Artikel 23, Rn. 5–8

es in jeder Gesetzgebung Bestimmungen über das Verschwinden oder die Verschollenheit, die regeln, ob und wann der Erbfall dieser Person eingetreten ist. Die Verordnung ordnet diese Frage dem Erbrecht zu. Auch wenn ein Verschollenheits- oder Abwesenheitsverfahren in einem anderen Staat in Gang gesetzt wurde, z.B. in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit die Person besaß, hängt deren Einwirkung auf den Eintritt des Erbfalls und seinen Zeitpunkt vom anzuwendenden Erbrecht ab. Auch wenn dieses Verfahren vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen ist (Art. 1 Abs. 2 lit. c), können diese Fragen also die Eröffnung der Erbverwaltung und dessen Tag beeinflussen. Wenn mehrere Personen durch das gleiche Ereignis sterben, wird der 5 Zeitpunkt, zu dem der Erbfall bei jedem Einzelnen eintritt, insbesondere die angenommene Reihenfolge der Todesfälle, durch das Erbrecht bestimmt. Die Sachlage ist aber kompliziert, falls das Erbrecht dieser Personen nicht dasselbe ist. Diese Situation ist in Art. 32 geregelt. Das Erbrecht ist auch zur Bestimmung des Ortes, an dem der Nachlass 6 zu eröffnen ist, anwendbar. Das kann von Interesse sein, wenn das Recht die Erfüllung von formellen Voraussetzungen an diesem Ort vorsieht.

2. Lit. b Sowohl die testamentarische als auch die gesetzliche Erbfolge werden 7 vom Erbrecht geregelt. Dieser Buchstabe befasst sich mit den „Berechtigten“, wobei dieser Begriff weit ausgelegt wird. Erwägungsgrund 47 erklärt hierzu: „Wer in einer Erbsache Berechtigter ist, sollte sich jeweils nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Erbrecht bestimmen. Der Begriff „Berechtigte“ würde in den meisten Rechtsordnungen Erben und Vermächtnisnehmer sowie Pflichtteilsberechtigte erfassen; allerdings ist beispielsweise die Rechtsstellung der Vermächtnisnehmer nicht in allen Rechtsordnungen die gleiche. In einigen Rechtsordnungen kann der Vermächtnisnehmer einen unmittelbaren Anteil am Nachlass erhalten, während nach anderen Rechtsordnungen der Vermächtnisnehmer lediglich einen Anspruch gegen die Erben erwerben kann.“ Lit. b erweitert den Anwendungsbereich des Erbrechts auf die Pflichten, 8 Paul Lagarde

143

Artikel 23, Rn. 9–11

die der Erblasser den Berechtigten im Gegenzug für die Beteiligung am Nachlass, die er ihnen gewährt hat, auferlegt hat. 9 In etwas monotoner Weise nennt der Text dann „die Bestimmung sons-

tiger Rechte an dem Nachlass“ und hebt die Nachlassansprüche des überlebenden Ehegatten oder Lebenspartners besonders hervor. 10 Der Text beinhaltet keine Antworten auf die Vorfragen bezüglich des

Personenstands, die bezüglich der Berechtigung am Nachlass aufkommen. Der Personenstand sowie die Familienverhältnisse sind vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen (Art. 1 Abs. 2 lit. a). Wenn also der Ehegatte des Erblassers im Erbfall einen Anteil beansprucht, der ihm nach dem Erbrecht zusteht, die Rechtsgültigkeit der Ehe aber bestritten wird, ist dies gemäß den Regeln des internationalen Privatrechts desjenigen Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zuständig sind. Es ist somit die Aufgabe des Rechts dieses Staates zu entscheiden, ob die Vorfrage Gegenstand eines eigenständigen Anknüpfungspunktes ist, der durch die Kollisionsnorm des Gerichtsstands bestimmt wird, oder unselbständig abgeknüpft wird, also durch den Staat, dessen Recht die Hauptfrage der Rechtsnachfolge von Todes wegen klärt. 11 Das gleiche gilt für die eingetragene Lebenspartnerschaft. Allerdings be-

steht bei dieser Institution eine zusätzliche Schwierigkeit: Sie ist nicht umfassend anerkannt und selbst wenn sie anerkannt wird, schafft sie zwischen den Partnern eine Bindung, die von einer Gesetzgebung zur anderen stark variiert. Falls es dem Erbrecht vorbehalten ist, die auf das Erbe bezogenen Rechte des überlebenden Partners zu bestimmen, obliegt ihm auch die Beurteilung, ob die Partnerschaft, auf die der Überlebende sich beruft, gleichwertig ist mit der Partnerschaft, die im Staat des anwendbaren Erbrechts existiert, und diese somit ersetzen kann. Die gleiche Argumentation ist auch auf andere Institutionen wie die Adoption anzuwenden. Beispiel 1 Der Erblasser, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, ist in Frankreich nach französischem Recht eine eingetragene Lebenspartnerschaft (PACS) eingegangen. Der überlebende Partner beansprucht seinen Anteil am Erbe, wie es vom deutschen Erbrecht vorgesehen ist. Das zuständige deutsche Gericht wird feststellen, ob 144

Paul Lagarde

Artikel 23, Rn. 12, 13

der französiche Partner, der nach französischem Recht kein Erbrecht hat, mit einem deutschen registrierten Partner verglichen werden kann.1 Beispiel 2 Der Erblasser mit gewöhnlichem Wohnsitz in Frankreich ist in Deutschland nach deutschem Recht eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen. Der überlebende Partner beansprucht seinen Anteil am Nachlass. Das zuständige französische Gericht wird feststellen, dass das französische Erbrecht dem überlebenden Partner keinen erbrechtlichen Anspruch gewährt, aber es muss sich fragen, ob die deutsche eingetragene Lebenspartnerschaft durch die Ehe des französischen Erbrechts ersetzt werden kann, und deshalb die erbrechtlichen Ansprüche übertragen werden müssen.2

3. Lit. c Dieser Buchstabe, der die Erbfähigkeit in den Anwendungsbereich des 12 Gesetzes einschließt, muss in Korrelation mit dem Ausschluss der Rechtsfähigkeit natürlicher Personen aus dem Anwendungsbereich der Verordnung (Art. 1 Abs. 2 lit. b) und mit dem Ausschluss der Rechtsnachfolge von Todes wegen aus dem Anwendungsbereich des Haager Übereinkommens vom 19. Oktober 1996 über den Schutz der Kinder (Art. 4 lit. f), das bereits in 25 von 27 Mitgliedstaaten der Union in Kraft ist, interpretiert werden. Dem Erbrecht unterstehen daher nur die Aspekte der Fähigkeiten einer 13 Person, die spezifisch das Erbrecht betreffen. Unter diese Kategorie fallen Voraussetzungen für die Erbberechtigung, wie z.B. jene, vor dem Eintritt des Erbfalls geboren (oder zumindest gezeugt) worden zu sein. Außerdem ist nach dem Erbrecht die Fähigkeit zu beurteilen, etwaige Wahlrechte bezüglich des Erbes auszuüben. Falls das anwendbare Erbrecht zum Beispiel für die Erbschaftsannahme durch einen Minderjährigen oder einen geschäftsunfähigen Volljährigen eine Genehmigung 1

2

In diesem Sinne MünchKommBGB/Coester, 5. Auflage, 2010, Art. 17b EGBGB, Rn. 61. In diesem Sinne MünchKommBGB/Coester, 5. Auflage, 2010, Art. 17b EGBGB, Rn. 60.

Paul Lagarde

145

Artikel 23, Rn. 14–17

seines gesetzlichen Vertreters und eine gerichtliche Genehmigung vorsieht, ist dies zu beachten. Aber andererseits betrifft die Bestimmung des gesetzlichen Vertreters nicht speziell das Erbrecht. Diese ist eine grundsätzliche Frage der Geschäftsfähigkeit, die nicht durch die Verordnung, sondern durch das Haager Übereinkommen von 1996 geregelt wird. 14 Lit. c ist auch auf die Erbfähigkeit juristischer Personen anwendbar.

Ebenso wie bei natürlichen Personen sind dabei nur die Aspekte betroffen, die spezifisch das Erbrecht betreffen. Folglich ist die Frage, ob eine zukünftige juristische Person, die am Todestag noch nicht gegründet ist, ein Erbe erhalten kann, im Erbrecht geregelt. Im Gegensatz ist die Frage, ob eine juristische Person, wie zum Beispiel ein Verein oder eine Gewerkschaft, eine unentgeltliche Zuwendung erhalten kann, im speziellen Recht der juristischen Person geregelt.

4. Lit. d 15 Dies ist die Wiederaufnahme des Art. 7 Abs. 2 lit. b des Haager Erb-

rechtsübereinkommens. Es handelt sich hierbei um Personen, die nach dem gesetzlichen Erbrecht zur Erbfolge berufen wären, denen jedoch der Erblasser den Anspruch hierauf entzogen hat (Enterbung) oder denen er aufgrund ihres Verhaltens verwehrt ist (Erbunwürdigkeit). 16 Die Enterbung durch den Erblasser steht ihm innerhalb der Grenzen

des Pflichtteilsrechts zu, falls es ein solches gibt, und hängt wie dieses vom anwendbaren Erbrecht ab. 17 Die Erbunwürdigkeit ist hingegen als Bestrafung für Vergehen, die

meist mit einem unmoralischem Verhalten einhergehen, durch Gesetz vorgeschrieben, wobei die Voraussetzungen je nach Gesetzgebung variieren. Darunter fallen z.B. Vergehen wie die Vernachlässigung des Erblassers, wenn er in Not ist oder Gewalt und Betrug, die den Erblasser dazu verleitet, eine bestimmte testamentarische Verfügung zu treffen oder nicht zu treffen. Das anwendbare Erbrecht regelt die Motive der Erbunwürdigkeit, aber zugleich auch ihre Durchsetzungsvoraussetzungen (kraft Gesetzes oder infolge einer gerichtlichen Klage).

146

Paul Lagarde

Artikel 23, Rn. 18–21

5. Lit. e Im Gegensatz zum Haager Erbrechtsübereinkommen bezieht die Ver- 18 ordnung auch Fragen über die Verwaltung und den Übergang des Erbes in den Anwendungsbereich des Erbrechts ein (lit. e, f und g). Lit. e behandelt den Übergang des Erbes genauer: einerseits die Übertragung von Vermögen und Verbindlichkeiten, andererseits die Bedingungen und Wirkungen erbrechtlicher Wahlrechte (Annahme und Ausschlagung).

a) Übergang der zum Nachlass gehörenden Vermögenswerte, Rechte und Pflichten auf die Erben und Vermächtnisnehmer Das Erbrecht besagt, ob die Vermögenswerte, Rechte und Pflichten, aus 19 denen sich der Nachlass zusammensetzt, kraft Gesetzes auf die Erben und Vermächtnisnehmer übergehen, unter welchen Voraussetzungen sie in den Besitz dieser Vermögensgüter gelangen (mit oder ohne formelle Voraussetzungen oder förmliche Entscheidungen zur Besitzeinweisung) und ob das zu vererbende Vermögen einem Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter übergeben wird, der von einem Gericht bestätigt oder benannt wurde und der mit der Begleichung der Nachlassverbindlichkeiten beauftragt ist. Indem die Verordnung die „Erben und gegebenenfalls die Vermächtnis- 20 nehmer“ nennt, berücksichtigt sie die Unterschiede des Übergangs der Vermögenswerte auf erstere und letztere. Die Vermächtnisnehmer werden in einigen Rechtssystemen mit den Erben gleichgesetzt, in anderen müssen sie hingegen die Erfüllung ihres Vermächtnisses fordern (s. Erwägungsgrund 47). Das Erbrecht bestimmt auch, ob der Übergang des Vermögens von der 21 vorhergehenden Erfüllung der Verbindlichkeiten abhängig ist und wer damit beschwert ist (zu den Pflichten der beschwerten Erben und Vermächtnisnehmer, insbesondere wenn die Verbindlichkeiten das Vermögen übersteigen, s. unten Rn. 33 ff.). Beispiel 3 Der Erblasser, ein Engländer, hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Paris. Er hat das englische Erbrecht gewählt und hinterlässt Vermögenswerte im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in Paul Lagarde

147

Artikel 23, Rn. 22–25

Frankreich. Das französische Gericht, das gem. Art. 4 zuständig ist, muss das englische Recht anwenden, gemäß dem der Nachlass auf einen personal representative übergeht. Dieser muss nach englischem Recht durch das Gericht bestätigt oder ernannt werden und ist als einziger befugt, die Erbschaft zu verwalten und abzuwickeln. 22 Dieses Beispiel zeigt, dass die Probleme der richterlichen Zuständigkeit

und des anzuwendenden Rechts häufig miteinander vermischt sind. Das französische Gericht wäre grundsätzlich zuständig für die Ernennung des vom Erbrecht vorgesehenen personal representative. Wenn das Vereinigte Königreich eines Tages akzeptiert, dass es durch die Verordnung gebunden ist, ist es gezwungen, die Macht des Verwalters, der von dem französischen Gericht in Anwendung englischen Erbrechts benannt wurde, anzuerkennen. Zudem wäre es einfacher, die Zuständigkeit auf die englische Gerichte zu übertragen, um Missverständnisse zu vermeiden. Das könnte zum einen durch eine Gerichtsstandsvereinbarung (Art. 5) und zum anderen durch den Antrag an das französische Gericht erfolgen, seine Zuständigkeit abzuweisen (Art. 6 lit a). 23 Diese Möglichkeit der Kompetenzübertragung zugunsten eines Dritt-

staates ist in der Verordnung nicht vorgesehen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die Ernennung des personal representative durch das französische Gericht von den Besitzern der zu vererbenden Vermögensgüter im Vereinigten Königreich und den englischen Gerichten anerkannt wird. 24 Der französische Richter muss also selbst einen Nachlassverwalter er-

nennen und diesen dazu bewegen, seine Position von einem englischen Gericht bestätigen zu lassen, damit er bezüglich der Vermögenswerte, die sich im Vereinigten Königreich befinden, alle Befugnisse anwenden kann, die ihm das englische Recht zugesteht.

b) Die Bedingungen für die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft oder eines Vermächtnisses und deren Wirkungen 25 Das jeweilige Erbrecht eröffnet den Erbberechtigten ggf. mehrere Erklä-

rungsmöglichkeiten, zum Beispiel die schlichte Annahme, die Annahme des Reinvermögens mit teilweiser Ausschlagung, oder einfach die Ausschlagung. Es legt auch fest, in welchen Fällen eine der Wahlmög148

Paul Lagarde

Artikel 23, Rn. 26–31

lichkeiten als stillschweigend ergriffen angenommen oder ob eine bestimmte Erklärung gegenüber einem Erbberechtigten durchgesetzt werden kann (zum Beispiel die erzwungene Annahme des Erbes bei Hehlerei, s. Art. 788 und 800 des französischen Code Civile). Aufgabe des Erbrechts ist es auch, die Annahme- und Ausschlagungs- 26 berechtigten zu bestimmen, zum Beispiel die persönlichen Gläubiger der Erben im Falle deren Untätigkeit oder die potentiellen Erbeserben im gleichen Fall (zur Fähigkeit, die Erklärung abzugeben s. oben Rn. 12 ff.). Die Entscheidungsfrist und die Wirkungen der Entscheidung werden 27 ebenfalls durch das Erbrecht geregelt. Es bestimmt auch, ob die Abkömmlinge des Ausschlagenden von der Erbfolge ausgeschlossen sind oder ob sie als Ersatz für den Ausschlagenden Erben werden. Die formellen Voraussetzungen der erbrechtlichen Wahlmöglichkeiten 28 sind nicht in Art. 23 Abs. 2 geregelt, sondern in Art. 28.

6. Lit. f Dieser Buchstabe behandelt die Rechte der Erben, Testamentsvollstre- 29 cker und anderer Nachlassverwalter. Der Text nennt als Beispiel die Fähigkeit, Nachlassvermögen zu verkaufen und Gläubiger zu bezahlen, an. Lit. f ist eng mit lit. e verbunden, da die Personen, die zur Nachlassver- 30 waltung berechtigt sind, häufig auch die sind, auf die das Erbe übergeht, entweder als Begünstigte (Erben und Vermächtnisnehmer), wie in den Ländern des kontinentalen Zivilrechts, oder als personal representatives in denen des common law, da diesen die Güter zumindest bis zum Ende der Abwicklung übertragen werden. Es ist also logisch, den Übergang auf die Berechtigten und deren Befugnisse demselben Recht zu unterstellen. Es kann jedoch passieren, dass der Nachlassverwalter nicht zugleich der 31 Begünstigte ist, auf den das Nachlassvermögen übergeht. Dies ist beim Testamentsvollstrecker in Ländern des kontinentalen Zivilrechts der Fall, da dieser vom Erblasser auch von außerhalb des Familienkreises Paul Lagarde

149

Artikel 23, Rn. 32–35

ausgewählt werden kann. In diesem Fall hängen die Befugnisse des Vollstreckers ebenfalls vom Erbrecht ab. Auch wenn diese Befugnisse vom Erblasser definiert und näher bestimmt wurden, müssen sie mit dem Erbrecht vereinbar sein. 32 Die in diesem Buchstaben festgelegte Einheitlichkeit des auf den Über-

gang der Vermögenswerte und die Befugnisse des Verwalters anwendbaren Rechts ist nur dann praktikabel, wenn das Erbrecht mit dem Recht des für die Erbfolge zuständigen Gerichts vereinbar ist. Wenn eines dieser beiden Rechtssysteme die Ernennung eines Verwalters fordert, dem es die weitestmöglichen Befugnisse zur Verwaltung und Abwicklung gewährt, ist eine Trennung dieser beiden Rechtssysteme bezüglich der beiden Fragegruppen unvermeidbar. Für diese Situation wurde Art. 29 geschaffen, dessen Anwendung lit. f sich vorbehält.

7. Lit. g 33 Lit. e unterstellt den Übergang der Verbindlichkeiten dem Erbrecht,

und lit. g vervollständigt die Regelungen zum Nachlassübergang, indem er die Haftung für diese Nachlassverbindlichkeiten demselben Recht zuordnet. 34 Im Bereich der Schuldenhaftung präzisiert das Erbrecht, an wen die

Gläubiger sich zur Eintreibung ihrer Forderungen richten müssen (Erben, Vermächtnisnehmer oder Verwalter). Das Erbrecht entscheidet, ob die Erben und Vermächtnisnehmer ultra vires successionis verpflichtet sind, die Verbindlichkeiten zu befriedigen, ob die Gläubiger ihren Anspruch ggf. nur anteilig gegenüber mehreren Schuldnern geltend machen dürfen oder die gesamte Forderung von einem Schuldner verlangen dürfen, ob den Gläubigern zur Einforderung der Verbindlichkeiten eine Frist gesetzt ist usw. 35 Im Bereich der Haftung bestimmt das Erbrecht die Art und Weise der

Aufteilung der Schulden zwischen Erben und Vermächtnisnehmer sowie den Rückgriff desjenigen oder derjenigen, die einen Gläubiger befriedigt haben, gegen andere Miterben. Es liegt tatsächlich am Erbrecht, wenn der solvente Miterbe den Gläubiger befriedigen musste, statt dies den anderen Miterben ebenfalls aufzubürden, und eben dieses Erbrecht regelt daher gleichfalls den Rückgriff auf die anderen Erben als Mit150

Paul Lagarde

Artikel 23, Rn. 36–39

schuldner. Diese Lösung harmonisiert mit den Artikeln 16 der Rom I-Verordnung und 20 der Rom II-Verordnung, die jeweils auf die vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen anwendbar sind.

8. Lit. h Lit. h übernimmt Art. 7 Abs. 2 lit. d des Haager Erbrechtsübereinkom- 36 mens und ergänzt ihn. Er entwickelt das weiter, was bereits lit. b besagt. Da das Erbrecht vorsieht, dass bestimmte Erbberechtigte (Kinder, Eltern, der überlebende Ehepartner) nicht durch den freien Willen des Erblassers ganz oder zum Teil von ihrem Erbschaftsanteil ausgeschlossen werden dürfen, ist es anzuwenden, um die Personen zu bestimmen, die Anspruch auf einen Noterb- bzw. Pflichtteil haben, sowie zur Bestimmung der Höhe des Pflichtteilsanspruchs bzw. entsprechend des verfügbaren Anteils. Der Text erweitert die Anwendung des Erbrechts auf „andere Beschrän- 37 kungen der Testierfreiheit“. Diese Beschränkungen können zum Beispiel die Immobilie einer Familie betreffen, um es für diejenigen zu erhalten, die dort leben, unabhängig von ihrer erbrechtlichen Stellung. In Staaten, die den eigentlichen Pflichtteil nicht kennen, existiert in der 38 Regel ein anderer Mechanismus, der eine vergleichbare Funktion hat. In Ländern des common law teilt das zuständige Gericht häufig nach seinem Ermessen Nachlassgegenstände bestimmten Personen, die das Recht schützen will, zu. Dies sind hauptsächlich Personen, „die dem Erblasser nahe stehen“, denen der Erblasser jedoch nichts vermacht hat, oder die seiner Betreuung unterstanden haben. Wenn der Staat, in dem sich das zuständige Gericht befindet, nicht derselbe ist wie der, dessen Erbrecht angewandt werden muss, hat das zuständige Gericht die Anliegen dieser „Personen, die dem Erblasser nahe stehen“ zu berücksichtigen, indem es dieselben Anwendungskriterien benutzt wie die Gerichte des Staates, dessen Recht angewandt wird.

9. Lit. i Lit. i stellt eine wörtliche Wiedergabe des englischen Textes des Art. 7 39 Abs. 2 lit. c des Haager Erbrechtsübereinkommens dar, der mit einem geringen Unterschied zu diesem neu übersetzt wurde. Die Ausgleichung Paul Lagarde

151

Artikel 23, Rn. 40–42

und Anrechnung unentgeltlicher Zuwendungen sind Einrichtungen, die diese Zuwendungen in die Erbmasse integrieren sollen, um die Güter, die Gegenstand der unentgeltlichen Zuwendungen des Erblassers sind, bei der Nachlassaufteilung zu berücksichtigen. Sie hängen notwendigerweise vom Erbrecht ab, da sie direkten Einfluss auf die Berechnung des Anteils an der Erbschaft und insbesondere auf die Berechnung des Pflichtteils haben. 40 In den Ländern des kontinentalen Zivilrechts, müssen die Erben ggf.

gegenseitig alle unentgeltlichen Zuwendungen, die sie vom Erblasser erhalten haben, ausgleichen, so dass der Anteil von jedem aus der Summe der existierenden und erhaltenen Vermögenswerte bestimmt wird. Das Erbrecht regelt dabei alle Fragen, die mit der Ausgleichung verbunden sind: Die Bestimmung der Vermögensgüter, die der Ausgleichung unterfallen, die Möglichkeit des Erblassers, den bedachten Erben von der Ausgleichungsverpflichtung zu befreien, den Zeitpunkt der Wertbestimmung der Güter, die der Ausgleichung unterfallen, und die Modalitäten des Ausgleichs (nach dem Wert der Güter oder diese selbst in Natur). 41 Wenn sich herausstellt, dass die Vermögenswerte, die ein Erbe erhalten

hat und die in der Berechnungsmasse enthalten sind, dazu führen, dass die existierenden Nachlasswerte nicht dafür ausreichen, den Pflichtteil der anderen Erben zu erfüllen, bestimmt das Erbrecht, ob und wie die Pflichtteilsberechtigten die Verringerung der Zuwendungen, die den zulässigen Anteil übersteigen, verlangen können. Außerdem beantwortet das Erbrecht alle Fragen der Ausgleichung, auf die oben hingewiesen wurde, die Personen, die eine Ausgleichung in Anspruch nehmen können, die Verjährung dieser Ansprüche und die Reihenfolge, in der die unentgeltlichen Zuwendungen verringert werden müssen. 42 Wenn unentgeltliche Zuwendungen, die den zulässigen Anteil überstei-

gen, an Dritte gerichtet wurden, wäre es folgerichtig, dass das Erbrecht zugleich bestimmt, ob und wie die bedachten Dritten von der Anrechnung betroffen sind. Diese Lösung ergibt sich zwar nicht aus dem Text, der eine Anrechnung nur in Betracht zieht, wenn sie die Bestimmung der Anteile der einzelnen Begünstigten betrifft. Die Aufzählung der Fragen, die vom Erbrecht geregelt sind, ist aber nicht einschränkend, und

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Paul Lagarde

Artikel 23, Rn. 43–45

ermöglicht somit den Einschluss der Anrechnung der Zuwendungen an einen Dritten in den Anwendungsbereich des Erbrechts. Lit. i kann zur Folge haben, dass unentgeltliche Zuwendungen in Frage 43 gestellt werden, die der Erblasser vor seinem Tod gewährt hat und die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gewährt wurden, den zulässigen Anteil nicht überschritten hätten (wenn man als Maßstab das Gesetz anwenden würde, das die Rechtsnachfolge von Todes wegen des Erblassers geregelt hätte, wenn er am Tag der unentgeltlichen Zuwendung gestorben wäre). Tatsächlich richtet sich die Ausgleichung und Anrechnung unentgeltlicher Zuwendungen aber nach dem Erbrecht, das am Tag des Todes festgelegt ist. Anders verhält es sich hingegen mit Verfügungen von Todes wegen und Erbverträgen (s. unten Art. 24 und 25).

10. Lit. j Die Teilung des Nachlasses hängt ebenso vom Erbrecht ab wie alle 44 Schritte, die ihr vorangegangen sind und gleichfalls zum Erbrecht gehören. Die Verordnung trifft keine Entscheidung darüber, welches Recht auf die Form der Teilung anwendbar ist, anders als bei Verfügungen von Todes wegen (Art. 27) und der Annahme- und Ausschlagungserklärungen (Art. 28), für die spezielle Vorgaben existieren. Daraus kann abgeleitet werden, dass das Erbrecht zugleich auf die Form der Teilung angewendet werden kann. Es wäre jedoch vernünftig, die Rechtsgültigkeit einer Teilung zuzulassen, die entsprechend der Form des Rechts des Staates vorgenommen wurde, in dem sie stattgefunden hat (in Analogie zu der Lösung, die Art. 9 der Rom I-Verordnung für Verträge bereithält, die jedoch nicht auf die Erbschaft anwendbar ist). Die Anwendung des Erbrechts auf die Teilung muss aber in gewissen 45 Situationen mit der Anwendung des Rechts kombiniert werden, das auf den Güterstand des Erblassers anwendbar ist. Der Tod einer verheirateten Person verursacht zugleich die Auflösung des Güterstands und den Eintritt der Erbfolge. Auf diese beiden Vorgänge sind aber unterschiedliche Gesetze anwendbar. Für den Fall, dass der überlebende Ehepartner vor der Teilung des Nachlasses verstirbt, müssen sogar drei Gesetze kombiniert werden: das eheliche Güterrecht, das Erbrecht des zuerst verstorbenen Ehepartners und das Erbrecht des zuletzt verstorbenen Ehepartners, falls es sich von dem des Erstverstorbenen unterscheidet. Paul Lagarde

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Artikel 23, Rn. 46

Von der Reihenfolge her ist als erstes das eheliche Güterrecht zu berücksichtigen, um den Anteil jedes Ehepartners in diesem Bereich zu bestimmen. Anschließend muss das Erbrecht des erstverstorbenen Ehepartners angewendet werden, um die Erben seiner eigenen Güter und derer, die ihm aufgrund des ehelichen Güterstands zustehen, festzulegen. Zuletzt wird noch das Erbrecht des letztverstorbenen Ehepartners angewandt, um dessen Nachlass zu bestimmen, der unter anderem die Vermögenswerte aus dem ehelichen Güterstand und die aus dem Anteil an der Erbschaft des Erstverstorbenen umfasst. 46 Bis zum endgültigen Erlass einer Verordnung über das Recht, das auf

den ehelichen Güterstand anwendbar ist, wird das hierauf anzuwendende Recht von jedem Mitgliedstaat gemäß seiner nationalen Kollisionsnorm bestimmt. Dieser Mangel an Einheitlichkeit wirkt sich auf verschiedene Nachlassverfahren aus. Beispiel 4 Zwei Eheleute mit französischer Staatsangehörigkeit, die keinen Ehevertrag geschlossen haben, haben sich nach der Hochzeit in Wien niedergelassen, wo der Ehemann 15 Jahre später verstorben ist. Nach seinem Tod ist seine Witwe nach Paris zurückgekehrt, wo sie einige Jahre später verstorben ist. Das auf den ehelichen Güterstand anzuwendende Recht ist gemäß der Kollisionsnorm des österreichischen Rechts das französische Recht als gemeinsames nationales Recht (§ 19 IPRG); danach ist der gesetzliche Güterstand die Errungenschaftsgemeinschaft. Wenn ein österreichisches Gericht den Fall beurteilt, wird somit dieses Recht angewendet, was vermutlich der Fall ist, wenn die Abwicklung des ehelichen Güterstands kurz nach dem Tod des Ehemanns stattfindet. Gemäß der Kollisionsnorm des französischen Rechts ist das auf den ehelichen Güterstand anzuwendende Recht hingegen das österreichische Recht als Recht des ersten Wohnsitzes der Eheleute und der gesetzliche Güterstand ist die Gütertrennung. Diese Lösung findet statt, wenn ein französisches Gericht den Fall entscheidet, was der Fall ist, wenn die Kinder des Ehepaars den Tod ihrer Mutter abwarten, um den Nachlass ihrer Eltern aufzuteilen.

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Paul Lagarde

Artikel 24, Rn. 1, 2

Artikel 24: Verfügungen von Todes wegen außer Erbverträgen (1) Die Zulässigkeit und die materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen mit Ausnahme eines Erbvertrags unterliegen dem Recht, das nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden wäre, wenn die Person, die die Verfügung errichtet hat, zu diesem Zeitpunkt verstorben wäre. (2) Ungeachtet des Absatzes 1 kann eine Person für die Zulässigkeit und die materielle Wirksamkeit ihrer Verfügung von Todes wegen das Recht wählen, das sie nach Artikel 22 unter den darin genannten Bedingungen hätte wählen können. (3) Absatz 1 gilt für die Änderung oder den Widerruf einer Verfügung von Todes wegen mit Ausnahme eines Erbvertrags entsprechend. Bei Rechtswahl nach Absatz 2 unterliegt die Änderung oder der Widerruf dem gewählten Recht.

I. Allgemeines Dieser Artikel definiert seinen Inhalt nur negativ. Verfügungen von To- 1 des wegen mit Ausnahme eines Erbvertrags sind hauptsächlich Testamente. Gemäß Art. 3 der Verordnung ist unter Verfügung von Todes wegen „ein Testament, ein gemeinschaftliches Testament oder ein Erbvertrag“ zu verstehen. Da der Erbvertrag in dem folgenden Artikel geregelt ist, beschränkt sich der Regelungsgehalt von Art. 24 auf testamentarische Verfügungen. Die Verordnung enthält verschiedene Regeln für „Verfügungen von To- 2 des wegen außer Erbverträgen“ und „für Erbverträge“ (Art. 24 und 25). Die erste Kategorie beinhaltet insbesondere Testamente. Die Verordnung betrachtet dabei ein gegenseitiges Testament (mutual will) als Erbvertrag (Art. 3 Abs. 1 lit. b), aber nicht so Testamente, die bloß von zwei Personen im selben Dokument errichtet wurden (joint wills). Der letzte Fall kann zwar häufig auch ein gegenseitiges Testament beinhalten, was aber nicht immer der Fall ist. Er wird nur als Erbvertrag qualifiziert, wenn er eine Vereinbarung nach Art. 3 Abs. 1 lit. b beinhaltet.

Paul Lagarde

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Artikel 24, Rn. 3–6

II. Absatz 1 3 Dieser Absatz bestimmt das Recht, das auf „die Zulässigkeit und die

materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen“ anwendbar ist. Eine Verfügung ist zulässig im Sinne dieses Absatzes, wenn das anwendbare Recht sie vorbehaltlich ihrer materiellen Wirksamkeit als anerkennungsfähig und wirkungsvoll ansieht. Daher ist eine fideikommisarische Substitution, die in einigen Rechtssystemen erlaubt ist und in anderen nicht, nicht allein aufgrund des Wortlauts des Textes wirksam. Eine Verfügung, die gemäß dem anwendbaren Recht zulässig ist, ist materiell wirksam, wenn sie die Tatbestandsvoraussetzungen der anwendbaren Norm im Sinne des Art. 26 (wie z.B. die Testierfähigkeit) erfüllt. 4 Das auf die Zulässigkeit und die materielle Wirksamkeit anwendbare

Recht ist das hypothetische Erbrecht des Erblassers zum Zeitpunkt der Verfügung und nicht das tatsächlich anwendbare Erbrecht, das zum Zeitpunkt des Todes bestimmt wird. Dieses Recht ist also entsprechend Art. 21 und 22 das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Verfügenden zum Verfügungszeitpunkt (außer im unwahrscheinlichen Fall, dass die Ausnahmeklausel des Art. 21 Abs. 2 eingreift) oder dessen Staatsangehörigkeitsrecht, wenn er es zum Zeitpunkt der Verfügung gewählt hatte. 5 Die Anwendbarkeit des Erbrechts, das zum Zeitpunkt der Verfügung

gelten würde, entspricht dem Rechtssicherheitsbedürfnis für Personen, die ihre Rechtsnachfolge von Todes wegen im Voraus planen wollen (siehe Erwägungsgrund 48). Es muss vermieden werden, dass eine Verfügung, die nach dem ursprünglich geltenden Recht gültig war, nach dem Tod des Verfügenden bei der Anwendung eines Gesetzes, dessen Existenz zum Zeitpunkt der Verfügung nicht vorhersehbar war, unbeachtet bleibt. 6 Die Verfügung, deren Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit auf diese

Art geschützt wird, kann aber bei der Anwendung des tatsächlichen Erbrechts in ihrer Wirksamkeit beschränkt werden (vgl. zur Ausgleichung Art. 23 Abs. 2 lit. i).

156

Paul Lagarde

Artikel 24, Rn. 7–11

III. Absatz 2 In Abweichung zu Art. 22, nach dem die Rechtswahl des zukünftigen 7 Erblassers für die gesamte Erbschaft gilt (s. Art. 22 Rn. 6), erlaubt Art. 24 Abs. 2 eine Rechtswahl speziell für Verfügungen von Todes wegen. Falls eine solche Wahl stattfindet, führt dies dazu, dass die Verfügung durch das nationale Recht des Verfügenden zum Zeitpunkt der Verfügung geregelt wird, während die Erbfolge ansonsten von einem anderen Recht geregelt wird. Das ist meistens das Recht des Staates des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Verfügenden, aber es kann auch das Recht eines Staates sein, dessen Staatsangehörigkeit der Verfügende zu einem späteren Zeitpunkt erhält und das er gemäß Art. 22 wählt. Wenn der Verfügende am Tag der Verfügung mehrere Staatsangehörig- 8 keiten besaß, verbietet die Norm nicht, dass er eine für die Verfügung und die andere für die Rechtsnachfolge von Todes wegen wählt (vgl. Art. 22 Abs. 1 Satz 2 und Art. 22 Rn. 8). Die Rechtswahl für die Verfügung muss im Übrigen den Voraussetzun- 9 gen des Art. 22 entsprechen, insbesondere bezüglich der ausdrücklichen Erklärung und der Form der Rechtswahl (Art. 22 Abs. 2 und 3).

IV. Absatz 3 Der erste Satz des Absatzes verweist für die Änderung oder den Wider- 10 ruf einer Verfügung von Todes wegen auf Absatz 1. Sie unterliegen also dem Recht, das die Erbfolge des Verfügenden geregelt hätte, wenn er zum Zeitpunkt der Änderung oder des Widerrufs verstorben wäre. Mehrere Rechte können folglich auf die gleiche Verfügung von Todes wegen nacheinander anzuwenden sein: Zunächst das Recht, das die Rechtsnachfolge von Todes wegen zum Zeitpunkt der Verfügung geregelt hätte, in Bezug auf die Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit der Verfügung, anschließend die Rechte, die die Erbfolge zum Zeitpunkt der aufeinanderfolgenden Änderungen oder des Widerrufs der Verfügung geregelt hätten, und zuletzt noch das tatsächliche Erbrecht für seine Wirkungen oder eine etwaige Einschränkung. Satz 2 berücksichtigt die Möglichkeit, dass der Verfügende für die Ver- 11 fügung gemäß Absatz 2 das Recht des oder eines Staats gewählt hat, Paul Lagarde

157

Artikel 24, Rn. 12; Artikel 25

dessen Staatsangehörigkeit er besaß. In diesem Fall wird die Änderung oder der Widerruf durch dieses gewählte Recht geregelt und nicht durch das allgemeine Recht, das die Rechtsnachfolge von Todes wegen im Fall des Todes des Verfügenden zum Zeitpunkt der ursprünglichen Errichtung der Verfügung geregelt hätte. 12 Die Änderung oder der Widerruf, die im Rahmen dieses Absatzes be-

rücksichtigt werden, sind solche, die der Verfügende wollte, egal ob dies ausdrücklich oder stillschweigend zum Ausdruck kommt (z.B. durch Zerstörung des Testaments). Nicht umfasst sind dagegen sonstige Unwirksamkeitsgründe, wie z.B. die Unwirksamkeit des Testaments durch eine spätere Hochzeit in einigen Rechtssystemen. Artikel 25: Erbverträge (1) Die Zulässigkeit, die materielle Wirksamkeit und die Bindungswirkungen eines Erbvertrags, der den Nachlass einer einzigen Person betrifft, einschließlich der Voraussetzungen für seine Auflösung, unterliegen dem Recht, das nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden wäre, wenn diese Person zu dem Zeitpunkt verstorben wäre, in dem der Erbvertrag geschlossen wurde. (2) Ein Erbvertrag, der den Nachlass mehrerer Personen betrifft, ist nur zulässig, wenn er nach jedem der Rechte zulässig ist, die nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge der einzelnen beteiligten Personen anzuwenden wären, wenn sie zu dem Zeitpunkt verstorben wären, in dem der Erbvertrag geschlossen wurde. Die materielle Wirksamkeit und die Bindungswirkungen eines Erbvertrags, der nach Unterabsatz 1 zulässig ist, einschließlich der Voraussetzungen für seine Auflösung, unterliegen demjenigen unter den in Unterabsatz 1 genannten Rechten, zu dem er die engste Verbindung hat. (3) Ungeachtet der Absätze 1 und 2 können die Parteien für die Zulässigkeit, die materielle Wirksamkeit und die Bindungswirkungen ihres Erbvertrags, einschließlich der Voraussetzungen für seine Auflösung, das Recht wählen, das die Person oder eine der Personen, deren Nachlass betroffen ist, nach Artikel 22 unter den darin genannten Bedingungen hätte wählen können.

158

Paul Lagarde

Artikel 25, Rn. 1–4

I. Allgemeines Infolge des Haager Übereinkommens vom 1. August 1989 (Art. 8-12) 1 legt die Verordnung in Art. 25 in gleicher Weise das Recht fest, das auf Erbverträge anwendbar ist. Gemäß Art. 3 lit. b, der die Definition aus Art. 8 des Übereinkommens übernimmt, ist ein Erbvertrag „eine Vereinbarung, einschließlich einer Vereinbarung aufgrund gegenseitiger Testamente, die mit oder ohne Gegenleistung Rechte am künftigen Nachlass oder künftigen Nachlässen einer oder mehrerer an dieser Vereinbarung beteiligter Personen begründet, ändert oder entzieht“. Diese sehr ausführliche Definition ermöglicht es, unter diesen Begriff nicht nur den eigentlichen Vertrag zu subsumieren, der entsprechend den vertraglichen Formerfordernissen abgeschlossen wurde, wie den deutschen Erbvertrag, sondern auch gegenseitige Testamente, Schenkungen von Todes wegen, Teil-Schenkungen, Erbverzichte, kurz gesagt alle Handlungen, die Verpflichtungen bezüglich der Rechtsnachfolge von Todes des zukünftigen Erblassers mit sich ziehen. Die Verordnung begründet für Mitgliedstaaten, die dieses Institut nicht 2 kennen, keineswegs die Pflicht, sie in ihrer Gesetzgebung einzuführen. Sie müssen es jedoch anerkennen, wenn es nach dem anwendbaren Recht gültig ist. Art. 25 unterscheidet zwischen Erbverträgen, die die Erbfolge einer Per- 3 son regeln, und solchen, die die Erbfolge mehrerer Personen regeln.

II. Absatz 1 Wenn der Vertrag nur die Erbfolge einer Person regelt, ist die Kollisi- 4 onsnorm kongruent mit der Norm, die Art. 24 für andere Verfügungen von Todes wegen vorsieht: Der Vertrag unterliegt dem Recht, das anzuwenden wäre, wenn diese Person zu dem Zeitpunkt verstorben wäre, zu dem der Vertrag geschlossen wurde. Gegenstand dieser Regelung ist wie in Art. 24 die Zulässigkeit und die materielle Wirksamkeit des Vertrags. Die Norm unterstellt dem gleichen Recht die Bindungswirkungen des Vertrags zwischen den Parteien, einschließlich den Voraussetzungen seiner Auflösung, auch wenn der erbrechtliche Anknüpfungspunkt zum Zeitpunkt, in dem die Wirkungen oder die Auflösung eintreten, gewechselt hat. Darin liegt ein Unterschied zu Art. 24 Abs. 3, der die Paul Lagarde

159

Artikel 25, Rn. 5

Änderung oder den Widerruf einer anderen Verfügung von Todes wegen betrifft. Dieser Unterschied lässt sich mit dem vertraglichen Charakter des Erbvertrags rechtfertigen.

III. Absatz 2 5 Die Kollisionsnorm ist komplizierter, wenn der Erbvertrag die Rechts-

nachfolge von Todes wegen mehrerer Personen betrifft. Absatz 2 trennt die Zulässigkeit von der materiellen Wirksamkeit und den Bindungswirkungen zwischen den Parteien inklusive der Auflösung. Der Erbvertrag ist nur dann zulässig, wenn er nach jedem der Rechte zulässig ist, die nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge der einzelnen beteiligten Personen anzuwenden wären, wenn sie zu dem Zeitpunkt verstorben wären, in dem der Erbvertrag geschlossen wurde. Ist dies der Fall, muss aus diesen Rechten dasjenige ausgewählt werden, das die Gültigkeit und die Bindungswirkungen des Erbvertrags unter Einschluss der Auflösung regelt. Absatz 2 entscheidet dies danach, zu welchem der Rechte der Erbvertrag die engste Bindung hat. Beispiel 1 Es besteht ein Erbvertrag zwischen dem Ehemann, der deutscher Staatsangehöriger ist und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, und seiner Frau, die die französische Staatsangehörigkeit besitzt und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich hat. Der Vertrag ist unzulässig, da er nach französischem Recht, das das hypothetische Erbstatut der Ehefrau wäre, unzulässig ist. Beispiel 2 Es besteht ein Erbvertrag zwischen dem deutschen Ehemann mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland und seiner schweizerischen Ehefrau mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz. Dies ist ein zulässiger Vertrag, da er sowohl nach deutschem als auch nach schweizerischem Recht zulässig ist. Die Voraussetzungen der materiellen Wirksamkeit und die Bindungswirkungen zwischen den Parteien unterliegen demjenigen der beiden Rechte, zu dem der Erbvertrag die engste Verbindung hat. Das könnte das deutsche Recht sein, wenn die Eheleute ihren letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatten oder wenn der größte Teil

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Paul Lagarde

Artikel 25, Rn. 6–8

der Vermögenswerte, aus denen die beiden Erbschaften bestehen, sich dort befindet.

IV. Absatz 3 Ebenso wie Art. 22 es einer Person erlaubt, ihr Staatsangehörigkeits- 6 recht als Erbrecht zu wählen, ermöglicht Art. 25 Abs. 3 den Parteien eines Erbvertrags eine Rechtswahl. Sie können das Recht wählen, das die Person oder eine der Personen, deren Nachlass betroffen ist, nach Art. 22 unter den darin genannten Bedingungen hätte wählen können, also das Staatsangehörigkeitsrecht einer der Personen zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses oder des Todes der betroffenen Person (vgl. Art. 22 Abs. 1). Das gewählte Recht regelt die Zulässigkeit, die Voraussetzungen der materiellen Wirksamkeit und die Bindungswirkungen des Erbvertrags. Die Parteien haben daher die Möglichkeit, einen Erbvertrag zu retten, 7 dessen Zulässigkeit nicht gemäß aller betroffenen Rechte gegeben wäre, oder die Ungewissheit zu vermeiden, die sich aus dem Verweis in Absatz 2 auf das Recht ergibt, zu dem der Erbvertrag die engste Verbindung hat. Im obigen Beispiel 1 wird das am Vertrag beteiligte Ehepaar, wenn es gut beraten wird, das deutsche Recht als nationales Recht des Ehemanns für die Regelung des Erbvertrags wählen. In Beispiel 2 haben die Parteien ein Interesse daran, entweder das deutsche oder das schweizerische Recht zu wählen, um jegliche Ungewissheit darüber zu vermeiden, welches Recht auf die Voraussetzungen und die Bindungswirkungen anwendbar ist. Dennoch ermöglicht der Verordnungstext im Gegensatz zum Haager 8 Erbrechtsübereinkommen (Art. 11) nicht, zur Regelung der Voraussetzungen und der Bindungswirkungen des Erbvertrags das Recht des Staates zu wählen, in dem eine der Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies gilt selbst dann, wenn die Rechte des gewöhnlichen Aufenthaltsorts aller beteiligten Parteien die Zulässigkeit des Erbvertrags vorsehen würden. Beispiel 3 Es besteht ein Erbvertrag zwischen dem französischen Ehemann mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland und seiner italieniPaul Lagarde

161

Artikel 26, Rn. 1

schen Frau mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz. Der Erbvertrag ist zulässig, da er sowohl nach dem deutschen als auch nach dem schweizerischen Recht zulässig ist. Die Parteien können jedoch keines dieser beiden Rechte wählen, da diese nicht dem Staatsangehörigkeitsrecht einer der Parteien entsprechen. Es ist den zuständigen Gerichten vorbehalten, zu entscheiden, zu welchem Recht der Erbvertrag die engste Verbindung hat. Artikel 26: Materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen (1) Zur materiellen Wirksamkeit im Sinne der Artikel 24 und 25 gehören: a) die Testierfähigkeit der Person, die die Verfügung von Todes wegen errichtet; b) die besonderen Gründe, aufgrund deren die Person, die die Verfügung errichtet, nicht zugunsten bestimmter Personen verfügen darf oder aufgrund deren eine Person kein Nachlassvermögen vom Erblasser erhalten darf; c) die Zulässigkeit der Stellvertretung bei der Errichtung einer Verfügung von Todes wegen; d) die Auslegung der Verfügung; e) Täuschung, Nötigung, Irrtum und alle sonstigen Fragen in Bezug auf Willensmängel oder Testierwillen der Person, die die Verfügung errichtet. (2) Hat eine Person nach dem nach Artikel 24 oder 25 anzuwendenden Recht die Testierfähigkeit erlangt, so beeinträchtigt ein späterer Wechsel des anzuwendenden Rechts nicht ihre Fähigkeit zur Änderung oder zum Widerruf der Verfügung. I. Allgemeines II. Absatz 1 1. Lit. a 2. Lit. b

1 2 4

3. Lit. c 4. Lit. d 5. Lit. e III. Absatz 2

5 6 7 9

I. Allgemeines 1 Dieser Artikel bestimmt die Voraussetzungen der „materiellen Wirk-

samkeit“ einer Verfügung von Todes wegen (auch eines Erbvertrags) im Sinne der Art. 24 und 25. Die Aufzählung ist nicht abschließend. 162

Paul Lagarde

Artikel 26, Rn. 2, 3

II. Absatz 1 1. Lit. a Parallel zur Erbfähigkeit, die Art. 23 Abs. 2 lit. c in den Anwendungs- 2 bereich des Erbrechts einschließt, nennt Art. 26 Abs. 1 die Testierfähigkeit als wichtigsten Bestandteil der materiellen Wirksamkeit und ordnet sie in dieser Eigenschaft dem in Art. 24 bzw. 25 bezeichneten Recht unter. So wie bei der Erbfähigkeit (s. Art. 23 Abs. 2 lit. c) gehören nur solche 3 Aspekte der Testierfähigkeit zum Erbrecht, die speziell das Erbrecht betreffen. Wenn zum Beispiel das Recht, das die materielle Wirksamkeit der Verfügung regelt, einem Volljährigen unter Vormundschaft verbietet, ein Testament zu errichten, muss dies befolgt werden, selbst wenn das persönliche Recht des Volljährigen dies erlauben würde. Für den umgekehrten Fall gilt dies allerdings im Interesse der Rechtssicherheit auch, damit nicht das Risiko besteht, dass eine solche Person dem Schutz ihres persönlichen Rechts entzogen wird. Falls das Recht, das die Verfügung von Todes wegen regelt, eine Genehmigung des gesetzlichen Vertreters des Verfügenden voraussetzt, ist dies zu beachten; die Entscheidung des gesetzlichen Vertreters selbst untersteht aber nicht diesem Recht, sondern dem auf die Geschäftsfähigkeit allgemein anwendbarem Recht. Beispiel 1 Der Erblasser, der französischer Staatsangehörigkeit ist, ist in Frankreich gestorben, wo er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Mit 17 Jahren, als er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, hat er ein Testament verfasst. Die Testierfähigkeit, die ein Bestandteil der materiellen Wirksamkeit des Testaments ist, wird durch das deutsche Recht geregelt, da dies das Recht ist, das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen angewandt worden wäre, wenn der Verfasser des Testaments zum Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung gestorben wäre. Der Erblasser war demgemäß testierfähig (§ 2229 BGB), während er gemäß dem französischen Recht durch ein Testament nur über die Hälfte seiner Vermögenswerte hätte verfügen können (Art. 904 fr. C. Civile).

Paul Lagarde

163

Artikel 26, Rn. 4–7

2. Lit. b 4 Dieser Buchstabe behandelt die fehlende Berechtigung, Verfügungen

vorzunehmen oder Nachlassvermögen zu erhalten und basiert auf dem Schutz vor einem missbräuchlichen Einfluss (z.B. des Arztes, des Krankenhauspersonals, eines Geistlichen, des Betreuers usw.). Dabei sind auch Maßnahmen eingeschlossen, die einige nationale Gesetzgebungen enthalten, um Einflussversuche allgemein zu unterdrücken oder um zu verhindern, dass die fehlende Erbberechtigung umgangen wird (zum Beispiel bei der Vermutung, dass eine dritte Person eingeschaltet wurde).

3. Lit. c 5 Dieser Buchstabe behandelt die Frage der Wirksamkeit einer Verfügung

von Todes wegen, die durch einen Stellvertreter errichtet wurde. Dabei kann es sich sowohl um einen gesetzlichen Vertreter einer testierunfähigen Person handeln (Minderjähriger, Volljähriger mit Vormund) als auch um den Beauftragten einer Person, die rechtlich voll handlungsfähig ist.

4. Lit. d 6 Die Auslegung der Verfügungen von Todes wegen ist sehr häufig eine

Frage der Tatsachenermittlung. Sie kann jedoch auch Gegenstand einer rechtlichen Regel sein (zum Beispiel die Auslegung potius ut valeat quam ut pereat, die restriktive Auslegung einer Verfügung). In diesem Fall ist sie von dem Recht abhängig, das die materielle Wirksamkeit der Verfügung lenkt.

5. Lit. e 7 Alle Fragen in Bezug auf die Willensbildung des Verfügenden sind ge-

mäß dieses Buchstaben der „materiellen Wirksamkeit“ zuzuordnen und unterliegen dem Recht, auf das in den Art. 24 und 25 verwiesen wird, sei es, dass es sich um einen schutzwürdigen Willensmangel handelt (Irrtum, Nötigung, Täuschung) oder um eine betrügerische Absicht, die Bestrafung verdient.

164

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Artikel 26, Rn. 8–12

Ebenso ist jeder Willensmangel geregelt, der aufgrund von Krankheit 8 oder Altersschwäche entsteht, auch wenn der Verfügende sonst keinen Schutz erhalten hat.

III. Absatz 2 Dieser Absatz regelt, wie sich eine Änderung des auf die Testierfähigkeit 9 anzuwendenden Rechts auf die Fähigkeit des Verfügenden auswirkt, eine früher errichtete Verfügung zu ändern oder zu widerrufen. Die Änderung des anzuwendenden Rechts kann auf zwei Arten entste- 10 hen: Sie kann zunächst aus einem Wechsel des Anknüpfungspunktes zwischen dem ursprünglichen Verfügungszeitpunkt und dem Zeitpunkt der Änderung oder des Widerrufs der Verfügung resultieren (Hypothese des beweglichen Rechtskonflikts). Ein solcher Wechsel kann z.B. auch stattfinden, wenn der Verfügende (oder die Verfügenden) in diesem Zeitraum gemäß Art. 24 Abs. 2 bzw. Art. 25 Abs. 2, die auf Art. 22 verweisen, ein anderes Recht als das wählt, das die Verfügung zuvor geregelt hat. Dieser Konflikt wird mit dem Ziel geregelt, die errungene Testierfähig- 11 keit entsprechend dem Recht, das zum Zeitpunkt der Verfügung anwendbar war, aufrechtzuerhalten.1 Der Verfügende, der gemäß dem damals anwendbaren Recht testierfähig gewesen ist, behält diese Fähigkeit für die Änderung oder den Widerruf der Verfügung, selbst wenn das zum Zeitpunkt der Änderung oder des Widerrufs gültige Recht ihm diese Fähigkeit nicht zugesteht. Er hat hingegen keine Testierfähigkeit in Bezug auf die Errichtung einer neuen Verfügung, da diese Fähigkeit vom anwendbaren Recht zum Zeitpunkt dieser neuen Verfügung abhängig ist. Der Wechsel des Rechts, das auf die Testierfähigkeit anzuwenden ist, 12 kann auch ohne Änderung des Anknüpfungspunktes das Ergebnis einer Änderung des materiellen Rechts sein, das die Verfügung regelt. Die Lösung ist umstrittener als die vorherige, denn die Folgen einer materiellen Änderung des zuständigen Rechts hängen normalerweise von internen Übergangsbestimmungen dieses Rechts ab. Dennoch könnte 1

Vgl. ebenso Art. 7 Abs. 2 EGBGB.

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165

Artikel 27

eine Einmischung in die Übergangsregeln des anwendbaren Rechts mit dem Wunsch gerechtfertigt werden, die Rechtssicherheit einer Verfügung sicherzustellen, die gemäß dem Recht gültig war, das für ihre Regelung zum Zeitpunkt ihrer Errichtung maßgeblich war. Artikel 27: Formgültigkeit einer schriftlichen Verfügung von Todes wegen (1) Eine schriftliche Verfügung von Todes wegen ist hinsichtlich ihrer Form wirksam, wenn diese: a) dem Recht des Staates entspricht, in dem die Verfügung errichtet oder der Erbvertrag geschlossen wurde, b) dem Recht eines Staates entspricht, dem der Erblasser oder mindestens eine der Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, entweder im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung bzw. des Abschlusses des Erbvertrags oder im Zeitpunkt des Todes angehörte, c) dem Recht eines Staates entspricht, in dem der Erblasser oder mindestens eine der Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, entweder im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung oder des Abschlusses des Erbvertrags oder im Zeitpunkt des Todes den Wohnsitz hatte, d) dem Recht des Staates entspricht, in dem der Erblasser oder mindestens eine der Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, entweder im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung oder des Abschlusses des Erbvertrags oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder e) dem Recht des Staates entspricht, in dem sich unbewegliches Vermögen befindet, soweit es sich um dieses handelt. Ob der Erblasser oder eine der Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, in einem bestimmten Staat ihren Wohnsitz hatte, regelt das in diesem Staat geltende Recht. (2) Absatz 1 ist auch auf Verfügungen von Todes wegen anzuwenden, durch die eine frühere Verfügung geändert oder widerrufen wird. Die Änderung oder der Widerruf ist hinsichtlich ihrer Form auch dann gültig, wenn sie den Formerfordernissen einer der Rechtsordnungen entsprechen, nach denen die geänderte oder widerrufene Verfügung von Todes wegen nach Absatz 1 gültig war. 166

Paul Lagarde

Artikel 27, Rn. 1, 2

(3) Für die Zwecke dieses Artikels werden Rechtsvorschriften, welche die für Verfügungen von Todes wegen zugelassenen Formen mit Beziehung auf das Alter, die Staatsangehörigkeit oder andere persönliche Eigenschaften des Erblassers oder der Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, beschränken, als zur Form gehörend angesehen. Das Gleiche gilt für Eigenschaften, welche die für die Gültigkeit einer Verfügung von Todes wegen erforderlichen Zeugen besitzen müssen. I. Allgemeines II. Absatz 1 1. Lit. a 2. Lit. b, c und d

1 2 3 4

3. Lit. e III. Absatz 2 IV. Absatz 3

7 8 9

I. Allgemeines Rechtskonflikte im Bereich der Form testamentarischer Verfügungen 1 sind Gegenstand des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961, das in 41 Staaten in Kraft ist, von denen 16 Mitglieder der Europäischen Union sind, und das sehr vorteilhaft für die formelle Wirksamkeit des Testaments ist. Anstatt die Mitgliedstaaten, die die Konvention bisher noch nicht ratifiziert haben, dazu aufzufordern, hat die Verordnung in Art. 27 die Regelungen dieser Konvention aufgenommen, wobei diese auf den Erbvertrag erweitert werden. Das Haager Übereinkommen setzt sich in den Mitgliedstaaten, die es ratifiziert haben, gegenüber der Verordnung durch, was die Rechtsgültigkeit hinsichtlich der Form der Testamente und der gemeinschaftlichen Testamente betrifft (Art. 75 Abs. 2).

II. Absatz 1 Dieser Absatz ist auf alle Verfügungen von Todes wegen anwendbar 2 (Testamente und Erbverträge), sofern sie schriftlicher Natur sind. Anders als das Übereinkommen (Art. 10 sieht hierfür einen Vorbehalt vor) ist Art. 27 nicht auf mündliche testamentarische Verfügungen anwendbar. Damit eine Verfügung von Todes wegen formgültig ist, ist es ausreichend, dass sie einem der Rechte entspricht, die in diesem Absatz aufgezählt sind. Paul Lagarde

167

Artikel 27, Rn. 3–6

1. Lit. a 3 Das kann zunächst das Recht des Staates sein, in dem die Verfügung

errichtet oder der Erbvertrag geschlossen wurde. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Parteien des Erbvertrags beim Abschluss desselben anwesend waren, was meistens der Fall ist (vgl. zum Beispiel § 2276 BGB, Art. 512 Schweizer C.Civ.).

2. Lit. b, c und d 4 Anschließend wird das Recht des Staates aufgezählt, dem der Erblasser

oder mindestens eine der Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, entweder im Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung bzw. des Abschlusses des Erbvertrags oder im Zeitpunkt des Todes angehörte, oder in dem eine dieser Personen zu einem dieser Zeitpunkte ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. 5 Die Formulierung des Textes lässt darauf schließen, dass die Verfügung

im Falle mehrerer Staatsangehörigkeiten einer dieser Personen dann formgültig ist, wenn sie mit dem Recht des Staates einer dieser Staatsangehörigkeiten vereinbar ist. 6 Ob der Erblasser oder eine der Personen, deren Rechtsnachfolge von

Todes wegen durch einen Erbvertrag betroffen ist, in einem bestimmten Staat ihren Wohnsitz hat, regelt gemäß dem letzten Satz des Absatzes 1 das in diesem Staat geltende Recht.1 Diese Bestimmung verhindert einen positiven Kompetenzkonflikt bezüglich des Wohnsitzes und stellt damit die Einheit der Lösungen sicher, lässt aber das Risiko eines negativen Kompetenzkonflikts fortbestehen. Beispiel 1 Der aus Portugal stammende Erblasser hat viele Jahre in Frankreich gelebt und ist erst im Ruhestand nach Portugal zurückgekehrt. Er verfasst nun ein eigenhändiges Testament, das aus Sicht des französischen Rechts wirksam, nach dem portugiesischen jedoch unwirksam ist. Das französische Recht ist anwendbar, falls der Betroffene 1

S. Art. 1, letzter Absatz des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961.

168

Paul Lagarde

Artikel 27, Rn. 7, 8

gemäß diesem Recht seinen Wohnsitz in Frankreich behalten hat; dies ist ausreichend, um die Wirksamkeit des Testaments festzustellen, ohne dass das portugiesische Recht dafür herangezogen werden muss. Falls aber die Person gemäß dem französischen Recht ihren Wohnsitz in Frankreich verloren hat und gemäß dem portugiesischen Recht keinen neuen Wohnsitz in Portugal hat, ist das Kriterium des Wohnsitzes zur Feststellung der formellen Wirksamkeit der Verfügung von Todes wegen funktionslos.

3. Lit. e Schließlich ist die Verfügung von Todes wegen auch gültig, wenn sie 7 hinsichtlich ihrer Form dem Recht des Staates entspricht, in dem sich unbewegliches Vermögen befindet, soweit es sich um dieses handelt. Diese Bestimmung hilft bei einem Testament weiter, das ausschließlich unbewegliches Vermögen in einem bestimmten Staat betrifft. Wenn das Testament den ganzen Nachlass beinhaltet, kann es vorkommen, dass es in Bezug auf einige unbewegliche Vermögensgüter wirksam und für den Rest des Nachlasses unwirksam ist und dass diese Teilwirksamkeit die vom Erblasser gewollte Erbfolge durcheinander bringt. Beispiel 2 Der aus Portugal stammende Erblasser hat viele Jahre in Frankreich gelebt, hat dort jedoch keinen Wohnsitz mehr und ist im Rentenalter wieder nach Portugal gezogen. Er besitzt eine Wohnung in Frankreich und Vermögen in Portugal. In Portugal verfasst er ein eigenhändiges Testament, in dem er seiner in Portugal lebenden Tochter sein Vermögen in Portugal und seinem in Frankreich arbeitenden Sohn die Wohnung in Frankreich vererbt. Das Testament ist wirksam, soweit es die Wohnung in Frankreich betrifft, aber unwirksam in Bezug auf das sich in Portugal befindende Vermögen.

III. Absatz 2 Dieser Absatz, der Art. 2 des Haager Übereinkommens von 5. Oktober 8 1961 entspricht, erweitert die in Absatz 1 zum Ausdruck gebrachten Regeln auf die Änderung oder den Widerruf eine früheren Verfügung. Zudem erklärt der Absatz die Änderung oder den Widerruf für formgültig, wenn sie den Formerfordernissen einer der Rechtsordnungen Paul Lagarde

169

Artikel 27, Rn. 9–11

entsprechen, nach denen die geänderte oder widerrufene Verfügung von Todes wegen gültig war, falls der die Form betreffende Anknüpfungspunkt sich seit dem Zeitpunkt der Verfügung geändert hat. Beispiel 3 Ein in Frankreich lebender Portugiese hat ein eigenhändiges Testament entsprechend dem französischen Recht verfasst. Im Rentenalter kehrt er nach Portugal zurück. Er kann dieses Testament eigenhändig ändern oder widerrufen, obwohl die Verbindung zum französischen Recht zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden ist und es ihm nicht mehr möglich wäre, ein eigenhändiges Testament zu verfassen.

IV. Absatz 3 9 Indem dieser Absatz Art. 5 des Haager Übereinkommens von 1961

wiederaufnimmt, enthält er einige Hinweise auf die Form- und Eigenschaftsqualifikation einiger Wirksamkeitsvoraussetzungen von Verfügungen von Todes wegen. Demgemäß werden gesetzliche Beschränkungen der für Verfügungen grundsätzlich zugelassenen Formen, die mit dem Alter, der Gesundheit oder anderen persönlichen Eigenschaften des Erblassers zusammenhängen, als Formvorschriften angesehen. Das ist z.B. bei der Vorschrift der Fall, die vom Minderjährigen für die Wirksamkeit seines Testaments eine Erklärung gegenüber dem Notar verlangt (§ 2233 BGB), oder bei der Vorschrift, die bei Gehörlosigkeit des Erblassers dieses Formerfordernis verdrängt. 10 Als Formvorschriften werden auch Regeln bezeichnet, die sich auf

Eigenschaften der Zeugen beziehen, die für die Wirksamkeit der Verfügungen von Todes wegen erforderlich sind: zum Beispiel die Staatsangehörigkeit, das Alter, ob man mit den bedachten Personen verwandt ist, die Nichtzugehörigkeit zum Notariat etc. 11 Der Absatz enthält keine Hinweise auf die Qualifikation des in einigen

Rechtsordnungen vorhandenen Verbots des gemeinschaftlichen Testaments. Art. 4 des Haager Übereinkommens von 1961 erklärt das Übereinkommen auf das gemeinschaftliche Testament anwendbar, bestimmt jedoch nicht, welche Vorschriften dieses Testament betreffen. Da Art. 3 Abs. 1 lit. b der Verordnung in den Begriff des Erbvertrags eine Verein170

Paul Lagarde

Artikel 28, Rn. 1, 2

barung aufgrund gegenseitiger Testamente einschließt und das bei einem gemeinschaftlichen Testament der Fall ist, ist es folgerichtig, die „Zulässigkeit“ eines solchen Testaments dem in Art. 25 bestimmten Recht zu unterstellen (s. oben). Wenn dieses Recht das gemeinschaftliche Testament für zulässig erklärt, hängt seine Formwirksamkeit von dem Recht ab, das gemäß Art. 27 auf die Form anwendbar ist. Artikel 28: Formgültigkeit einer Annahme- oder Ausschlagungserklärung Eine Erklärung über die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung des Erklärenden ist hinsichtlich ihrer Form wirksam, wenn diese den Formerfordernissen entspricht a) des nach den Artikeln 21 oder 22 auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts oder b) des Rechts des Staates, in dem der Erklärende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Dieser Artikel beruht auf der Annahme, dass die Rechtsnachfolge von 1 Todes wegen dem Recht eines anderen Staates unterstellt sein kann als dem, in dem der gewöhnliche Aufenthalt der Erben und Vermächtnisnehmer oder einzelner von ihnen liegt, unabhängig davon, ob dies auf der objektiven Anknüpfung oder auf einer Rechtwahl beruht. Obwohl die Voraussetzungen und die Wirkungen einer Annahme oder Ausschlagung durch das anwendbare Erbrecht geregelt werden (Art. 23 Abs. 2 lit. c), wird die Formgültigkeit derselben entweder vom Erbrecht oder vom Recht des gewöhnlichen Aufenthalt des Erklärenden bestimmt. Die vom Gesetzestext vorgesehene Erklärung kann die Annahme der 2 Erbschaft, eines Vermächtnisses oder des Pflichtteils betreffen wie die Ausschlagung derselben oder auch die Annahme unter Beschränkung auf den Reinnachlass. Art. 28 ist allerdings nur auf die durch eine Erklärung getroffene Wahl anwendbar. Die Frage, ob das Verhalten des Erbberechtigten als stillschweigende Annahme gilt, hängt dagegen z.B. nicht vom örtlichen Recht, sondern vom anwendbaren Erbrecht ab. Paul Lagarde

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Artikel 28, Rn. 3, 4; Artikel 29

3 Die Begünstigung der Formgültigkeit der Annahme- oder Ausschla-

gung dient dazu, den Erben oder Vermächtnisnehmern die Ausübung des Wahlrechts zu erleichtern, indem sie ihnen erlaubt, die Formerfordernisse ihres örtlichen Rechts zu beachten. Sie bildet das Gegenstück zu Art. 13 für die internationale Zuständigkeit. Wenn das anwendbare Erbrecht zulässt, dass der Erbe oder Vermächtnisnehmer seine Erklärung vor einem Gericht abgibt, ermöglicht ihm Art. 13, diese Erklärung vor einem Gericht des Staates abzugeben, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern auch gemäß dem Recht dieses Staates die Erklärung vor einem Gericht abgegeben werden kann. 4 Der Text der Verordnung umfasst dagegen nicht den Fall, bei dem das

auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht fordert, dass die Annahme- oder Ausschlagungserklärung vor einem Gericht abgegeben wird, sich dagegen das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Erbberechtigten mit einer Privaturkunde zufriedengibt. Die Lösung hängt von der Qualifikationsfrage ab, ob es nur als eine Frage der Form betrachtet wird. Wenn es sich um Handlungen handelt, welche die Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten beschränken (Ausschlagung oder Annahme bis zur Höhe des Reinvermögens), bezieht Erwägungsgrund 33 zugunsten der Anwendung des Erbrechts Stellung: „Eine Person, die ihre Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten begrenzen möchte, sollte dies nicht durch eine entsprechende einfache Erklärung vor den Gerichten oder anderen zuständigen Behörden des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts tun können, wenn das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht von ihr verlangt, vor dem zuständigen Gericht ein besonderes Verfahren, beispielsweise ein Verfahren zur Inventarerrichtung, zu veranlassen. Eine Erklärung, die unter derartigen Umständen von einer Person im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgeschriebenen Form abgegeben wurde, sollte daher für die Zwecke dieser Verordnung nicht formell gültig sein.“ Artikel 29: Besondere Regelungen für die Bestellung und die Befugnisse eines Nachlassverwalters in bestimmten Situationen (1) Ist die Bestellung eines Verwalters nach dem Recht des Mitgliedstaats, dessen Gerichte nach dieser Verordnung für die Entscheidungen in der Erb172

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Artikel 29

sache zuständig sind, verpflichtend oder auf Antrag verpflichtend und ist das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht ausländisches Recht, können die Gerichte dieses Mitgliedstaats, wenn sie angerufen werden, einen oder mehrere Nachlassverwalter nach ihrem eigenen Recht unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen bestellen. Der/die nach diesem Absatz bestellte(n) Verwalter ist/sind berechtigt, das Testament des Erblassers zu vollstrecken und/oder den Nachlass nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht zu verwalten. Sieht dieses Recht nicht vor, dass eine Person Nachlassverwalter ist, die kein Berechtigter ist, können die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Verwalter bestellt werden muss, einen Fremdverwalter nach ihrem eigenen Recht bestellen, wenn dieses Recht dies so vorsieht und es einen schwerwiegenden Interessenskonflikt zwischen den Berechtigten oder zwischen den Berechtigten und den Nachlassgläubigern oder anderen Personen, die für die Verbindlichkeiten des Erblassers gebürgt haben, oder Uneinigkeit zwischen den Berechtigten über die Verwaltung des Nachlasses gibt oder wenn es sich um einen aufgrund der Art der Vermögenswerte schwer zu verwaltenden Nachlasses handelt. Der/die nach diesem Absatz bestellte(n) Verwalter ist/sind die einzige(n) Person(en), die befugt ist/sind, die in den Absätzen 2 oder 3 genannten Befugnisse auszuüben. (2) Die nach Absatz 1 bestellte(n) Person(en) üben die Befugnisse zur Verwaltung des Nachlasses aus, die sie nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht ausüben dürfen. Das bestellende Gericht kann in seiner Entscheidung besondere Bedingungen für die Ausübung dieser Befugnisse im Einklang mit dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht festlegen. Sieht das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht keine hinreichenden Befugnisse vor, um das Nachlassvermögen zu erhalten oder die Rechte der Nachlassgläubiger oder anderer Personen zu schützen, die für die Verbindlichkeiten des Erblassers gebürgt haben, so kann das bestellende Gericht beschließen, es dem/den Nachlassverwalter(n) zu gestatten, ergänzend diejenigen Befugnisse, die hierfür in seinem eigenen Recht vorgesehen sind, auszuüben und in seiner Entscheidung besondere Bedingungen für die Ausübung dieser Befugnisse im Einklang mit diesem Recht festlegen. Bei der Ausübung solcher ergänzenden Befugnisse hält/halten der/die Verwalter das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht in Bezug auf den Übergang des Eigentums an dem Nachlassvermögen, die Paul Lagarde

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Artikel 29, Rn. 1, 2

Haftung für die Nachlassverbindlichkeiten, die Rechte der Berechtigten, gegebenenfalls einschließlich des Rechts, die Erbschaft anzunehmen oder auszuschlagen, und gegebenenfalls die Befugnisse des Vollstreckers des Testaments des Erblassers ein. (3) Ungeachtet des Absatzes 2 kann das nach Absatz 1 einen oder mehrere Verwalter bestellende Gericht ausnahmsweise, wenn das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht das Recht eines Drittstaats ist, beschließen, diesen Verwaltern alle Verwaltungsbefugnisse zu übertragen, die in dem Recht des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dem sie bestellt werden. Bei der Ausübung dieser Befugnisse respektieren die Nachlassverwalter jedoch insbesondere die Bestimmung der Berechtigten und ihrer Nachlassansprüche, einschließlich ihres Anspruchs auf einen Pflichtteil oder ihres Anspruchs gegen den Nachlass oder gegenüber den Erben nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht.

I. Allgemeines 1 Dieser Artikel setzt für einen bestimmten Fall eine Trennung zwischen

gerichtlicher Zuständigkeit und anwendbarem Recht voraus. Die prinzipielle Anknüpfung der gerichtlichen Zuständigkeit sowie des anwendbaren Rechts an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt macht diese Annahme ziemlich selten. Sie tritt hauptsächlich dann auf, wenn der Erblasser das Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, zur Regelung seiner Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählt hat (Art. 22), ohne dass die Parteien vereinbaren, den Gerichten des gleichen Staates die Zuständigkeit zu übertragen (Art. 5). 2 Wie Art. 23 Abs. 2 lit. f zeigt, kann es vorkommen, dass sich das an-

wendbare Erbrecht und das Recht des Staates, in dem sich Nachlassvermögen befindet, bezüglich der Verwaltung des Nachlasses uneinig sind: Das eine kann die Befugnisse zur Verwaltung und Abwicklung des Nachlasses den Erbberechtigten übertragen, während das andere diese Befugnisse einem Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter überträgt, der von einem Gericht bestätigt oder ernannt wurde. Da die Rechte des Vereinigten Königreichs oder Irlands hierauf angelegt sind, haben diese beiden Staaten sich aber nicht zum erforderlichen Opt-In zur Verordnung entschlossen. 174

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Artikel 29, Rn. 3–7

Diese Uneinigkeit zwischen den betroffenen Rechten kann in drei hy- 3 pothetischen Fällen auftreten. Es kann zunächst sein, dass das Recht des zuständigen Gerichts und das 4 Erbrecht die Verwaltungsbefugnis dem Erben zuweisen. Diese Befugnisse müssen in den Mitgliedstaaten anerkannt werden, in denen sich das Nachlassvermögen befindet, und zwar auch in denen, deren Recht diese Befugnisse einem Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter überträgt. Das ist die Lösung, die Art. 23 Abs. 2 lit. f vorsieht. Falls das Nachlassvermögen sich in einem Drittstaat befindet, der die Befugnisse des Nachlassempfängers nicht anerkennt, bietet die Verordnung aber keine Lösung. Anders als der Verordnungsvorschlag (Art. 21 Abs. 2) lässt der Text nämlich keinen Raum für das Recht des Staates, in dem sich das Vermögen befindet. Es ist ferner möglich, dass das Recht des zuständigen Gerichts die Ver- 5 waltung dem Erben anvertraut, aber das auf die Rechtsnachfolge von Todes anzuwendende Recht die Ernennung eines Testamentsvollstreckers oder Nachlassverwalters verlangt. In diesem Fall nimmt das zuständige Gericht die Ernennung vor und die auf diese Weise erteilten Befugnisse werden ebenfalls in den Mitgliedstaaten anerkannt (s. Beispiel 3 unter Art. 23 Abs. 2 lit. e). Art. 29, dessen Anwendung Art. 23 Abs. 2 lit. f vorbehält, berücksichtigt 6 noch einen dritten Fall: Dass das Recht des zuständigen Gerichts (vorausgesetzt, dass es das eines Mitgliedstaates ist) die Ernennung eines Vollstreckers oder Verwalters verpflichtend vorsieht, nicht hingegen das Erbrecht. Er beinhaltet die Fälle, in denen ein solcher Vollstrecker oder Verwalter ernannt werden kann (Abs. 1) sowie die Befugnisse, die ihm verliehen werden (Abs. 2 und 3).

II. Absatz 1 Im betrachteten hypothetischen Sachverhalt können die für die Ent- 7 scheidung über die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gerichte, wenn sie angerufen werden, entsprechend ihrem Recht einen oder mehrere Nachlassverwalter ernennen. Es handelt sich dabei um eine schlichte Möglichkeit und es kann vermutet werden, dass sie es nur dann tun, wenn das Nachlassvermögen sich in dem Staat befindet, Paul Lagarde

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Artikel 29, Rn. 8–11

dem sie angehören. Die auf diese Art ernannten Personen sind berechtigt, den Nachlass nach dem Erbrecht zu verwalten. Zur Vermeidung eines Konflikts mit dem Erbrecht fordert Erwägungsgrund 43 das Gericht auf, als Verwalter die Person/Personen zu ernennen, die zur Verwaltung des Nachlasses gemäß diesem Recht berechtigt sind. 8 Es ist dennoch möglich, dass das Erbrecht, sei es das eines anderen Mit-

gliedstaates oder das eines Drittstaates, nicht zulässt, dass der Nachlass von jemand anderem als einem Erbberechtigten verwaltet wird. Dann ist zu befürchten, dass ein Konflikt zwischen den gemäß dem Erbrecht Berechtigten und dem vom zuständigen Gericht ernannten Verwalter entsteht. Um das zu vermeiden, unterstellt der Text die Ernennung eines Fremdverwalters durch das zuständige Gericht strengen Voraussetzungen. Zunächst muss das Recht des Staates, dem das Gericht untersteht, dies so vorsehen. Des Weiteren muss die Ernennung notwendig sein, entweder aufgrund eines „schwerwiegenden Interessenskonflikts“ zwischen den Berechtigten oder zwischen den Berechtigten und den Nachlassgläubigern oder anderen Personen, die für die Verbindlichkeiten des Erblassers gebürgt haben, oder aufgrund von Uneinigkeit zwischen den Berechtigten oder aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen aufgrund der Art der Vermögenswerte schwer zu verwaltenden Nachlass handelt. 9 In all diesen Fällen verdrängen die auf diese Weise ernannten Verwalter

die Erbberechtigten und dürfen als Einzige die Befugnisse zur Verwaltung des Nachlasses ausüben.

III. Absatz 2 10 Im Prinzip unterstellt dieser Absatz die Ausübung der Verwaltungsbe-

fugnisse durch die hierzu bestellten Personen dem Erbrecht. Falls zum Beispiel das französische Recht die Rechtsnachfolge von Todes wegen regelt, übt der vom zuständigen Gericht bestimmte Verwalter die Befugnisse aus, die das französische Recht dem Erben gewährt. 11 Ebenso wie Absatz 1 den Fall berücksichtigt, dass das Erbrecht nicht

zulässt, dass der Nachlass von jemand anderem als dem Berechtigten verwaltet wird, berücksichtigt der zweite Absatz die Situation, dass das anwendbare Recht keine hinreichenden Befugnisse zur Erhaltung des 176

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Artikel 29, Rn. 12, 13

Nachlassvermögens oder zum Schutz der Gläubiger oder anderer Personen, die für die Verbindlichkeiten des Erblassers gebürgt haben, gewährt. Das Gericht kann dann abweichend beschließen, dem/den Nachlassverwalter(n) zu gestatten, „ergänzend“ diejenigen Befugnisse, die hierfür in seinem eigenen Recht vorgesehen sind, auszuüben und sie diesem Recht anpassen. Gemäß Erwägungsgrund 44 kann zu diesen ergänzenden Befugnissen „beispielsweise gehören, die Liste des Nachlassvermögens und der Nachlassverbindlichkeiten zu erstellen, die Nachlassgläubiger vom Eintritt des Erbfalls zu unterrichten und sie aufzufordern, ihre Ansprüche geltend zu machen, sowie einstweilige Maßnahmen, auch Sicherungsmaßnahmen, zum Erhalt des Nachlassvermögens zu ergreifen“. Bei der Ausübung solcher ergänzender Befugnisse müssen der/die Ver- 12 walter das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht in Bezug auf den Übergang des Eigentums an dem Nachlassvermögen, einschließlich jedes von den Berechtigten vor der Bestellung des Verwalters abgeschlossenen Rechtsgeschäfts (wie Erwägungsgrund 44 klarstellt), der Haftung für Nachlassverbindlichkeiten, der Rechte der Berechtigten, ggf. einschließlich des Rechts, die Erbschaft anzunehmen oder auszuschlagen, und ggf. die Befugnisse des Testamentsvollstreckers einhalten. Gemäß Erwägungsgrund 44 könnten solche Handlungen „beispielsweise nur dann die Veräußerung von Vermögenswerten oder die Begleichung von Verbindlichkeiten nach sich ziehen, wenn dies nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht zulässig wäre. Wenn die Bestellung eines Fremdverwalters nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Recht die Haftung der Erben ändert, sollte eine solche Änderung der Haftung respektiert werden.“

IV. Absatz 3 Dieser Text räumt dem Gericht größere Freiheit ein, die Befugnisse des 13 oder der Verwalter abzuändern, falls das die Rechtsnachfolge von Todes wegen regelnde Recht das Recht eines Drittstaates ist. Das Gericht kann dann beschließen, den Verwaltern alle Verwaltungsbefugnisse zu übertragen, die nach dem Recht des Mitgliedstaates vorgesehen sind, in dem sie bestellt werden.

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Artikel 29, Rn. 14; Artikel 30, Rn. 1, 2

14 Sie müssen nur „die Bestimmung der Berechtigten und ihrer Nachlass-

ansprüche, einschließlich ihres Anspruchs auf einen Pflichtteil“, was die Erben betrifft, oder die Ansprüche von Berechtigten „gegen den Nachlass oder gegenüber den Erben“, was insbesondere Vermächtnisnehmer und sonstige Personen betrifft, die, ohne Erben oder Vermächtnisnehmer zu sein, gewisse Rechte gegen diese oder den Nachlass geltend machen können, nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht respektieren. Ein Beispiel hierfür ist das Nutzungsrecht des überlebenden Partners in Bezug auf die familiäre Unterkunft. Artikel 30: Besondere Regelungen mit Beschränkungen, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf bestimmte Vermögenswerte betreffen oder Auswirkungen auf sie haben Besondere Regelungen im Recht eines Staates, in dem sich bestimmte unbewegliche Sachen, Unternehmen oder andere besondere Arten von Vermögenswerten befinden, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf jene Vermögenswerte aus wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Erwägungen beschränken oder berühren, finden auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen Anwendung, soweit sie nach dem Recht dieses Staates unabhängig von dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht anzuwenden sind.

1 Dieser Artikel, der von Art. 15 des Haager Übereinkommens von 1989

inspiriert ist, enthält eine Ausnahme zum Prinzip der Einheitlichkeit der Erbfolge, indem er in bestimmten Fällen das Recht des Staates für maßgebend erklärt, in dem sich Vermögenswerte befinden. 2 Die Ausnahme betrifft „bestimmte unbewegliche Sachen, Unterneh-

men oder andere besondere Arten von Vermögenswerten“, deren Besonderheit sich aus „wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Erwägungen“ ergeben. Damit sind landwirtschaftliche Unternehmen gemeint, unabhängig davon, ob der Landwirt Eigentümer des Bodens ist oder nicht, oder auch wirtschaftliche oder kaufmännische Unternehmen, wenn das örtliche Recht spezielle Regeln zur Erbfolge vorschreibt oder die Teilung verweigert, die zur Zerstörung der Unternehmen führen würde. 178

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Artikel 30, Rn. 3–5; Artikel 31

Nach dem „Waters-Bericht“ (Nr. 112) umfassen andere besondere Ar- 3 ten von Vermögenswerten „in particular objects of historical interest, such as sculptures, paintings and jewellery belonging to the family which, as a result of the original act of disposition, must be transferred from generation to generation in descending line“. Die besonderen Regelungen des örtlichen Rechts, die Art. 30 im Blick 4 hat, sind nur dann für das Erbrecht maßgebend, wenn sie gemäß dem Recht dieses Staates ohne Rücksicht auf das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht anwendbar sind, wenn sie also hoheitliches Recht im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Rom I-Verordnung darstellen.1 Erwägungsgrund 54 empfiehlt eine enge Auslegung des Begriffs der be- 5 sonderen Regelung, der die Einschränkungen in Bezug auf das Erbrecht durchsetzt. Deshalb dürfe dieser Begriff weder für Kollisionsnormen, die unbewegliche Vermögensgüter einem anderem Recht als dem auf das bewegliche Vermögen anwendbaren unterstellen, noch für Regelungen, die einen höheren Pflichtteil vorsehen als den, den das aufgrund der vorliegenden Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht vorsieht, gelten. Artikel 31: Anpassung dinglicher Rechte Macht eine Person ein dingliches Recht geltend, das ihr nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht zusteht, und kennt das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Recht geltend gemacht wird, das betreffende dingliche Recht nicht, so ist dieses Recht soweit erforderlich und möglich an das in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats am ehesten vergleichbare Recht anzupassen, wobei die mit dem besagten dinglichen Recht verfolgten Ziele und Interessen und die mit ihm verbundenen Wirkungen zu berücksichtigen sind.

1

Siehe z.B. in Frankreich, Cass. Cif. 1. Oktober 2012, 11-18345: „Les règles relatives à l’attribution préférentielle sont, en raison de leur destination économique et sociale, des lois de police de sorte qu’ont vocation à s’appliquer celles que fixe la loi du lieu de situation de l’immeuble.“

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Artikel 31, Rn. 1–3

1 Dieser Artikel verbindet das Sachenrechtsstatut und das Erbstatut be-

züglich dinglicher Rechte. Es fällt in den Anwendungsbereich des Erbrechts, zu bestimmen, welche Rechte, darunter auch die dinglichen Rechte, den Erben oder Vermächtnisnehmern zustehen. Aber es ist Aufgabe des Rechts des Staates, in dem sich die Vermögenswerte befinden, die Art der dinglichen Rechte zu bestimmen, denen diese Vermögenswerte unterliegen. Der numerus clausus der dinglichen Rechte, wie er durch die lex rei sitae festgelegt ist, kann nicht durch ein anderes Recht abgeändert werden. 2 Falls das Erbrecht daher ein dingliches Recht in einem Staat vorsieht, in

dem dieses Recht geltend gemacht wird und dem dieses Recht unbekannt ist, muss im Wege der Angleichung zur lex situs ein vergleichbares dingliches Recht gesucht werden, welches das gleiche Ziel verfolgt wie das vom Erbrecht vorgesehene dingliche Recht. 3 Der Text unterscheidet nicht zwischen beweglichem und unbewegli-

chem Vermögen. Die Anpassung dinglicher Rechte an das Recht des Mitgliedstaates, in dem das Recht geltend gemacht wird, muss also sowohl für bewegliches als auch für unbewegliches Vermögen vorgenommen werden. Beispiel 1 Der Erblasser hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien. Er hinterlässt Kinder und seinen überlebenden Ehegatten. Das belgische Erbrecht sieht für Letzteren einen Anspruch zur Nutzung der Hälfte des Nachlasses vor, der mit dem gesetzlichen Erbrecht der Abkömmlinge in Höhe von ¾ konkurriert. Dieses gesetzliche Nutzungsrecht kann sich nicht auf Vermögenswerte beziehen, die sich in Deutschland befinden, da die deutsche lex situs ein solches gesetzliches Nutzungsrecht nicht kennt. Dieses Nutzungsrecht muss also durch Anpassung so ausgelegt werden, dass der Erbe verpflichtet ist, den Nießbrauch zugunsten des überlebenden Ehegatten auf die in Deutschland gelegenen Vermögenswerte auszuweiten.1 Beispiel 2 Der Erblasser hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Kolumbien 1

Vgl. BayObLG 26.10.1996, FamRZ 1996, 694.

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Artikel 32, Rn. 1–3

und hat ein Grundstück in Deutschland testamentarisch vermacht, das sich in seinem Eigentum befand. Das deutsche Sachenrecht ermöglicht keine Übertragung ipso jure des Eigentums an den Vermächtnisnehmer. Ein solches Vindikationslegat auf einem deutschen Grundstück ist in Deutschland wie ein Vermächtnis zu behandeln, das lediglich einen schuldrechtlichen Anspruch für den Vermächtnisnehmer begründet (Damnationslegat).2 Artikel 32: Kommorienten Sterben zwei oder mehr Personen, deren jeweilige Rechtsnachfolge von Todes wegen verschiedenen Rechten unterliegt, unter Umständen, unter denen die Reihenfolge ihres Todes ungewiss ist, und regeln diese Rechte diesen Sachverhalt unterschiedlich oder gar nicht, so hat keine der verstorbenen Personen Anspruch auf den Nachlass des oder der anderen.

Diese Bestimmung ist eine wörtliche Wiedergabe von Art. 13 des Haa- 1 ger Übereinkommens vom 1. August 1989. Sie muss in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 lit. a gelesen werden, der den Zeitpunkt des Eintritts des Erbfalls dem Erbrecht unterordnet. Die Anwendung der Norm setzt voraus, dass zwei oder mehr Personen 2 bei einem gleichen Ereignis sterben, und zumindest eine der Personen bezüglich des Nachlasses der anderen erbberechtigt wäre. Falls die Rechtsnachfolge von Todes wegen dieser Personen durch das gleiche anwendbare Recht geregelt wird, entscheidet dieses Recht über die Vermutung, ob und welche der Personen die andere(n) überlebt hat. Falls die Rechtsnachfolge von Todes wegen dieser Personen verschiede- 3 nen Rechten unterliegt, muss geprüft werden, ob diese unterschiedlichen Rechte in Bezug auf diese Frage miteinander übereinstimmen. Wenn sie alle vermuten, dass die jüngste Person die anderen überlebt hat, sind sie gleichermaßen anwendbar. Das gleiche gilt beispielsweise, wenn eines dieser Rechte die Überlebensvermutung auf das Alter stützt und das andere auf das Geschlecht, und dadurch beide Rechte in Bezug 2

BGH 28.9.1994, FamRZ 1994, 1585.

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Artikel 32, Rn. 4; Artikel 33, Rn. 1

auf die Vermutung, welche Person überlebt hat, zum gleichen Ergebnis kommen. Das wäre z.B. der Fall, wenn der 40-jähriger Bruder und die 45-jährige Schwester beim gleichen Unfall sterben, und die beiden Rechte einstimmig vermuten, dass der jüngere Bruder als Mann die Schwester überlebt hat. Wenn hingegen der Bruder 45 Jahre alt wäre und die Schwester 40, wären die von diesen beiden Gesetzen bestimmten Vermutungen miteinander unvereinbar. 4 Um die Probleme zu beseitigen, die sich aus einer solchen Unvereinbar-

keit ergeben, ordnet Art. 32 eine materielle Rechtsfolge an. Keine der verstorbenen Personen hat Anspruch auf den Nachlass des oder der anderen. Die Rechtsnachfolge von Todes wegen von jedem der Verstorbenen wird so behandelt, als hätten die anderen nicht existiert. Artikel 33: Erbenloser Nachlass Ist nach dem nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht weder ein durch Verfügung von Todes wegen eingesetzter Erbe oder Vermächtnisnehmer für die Nachlassgegenstände noch eine natürliche Person als gesetzlicher Erbe vorhanden, so berührt die Anwendung dieses Rechts nicht das Recht eines Mitgliedstaates oder einer von diesem Mitgliedstaat für diesen Zweck bestimmten Einrichtung, sich das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates belegene Nachlassvermögen anzueignen, vorausgesetzt, die Gläubiger sind berechtigt, aus dem gesamten Nachlass Befriedigung ihrer Forderungen zu suchen.

1 Dieser Artikel hat seinen Ursprung in Art. 16 des Haager Übereinkom-

mens von 1989. Er soll entscheiden, welcher Staat das Nachlassvermögen erhält, wenn keine Erben vorhanden sind: Entweder der Staat, in dem das Nachlassvermögen belegen ist, oder der, der nach dem anwendbaren Erbrecht zum Erbe berufen ist. Die Schwierigkeit stammt daher, dass sich ein Staat gemäß einigen Rechten das auf seinem Hoheitsgebiet befindliche herrenlose Vermögen aneignen darf, während er gemäß anderen Rechten allerletzter Erbe ist. Im letzteren Fall wäre er wie jeder Erbe berechtigt, die Vermögenswerte aus der Erbschaft zu erhalten, die außerhalb seines Hoheitsgebiets belegen sind.

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Artikel 33, Rn. 2–5

Falls das anwendbare Erbrecht und das Recht des Staates, in dem die 2 Vermögenswerte belegen sind, sich auf die Anwendung eines der beiden Systeme einigen, entsteht kein Problem. Falls sie beide das System des Aneignungsrechts des Staates anwenden, erhält jeder Staat, in dem die Vermögenswerte belegen sind, diese Vermögenswerte und nichts darüber hinaus. Falls beide Rechte das System des Staates als Erben nutzen, erhält der Staat das gesamte Nachlassvermögen, dessen Recht auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbar ist, wo auch immer das Vermögen sich befindet. Art. 33 bekräftigt das Recht des Staates, in dessen Hoheitsgebiet Nach- 3 lassvermögen belegen ist, sich das in seinem Gebiet belegene Nachlassvermögen unabhängig von den Bestimmungen des Erbrechts anzueignen. Er regelt also den möglichen positiven Konflikt zwischen dem Erbrecht, welches eigentlich das System des Fiskalerbrechts anwendet, und dem Recht, das an dem Ort gilt, an dem das Nachlassvermögen belegen ist, und das das Aneignungsrecht des Staates ausübt. Er regelt hingegen nicht den Negativkonflikt, der bei der umgekehrten Konstellation aufkommen kann: wenn das Erbrecht des Staates A das Aneignungsrecht vorsieht und das Recht des Staates B, in dessen Hoheitsgebiet Nachlassvermögen belegen ist, das System des Staates als Erben verwenden würde. In diesem Fall beansprucht keiner der betroffenen Staaten die Vermögenswerte, die sich im Staat B befinden. Die Situation der Erbenlosigkeit, wie sie der Text ins Auge fasst, liegt 4 dann vor, wenn weder ein gesetzlicher Erbe noch eine natürliche oder juristische Person existiert, die durch eine Verfügung von Todes wegen Erbe oder Vermächtnisnehmer geworden ist. Im Vergleich zu Art. 16 des Haager Übereinkommens enthält Art. 33 5 der Verordnung zwei weitere Bestimmungen, die seinen Anwendungsbereich einschränken. Zunächst wird die Situation der Erbenlosigkeit nur dann berücksichtigt, wenn kein „durch Verfügung von Todes wegen eingesetzter Erbe oder Vermächtnisnehmer für die Nachlassgegenstände“ vorhanden ist. Falls der Erblasser auch nur über einen einzigen seiner Nachlassgegenstände eine Verfügung von Todes wegen errichtet hätte, wäre Art. 33 nicht anwendbar. Daraus muss geschlossen werden, dass in einem solchen Fall der Staat, in dem sich Vermögenswerte be-

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Artikel 33, Rn. 6; Artikel 34, Rn. 1

finden, nicht dazu befugt ist, sich aufgrund seines Rechts die auf seinem Hoheitsgebiet belegenen Vermögenswerte anzueignen. 6 Die andere durch die Verordnung festgelegte Einschränkung sichert die

Rechte der Gläubiger, aus dem gesamten Nachlass Befriedigung ihrer Forderungen zu suchen. Die Reichweite des Textes, die in der englischen Variante klarer zum Ausdruck kommt als in der französischen Version, wird im Erwägungsgrund 56 erklärt. Um zu vermeiden, dass die Zuweisung der Vermögenswerte an den Staat, in dem sie sich befinden, den Nachlassgläubigern schadet, „sollte jedoch eine Bestimmung hinzugefügt werden, nach der die Nachlassgläubiger berechtigt sein sollten, aus dem gesamten Nachlassvermögen, ungeachtet seiner Belegenheit, Befriedigung ihrer Forderungen zu suchen.“ Artikel 34: Rück- und Weiterverweisung (1) Unter dem nach dieser Verordnung anzuwendenden Recht eines Drittstaats sind die in diesem Staat geltenden Rechtsvorschriften einschließlich derjenigen seines Internationalen Privatrechts zu verstehen, soweit diese zurück- oder weiterverweisen auf: a) das Recht eines Mitgliedstaats oder b) das Recht eines anderen Drittstaats, der sein eigenes Recht anwenden würde. (2) Rück- und Weiterverweisungen durch die in Art. 21 Absatz 2, Art. 22, Art. 27, Art. 28 Buchstabe b und Art. 30 genannten Rechtsordnungen sind nicht zu beachten.

I. Allgemeines 1 Dieser Artikel markiert eine wichtige Wendung der Verordnung im

Verhältnis zum Vorschlag der Kommission. Letztere hatte in ihrem Art. 26 jede Form der Rück- oder Weiterverweisung ausgeschlossen, wie es auch die anderen europäischen Verordnungen im Kollisionsrecht tun (Rom I und II). Die Haager Übereinkommen schlossen in aller Regel ebenfalls die Rück- und Weiterverweisung aus, aber das Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989, das die Eigenart des Erbrechts berücksichtigt hat, stellt eine Ausnahme zu dieser Regel dar und erlaubt 184

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Artikel 34, Rn. 2, 3

die Rück- und Weiterverweisung in einer Möglichkeit (Art. 4), auf die noch einmal zurückzukommen sein wird. Die Verordnung ist diesem Vorbild gefolgt und hat sogar einen zweiten Fall der zulässigen Rückoder Weiterverweisung hinzugefügt.

II. Absatz 1 Absatz 1 nennt als Voraussetzung, dass die Verweisung nur dann zu 2 berücksichtigen ist, wenn nach der Verordnung das Recht eines Drittstaats zur Anwendung kommt. Falls das durch die Verordnung bestimmte Recht das eines Mitgliedstaats ist, kann es tatsächlich keine Rück- oder Weiterverweisung geben, weil dieser Mitgliedstaat aufgrund der Bindung an die Verordnung hypothetisch die gleiche Kollisionsnorm wie der Staat, dessen Gerichte international zuständig sind, hat.

1. Lit. a Der erste Anwendungsfall der Rück- und Weiterverweisung liegt vor, 3 wenn die Kollisionsnorm des Drittstaats, dessen Recht nach der Verordnung anzuwenden ist, auf das Recht eines Mitgliedstaats verweist. Dafür, dass in diesem Fall die Verweisung zu beachten ist, gibt es zwei Gründe: Einerseits vereinfacht sie die Arbeit des zuständigen Richters, falls das Recht, auf das verwiesen wird, sein eigenes ist. Dies ist die Möglichkeit der Rückverweisung. Andererseits ermöglicht die Verweisung es manchmal, die Anwendung des Rechts eines Staats, dessen Auffassung im Bereich der Erbschaft stark von der Auffassung der Europäischen Union abweicht, auf einen Angehörigen eines Mitgliedstaats zu vermeiden. Sie spielt somit eine ergänzende, wenn auch technisch andere Rolle als die der Ausnahmeklausel des Art. 21 Absatz 2. Beispiel 1 Der Erblasser ist ein Franzose, der sich bereits vor einigen Jahren in Katar niedergelassen hat, wo er auch seinen Beruf ausgeübt hat. Aufgrund des Art. 10 Abs. 1 lit. a (Gerichtsstand der Staatsangehörigkeit) ist ein französisches Gericht zuständig. Die Verordnung bestimmt das Recht von Katar als Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers. Wie die Mehrzahl der Staaten mit islamischem Recht unterstellt Katar den Nachlass von Ausländern, die nicht muslimischen Glaubens sind, ihrem Staatsangehörigkeitsrecht. Die Paul Lagarde

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Artikel 34, Rn. 4

Verweisung führt hier also zur Anwendung des französischen Rechts und nicht zur Anwendung der Scharia, die in Katar in Kraft ist. Diese Rückverweisung ermöglicht es dem zuständigen Gericht, sein eigenes Recht anzuwenden. Zudem stimmt sie höchstwahrscheinlich mit den Erwartungen des Erblassers und seiner Erben und Vermächtnisnehmer überein. Beispiel 2 Die gleiche Situation wie im Beispiel 1, abgesehen davon, dass der Erblasser Deutscher ist und dass die französischen Gerichte gemäß Art. 10 Abs. 1 lit. b oder Absatz 2 zuständig sind. Die Verordnung verweist wie im ersten Beispiel auf das Recht von Katar, dieses verweist aber auf das deutsche Recht. Es handelt sich also für das angerufene französische Gericht um eine Weiterverweisung, die es trotzdem – auch wenn dies ebenfalls den Erwartungen der Beteiligten entsprechen würde – dem angerufenen Gericht nicht ermöglicht, sein eigenes Recht anzuwenden. Die Verordnung setzt diese Verweisung dennoch durch, um zu vermeiden, dass das anwendbaren Recht davon abhängt, welchem Mitgliedstaat das angerufene Gericht angehört, und dass es zu einer Diskriminierung zwischen Bürgern der Europäischen Union abhängig von ihrer Staatsangehörigkeit kommt. 4 Die Situation ist komplexer, wenn die Kollisionsnorm des Drittstaats

den Nachlass in bewegliches und unbewegliches Vermögen teilt. Die Berücksichtigung der Verweisung kann dann dazu führen, dass das Recht zweier unterschiedlicher Staaten angewendet wird, insbesondere das Recht zweier unterschiedlicher Mitgliedstaaten. Das durchbricht die Einheitlichkeit der Erbfolge, einem Grundprinzip der Verordnung.1 Wenn man jedoch in diesem Zusammenhang die Verwendung des Singulars in Art. 34 nicht als entscheidend berücksichtigt, scheint eine teilweise Rückverweisung nicht durch die Verordnung ausgeschlossen zu sein.

1

Vgl. die erst kürzlich ergangene Entscheidung des obersten französischen Berufungsgerichts: demnach „n’est admis que s’il assure l’unité successorale et l’application d’une même loi aux meubles et aux immeubles“ (Ci. 1ère, 11.2. 2009, Riley, Berufung Nr. 06-12140, Rev. crit. DIP, 2009, 512, Anm. B. Ancel).

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Artikel 34, Rn. 5

Beispiel 3 Der Erblasser war Deutscher und bei seinem Tod wohnhaft in Monaco. Er besitzt unbewegliches Vermögen in Frankreich. Das Recht von Monaco verweist für den beweglichen Nachlass auf das deutsche Recht und für das unbewegliche Vermögen, das in Frankreich gelegen ist, auf das französische Recht. Dieser Verweis auf das Recht zweier unterschiedlicher Mitgliedstaaten scheint unter Unterabsatz a zu fallen. Beispiel 4 Der Erblasser ist ein Franzose, der in New York gewohnt hat. Er hinterlässt unbewegliches Vermögen in Frankreich. Das durch die Verordnung berufene Recht des Staats New York akzeptiert seine Zuständigkeit für das bewegliche Vermögen, verweist jedoch für das unbewegliche Vermögen auf das französische Recht. Auch der Teilverweis auf das französische Recht scheint akzeptiert werden zu müssen.

2. Lit. b Der zweite Anwendungsfall der Verweisung ist der, der aus Art. 4 des 5 Haager Übereinkommens von 1989 übernommen wurde. Die Verweisung wird berücksichtigt, wenn das berufene Recht auf das Recht eines anderen Drittstaats verweist, der sein eigenes Recht anwenden würde. Das Ziel hierbei ist es, durch die Anwendung der Verordnung keine Situation zu stören, die außerhalb des Hoheitsgebiets der Europäischen Union besteht, und die in kongruenter Weise durch die Kollisionsnormen der beteiligten Drittstaaten gelöst wird. Dieses Ziel kann mit einer Weiterverweisung besser verwirklicht werden. Beispiel 5 Ein französisches Gericht wird zur Nachlassregelung angerufen. Es handelt sich dabei um den nur aus beweglichen Vermögenswerten bestehenden Nachlass eines russischen Geschäftsmanns, der seinen Wohnsitz in Monaco hatte. Die Verordnung schreibt die Anwendung des Rechts von Monaco vor, aber dieses verweist auf das Staatsangehörigkeitsrecht des Erblassers, also das russische Recht. Dieses nimmt die Verweisung an und unterstellt den Nachlass ebenfalls dem Staatsangehörigkeitsrecht des Erblassers. Diesem Paul Lagarde

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Artikel 34, Rn. 6, 7

Weiterverweis muss gefolgt werden. Wenn ein monegassisches oder russisches Gericht zur Nachlassregelung angerufen worden wäre, hätte sowohl das eine wie auch das andere russisches Recht angewandt. Den Weiterverweis abzulehnen, hätte überflüssigerweise die Übereinstimmung der beteiligten Drittstaaten zerstört und das Risiko vergrößert, dass Letztere die dadurch erhaltene Lösung ablehnen. Beispiel 6 Der Erblasser ist Engländer mit gewöhnlichem Aufenthalt in Monaco. Er besitzt unbewegliches Vermögen in Irland.2 Das monegassische Recht verweist für den beweglichen Nachlass auf das englische Recht und für das unbewegliche Vermögen auf das Recht des Staates, in dem dieses Vermögen belegen ist, also auf das irische Recht. Falls das englische Recht in dem Fall zum Ergebnis kommt, dass der Erblasser sein domicile of origin in England bewahrt hat, nimmt es seine Zuständigkeit für das bewegliche Vermögen an. Das irische Recht wendet seinerseits sein Recht für das sich in Irland befindliche unbewegliche Vermögen an. Der Verweis muss akzeptiert werden. Das Gleichgewicht, das sich spontan zwischen dem monegassischem, dem englischen und dem irischen Recht eingestellt hat, muss respektiert werden „um den internationalen Entscheidungseinklang zu gewährleisten“ (Erwägungsgrund 57). 6 Diese Fälle der Weiterverweisung sind die einzigen, die die Verordnung

erlaubt. Ein Weiterverweis „dritten Grades“ ist nicht zulässig. Falls das nach der Verordnung anzuwendende Recht das eines Drittstaats ist, der auf einen anderen Drittstaat verweist, welcher wiederum auf das Recht eines weiteren Drittstaats verweist, ist der Verweis nicht zulässig. Dies gilt sogar dann, wenn dieser dritte Staat die durch den zweiten Staat gemachte Verweisung annimmt.

III. Absatz 2 7 Dieser Absatz verhindert die Verweisung in vier Fällen, die einschrän-

2

Das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark müssen im Sinne dieser Verordnung als Drittstaaten betrachtet werden, s. Einleitung Rn. 49.

188

Paul Lagarde

Artikel 34, Rn. 8–12

kend aufgezählt werden und in denen ihre Beachtung dem Sinn der Kollisionsnorm widersprechen würde. Der erste Fall liegt vor, wenn das die Rechtsnachfolge von Todes wegen 8 regelnde Recht durch die Ausnahmeklausel des Art. 21 Abs. 2 bestimmt wurde. Dieses Recht ist das des Landes, zu dem der Sachverhalt die engste Verbindung hatte. Das Verfahren der Verweisung würde notwendigerweise zu einem anderen Recht führen, das weniger sachnah ist als das berufene, und wird deshalb ausgeschlossen. Die Verweisung ist des Weiteren ausgeschlossen, wenn das Erbrecht 9 durch eine Rechtswahl bestimmt wurde (Art. 22). Die Verweisung dieses Rechts auf ein anderes Recht würde die Vorausplanungen des Erblassers vereiteln, die die Verordnung gerade unerstützen will, indem sie dem zukünftigen Erblasser die Möglichkeit gibt, innerhalb gewisser Grenzen das Recht zu wählen, das seinen Nachlass regelt. Der Ausschluss der Verweisung erstreckt sich ebenso auf den Erbver- 10 trag, wenn das den Erbvertrag regelnde Recht von den Parteien bestimmt wurde (Art. 25 Abs. 3, in Art. 34 zwar nicht genannt, aber aufgrund des Verweises auf Art. 22). Der dritte Fall, in dem die Verweisung ausgeschlossen ist, betrifft die 11 Form der Handlungen (Art. 27 und 28 lit. b). Art. 27 erlaubt die Formwirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen, falls sie mit einem der zahlreichen dort aufgezählten Rechte vereinbar ist. Die Verordnung wollte nicht weitergehen, indem sie eine Verweisung in favorem auf ein anderes Recht zulässt. Art. 28 lit. b erklärt eine Erklärung über die Annahme der Erbschaft oder die Ausschlagung derselben für formwirksam, wenn sie unter Einhaltung der Formanforderungen des Rechts des Staates abgegeben wurde, in dem der Erklärende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Verordnung wollte dadurch die Ausübung des Wahlrechts des Erklärenden erleichtern. Dieses Ziel wäre gefährdet, wenn die Verweisung des Rechts des gewöhnlichen Aufenthalts auf ein anderes, anspruchsvolleres Recht möglich wäre. Zuletzt ist die Verweisung noch ausgeschlossen, wenn das Recht des 12 Staates zur Anwendung kommt, in dem ein Teil des unbeweglichen Vermögens belegen ist oder in dem sich Unternehmen oder sonstige Paul Lagarde

189

Artikel 35, Rn. 1–3

Vermögenswerte gemäß den Voraussetzungen des Art. 30 befinden. Eigentlich ergibt sich der Ausschluss der Verweisung aber von selbst, da vermutlich das Recht des Staates, in dem dieses Vermögen belegen ist, seine Anwendung verlangt, ganz gleich welches Recht auf den Nachlass anwendbar ist. Artikel 35: Öffentliche Ordnung (ordre public) Die Anwendung einer Vorschrift des nach dieser Verordnung bezeichneten Rechts eines Staates darf nur versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist.

1 Dieser Artikel enthält den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, wie er

auch in allen Haager Übereinkommen und Verordnungen der Union existiert. Die Vorschrift übernimmt eine doppelt restriktive Formulierung. 2 Der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung kann nur der Anwendung ei-

ner Vorschrift des nach der Verordnung bezeichneten Rechts eines Staates entgegengesetzt werden und nicht diesem Recht als Ganzen. Das heißt, dass das zuständige Recht angewendet werden muss, sogar wenn es Vorschriften enthält, die gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, falls die fragliche Vorschrift es nicht tut. Und sogar dann, wenn die fragliche Vorschrift abstrakt mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar wäre, wäre die Versagung nur erlaubt, wenn diese Unvereinbarkeit konkret bei ihrer Anwendung zutage treten würde. 3 Zudem tritt die Folge der Versagung des nach der Verordnung berufe-

nen Rechts nur dann ein, wenn die Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich ist. Diese Voraussetzung, die in das Haager Übereinkommen vom 24. Oktober 1956 über das auf die Unterhaltspflichten gegenüber Kindern anwendbare Recht aufgenommen wurde, ist seitdem fester Bestandteil der Haager Übereinkommen und wurde in alle europäischen Verordnungen über internationales Privatrecht aufgenommen. Im Bereich der Rechtsnachfolge von Todes wegen wurde als „offensichtlich“ unvereinbar mit der öffentlichen Ordnung 190

Paul Lagarde

Artikel 35, Rn. 4–6

eine ausländische Vorschrift angesehen, die die Erben aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert. Art. 35 verlangt, dass die Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ord- 4 nung im Verhältnis zum Rechtssystem des Staates, dessen Gerichte zuständig sind, bewertet werden muss. Er gibt jedoch nicht vor, welches Recht die ausgeschlossene fremde Vorschrift ersetzen muss. Jeder Mitgliedstaat ist also aufgerufen, durch Ersetzung sein eigenes Recht oder eine andere Vorschrift des nach der Verordnung berufenen Rechts anzuwenden, die der versagten Vorschrift ähnlich ist, deren Anwendung jedoch nicht mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts unvereinbar ist. Erwägungsgrund 58 weist darauf hin, dass die Gerichte eines Mitglied- 5 staates „die Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats nicht ausschließen“ oder „aus Gründen der öffentlichen Ordnung (ordre public) nicht versagen dürfen, wenn dies gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 21, verstoßen würde“. Nur unter dieser Bedingung kann der Vorrang der öffentlichen Ordnung dem Recht eines Mitgliedstaats entgegengestellt werden. Probleme kommen beim Pflichtteil auf. Die Verordnung hat die im 6 Vorschlag der Kommission aufgeführte Vorschrift nicht übernommen, nach der die öffentliche Ordnung dem anwendbaren Erbrecht nicht mit der Begründung entgegengehalten werden darf, dass seine den Pflichtteil betreffenden Bestimmungen von denen abweichen, die am Ort des Gerichtsstands in Kraft sind (Art. 27 Abs. 2). Die Gerichte eines Mitgliedstaates, der den Pflichtteil anerkennt, werden vermutlich aus Gründen des Schutzes der Kinder oder des Ehepartners ersucht werden, den Grundsatz der öffentlichen Ordnung einem ausländischen Recht, der das Pflichtteilsrecht ignoriert, entgegen zu halten. Einem solchem Anliegen stattzugeben, könnte aber die Effektivität der Verordnung ruinieren, denn die Existenz des Pflichtteils oder sein Fehlen ist ein charakteristischer Zug des Erbrechts eines jeden Staates, und die Anwendung des Vorbehalts der öffentlichen Ordnung würde den Kollisionsregeln der Verordnung erheblich die Bedeutung entziehen. Zudem könnte eine solche Haltung zu diskriminierenden Ergebnissen im ZuPaul Lagarde

191

Artikel 35, Rn. 7; Artikel 36

sammenhang mit der persönlichen Nähe zum zuständigen Gericht, insbesondere aufgrund der Staatsangehörigkeit der Beteiligten führen. Angenommen, dass das englische Erbrecht, das keinen Pflichtteil kennt, das Empfinden eines französischen Richters verletzen würde, ist es wahrscheinlich, dass es dieses mehr verletzen würde, wenn es sich um den Nachlass eines Franzosen handeln würde, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in London hatte, als wenn es sich um einen Engländer unter den gleichen Voraussetzungen handelt. 7 Eine ausgleichende Lösung, die mit dem Geist der Verordnung überein-

stimmt, könnte die folgende sein: Ein ausländisches Recht, das den Pflichtteil nicht anerkennt, ist nicht a priori unvereinbar mit der öffentlichen Ordnung. Bevor seine Anwendung versagt wird, muss aber in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die Anwendung zu einem inakzeptablen Ergebnis führt, z.B. weil sie kleine Kinder oder Kinder in Ausbildung ohne finanzielle Mittel zurücklassen würde.1 Artikel 36: Staaten mit mehr als einem Rechtssystem – Interlokale Kollisionsvorschriften (1) Verweist diese Verordnung auf das Recht eines Staates, der mehrere Gebietseinheiten umfasst, von denen jede eigene Rechtsvorschriften für die Rechtsnachfolge von Todes wegen hat, so bestimmen die internen Kollisionsvorschriften dieses Staates die Gebietseinheit, deren Rechtsvorschriften anzuwenden sind. 1

Das Haager Übereinkommen vom 1. August 1989 hatte bezüglich des Pflichtteils die Möglichkeit vorgesehen, das vom Erblasser gewählte Recht auszuschließen, wenn seine Anwendung „would totally or very substantially deprive the spouse or a child of the deceased of an inheritance or family provision to which the spouse or child would have been entitled under the mandatory rules of the law of the State making this reservation“ (Art. 24 Abs. 1 lit. d, 2. Hs.). Ebenso sieht das Haager Protokoll vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht (auf das die Verordnung Nr. 4/2009 vom 18. Dezember 2008 verweist) vor, dass das durch eine Einigung der Parteien bestimmte Recht nur anwendbar ist, „lorsque son application entraînerait des conséquences manifestement inéquitables ou déraisonnables pour l’une ou l’autre des parties“.

192

Paul Lagarde

Artikel 36, Rn. 1

(2) In Ermangelung solcher internen Kollisionsvorschriften gilt: a) jede Bezugnahme auf das Recht des in Absatz 1 genannten Staates ist für die Bestimmung des anzuwendenden Rechts aufgrund von Vorschriften, die sich auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers beziehen, als Bezugnahme auf das Recht der Gebietseinheit zu verstehen, in der der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; b) jede Bezugnahme auf das Recht des in Absatz 1 genannten Staates ist für die Bestimmung des anzuwendenden Rechts aufgrund von Bestimmungen, die sich auf die Staatsangehörigkeit des Erblassers beziehen, als Bezugnahme auf das Recht der Gebietseinheit zu verstehen, zu der der Erblasser die engste Verbindung hatte; c) jede Bezugnahme auf das Recht des in Absatz 1 genannten Staates ist für die Bestimmung des anzuwendenden Rechts aufgrund sonstiger Bestimmungen, die sich auf andere Anknüpfungspunkte beziehen, als Bezugnahme auf das Recht der Gebietseinheit zu verstehen, in der sich der einschlägige Anknüpfungspunkt befindet. (3) Ungeachtet des Absatzes 2 ist jede Bezugnahme auf das Recht des in Absatz 1 genannten Staates für die Bestimmung des anzuwendenden Rechts nach Artikel 27 in Ermangelung interner Kollisionsvorschriften dieses Staates als Bezugnahme auf das Recht der Gebietseinheit zu verstehen, zu der der Erblasser oder die Personen, deren Rechtsnachfolge von Todes wegen durch den Erbvertrag betroffen ist, die engste Verbindung hatte. I. Allgemeines II. Absatz 1 III. Absatz 2 1. Lit. a

1 4 5 6

2. Lit. b 3. Lit. c IV. Absatz 3

8 9 11

I. Allgemeines Dieser Artikel hat das Ziel, das auf die Rechtsnachfolge von Todes we- 1 gen anwendbare Recht zu bestimmen, wenn die Verordnung das Recht eines Staates bezeichnet, dessen Gesetzgebung nicht einheitlich ist. Diese Situation tritt in zwei Arten von Fällen auf: Entweder umfasst der Staat, dessen Recht bezeichnet ist, mehrere Gebietseinheiten, die jeweils eigene Rechtsvorschriften für das Erbrecht haben (interlokale Konflikte, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Spanien), oder dieser Staat hat mehrere Rechtssysteme, die auf unterschiedliche KatePaul Lagarde

193

Artikel 36, Rn. 2–4

gorien von Menschen anwendbar sind (interpersonale Konflikte, wie im Libanon). 2 Die herkömmlichen Praktiken haben diese internen Konflikte berück-

sichtigt, weshalb die Haager Übereinkommen seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts Vorschriften hierzu enthalten. Diese Vorschriften, die ursprünglich knapp gefasst waren und alle interlokalen und interpersonalen Konflikte behandelt haben (s. das Übereinkommen vom 2. Oktober 1973 über das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht, Art. 16) sind schrittweise vielseitiger gestaltet worden und unterscheiden nun diese beiden Kategorien interner Konflikte. Gleichzeitig sind sie komplexer geworden, um für jede denkbare Situation eine Lösung bereitzuhalten (vgl. z.B. die Übereinkommen vom 1. August 1989 über die Rechtsnachfolge von Todes wegen, Art. 19, und vom 10. Oktober 1996 über den Schutz von Kindern, Art. 47). 3 Die Verordnung folgt diesem Muster. Die interlokalen Konflikte sind

Gegenstand des Art. 36, während die interpersonalen Konflikte in Art. 37 behandelt werden. Die Grundidee, die für beide Konfliktarten gleich ist, lautet, zuerst die internen Kollisionsvorschriften dieses Staates zu befolgen. Erst wenn solche Vorschriften nicht vorliegen, muss auf das Näheprinzip zurückgegriffen werden und der Teil der Vorschriften dieses Staates angewendet werden, zu dem der Sachverhalt die engsten Verbindungen hat.

II. Absatz 1 4 Dieser Absatz stellt die Regel auf, dass die Vorschriften der Gebietsein-

heit angewendet werden müssen, die durch die internen Kollisionsvorschriften des betroffenen Staates bezeichnet werden. Diese Regel setzt voraus, dass Kollisionsvorschriften auf staatlicher Ebene existieren. Falls der Staat es dagegen zulässt, dass jede Gebietseinheit selbstständig den Anwendungsbereich seines eigenen Rechts festlegt, ist dieser Absatz nicht anwendbar. Dies gilt sogar in Fällen, in denen die in den einzelnen Gebietseinheiten geltenden Kollisionsvorschriften übereinstimmen. In einem solchen Fall ist es allerdings wahrscheinlich, dass diese übereinstimmenden Vorschriften vom angerufenen Gericht befolgt werden, aber nur falls sie mit den Varianten des Absatz 2 vereinbar sind. 194

Paul Lagarde

Artikel 36, Rn. 5–8

III. Absatz 2 Kapitel III der Verordnung enthält, wie bereits gesehen, eine große An- 5 zahl an Anknüpfungspunkten: gewöhnlicher Aufenthalt, Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, engste Verbindung, Ort des Abschlusses eines Vertrags oder der Errichtung einer Verfügung, Lageort, an dem sich Vermögenswerte befinden. Wenn die Verordnung das Recht eines Staates bezeichnet, dessen Rechtsordnung nicht einheitlich ist und der über keine internen Kollisionsvorschriften verfügt, regelt der zweite Absatz, wie diese Anknüpfungspunkte bestimmt werden.

1. Lit. a Der einfachste Fall ist der des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers 6 im Moment seines Todes. Lit. a weißt folgerichtig darauf hin, dass die zu berücksichtigende Gebietseinheit die ist, in der der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes oder, je nach Fall, im Zeitpunkt der Errichtung eines Testaments oder des Abschlusses eines Erbvertrags hatte. Die Gebietseinheit, in der sich der gewöhnliche Aufenthalt befindet, 7 kann schwer bestimmbar sein, zum Beispiel bei einer Person, die ihr Leben zwischen New York und San Francisco aufgeteilt hat. Die Verordnung schweigt bezüglich dieser Frage, aber es ist anzunehmen, dass es sich dabei um eine Tatsachenfrage handelt, die im Zusammenhang mit der engsten Verbindung entschieden werden muss (vgl. dasselbe Problem auf internationaler Ebene in Art. 22 und für den Wohnsitz in Art. 27 Abs. 1).

2. Lit. b Wenn die Verordnung die Staatsangehörigkeit des Erblassers als An- 8 knüpfungspunkt berücksichtigt (Art. 27 Abs. 1 lit. b), ist die Gebietseinheit des Staates, deren Staatsangehörigkeit der Erblasser besitzt, die, mit der er die engsten Verbindungen hat. Die Vorschrift kann auf das vorhergehende Beispiel des Amerikaners angewendet werden, der sein Leben zwischen New York und San Francisco aufteilt.

Paul Lagarde

195

Artikel 36, Rn. 9–12

3. Lit. c 9 Dieser Auffangtatbestand betrifft alle anderen von der Verordnung be-

rücksichtigten Anknüpfungsmöglichkeiten. Er unterstellt sie dem Recht der Gebietseinheit, in der sich der einschlägige Anknüpfungspunkt befindet. Die Vorschrift ist unproblematisch auf Anknüpfungspunkte wie den Ort des Abschlusses eines Vertrages, die Errichtung einer Erklärung oder den Ort, an dem sich einzelne Vermögenswerte befinden, anwendbar. Für den Wohnsitz vgl. oben Art. 27 Rn. 6. 10 Wenn die Verordnung auf das Recht des Staates verweist, zu dem die

engste Verbindung besteht, muss man wissen, dass lit. c das Recht der Gebietseinheit dieses Staates bezeichnet, zu dem die zu betrachtende Person oder der Sachverhalt die engste Verbindung hatte (s. in diesem Sinne die Vorschrift des Haager Übereinkommens von 1989, Art. 19 Abs. 4).

IV. Absatz 3 11 Dieser Absatz gilt allein für die in Art. 27 berücksichtigten Anknüp-

fungspunkte (Formwirksamkeit von Verfügungen von Todes wegen) und ist vorrangig gegenüber der Regelung des zweiten Absatzes: Ort der Errichtung der Verfügung oder des Abschlusses des Vertrags, Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Aufenthaltsort von unbeweglichem Vermögen. An die Stelle der differenzierenden Lösungen des internen Konflikts, die Absatz 2 bietet, setzt der dritte Absatz eine gleichförmige Lösung und berücksichtigt das Recht der Gebietseinheit, zu der der Erblasser oder die Person, deren Nachlass von einem Erbvertrag betroffen ist, die engste Verbindung hat. 12 Die vereinfachende Wirkung dieser Vorschrift tritt beim Wohnsitz in

Erscheinung. Falls Absatz 2 anwendbar gewesen wäre, hätte das Recht der Gebietseinheit berücksichtigt werden müssen, in der sich der Wohnsitz befand, und in Zweifelsfällen hätte zur Bestimmung dieser Gebietseinheit das Recht jeder evtl. einschlägigen Gebietseinheit daraufhin untersucht werden müssen, ob der Erblasser dort seinen Wohnsitz hatte (Analogie zu Art. 27 Abs. 1, letzter Satz). Das hätte zudem die Fälle einer Mehrzahl von Wohnsitzen oder gar des Fehlen eines Wohnsitzes nicht beseitigt. 196

Paul Lagarde

Artikel 37, Rn. 1, 2; Artikel 38, Rn. 1

Artikel 37: Staaten mit mehr als einem Rechtssystem – Interpersonale Kollisionsvorschriften Gelten in einem Staat für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zwei oder mehr Rechtssysteme oder Regelwerke für verschiedene Personengruppen, so ist jede Bezugnahme auf das Recht dieses Staates als Bezugnahme auf das Rechtssystem oder das Regelwerk zu verstehen, das die in diesem Staat geltenden Vorschriften zur Anwendung berufen. In Ermangelung solcher Vorschriften ist das Rechtssystem oder das Regelwerk anzuwenden, zu dem der Erblasser die engste Verbindung hatte.

Diese Vorschrift, die identisch in zahlreichen Vorschriften und Über- 1 einkommen existiert, basiert insofern auf dem gleichen Prinzip wie Art. 36 für interlokale Kollisionen, als dass die Lösung der interpersonalen Kollision zuerst in den Vorschriften gesucht werden muss, die in dem durch die Verordnung bezeichneten Staat gelten. Falls solche Vorschriften nicht vorliegen, ist es aber nicht mehr mög- 2 lich, auf die territorialen Kriterien zurückzugreifen, um das anwendbare Recht zu bestimmen. Der Artikel sieht daher nur vor, dass dann das Rechtssystem anwendbar ist, zu dem der Erblasser die engste Verbindung hatte. Diese Verbindung wird nicht definiert, aber es könnte sich anbieten, die Vorschriften jedes Rechtssystems oder jeder personalen Gemeinschaft daraufhin zu überprüfen, ob sie den Erblasser als ihr unterstellt betrachten. Artikel 38: Nichtanwendung dieser Verordnung auf innerstaatliche Kollisionen Ein Mitgliedstaat, der mehrere Gebietseinheiten umfasst, von denen jede ihre eigenen Rechtsvorschriften für die Rechtsnachfolge von Todes wegen hat, ist nicht verpflichtet, diese Verordnung auf Kollisionen zwischen den Rechtsordnungen dieser Gebietseinheiten anzuwenden.

Dieser Artikel ist wie der vorherige in internationalen oder europäi- 1 schen Texten im Bereich des Kollisionsrecht üblich geworden. Der Paul Lagarde

197

Artikel 38, Rn. 2

Sachverhalt, der auf unterschiedliche Gebietseinheiten eines Mitgliedstaats verteilt ist, ist ein interner Sachverhalt dieses Staates. Dieser Staat kann, wenn er will, die Verordnung auf diesen Sachverhalt anwenden, aber sie gilt dann für diesen Staat als interne Regelung. Die Lösung des internen Konflikts durch diesen Staat steht im Einklang mit der Lösung nach Art. 36 Absatz 1, der den Vorschriften des Staates mit pluralistischem Gesetzgebungssystem den Vorrang gibt. 2 Die Freiheit, die Art. 38 dem betroffenen Staat lässt, existiert nur dann,

wenn der Rechtskonflikt „zwischen den Rechtsordnungen dieser Gebietseinheiten“ auftritt. Sofern eine der in Art. 23 erwähnten Fragen außerhalb der Rechtsordnung dieses Staates angesiedelt ist, nimmt der Sachverhalt einen internationalen Charakter an und die Verordnung muss angewendet werden.

Kapitel IV: Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen

Schrifttum Gaudemet-Tallon, Compétence et execution des jugements en Europe, 4. Auflage, L.G.D.J., Paris 2010 Gothot/Holleaux, La Convention de Bruxelles du 27 septembre 1968, Jupiter, Paris 1985 Jenard, La Convention de Bruxelles du 27 septembre 1968, OJ 1979 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Auflage, Verlag Recht und Wirtschaft, Frankfurt a. M. 2005

198

Magnus/Mankowski, Brussels I Regulation, 2nd revised edition, sellier european law publishers, München 2012 Pointier/Burg, EU principles on Jurisdiction and Recognition and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters, T.M.C. Asser Press, Den Haag 2004.

Paul Lagarde

Einl zu Kap. IV, Rn. 1–4; Artikel 39

Einleitung zu Kapitel IV Kapitel IV der Erbverordnung basiert auf Kapitel III der Brüssel-I-Ver- 1 ordnung (EG Nr. 44/2001). Die Brüssel I-Verordnung wiederum beruht auf dem Brüsseler Übereinkommen von 1968 und auf dem LuganoÜbereinkommen von 1988. Deswegen sind Fälle, in denen der Europäische Gerichtshof in Anerkennungs- und Vollstreckungsfragen die Brüssel und Lugano Übereinkommen und die Brüssel I-Verordnung angewendet hat, wichtig in der Auslegung von Kapitel IV der Erbverordnung. Die Brüssel I-Verordnung wurde durch die Brüssel Ia-Verordnung (EU 2 Nr. 1215/2012) ersetzt, die seit dem 10. Januar 2015 gilt. In der „neuen“ Verordnung wurden wesentliche Veränderungen an den Bestimmungen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen vorgenommen. Die wichtigste Änderung beinhaltet, dass eine Entscheidung aus einem Mitgliedstaat automatisch in jedem anderen Mitgliedstaat vollstreckbar ist, ohne dass es einer Erklärung über die Vollstreckbarkeit bedarf. Allerdings kann der Beklagte eine Versagung der Vollstreckung aus den gleichen Gründen wie in der „alten“ Brüssel I-Verordnung beantragen. Die Regelungen zur Anerkennung und Vollstreckung in der Erbverord- 3 nung basieren noch auf der „alten“ Brüssel I-Verordnung und sind nicht von der „neuen“ Brüssel Ia-Verordnung beeinflusst. Ergänzend gibt es natürlich viele interessante Entscheidungen nationa- 4 ler Gerichte, die die genannten Übereinkommen und die Brüssel-I-Verordnung angewendet haben. Allerdings wurden solche Fälle innerhalb dieses Kommentars nur ausnahmsweise zitiert. Artikel 39: Anerkennung (1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. (2) Bildet die Frage, ob eine Entscheidung anzuerkennen ist, als solche den Gegenstand eines Streites, so kann jede Partei, welche die Anerkennung geltend macht, in dem Verfahren nach den Artikeln 45 bis 58 die Feststellung beantragen, dass die Entscheidung anzuerkennen ist. Ulf Bergquist

199

Artikel 39, Rn. 1–3

(3) Wird die Anerkennung in einem Rechtsstreit vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Entscheidung von der Anerkennung abhängt, verlangt, so kann dieses Gericht über die Anerkennung entscheiden.

I. Allgemeines 1 Artikel 39 hat Art. 33 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Eines der größten rechtlichen Probleme bei Erbfällen in der EU war

bisher, dass Entscheidungen eines Mitgliedstaats in den anderen Mitgliedstaaten nicht anerkannt wurden. Die Brüssel I-Verordnung (mit entsprechenden Anerkennungsregeln) ist ausdrücklich nicht auf Erbfälle anwendbar (vgl. Artikel 1 Abs. 2 lit. a Brüssel I-Verordnung). Für Richter, Notare, Anwälte und selbstverständlich auch für die Erben selbst ist Artikel 39 deswegen eine der Kernvorschriften der EU-Erbverordnung. Anerkennung und Vollstreckung beruhen auf dem hohen rechtlichen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.1 3 Drei der EU-Mitgliedstaaten (Vereinigtes Königreich, Irland und Däne-

mark) haben die Erbverordnung nicht angenommen (vgl. Erwägungsgründe 82 und 83). Nach Ansicht des Verfassers müssen diese drei Staaten deswegen im Zusammenhang mit der Erbrechtsverordnung als Drittstaaten angesehen werden. Es wäre vorteilhaft, wenn dies zumindest in den Erwägungsgründen festgestellt wäre. Es erscheint unzumutbar, wenn die Verordnung ein französisches Gericht verpflichten würde, die Entscheidung eines britischen Gerichts anzuerkennen, ein britisches Gericht dagegen aber keine Pflicht hätte, eine französische Entscheidung anzuerkennen.2 Es wäre wünschenswert, dass diese wichtige Frage schnell durch eine Ergänzung der Erwägungsgründe oder durch eine Entscheidung des EuGH geklärt würde.

1 2

Vgl. EuGH, C-414/92, Unibank v Christensen. Vgl. ebenso Lagarde in der Einleitung Rn. 49 und Odersky in Artikel 4 Rn. 12; anderer Ansicht aber Frimston in Artikel 3 Rn. 44.

200

Ulf Bergquist

Artikel 39, Rn. 4–6

II. Absatz 1 Nicht nur streitige sondern auch unstreitige Entscheidungen (wie z.B. 4 ein Vergleich nach Vermittlung) können anerkannt werden.3 Auch Versäumnisurteile sind anerkennungsfähig (siehe Artikel 40 lit. b).4 Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden auto- 5 matisch (ipso iure) in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass dafür ein besonderes Verfahren nötig ist.5 Diese automatische Anerkennung bedeutet jedoch nicht, dass Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten genau gleich wie inländische Entscheidungen behandelt werden. Einer ausländischen Entscheidung kann die Anerkennung versagt werden, wenn einer der in Artikel 40 aufgezählten Gründe einschlägig ist. Die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung kann dabei entweder als Hauptfrage (Art. 39 Abs. 2) oder als Vorfrage (Inzidentanerkennung, Art. 39 Abs. 3) geprüft werden. Automatische Anerkennung bedeutet daher, dass eine ausländische Entscheidung kein besonderes inländisches Anerkennungsverfahren im Vollstreckungsstaat benötigt, sondern nur das Verfahren nach der EU-Erbrechtsverordnung.6 Im Bericht von Jenard gibt es eine Anerkennungsdefinition: „Durch die 6 Anerkennung sollen den Entscheidungen die Wirkungen beigelegt werden, die ihnen in dem Staat zukommen, in dessen Hoheitsgebiet sie ergangen sind.“7 Diese Definition ist vom EuGH zitiert worden.8 Das bedeutet, dass eine Entscheidung, die in einem anderen Staat ergangen ist, rechtliche Wirkungen beinhalten kann, die es im Rechtssystem des Vollstreckungsstaats nicht gibt.9 Die einzige inhaltliche Begrenzung liegt in der ordre public-Regel des Art. 40 lit. a.10

3 4 5 6 7 8 9 10

Gaudemet-Tallon, S. 388 f. Gaudemet-Tallon, S. 389. Gaudemet-Tallon, S. 391. Magnus/Mankowski, S. 639 f. Jenard, No. C 59/43. Hoffman v Krieg (C-145/86). Gaudemet-Tallon, S. 367–368 und 392–393. Magnus/Mankowski, S. 637.

Ulf Bergquist

201

Artikel 39, Rn. 7–10

7 Wenn das Vollstreckungsgericht die Wirkungen der ausländischen Ent-

scheidung beurteilt, hat es sich genau an die Bestimmungen der Entscheidung zu halten. Weitere Beweise können vorgelegt werden, um diese Bestimmungen zu verdeutlichen, aber der Kern der ausländischen Entscheidung darf nicht ergänzt werden.11 8 Die Anerkennung hat zwei verschiedene Wirkungen, eine positive und

eine negative:12 Die positive Wirkung besteht in der Feststellung der Rechte und Pflichten der Parteien;13 z.B. kann ein schwedisches Gericht entscheiden, wer von den Erben der neue Eigentümer der Wohnung des Verstorbenen in Spanien wird. Die negative Wirkung (res judicata) bedeutet, dass ein Gericht in einem Mitgliedstaat nicht nochmals eine Sache prüfen darf, die schon von einem Gericht in einem anderen Mitgliedstaat entschieden wurde.14

III. Absatz 2 9 Es gibt zwei Möglichkeiten, die Anerkennung eines ausländischen Ur-

teils festzustellen: entweder als Hauptfrage (Art. 39 Abs. 2) oder als Vorfrage (Art. 39 Abs. 3). Letzteres wird wahrscheinlich der gewöhnlichste Weg sein, z.B. im Rahmen eines Vollstreckungsantrags.15 Doch manche Urteile sind ihrer Art nach nicht vollstreckbar (z.B. wenn es sich um ein Feststellungsurteil handelt), so dass deren Anerkennung ggf. nur in einem Hauptsacheverfahren bestätigt werden kann.16 10 Im Bericht von Jenard heißt es, dass Artikel 39 Abs. 2 nur eine positive

Anerkennungserklärung ermögliche, nicht jedoch eine Nichtanerkennungserklärung.17 Das scheint auch dem Wortlaut der Regelung zu entsprechen (vgl. anders Artikel 21 Abs. 3 Brüssel IIa-Verordnung, der die Möglichkeit einer Nichtanerkennungserklärung ausdrücklich vorsieht). Diese Auffassung ist jedoch nicht unumstritten. Im Hinblick darauf, 11 12 13 14 15 16 17

Magnus/Mankowski, S. 638. Gaudemet-Tallon, S. 391 f. Magnus/Mankowski, S. 636. Gaudemet-Tallon, S. 392; De Wolf v Cox (C-42/76). Kropholler, S. 405. Magnus/Mankowski, S. 640. Jenard, Report No. 59/49.

202

Ulf Bergquist

Artikel 39, Rn. 11–13

dass der Text der Verordnung nicht ausdrücklich eine Nichtanerkennungserklärung verbietet, wurde vorgeschlagen, dass eine solche Erklärung nach dem nationalen Recht des Anerkennungsgerichts zulässig bleibt.18 Um die Anerkennungserklärung zu erlangen, muss der Antragsteller das Verfahren nach den Artikeln 45 bis 58 betreiben. Dieses Verfahren ist aber nur für Entscheidungen von Gerichten der Mitgliedstaaten anwendbar.19 Das Verfahren wird ausschließlich ex parte geführt.20 Der Text der Ver- 11 ordnung verwendet dazu den Begriff „jede Partei“. Nach dem Bericht von Jenard bedeutet dies, dass jede Person, die Vorteile aus dem Ursprungsurteil haben kann, das Recht hat, einen Antrag zur Anerkennungserklärung zu stellen.21 Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf dabei nicht sein nationales Recht verwenden, um den Begriff „jede Partei“ zu definieren. Vielmehr muss der Begriff autonom ausgelegt und dabei wohl im Sinne einer breiten Definition verwendet werden.22 Auch der Rechtsnachfolger einer Ursprungspartei (z.B. ein Erbe) oder ein Dritter kann daher als „jede Partei“ betrachtet werden.23 Der Begriff „Gegenstand eines Streites“ darf nicht so eng ausgelegt wer- 12 den, dass die Anerkennung ausdrücklich bestritten sein muss.24 Es kann ausreichend sein, dass die Gegenpartei sich unvereinbar mit dem Ursprungsurteil verhalten hat. Der „Streit“ muss aber zumindest eine gewisse praktische Bedeutung haben. Es ist nicht ausreichend, dass der Antragsteller bloße Zweifel äußert, ob das Ursprungsurteil anerkannt wird.25 Es ist auch möglich, eine Teilanerkennung zu erlangen (vgl. Art. 55). 13 18 19 20 21 22 23 24 25

TGI Paris court 120 (1993), 599; Lagarde, RCDIP 78 (1989), 534 537. EuGH, C-129/92, Owes v Bracco. Magnus/Mankowski, S. 640. Jenard, Report No. 59/49. Gaudemet-Tallon, S. 460. Magnus/Mankowski, S. 641 f.; Kropholler, S. 403. Kropholler, S. 403. Magnus/Mankowski, S. 642.

Ulf Bergquist

203

Artikel 39, Rn. 14, 15

Ein Teil der Entscheidung kann beispielsweise gegen einen der Nichtanerkennungsgründe des Artikel 40 verstoßen, ohne dass dies die ganze Entscheidung betrifft. Ferner kann ein Antragsteller seinen Antrag auf einen Teil der Ursprungsentscheidung begrenzen.26 Wenn z.B. die Entscheidung eines schwedischen Gerichts in einer Erbsache sowohl Vermögensgegenstände in Schweden als auch in Spanien betrifft, ist eine Anerkennung in Spanien natürlich nur für den Teil relevant, der sich mit dort gelegenen Vermögensgegenständen befasst.

IV. Absatz 3 14 Nach Artikel 39 Abs. 3 kann ein Gericht eine ausländische Entschei-

dung in einer Erbsache inzident anerkennen, z.B. im Rahmen eines Vollstreckungsantrags oder in einem Rechtsstreit, bei dem es um die Hauptfrage geht, wer der richtige Eigentümer eines Vermögensgegenstands ist, der sich im Anerkennungsstaat befindet. Das Anerkennungsgericht hat dabei das Recht, inzident sowohl ratione materiae als auch ratione loci zu entscheiden.27 Das bedeutet, dass das Anerkennungsgericht auch in einem Rechtsbereich, in dem es keine sachliche Zuständigkeit hätte (ratione materiae), inzident über die Anerkennung entscheiden kann. Auch wenn z.B. das Anerkennungsgericht eine Strafkammer ist, die Entscheidung, die anerkennt werden soll, aber zu den Zivilverfahren gehört, hat die Kammer das Recht, nach Artikel 39 Abs. 3 inzident über die Anerkennung zu entscheiden. Das gleiche gilt, wenn das Anerkennungsgericht in der Regel keine örtliche Zuständigkeit hätte (ratione loci), weil z.B. die Gegenpartei keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsgebiet des Anerkennungsgerichts hat; auch in diesem Fall kann das Gericht nach Artikel 39 Abs. 3 inzident über eine Anerkennungsfrage entscheiden. 15 Hat ein Gericht in einem Rechtsstreit, der in der Hauptsache etwas an-

deres betrifft, eine ausländische Entscheidung in einer Erbsache inzident anzuerkennen, muss es, wenn die Gegenpartei das verlangt, unmittelbar die Nichtanerkennungsgründe nach Artikel 40 prüfen.28 Aus diesem Grund enthält Artikel 39 Abs. 3 im Unterschied zu Absatz 2 26 27 28

Magnus/Mankowski, S. 644. Gothot/Holleaux, Rn. 388. Magnus/Mankowski, S. 643.

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Ulf Bergquist

Artikel 39, Rn. 16; Artikel 40

keinen Hinweis auf die Verfahrensregeln der Artikel 45–58. Wenn das Hauptsacheverfahren in der Vollstreckung der Entscheidung besteht, werden die Nichtanerkennungsgründe des Artikel 40 vom Gericht aber erst dann geprüft, wenn die Gegenpartei einen Rechtsbehelf gemäß Artikel 50 gegen die Vollstreckbarerklärung nach Artikel 48 eingelegt hat. Unsicher beurteilt wird die Frage, ob eine inzidente Entscheidung 16 rechtskräftig wird. Die allgemeine Meinung scheint zu sein, dass ein Gericht, das über eine Anerkennung oder eine Vollstreckbarerklärung entscheiden soll, nicht an eine inzidente Bewilligung oder Ablehnung der Anerkennung durch ein anderes Gericht in derselben Sache gebunden ist.29 Dies gilt besonders, wenn die zweite Anerkennung in einem anderen Staat als in dem, dessen Gerichte über die erste Anerkennung entschieden haben, beantragt wird. Artikel 40: Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn a) die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaats, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde; b) dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat die Entscheidung nicht angefochten, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte; c) sie mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die in einem Verfahren zwischen denselben Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist; d) sie mit einer früheren Entscheidung unvereinbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat in einem Verfahren zwischen denselben Parteien wegen desselben Anspruchs ergangen ist, sofern die frühere Entscheidung die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, erfüllt.

29

Kropholler, S. 405.

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205

Artikel 40, Rn. 1–5

I. Allgemeines 1 Artikel 40 hat Artikel 34 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Im Hinblick auf die Rechtsgarantien der Gegenpartei im Ursprungsver-

fahren sind die Regeln für die Anerkennung und Vollstreckung sehr liberal. Die Verordnung hat das Ziel, die Freizügigkeit der Entscheidungen so weit wie möglich zu erleichtern, und soll vor diesem Hintergrund ausgelegt werden.1 3 Die Nichtanerkennungsgründe sind aber zwingend. Anerkennung oder

Vollstreckung muss versagt werden, wenn einer der aufgeführten Gründe einschlägig ist. Der Richter des Anerkennungsgerichts hat in diesem Fall keinen Entscheidungsspielraum.2 4 Sofern die Erbverordnung anwendbar ist, werden alle Fragen der An-

erkennung und Vollstreckung ausschließlich von deren Regeln bestimmt, und zwar unabhängig davon, ob das Ergebnis positiv oder negativ ist. Eine ergänzende Anwendung nationalen Rechts ist daneben ausgeschlossen.3 5 Wann darf oder kann der Richter des Anerkennungsgerichts einen

Nichtanerkennungsgrund von Amts wegen beachten? In der ersten Phase untersagt Artikel 48 ausdrücklich jede solche Initiative des Richters. In der zweiten Phase, wenn die Gegenpartei bereits einen oder mehrere der Nichtanerkennungsgründe vorgebracht hat, kann diese Frage manchmal von praktischer Bedeutung werden. Der Richter kann dabei nämlich einen Verstoß gegen einen weiteren Nichtanerkennungsgrund, den die Gegenpartei nicht gerügt hat, finden. Das Verbot des Artikel 48 ist in dieser zweiten Phase aber nicht mehr einschlägig, so dass der Richter solche weiteren Nichtanerkennungsgründe von Amts wegen beachten kann.4 Der erklärende Bericht macht aber

1 2 3 4

Jenard, No. C 59/42. Magnus/Mankowski, S. 648. Magnus/Mankowski, S. 649. Magnus/Mankowski, S. 650.

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Artikel 40, Rn. 6–8

deutlich, dass den Richter keinerlei Pflicht trifft, einzelne Nichtanerkennungsgründe von Amts wegen zu prüfen.5 Beweislastfragen werden aber von der Möglichkeit des Richters, Aner- 6 kennungsgründe von Amts wegen zu prüfen, nicht berührt. Der Schlosser-Bericht stellt fest, dass der Richter nicht die Pflicht hat, Tatsachen, die für oder gegen die Anerkennung sprechen, zu ermitteln, auch wenn er zuvor von Amts wegen auf einen Nichtanerkennungsgrund hingewiesen hat. Als eine Folge der Anerkennungsvermutung ist es ausschließlich die Obliegenheit der Gegenpartei, die Tatsachen zu beweisen, die für eine Anerkennungsversagung sprechen.6

1. Lit. a: Ordre public/öffentliche Ordnung Ordre public ist ein Begriff, der von jedem Staat separat definiert wird.7 7 Es gibt weder eine allgemeine Definition des ordre public in der Erbrechtsverordnung, noch wurde eine solche vom EuGH vorgenommen.8 Deshalb ist es Aufgabe des Anerkennungsgerichts zu entscheiden, ob eine bestimmte Entscheidung nach seinem nationalen Recht gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Der EuGH wacht jedoch über die Grenzen, innerhalb derer sich ein staatliches Gericht auf diesen Begriff stützen darf.9 Deshalb wird es für nationale Gerichte schwer sein, völlig verschiedene Auslegungen des ordre public-Begriffs vorzunehmen.10 Es ist wichtig, die beiden Begriffe „ordre public“ und „lois de police“ 8 nicht zu vermischen. Die Begriffe dienen unterschiedlichen Zwecken und schützen verschiedene Rechtsgrundsätze. Die Grundsätze, die vom „ordre public“ umfasst sind, sind fundamentaler als die, die vom „lois de police“ geschützt werden.11 5 6 7 8 9

10 11

Vorschlag der Kommission KOM (1999) 348, S. 21–22. Magnus/Mankowski, S. 651. Gaudemet-Tallon, S. 423. Renault v Maxicar (C-38/98). Magnus/Mankowski, S. 648; Kropholler, S. 408; Krombach v Bamberski (C-7/ 98). Magnus/Mankowski, S. 675. Magnus/Mankowski, S. 665.

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Artikel 40, Rn. 9–11

9 Der ordre public-Vorbehalt soll nur ausnahmsweise in außergewöhnli-

chen Fällen verwendet werden,12 wenn die Ursprungsentscheidung in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Anerkennungsstaats steht.13 Das wird mit der Verwendung des Worts „offensichtlich“ unterstrichen. 10 Es sind dabei nur die Wirkungen der Anerkennung, die im Hinblick auf

den ordre public-Vorbehalt zu prüfen sind, nicht jedoch die Frage, ob die Ursprungsentscheidung als solche der öffentlichen Ordnung widerspricht.14 Diese Wirkungen müssen ferner einen solchen ernsthaften Grad erreichen, dass eine Anerkennung einen untragbaren Verstoß gegen die inländische Rechtsordnung beinhalten würde.15 In allgemeinen Zivilsachen (d.h. dem Umfang der Brüssel I-Verordnung) sind die rechtlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten selten so erheblich, dass eine Entscheidung gegen die öffentliche Ordnung verstoßen wird.16 Das Risiko eines Widerspruchs mag etwas größer in Familien-17 und Erbrechtssachen sein. Nach Ansicht des Verfassers ist es jedoch in keinem Fall ein Verstoß gegen den ordre public, wenn der Ursprungsstaat andere Pflichtteilsregeln als der Anerkennungsstaat hat oder sogar gar keinen Pflichtteil kennt. Abweichende Pflichtteilsergänzungsregeln im Ursprungsstaat (d.h. eine frühere Schenkung ist unter gewissen Voraussetzungen im Pflichtteil fiktiv zu berücksichtigen oder sogar rückgängig zu machen, wenn diese den Pflichtteil verringert hat) sollten nicht als Widerspruch zur öffentlichen Ordnung betrachtet werden. 11 Das Anerkennungsgericht darf auf keinen Fall den ordre public-Vorbe-

halt nutzen, um den materiellen Gehalt der Ursprungsentscheidung zu prüfen.18 Deshalb ist eine Überprüfung, ob das Ursprungsgericht den Fall rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat, nicht gestattet.19 Nicht jede Abweichung vom inländischen Recht führt also zu einem 12 13 14 15 16 17 18 19

Jenard, No. C 59/44; Hoffman v Krieg (C-145/86). Kropholler, S. 408; Krombach v Bamberski (C-7/98). Magnus/Mankowski, S. 663. Magnus/Mankowski, S. 660; Krombach v Bamberski (C-7/98). Magnus/Mankowski, S. 662. Gaudemet-Tallon, S. 414. Magnus/Mankowski, S. 662; Krombach v Bamberski (C-7/98). Magnus/Mankowski, S. 662; Kropholler, S. 408.

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Artikel 40, Rn. 12, 13

Widerspruch mit der öffentlichen Ordnung.20 Wenn z.B. die Kollisionsregeln, die vom Ursprungsgericht angewandt wurden, von den Regeln, die das Anerkennungsgericht angewandt hätte, abweichen, ist das kein Verstoß gegen den ordre public.21 Selbst wenn eine nationale Kollisionsregel angewendet wurde, die einem Grundsatz der EU widerspricht, ist es keineswegs sicher, dass der ordre public-Vorbehalt erhoben werden darf.22 Auch ein behaupteter Fehler in der Würdigung des anwendbaren Rechts darf nicht zu einer Intervention aufgrund des ordre public führen, selbst wenn dieses das Recht des Anerkennungsstaats oder europäisches Recht ist.23 Auch wenn das Ursprungsgericht gegen Zuständigkeitsregeln verstößt, kann dies nach Ansicht des Verfassers nicht zu einer Versagung der Anerkennung führen, auch wenn die Erbrechtsverordnung keine dem Artikel 35 Abs. 3 Brüssel I-Verordnung entsprechende Regelung enthält. Der Versagungsgrund „ordre public“ ist ausgeschlossen, soweit der Ge- 12 genstand in den Spezialvorschriften der lit. b-d geregelt ist. Die Versagungsgründe überschneiden sich also nicht.24 Die öffentliche Ordnung hat nicht nur eine materielle sondern auch 13 eine verfahrensrechtliche Seite. Ein offensichtlicher Verstoß gegen rechtliche Grundsätze kann auch in Verfahrensfragen vorkommen.25 Selbstverständlich darf aber ein schlichter Unterschied im Verfahren nicht als eine Verletzung der öffentlichen Ordnung betrachtet werden.26 Die Möglichkeit, eine Anerkennungsversagung wegen eines ordre public-Verstoßes im Verfahren zu erreichen, wird ferner stark eingeschränkt sein, wenn die betroffene Partei im Ursprungsstaat einen

20 21 22 23 24 25 26

Magnus/Mankowski, S. 662; Kropholler, S. 408; Renault v Maxicar (C-38/98). Magnus/Mankowski, S. 664; Krombach v Bamberski (C-7/98). Magnus/Mankowski, S. 666. Gaudemet-Tallon, S. 413; Magnus/Mankowski, S. 663. Magnus/Mankowski, S. 661; Kropholler, S. 410; Hoffman v Krieg (C-145/86). Magnus/Mankowski, S. 622. Magnus/Mankowski, S. 670.

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Artikel 40, Rn. 14, 15

Rechtsbehelf gegen den Verfahrensfehler hätte einlegen können, aber keinen guten Grund anführen kann, warum sie dies nicht getan hat.27 14 Im Fall Krombach v Bamberski hat Herr Krombach verweigert, vor dem

französischen Gericht zu erscheinen, obwohl er korrekt vorgeladen war. Das französische Gericht hatte ihm verboten, sich von einem Rechtsanwalt vertreten zu lassen. Nachdem Herr Bamberski die Vollstreckung des Urteils in Deutschland beantragte, durfte die Anerkennung nach Ansicht des EuGH verweigert werden, da es gegen den deutschen ordre public verstößt, jemand den rechtlichen Vertreter zu verweigern.28 In dem ähnlichen Fall Gambazzi v Daimler Chrysler hat Herr Gambazzi eine „disclosure order“ (eine Aufforderung, wichtige Schriftstücke vorzulegen) des High Court in London missachtet. Herr Gambazzi hat auch nicht einer „unless order“ (eine „Wenn-nicht-Weisung“) gehorcht. Der High Court hat dieses Verhalten als „contempt of court“ (Missachtung des Gerichts) gewertet und gegen ihn entschieden, als wenn er sich nicht auf das Verfahren eingelassen hätte (d.h. im Ergebnis ähnlich wie bei einem Versäumnisurteil). Daimler Chrysler hat Vollstreckung in Italien beantragt. Der EuGH sah die Entscheidung des High Court jedoch als eine offensichtliche und unverhältnismäßige Verletzung des rechtlichen Gehörs an, und hat sich auf den Fall Krombach bezogen.29 15 Der EuGH hat ferner festgestellt, dass eine sog. „Antisuit injunction“

(eine Gerichtsentscheidung im common law, die einen weiteren Prozess in derselben Sache oder in einer verknüpften Angelegenheit vor einem anderen Gericht verbietet, um Missbrauch von rechtstaatlichen Regeln zu verhindern) mit dem ordre public nicht vereinbar ist. Grund dafür ist, dass eine Gerichtsentscheidung in einem Mitgliedstaat, die ein Gerichtsverfahren in einem anderen Mitgliedstaat verbietet, eine unannehmbare Einmischung in die Gerichtsbarkeit des Zweitgerichts darstellt.30

27 28 29 30

Magnus/Mankowski, S. 661 und 671 f. Krombach v Bamberski (C-7/98). Gambazzi v Daimler Chrysler (C-394/07). Magnus/Mankowski, S. 672; Turner v Grovit (C-159/02).

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Artikel 40, Rn. 16–19

Andererseits hat der französische Court de Cassation eine sog. „Mareva 16 injunction“ (eine Gerichtsverfügung im common law, die verhindern soll, dass die Gegenpartei ihre Vermögensgegenstände in ein anderes Land schafft, bevor ein Urteil in der Hauptsache gesprochen ist) als zulässige Maßnahme des einstweiligen Rechtsschutzes angesehen, die weder die Grundrechte der Gegenpartei noch die Souveränität eines anderen Landes beeinträchtigt.31 In der Sache Maronier v Larmer wurde in den Niederlanden ein Ver- 17 fahren nach zwölf Jahren Aussetzung wieder aufgenommen. Der Gegenpartei wurde ursprünglich zu Prozessbeginn, d.h. zwölf Jahre zuvor, die Klage korrekt zugestellt. Sie war jedoch zwischenzeitlich nach England umgezogen und hatte den Kontakt zu ihrem Rechtsanwalt verloren. Sie wurde deswegen nie über die Wiederaufnahme informiert, obwohl sie ihre neue englische Anschrift der Stadtverwaltung in Rotterdam gemeldet hatte. Der englische Court of Appeal hat schließlich die Vollstreckung aus dem niederländischen Versäumnisurteil wegen eines Verstoßes gegen den ordre public verweigert, da es sich um kein „faires“ Verfahren handelte.32 Nach französischer Rechtsprechung kann eine Entscheidung dem ordre 18 public widersprechen, wenn die Entscheidung keine Begründung enthält und keine andere Unterlagen vorgelegt werden, welche die fehlende Begründung ersetzen können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einigen Fällen die gleiche Meinung vertreten.33 Wenn die obsiegende Partei, der die Anerkennung zu Gute käme, die 19 Entscheidung im Ursprungsstaat durch einen Prozessbetrug erlangt hat, kann das Anerkennungsgericht die Anerkennung verweigern.34 Wenn aber der behauptete Prozessbetrug schon vom Ursprungsgericht geprüft wurde, ist dies untersagt.35 Eine solche Verweigerung wäre ein Verstoß gegen das Verbot, ausländische Entscheidungen zu überprüfen (Artikel 41). 31 32 33 34 35

Magnus/Mankowski, S. 672. Magnus/Mankowski, S. 671. Gaudemet-Tallon, S. 421; Kropholler, S. 413. Schlosser, Report, Rn. 192. Gaudemet-Tallon, S. 422.

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Artikel 40, Rn. 20, 21

Auch wenn der Prozessbetrug erst nach Erlass der Entscheidung im Ursprungsverfahren entdeckt wurde, die Gegenpartei aber noch die Möglichkeit gehabt hätte, einen Rechtsbehelf im Ursprungsstaat einzulegen, darf die Anerkennung nicht verweigert werden.36 Eine schwierigere Frage stellt sich, wenn im Ursprungsstaat noch die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs eröffnet ist. Eine Aussetzung des Anerkennungsverfahrens nach Artikel 42 ist nur möglich, wenn dieser Rechtsbehelf bereits eingelegt wurde. Vermutlich muss in diesem Fall die Entscheidung zunächst anerkannt werden,37 wobei die Gegenpartei dann die Möglichkeit zu einer Aussetzung des Anerkennungsverfahrens hat, wenn sie die Aussetzung der Vollstreckbarkeit im Ursprungsstaat erreicht hat (Artikel 53). Wenn eine Partei umgezogen ist, um den Ursprungsrichter über das maßgebliche Anknüpfungsmerkmal zu täuschen, kann dieser „Prozessbetrug“ nicht wegen der ordre public-Grundsätze zu einer Anerkennungsverweigerung führen. Das folgt aus dem Verbot für das Anerkennungsgericht, die Würdigung des Ursprungsgerichts, welches Recht anwendbar ist, zu überprüfen.38 20 In der Republik Zypern hat ein Gericht entschieden, dass ein britischer

Beklagter Miete für ein Haus, das im nördlichen Teil der Insel (der von der Türkei kontrolliert wird) lag, bezahlen sollte. Das Haus gehörte vor der Besetzung im Jahr 1974 einer Familie, die zum Verlassen des Hauses genötigt wurde. Obwohl es um eine Entscheidung bezüglich einer Immobilie ging, die in einem Gebiet außerhalb der Kontrolle der Republik Zypern lag, hat der EuGH entschieden, dass das Vereinigte Königreich nicht die Anerkennung verweigern durfte, da die Ursprungsentscheidung nicht gegen die öffentliche Ordnung im Vereinigten Königreich verstieß.39 21 Im Bereich des Erbrechts kann nach Ansicht des Verfassers der ordre

public insbesondere dann ein Versagungsgrund sein, wenn eine Entscheidung auf einem Gesetz basiert, das nicht die gleichen Rechte für 36 37 38 39

Magnus/Mankowski, S. 666. Magnus/Mankowski, S. 667; Gaudemet-Tallon, S. 423. Gaudemet-Tallon, S. 423. Apostolides v Orams (C-420/07).

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Artikel 40, Rn. 22–26

Männer und Frauen oder für Personen unterschiedlicher Religionen vorsieht.

2. Lit. b: Verletzung des rechtlichen Gehörs Die Verordnung versucht eine faire Balance, um auf der einen Seite den 22 Anspruch der Gegenpartei auf rechtliches Gehör zu gewährleisten, auf der anderen Seite aber einen vereinfachten Weg für den Antragsteller zur Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen in der ganzen EU zu erreichen.40 Das Anerkennungsgericht ist nicht an die Auffassung des Ursprungs- 23 gerichts gebunden, wenn es feststellen soll, ob die Voraussetzungen des Artikel 40 lit. b vorliegen.41 Das Anerkennungsgericht hat auch das Recht zu überprüfen, ob die Informationen in der Bescheinigung (Artikel 46 Abs. 3 lit. b) mit den tatsächlichen Beweisen übereinstimmen.42 Artikel 40 lit. b gibt dem Gericht aber nicht das Recht, die Anerkennung aus anderen Gründen, die zu den in diesem Artikel ausdrücklich aufgenommenen ähnlich sind, zu versagen.43 Der EuGH hat den Voraussetzungen dieses Absatzes eine eher funktio- 24 nelle (statt einer bloß formellen) Bedeutung gegeben, indem er festgestellt hat, dass die Gegenpartei die Möglichkeit gehabt haben muss, sich gegen die Klage zu verteidigen.44 Artikel 40 lit. b ist nur auf Entscheidungen in einem kontradiktorischen 25 Verfahren (d.h. nicht auf rein einseitige Verfahren) anzuwenden. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass Entscheidungen, bei denen sich die Gegenpartei nicht geäußert hat, ausgeschlossen wären.45 Artikel 40 lit. b gewährleistet nicht nur die Rechte einer Gegenpartei, 26

40 41 42 43 44 45

Gaudemet-Tallon, S. 425. Pendy v Pluspunkt (C-228/81). Trade Agency v Seramico (C-619/10). Hengst v Campese (C-474/93). Magnus/Mankowski, S. 676; Hengst v Campese (C-474/93). Magnus/Mankowski, S. 676 und 679; Denilauer v Couchet (C-125/79).

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Artikel 40, Rn. 27–30

die ihren Wohnsitz in der EU hat, sondern auch die eines Antragsgegners, der in einem Drittstaat wohnt.46 27 Gemäß dem EuGH sind die Begriffe des Artikels 40 lit. b autonom aus-

zulegen, so dass sie weder vom nationalen Recht des Ursprungsstaats noch von dem des Anerkennungsstaats bestimmt werden. Entscheidend für die Auslegung ist die funktionelle Gewährleistung des rechtlichen Gehörs der Gegenpartei gegenüber der Freizügigkeit von Gerichtsentscheidungen.47 28 Als Richtschnur für den Begriff „auf das Verfahren nicht eingelassen

hat“ dient der Fall, in dem sich die Gegenpartei eingelassen hat, weil ihr Rechtsanwalt Argumente vor dem Ursprungsgericht vorgetragen hat, die zeigen, dass sie tatsächlich Kenntnis von dem Verfahren erlangt und einen ausreichenden Zeitraum zur Vorbereitung der Verteidigung gehabt hat.48 Wenn sich die Gegenpartei aber darauf beschränkt hat, den Fortgang des Verfahrens zu rügen, weil das Gericht unzuständig sei, oder weil die Zustellung nicht so erfolgt sei, dass sie sich verteidigen könne, darf dieses Vorbringen nach dem Sinn des Artikel 40 lit. b nicht als „Einlassung“ betrachtet werden.49 29 Die Gegenpartei hat sich außerdem nicht auf das Verfahren eingelassen,

wenn ein von ihr nicht beauftragter Rechtsanwalt erscheint und behauptet, die Gegenpartei zu vertreten.50 30 Der Begriff „ein gleichwertiges Schriftstück“ kann einen deutschen

Mahnbescheid umfassen, auch wenn er vom Gericht im Rahmen eines einseitigen Verfahrens der Gegenpartei zugestellt wird. Die Zustellung des Mahnbescheids gibt dem Kläger die Möglichkeit, eine vollstreckbare Entscheidung zu erhalten, wenn die Gegenpartei dies nicht innerhalb einer bestimmten Frist bei Gericht rügt. In dieser Weise wird das ursprüngliche einseitige Verfahren kontradiktorisch. Hingegen wird ein deutscher Vollstreckungsbescheid nicht als ein „verfahrenseinleitendes 46 47 48 49 50

Gaudemet-Tallon, S. 428. Gaudemet-Tallon, S. 427. Sonntag v Waidmann (C-172/91). Kropholler, S. 418–419; Hendrikman v Magenta (C-123/91). Kropholler, S. 419.

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Artikel 40, Rn. 31–33

Schriftstück“ betrachtet. Zwar kann sich die Gegenpartei gegen diesen noch wehren, aber der Vollstreckungsbescheid wurde nicht zugestellt, bevor der Antragsteller einen vollstreckbarer Titel erlangte.51 Die Zustellung an die Gegenpartei kann entweder auf gewöhnliche Art 31 (persönlich oder in ihrer Wohnung) oder im Wege einer Substitutionszustellung erfolgen.52 Bei einer Substitutionszustellung (wenn z.B. das Schriftstück auf dem öffentlichen Anschlagbrett des Gerichts ausgehängt wird) muss der Kläger oder der Richter alle zumutbaren weiteren Maßnahmen treffen, um den Beklagte persönlich zu erreichen. Der Zeitraum, den die Gegenpartei zur Vorbereitung ihrer Verteidigung benötigt, beginnt erst mit Erfüllung dieser weiteren Maßnahmen.53 Solche weiteren Maßnahmen sind in der EU-Zustellungsverordnung (EG) 1393/2007 Artikel 19 Abs. 2 lit. c und Artikel 15 Haager Zustellungsabkommen von 1965 genannt. Der EuGH hat festgestellt, dass das Anerkennungsgericht außergewöhnliche Tatsachen oder Umstände, die nach der Zustellung eingetreten sind, ebenfalls berücksichtigen kann. Ein späterer Umstand kann z.B. sein, dass der Kläger nach der öffentlichen Zustellung eine neue Adresse des Beklagten erfahren hat.54 Dem Beklagten muss ein ausreichender Zeitraum zur Verfügung ste- 32 hen, um seine Verteidigung vorbereiten zu können. Ob der Zeitraum ausreichend ist, ist eine Wertung tatsächlicher Art des Anerkennungsgerichts. Er ist dabei weder an die Prozessregeln des Ursprungsstaats noch an die des Vollstreckungsstaats gebunden.55 Die Zeit fängt von dem Tag zu laufen an, an dem der Beklagte das 33 Schriftstück tatsächlich erhalten hat oder zu dem vermutet wird, dass er das Schriftstück erhalten hat (Substitutionszustellung). Maßgeblich für die Bestimmung der Rechtzeitigkeit ist ferner nicht die vom Gericht gesetzte Einlassungsfrist, sondern der bis zum tatsächlichen Erlass der

51 52 53 54 55

Magnus/Mankowski, S. 677; Klomps v Michel (C-166/80). Gaudemet-Tallon, S. 432. Gaudemet-Tallon, S. 431. Kropholler, S. 423; Debaecker v Bouwman (C-49/84). Kropholler, S. 422; Gaudemet-Tallon, S. 431.

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Artikel 40, Rn. 34–38

Säumnisentscheidung abgelaufene Zeitraum, innerhalb dessen der Beklagte den Erlass der Entscheidung noch hätte verhindern können.56 34 Das OLG Düsseldorf hat dazu entschieden, dass neun Tage ein zu kur-

zer Zeitraum sind.57 35 Das Schriftstück muss nicht nur rechtzeitig zugestellt werden, sondern

auch in einer Weise, die eine faire Verteidigung ermöglicht. Die Regeln der EU-Zustellungsverordnung und des Haager Zustellungsabkommens können bei der Bewertung der verlangten Qualität der Zustellung behilflich sein, z.B. kann der Bedarf einer Übersetzung einen verlängerten Zeitraum nötig machen.58 36 Ein bloßer formaler Zustellungsfehler im Ursprungsstaat steht einer

Anerkennung nicht entgegen, sofern der Beklagte dadurch nicht tatsächlich an seiner Verteidigung gehindert wurde.59 37 Wenn aber überhaupt keine Zustellung erfolgt ist, wird die Anerken-

nung versagt, auch wenn die Gegenpartei Kenntnis von der Klage hatte.60 38 Der Inhalt des Schriftstücks muss so präzise sein, dass der Beklagte über

die Elemente des Rechtsstreits in Kenntnis gesetzt wird. Das bedeutet, dass die wesentlichen Klagegründe ebenso wie der Zeitpunkt und der Ort des ersten Gerichtstermins mitgeteilt werden müssen. Eine genaue Bezifferung des Anspruchs wird man jedenfalls dann nicht verlangen dürfen, wenn der Beklagte aufgrund des Schriftstücks zumindest die zu erwartende Höhe abschätzen kann. Das Schriftstück muss auch nicht die tatsächlichen Umstände, Beweise und Gesetzesbegründung enthalten.61

56 57 58 59 60 61

Magnus/Mankowski, S. 684. Magnus/Mankowski, S. 685. OLG Düsseldorf (2002) I.L. Pr. 4. Magnus/Mankowski, S. 686; Kropholler, S. 425. Magnus/Mankowski, S. 682. Magnus/Mankowski, S. 686; Sonntag v Waidmann (C-172/91); Kropholler, S. 420.

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Ulf Bergquist

Artikel 40, Rn. 39–43

Der Beklagte muss ggf. einen Rechtsbehelf gegen ein Versäumnisurteil 39 im Ursprungsstaat einlegen. Wenn er das nicht rechtzeitig getan hat, verliert er die Möglichkeit, sich der Anerkennung zu widersetzen. Das zwingt den Beklagten dazu, alle Rechtsbehelfswege (ordentliche und außerordentliche) des Ursprungsstaates auszuschöpfen, um das Versäumnisurteil aufheben zu lassen.62 Wenn der Beklagte das Ursprungsurteil nur aus materiellen Gründen 40 angefochten hat, ohne zugleich zu behaupten, dass ein Verfahrensfehler erfolgt ist, der ihn an seiner Verteidigung gehindert hat, kann er sich nicht mehr der Anerkennung wegen Verletzung seines rechtlichen Gehörs widersetzen.63 Artikel 40 lit. b ist nicht anwendbar, wenn der Beklagte Einspruch ge- 41 gen ein Versäumnisurteil eingelegt hat, aber das Gericht des Urteilsstaates den Einspruch verworfen hat, weil die Einspruchsfrist abgelaufen ist. In diesem Fall hatte der Beklagte die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf einzulegen, verpasst.64 Der EuGH hat dazu in einer umstrittenen Entscheidung gefordert, dass 42 das Versäumnisurteil dem Beklagten zugestellt werden müsse, um ihm zu ermöglichen, das Versäumnisurteil rechtzeitig im Ursprungsstaat anzufechten. Hintergrund des entschiedenen Falls war, dass die Ladung dem Beklagten erst nach dem Termin zugestellt worden war.65

3. Lit. c: Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung aus dem Anerkennungsstaat Artikel 40 lit. c steht im Zusammenhang mit der Rechtshängigkeitsvor- 43 schrift des Artikel 17 (lis pendens) und mit Artikel 18 über „Im Zusammenhang stehende Verfahren“. Die Artikel 17 und 18 sind darauf gerichtet, Verfahren in Sachen, die identisch oder zusammenhängend sind, vor Gerichten in zwei Mitgliedstaaten zu verhindern.66 Nach Ar62

63 64 65

Magnus/Mankowski, S. 688 f.; Gaudemet-Tallon, S. 436; Apostolides v Orams (C-420/07). Magnus/Mankowski, S. 689. Magnus/Mankowski, S. 689; Kropholler, S. 426. ASML v Semiconductor (C-283/05).

Ulf Bergquist

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Artikel 40, Rn. 44

tikel 18 Abs. 3 werden Sachen als zusammenhängend betrachtet, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen. Trotz der Regeln in Artikel 17 und 18 kann es aber passieren, dass zwei miteinander unvereinbare Entscheidungen in verschiedene Mitgliedstaaten ergehen. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn der Richter in einem Mitgliedstaat keine Kenntnis vom Parallelverfahren in einem anderen Mitgliedstaat erhalten hat, weil ihn die Parteien nicht darauf aufmerksam gemacht haben.67 Allerdings werden die Artikel 17 und 18 die Verwendung von Artikel 40 lit. c sehr selten machen.68 Denn in der Regel sollen die Zuständigkeitsvorschriften in Kapitel II das Risiko von Parallelverfahren stark eingrenzen.69 Der Anwendungsbereich des Artikels 40 lit. c ist sowohl enger als auch breiter im Vergleich zu den Artikeln 17 und 18. Enger im Vergleich zu Artikel 18 ist er, da er nicht Verfahren, die in Zusammenhang stehen, umfasst.70 So fordert die Anwendung des Artikels 40 lit. c, dass die gleichen Parteien in beiden Verfahren beteiligt sind. Artikel 18 enthält keine solche Einschränkung. Breiter als Artikel 17 und 18 ist dagegen der Anwendungsbereich, da es bei der unvereinbaren Entscheidung nach Artikel 40 lit. c um eine Sache gehen kann, die außerhalb des Anwendungsbereichs der EU-Erbrechtsverordnung erging.71 Bei der unvereinbaren Entscheidung im Anerkennungsstaat muss es sich also nicht notwendigerweise um eine Erbsache handeln. 44 Wenn eine Unvereinbarkeit festgestellt wird, ist der Richter verpflichtet,

die Anerkennung zu versagen. Er hat keinen Ermessensspielraum dahingehend, ob die Kollision der Entscheidungen schwerwiegend ist.72 66 67 68 69 70 71

Gubisch v Palumbo (C-144/86); OUI v NHIC (C-351/89). Magnus/Mankowski, S. 690. Jenard, No. C 59/45; Gaudemet-Tallon, S. 437. Besix v Kretzschmar (C-256/00). Tatry v Maciej Ratai (C-406/92). Magnus/Mankowski, S. 691; Gaudemet-Tallon, S. 440; Hoffman v Krieg (C-145/ 86).

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Ulf Bergquist

Artikel 40, Rn. 45–47

Die unvereinbare Entscheidung im Anerkennungsstaat muss bereits er- 45 gangen sein. Es ist nicht ausreichend, dass ein entsprechendes Verfahren in Gang ist.73 Der EuGH hat ferner festgestellt, dass es unerheblich ist, ob die unver- 46 einbare Entscheidung in einem Verfahren über einstweiligen Rechtsschutz oder in einem Hauptsacheverfahren ergangen ist.74 Wenn beide Entscheidungen vorläufig sind, können sie unmittelbar als unvereinbar betrachtet werden. Wenn die Entscheidung im Ursprungsstaat im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erging und im Anerkennungsstaat eine entsprechende Hauptsacheentscheidung vorliegt, kann die Anerkennung der ersten Entscheidung versagt werden. Wenn dagegen die Entscheidung im Ursprungsstaat in der Hauptsache und die Entscheidung im Anerkennungsstaat nur einstweilig erfolgte, kann die erste Entscheidung trotz entgegenstehender vorläufiger Entscheidung anerkannt werden.75 Eine umstrittene Frage ist, ob eine noch nicht rechtskräftige Entscheidung im Anerkennungsstaat als unvereinbar betrachtet werden kann.76 Selbstverständlich kann diese Entscheidung nicht mehr ein Versagungsgrund sein, wenn sie aufgehoben wird.77 Bis dahin kann nach Ansicht des Verfassers aber ein Grund für die Verweigerung der Anerkennung vorliegen.78 Ein vollstreckungsfähiger Prozessvergleich stellt keine Entscheidung im 47 Sinne des Artikel 40 lit. c dar. Dies ist nur der Fall bei Gerichtsentscheidungen79 (vgl. dazu auch Artikel 61 zur Vollstreckbarerklärung gerichtlicher Vergleiche).

72

73 74 75 76 77 78 79

Magnus/Mankowski, S. 691; Kropholler, S. 430; Italian Leather v Polstermöbel (C-80/00). Gaudemet-Tallon, S. 438. Italian Leather v Polstermöbel (C-80/00). Gaudemet-Tallon, S. 441. Kropholler, S. 429. Magnus/Mankowski, S. 694. Gaudemet-Tallon, S. 442. Gaudemet-Tallon, S. 438 f.; Kropholler, S. 427; Solo v Boch (C-414/92).

Ulf Bergquist

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Artikel 40, Rn. 48–52

48 Artikel 40 lit. c umfasst ferner nicht Schiedssprüche. Das könnte sonst

einen Widerspruch gegen die Verpflichtungen der Staaten nach dem New Yorker Abkommen über Schiedssprüche beinhalten.80 49 Im Rahmen der autonomen Auslegung des Begriffs „unvereinbar“ hat

der EuGH festgestellt, dass zwei Entscheidungen unvereinbar sind, wenn sie Rechtsfolgen haben, die sich gegenseitig ausschließen.81 Es braucht sich aber nicht um genau denselben Streitgegenstand zu handeln. Ob die Abweichung auf materiellem Recht beruht oder auf unterschiedlichen Verfahrensvorschriften, ist ebenfalls unerheblich.82 50 Beide Verfahren müssen zwischen genau denselben Parteien geführt

worden sein. An keinem Verfahren darf auf der einen Seite eine weitere Partei beteiligt sein, die nicht auch Partei des anderen Verfahrens war (vergleiche im Unterschied dazu Artikel 18, bei dem die Parteien nicht genau dieselben sein müssen).83 Ein am Verfahren nicht selbst beteiligter Rechtsnachfolger wird aber als „dieselbe Person“ betrachtet und schließt die Anwendung des Artikel 40 lit. c nicht aus.84 51 Auf die zeitliche Reihenfolge der Entscheidungen kommt es nicht an.

Die inländische Entscheidung genießt also auch dann Vorrang, wenn sie nach der ausländischen ergangen ist85 (vergleiche im Unterschied Artikel 40 lit. d).

4. Lit. d: Unvereinbarkeit mit einer früheren anerkennungsfähigen Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat 52 Fragen, die sowohl die lit. c und d betreffen, sind vorstehend unter Ar-

tikel 40 lit. c kommentiert.

80 81 82 83 84 85

Magnus/Mankowski, S. 692. Hoffman v Krieg (C-145/86). Jenard, No. C 59/45; Kropholler, S. 428; Italian Leather v Polstermöbel (C-80/00). Kalfelis v Schröder (C-189/87). Magnus/Mankowski, S. 695. Gaudemet-Tallon, S. 443 f.; Kropholler, S. 430; Hoffman v Krieg (C-145/86).

220

Ulf Bergquist

Artikel 40, Rn. 53–57

Lit. d behandelt sowohl den Fall, dass das Ursprungsurteil mit einem 53 Urteil eines anderen Mitgliedstaats als dem Anerkennungsstaat kollidiert, als auch den Fall, dass das Ursprungsurteil mit einem Urteil eines Drittstaats zusammentrifft. Als Drittstaaten in diesem Zusammenhang sind nach Ansicht des Verfassers nicht nur die EU-Nichtmitgliedstaaten sondern auch die Mitgliedstaaten, die sich an der Erbrechtsverordnung nicht beteiligen (Vereinigtes Königreich, Irland und Dänemark), anzusehen.86 Dadurch ist der Anwendungsbereich von Artikel 40 lit. d weiter als der der Artikel 17 und 18, die beide nicht auf Drittstaaten angewendet werden. Eine Kollision zwischen einer Entscheidung in einem Drittstaat und ei- 54 ner Entscheidung im Anerkennungsstaat ist dagegen nicht in Artikel 40 lit. d geregelt. Diese Frage muss mit den nationalen Regeln des Anerkennungsstaats gelöst werden.87 Vier Voraussetzungen müssen bezüglich der Entscheidung in einem an- 55 deren Mitgliedstaat oder einem Drittstaat vorliegen, wenn eine Entscheidung nicht anerkannt werden soll: 1. Sie muss früher erlassen worden sein. 2. Sie muss wegen desselben Anspruchs ergangen sein. 3. Sie muss zwischen denselben Parteien ergangen sein. 4. Sie muss die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, erfüllen. Die Voraussetzungen 1, 2 und 4 sind speziell in Artikel 40 lit. d geregelt. Nur Voraussetzung 3 entspricht Artikel 40 lit. c. Zur Bestimmung der zeitlichen Priorität ist der Erlass der Entscheidun- 56 gen maßgeblich („frühere Entscheidung“). Damit kommt es nicht auf die Einleitung der Verfahrens an, auch wenn ein Richter im später eröffneten Verfahren die Regeln zur lis pendens oder für im Zusammenhang stehende Verfahren (Art. 17 und 18) fehlerhaft angewendet hat.88 Wenn eine Kollision zwischen Entscheidungen zweier Mitgliedstaaten 57 86 87 88

Vergleiche Frimston, Art. 3 Rn. 40–57 in diesem Kommentar. Magnus/Mankowski, S. 695. Gaudemet-Tallon, S. 438; Kropholler, S. 431.

Ulf Bergquist

221

Artikel 40, Rn. 58–60

besteht, ist unumstritten, welche die frühere Entscheidung ist, da beide nach Artikeln 39 Abs. 1 automatisch anerkannt werden. Der Tag, an dem die Anerkennung beantragt wurde, ist damit nicht relevant.89 Wenn eine der Entscheidungen in einem Drittstaat ergangen ist, ist sehr unsicher, ob der Tag, an dem sie im Drittstaat ergangen ist, oder der Anerkennungstag im Anerkennungsstaat maßgeblich ist. Der Schlosser-Bericht befürwortete die erste Lösung.90 58 Eine weitere Voraussetzung ist, dass die Entscheidungen wegen genau

der gleichen Ansprüche ergangen sind. Es reicht nicht aus, dass es sich um zwei im Zusammenhang stehende Verfahren im Sinne des Art. 18 handelt. 59 Die Situation, dass zwei unvereinbare Entscheidungen vorliegen, die

aber nicht genau zwischen denselben Parteien oder wegen genau desselben Anspruchs ergangen sind, wurde nicht in Artikel 40 lit. d geregelt. Wenn beide Entscheidungen in Mitgliedstaaten ergangen sind, haben beide Entscheidungen nach dem Wortlaut des Artikels das Recht zur Anerkennung.91 Nach Ansicht des Verfassers ist es aber nicht nachvollziehbar, zwei unvereinbaren Entscheidungen die Anerkennung zu gestatten. 60 Die letzte Voraussetzung des Artikel 40 lit. d ist, dass die frühere Ent-

scheidung im Anerkennungsstaat anerkennungsfähig ist. Diese Voraussetzung betrifft vorwiegend Entscheidungen aus einem Drittstaat. Denn der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats könnte ja die Anerkennung nur versagt werden, wenn die Gründe der Nichtanerkennung nach Artikeln 40 lit. a oder b vorliegen. Ob die Entscheidung eines Drittstaats anerkannt werden kann, wird entweder von einem internationalen Abkommen zwischen dem Drittstaat und dem Anerkennungsstaat oder nach dem nationalen Recht des Anerkennungsstaats entschieden.92

89 90 91 92

Magnus/Mankowski, S. 696. Gaudemet-Tallon, S. 446. Magnus/Mankowski, S. 696. Magnus/Mankowski, S. 697.

222

Ulf Bergquist

Artikel 41, Rn. 1–5

Artikel 41: Ausschluss einer Nachprüfung in der Sache Die in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.

1

Artikel 41 hat Artikel 36 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

Eine grundsätzliche Bedingung im Rahmen der Anerkennung von Ent- 2 scheidungen anderer Mitgliedstaaten ist, dass ein Gericht im Anerkennungsstaat die Entscheidung in der Sache selbst nie nachprüfen darf, und zwar weder darauf, ob die Tatsachen richtig festgestellt oder gewürdigt wurden, noch darauf, ob das materielle Recht zutreffend angewandt wurde.1 3

Eine Anerkennung ist keine Art von Rechtsbehelf.2

Das Anerkennungsgericht darf auf keinen Fall die Anerkennung aus 4 dem Grund versagen, dass es zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre als das Ursprungsgericht.3 Das Anerkennungsgericht darf nicht prüfen, ob das Ursprungsgericht zu einer zutreffenden Entscheidung bezüglich des internationalen Privatrechts (d.h. welches nationale materielle Recht zur Anwendung kommt) gekommen ist. Ferner darf es nicht nachprüfen, ob das Ursprungsgericht das anwendbare materielle Recht zutreffend ausgelegt hat.4 Wenn die Gegenpartei behauptet, dass die Entscheidung des Ur- 5 sprungsgerichts aufgrund Betrugs ergangen ist, kann dies die Anerkennung nicht verhindern, sofern die Anerkennung nicht offensichtlich dem ordre public widerspricht.5

1 2 3

4 5

Jenard, No. C 59/46; Kropholler, S. 441. Magnus/Mankowski, S. 721. Gaudemet-Tallon, S. 397; Renault v Maxicar (C-38/98); Krombach v Bamberski (C-7/98). Magnus/Mankowski, S. 722. Magnus/Mankowski, S. 722.

Ulf Bergquist

223

Artikel 42, Rn. 1–4

Das Gericht kann jedoch aus eigener Initiative das Anerkennungsverfahren aussetzen.6 Siehe dazu die Kommentierung zu Art. 42 Rn. 6-8. Artikel 42: Aussetzung des Anerkennungsverfahrens Das Gericht eines Mitgliedstaats, vor dem die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung geltend gemacht wird, kann das Verfahren aussetzen, wenn im Ursprungsmitgliedstaat gegen die Entscheidung ein ordentlicher Rechtsbehelf eingelegt worden ist.

1 Artikel 42 hat Artikel 37 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Zweck dieses Artikels ist, eine obligatorische Anerkennung und Voll-

streckung einer Entscheidung, die im Ursprungsstaat noch aufgehoben oder abgeändert werden kann, zu vermeiden.1 Dadurch wird verhindert, dass die potentielle Wirkung eines Rechtsbehelfs im Ursprungsstaat nicht durch eine sofortige Vollstreckung im Anerkennungsstaat ausgehöhlt wird.2 3 Artikel 42 ist sowohl dann anwendbar, wenn ein Antrag auf Anerken-

nung nach Artikel 39 Abs. 2 gestellt wurde, als auch, wenn ein anderer Rechtsstreit im Anerkennungsstaat von der inzidenten Anerkennung der Entscheidung gemäß Art. 39 Abs. 3 abhängt.3 4 Das Anerkennungsgericht kann das Anerkennungsverfahren nur aus-

setzen, wenn bereits ein Rechtsbehelfsantrag gegen die Entscheidung des Ursprungsgerichts eingereicht wurde. Dies bedeutet umgekehrt, dass das Anerkennungsverfahren (noch) nicht ausgesetzt werden darf, wenn lediglich die Rechtsbehelfsfrist gegen die Entscheidung im Ursprungsstaat noch nicht abgelaufen ist.4

6 1 2 3 4

Magnus/Mankowski, S. 725. Industrial Diamond v Riva (C-43/77). Magnus/Mankowski, S. 729. Magnus/Mankowski, S. 726. Magnus/Mankowski, S. 725.

224

Ulf Bergquist

Artikel 42, Rn. 5–7

Das Anerkennungsverfahren kann nur ausgesetzt werden, wenn ein or- 5 dentlicher Rechtsbehelf eingelegt wurde. Der Begriff „ordentlicher Rechtsbehelf“ hat eine autonome europäische Bedeutung, nicht eine nationale – weder nach dem Rechtsystem des Ursprungsstaats noch des Anerkennungsstaats. Ein Rechtsbehelf ist ordentlich, wenn er zu einer Aufhebung oder Änderung der Entscheidung im Ursprungsstaat führen kann und es für diesen eine bestimmte Rechtsbehelfsfrist gibt, die mit Erlass der Entscheidung beginnt.5 Rechtsbehelfe, die an keine Frist gebunden sind, sind keine ordentlichen Rechtsbehelfe. Ein Rechtsbehelf kann auch „ordentlich“ sein, wenn dieser im Ursprungsstaat einer Zulassung o. ä. durch das Berufungsgericht bedarf.6 Die Aussetzung ist eine Ermessensentscheidung des Gerichts (verglei- 6 che auch Art. 53), da Artikel 42 das Wort „kann“ und nicht „soll“ bzw. „muss“ verwendet. Das bedeutet, dass keine Partei ein Recht hat, eine Aussetzung zu verlangen.7 Das Gericht kann aus eigener Initiative das Anerkennungsverfahren aussetzen.8 Dies ist wichtig, da die Gegenpartei in dieser Phase möglicherweise nichts vom Antrag auf Anerkennung weiß und deswegen nicht selbst eine Aussetzung beantragen kann. Das Anerkennungsgericht soll das Verfahren immer dann aussetzen, 7 wenn es vernünftige Zweifel gibt, ob die Ursprungsentscheidung Bestand haben wird.9 Angesichts der Schwierigkeiten einer solchen Prüfung soll das Anerkennungsgericht aber nur das wahrscheinliche Ergebnis eines Rechtsbehelfsverfahrens im Ursprungsstaat berücksichtigen, d.h. wenn es offenbar ist, dass die Ursprungsentscheidung nicht geändert wird, z.B. weil der Rechtsbehelfsantrag querulatorisch erfolgt.10

5 6 7 8 9 10

Industrial Diamond v Riva (C-43/77). Magnus/Mankowski, S. 727. Magnus/Mankowski, S. 728. Magnus/Mankowski, S. 725. Industrial Diamond v Riva (C-43/47). Magnus/Mankowski, S. 727.

Ulf Bergquist

225

Artikel 42, Rn. 8; Artikel 43, Rn. 1–4

8 Wenn das Anerkennungsgericht entscheidet, das Verfahren auszuset-

zen, ist es nicht notwendig, dies auf eine bestimmte Zeitperiode zu begrenzen. Vielmehr ist es üblich das Verfahren bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Ursprungsstaat auszusetzen.11 Artikel 43: Vollstreckbarkeit Die in einem Mitgliedstaat ergangenen und in diesem Staat vollstreckbaren Entscheidungen sind in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckbar, wenn sie auf Antrag eines Berechtigten dort nach dem Verfahren der Artikel 45 bis 58 für vollstreckbar erklärt worden sind.

1 Artikel 43 hat Artikel 38 Abs. 1 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Der grundlegende Gedanke hinter Artikel 43 ist, dass die EU ein

Rechtsgebiet ist, in dem Urteile Freizügigkeit von einem Mitgliedstaat zu anderen haben sollen.1 3 Ein Urteil aus einem Mitgliedstaat ist jedoch nicht automatisch in allen

anderen Mitgliedstaaten vollstreckbar.2 Vielmehr ist eine Vollstreckbarerklärung im Vollstreckungsmitgliedstaat erforderlich, die aber ohne Nachprüfung in der Sache leicht zu erhalten sein soll.3 4 Einzige Bedingung für eine solche Erklärung ist, dass das Urteil im Ur-

sprungsstaat vollstreckbar ist,4 unabhängig davon, ob dort noch ein Rechtsbehelf gegen das Urteil eingelegt werden kann.5 Das bedeutet, dass eine Veränderung bezüglich der Vollstreckbarkeit des Urteils im Ursprungsstaat (z.B. eine Aussetzung oder Aufhebung) Rückwirkungen im Vollstreckungsmitgliedstaat haben kann.6 11 1 2 3 4 5

Jenard, No. C 59/47. Magnus/Mankowski, S. 747. Magnus/Mankowski, S. 747. Magnus/Mankowski, S. 748. Magnus/Mankowski, S. 746. Magnus/Mankowski, S. 749.

226

Ulf Bergquist

Artikel 43, Rn. 5–7; Artikel 44, Rn. 1

Das Antragsrecht für eine Vollstreckbarerklärung steht jedem „Berech- 5 tigten“ zu. In der Regel ist dies der Kläger, der im Ursprungsstaat Erfolg gehabt hat. Dies kann aber auch ein Beklagter sein, der mit einem Gegenanspruch oder einem Prozesskostenerstattungsanspruch Erfolg gehabt hat.7 Ferner kann ein Rechtsnachfolger „Berechtigter“ sein, wenn er den Anspruch geerbt hat (Generalsukzession), oder wenn er den Anspruch durch Übertragung erworben hat (Singularsukzession).8 Die Artikel 43 ff. regeln nur die Zulassung der Zwangsvollstreckung, 6 nicht aber die Durchführung der Vollstreckung. Die Durchführung bleibt grundsätzlich dem autonomen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaates überlassen.9 Wenn ein Urteil eines Drittstaats in einem Mitgliedstaat für vollstreck- 7 bar erklärt wurde (nach dessen nationalem Recht, da Artikel 43 nur auf Urteile von Mitgliedstaaten anwendbar ist), kann diese Entscheidung nicht gemäß Artikel 43 in einem weiteren Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt werden.10 Wenn der Antragsteller erreichen möchte, dass das Urteil des Drittstaates auch in einem zweiten Mitgliedstaat vollstreckbar sein soll, muss er dort einen Antrag gemäß dem nationalen Recht dieses weiteren Mitgliedstaats stellen. Artikel 44: Bestimmung des Wohnsitzes Ist zu entscheiden, ob eine Partei für die Zwecke des Verfahrens nach den Artikeln 45 bis 58 im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats einen Wohnsitz hat, so wendet das befasste Gericht sein eigenes Recht an.

1

Artikel 44 hat Artikel 59 Abs. 1 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

6 7 8 9 10

Magnus/Mankowski, S. 748. Magnus/Mankowski, S. 748. Gaudemet-Tallon, S. 460; Magnus/Mankowski, S. 748. Kropholler, S. 446. Magnus/Mankowski, S. 733; Owen v Bracco (C-129/92).

Ulf Bergquist

227

Artikel 44, Rn. 2–5; Artikel 45, 1, 2

2 Der Begriff „Wohnsitz“ kommt in den Artikeln 45 Abs. 2, 50 Abs. 4, 50

Abs. 5 und 57 der Erbrechtsverordnung vor. 3 Da der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ der zentrale Begriff in der

Erbrechtsverordnung ist, könnte man vermuten, dass dieser Begriff auch verwendet wird, um zu entscheiden, ob eine Partei einen Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat hat. Doch der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ hat in der Erbrechtsverordnung eine autonome europäische Bestimmung und soll deswegen nicht in jedem Mitgliedstaat nach dessen nationalem Recht unterschiedlich ausgelegt werden. 4 Da das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats für das Verfahren der

Antragstellung maßgebend ist (siehe Art. 46 Abs. 1), ist es nachvollziehbar, dass für den Zweck des Verfahrens die Frage, wo eine Partei ihren Wohnsitz hat, vom nationalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats und nicht vom autonomen europäischen Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ bestimmt wird. 5 In der Frage, welcher Zeitpunkt für die Feststellung des Wohnsitzes

maßgeblich ist, siehe Art. 45 Rn. 6. Artikel 45: Örtlich zuständiges Gericht (1) Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung ist an das Gericht oder die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu richten, die der Kommission von diesem Mitgliedstaat nach Artikel 78 mitgeteilt wurden. (2) Die örtliche Zuständigkeit wird durch den Ort des Wohnsitzes der Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, oder durch den Ort, an dem die Vollstreckung durchgeführt werden soll, bestimmt.

I. Allgemeines 1 Artikel 45 hat Artikel 39 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Die Regelung in Artikel 45 führt dazu, dass die nationalen Regeln zur 228

Ulf Bergquist

Artikel 45, Rn. 3–6

örtlichen Zuständigkeit im Vollstreckungsmitgliedstaat bezüglich des Antrags auf Vollstreckung nicht anwendbar sind.1

II. Absatz 1 Der Antrag auf Vollstreckbarerklärung ist an das Gericht oder die zu- 3 ständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu richten, die der Kommission von dem Mitgliedstaat gemäß Artikel 78 mitgeteilt wird. In der Liste, die sich in Annex II der Brüssel I-Verordnung befindet, werden nur Gerichte aufgezählt, keine andere „zuständige Behörde“.2 In den meisten Staaten ist die Zuständigkeit einem Gericht unterer Stu- 4 fe zugeteilt, wobei aber Italien die Zuständigkeit eines Obergerichts gewählt hat. Dies bedeutet, dass in diesem Staat dasselbe Gericht sowohl „Gericht der ersten Stufe“ nach Artikel 45 (Antrag auf Vollstreckbarerklärung) als auch Rechtsbehelfsgericht nach Artikel 50 (Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung) ist.3

III. Absatz 2 Bezüglich der örtlichen Zuständigkeit hat der Antragsteller das Wahl- 5 recht zwischen (1) dem Gericht am Ort des Wohnsitzes der Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, und (2) dem Gericht bzw. den Gerichten an dem Ort bzw. den Orten, an dem bzw. an denen die Vollstreckung durchgeführt werden soll. Der entscheidende Zeitpunkt für die Feststellung des Wohnsitzes ist der 6 Tag der Einleitung des Verfahrens. Ein späterer Wohnsitzwechsel lässt die örtliche Zuständigkeit nicht entfallen.4

1 2 3 4

Magnus/Mankowski, S. 752. Magnus/Mankowski, S. 752. Magnus/Mankowski, S. 753; Renault v Maxicar (C-38/98). Magnus/Mankowski, S. 754; Kropholler, S. 457; Unibank v Christensen (C-260/ 97).

Ulf Bergquist

229

Artikel 45, Rn. 8–10; Artikel 46

7 Mehrere Gerichte können örtlich zuständig sein, wenn die Partei, gegen

die die Vollstreckung erwirkt werden soll, im Vollstreckungsstaat Vermögen in verschiedenen Gerichtsbezirken besitzt.5 8 Da mehrere Gerichte örtlich zuständig sein können, hat Jenard auf fol-

gendes Risiko hingewiesen: Ein Antragsteller, dessen Antrag von einem Gericht (z.B. dem Gericht am Wohnsitz des Schuldners) abgelehnt wurde, könnte einen neuen Antrag bei einem anderen Gericht (z.B. am Ort, an dem die Gegenpartei Vermögen besitzt) einlegen, statt sich mit der Rechtsbehelfsmöglichkeit des Artikel 50 zufrieden zu geben. Vielleicht hat der Antragsteller dabei die Hoffnung auf eine für ihn günstigere Entscheidung durch ein anderes Gericht. Da das Verfahren in der ersten Phase ex parte abläuft, wäre es möglich, dass die Gegenpartei nicht erfährt, dass der Antragsteller es schon vergebens bei einem anderen Gericht versucht hat.6 9 Prorogationsverträge zur örtlichen Zuständigkeit sind unzulässig.7 10 Das Gericht hat seine örtliche Zuständigkeit von Amts wegen zu prü-

fen, da das Verfahren in dieser Phase parteilos abläuft. Die Gegenpartei weiß ja auch nichts vom Antrag und kann deswegen selbst keine Einwendungen gegen die örtliche Zuständigkeit des Gerichts vorbringen.8 Artikel 46: Verfahren (1) Für das Verfahren der Antragstellung ist das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats maßgebend. (2) Von dem Antragsteller kann nicht verlangt werden, dass er im Vollstreckungsmitgliedstaat über eine Postanschrift oder einen bevollmächtigten Vertreter verfügt. (3) Dem Antrag sind die folgenden Schriftstücke beizufügen: a) eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllt; 5 6 7 8

Kropholler, S. 456. Jenard, No. C 59/49. Droz, Abs.560. Gaudemet-Tallon, S. 459.

230

Ulf Bergquist

Artikel 46, Rn. 1–4

b) die Bescheinigung, die von dem Gericht oder der zuständigen Behörde des Ursprungsmitgliedstaats unter Verwendung des nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellten Formblatts ausgestellt wurde, unbeschadet des Artikels 47.

I. Allgemeines Artikel 46 hat Artikel 40 und 53 Brüssel I-Verordnung als Vorlage, doch 1 mit einer wichtigen Änderung in Absatz 2.

II. Absatz 1 Die formellen Einzelheiten des Verfahrens richten sich nach dem natio- 2 nalen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats. Jenard gibt dazu folgende Beispiele: – die Anzahl der dem Gericht vorzulegenden Ausfertigungen; – die Bestimmung der zur Entgegennahme des Antrags zuständigen Gerichtsstelle/Behörde; – die Sprache, in der der Antrag abzufassen ist; – die Frage, ob die Mitwirkung eines Anwalts notwendig ist.1 Welche Gerichtsstelle/Behörde zuständig ist, den Antrag entgegenzunehmen, darf nicht mit den Regeln des Artikel 45 über die örtliche Zuständigkeit verwechselt werden. In manchen Ländern muss der Antrag bei einer bestimmten Behörde eingereicht werden, bevor er zum zuständigen Gericht weitergeleitet wird.

III. Absatz 2 Im Gegensatz zur Brüssel I-Verordnung verlangt die Erbrechtsverord- 3 nung nicht, dass der Antragsteller im Vollstreckungsmitgliedstaat eine Postanschrift oder einen bevollmächtigten Vertreter hat.

IV. Absatz 3 Dem Antrag sind zwei Schriftstücke beizufügen: eine Ausfertigung der 4 Entscheidung, die vollstreckt werden soll, und eine Bescheinigung des 1

Jenard, No. C 59/49; Kropholler, S. 458.

Ulf Bergquist

231

Artikel 46, Rn. 5–7; Artikel 47

Ursprungsgerichts unter Verwendung des Formblattes, das die EU-Kommission vorgibt (vgl. Art. 80). Dieses Formblatt war zum Bearbeitungszeitpunkt noch nicht veröffentlicht, es kann aber vermutet werden, dass es ähnlich wie Annex V der Brüssel I-Verordnung lauten wird (siehe Art. 40 Abs. 3, 53 und 54 der Brüssel I-Verordnung). Die zwei wichtigsten Erklärungen in diesem Annex sind der Tag der Zustellung der Klage im Ursprungsverfahren, wenn der Beklagter sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat (siehe Art. 40 lit. b), und die Feststellung, dass die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist (siehe Art. 43). 5 Es ist aber nicht notwendig, dass zuvor eine tatsächliche Vollstreckung

im Ursprungsstaat erfolgt ist. Die Vollstreckbarkeit im Ursprungsmitgliedstaat ist ausreichend.2 6 Ob die Ausfertigung die erforderlichen Voraussetzungen für ihre Be-

weiskraft hat, soll vom nationalen Recht des Ursprungsmitgliedstaats festgestellt werden.3 7 Wenn die Bescheinigung nach Absatz 3 lit. b nicht beigefügt wird, rich-

tet sich das Verfahren nach Art. 47 Abs. 1. Artikel 47: Nichtvorlage der Bescheinigung (1) Wird die Bescheinigung nach Artikel 46 Absatz 3 Buchstabe b nicht vorgelegt, so kann das Gericht oder die sonst befugte Stelle eine Frist bestimmen, innerhalb deren die Bescheinigung vorzulegen ist, oder sich mit einer gleichwertigen Urkunde begnügen oder von der Vorlage der Bescheinigung absehen, wenn kein weiterer Klärungsbedarf besteht. (2) Auf Verlangen des Gerichts oder der zuständigen Behörde ist eine Übersetzung der Schriftstücke vorzulegen. Die Übersetzung ist von einer Person zu erstellen, die zur Anfertigung von Übersetzungen in einem der Mitgliedstaaten befugt ist.

2 3

Gaudemet-Tallon, S. 463; Coursier v Fortis Bank (C-267/97). Magnus/Mankowski, S. 793.

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Ulf Bergquist

Artikel 47, Rn. 1–6

I. Allgemeines 1

Artikel 47 hat Artikel 55 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

II. Absatz 1 Wenn der Antragsteller die Bescheinigung nach Artikel 46 Abs. 3 lit. b 2 nicht als Anlage zum Antrag vorgelegt hat, muss das Vollstreckungsgericht den Antrag nicht zwingend abweisen. Das Gericht hat drei weitere Möglichkeiten: 1. Eine Frist bestimmen, innerhalb derer der Antragsteller den Antrag um die Bescheinigung ergänzen kann. 2. Eine gleichwertige Urkunde statt der Bescheinigung akzeptieren. 3. Von der Vorlage der Bescheinigung absehen, wenn das Gericht meint, dass kein weiterer Klärungsbedarf besteht. Artikel 47 besagt also, dass die Bescheinigung nicht unerlässlich ist. 3 Eine Ausfertigung nach Artikel 46 Abs. 3 lit. a muss dagegen immer vorgelegt werden.1 Üblich wird sicher das Verfahren werden, eine Frist zu bestimmen (z.B. 4 drei Wochen), innerhalb derer der Antragsteller seinen Antrag um die Bescheinigung zu ergänzen hat. Es ist normalerweise sehr einfach, diese zu erhalten, da die EU-Kommission ein standardisiertes Formblatt erstellt. In Artikel 54 Brüssel I-Verordnung ist vorgeschrieben, dass das Ursprungsgericht auf Antrag eine Bescheinigung ausstellen muss. Auch wenn die Erbrechtsverordnung keine entsprechende ausdrückliche Regel enthält, wird man davon ausgehen, dass das Ursprungsgericht auch in Erbfällen eine solche Bescheinigung auszustellen hat. Wenn der Antragsteller die Bescheinigung nicht innerhalb der gesetzten 5 Frist vorlegt, wird das Gericht den Antrag in der Regel abweisen, auch wenn es sich theoretisch noch mit einer gleichwertigen Urkunde begnügen oder völlig auf die Vorlage der Bescheinigung verzichten kann. Wenn der Antrag abgewiesen wird, kann der Antragsteller den Rechts- 6 behelf nach Artikel 50 einlegen. Der EuGH hat dabei akzeptiert, dass 1

Magnus/Mankowski, S. 795.

Ulf Bergquist

233

Artikel 47, Rn. 7–9; Artikel 48, Rn. 1, 2

der Antragsteller die Bescheinigung auch noch während des Rechtsbehelfsverfahrens vorlegen kann.2 7 Nach Ansicht des Verfassers ist es auch zulässig, dass der Antragsteller

einen neuen Antrag beim Vollstreckungsgericht einreicht, nachdem er die Bescheinigung erhalten hat, statt einen Rechtsbehelf einzulegen.

III. Absatz 2 8 Das Vollstreckungsgericht kann verlangen, dass sowohl die Entschei-

dung (Art. 46 Abs. 3 lit. a) als auch die Bescheinigung (Art. 46 Abs. 3 lit. b) in seine eigene Sprache übersetzt werden. Das Gericht muss aber keine Übersetzung verlangen, wenn der Richter die Sprache des Ursprungsdokuments versteht. 9 Die Übersetzung muss nicht von einem öffentlich bestellten Übersetzer

erstellt werden.3 Es ist ausreichend, dass die Person zur Erstellung der Übersetzung ausreichend qualifiziert ist. Es ist aber empfehlenswert, die Übersetzung mit einer Apostille versehen zu lassen, so dass das Vollstreckungsgericht nicht bezüglich der Richtigkeit der Übersetzung verunsichert wird. Artikel 48: Vollstreckbarerklärung Sobald die in Artikel 46 vorgesehenen Förmlichkeiten erfüllt sind, wird die Entscheidung unverzüglich für vollstreckbar erklärt, ohne dass eine Prüfung nach Artikel 40 erfolgt. Die Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, erhält in diesem Abschnitt des Verfahrens keine Gelegenheit, eine Erklärung abzugeben.

1 Artikel 48 hat Artikel 41 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 In der ersten Phase des Verfahrens erfolgt nur eine formale Prüfung.1 2 3 1

v. d. Linden v Berufsgenossenschaft (C-275/94). Magnus/Mankowski, S. 796. Gaudemet-Tallon, S. 467.

234

Ulf Bergquist

Artikel 48, Rn. 3–6

Das Gericht soll nach dem Wortlaut des Artikels nur prüfen, ob die erforderlichen Dokumente (Entscheidung, Bescheinigung) nach Artikel 46 Abs. 3 vorgelegt wurden. Das Gericht muss aber in jedem Fall prüfen, ob die Entscheidung innerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung (Artikel 1) erfolgt ist, und ob der Antrag an ein örtlich zuständiges Gericht gerichtet ist (Artikel 44 und 45).2 Ferner hat das Gericht zu prüfen, ob die Entscheidung im Ursprungs- 3 mitgliedstaat vollstreckbar ist (Artikel 43). Das ist jedoch einfach zu prüfen, da die Bescheinigung (Artikel 46 Abs. 3 lit. b) eine entsprechende Angabe enthalten muss.3 Wenn das Vollstreckungsgericht keinen Nachweis über die Vollstreck- 4 barkeit im Ursprungsmitgliedstaat erhält (z.B. weil eine Bescheinigung mit der entsprechenden Information noch nicht vorliegt), muss es das Vollstreckungsverfahren bis zur Vorlage einer solchen Information aussetzen (vgl. Artikel 47). Dies gilt entsprechend für den Fall, dass nur ein Antrag auf Anerkennung gestellt wurde. In diesem Fall kann das Gericht (muss aber nicht) das Verfahren aussetzen, wenn ein ordentlicher Rechtsbehelf im Ursprungsmitgliedstaat eingelegt worden ist (vgl. Artikel 42).4 Das Vollstreckungsgericht darf in dieser Phase nicht prüfen, ob einer 5 der in Artikel 40 genannten Versagungsgründe vorliegt, auch nicht wenn die Partei, gegen die der Antrag gestellt ist, vom Antrag Kenntnis erhält und diesbezüglich Einwendungen erhebt.5 Das Vollstreckungsgericht soll in dieser Phase der Gegenpartei keine 6 Mitteilungen zum Antrag machen. Dadurch soll das Überraschungsmoment der Vollstreckung erhalten bleiben. Sonst könnte die Gegenpartei die Möglichkeit bekommen, ihr Vermögen der Zwangsvollstreckung zu entziehen.6

2 3 4 5 6

Magnus/Mankowski, S. 761. Gaudemet-Tallon, S. 469. Gaudemet-Tallon, S. 468–470. Gaudemet-Tallon, S. 467. Jenard, No. C 59/50; Kropholler, S. 463.

Ulf Bergquist

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Artikel 48, Rn. 7–9; Artikel 49, Rn. 1

7 Der EuGH meint, dass nur Entscheidungen, die beim Ursprungsgericht

in einem kontradiktorischen Verfahren erlassen wurden, anerkannt und vollstreckt werden können. Obwohl dies nicht ausdrücklich in der Verordnung erwähnt ist, beruft sich der EuGH darauf, dass dies zu den Grundsätzen der Verordnung gehört. Denn es ist die Garantie, dass beide Parteien die Möglichkeit gehabt haben, ihre Sache vor dem Ursprungsgericht vorzubringen, die den unilateralen Charakter der ersten Phase des Verfahrens rechtfertigt.7 8 Der Schutz der Rechte der Gegenpartei liegt ferner darin, dass sie gegen

die Vollstreckbarerklärung Rechtsbehelf einlegen kann (Artikel 50), und dass die Zwangsvollstreckung nicht über Maßnahmen zur Sicherung hinausgehen darf, solange die Frist für den Rechtsbehelf läuft bzw. solange über den Rechtsbehelf nicht entschieden wurde (Artikel 54 Abs. 3). 9 Da der Prüfungsumfang des Vollstreckungsgerichts in dieser Phase nur

formal ist, kann und soll dieses Verfahren sehr schnell erfolgen, so dass die Entscheidung über die Vollstreckbarerklärung unverzüglich getroffen werden muss.8 Artikel 49: Mitteilung der Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung (1) Die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung wird dem Antragsteller unverzüglich in der Form mitgeteilt, die das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsieht. (2) Die Vollstreckbarerklärung und, soweit dies noch nicht geschehen ist, die Entscheidung werden der Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, zugestellt.

I. Allgemeines 1 Artikel 49 hat Artikel 42 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 7 8

Denilauer v Couchet Frères (C-125/79). Magnus/Mankowski, S. 759; Carron v FR Germany (C-198/85).

236

Ulf Bergquist

Artikel 49, Rn. 2, 3; Artikel 50

II. Absatz 1 Die Entscheidung über den Antrag soll dem Antragsteller mitgeteilt 2 werden, unabhängig davon ob der Antrag genehmigt oder abgelehnt wurde.1 Die Mitteilung hat nach nationalem Recht im Vollstreckungsstaat zu erfolgen.2 Für den Antragsteller ist die Mitteilung in jedem Fall wichtig. Wurde der Antrag genehmigt, benötigt er eine Mitteilung, um die Vollstreckung weiter zu betreiben (wobei er noch nach Art. 54 Abs. 3 zuwarten muss). Wird der Antrag abgelehnt, hat er die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf gegen die negative Entscheidung einzulegen (Art. 50 Abs. 1).3

III. Absatz 2 Wenn das Vollstreckungsgericht eine Vollstreckbarerklärung erlassen 3 hat, muss diese Entscheidung der Gegenpartei zugestellt werden. Die Zustellung erfolgt nach nationalem Recht im Vollstreckungsstaat (siehe jedoch Art. 50 Rn. 11). Eine schlichte Mitteilung ist nicht ausreichend. Die Rechtsbehelfsfrist (Art. 50 Abs. 5) läuft nur an, wenn die Zustellung an die Gegenpartei in gesetzlicher Form erfolgt ist, selbst wenn diese nachweislich auf anderem Weg Kenntnis von der Entscheidung erlangt hat.4 Artikel 50: Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung (1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf Vollstreckbarerklärung kann jede Partei einen Rechtsbehelf einlegen. (2) Der Rechtsbehelf wird bei dem Gericht eingelegt, das der betreffende Mitgliedstaat der Kommission nach Artikel 78 mitgeteilt hat. (3) Über den Rechtsbehelf wird nach den Vorschriften entschieden, die für Verfahren mit beiderseitigem rechtlichem Gehör massgebend sind. (4) Lässt sich die Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, auf 1 2 3 4

Magnus/Mankowski, S. 762. Magnus/Mankowski, S. 763. Magnus/Mankowski, S. 762. Gaudemet-Tallon, S. 471; Verdoliva v van der Hoeven (C-3/05).

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Artikel 50, Rn. 1–3

das Verfahren vor dem mit dem Rechtsbehelf des Antragstellers befassten Gericht nicht ein, so ist Artikel 16 auch dann anzuwenden, wenn die Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, ihren Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. (5) Der Rechtsbehelf gegen die Vollstreckbarerklärung ist innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Zustellung einzulegen. Hat die Partei, gegen die die Vollstreckung erwirkt werden soll, ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem, in dem die Vollstreckbarerklärung ergangen ist, so beträgt die Frist für den Rechtsbehelf 60 Tage und beginnt mit dem Tag, an dem die Vollstreckbarerklärung ihr entweder in Person oder in ihrer Wohnung zugestellt worden ist. Eine Verlängerung dieser Frist wegen weiter Entfernung ist ausgeschlossen.

I. Allgemeines 1 Artikel 50 hat Artikel 43 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

II. Absatz 1 2 Beide Parteien der ersten Phase des Verfahrens (Art. 46-48) haben das

Recht zur Überprüfung der Entscheidung. Dies gilt auch für den Antragsteller, wenn eine Vollstreckbarerklärung abgelehnt wurde.1 3 Ein Dritter, der in der ersten Phase keine Partei war, hat kein Recht zur

Überprüfung, auch nicht, wenn er ein solches Recht nach nationalem Recht im Vollstreckungsstaat hätte.2 Er hat auch in einer etwaigen dritten Phase des Verfahrens (Revision gemäß Art. 51) kein Recht zur Überprüfung.3 Dies gilt unabhängig davon, ob er nach dem Recht des Ursprungsstaats die Möglichkeit zur Intervention im ursprünglichen Verfahren gehabt hat. Er könnte aber nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaats die Möglichkeit haben, im späteren Zwangsvollstreckungsverfahren zu intervenieren.4 1 2

3 4

Magnus/Mankowski, S. 765. Gaudemet-Tallon, S. 476; Deutsche Genossenschaftbank v Brasserie du Pêcheur (C-148/84); Draka v Omnipol (C-167/08). Magnus/Mankowski, S. 766. Magnus/Mankowski, S. 766.

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Ulf Bergquist

Artikel 50, Rn. 4–7

III. Absatz 2 Das Gericht, bei dem der Rechtsbehelf eingelegt werden kann, wird in 4 der Liste, die die EU-Kommission nach den Meldungen der Mitgliedstaaten veröffentlicht (Art. 78 Abs. 1 lit. a), genannt.

IV. Absatz 3 Das Verfahren der zweiten Phase (Rechtsbehelfsphase) ist kontradikto- 5 risch. Das bedeutet, dass beide Parteien beteiligt sein müssen (oder mindestens die Möglichkeit zur Beteiligung gehabt haben müssen) – im Unterschied zur ersten einseitigen Phase des Vollstreckungsverfahrens, von der die Gegenpartei in der Regel keine Kenntnis hat. Die zweite Phase ist auch dann kontradiktorisch, wenn der Antrag in der ersten Phase aus rein formalen Erwägungen abgelehnt wurde (z.B. weil nicht die richtigen Schriftstücke nach Art. 46 und 47 vorgelegt wurden).5 Das garantiert den Rechtschutz für die Gegenpartei, so dass eine Zwangsvollstreckung nicht erfolgen kann, ohne dass diese eine Möglichkeit hatte, Einwendungen bezüglich der in Art. 40 genannten Gründe zu erheben. Die Frist des Artikel 54 Abs. 3, während der eine Zwangsvollstreckung noch nicht erfolgen darf, endet, wenn über den Rechtsbehelf entschieden wurde. Alle Arten von Einwendungen – sowohl substanzielle als auch formale – 6 dürfen vor dem Rechtsbehelfsgericht erhoben werden,6 auch zusätzliche Anträge und verbundene Fragen.7 Das Rechtsbehelfsgericht soll jedoch nicht mit Einwendungen, die beim Ursprungsgericht erhoben werden könnten, belastet werden.8 Die Beweislast dafür, dass Nichtanerkennungsgründe (Art. 40) vorlie- 7 gen, trägt die Gegenpartei.9 5 6 7 8 9

Gaudemet-Tallon, S. 477; PvK (C-178/83). Magnus/Mankowski, S. 768. Gaudemet-Tallon, S. 474. Magnus/Mankowski, S. 767. Gaudemet-Tallon, S. 474.

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Artikel 50, Rn. 8–10

V. Absatz 4 8 Wenn der Antrag in der ersten Phase abgelehnt wurde, und der Antrag-

steller Rechtsbehelf einlegt, muss das Rechtsbehelfsgericht prüfen, ob die in Artikel 16 bezeichneten Maßnahmen zum Zwecke der Wahrung des rechtlichen Gehörs getroffen wurden, auch wenn die Gegenpartei ihren Wohnsitz nicht in einem Mitgliedstaat hat.10

VI. Absatz 5 9 Bei Anwendung dieses Absatzes muss unterschieden werden, ob der

Rechtsbehelf vom Antragsteller oder von der Gegenpartei eingelegt wurde. Für den Fall, dass der Antragsteller den Rechtsbehelf einlegt, gibt es keine Frist in der Verordnung. Deswegen muss in diesem Fall nationales Recht angewendet werden.11 Wenn die Gegenpartei den Rechtsbehelf einlegt, gibt es drei verschiedene Situationen: 1. Die Gegenpartei hat ihren Wohnsitz im Vollstreckungsstaat. 2. Die Gegenpartei hat ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat. 3. Die Gegenpartei hat ihren Wohnsitz in einem Drittstaat. Im ersten Fall hat die Gegenpartei eine Frist von 30 Tagen, im zweiten Fall von 60 Tagen. In beiden Fällen ist eine Verlängerung wegen weiter Entfernung ausgeschlossen. Im dritten Fall beträgt die normale Frist nur 30 Tage, aber es ist eine Verlängerung wegen der Entfernung zum Wohnsitz nach nationalem Recht des Vollstreckungsstaats möglich.12 10 Der Lauf der Frist wird erst dann in Gang gesetzt, wenn die Vollstreck-

barerklärung der Gegenpartei förmlich zugestellt wurde. Es genügt nicht, dass sie von der Erklärung Kenntnis hat.13 Wenn die Gegenpartei ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Vollstreckungsstaat hat, muss sie entweder in Person oder in ihrer Wohnung zugestellt werden, auch wenn das nationale Recht des Vollstreckungsstaats andere 10 11 12 13

Gaudemet-Tallon, S. 478. Gaudemet-Tallon, S. 477. Jenard, No. C 59/51. Verdoliva v van der Hoeven (C-3/05).

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Artikel 50, Rn. 11–13; Artikel 51, Rn. 1–3

Wege der Zustellung kennt. Unter Zustellung in der Wohnung ist die Aushändigung des Schriftstücks an eine dort angetroffene Person, die nach dem Zustellungsgesetz des Vollstreckungsstaats zur Entgegennahme des Schriftstücks befugt ist, zu verstehen.14 Die Fristen der Verordnung dürfen nicht von abweichenden Fristen im 11 nationalen Recht des Vollstreckungsstaats umgangen werden.15 Bis zum Fristablauf für die Einlegung des Rechtsbehelfs bzw. bis zur 12 Entscheidung über einen eingelegten Rechtsbehelf dürfen keine Zwangsvollstreckungsmaßnahmen getroffen werden (Art. 54 Abs. 3). Allerdings können einstweilige Maßnahmen (im Sinne des Art. 54) für 13 die Zeit, in der die eigentlichen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen suspendiert sind, erfolgen.16 Artikel 51: Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über den Rechtsbehelf Gegen die über den Rechtsbehelf ergangene Entscheidung kann nur der Rechtsbehelf eingelegt werden, den der betreffende Mitgliedstaat der Kommission nach Artikel 78 mitgeteilt hat.

1

Artikel 51 hat Artikel 44 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

Die Rechtsbehelfsentscheidung nach Artikel 50 kann nur in der Weise 2 überprüft werden, die der Vollstreckungsstaat der EU-Kommission gemäß Artikel 78 mitteilt. In der Brüssel I-Verordnung sind die entsprechenden nationalen Verfahren in Annex IV aufgelistet. Eine Rechtsbehelfsentscheidung kann nur im Wege der Revision („cas- 3 sation“; in der Regel beim Obersten Gerichtshof des Vollstreckungs-

14 15 16

Kropholler, S. 471. Hoffman v Krieg (C-145/86). Magnus/Mankowski, S. 767.

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241

Artikel 51, Rn. 4–6; Artikel 52, Rn. 1, 2

staats) überprüft werden.1 Ein solcher endgültiger Rechtsbehelf ist in der Regel auf Rechtsfragen beschränkt. 4 Artikel 51 kann nicht erweitert werden, um andere Entscheidungen als

die nach Artikel 50 zu überprüfen (z.B. bezüglich Entscheidungen nach Artikel 54 Abs. 1 über einstweilige Massnahmen).2 Der Begriff „die über den Rechtsbehelf ergangene Entscheidung“ muss eng ausgelegt werden. Das bedeutet, dass nur die Substanz der Rechtsbehelfsentscheidung überprüfbar ist.3 Der Sinn dieser Regelung ist, eine maßlose Anzahl von Rechtsbehelfsmöglichkeiten als Verzögerungstaktik zu verhindern.4 5 Ein interessierter Dritter hat kein Rechtsbehelfsrecht nach Artikel 51.5 6 Ein Rechtsbehelf nach Artikel 51 hat keine suspensive Wirkung. Ein

Antragsteller, dessen Vollstreckbarerklärung vom ersten Rechtsbehelfsgericht festgestellt wurde, kann also mit der Durchführung der Zwangsvollstreckung beginnen.6 Artikel 52: Versagung oder Aufhebung einer Vollstreckbarerklärung Die Vollstreckbarerklärung darf von dem mit einem Rechtsbehelf nach Artikel 50 oder Artikel 51 befassten Gericht nur aus einem der in Artikel 40 aufgeführten Gründe versagt oder aufgehoben werden. Das Gericht erlässt seine Entscheidung unverzüglich.

1 Artikel 52 hat Artikel 45 Abs. 1 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Das wichtigste Wort in Artikel 52 ist „nur“, so dass es ganz enge Gren-

zen für ein Gericht in dem Vollstreckungsstaat gibt,1 eine Vollstreckbar1 2 3 4 5 6 1

Jenard, No. C 59/51. Brennero v Wandel (C-258/83). Dalfsen v van Loon (C-183/90). Jenard, No. C 59/52. Sonntag v Waidmann (C-172/91). Gaudemet-Tallon, S. 484. Magnus/Mankowski, S. 772.

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Ulf Bergquist

Artikel 52, Rn. 3–7

erklärung zu versagen oder aufzuheben. Dies gilt sowohl für die Gerichte in erster Rechtsbehelfsstufe (Art. 50) als auch für das Gericht in zweiter Stufe (Art. 51).2 Die Grenzen werden von den vier Nichtanerkennungsgründen in 3 Art. 40 gesetzt; keine anderen Gründe dürfen berücksichtigt werden.3 Insbesondere darf die Vollstreckbarkeit nicht aus dem Grund versagt 4 werden, dass es zwischen der Gesetzesregel, die vom Ursprungsgericht verwendet wurde, und der Gesetzesregel, die vom Vollstreckungsmitgliedstaat verwendet würde, wenn ein dortiges Gericht über den Rechtsstreit entschieden hätte, Unterschiede gibt.4 Auf keinen Fall dürfen die Gerichte in einem Vollstreckungsmitglied- 5 staat die Substanz der Entscheidung des Ursprungsgerichts überprüfen (Art. 41).5 Die Gerichte im Vollstreckungsmitgliedstaat sollen von der Prämisse 6 ausgehen, dass die Ursprungsentscheidung Vollstreckung verdient. Eine Versagung oder Aufhebung muss daher als Ausnahme betrachtet werden.6 Das beinhaltet, dass die Gegenpartei die Beweislast dafür trägt, dass ein Grund für die Nichtanerkennung vorliegt.7 Der Unterschied zwischen Versagung und Aufhebung hat keinen mate- 7 riellen Effekt. Eine Versagung einer Vollstreckbarerklärung kann auch im Gericht der ersten Rechtsbehelfsstufe erfolgen, wenn das Vollstreckungsgericht nach der formalen Kontrolle gemäß Artikel 48 den Antrag abgewiesen hat.8

2 3 4 5 6 7 8

Magnus/Mankowski, S. 773. Prism v van der Meer (C-139/10). Renault v Maxicar (C-38/98). Dalfsen v van Loon (C-267/97). Magnus/Mankowski, S. 773. Magnus/Mankowski, S. 774. Magnus/Mankowski, S. 773.

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Artikel 52, Rn. 8; Artikel 53, Rn. 1–4

Die Aufhebung einer Vollstreckbarerklärung kann erfolgen, wenn a) das Gericht in erster Rechtsbehelfsstufe nach Artikel 50 feststellt, dass ein Grund für eine Nichtanerkennung vorliegt, b) das Gericht in letzter Rechtsbehelfsstufe eine Entscheidung, in der das Gericht der ersten Rechtsbehelfsstufe die Vollstreckbarerklärung bewilligt oder festgestellt hat, ändert. 8 In Artikel 52 ist vorgeschrieben, dass sowohl das Gericht in erster als

auch in letzter Rechtsbehelfsstufe seine Entscheidung unverzüglich erlässt. Es ist jedoch keine feste Zeitgrenze vorgesehen. Artikel 53: Aussetzung des Verfahrens Das nach Artikel 50 oder Artikel 51 mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht setzt das Verfahren auf Antrag des Schuldners aus, wenn die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat wegen der Einlegung eines Rechtsbehelfs vorläufig nicht vollstreckbar ist.

1 Artikel 53 hat Artikel 46 Abs. 1 Brüssel I-Verordnung als Vorlage, je-

doch mit mehreren wichtigen Unterschieden. 2 Grund für die Regelung ist, dass eine Entscheidung im Ursprungsstaat

vollstreckbar sein kann (siehe Artikel 43), auch wenn die Frist für einen Rechtsbehelf noch nicht verstrichen ist.1 3 Artikel 53 ist nur anwendbar, wenn ein Rechtsbehelf entweder in erster

Stufe (Artikel 50) oder in weiterer Stufe (Artikel 51) vorliegt.2 4 Das Verfahren kann außerdem nach Artikel 53 nur ausgesetzt werden,

wenn die Gegenpartei einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Das Gericht darf damit nie auf eigene Initiative das Verfahren aussetzen (vgl. anders Art. 42).3

1 2 3

Magnus/Mankowski, S. 775. Magnus/Mankowski, S. 776. Magnus/Mankowski, S. 776.

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Ulf Bergquist

Artikel 53, Rn. 5–9; Artikel 54

Wenn die Voraussetzungen für eine Aussetzung vorliegen, muss das 5 Gericht das Verfahren aussetzen (vgl. anders Art. 42). Das Gericht darf das Verfahren nur aussetzen, wenn die Vollstreckbar- 6 keit der ursprünglichen Entscheidung wegen eines Rechtsbehelfs im Ursprungsstaat ausgesetzt wurde. Es genügt dafür nicht, dass ein Rechtsbehelf bloß eingelegt wurde (vgl. anders Art. 42) oder dass die Rechtsbehelfsfrist in dem Staat noch nicht verstrichen ist. Der Rechtsbehelf im Ursprungsstaat muss im Rahmen des Artikel 53 7 nicht unbedingt ein „ordentlicher“ sein (vgl. anders Art. 42). Gegen eine Aussetzungsentscheidung kann keine Berufung in letzter 8 Rechtsbehelfsstufe (Revisionsgericht) eingelegt werden.4 Es ist aber wichtig zu verstehen, dass die Gegenpartei auch über Arti- 9 kel 54 Abs. 3 geschützt wird. Artikel 54: Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen (1) Ist eine Entscheidung nach diesem Abschnitt anzuerkennen, so ist der Antragsteller nicht daran gehindert, einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats in Anspruch zu nehmen, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung nach Artikel 48 bedarf. (2) Die Vollstreckbarerklärung umfasst von Rechts wegen die Befugnis, Maßnahmen zur Sicherung zu veranlassen. (3) Solange die in Artikel 50 Absatz 5 vorgesehene Frist für den Rechtsbehelf gegen die Vollstreckbarerklärung läuft und solange über den Rechtsbehelf nicht entschieden ist, darf die Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners nicht über Maßnahmen zur Sicherung hinausgehen.

4

Magnus/Mankowski, S. 779; SISRO v Ampersand (C-432/93).

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245

Artikel 54, Rn. 1–5

I. Allgemeines 1 Artikel 54 hat Artikel 47 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Mit der Regelung des Artikels 54 soll das Gleichgewicht zwischen den

Rechten beider Parteien gewahrt werden. Einerseits soll der Antragsteller davon geschützt werden, dass die Gegenpartei ihr Vermögen dem Vollstreckungszugriff der Gerichte und Behörden des Vollstreckungsstaats entzieht. Andererseits soll die Gegenpartei, die an der ersten Phase des Verfahrens (Art. 48) nicht teilnehmen kann, vor irreversiblen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen geschützt werden (z.B. indem ihr Vermögen zwangsversteigert wird, bevor sie Rechtsbehelf nach Artikel 50 einlegen konnte).1 3 Einstweilige Maßnahmen im Vollstreckungsstaat setzen nicht voraus,

dass die Entscheidung im Ursprungsstaat rechtskräftig ist.2 Wenn die Entscheidung im Ursprungsstaat aufgehoben wird, dürfen keine weiteren einstweiligen Maßnahmen vorgenommen werden. Sind solche Maßnahmen schon getroffen, müssen sie unverzüglich aufgehoben werden.3 4 Ein Antragsteller kann einstweilige Maßnahmen auch dann beantra-

gen, wenn sein Antrag auf Vollstreckbarerklärung zwar versagt wurde, er aber gegen diese Entscheidung Rechtsbehelf eingelegt hat (Art. 50).4 5 Das nationale Recht mancher Mitgliedstaaten fordert vor einer Ent-

scheidung über einstweilige Maßnahmen ein Bestätigungsverfahren. Grund dafür ist, dass einstweilige Maßnahmen in der Regel aufgrund einer summarischen Prüfung angeordnet werden, wenn solche Maßnahmen bereits vor einem kontradiktorischen Verfahren beantragt werden. Es gilt dabei die Gefahr von Anträgen aus reinem Mutwillen zu unterbinden. Werden einstweilige Maßnahmen nach Artikel 54 beantragt, basieren diese auf einer Gerichtsentscheidung im Ursprungsstaat, 1 2 3 4

Magnus/Mankowski, S. 782; Jenard, No. C 59/52. Magnus/Mankowski, S. 782. Magnus/Mankowski, S. 783. Gaudemet-Tallon, S. 481.

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Artikel 54, Rn. 6–10

so dass in diesem Fall kein Bedarf für ein Bestätigungsverfahren besteht.5

II. Absatz 1 Einstweilige Maßnahmen können schon vor dem Antrag auf Voll- 6 streckbarerklärung (Art. 46) beantragt werden. Es kann dabei sinnvoll sein, einstweilige Maßnahmen in mehreren Ländern zu beantragen, wenn der Antragsteller unsicher ist, wo sich Vermögengegenstände der Gegenpartei befinden. Nach erfolgtem Sicherungszugriff kann er dann entscheiden, in welchem Staat bzw. welchen Staaten er sinnvollerweise einen Antrag auf Vollstreckbarerklärung stellt.6 Einstweilige Maßnahmen können auch dann beantragt werden, wenn 7 das Gericht das Verfahren nach Artikel 53 ausgesetzt hat.7 Zu beachten ist der Unterschied zwischen Artikel 19 und Artikel 54: 8 Artikel 19 betrifft Maßnahmen vor der Entscheidung im Ursprungsstaat, wohingegen Artikel 54 Maßnahmen nach einer solchen Entscheidung umfasst. Das nationale Recht des Vollstreckungsstaats bestimmt, welche Siche- 9 rungsmaßnahmen (z.B. Vorpfändung, Arrest und einstweilige Verfügung) zulässig sind, und in welchem Verfahren über solche Maßnahmen entschieden wird. Die nationalen Regeln dürfen nicht dazu führen, dass die von der Erbrechtsverordnung aufgestellten Grundsätze in Frage gestellt werden (siehe auch Art. 54 Abs. 2).8

III. Absatz 2 Wenn der Antragsteller eine Vollstreckbarerklärung erhalten hat, hat er 10 eine automatische und bedingungslose Befugnis, einstweilige Sicherungsmaßnahmen zu verlangen (im Unterschied zu Art. 54 Abs. 1, 5 6 7 8

Capelloni v Pelkmans (C-119/84). Magnus/Mankowski, S. 784. Magnus/Mankowski, S. 783. Magnus/Mankowski, S. 783 und 785; Jenard, No. C 59/52; Kropholler, S. 487 und 489; Capelloni v Pelkmans (C-119/84).

Ulf Bergquist

247

Artikel 54, Rn. 11–14

der die Sicherungsrechte des Antragstellers vor Erlass der Vollstreckbarerklärung betrifft.)9 Der Antragsteller bedarf dafür keiner besonderen Bestätigung nach nationalem Recht des Vollstreckungsstaats.10 Es bedarf auch keiner Prüfung der Dringlichkeit der Maßnahmen oder der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, auch wenn nationales Recht dies verlangt.11 11 Es ist nicht notwendig, dass der Gegenpartei vor der Entscheidung über

Sicherungsmaßnahmen die Vollstreckbarerklärung zugestellt wird.12

IV. Absatz 3 12 Artikel 54 Abs. 3 ist eine der zentralen Regeln in Kapitel IV mit dem

Zweck, die Gegenpartei während der Rechtsbehelfszeit vor Zwangsmaßnahmen, die nicht rückgängig gemacht werden können, zu schützen. 13 Der EuGH hat entschieden, dass der Antragsteller einstweilige Maß-

nahmen aufrechterhalten darf, solange die in Artikel 54 Abs. 3 genannte Frist noch nicht abgelaufen ist, auch wenn nationales Recht andere Beschränkungen enthält.13 14 Wenn der Rechtsbehelf der Gegenpartei (Art. 50) abgelehnt wurde,

muss der Antragsteller nicht die Frist eines etwaigen weiteren Rechtsbehelfs (Art. 51) abwarten, sondern kann weitere Zwangsmaßnahmen veranlassen.14 Der Verfasser ist allerdings der Ansicht, dass das letzte Rechtsbehelfsgericht nach nationalem Recht Zwangsmaßnahmen aussetzen kann, bis es über den weiteren Rechtsbehelf entschieden hat. Wenn das nach der Verordnung unmöglich wäre, könnte eine Aufhebung der Vollstreckbarerklärung durch das letzte Rechtsbehelfsgericht wertlos werden, wenn die Vermögengegenstände schon versteigert sind,

9 10 11 12 13 14

Magnus/Mankowski, S. 784. Capelloni v Pelkmans (C-119/84). Jenard, No. C 59/52; Magnus/Mankowski, S. 784; Gaudemet-Tallon, S. 782. Magnus/Mankowski, S. 784. Capelloni v Pelkmans (C-119/84). Magnus/Mankowski, S. 786; Brennero v Wendel (C-258/83).

248

Ulf Bergquist

Artikel 55, Rn. 1–5

oder an den Antragsteller ausgegeben und von ihm in ein anderes Land als dem Vollstreckungsstaat verschafft wurden. Artikel 55: Teilvollstreckbarkeit (1) Ist durch die Entscheidung über mehrere Ansprüche erkannt worden und kann die Vollstreckbarerklärung nicht für alle Ansprüche erteilt werden, so erteilt das Gericht oder die zuständige Behörde sie für einen oder mehrere dieser Ansprüche. (2) Der Antragsteller kann beantragen, dass die Vollstreckbarerklärung nur für einen Teil des Gegenstands der Entscheidung erteilt wird.

I. Allgemeines 1

Artikel 55 hat Artikel 48 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

II. Absatz 1 Wenn Artikel 55 Abs. 1 einschlägig ist, muss das Vollstreckungsgericht 2 von Amts wegen eine Teilvollstreckbarerklärung erteilen, auch wenn kein diesbezüglicher Antrag gestellt ist1 (zum Antrag vergleiche Art. 55 Abs. 2). Das Vollstreckungsgericht hat z.B. eine Teilvollstreckbarerklärung zu 3 erteilen, wenn einzelne Teile des Ursprungsurteils nicht dem sachlichen Anwendungsbereich der Erbrechtsverordnung unterliegen.2 Eine Teilvollstreckbarerklärung soll auch erteilt werden, wenn aus Sicht 4 des Rechtsbehelfsgerichts (Art. 50) einzelne Teile des Ursprungsurteils (aber nicht alle) gegen den ordre public verstoßen (Art. 40 Abs. lit. a).3 Wenn das Ursprungsurteil Vermögengegenstände in mehreren Staaten 5 betrifft, soll das Vollstreckungsgericht eine Teilvollstreckbarerklärung 1 2 3

Kropholler, S. 491. Magnus/Mankowski, S. 786; Kropholler, S. 491. Jenard, No. C 59/53.

Ulf Bergquist

249

Artikel 55, 6–8; Artikel 56

bezogen auf die Vermögenswerte, die sich im Vollstreckungsstaat befinden, erteilen. 6 Eine Teilvollstreckbarerklärung kann aber nur selektiv wirken. Sie kann

nicht zu einer inhaltlichen Reduktion führen. Das bedeutet, dass sich eine Vollstreckungsversagung nur auf einzelne (volle) Teile des Ursprungsurteils beziehen kann. Das Gericht darf nicht von Amts wegen die Vollstreckbarerklärung auf eine ermäßigte Summe o. ä. beschränken (vgl. Art. 55 Abs. 2). Wenn das Vollstreckungsgericht dies tun würde, wäre das eine Nachprüfung in der Sache, die gemäß Artikel 41 unzulässig ist. Selbstverständlich darf das Vollstreckungsgericht in keinem Fall die Summe des Ursprungsurteils erhöhen oder die im Ursprungsurteil erwähnten Vermögenzustände erweitern.4

III. Absatz 2 7 Ein Antrag auf Teilvollstreckbarerklärung kann z.B. sachgerecht sein,

wenn einzelne Teile des Ursprungsurteils schon erledigt sind.5 8 Ein Antragsteller kann von dem Recht einer Teilvollstreckbarerklärung

unabhängig davon Gebrauch machen, ob das Ursprungsurteil mehrere Teile enthält (im Unterschied zu Art. 55 Abs. 1) Das Urteil muss lediglich teilbar sein, wie z.B. bei einer Geldforderung. Ein entsprechender beschränkter Antrag kommt insbesondere in Frage, wenn der titulierte Anspruch teilweise erloschen ist, z.B. durch Teilzahlung oder teilweise erfolgreiche Zwangsvollstreckung im Ausland.6 Artikel 56: Prozesskostenhilfe Ist dem Antragsteller im Ursprungsmitgliedstaat ganz oder teilweise Prozesskostenhilfe oder Kosten- und Gebührenbefreiung gewährt worden, so genießt er im Vollstreckbarerklärungsverfahren hinsichtlich der Prozesskostenhilfe oder der Kosten- und Gebührenbefreiung die günstigste Behandlung, die das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsieht. 4 5 6

Gaudemet-Tallon, S. 489. Magnus/Mankowski, S. 787. Kropholler, S. 491.

250

Ulf Bergquist

Artikel 56, Rn. 1–7

1

Artikel 56 hat Artikel 50 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

In einigen Mitgliedstaaten sind die Verfahrensvollstreckungskosten ver- 2 gleichsweise hoch. Daher kann es für eine Person mit sehr beschränkten Mitteln unentbehrlich sein, auch in dem Vollstreckungsstaat Prozesskostenhilfe zu erhalten.1 Die Regelung des Artikels 56 umfasst Prozesskostenhilfe in allen Sta- 3 dien des Verfahrens nach der Erbrechtsverordnung.2 Jedoch kann Artikel 56 nicht auf das Vollstreckungsstadium erstreckt werden.3 Für die sich an die Vollstreckbarerklärung anschließende Vollstreckung kann Prozesskostenhilfe ausschließlich in Übereinstimmung mit den nationalen Regeln im Vollstreckungsstaat gewährt werden. Ein Antragsteller, der im Ursprungsstaat Prozesskostenhilfe erhalten 4 hat, ist automatisch zu Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsstaat berechtigt, ohne ein spezielles Prüfungsverfahren zum Nachweis der Berechtigung absolvieren zu müssen.4 Wenn er ein solches spezielles Verfahren durchführen müsste, könnte die Notwendigkeit einer zügigen Erledigung gefährdet sowie der Überraschungsmoment verloren gehen.5 Auch in dem Fall, dass der Antragsteller nur teilweise Prozesskostenhil- 5 fe im Ursprungsstaat erhalten hat, ist er dazu berechtigt, Prozesskostenhilfe in vollem Umfang im Vollstreckungsstaat zu erhalten.6 Die Art und das Ausmaß der Prozesskostenhilfe in vollem Umfang 6 („die günstigste Behandlung“) werden aber durch die nationalen Regeln im Vollstreckungsstaat festgelegt.7 Artikel 56 schließt nicht die Möglichkeit aus, dass dem Antragsteller 7 Prozesskostenhilfe nach den nationalen Regeln im Vollstreckungsstaat 1 2 3 4 5 6 7

Gaudemet-Tallon, S. 465–466. Magnus/Mankowski, S. 789. Jenard, No. C 59/54. Gaudemet-Tallon, S. 465; Magnus/Mankowski, S. 790. Jenard, No. C 59/54. Magnus/Mankowski, S. 790. Magnus/Mankowski, S. 790.

Ulf Bergquist

251

Artikel 57, Rn. 1–3

gewährt wird. Damit ist ein Antragsteller, der im Ursprungsstaat keine Prozesskostenhilfe erhalten hat, nicht gehindert, Prozesskostenhilfe im Vollstreckungsstaat gemäß dessen nationalen, ggf. großzügigeren Regeln zu beantragen. Dies gilt auch für den Fall, dass er zu einem höheren Grade verarmt ist als zum Zeitpunkt des Verfahrens im Ursprungsstaat.8 Artikel 57: Keine Sicherheitsleistung oder Hinterlegungen Die Partei, die in einem Mitgliedstaat die Anerkennung, Vollstreckbarerklärung oder Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt, darf wegen ihrer Eigenschaft als Ausländer oder wegen Fehlens eines inländischen Wohnsitzes oder Aufenthalts im Vollstreckungsmitgliedstaat eine Sicherheitsleistung oder Hinterlegung, unter welcher Bezeichnung es auch sei, nicht auferlegt werden.

1 Artikel 57 hat Artikel 51 Brüssel I-Verordnung als Vorlage. 2 Artikel 57 verbietet ausschließlich die Diskriminierung eines Antrag-

stellers, weil dieser nicht Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaat ist oder dort keinen Wohnsitz bzw. Aufenthalt hat. Er schließt nicht Sicherheitsleistungen oder Hinterlegungen aus anderen Gründen nach den nationalen Regeln des Vollstreckungsstaats aus, wenn dies die gleichen Anforderungen sind, die für alle Antragsteller unabhängig von deren Staatsangehörigkeit, Wohnsitz oder Aufenthalt gelten.1 3 Die Vorschriften in diesem Artikel sind nicht begrenzt auf Antragstel-

ler, die Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats sind oder nur dort in Wohnsitz haben.2

8 1 2

Magnus/Mankowski, S. 790. Magnus/Mankowski, S. 791. Magnus/Mankowski, S. 791.

252

Ulf Bergquist

Artikel 58, Rn. 1–3; Artikel 59

Artikel 58: Keine Stempelabgaben oder Gebühren Im Vollstreckungsmitgliedstaat dürfen in Vollstreckbarerklärungsverfahren keine nach dem Streitwert abgestuften Stempelabgaben oder Gebühren erhoben werden.

1

Artikel 58 hat Artikel 52 Brüssel I-Verordnung als Vorlage.

Dieser Artikel untersagt Mitgliedstaaten nicht, festgelegte Gebühren für 2 die von dem Vollstreckungsgericht bereitgestellten Dienstleistungen zu verlangen.1 Allerdings dürfen diese Gebühren nicht über eine geschäftswertabhängige Berechnung so ein hohes Ausmaß annehmen, dass dies dem Zweck der Verordnung, die Freizügigkeit von Gerichtsentscheidungen zu erleichtern, widerspricht.2 Die Vorschriften in Artikel 58 befassen sich ausschließlich mit Gerichts- 3 gebühren, nicht mit Gebühren für die Arbeit eines Rechtsanwalts.3

Kapitel V: Öffentliche Urkunden und gerichtliche Vergleiche Artikel 59: Annahme öffentlicher Urkunden (1) Eine in einem Mitgliedstaat errichtete öffentliche Urkunde hat in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche formelle Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung, sofern dies der öffentlichen Ordnung (ordre public) des betreffenden Mitgliedstaats nicht offensichtlich widersprechen würde. Eine Person, die eine öffentliche Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat verwenden möchte, kann die Behörde, die die öffentliche Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat errichtet, ersuchen, das nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellte Formblatt auszufüllen, das die formel1 2 3

Gaudemet-Tallon, S. 466. Magnus/Mankowski, S. 792; Wolf v Cox (C-42/76). Magnus/Mankowski, S. 792.

Domenico Damascelli

253

Artikel 59, Rn. 1, 2

le Beweiskraft der öffentlichen Urkunde in ihrem Ursprungsmitgliedstaat beschreibt. (2) Einwände mit Bezug auf die Authentizität einer öffentlichen Urkunde sind bei den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats zu erheben; über diese Einwände wird nach dem Recht dieses Staates entschieden. Eine öffentliche Urkunde, gegen die solche Einwände erhoben wurden, entfaltet in einem anderen Mitgliedstaat keine Beweiskraft, solange die Sache bei dem zuständigen Gericht anhängig ist. (3) Einwände mit Bezug auf die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse sind bei den nach dieser Verordnung zuständigen Gerichten zu erheben; über diese Einwände wird nach dem nach Kapitel III anzuwendenden Recht entschieden. Eine öffentliche Urkunde, gegen die solche Einwände erhoben wurden, entfaltet in einem anderen als dem Ursprungsmitgliedstaat hinsichtlich des bestrittenen Umstands keine Beweiskraft, solange die Sache bei dem zuständigen Gericht anhängig ist. (4) Hängt die Entscheidung des Gerichts eines Mitgliedstaats von der Klärung einer Vorfrage mit Bezug auf die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse in Erbsachen ab, so ist dieses Gericht zur Entscheidung über diese Vorfrage zuständig.

I. Allgemeines 1 Das in Artikel 39 bis 58 geregelte Anerkennungs- und Vollbarerklä-

rungsverfahren von Entscheidungen in Erbsachen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, basiert zum größten Teil auf den entsprechenden Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Im Vergleich dazu erweist sich Kapitel V der Verordnung als wesentlich interessanter, da darin öffentlichen Urkunden im Hinblick auf die Bedeutung, die sie für die Abwicklung von Erbsachen haben, eine im Vergleich zu den anderen bestehenden EU-Verordnungen ausgesprochen innovative Regelung gewidmet wurde. 2 Zu den öffentlichen Urkunden in Erbsachen, die in vielen nationalen

Rechtsordnungen vorgesehen sind, können unter anderem zählen: das 254

Domenico Damascelli

Artikel 59, Rn. 3

öffentliche Testament (vor einem Notar errichtet) und das eigenerrichtete, aber dem Notar ausgehändigte Testament, das öffentlich geführte Register von eigenhändigen und durch Übergabe einer Schrift errichteten Testamenten, die bedingte oder unbedingte Erbantrittserklärung, die Ausschlagung einer Erbschaft, der Verteilungsvertrag, das Nachlassverzeichnis, andere notarielle Urkunden etc. Artikel 3 Abs. 1 lit. i der Verordnung beschreibt die öffentliche Urkunde 3 als „ein Schriftstück in Erbsachen, das als öffentliche Urkunde in einem Mitgliedstaat förmlich errichtet oder eingetragen worden ist und dessen Beweiskraft i) sich auf die Unterschrift und den Inhalt der öffentlichen Urkunde bezieht und ii) durch eine Behörde oder eine andere von Ursprungsmitgliedstaat hierzu ermächtigte Stelle festgestellt worden ist.“ Durch diese Definition1 und durch den Verweis des Artikel 59 Abs. 1 S. 1 auf den Inhalt der in Betracht kommenden Urkunden, kann man folgern, dass Kapitel V den Verkehr von Urkunden innerhalb der Mitgliedstaaten garantiert, die in ihrer Gesamtheit von einer Urkundsperson2 errichtet wurden. Dies ist nur der Fall, wenn sich deren Beteiligung nicht nur auf die Beglaubigung der Unterschriften der Beteiligten beschränkt, sondern auch den wesentlichen Inhalt der Urkunde umfasst, wenn also die Urkundsperson auch die Verantwortung für die Prüfung der Gesetzmäßigkeit des Inhalts der Urkunde übernimmt (d.h. in Form einer Kontrolle, ob die Urkunde mit dem Recht, dem das Rechtsverhältnis unterliegt, übereinstimmt).3 1

2 3

Vergleichbar mit anderen Quellen des europäischen internationalen Privatrechts: vgl. Art. 4 Abs. 3 lit. a Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen und Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 Verordnung (EG Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen. Diese Bestimmungen haben die Einstellung des Europäischen Gerichtshofs im Fall Unibank C-260/97 vom 17.6.1999 herausgearbeitet. Mit anderen Worten eine dritte Person mit öffentlicher Macht. Vgl. Pasqualis, Attuazione ed esecuzione forzata in Italia degli atti pubblici provenienti dall’estero, in Trattato di diritto civile del Consiglio Nazionale del No-

Domenico Damascelli

255

Artikel 59, Rn. 4, 5

4 Die Verordnung sieht vor, dass Dokumente, die aus einem Mitglied-

staat stammen und die genannten Voraussetzungen erfüllen (was im Wesentlichen, aber nicht ausschließlich, Urkunden von Notaren im Sinne des kontinentalen Rechts umfasst),4 nicht nur in anderen Mitgliedstaaten vollstreckt werden können (was einer unstreitigen langen Tradition bis zurück zu Artikel 50 des Brüssel Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen entspricht),5 sondern auch, dass sie von ihnen „angenommen“ werden müssen.

II. Absatz 1 5 Die Verwendung des Begriffs „Annahme“ in der Überschrift von Arti-

kel 59 ist auf Vorbehalte in der Rechtsliteratur zurückzuführen,6 die sich dagegen wandte, dass im Entwurf der Verordnung für die entsprechen-

4

5

6

tariato diretto da Perlingieri, I, 4, Lupoi, Vullo, Civinini, Pasqualis, Giurisdizione italiana. Efficacia di sentenze e atti stranieri, Neapel, 2007, 590 s. Die grundsätzlichen Eigenschaften eines „civil law“-Notars sind eine Hochschulabschluss in Jura, seine unparteiische Stellung, seine Pflicht seine beruflichen Dienste zur Verfügung zu stellen, und dabei das Gesetz anzuwenden: vgl. Renteria Arocena, Manuel de droit privé et de justice préventive en Europe, Pamplona, 2007, cap. I, L’organisation et la fonction des notaires, passim. Dagegen wird man davon ausgehen, dass der Verkehr von Dokumenten, bei denen sich die Tätigkeit eines solchen Notars auf die einfache Beglaubigung der Unterschrift beschränkt hat, sowie von privat beglaubigten Dokumenten von dem in der Verordnung eingeführten System der Anerkennung ausgeschlossen ist; für deren Anerkennung gelten ausschließlich die jeweiligen nationalen Vorschriften. Diese Tradition wurde an verschiedenen Stellen aufgenommen: vgl. Artikel 57 Verordnung (EG) 44/2001, Artikel 46 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, Artikel 25 Verordnung (EG) 805/2004 und Artikel 48 Abs. 1 Verordnung (EG) 4/2009. Der Begriff wird aber im Textteil der Vorschrift nicht wiederholt, was auch auf seinem rechtlich unbestimmten Aussagegehalt beruht.

256

Domenico Damascelli

Artikel 59, Rn. 6

de Bestimmung noch der Ausdruck „Anerkennung“ vorgesehen war.7 Der Wesensgehalt, auf den sich dieser Begriff bezieht, ergibt sich aus Artikel 59 Abs. 1 Satz 1: Dieser schreibt vor, dass eine öffentliche Urkunde im Verwendungsmitgliedstaat die gleiche „formelle Beweiskraft“ wie im Ursprungsmitgliedstaat hat, wobei es sich um eine Beweiskraft handelt, deren besonderen Vorteile schützenswert sind, oder mit anderen Worten, eine Beweiskraft mit stärkeren Wirkungen als eine bloße Privatvereinbarung. Diese besondere Beweiskraft wird – zumindest in der Regel – dadurch gewährleistet, dass die Authentizität und dadurch die Zuverlässigkeit der öffentlichen Urkunde offensichtlich sind, ohne dafür auf spezielle rechtliche Verfahren zurückgreifen zu müssen. Dies ist genau das, was z.B. Artikel 2700 des italienischen Zivilgesetzbuchs regelt, der öffentliche Urkunden mit absoluter Beweiskraft ohne weitere rechtliche Nachweise ausstattet. Nicht der freien Beweiswürdigung des Richters unterliegen dabei: die Herkunft der Urkunde von der Urkundsperson, die sich durch ihre Unterschrift als Autor identifiziert; die Formulierung der öffentlichen Urkunde, und dabei v.a. die Bescheinigung über Ort und Datum, wo sie errichtet wurde; die Angaben des Urkundsbeamten, welche Erklärungen die Beteiligten vor ihm abgegeben haben bzw. welche Umstände sich in seiner Gegenwart ergeben haben, wie auch weitere Maßnahmen, die er selbst ergriffen hat. Im Ergebnis kann der volle Beweis dieser Grundbestandteile nur im Rahmen besonderer Verfahren mit dem Ziel, die Urkunde für ungültig erklären zu lassen, angefochten werden, wie z.B. durch die querela di falso (Vorwurf der Urkundenfälschung) nach Artikel 221 ff. C.P.C.8 Die Tatsache, dass der Umfang der einzelnen Wirkungen, die öffentli- 6 che Urkunden aus verschiedenen Mitgliedstaaten in den jeweils ande7

8

Vgl. Bericht des Max Planck Instituts in RabelsZ 2010, 523 ff., 669, und die scharfe Antwort von Nourissat, Callé, Pasqualis, Wautelet, Pour la reconnaissance des actes authentiques au sein de l’espace de liberté, de sécurité et de justice, in Petites affiches 2012, 6 ff. Dementsprechende Rechtsmittel sind in den Gesetzen vieler Mitgliedstaaten vorhergesehen, vgl. Renteria Arocena, a.a.O.

Domenico Damascelli

257

Artikel 59, Rn. 6

ren Mitgliedstaaten haben können, wächst, deutet darauf hin, dass das Bewusstsein für deren effektive Gleichwertigkeit zunimmt. Eine umfassende Akzeptanz ist in diesem Gebiet der gegenseitigen Anerkennung9 jedoch dadurch behindert, dass einige Mitgliedstaaten notarielle Urkunden nicht kennen10 oder ihnen weniger Wirkungen zuschreiben als die meisten europäischen Rechtsordnungen.11 In diesen Staaten könnte die Zulassung ausländischer notarieller Urkunden, die den vollen Beweis bezüglich aller oben erwähnten Umstände führen, zu einschneidenden Änderungen der geltenden Beweisregeln führen.12 Um diese Konsequenz zu vermeiden, sieht Artikel 59 Abs. 1 Satz 1 einen Vergleich des Rechts des Ursprungsmitgliedstaats mit dem Recht des Mitgliedstaat, in welchem die Urkunde verwendet werden soll, vor: Wenn der Umfang der Beweiswirkungen der notariellen Urkunde nicht in beiden Staaten vergleichbar ist, werden im zweiten Staat nur die Wirkungen anerkannt, die mit dem dortigen Beweisverfahren vereinbar sind. Dieser Vergleich kann konsequenterweise dazu führen, dass der Umfang der Wirkungen, die eine öffentliche Urkunde mit sich bringen kann, im Ausland eingeschränkt wird. Und falls das Rechtssystem eines Mitgliedstaats, das die Wirkungen einer notariellen Urkunde gar nicht 9

10

11

12

Aus diesem Grund müssen Rechtsverhältnisse, die in einem Mitgliedstaat unter den dort geltenden Vorschriften wirksam entstehen, frei im europäischen Rechtsraum zirkulieren können, so lange es keine europäischen Mindestnormen gibt; vgl. dazu die die Entscheidung des EuGH vom 20.2.1979, 120/78 Cassis/Dijon. Zu den Auswirkungen im Gebiet des internationalen Privatrechts vgl. Picone, Diritto internazionale privato comunitrario e pluralità die metodi di coordinamento tra ordinamenti, in Picone (ed.) Diritto internazionale privato e diritto comunitario, Padova, 2004, 485 ff. Dies ist z.B. der Fall in Zypern, wo die Beglaubigung von Dokumenten nur Beamten des Innenministeriums zusteht. Dies betrifft z.B. finnische (julkinen notaari) und schwedische (notarius publicus) Notare, deren Befugnis auf die Beglaubigung von Unterschriften oder Dokumenten beschränkt ist (für mehr Informationen vgl. die Seiten über Rechtsberufe im „Europäischen Justiziellen Netz für Zivil- und Handelssachen“ der EU). Diese Beweisregeln bauen mehr oder weniger auf dem Prinzip der Untersuchung aller Beweise durch den Richter auf.

258

Domenico Damascelli

Artikel 59, Rn. 7

kennt, betroffen ist, stellt sich die Frage, ob auch dieser Staat verpflichtet ist, der „Annahme“ gemäß Artikel 59 zu folgen. Es scheint so, dass die Antwort auf diese Frage insoweit zu bejahen ist, dass der öffentlichen Urkunde zumindest ein Mindestmaß an Wirkungen beizulegen ist. Dies ist die „am ehesten vergleichbare Wirkung“ im Rechtssystem des Staates, in dem die Urkunde verwendet werden soll. Im dem beschriebenen Fall wäre es z.B. mit dem Konzept der Verordnung vereinbar, wenn die Anerkennung der ausländischen öffentlichen Urkunde dazu führt, dass der Urkunde zumindest eine Beweiswirkung beigelegt wird, die mit der einer Privaturkunde, deren Unterschriften rechtskräftig festgestellt wurden, entspricht. Letztendlich ist nicht auszuschließen, dass sogar das Gegenteil eintritt, d.h. dass das Recht des Mitgliedstaats, in dem die Urkunde verwendet wird, dieser andere oder umfangreichere Beweiswirkungen zuschreibt als das Recht des Ursprungsmitgliedstaats. Es gibt keinen Zweifel daran, dass dies unproblematisch zulässig ist, denn das europäische Recht kann mit Artikel 59 nur vorschreiben, dass der Urkunde zumindest „die gleiche formelle Beweiskraft“ wie im Ursprungsmitgliedstaats beigelegt wird. Durch die ausdrückliche Regelung der grenzüberschreitenden Beweis- 7 wirkung der notariellen Urkunden, scheint die Verordnung andere Wirkungen der Urkunden außen vor zu lassen, wie z.B. deren Eignung für die Übertragung oder Aufzeichnung in öffentlichen Registern. Diese Einschätzung wird zum einen dadurch bestärkt, dass die Verordnung bezüglich der öffentlichen Urkunden keine dem Artikel 69 Abs. 5 vergleichbare Regelung (wonach das Europäische Nachlasszeugnis ein „wirksames Schriftstück für die Eintragung des Nachlassvermögens in das einschlägige Register eines Mitgliedstaats“ darstellt) enthält, und zum anderen durch Artikel 1 Abs. 2 lit. l, der „jede Eintragung von Rechten an beweglichen oder unbeweglichen Vermögensgegenständen in einem Register, einschließlich der gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Eintragung“ aus dem Anwendungsbereich der Verordnung ausnimmt. Allerdings besagt Erwägungsgrund 18 auch: „Um eine doppelte Erstellung von Schriftstücken zu vermeiden, sollten die Eintragungsbehörden diejenigen von den zuständigen Behörden in einem anderen Mitgliedstaat erstellten Schriftstücke annehmen, deren Verkehr nach dieser Verordnung vorgesehen ist“. In Auslegung dieser ErläuteDomenico Damascelli

259

Artikel 59, Rn. 8, 9

rung könnte man – im Gegensatz zur ersten Erwartung – erwägen, ob die Verordnung auch einen weiteren (und neuen) Ansatz eröffnet: den Ansatz, dass es als europarechtswidrig angesehen werden könnte, wenn nationale Bestimmungen die Verwendung von Urkunden anderer Mitgliedstaaten verweigern (wie z.B. in Artikel 710 Abs. 1 Satz l des französischen Code Civil),13 auch wenn die Festlegung der formellen und materiellen Voraussetzungen für notarielle Urkunden für den Zugang zu öffentlichen Registern grundsätzlich vom Recht des jeweiligen Mitgliedstaats entschieden wird.14 8 Schließlich enthält Artikel 59 Abs. 1 Satz 2 eine wichtige praktische Be-

stimmung. Die Person, die eine öffentliche Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat verwenden will, kann von der Person, die die öffentliche Urkunde errichtet hat, eine Bescheinigung gemäß einem (im Verfahren nach Artikel 81 Abs. 2 erstellten) Formblatt verlangen. In dieser Bescheinigung ist die formelle Beweiskraft der öffentlichen Urkunde in ihrem Ursprungsmitgliedstaat näher zu beschreiben.

III. Absätze 2 und 3 9 Nach dem letzten Satz in Artikel 59 Absatz 1 sind die Mitgliedstaaten

verpflichtet die öffentliche Urkunde anzunehmen, „sofern dies der öf-

13

14

Dieser Ansatz scheint auch der neueren Praxis in einigen Mitgliedstaaten zu entsprechen: Das spanische Tribunal Supremo hat am 19. Juni 2012 (n 998/ 2011) die Nichtigerklärung der Resolución de la Dirección General de los Registros y del Notariado vom 7. Februar 2005 bestätigt. Diese „Resolución“ hatte die Übertragung aufgrund einer öffentlichen Urkunde, die von einem deutschen Notar erstellt wurde, in Spanien verweigert. In dem entschiedenen Fall wurde die Urkunde für einen Immobilienverkauf in Teneriffa erstellt. Nach Erwägungsgrund 18 sind die Registerbehörden nicht gehindert, „von der Person, die die Eintragung beantragt, diejenigen zusätzlichen Angaben oder die Vorlage derjenigen zusätzlichen Schriftstücke zu verlangen, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem das Register geführt wird, erforderlich sind, wie beispielsweise Angaben oder Schriftstücke betreffend der Zahlung von Steuern. Die zuständige Behörde kann die Person, die die Eintragung beantragt, darauf hinweisen, wie die fehlenden Angaben oder Schriftstücke beigebracht werden können.“

260

Domenico Damascelli

Artikel 59, Rn. 10

fentlichen Ordnung (ordre public) des betreffenden Mitgliedstaats nicht offensichtlich widersprechen würde“. Zu dieser traditionellen Einschränkung im internationalen Rechtsver- 10 kehr fügt Artikel 59 noch zwei weitere mögliche Einwände hinzu, nämlich den Einwand „mit Bezug auf die Authentizität“ der öffentlichen Urkunde (Absatz 2) und den „mit Bezug auf die in einer öffentlichen Urkunde beurkundeten Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse“ (Absatz 3). Daraus folgt jeweils, dass eine öffentliche Urkunde, gegen die solche Einwände erhoben werden, in einem anderen Mitgliedstaat hinsichtlich des bestrittenen Umstands keine Beweiskraft entfaltet, solange die Sache bei dem zuständigen Gericht anhängig ist. Der Unterschied zwischen den beiden zitierten Kategorien beruht auf der Überlegung, welcher Richter am besten über den betreffenden Einwand entscheiden kann, und welches Recht maßgeblich ist, um die betreffende Frage zu lösen: Einwände der ersten Kategorie sind „bei den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats zu erheben; über diese Einwände wird nach dem Recht dieses Staates entschieden.“ Die Entscheidung über Einwände der zweiten Kategorie ist dagegen dem nach Kapitel II der Verordnung zuständigen Gericht zugewiesen und wird durch Anwendung des anwendbaren Erbrechts gelöst. Es bleibt im Einzelfall die Frage zu lösen, welche Einwände unter welche Kategorie fallen: Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass sich Einwände bezüglich der „Authentizität“ auf Mängel der Urkunde selbst beziehen, u.a. dass diese unter Verstoß gegen die Regeln, die Grundlage für die Ausübung der notariellen Beurkundung sind,15 oder die für die Formulierung der Urkunde gelten, errichtet wurde. Das Vorhandensein von Mängeln beinhaltet in diesem Fall, dass die öffentliche Urkunde ihre grundlegenden Eigenschaften verliert, die sie zu einem Ausdruck der souveränen Staatsmacht macht. Dies rechtfertigt zugleich, dass die Überprüfung ihrer Existenz allein den Richtern und dem Gesetz des betroffenen Staates unterstellt ist. Dagegen gibt es keinen Grund, sich bei Einwänden hinsichtlich des wesentlichen Inhalts der Urkunde von den generellen Rechtsvorschriften, also dem auf die Erbfolge anzuwendenden Recht zu entfernen.16 Verstoßen die rechtlichen Beziehungen, die in der öf15

Dazu kann z.B. zählen, dass der Notar zwingend nur in einem bestimmten territorialen Raum beurkunden darf.

Domenico Damascelli

261

Artikel 59, Rn. 11, 12

fentlichen Urkunde dokumentiert sind, gegen das anwendbare Recht, ist es daher logisch, dass die Durchsetzung der Rechtsordnung den Gerichten, die nach der Verordnung international zuständig sind, überlassen wird, um die einheitliche Anwendung der lex successionis sicherzustellen. 11 Es bleibt die Frage, welcher Richter nach welchem Recht über solche

Einwände entscheidet, die nicht von Artikel 59 umfasst sind, und welche Wirkungen dies auf den Verkehr der Urkunden hat. Es gibt wohl keinen Zweifel, dass bei Einwänden bezüglich von Umständen, die vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen sind (wie z.B. Einwände bezüglich der Rechtsfähigkeit von betroffenen Personen), der nach nationalem Recht zuständige Richter nach dessen eigenem Recht zu entscheiden hat. Zugleich erscheint es in diesem Fall gerechtfertigt, dass die Mitgliedstaaten die betroffene öffentliche Urkunde nicht „annehmen“. Denn im Hinblick darauf, dass die Verordnung nur den Verkehr von mängelfreien öffentlichen Urkunden schützt, kann es keinen Unterschied machen, warum ein etwaiger Mangel zu berechtigten Einwänden führen kann. Im Ergebnis folgt aus dieser Schlussfolgerung, dass die Annahme der grenzüberschreitenden Beweiswirkungen der öffentlichen Urkunden immer dann eingeschränkt ist, wenn eine gerichtliche Entscheidung Mängel feststellt, selbst wenn diese noch nicht rechtskräftig ist. 12 Es bleibt die Frage, wie zu verfahren ist, wenn eine öffentliche Urkunde

in dem Mitgliedstaat, in dem sie verwendet werden soll, „nicht angenommen“ wird, obwohl alle in Artikel 59 festgelegten Kriterien erfüllt sind. Die Verordnung enthält zu dieser Frage keine ausdrückliche Lösung. Allerdings erscheint es möglich, dass die Person, die die abgelehnte Urkunde verwenden will, verlangen kann, dass die Ablehnung als Haupt- oder Vorfrage nach der Vorschrift des Artikel 39 Abs. 2 und 3 16

Dies bestätigt, dass der Notar inhaltlich dem einheitlichen Kollisionsrecht unterliegt, also die lex successionis anwenden muss. In der Literatur ist dieser Sachverhalt schon lange akzeptiert vgl: Damascelli, Sul dovere di conoscenza della legge straniera applicabile da parte del notaio, in Professione e Ricera. Attualità e problematiche in materia di nullità relative, Monopoli, 2009, s. 309 ff.; Calle, Le notaire, les actes notariés et le droit international privé, Mélanges à la mémoire de Patrick Courbe, 2012, 76 ff.

262

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Artikel 59, Rn. 13; Artikel 60, 61

geprüft wird. Diese Regelung erscheint nicht abschließend, so dass deren analoge Anwendung nicht ausgeschlossen ist.

IV. Absatz 4 Einwände bezüglich der Rechtsgeschäfte oder Rechtsverhältnisse, die in 13 einer öffentlichen Urkunde beurkundet wurden, können sich als Haupt- oder Vorfrage vor dem Gericht eines Mitgliedstaats ergeben. Handelt es sich nur um eine Vorfrage, fällt gemäß Artikel 59 Abs. 4 der Einwand bezüglich der öffentlichen Urkunde auch unter die Zuständigkeit des Gerichts, das über die Hauptfrage entscheidet. Artikel 60: Vollstreckbarkeit öffentlicher Urkunden (1) Öffentliche Urkunden, die im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind, werden in einem anderen Mitgliedstaat auf Antrag eines Berechtigten nach dem Verfahren der Artikel 45 bis 58 für vollstreckbar erklärt (2) Für die Zwecke des Artikel 46 Absatz 3 Buchstabe b stellt die Behörde, die die öffentliche Urkunde errichtet hat, auf Antrag eines Berechtigten eine Bescheinigung unter Verwendung des nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellten Formblatts aus. (3) Die Vollstreckbarerklärung wird von dem mit einem Rechtsbehelf nach Artikel 50 oder Artikel 51 befassten Gericht nur versagt oder aufgehoben, wenn die Vollstreckung der öffentlichen Urkunde der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Vollstreckungsmitgliedstaats offensichtlich widersprechen würde

Artikel 61: Vollstreckbarkeit gerichtlicher Vergleiche (1) Gerichtliche Vergleiche, die im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind, werden in einem anderen Mitgliedstaat auf Antrag eines Berechtigten nach dem Verfahren der Artikel 45 bis 58 für vollstreckbar erklärt. (2) Für die Zwecke des Artikels 46 Absatz 3 Buchstabe b stellt das Gericht, das den Vergleich gebilligt hat oder vor dem der Vergleich geschlossen wurde, auf Antrag eines Berechtigten eine Bescheinigung unter Verwendung des nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellten Formblatts aus. Domenico Damascelli

263

Artikel 60, 61, Rn. 1, 2

(3) Die Vollstreckbarerklärung wird von dem mit einem Rechtsbehelf nach Artikel 50 oder Artikel 51 befassten Gericht nur versagt oder aufgehoben, wenn die Vollstreckung des gerichtlichen Vergleichs der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Vollstreckungsmitgliedstaats offensichtlich widersprechen würde.

I. Allgemein 1 Die Vollstreckbarkeitsregeln öffentlicher Urkunden und gerichtlicher

Vergleiche gemäß Artikel 60 und 61 beinhalten keine wichtigen Innovationen im Vergleich zu geltendem europäischem Recht, da Artikel 57 und 58 der Verordnung Nr. 44/2001 fast Wort für Wort wiederholt werden. Damit wird weiterhin für beide Arten von Vollstreckungstiteln das exequatur-Verfahren benötigt. So wie für den Begriff der öffentlichen Urkunde enthält die Erbrechtsverordnung auch eine Definition gerichtlicher Vergleiche: Nach Artikel 3 Absatz 1 lit. h umfasst der Begriff sowohl einen außerhalb eines Gerichtsverfahrens eingegangenen Vergleich, der von einem Gericht gebilligt wurde, als auch einen im Laufe eines Verfahrens vor einem Gericht geschlossenen Vergleich. Die erste Kategorie beinhaltet also Übereinkommen außergerichtlicher Schlichtungen, die nachträglich von einem Gericht angenommen wurden. Die zweite Kategorie erfasst alle direkt von dem Gericht protokollierten Vereinbarungen. 2 Artikel 60 und 61 der Verordnung äußern sich nicht zur Art und Weise

der Vollstreckung, die im Ausland erfolgen kann. Diese Frage ist aber von wichtiger praktischer Bedeutung, da z.B. in bestimmten Rechtsordnungen die betroffenen Urkunden nicht nur für eine zwangsweise Verwertung der Vermögensgegenstände des Schuldners dienen können, sondern auch um die Herausgabe des Vermögens zu erreichen (vgl. z. B. Artikel 474 Abs. 3 italienischer C.P.C.). Damit ist die Frage zu entscheiden, ob öffentliche Urkunden und gerichtliche Vergleiche die gleiche vollstreckbare Wirkung wie im Ursprungsmitgliedstaat haben, oder nur die, die mit dem Umfang der Vollstreckbarkeit von Urkunden im Mitgliedstaat der Vollstreckung

264

Domenico Damascelli

Artikel 60, 61, Rn. 3–7

übereinstimmen.1 Die Regeln bezüglich der „Annahme“ öffentlicher Urkunden deuten eher auf die zweite Lösung hin.

II. Absätze 1 und 2 Die Regeln der Artikel 60 und 61 zur Vollstreckbarkeit öffentlicher Ur- 3 kunden und gerichtlicher Vergleiche sind praktisch identisch. In beiden Fällen muss der Berechtigte einen Antrag an das zuständige 4 Gericht nach Artikel 45 stellen, zusammen mit einer von dem Notar bzw. der Behörde, die die Urkunde ausgestellt hat,2 bzw. dem Gericht, das den Vergleich gebilligt hat, ausgestellten Bescheinigung. Diese Bescheinigung wird gemäß dem Standardformular, das die Europäische Kommission im Verfahren nach Art. 81 erstellt, ausgestellt. Voraussetzung dafür, einer öffentlichen Urkunde oder einem gericht- 5 lichen Vergleich Vollstreckbarkeit in einem Mitgliedstaat zu gewähren, ist, dass diese bereits im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind. Dies muss sich deutlich aus der Bescheinigung, die dem Antrag beizufügen ist, ergeben.

III. Absatz 3 Einziges rechtliches Hindernis, um die Vollstreckbarkeit zu versagen, ist 6 nach dem Wortlaut der Verordnung die Tatsache, dass die Urkunde offensichtlich der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Vollstreckungsmitgliedstaats widerspricht. Man könnte sich allerdings fragen, ob neben diesem Hindernis auch 7 der Einwand bezüglich der Wirksamkeit der Urkunde möglich ist, wie 1

2

Bezüglich Artikel 57 und 58 der Verordnung Nr. 44/2001 deuten dies Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, S. 689 ff. auf diese einschränkende Weise. Dabei ergibt sich ein Unterschied zur Verordnung Nr. 44/2001, welche in Artikel 57 Abs. 4 die Ausstellung der Bescheinigung der vom Mitgliedstaat vorhergesehenen Behörde anvertraut, d.h. einer Behörde, die nicht unbedingt mit dem Notar oder der Behörde, der/die die Urkunde errichtet hat, übereinstimmt.

Domenico Damascelli

265

Artikel 60, 61, Rn. 8, 9

dies bezüglich der Annahme öffentlicher Urkunden gemäß Art. 59 Abs. 2 und 3 möglich ist. Für eine solche Schlussfolgerung könnte theoretisch sprechen, dass ein schwebender Einwand, der die grenzüberschreitende Beweiswirkung der Urkunde hindert, erst recht ein Hindernis für deren Vollstreckung (die ja sogar schwerer wiegt als die Beweiswirkung) darstellen müsste.3 Andererseits sprechen zwei Argumente gegen eine entsprechende Analogie: Zum einen ist die Tatsache, dass die Regelung keine Änderung bezüglich der Vollstreckbarkeit öffentlicher Urkunden im Vergleich zu älteren europäischen Regelungen enthält, ein Indiz dafür, dass der europäische Gesetzgeber nicht in die bisher reibungslos verlaufenden Grundsätze eingreifen wollte. Zum anderen sind die weitergehenden Einschränkung in Bezug auf die „Annahme“ öffentlicher Urkunden im Hinblick auf deren innovativen Charakter und die (möglicherweise erheblichen) Auswirkungen auf nationales Prozessrecht gerechtfertigt. 8 Wie bei gerichtlichen Entscheidungen ist für die Prüfung, ob ein recht-

liches Hindernis gegenüber der Erklärung der Vollstreckbarkeit besteht, das Rechtsbehelfsverfahren nach Artikel 50 und 51 eröffnet. 9 Es erscheint dabei – trotz des Schweigens der Verordnung – angemes-

sen, das Rechtsbehelfsverfahren gegen eine Entscheidung, die Vollstreckbarkeit zuzulassen, auch über den Fall eines Widerspruchs gegen die öffentlichen Ordnung hinaus zuzulassen, wenn die öffentliche Urkunde oder der gerichtliche Vergleich nicht mit der von der Verordnung vorgegebenen Definition übereinstimmt, oder wenn die Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat nicht entsprechend vollstreckbar ist.4

3

4

Für eine Art Hierarchie hinsichtlich der Wirkungen notarieller Urkunden, vgl. Carbone, Il notaio tra regole nazionali ed europee: diritto societario e professioni regolamentate alla prova delle libertà comunitarie, in Il notaio tra regole nazionali ed europee, Actes du XL Congrés national du Notariat, Milan, 2003, 24 ff. In diesem Sinne bezüglich gerichtlicher Vergleiche D’Alessandro, Il riconoscimento, l’esecutività e l’esecuzione delle decisioni e delle transazioni guidiziarie in materia successoria, in Franzina/Leandro, Il diritto internazionale privato europeo delle successioni mortis causa, 2013, 139 ff., 169.

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Domenico Damascelli

Kapitel VI

Kapitel VI: Europäisches Nachlasszeugnis Schrifttum Markus Buschbaum/Ulrich Simon, Die neue EU-Erbrechtsverordnung, NJW 2012, S. 2393–398 Markus Buschbaum/Ulrich Simon, EuErbVO: Das Europäische Nachlasszeugnis, ZEV 2012, S. 525–530 Heinrich Dörner, Der Entwurf einer europäischen Verordnung zum Internationalen Erb- und Erbverfahrensrecht – Überblick und ausgewählte Probleme, ZEV 2010, S. 221–228 E.N. Frohn/B.F.P. Lhoëst, Het voorstel voor een Europese Erfrechtverordening, FJR (Tijdschrift voor Familie- en Jeugdrecht) 2010, nr. 20 Andreas Frötschl, The Relationship of the European Certificate of Succession to National Certificates ERPL (European Review of Private Law) 6-2010, S. 1259–1271 Elise Goossens, Pleidooi voor de veralgemeende invoering van de Europese erfrechtverklaring in het Belgisch recht, Notarieel en Fiscaal maandblad, 2013/ 7, S. 204–213 Elise Goossens, Alain Verbeke, De Europese erfrechtverordening, Themis 2012, p. 105–135 Ulrike Janzen, Die EU-Erbrechtsverordnung, DNotZ 2012, S. 484–493. Aikatarin Kousoula, Gedanken anlässlich des Grünbuches der Kommission zum Erb- und Testamentsrecht/Einführung eines Europäischen Erbscheins

Barbara Reinhartz

(2009) (http://ec.europa.eu/justice/ news/consulting_public/successions/ contributions/contribution_cnct_de. pdf) K.W. Lange, Das geplante Europäische Nachlasszeugnis, DNotZ 2012, S. 168– 179 D. Lehmann, Die EU-Erbrechtsverordnung zur Abwicklung grenzüberschreitender Nachlässe, DStR 2012, S. 285– 289 Lenka Leszay, EP Study, Inhalt und Wirkungen des Europäischen Nachlasszeugnisses gemäß dem Vorschlag für eine Erbrechtsverordnung (http:// www.europarl.europa.eu/thinktank/de/ document.html?reference=IPOL-JURI_NT(2010)432734) B.F.P. Lhoëst, Recente en toekomstige ontwikkelingen in het internationaal huwelijksvermogens- en erfrecht; is er iets nieuws onder de zon?, 22 oktober 2012, Estate Planner Digitaal, 2012/09, p. 1–8; (Herziene versie d.d. 27 januari 2013, aanpassing nummering artikelen Europese Erfrechtverordening) (http:// www.internationaal-familierecht.nl/artikel/recente-en-toekomstige-ontwikkelingen-het-internationaal-huwelijksvermogens-en-erfrecht-er-iets-nieuwsonder-de-zon/) Pia Lokin, De Erfrechtverordening, NIPR (Nederlands Internationaal Privaatrecht) 2013, S. 329–337

267

Artikel 62

Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch/Kurt Rebmann, Bd. 9: Erbrecht: §§ 1922–2385, §§ 27– 35 BeurkG, Beck Verlag 2013 Report of the Max Planck Institute, Comments on the European Commission’s Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on jurisdiction, applicable law, recognition and enforcement of decisions and authentic instruments in matters of succession and the creation of a European Certificate of Succession, http:// www.europarl.europa.eu/document/act ivities/cont/201005/20100526ATT7503 5/20100526ATT75035EN.pdf Walter H. Rechberger, Das Europäische Nachlasszeugnis und seine Wirkungen, OJZ 2012/1, S. 14–19

Fritz Sturm/Gudrun Sturm, Das Europäische Nachlasszeugnis. Zum Vorschlag der Kommission vom 14. Oktober 2009, Zbornik PFZ (Collected Papers of Zagreb Law Faculty )2012, 62 (1–2), S. 331–358 (Link at: http://hrcak.srce.hr/index. php?show=clanak&id_clanak_jezik=13 7038) Nan Torfs/Ernst van Soest, Le réglement européen concernant les successions: D.I.P., reconnaissance et certificat successoral, in: Confronting the frontiers of family and succession law: liber amicorum Walter Pintens. Editors: AlainLaurent Verbeke [et al.], Cambridge: Intersentia, 2012, S. 1443–1458.

Artikel 62: Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (1) Mit dieser Verordnung wird ein Europäisches Nachlasszeugnis (im Folgenden „Zeugnis“) eingeführt, das zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird und die in Artikel 69 aufgeführten Wirkungen entfaltet. (2) Die Verwendung des Zeugnisses ist nicht verpflichtend. (3) Das Zeugnis tritt nicht an die Stelle der innerstaatlichen Schriftstücke, die in den Mitgliedstaaten zu ähnlichen Zwecken verwendet werden. Nach seiner Ausstellung zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat entfaltet das Zeugnis die in Artikel 69 aufgeführten Wirkungen jedoch auch in dem Mitgliedstaat, dessen Behörden es nach diesem Kapitel ausgestellt haben. I. Allgemeine Punkte II. Absatz 1 III. Absatz 2

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1 2 3

IV. Absatz 3 1. Satz 1 2. Satz 2

5 6

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Artikel 62, Rn. 1–3

I. Allgemeine Punkte In Kapitel VI der Verordnung sind die Regeln für das Europäische 1 Nachlasszeugnis (im Folgenden mit „Zeugnis“ abgekürzt) enthalten.1 Die Anwendung des Zeugnisses ist nicht verpflichtend. Es kann sowohl in dem Land, in dem es ausgestellt wurde, als auch im Ausland verwendet werden, um die Erben, die Vermächtnisnehmer, die Rechte des Ehegatten, wenn der Verstorbene mit einem Ehevertrag verheiratet war, usw. nachzuweisen (zu den einzelnen im Zeugnis verlautbarten Angaben siehe Artikel 68). Die Wirkungen des Zeugnisses werden in Artikel 69 geregelt: es wird in allen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass dafür ein besonderes Verfahren notwendig ist. Das Zeugnis ist, wie Artikel 70 Abs. 3 festlegt, jeweils sechs Monate ab Ausstellung der beglaubigten Abschrift gültig.

II. Absatz 1 Das Zeugnis wurde für die Abwicklung internationaler Nachlassangele- 2 genheiten eingeführt, bei denen es nützlich erscheint, ein einheitliches Zeugnis zu haben, das in einem Mitgliedstaat ausgestellt, aber in allen anderen Mitgliedstaaten automatisch anerkannt wird.

III. Absatz 2 Da die Anwendung des Zeugnisses nicht verpflichtend ist, bleibt es zu- 3 lässig, den Nachweis, dass eine Person (ganz oder zum Teil) am Nachlass in einem anderen Staat berechtigt ist, auf andere Weise zu führen, z. B. durch Vorlage eines innerstaatlichen Nachlasszeugnisses, das in dem anderen Staat anerkannt wird. Die Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten verlieren nicht ihre Befugnis, innerstaatliche Nachlasszeugnisse auszustellen, soweit sie nach ihrem nationalen Recht dazu berechtigt sind. Welche internationalen Wirkungen solche innerstaatlichen Nachlasszeugnisse haben, hängt von der Anwendung der Regeln des Kapitels IV (zur Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen) und Kapitel V (zu öffentlichen Urkunden und gerichtlichen Vergleichen) im konkreten Fall ab.2 Es ist aber möglich, 1

Die Idee eines europäischen Zeugnisses stammt von Wolfgang Riering vom Deutschen Notarinstitut; vgl. Dörner, ZEV 2010, S. 222, Fn 4.

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Artikel 62, Rn. 4, 5

dass nach diesen Regeln ein innerstaatliches Nachlasszeugnis weniger Gewähr bietet als das Zeugnis (zu dessen Wirkungen siehe Artikel 69). Zum Beispiel kann es unklar sein, ob die Ausstellungsbehörde tatsächlich dazu berechtigt war, ein innerstaatliches Nachlasszeugnis auszustellen.3 4 Vor diesem Hintergrund stellt die Harmonisierung bezüglich des Nach-

lasszeugnisses ein zusätzliches System dar, um die Rechte der Erben und anderer Begünstigten, die Rechte an dem Nachlassvermögen haben, nachzuweisen, aber sie beseitigt nicht die nationalen Nachweissysteme, die bereits existieren oder in Zukunft existieren werden. Auch wenn auf einem anderem Weg die Rechte am Nachlass nachgewiesen werden könnten, darf eine Behörde oder eine Person, der ein Zeugnis vorgelegt wird, nicht verlangen, dass eine andere bzw. weitere Gerichtsentscheidung, öffentliche Urkunde oder ein Vergleich anstelle des Zeugnisses vorgelegt wird (vgl. Erwägungsgrund 69).

IV. Absatz 3 1. Satz 1 5 Das Zeugnis soll nicht die innerstaatlichen Nachlasszeugnisse ersetzen,

die unverändert in den Mitgliedstaaten ausgestellt werden können. In einigen Mitgliedstaaten der EU wird ein solches innerstaatliches Nachlasszeugnis verwendet, in anderen ist dies nicht der Fall. Die skandinavischen Länder kennen zum Beispiel keine staatlichen Zeugnisse.4 Auch der Inhalt und die Wirkungen von innerstaatlichen Nachlasszeugnissen sind in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ausgestaltet.5 Daher wird ein Bürger möglicherweise in bestimmten Fällen ein innerstaatliches Nachlasszeugnis bevorzugen, wenn dieses ein breiteres Wirkungsspektrum als das europäische Zeugnis hat, z.B. bezüglich des Schutzes von Drittparteien, die eventuell eher zur Kooperation auf Grundlage eines innerstaatlichen Zeugnisses bereit sind.6 2 3 4 5 6

Goossens/Verbeke, Nr. 61. Dörner, ZEV 2012, S. 512. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 529. Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 267. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 528.

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Artikel 62, Rn. 6–8

2. Satz 2 Obwohl das Zeugnis für internationale Nachlassangelegenheiten ge- 6 schaffen wurde, ist es auch in dem Staat gültig, in dem es ausgestellt wurde. Auch im Ausstellungsstaat kann es verwendet werden, um die Wirkungen, die in Artikel 69 aufgeführt sind, zu entfalten. In der Praxis wird es vermutlich von den unterschiedlichen Wirkungen und den damit verbundenen Kosten abhängen, ob das europäische oder ein nationales Nachlasszeugnis beantragt wird. Ist es möglich, dass bezüglich des gleichen Nachlassvermögens ein na- 7 tionales und ein europäisches Zeugnis ausgestellt werden? In der Rechtsliteratur finden wir unterschiedliche Antworten zu dieser Frage, von denen ich einige darstellen möchte: Das Max Planck Institut schreibt in seinem Bericht,7 dass in einigen Staaten die Regeln zur Ausstellung nationaler Nachlasszeugnisse die Ausstellung von mehr als einem Zeugnis verbieten. Diese Regeln können auch angewendet werden, um die gleichzeitige Ausstellung eines nationalen und eines europäischen Nachlasszeugnisses bezüglich des gleichen Nachlassvermögens zu verhindern. Aber wenn solche Regeln nicht vorhanden sind, oder wenn sie die Ausstellung von beiden Dokumenten nicht untersagen, gibt die Verordnung keine Antwort auf die Frage, welches Dokument Vorrang gegenüber dem anderen hat. Die EU-Kommission befürwortete ein europäisches Register für Nachlasszeugnisse,8 aber die endgültige Fassung der Verordnung nahm diese Idee nicht auf. Fötschl stellt mehrere denkbare Lösungsansätze dar:9 Der erste betrifft 8 den Fall, dass sich ein innerstaatliches und ein europäisches Nachlasszeugnis gegenseitig widersprechen. In dem Fall soll das europäische Zeugnis Vorrang haben gegenüber dem innerstaatlichen. Die zweite Lösung wäre, dass sie nebeneinander existieren und dabei das erstausgestellte das entscheidende Zeugnis sein soll. Die dritte Lösung geht von konzentrischen Kreisen aus: gemäß dieser Lösung soll das europäische Zeugnis „das nationale Nachlasszeugnis auf eine weiche und anpas7 8 9

Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 326-328. Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 341. Fötschl, ERPL (European Review of Private Law) 6/2010, S. 1262.

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Artikel 62, Rn. 9, 10; Artikel 63

sungsfähige Weise umfassen“, um eine organische Einheit ohne interne Konflikte zu formen. 9 Rechberger 10 akzeptiert, dass ein nationales Nachlasszeugnis und ein

europäisches Zeugnis nebeneinander existieren können, ohne dass das eine über dem anderen steht; es kann dabei der Fall sein, dass sie verschiedene Wirkungen haben, und man deswegen entweder das eine oder das andere verwenden kann. 10 Eine andere Lösung, die erwähnt wurde,11 war, die Nachlasszeugnisse in

dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, zu registrieren. Aber dies löst das Problem nicht. Soll das erstausgestellte über dem späteren Schriftstück stehen, oder sollte das spätere Vorrang haben? Wenn dies nicht der Fall ist, liegt es in der Verantwortung eines jeden Staates ein Registrierungssystem zu erstellen, um die Behörden in diesem Staat zu informieren, dass bereits ein anderes Nachlasszeugnis ausgestellt wurde. Das kann schwerwiegende Konsequenzen haben, wenn zum Beispiel Nachlassvermögen sich scheinbar nur in einem Mitgliedstaat befindet. In diesem Fall wird ein Erbe oder ein Testamentsvollstrecker ein nationales Nachlasszeugnis beantragen. Wenn er später herausfindet, dass Teile des Nachlassvermögens außerhalb des Landes belegen sind, könnte er möglicherweise aufgrund der Zuständigkeitsregeln in Artikel 64 nie ein Zeugnis beantragen. Eine Lösung für dieses Problem könnte sein, dass das nationale Nachlasszeugnis aufgehoben wird, bevor das europäische Zeugnis ausgestellt wird. Dann kann die Person künftig nur dieses anwenden, um seine Rechte in dem anderen Mitgliedstaat nachzuweisen. Artikel 63: Zweck des Zeugnisses (1) Das Zeugnis ist zur Verwendung durch Erben, durch Vermächtnisnehmer mit unmittelbarer Berechtigung am Nachlass und durch Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter bestimmt, die sich in einem anderen Mit10

11

Rechberger, Das Europäische Nachlasszeugnis und seine Wirkungen, ÖJZ 2012/ 1, S. 17. Lange, DNotZ 2012, S. 177-178.

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Artikel 63, Rn. 1–3

gliedstaat auf ihre Rechtsstellung berufen oder ihre Rechte als Erben oder Vermächtnisnehmer oder ihre Befugnisse als Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter ausüben müssen. (2) Das Zeugnis kann insbesondere als Nachweis für einen oder mehrere der folgenden speziellen Aspekte verwendet werden: a) die Rechtsstellung und/oder die Rechte jedes Erben oder gegebenenfalls Vermächtnisnehmers, der im Zeugnis genannt wird, und seinen jeweiligen Anteil am Nachlass; b) die Zuweisung eines bestimmten Vermögenswerts oder bestimmter Vermögenswerte des Nachlasses an die in dem Zeugnis als Erbe(n) oder gegebenenfalls als Vermächtnisnehmer genannte(n) Person(en); c) die Befugnisse der in dem Zeugnis genannten Person zur Vollstreckung des Testaments oder Verwaltung des Nachlasses.

I. Absatz 1 Obwohl es aus dem Wortlaut nicht ganz deutlich wird, bezieht sich 1 Art. 65 Abs. 1 auf diesen Absatz, da er die möglichen Antragsteller des Zeugnisses nennt. Die Auflistung ist also eine abschließende Regelung der Personen, die berechtigt sind, einen Antrag auf ein Zeugnis zu stellen. Nur Personen, die eine unmittelbare Berechtigung am Nachlass haben, können damit einen Antrag auf Erteilung des Zeugnisses stellen. Wer diese genau sind, hängt von dem auf die Rechtsnachfolge von To- 2 des wegen anzuwendenden Recht ab (siehe dazu Erwägungsgrund 47).1 In kontinentalen Rechtssystemen umfasst dies die Erben, die Rechte am Nachlass aufgrund der Saisine geltend machen können, also automatisch ab dem Zeitpunkt des Todes des Erblassers (ganz oder zu einem Anteil) am Nachlass berechtigt sind. Diese Personen können den Antrag auf ein Zeugnis stellen, um ihre Berechtigung am Nachlass nachzuweisen. Auch Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter können einen An- 3 trag auf ein Zeugnis stellen. Diese Kategorie schließt zum einen Testamentsvollstrecker, die in den kontinentalen Rechtssystemen in einem

1

Pia Lokin, NIPR 2013, S. 336, Fußnote 73.

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Artikel 63, Rn. 4, 5

Testament berufen werden, ein. Auch deren Rechte können mit dem Zeugnis nachgewiesen werden. 4 Nachlassverwalter sind zum anderen in den Ländern des common law

die Personen, die nach dem Gesetz eine Berechtigung am Nachlass für den Zeitraum haben, in dem sie den Nachlass abwickeln und verwalten müssen. Dies ist in diesen Rechtssystemen notwendig, da es im common law keine Erben gibt, die direkt nach dem Tod des Erblassers am Nachlass berechtigt sind. Nachlassverwalter, wie sie in der Verordnung erwähnt werden, sind nach dem angelsächsischen Recht personal representatives (executors und administrators).2 Aufgrund dieser abschließenden Liste ist klar, dass Nachlassgläubiger keinen Antrag auf ein Zeugnis stellen können.3 Im deutschen Recht finden wir die Idee, dass in nationalen Rechtssystemen auch Gläubiger dazu berechtigt sein können, ein Zeugnis zu beantragen. Auf den ersten Blick scheint es für Gläubiger nützlich zu sein, selbst ein Zeugnis beantragen zu können, da sie dann wissen, an wen sie sich wenden müssen, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Dies würde aber im Widerspruch zum System der Verordnung stehen: Ein Zeugnis ist ein Schriftstück, das an die Personen ausgestellt wird, die eine unmittelbare Berechtigung am Nachlass haben oder an die, die den Nachlass verwalten müssen. Ein Gläubiger ist in keiner vergleichbaren Position, wenn er nicht auch Nachlassverwalter (zum Beispiel administrator) ist. Nach Artikel 70 Abs. 1 kann er aber eine beglaubigte Abschrift des Zeugnisses, das von einem berechtigten Antragsteller beantragt wurde, beantragen. Dann kann er auch prüfen, an wen er sich zur Erfüllung seines Anspruches wenden muss. 5 Wenn der Antragsteller ein Zeugnis beantragt, muss er dessen beabsich-

tigten Zweck angeben, wie dies in Artikel 65 Abs. 3 lit. f geregelt ist. Die möglichen Zwecke, die angegeben werden können, enthält Artikel 63 Abs. 2. Diese Zwecke beinhalten alle, dass sie eine beabsichtigte Verwendung des Zeugnisses in einem anderen Staat als dem Staat, in dem 2

3

Das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark werden sich dieser Verordnung nicht anschließen, siehe dazu Artikel 84. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 525 plädieren dafür, dass dies in die deutsche Gesetzgebung integriert werden soll.

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Artikel 63, Rn. 6–8

das Zeugnis ausgestellt wird, verlangen, wie dies auch in Absatz 1 allgemein vorausgesetzt wird. Es ist damit nicht möglich, ein Zeugnis für eine rein innerstaatliche Nachlassangelegenheit zu beantragen.4

II. Absatz 2 1. Lit. a Gemäß lit. a können Erben und Vermächtnisnehmer ihre Rechtstellung 6 und/oder Berechtigung an ihrem jeweiligen Nachlassanteil nachweisen, soweit sie dazu nach dem anzuwendenden Recht gemäß Kapitel III berechtigt sind. In einigen Mitgliedstaaten können nur Erben allein oder zu gleichen bzw. zu prozentualen Anteilen am Nachlass berechtigt sein; in anderen Mitgliedstaaten können auch „generelle Vermächtnisnehmer“ ganz oder zu einem bestimmten Anteil unmittelbar am Nachlass beteiligt sein. Erben und die Kategorie der generellen Vermächtnisnehmer können 7 mit dem Zeugnis nachweisen, dass sie die Erbschaft angetreten haben und ggf. in welcher Weise, wenn das anzuwendende Recht dafür unterschiedliche Arten vorsieht. Insbesondere kann es die Möglichkeit geben, die Erbschaft anzutreten mit oder ohne Verpflichtung gegenüber den Nachlassgläubigern, die Nachlassverbindlichkeiten aus dem eigenen Vermögen zu begleichen, wenn der Nachlass überschuldet ist. In einigen Mitgliedstaaten können die Erben wählen, auf welche Weise sie die Erbschaft antreten, in anderen gibt es nur eine einheitliche Art, die Erbschaft anzunehmen.

2. Lit. b Wie in lit. b erwähnt wird, ist es im Rechtssystem einiger Mitgliedstaa- 8 ten nicht möglich, dass Vermächtnisnehmer unmittelbar am gesamten Nachlass oder zu prozentualen Anteilen berechtigt sind. In manchen Mitgliedstaaten kann dem Vermächtnisnehmer aber zumindest ein bestimmter Vermögenswert oder bestimmte Vermögenswerte, die einen Teil des Nachlasses ausmachen, unmittelbar zugewiesen werden. Dies

4

Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 525; Buschbaum/Simon, NJW 2012, S. 2397.

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Artikel 63, Rn. 9–11; Artikel 64

kann in einigen Mitgliedstaaten auch der Fall sein zu Gunsten einzelner Erben. Dabei stellt sich die Frage, ob auch das Recht eines Vermächtnisnehmers an einer Geldsumme, die nicht Teil des Nachlasses ist, in den Anwendungsbereich dieses Artikels fällt. Dies ist wohl der Fall, aus dem Verordnungstext wird dies aber nicht deutlich.

3. Lit. c 9 Dieser Teil der Verordnung lässt für die tägliche Praxis einige Fragen

aufkommen, weil in den Rechtsordnungen vieler Mitgliedstaaten ein Testamentsvollstrecker oder ein Nachlassverwalter vorgesehen ist. Wie bereits erwähnt, wird der Testamentsvollstrecker im Testament berufen und erhält dadurch bestimmte Rechte am Nachlass, während es auch einen oder mehrere Erben gibt, die an dem Nachlass aufgrund der Saisine unmittelbar berechtigt sind. In jedem Mitgliedstaat kann es unterschiedliche Regeln geben, was ein Testamentsvollstrecker im Verhältnis zu den Rechten der Erben machen darf und was nicht. Gemäß Artikel 68 Absatz lit. o sind diese Befugnisse, die der Testamentsvollstrecker gemäß dem nach Kapitel III anzuwendenden Recht hat, zu beschreiben. 10 In den Ländern des common law erhält dagegen ein personal represen-

tative fiduziarischen Besitz am Nachlass, bis seine Aufgaben erfüllt sind. 11 Eine dieser Aufgaben ist es in der Regel, für die Begleichung von Steu-

ern und anderen Verbindlichkeiten zu sorgen, die aus dem Nachlass bezahlt werden müssen. Danach hat er den Restnachlass an die endgültig Berechtigten zu übertragen. Bis dahin sind diese aber nicht befugt, über die Vermögenswerte zu verfügen. Artikel 64: Zuständigkeit für die Erteilung des Zeugnisses Das Zeugnis wird in dem Mitgliedstaat ausgestellt, dessen Gerichte nach den Artikeln 4, 7, 10 oder 11 zuständig sind. Ausstellungsbehörde ist a) ein Gericht im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 oder b) eine andere Behörde, die nach innerstaatlichem Recht für Erbsachen zuständig ist. 276

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Artikel 64, Rn. 1–3

Die Verordnung beruht auf der Idee, dass nur die Behörden eines Mit- 1 gliedstaates das Recht haben, ein Zeugnis auszustellen. Deshalb ist die internationale Zuständigkeit, das Zeugnis auszustellen, begrenzt auf das Gericht oder die Behörden, die auch die allgemeine Zuständigkeit bezüglich des Nachlasses nach den Artikeln 4, 7, 10 oder 11 haben. Die innerstaatlichen Zuständigkeitsregeln bestimmen dann, ob ein Ge- 2 richt oder eine andere Behörde das Zeugnis ausstellt.1 Dies wird in der Regel mit der Zuständigkeit bezüglich aller Nachlassangelegenheiten verbunden sein. In einigen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, wird dies ein Gericht sein, in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Estland,2 den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal und Luxemburg,3 wird dies (auch) ein Notar sein; in weiteren Ländern wird dies ein Notar mit richterlichen Befugnissen sein (z.B. Tschechische Republik, Slowakei).4 Die erste Gruppe der Mitgliedstaaten wird auch innerstaatliche Bestim- 3 mungen haben, die regeln, welches Gericht örtliche Zuständigkeit hat. In den Ländern, in denen andere Behörden, wie zum Beispiel Notare, zuständig sind, ein Zeugnis auszustellen, gibt es üblicherweise keine Regeln zur relativen Zuständigkeit, da die Klienten frei einen Notar wählen können. Diese Länder werden andere Systeme benötigen, um zu sichern, dass keine widersprüchlichen Zeugnisse ausgestellt werden – zum Beispiel durch die Schaffung eines Registers, in dem der Notar registriert wird, der das Zeugnis ausstellt. Auf diese Weise können auch Dritte herausfinden, welche Behörde oder welcher Notar ein Zeugnis ausgestellt hat, und andere Behörden bzw. Notare können prüfen, ob es ihnen noch erlaubt ist, ein Zeugnis auszustellen.

1 2 3

4

Siehe Erwägungsgrund 70. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 526. Goossens/Verbeke, Nr. 62, Fußnote 74. Siehe www.Successions-europe.eu für weitere Details Lenka Leszay, EP Studie, Inhalt und Wirkungen des Europäischen Nachlasszeugnisses gemäß dem Vorschlag für eine Erbrechtsverordnung, Nr. 1.1. In Schweden und Finnland gibt es ein privates Register, das gutgläubige Dritte schützt, wenn sie sich darauf verlassen.

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Artikel 64, Rn. 4, 5; Artikel 65

4 Die relevanten Angaben zu den ausstellenden Gerichten oder Behörden

werden der Kommission übermittelt, die diese Informationen veröffentlicht (vgl. Erwägungsgrund 70). 5 Das Gericht bzw. die Behörde, die zuständig ist, ein Zeugnis auszustel-

len, darf dieses nicht auf den Teil des Nachlasses beschränken, der in einem der Mitgliedstaaten belegen ist.5 Artikel 65: Antrag auf Ausstellung eines Zeugnisses (1) Das Zeugnis wird auf Antrag jeder in Artikel 63 Absatz 1 genannten Person (im Folgenden „Antragsteller“) ausgestellt. (2) Für die Vorlage eines Antrags kann der Antragsteller das nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellte Formblatt verwenden. (3) Der Antrag muss die nachstehend aufgeführten Angaben enthalten, soweit sie dem Antragsteller bekannt sind und von der Ausstellungsbehörde zur Beschreibung des Sachverhalts, dessen Bestätigung der Antragsteller begehrt, benötigt werden; dem Antrag sind alle einschlägigen Schriftstücke beizufügen, und zwar entweder in Urschrift oder in Form einer Abschrift, die die erforderlichen Voraussetzungen für ihre Beweiskraft erfüllt, unbeschadet des Artikels 66 Absatz 2: a) Angaben zum Erblasser: Name (gegebenenfalls Geburtsname), Vorname(n), Geschlecht, Geburtsdatum und -ort, Personenstand, Staatsangehörigkeit, Identifikationsnummer (sofern vorhanden), Anschrift im Zeitpunkt seines Todes, Todesdatum und -ort; b) Angaben zum Antragsteller: Name (gegebenenfalls Geburtsname), Vorname(n), Geschlecht, Geburtsdatum und -ort, Personenstand, Staatsangehörigkeit, Identifikationsnummer (sofern vorhanden), Anschrift und etwaiges Verwandtschafts- oder Schwägerschaftsverhältnis zum Erblasser; c) Angaben zum etwaigen Vertreter des Antragstellers: Name (gegebenenfalls Geburtsname), Vorname(n), Anschrift und Nachweis der Vertretungsmacht; d) Angaben zum Ehegatten oder Partner des Erblassers und gegebenenfalls zu(m) ehemaligen Ehegatten oder Partner(n): Name (gegebenen-

5

Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 526.

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Artikel 65

e)

f) g)

h)

i)

j)

k) l)

m)

falls Geburtsname), Vorname(n), Geschlecht, Geburtsdatum und -ort, Personenstand, Staatsangehörigkeit, Identifikationsnummer (sofern vorhanden) und Anschrift; Angaben zu sonstigen möglichen Berechtigten aufgrund einer Verfügung von Todes wegen und/oder nach gesetzlicher Erbfolge: Name und Vorname(n) oder Name der Körperschaft, Identifikationsnummer (sofern vorhanden) und Anschrift; den beabsichtigten Zweck des Zeugnisses nach Artikel 63; Kontaktangaben des Gerichts oder der sonstigen zuständigen Behörde, das oder die mit der Erbsache als solcher befasst ist oder war, sofern zutreffend; den Sachverhalt, auf den der Antragsteller gegebenenfalls die von ihm geltend gemachte Berechtigung am Nachlass und/ oder sein Recht zur Vollstreckung des Testaments des Erblassers und/oder das Recht zur Verwaltung von dessen Nachlass gründet; eine Angabe darüber, ob der Erblasser eine Verfügung von Todes wegen errichtet hatte; falls weder die Urschrift noch eine Abschrift beigefügt ist, eine Angabe darüber, wo sich die Urschrift befindet; eine Angabe darüber, ob der Erblasser einen Ehevertrag oder einen Vertrag in Bezug auf ein Verhältnis, das mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfaltet, geschlossen hatte; falls weder die Urschrift noch eine Abschrift des Vertrags beigefügt ist, eine Angabe darüber, wo sich die Urschrift befindet; eine Angabe darüber, ob einer der Berechtigten eine Erklärung über die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft abgegeben hat; eine Erklärung des Inhalts, dass nach bestem Wissen des Antragstellers kein Rechtsstreit in Bezug auf den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig ist; sonstige vom Antragsteller für die Ausstellung des Zeugnisses für nützlich erachtete Angaben.

I. Absatz 1 II. Absatz 2 III. Absatz 3 1. Liste von Sachverhalten 2. Die Buchstaben des Absatzes 3 a) Lit. a b) Lit. b c) Lit. c d) Lit. d

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1 2 3 8 9 13 15 16

e) f) g) h) i) j) aa) bb)

Lit. e Lit. f Lit g Lit. h Lit. i Lit. j Ehevertrag Partnerschaftsvertrag oder Lebensgemeinschaftsvertrag

17 20 21 22 23 24 24 27

279

Artikel 65, Rn. 1–3 k) Lit. k l) Lit. l

30 31

m) Lit. m

32

I. Absatz 1 1 Der Absatz regelt, wer als Antragsteller den Antrag auf ein Zeugnis stel-

len kann, wobei die berechtigten Personen in Artikel 63 abschließend bezeichnet sind. Dies bedeutet, dass andere Personen, wie zum Beispiel die Gläubiger des Erblassers nicht das Recht haben, ein Zeugnis zu beantragen. Die Personen, die in Artikel 63 erwähnt werden, sind nur der oder die Erbe(n), die Vermächtnisnehmer, die unmittelbar am Nachlass berechtigt sind, Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter.

II. Absatz 2 2 Es wird ein Formblatt für den Antrag geben, das in allen Sprachen der

EU veröffentlicht wird. Gemäß einem Entwurf der Verordnung sollte das Formblatt noch Teil des Verordnungstextes sein; in der endgültigen Version wurde dies aber nicht mitaufgenommen.1 Der Antragsteller kann dieses offizielle Formblatt verwenden, ist dazu aber nicht verpflichtet. Er kann auch andere Muster verwenden, z.B. solche, die von der Behörde, die das Zeugnis ausstellt, verwendet werden; dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der Mitgliedstaat auch ein nationales Verfahren für die Ausstellung von innerstaatlichen Erbscheinen kennt.

III. Absatz 3 1. Liste von Sachverhalten 3 Dieser Absatz listet alle Angaben auf, die Teil des Zeugnisses sein kön-

nen. Es ist aber nicht notwendig alle Angaben aufzuführen, um ein gültiges Zeugnis zu erlangen. Die Idee ist, dass die Auflistung in der Verordnung zunächst alle Angaben beinhaltet, die in einem der Mitgliedstaaten relevant sein können. Nicht alle rechtlichen Sachverhalte sind

1

Der Orginaltext KOM/2009/154 enthält zum Beispiel solch ein Formblatt: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2009:0154:FIN: EN:PDF

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Artikel 65, Rn. 4–6

aber in jedem Recht, das auf die Rechtsnachfolge von Todes angewendet werden kann, bekannt.2 Der Antragsteller hat daher in erster Linie die Angaben zu machen, die er in dem Zeugnis ausgewiesen haben will. Es kann daher der Fall sein, dass er nur einen Teil der aufgeführten Punkte auswählt, wenn dies für den Zweck des Zeugnisses im Sinne des Artikel 63 ausreicht, selbst wenn in dem auf den Nachlass anzuwendenden Recht mehr Sachverhalte aus der Liste relevant sein könnten. Im niederländischen Recht ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, nur die Angaben zum Testamentsvollstrecker aufzunehmen, da dieser die ausschließliche Befugnis hat, den Nachlass zu verwalten, wohingegen die Erben nicht zur Verwaltung der Vermögenswerte berechtigt sind. Erst nachdem der Testamentsvollstrecker alle Schulden beglichen hat, wird er das restliche Nachlassvermögen an die Erben übergeben. Es ist aber wahrscheinlich, dass in der Zwischenzeit sechs Monate vergangen sind. Dann ist das ursprüngliche Zeugnis nicht mehr länger gültig, und der/die Erbe(n) können ein neues Zeugnis beantragen, welches nachweist, wer Erbe ist und wer Rechte an den verbleibenden Vermögenswerten, die nach dem Abschluss der Arbeit des Testamentsvollstreckers übrig geblieben sind, hat. Die Liste der rechtlichen Sachverhalte, die bestätigt werden können, 4 wird nicht immer umfassend erledigt, wenn ein Zeugnis ausgestellt wird. Die Angaben im Zeugnis werden begrenzt durch den Sachverhalt, der nachzuweisen ist, um den Zweck des Zeugnisses zu erfüllen. Angaben, die nicht notwendig sind, diesen Zweck zu erfüllen, können aber wohl trotzdem in das Zeugnis aufgenommen werden. Es ist unwahrscheinlich, dass dies das Zeugnis ungültig machen würde, aber der Wortlaut der Verordnung ist hierzu nicht eindeutig. Der Inhalt des Zeugnisses wird grundsätzlich durch die Angaben be- 5 grenzt, die der Antragsteller der Ausstellungsbehörde mitteilt. Es stellt sich die Frage ob die Ausstellungsbehörde dabei selbst tätig 6 werden kann. In Ländern, in denen Notare Ausstellungsbehörde sind, können diese Zugang haben zu allen möglichen (digitalen) Registern, in denen relevante Angaben enthalten sein können (wie zum Beispiel die Angabe von Kindern des Erblassers). Diese Register können auch nütz2

Janzen, DNotZ 2012, S. 487.

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Artikel 65, Rn. 7–10

liche Angaben enthalten, zu denen ein Bürger selbst keinen Zugang hat. Es scheint, dass diese Angaben von den Behörden eingeholt werden können, wenn der Antragsteller keinen Zugang zu den Angaben hat, die entscheidend für das Zeugnis sind. Es kann z.B. auch der Fall sein, dass nur wenige Amtspersonen bei Gerichten oder Notare Zugang zu Registern haben, mit denen man überprüfen kann, wo das letzte Testament des Erblassers hinterlegt wurde. Artikel 66 Abs. 1 besagt, dass nach Eingang des Antrags die Ausstellungsbehörde die vom Antragsteller übermittelten Angaben, Erklärungen, Schriftstücke und sonstigen Nachweise überprüft und von Amts wegen die für diese Überprüfung erforderlichen Nachforschungen zu den Angaben des Antragstellers anstellt. Daher sind Nachforschungen durch die Ausstellungsbehörde gemäß der Verordnung grundsätzlich zulässig. 7 Wenn ein Antragsteller Schriftstücke vorliegen hat, die die Ausstel-

lungsbehörde als Nachweis für erforderlich erachtet, wie zum Beispiel ein holografisches Testament, das im Wohnhaus des Erblassers aufbewahrt wurde, muss er diese in Urschrift oder Abschrift der Ausstellungsbehörde vorlegen.

2. Die Buchstaben des Absatzes 3 8 Die folgenden Angaben können in dem Antrag enthalten bzw. für die-

sen erforderlich sein; einige von ihnen sind sicherlich selbsterklärend:

a) Lit. a 9 Der Name des Erblassers ist nicht immer der Geburtsname. Es kann

sein, dass der Name sich geändert hat, weil der Erblasser nach einem Recht geheiratet hat, in dem sich der Familienname der Ehegatten angleicht. In anderen Ländern können verheiratete Personen ihren eigenen Namen behalten, können aber den Namen des Ehegatten verwenden. Insbesondere für diese Personen ist es wichtig, dass unter lit. d die Angaben zum Ehegatten im Zeugnis enthalten sind, da man den Ehestatus nicht aus dem Namen des Erblassers ableiten kann. 10 Es wurde vorgeschlagen, dass im zukünftigen Antragsformblatt die Per-

son weder als männlich noch als weiblich registriert werden, da man sich in einigen Staaten nicht zwingend einem Geschlecht zugehörig

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Artikel 65, Rn. 11–14

fühlen muss. Deshalb sollte das Antragsformblatt die Möglichkeit eines dritten Geschlechts enthalten. Die Anschrift, die in dem Antrag angegeben werden muss, ist in der 11 Verordnung nicht näher beschrieben. Der verwendete Begriff „Anschrift“ ist nicht der „gewöhnliche Aufenthalt“, wie dieser in anderen Instrumenten erwähnt wird. Deshalb geht es wahrscheinlich um die offizielle Anschrift, d.h. die Adresse, unter der der Erblasser registriert war, wenn das Recht des Mitgliedstaats eine solche Registrierung kennt. Wenn die Anschrift des Erblassers durch die Anschrift seines gesetzlichen Vertreters bestimmt wird (zum Beispiel bei Kindern oder ggf. bei Menschen mit Behinderungen oder bei Senioren, die nicht (mehr) voll geschäftsfähig sind), ist wohl der Ort der offiziellen Registrierung anzugeben. Denn diese Anschrift dient dazu, den Erblasser näher zu identifizieren. Der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers kann unter den 12 zusätzlichen relevanten Angaben unter lit. m angegeben werden.

b) Lit. b Der vorstehende Kommentar ist auch für die Angaben, die zum An- 13 tragsteller gemacht werden müssen, relevant. Zur Anschrift des Antragstellers bemerkt der Max Planck Bericht, dass dies die Adresse sein sollte, an der der Antragsteller zu erreichen ist. Diese Anschrift ist nützlicher als eine ggf. registrierte Anschrift, bei der der Antragsteller aber nicht tatsächlich erreicht werden kann.3 Auch das Verwandtschaftsverhältnis zum Erblasser muss angegeben 14 werden, falls der Antragsteller verwandt ist. Dies gilt insbesondere für Kinder oder Enkel des Erblassers, den Ehegatten oder registrierte Lebenspartner. Solche Personen können aufgrund ihrer Verwandschaftsbeziehung am Nachlass beteiligt sein. Wenn der Antragsteller ein Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter ist, kann dies ein Familienmitglied sein, aber es kann auch ein Berufsträger sein, dem der Erblasser diese Aufgabe anvertraut hat, oder ein Freund oder Nachbar. Davon kann abhängen, ob diese Person Bezahlung für ihre Arbeit beanspruchen kann. 3

Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 287.

Barbara Reinhartz

283

Artikel 65, Rn. 15–17

c) Lit. c 15 Die Angaben, die nach lit. c gemacht werden müssen, betreffen einen

etwaigen Vertreter des Antragstellers. Dies kann ein Rechtsanwalt sein, wobei es keine entsprechende Pflicht dazu gibt. Es kann sich auch um gesetzliche Vertreter handeln, wie zum Beispiel die Eltern eines Erben, der noch minderjährig ist und deshalb nicht für sich selbst handeln kann.

d) Lit. d 16 Wie bereits unter lit. a erwähnt, geht aus dem Namen des Erblassers

nicht eindeutig hervor, ob er verheiratet war oder ob er einen Lebenspartner hatte. Dies ist aber eine wichtige Angabe, da dies natürlich Konsequenzen nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht haben kann. In Sinne dieses Artikels ist ein Ehegatte jemand, der mit dem Erblasser verheiratet war, was auch Personen des gleichen Geschlechts umfassen kann; solche Ehen sind in diesem Kontext anzuerkennen.4 Entsprechendes gilt für Partner: Dies können eingetragene oder nicht eingetragene Partner des Erblassers sein, da in einigen Mitgliedstaaten Registrierungen für unterschiedliche Arten von Partnerschaften möglich sind. Die Frage, ob eine Ehe gültig ist bzw. ob jemand der rechtliche Partner des Erblasser ist, wird nach dem auf diese Frage anzuwendenden Recht entschieden; diese Vorfrage ist aber nicht von dem Recht, das die Rechtsnachfolge von Todes wegen regelt, zu beantworten (siehe dazu Artikel 1 Absatz 2 lit. a).

e) Lit. e 17 Gemäß lit. e müssen „sonstige“ mögliche Berechtigte angegeben wer-

den. Dies bezieht sich auf den Umstand, dass in der Regel ein Erbe oder ein Vermächtnisnehmer, der eine unmittelbare Berechtigung am Nachlass hat, schon der Antragsteller ist. Ein sonstiger möglicher Berechtigter kann dann ein weiterer Erbe oder Vermächtnisnehmer sein, der z.B. gegenüber dem Erben einen Anspruch aufgrund des anzuwendenden Rechts oder eines Testaments hat. Dies kann aber auch den Fall umfassen, dass der Berechtigte jemand ist, dem ein Pflichtteil zusteht. Der Berechtigte kann schließlich einen bloßen Anspruch haben, bestimmte

4

Siehe Erwägungsgrund 58, der eine Verweisung enthält zu Artikel 21 der EU-Charta der Grundrechte, die alle Formen von Diskriminierung verbietet.

284

Barbara Reinhartz

Artikel 65, Rn. 18–20

Vermögenswerte bei der Verteilung des Vermögens zu erhalten, oder nur einen finanziellen Anspruch gegenüber dem Erben zu fordern.5 Die Anschrift des sonstigen möglichen Berechtigten sollte die sein, an 18 der dieser kontaktiert werden kann. Diese Anschrift ist nützlicher als eine etwaige gesetzlich registrierte Anschrift, an der der Berechtigte aber nicht erreicht werden kann. Der Wortlaut von lit. e klingt nicht ganz passend für den Fall, dass ein 19 Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter der Antragsteller ist. Diese Personen haben üblicherweise keine persönlichen Rechte an dem Nachlassvermögen, sondern nur Verwaltungsbefugnisse. Wenn dies der Fall ist, verlangt lit. e auch Angaben zu allen Erben und Vermächtnisnehmern, die unmittelbare Rechte am Nachlass haben.

f) Lit. f Der beabsichtigte Zweck des Nachlasszeugnisses ist anzugeben, da die- 20 ser auch den Umfang der Angaben, die im Antrag enthalten sein müssen, bestimmt. Wenn ein Erbe der Antragsteller ist, ist es wichtig anzugeben, ob die Erbschaft das Ergebnis einer gesetzlichen Erbfolge des anwendbaren Rechts ist, oder ob sie auf einem Testament des Erblassers beruht. Es muss dann festgelegt werden, ob das Testament nach dem anzuwendenden Recht gültig ist. Die Formgültigkeit von schriftlichen Verfügungen von Todes wegen wird von Artikel 27 oder vom Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht bestimmt, wie es in Artikel 75 heißt.6 Die Frage, ob die Bestimmungen des Testaments gültig sind, wird von dem auf das Testament anzuwendenden Recht (gemäß Kapitel III) beantwortet.

5 6

Siehe Erwägungsgrund 47. Siehe Erwägungsgrund 52, der besagt, dass diese Regeln im Einklang mit denen des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht stehen. Viele Mitgliedstaaten sind Mitglieder dieses Haager Übereinkommens, siehe dazu die Statustabelle dieses Übereinkommens auf http://www.hcch.net/index_en.php?act=conventions. status&cid=40.

Barbara Reinhartz

285

Artikel 65, Rn. 21–24

g) Lit g 21 Der Zweck dieses Buchstaben ist, dass das Gericht oder die sonstige zu-

ständige Behörde, die sich mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen beschäftigt, einfach erreicht werden kann. In einigen Mitgliedstaaten muss dieses Gericht oder diese Behörde in einem innerstaatlichen Kontext registriert werden. Es hängt von dem innerstaatlichen Recht dieser Mitgliedstaaten ab, ob diese Registrierung auf innerstaatliche Fälle beschränkt ist. Es wäre jedoch praktisch, auch zu registrieren, wenn dieses Gericht oder die Behörde sich mit einer internationalen Nachlassangelegenheit befasst. Dies hängt allerdings von den innerstaatlichen Regeln der betroffenen Mitgliedstaaten ab; die Verordnung regelt dies nicht.

h) Lit. h 22 Die Angaben, die nach lit. h erwähnt werden, umfassen den Sachver-

halt, der nach dem anzuwendenden Recht für die Festlegung der Rechte, die der Antragsteller geltend macht, maßgeblich ist, wie zum Beispiel dass der Antragsteller ein Ehegatte oder ein Kind des Erblasser war und deshalb am Nachlass (zum Teil) berechtigt ist. Die zu erwähnenden Rechte können auch auf dem Testament des Erblassers beruhen; dann muss das Testament, wie bereits erwähnt, vorgelegt werden.

i) Lit. i 23 In einigen Mitgliedstaaten ist es möglich, ein eigenhändiges Testament

zu errichten, das privat z.B. in einem Schließfach oder Tresor verwahrt wird. In diesem Fall kann der mögliche Erbe erst das Zeugnis benötigen, um Zugang zu dem Tresor und damit zu dem Testament zu erlangen. In einem solchen Fall wird es nur möglich sein, im Antrag einen Hinweis zu geben, wo sich die Urschrift des Testaments befindet. In einigen Mitgliedstaaten werden Testamente von Notaren, die die Urschrift des Testaments behalten, aufgesetzt. In diesem Fall kann nur eine Abschrift vorgelegt werden.

j) Lit. j aa) Ehevertrag 24 Lit. j erfordert Angaben zum Ehevertrag, den der Erblasser geschlossen

hat. Dies kann ein vorehelicher Vertrag sein oder ein Vertrag während der Ehe, wenn das anzuwendende Recht dies erlaubt. In Zukunft wird 286

Barbara Reinhartz

Artikel 65, Rn. 25–27

das anwendbare Güterrecht von der Verordnung über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen im Bereich des Ehegüterrechts geregelt; aber diese Verordnung ist noch nicht in Kraft getreten.7 Bis dahin wird das anzuwendende Recht von den nationalen Gesetzen zum internationalen ehelichen Güterrecht bestimmt, wobei Teile des ehelichen Vermögens verschiedenen Rechtssystemen unterworfen sein können. Ein Ehevertrag ist für die Erbfolge relevant, weil er den Umfang des 25 Nachlasses beeinflussen kann: gehören die Nachlassgegenstände gesamt zum gemeinsamen Vermögen der Ehegatten, oder besitzen die Ehegatten jeweils eigenes Vermögen, oder setzt sich der Nachlass aus einer Kombination von eigenen und gemeinsamen Vermögensgegenständen zusammen? Die Angabe kann ferner wichtig sein, weil der Ehevertrag bestimmte 26 Regeln zum Übergang des Vermögens des Ehegatten im Todesfall enthalten kann. Z.B. kann sich daraus ergeben, dass der Anteil des Erblassers am gemeinsamen Vermögen nach dessen Tod auf den Ehegatten übergeht, oder dass aufgrund des Ehevertrages Ansprüche zwischen den Ehegatten entstehen; diese Ansprüche dürfen bei der Nachlassverwaltung nicht übersehen werden. bb) Partnerschaftsvertrag oder Lebensgemeinschaftsvertrag Lit. j verlangt ferner Angaben zu Partnerschaftsverträgen oder Lebens- 27 gemeinschaftsverträgen. Die beiden Varianten betreffen Verträge, die von eingetragenen Partner geschlossen werden und gesetzlich eher einem Ehevertrag entsprechen, und Verträge von Lebensgemeinschaften, die nicht einem Ehevertrag gleichgestellt sind, da die Partner nicht eingetragen sind, aber vergleichbare Folgen beinhalten. In einigen Mitgliedstaaten sind solche Verträge für gleichgeschlechtliche Partner bestimmt, die nicht heiraten können; in anderen Mitgliedstaaten existieren beide Formen für alle Paare nebeneinander. Das auf diese Verträge anzuwendende Recht wird in Zukunft ebenfalls von einer Europäischen Verordnung, die bisher noch nicht in Kraft getreten ist, geregelt (der Verordnung über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die An-

7

Siehe KOM/2011/126 endg. Version für den Text.

Barbara Reinhartz

287

Artikel 65, Rn. 28–30

erkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen im Bereich des Güterrechts eingetragener Partnerschaften).8 28 Außerdem kann sich ein Paar, das nicht heiraten bzw. sich nicht eintra-

gen lassen will, in einigen Mitgliedstaaten entscheiden, einen Vertrag für die Zeit, in der es zusammenlebt, und zur Beendigung der Partnerschaft zu schließen. Genau wie in einem Ehevertrag oder Partnerschaftsvertrag, kann es Klauseln in dem Vertrag geben, die den Anteil des Erblassers an gemeinsamen Gütern oder Ansprüche, die nach dem Tod eines der Partner entstehen, regeln. 29 Es kann auch der Fall sein, dass das auf die Rechtsnachfolge von Todes

wegen anzuwendende Recht bestimmte Wirkungen mit dem Sachverhalt, dass das Paar einen Partnerschaftsvertrag geschlossen hat, verbindet. Nach dem niederländischen Recht kann zum Beispiel ein Paar, das einen notariell beglaubigten Lebensgemeinschaftsvertrag geschlossen hat, besondere Bestimmungen für den überlebenden Partner in einem Testament treffen, die einem Paar, dass ohne einen solchen Vertrag zusammenlebt, nicht möglich sind. Aufgrund dieser Bestimmung ist der überlebende Partner gegen den Pflichtteilsanspruch eines Kindes des Erblassers geschützt. Damit hängt die Wirksamkeit einer solchen Bestimmung in einem Testament von der Tatsache ab, ob das Paar einen notariell beglaubigten Lebensgemeinschaftsvertrag geschlossen hat, und ob das Paar zum Todeszeitpunkt des ersten Partners noch zusammen lebte.9

k) Lit. k 30 Die Form einer solchen Erklärung wird von Artikel 28 geregelt. Dies

kann auch die Erklärung zur Begrenzung der Haftung bezüglich der Nachlassschulden betreffen. Die Wirkung solcher Erklärungen kann sein, dass die Rechte und/oder Anteile der anderen Berechtigten von der Annahme oder der Ausschlagung der Erbschaft betroffen sind.

8

9

KOM(2011) 127/2. Siehe http://conflictoflaws.net/2011/commissions-proposals-on-matrimonial-property-regimes-and-property-consequences-of-registered-partnerships für einen Überblick des derzeitigen Stands beider Verordnungen. Artikel 82, Buch 4, des niederländischen Zivilrechts.

288

Barbara Reinhartz

Artikel 65, Rn. 31–33; Artikel 66

l) Lit. l 31

Dies ist selbsterklärend.

m) Lit. m Wie bereits unter lit. a erwähnt, kann der Ort des gewöhnlichen Auf- 32 enthalts des Erblassers unter den „sonstigen nützlichen Angaben“ angegeben werden, wenn die registrierte Anschrift des Erblassers nicht eindeutig die gleiche wie der gewöhnliche Aufenthalt ist. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn der Erblasser einen rechtlicher Vertreter hatte und die offizielle Anschrift des Erblassers mit der des Vertreters verbunden ist. Dies kann für Personen unter gesetzlicher Einschränkung nützlich sein, aber auch für Minderjährige, die nicht an derselben Anschrift wie ihr Vormund wohnhaft sind. Es können hier schließlich auch noch alle weiteren nützlichen Angaben 33 gemacht werden. Artikel 66: Prüfung des Antrags (1) Nach Eingang des Antrags überprüft die Ausstellungsbehörde die vom Antragsteller übermittelten Angaben, Erklärungen, Schriftstücke und sonstigen Nachweise. Sie führt von Amts wegen die für diese Überprüfung erforderlichen Nachforschungen durch, soweit ihr eigenes Recht dies vorsieht oder zulässt, oder fordert den Antragsteller auf, weitere Nachweise vorzulegen, die sie für erforderlich erachtet. (2) Konnte der Antragsteller keine Abschriften der einschlägigen Schriftstücke vorlegen, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, so kann die Ausstellungsbehörde entscheiden, dass sie Nachweise in anderer Form akzeptiert. (3) Die Ausstellungsbehörde kann – soweit ihr eigenes Recht dies vorsieht und unter den dort festgelegten Bedingungen – verlangen, dass Erklärungen unter Eid oder durch eidesstattliche Versicherung abgegeben werden. (4) Die Ausstellungsbehörde unternimmt alle erforderlichen Schritte, um die Berechtigten von der Beantragung eines Zeugnisses zu unterrichten. Sie hört, falls dies für die Feststellung des zu bescheinigenden Sachverhalts erforderlich ist, jeden Beteiligten, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter und gibt durch öffentliche Bekanntmachung anderen möglichen Berechtigten Gelegenheit, ihre Rechte geltend zu machen. Barbara Reinhartz

289

Artikel 66, Rn. 1–4

(5) Für die Zwecke dieses Artikels stellt die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats der Ausstellungsbehörde eines anderen Mitgliedstaats auf Ersuchen die Angaben zur Verfügung, die insbesondere im Grundbuch, in Personenstandsregistern und in Registern enthalten sind, in denen Urkunden oder Tatsachen erfasst werden, die für die Rechtsnachfolge von Todes wegen oder den ehelichen Güterstand oder einen vergleichbaren Güterstand des Erblassers erheblich sind, sofern die zuständige Behörde nach innerstaatlichem Recht befugt wäre, diese Angaben einer anderen inländischen Behörde zur Verfügung zu stellen.

I. Absatz 1 1 Nach Erhalt der Angaben, die der Antragsteller nach Artikel 65 zu ma-

chen hat, sieht die Verordnung eine Prüfung des Antrags durch die Ausstellungsbehörde vor. Sie hat die Angaben zu prüfen und darf Nachforschungen durchführen, wenn diese erforderlich sind, und soweit ihr eigenes Recht dies vorsieht oder zulässt. Dies erlaubt zum Beispiel Notaren Einsicht in nationale Geburts-, Ehe- und Todesregister u. ä., wenn das innerstaatliche Recht dies gestattet.1 2 Wenn keine ausreichend nachgewiesenen Angaben, die für die Ausstel-

lung des Zeugnisses nötig sind, vorliegen, kann die Behörde den Antragsteller auffordern, weitere Nachweise vorzulegen; siehe dazu auch Rn. 10, wenn sich Angaben in Registern eines anderen Mitgliedstaats befinden. 3 Nach Absatz 4 kann die Behörde auch jeden Beteiligten, Testaments-

vollstrecker oder Nachlassverwalter anhören, wenn dies zur Ausstellung des Zeugnisses erforderlich ist.

II. Absatz 2 und 3 4 Konnte der Antragsteller keine Abschriften der einschlägigen Schrift-

stücke vorlegen, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, kann die Ausstellungsbehörde entscheiden, ob sie Nachweise in anderer Form akzeptiert. Absatz 3 ergänzt dies, indem 1

Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 525.

290

Barbara Reinhartz

Artikel 66, Rn. 5–8

die Ausstellungsbehörde verlangen kann, dass Erklärungen unter Eid abgegeben werden. Es ist möglich, dass diese Vorgehensweise zwar nicht im jeweiligen nationalen Recht vorgesehen ist; die Verordnung erlaubt es aber den Behörden, in internationalen Nachlassangelegenheiten entsprechend vorzugehen.2 Wenn das eigene Recht dies vorsieht, kann die Ausstellungsbehörde un- 5 ter den dort festgelegten Bedingungen verlangen, dass Erklärungen in Form einer eidesstattlichen Versicherung abgegeben werden. Dies kann auch notwendig sein, wenn keine ausreichenden Schriftstücke vorhanden sind, um die Angaben des Antragstellers zu beweisen, zum Beispiel weil die Schriftstücke bei einer Katastrophe wie Hochwasser, Krieg o. ä. zerstört wurden. Die Behörden anderer Mitgliedstaaten bevorzugen es manchmal, dass 6 bestimmte Angaben durch Schriftstücke oder eine Beglaubigung oder durch eidesstattliche Versicherungen an Stelle der bloßen Angaben des Antragstellers oder Dritter belegt werden. Dies kann die Akzeptanz des Zeugnisses im Ausland erhöhen.3

III. Absatz 4 Um die Ausstellung eines korrekten Zeugnisses sicherzustellen, sieht 7 Absatz 4 vor, dass die Ausstellungsbehörde alle notwendigen Schritte ergreifen muss, um alle Berechtigten von der Beantragung eines Zeugnisses zu unterrichten. Die Regelung ermöglicht auch eine öffentliche Bekanntmachung, die darauf abzielt, den möglicherweise Berechtigten Gelegenheit zu geben, ihre Rechte geltend zu machen. Dies kann durch Anzeige in einer Zeitung oder im Internet erfolgen. Das innerstaatliche Recht und die jeweilige Rechtspraxis sind maßgebend für dieses Verfahren. Diese Unterrichtungspflicht ist auch maßgeblich, wenn ein Testaments- 8 vollstrecker ein Zeugnis beantragt. Der Inhalt dieses Zeugnisses kann in der Weise begrenzt sein, dass nur die Person des Testamentsvollstreckers und dessen Rechte und Pflichten angegeben werden. Der Antrag 2 3

Elise Goossens, Notarieel en Fiscaal maandblad, 2013/7, S. 209, Nr. 19. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 527.

Barbara Reinhartz

291

Artikel 66, Rn. 9, 10; Artikel 67

auf das Zeugnis kann dann andere sachdienliche Angaben, wie zum Beispiel zur Rechtstellung der Erben weglassen, da diese nicht relevant für die Rechtstellung des Testamentsvollstreckers sind. Wenn ein Erbe davon unterrichtet wurde, dass ein Antrag für ein solches Testamentsvollstreckerzeugnis eingereicht wurde, kann er beantragen, dass auch seine Rechte in dem Zeugnis ausgewiesen werden. Denn Artikel 70 ermöglicht es anderen Personen als dem Antragsteller, eine beglaubigte Abschrift des Zeugnisses zu erhalten, wobei der Erbe ein Zeugnis mit mehr Angaben als der Testamentsvollstrecker benötigt. Wenn die zusätzlichen Angaben über die Erbschaft gleich im Zeugnis ausgewiesen werden, wird es auch für den Erben verwendbar. 9 In einigen Fällen könnte die Pflicht, andere Beteiligte (wie z.B. pflicht-

teilsberechtigte Personen) zu unterrichten, im Widerspruch zu innerstaatlichen Verfahrensregeln stehen. Es scheint dem nationalen Gesetzgeber zu obliegen, diesen Widerspruch zu beheben. Bei internationalen Sachverhalten setzt sich aber die Verordnung gegen innerstaatliches Recht durch.

IV. Absatz 5 10 Wie bereits erwähnt, wird es manchmal nötig werden, Angaben aus Re-

gistern eines anderen Mitgliedstaates zu erhalten. Absatz 5 ermöglicht es der Ausstellungsbehörde, diese Angaben von einem anderen Mitgliedstaat anzufordern. Dies betrifft v.a. Angaben aus dem Grundbuch, dem Personenstandsregister und Registern, in denen Urkunden oder Tatsachen erfasst werden, die für die Rechtsnachfolge von Todes wegen oder für das Ehegüterrecht des Erblassers erheblich sind. Die zuständige Behörde kann diese Angaben auch an eine Behörde des Ausstellungsstaates weitergeben, soweit sie dazu nach innerstaatlichem Recht befugt wäre. Artikel 67: Ausstellung des Zeugnisses (1) Die Ausstellungsbehörde stellt das Zeugnis unverzüglich nach dem in diesem Kapitel festgelegten Verfahren aus, wenn der zu bescheinigende Sachverhalt nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder jedem anderen auf einen spezifischen Sachverhalt anzu292

Barbara Reinhartz

Artikel 67, Rn. 1, 2

wendenden Recht feststeht. Sie verwendet das nach dem Beratungsverfahren nach Artikel 81 Absatz 2 erstellte Formblatt. Die Ausstellungsbehörde stellt das Zeugnis insbesondere nicht aus, a) wenn Einwände gegen den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig sind oder b) wenn das Zeugnis mit einer Entscheidung zum selben Sachverhalt nicht vereinbar wäre. (2) Die Ausstellungsbehörde unternimmt alle erforderlichen Schritte, um die Berechtigten von der Ausstellung des Zeugnisses zu unterrichten.

I. Absatz 1 1. Die Form des Zeugnisses Das Zeugnis wird auf einem Formblatt ausgestellt, das nach dem Bera- 1 tungsverfahren gemäß Artikel 81 Absatz 2 erstellt wird. Während der Antragsteller das Formblatt nach Artikel 65 Abs. 2 verwenden kann, muss die Ausstellungsbehörde das veröffentlichte Formblatt verwenden. Andere Zeugnistexte sind nicht erlaubt.

2. Ausstellung des Zeugnisses Sobald alle notwendigen Angaben nach dem in Artikel 66 festgelegten 2 Verfahren eingegangen sind, und alle Tatsachen, die bescheinigt werden müssen, gemäß dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht bzw. gemäß einem anderen auf besondere Sachverhalte anzuwenden Recht feststehen, wird das Zeugnis ausgestellt. Dies zeigt, wie wichtig die Auswahl der erforderlichen Angaben nach Artikel 65 bzw. der Angaben, die nach Artikel 68 bescheinigt werden sollen, ist, da das Zeugnis ausgestellt werden muss, sobald alle für den jeweiligen Zweck des Zeugnisses erforderlichen Angaben festgestellt sind.1 Auch wenn nicht zu bescheinigende Sachverhalte noch nicht genau feststehen, ist dies kein Grund, die Ausstellung des Zeugnisses für den beantragten Zweck zu verzögern. Dies kann die Ausstellung des beantragten Zeugnisses im Vergleich zu innerstaatlichen Zeugnissen, die in

1

Goossens/Verbeke, Nr. 70.

Barbara Reinhartz

293

Artikel 67, Rn. 3, 4; Artikel 68

einigen Ländern sehr umfassend sein müssen und deshalb lange Zeit für die Ausstellung in Anspruch nehmen, beschleunigen.

3. Gründe für die Versagung der Ausstellung des Zeugnisses 3 Solange es Probleme mit dem beantragten Inhalt des Zeugnisses gibt,

wird es nicht ausgestellt. Die Verordnung nennt als solche möglichen Gründe: (a) wenn Einwände gegen den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig sind, oder (b)wenn das Zeugnis mit einer Entscheidung zum selben Sachverhalt nicht vereinbar wäre. Dies ist keine vollständige Aufzählung der Gründe für die Nichtausstellung des Zeugnisses, wird aber die meisten Fälle umfassen.

II. Absatz 2 4 Um einen zweiten Antrag zum gleichen Nachlass zu verhindern, soll

die Ausstellungsbehörde alle erforderlichen Schritte ergreifen, um die Berechtigten von der Ausstellung des Zeugnisses zu informieren. Wenn ein weiterer Berechtigter dies wünscht, kann er eine Abschrift des Zeugnisses nach Artikel 70 erhalten.2 Nachdem das Zeugnis ausgestellt wurde, kann er das gleiche Zeugnis aber nicht verwenden, wenn die Angaben zu seiner Rechtstellung nicht Teil des Zeugnisses sind. Auch das Verfahren nach Artikel 71 ist für einen solchen Fall nicht geeignet, da es nur einschlägig ist, wenn das Zeugnis Schreibfehler oder Unrichtigkeiten enthält, nicht aber bei einem nicht vollständig angegebenen Sachverhalt. Artikel 68: Inhalt des Nachlasszeugnisses Das Zeugnis enthält folgende Angaben, soweit dies für die Zwecke, zu denen es ausgestellt wird, erforderlich ist:

2

Vgl. Erwägungsgrund 72.

294

Barbara Reinhartz

Artikel 68

a) die Bezeichnung und die Anschrift der Ausstellungsbehörde; b) das Aktenzeichen; c) die Umstände, aus denen die Ausstellungsbehörde ihre Zuständigkeit für die Ausstellung des Zeugnisses herleitet; d) das Ausstellungsdatum; e) Angaben zum Antragsteller: Name (gegebenenfalls Geburtsname), Vorname(n), Geschlecht, Geburtsdatum und -ort, Personenstand, Staatsangehörigkeit, Identifikationsnummer (sofern vorhanden), Anschrift und etwaiges Verwandtschafts- oder Schwägerschaftsverhältnis zum Erblasser; f) Angaben zum Erblasser: Name (gegebenenfalls Geburtsname), Vorname (n), Geschlecht, Geburtsdatum und -ort, Personenstand, Staatsangehörigkeit, Identifikationsnummer (sofern vorhanden), Anschrift im Zeitpunkt seines Todes, Todesdatum und -ort; g) Angaben zu den Berechtigten: Name (gegebenenfalls Geburtsname), Vorname(n) und Identifikationsnummer (sofern vorhanden); h) Angaben zu einem vom Erblasser geschlossenen Ehevertrag oder, sofern zutreffend, einem vom Erblasser geschlossenen Vertrag im Zusammenhang mit einem Verhältnis, das nach dem auf dieses Verhältnis anwendbaren Recht mit der Ehe vergleichbare Wirkungen entfaltet, und Angaben zum ehelichen Güterstand oder einem vergleichbaren Güterstand; i) das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht sowie die Umstände, auf deren Grundlage das anzuwendende Recht bestimmt wurde; j) Angaben darüber, ob für die Rechtsnachfolge von Todes wegen die gewillkürte oder die gesetzliche Erbfolge gilt, einschließlich Angaben zu den Umständen, aus denen sich die Rechte und/oder Befugnisse der Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter herleiten; k) sofern zutreffend, in Bezug auf jeden Berechtigten Angaben über die Art der Annahme oder der Ausschlagung der Erbschaft; l) den Erbteil jedes Erben und gegebenenfalls das Verzeichnis der Rechte und/oder Vermögenswerte, die einem bestimmten Erben zustehen; m) das Verzeichnis der Rechte und/oder Vermögenswerte, die einem bestimmten Vermächtnisnehmer zustehen; n) die Beschränkungen ihrer Rechte, denen die Erben und gegebenenfalls die Vermächtnisnehmer nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht und/oder nach Maßgabe der Verfügung von Todes wegen unterliegen;

Barbara Reinhartz

295

Artikel 68, Rn. 1, 2

o) die Befugnisse des Testamentsvollstreckers und/oder des Nachlassverwalters und die Beschränkungen dieser Befugnisse nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht und/oder nach Maßgabe der Verfügung von Todes wegen. I.

Allgemeine Punkte 1. Zweck des Zeugnisses 2. Rechtsbegriffe, die im Erbrecht des ausstellenden Mitgliedstaats unbekannt sind 3. Angaben, die in Artikel 68 aufgelistet warden a) Artikel 68 lit. a b) Artikel 68 lit. b c) Artikel 68 lit. c d) Artikel 68 lit. d

1 2 3 4 4 5 6 7

e) f) g) h) i) j) k) l) m) k) l)

Artikel 68 lit. e Artikel 68 lit. f Artikel 68 lit. g Artikel 68 lit. h Artikel 68 lit. i Artikel 68 lit. j Artikel 68 lit. k Artikel 68 lit. l Artikel 68 lit. m Artikel 68 lit. n Artikel 68 lit. o

9 10 14 16 22 23 27 29 33 36 37

I. Allgemeine Punkte 1 Artikel 68 nennt alle Angaben, die das Zeugnis enthalten kann. Sie wer-

den auch alle im Formblatt, das nach Artikel 80 erstellt wird, aufgeführt. Das Formblatt soll in allen offiziellen Sprachen der Mitgliedstaaten erstellt werden. Der Anwender des Zeugnisses kann dann das Formblatt in seiner eigenen Sprache benutzen.

1. Zweck des Zeugnisses 2 Die Ausstellungsbehörde muss nicht warten, bis alle Angaben zu allen

Punkten, die in Artikel 68 aufgeführt sind, feststehen, da das Zeugnis nur die Angaben enthalten muss, die für den Zweck des Zeugnisses erforderlich sind. Dies kann davon abhängen, wer einen Antrag auf das Zeugnis gestellt hat (siehe dazu die Kommentierung zu Artikel 66 Abs. 4 Rn. 7 ff.). In einer früheren Entwurfsfassung der Verordnung wurde explizit erwähnt, dass ein Teil-Zeugnis möglich ist. Diese Möglichkeit ergibt sich nun aber versteckt aus dem ersten Satz des Artikels 68.1

1

Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 291-295. Das MPI beführwortet die Möglichkeit eines teilweisen Zeugnisses, wenn dies ausreichend ist, um die Rechte des Antragstellers zu sichern.

296

Barbara Reinhartz

Artikel 68, Rn. 3–6

2. Rechtsbegriffe, die im Erbrecht des ausstellenden Mitgliedstaats unbekannt sind Wenn man die Liste der möglichen Angaben betrachtet, stellt sich die 3 Frage, wie mit Rechtsbegriffen umgegangen wird, die Teil des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts sind, aber im Erbrecht des das Zeugnis ausstellenden Mitgliedstaates nicht bekannt sind. Leider findet sich dazu keine Antwort in der Verordnung. Es scheint so, dass sich die Ausstellungsbehörde so eng wie möglich an die Begriffe des anzuwendenden Rechts halten soll, wenn sie das Zeugnis ausstellt. Der Mitgliedstaat, in dem das Zeugnis verwendet werden soll, muss dann entscheiden, was mit unbekannten Rechtsbegriffen zu tun ist. Siehe dazu auch die Kommentierung zu Artikel 69. Es wird auch von dem Formblatt abhängen, wie ausführlich die ausländischen Rechtsinstitute beschrieben werden können. Es kann z.B. der Fall sein, dass die Rechte der Erben gemäß lit. j oder die Rechte und die Begrenzungen der Befugnisse der Vermächtnisnehmer gemäß lit. j und o in einer Liste von Rechten angekreuzt werden können. Dies würde den oft komplexen Charakter der gesetzlichen Rechte nicht vereinfachen, die Handhabung aber praktischer machen.

3. Angaben, die in Artikel 68 aufgelistet werden Die folgenden Angaben sind in Artikel 68 als möglicher Inhalt aufgelistet, wobei einige selbsterklärend sind:

a) Artikel 68 lit. a Dies kann die Anschrift des Gerichts oder des Notarbüros oder einer 4 anderen zuständigen Behörde, die das Zeugnis ausstellt, sein.

b) Artikel 68 lit. b 5

Dieser Buchstabe ist selbsterklärend.

c) Artikel 68 lit. c Dies bezieht sich auf die Regelung in Artikel 64 zur Zuständigkeit für 6 die Erteilung des Zeugnisses. Das Gericht oder die Behörde hat hier die Angaben, die für ihre Zuständigkeit nach den Artikeln 4, 7, 10 oder 11 maßgeblich sind, festzustellen. Für weitere Details siehe die Kommentierung zu Artikel 64. Barbara Reinhartz

297

Artikel 68, Rn. 7–10

d) Artikel 68 lit. d 7 Dies kann relevant sein, wenn es mehr als ein Zeugnis, innerstaatlich

oder europäisch gibt; siehe dazu Art. 62 Rn. 7 ff. Unglücklicherweise gibt die Verordnung keine Antwort darauf, was zu tun ist, wenn es mehrere Zeugnisse mit widersprüchlichem Inhalt gibt. Es kann sein, dass das zuerst ausgestellte Zeugnis akzeptiert werden muss. Es kann aber auch sein, dass das europäische Zeugnis in anderen Mitgliedstaaten angewendet werden muss, und die Wirkung des innerstaatlichen Zeugnisses auf die Anwendung in dem Land, in dem es ausgestellt wurde, beschränkt wird.

e) Artikel 68 lit. e 8 Die Kommentierung zu lit. f (s. Art. 68 Rn. 11 ff.) zum Erblasser ist auch

für die Angaben, die zum Antragsteller gemacht werden müssen, relevant. Bezüglich der Anschrift des Antragstellers schlägt der Max Planck-Bericht vor, dass dies die Anschrift sein soll, an dem der Antragsteller kontaktiert werden kann. Diese Anschrift ist nützlicher als eine gesetzliche Anschrift, die registriert ist, bei der aber der Antragsteller möglicherweise nicht erreicht werden kann.2 9 Auch das etwaige Verwandtschaftsverhältnis zum Erblasser muss ange-

geben werden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Antragsteller ein Kind oder Enkel des Erblassers, dessen Ehegatte oder Lebenspartner ist. Diese können aufgrund ihrer Beziehung eine Berechtigung am Nachlass haben. Wenn der Antragsteller ein Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter ist, kann dies ein Familienmitglied sein, aber auch ein Berufsträger, dem der Erblasser diese Aufgabe anvertraut hat oder der von einem Gericht berufen wurde, oder ein Freund oder Nachbar. Diese Personen bekommen üblicherweise nur eine Kompensation für die Zeit, die sie für diese Aufgabe aufwenden, aber keine Berechtigung am Nachlass, wobei der Erblasser den Testamentsvollstrecker in seinem Testament natürlich berücksichtigt haben kann.

f) Artikel 68 lit. f 10 Siehe dazu auch die Kommentierung zu den Angaben in Artikel 65.

2

Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 287.

298

Barbara Reinhartz

Artikel 68, Rn. 11–15

Der Familienname des Erblassers ist nicht immer der Geburtsname. Es 11 kann sein, dass sich der Familienname geändert hat, da der Erblasser geheiratet hat. In manchen Ländern können verheiratete Personen ihren eigenen Namen behalten, aber auch den Namen des Ehegatten annehmen. Artikel 65 sieht vor, dass auch die Angabe des Ehegatten oder Partners erforderlich ist. Es ist bemerkenswert, dass diese Angaben aber nicht Teil des Zeugnisses gemäß lit. f werden. Nur der Personenstand und in lit. h ein etwaiger Ehevertrag sind anzugeben, nicht aber der Sachverhalt, dass der Erblasser verheiratet war oder in einer registrierten Partnerschaft lebte oder mit jemanden zusammen wohnte, obwohl dies relevant für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen sein kann (vgl. dazu die Kommentierung zu Artikel 65). Diese Angaben sind aber wohl nach lit. j erforderlich, wenn ansonsten die Rechtstellung des Erben usw. nicht richtig festgelegt werden kann. Die Anschrift des Erblassers, die in dem Zeugnis angegeben werden 12 muss, ist nicht in der Verordnung vorgeschrieben; vgl. dazu die Kommentierung zu Artikel 65. Es ist bemerkenswert, dass in dem Zeugnis der Ort des gewöhnlichen 13 Aufenthalts nicht ausdrücklich erwähnt wird. Wenn er aber für die Rechtstellung der Erben usw. relevant ist, kann er unter lit. i erwähnt werden. Dies kann immer dann der Fall sein, wenn das anzuwendende Recht vom letzten gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt wird.

g) Artikel 68 lit. g Die Angabe der Berechtigten betreffen Erben oder Vermächtnisnehmer, 14 die eine unmittelbare Berechtigung am Nachlass haben. Diese haben Rechte, die sie nachweisen müssen, wenn sie mit dritten Personen zu tun haben, z.B. wenn sie Vermögen auf ihren Namen übertragen oder Geldmittel von einem Bankkonto des Erblassers abheben wollen. Die Namen und die Identifikationsnummern (sofern vorhanden), die 15 in dem Zeugnis angegeben werden müssen, können mit den persönlichen Urkunden, die Erben oder Vermächtnisnehmer zur Identifikation vorlegen, verglichen werden, wenn sie mit Drittparteien Kontakt aufnehmen, um zu beweisen, dass sie rechtmäßige Besitzer der Vermögenswerte sind.

Barbara Reinhartz

299

Artikel 68, Rn. 16–18

h) Artikel 68 lit. h 16 Das anzuwendende Güterrecht muss nach dem internationalen Privat-

recht der Ausstellungsbehörde bestimmt werden. Solange es kein einheitliches anwendbares Recht zum ehelichen Güterstand und anderen Partnerschaften gibt, zwingt das Zeugnis indirekt alle anderen Mitgliedstaaten, die internationalen Privatrechtsregeln der Ausstellungsbehörde zu befolgen. Dies ist eine der negativen Konsequenzen dessen, dass die Erbrechtsverordnung vor den zwei Verordnungen zum ehelichen und partnerschaftlichen Güterrecht in Kraft tritt. Dieses Problem ist in der Zwischenzeit nicht zu lösen.3 Das eheliche Güterrecht des Erblassers bestimmt in einigen Fällen auch die Rechte des überlebenden Ehegatten.4 Es kann ferner Einfluss auf den Nachlass des Erblasser haben: Wenn die Ehegatten getrenntes Vermögen hatten, entspricht der Nachlass des Erblassers seinem Vermögen. Wenn die Ehegatten gemeinsames Vermögen hatten, besteht der Nachlass aus dem Anteil des Erblassers am gemeinsamen Vermögen und einem etwaigen eigenen Vermögen. 17 Diese gesetzlichen Ergebnisse können sich mit einem Ehevertrag ver-

ändern, so dass es wichtig ist, dass das Zeugnis Angaben dazu enthält. 18 Wenn der Erblasser nicht verheiratet ist, aber in einer Partnerschaft

lebt, hängt es vom anzuwendenden Recht ab,5 die rechtlichen Wirkungen der (eingetragenen) Partnerschaft zu definieren. Wenn die Auswirkungen denen einer Ehe entsprechen, müssen diese dargestellt werden.6 3

4

5

Für die Texte siehe KOM/2011/0127 finale Version und KOM(2011) 127/2. Des Weiteren siehe den Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 322 ff; Buschbaum/ Simon, ZEV 2012, S. 527 und Lange, DNotZ 2012, S. 173. Goossens/Verbeke, Nr. 49. Ein bekanntes Beispiel dafür ist § 1371 des deutschen BGB, obwohl man daran zweifeln kann, ob diese Bestimmung Teil des ehelichen Güterrechts oder Teil des Erbrechts ist. In letzterem Fall gehört diese Angabe unter lit. j und die Frage, ob diese Bestimmung anzuwenden ist, wird eher vom Erbrecht als vom ehelichen Güterrecht bestimmt. Dies ist nicht das einzige Rechtsystem, in dem dieses Problem auftritt, siehe Torfs/Van Soest, Liber Amicorum Pintens, 2012, S. 1445, die ein Beispiel zu dem belgischen und algerischen Recht zitieren, in dem der überlebende Ehegatte den Schutz, auf den er sich normalerweise verlassen kann, verlieren kann. Siehe dazu die Kommentierung zu Artikel 65 Absatz 3 lit. j.

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Artikel 68, Rn. 19–22

Dies schließt die Wirkungen eines Partnerschaftsvertrages, den der Erblasser eingegangen ist, ein. Wenn die Partnerschaft eingetragen wurde, diese aber nach dem anzu- 19 wendenden Recht andere Wirkungen als die einer Ehe hat, müssen die jeweiligen Rechte entsprechend angegeben werden, einschließlich der Frage, ob die Partner den rechtlichen Rahmen ändern konnten, wenn sie einen Partnerschaftsvertrag geschlossen haben.7 Es ist schließlich auch möglich, dass die Partnerschaft des Erblassers 20 nicht eingetragen wurde. Dann kann auch der Sachverhalt, dass er zusammen mit jemandem gewohnt hat, rechtliche Konsequenzen für die Rechtsnachfolge von Todes wegen haben. Deshalb muss ggf. der Sachverhalt, dass er mit jemandem zusammen gewohnt hat, in dem Zeugnis erwähnt werden. Auch wenn die Partnerschaft nicht eingetragen wurde, ist es möglich, dass der Erblasser einen Partnerschaftsvertrag, der Wirkungen auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen hat, eingegangen ist.8 In all diesen Fällen müssen Angaben zu den rechtlichen Wirkungen der 21 Ehe, der eingetragenen Partnerschaft oder der nicht eingetragenen Partnerschaft in dem Zeugnis erwähnt werden, einschließlich der Verträge, die der Erblasser mit seinem Ehegatten oder Partner eingegangen ist.

i) Artikel 68 lit. i Das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht 22 wird nach Kapitel III dieser Verordnung bestimmt. Relevant ist zum Beispiel der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes (Artikel 21), oder eine Rechtswahl gemäß Artikel 22. Die 6

7

8

Zum Beispiel ist dies der Fall in den Niederlanden; vgl. Artikel 80b Buch 1 des niederländischen Zivilrechts. Siehe zum Beispiel die belgische ‚wettelijke samenwoning‘, Art. 1478 des belgischen Zivilgesetzbuchs, das auch einen Lebensgemeinschaftsvertrag für eingetragene Paare enthält. Siehe Goossens/Verbeke, Nr. 68 ff. In den Niederlanden ist es zum Beispiel durchaus üblich, einen Lebensgemeinschaftsvertrag mit Aufteilung der gemeinsamen Güter der Partner zu Gunsten des überlebenden Partners im Fall des Todes einer der Partner zu schließen (verblijvingsbeding).

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Artikel 68, Rn. 23–27

Ausstellungsbehörde muss feststellen, ob die Rechtswahl nach der Verordnung gültig ist, und dies im Zeugnis erwähnen.9

j) Artikel 68 lit. j 23 In dem Zeugnis muss ferner erwähnt werden, ob es ein Testament gibt.

Wenn dies der Fall ist, muss das Zeugnis die sich daraus ergebenden Rechte und Befugnisse der Erben usw. enthalten. Es kann sein, dass der Erblasser Bestimmungen zur Testamentsvollstreckung oder Nachlassverwaltung gemacht hat. Dies sind ebenfalls Angaben, die von diesem Buchstaben umfasst werden.10 24 Gibt es kein Testament, tritt gesetzliche Erbfolge ein. Demgemäß ist

nach dem anzuwendenden Recht zu bestimmen, wer Erbe ist oder wer sonst ein unmittelbar Berechtigter ist. Das anwendbare Erbrecht hat ferner zu bestimmen, wer einen Pflichtteil erhält und welche Form dieser annimmt (z.B. in Form eines Anspruchs gegenüber dem Nachlass oder als unmittelbares Recht am Nachlassvermögen), oder wer Begünstiger im Sinne des common law ist. 25 Wenn die gesetzliche Erbfolge gilt, bestimmt das anzuwendende Recht

auch die Rechte von Nachlassverwaltern u. ä. Wenn es ein Testament gibt, kann dieses Bestimmungen zur Testamentsvollstreckung etc. beinhalten. 26 All diese Angaben müssen hier gemacht werden. Dabei kann es eine

gewisse Überschneidung mit der Bestimmung in lit. o geben, gemäß dem die Befugnisse eines Testamentsvollstreckers oder Nachlassverwalters und die Beschränkungen dieser Befugnisse angegeben werden müsse.

k) Artikel 68 lit. k 27 Ob Erben oder andere Berechtigte die Erbschaft angenommen oder

ausgeschlagen haben, ist eine wichtige Angabe für Drittparteien. Im Fall einer Ausschlagung hat der Erbe in der Regel keine Rechte am Nachlass. Im Fall einer regulären Annahme hängt es vom anzuwendenden Recht ab, welche Wirkungen die Annahme hat. In einigen Mitgliedstaaten 9 10

Zu Übergangsaspekten siehe Artikel 84. Zu Übergangsaspekten siehe Artikel 84.

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Artikel 68, Rn. 28, 29

sind die Wirkungen der regulären Annahme, dass ein Erbe mit seinem eigenen Vermögen für die Schulden des Erblassers haftbar ist,11 wohingegen in anderen Mitgliedstaaten ein annehmender Erbe nie mit seinen eigenem Vermögen haftbar ist.12 In vielen Mitgliedstaaten haben die Berechtigten einen gewissen Zeit- 28 rahmen, in dem sie sich entscheiden müssen, ob sie die Erbschaft annehmen oder ausschlagen. Wenn dies für den Inhalt des Zeugnisses relevant ist, weil die Rechtstellung anderer Erben von der Entscheidung beeinflusst wird, hängt es von dem anzuwendenden Recht ab, ob das Zeugnis in der Zwischenzeit schon ausgestellt werden kann.13

l) Artikel 68 lit. l In einigen Ländern ist es üblich, alle Vermögenswerte des Erblassers 29 aufzulisten und detaillierte Angaben zu den Vermögenswerten/Rechten, die jeder Erbe erhält, zu machen.14 Es ist natürlich zeitaufwendig, diese Angaben festzustellen, bevor das Zeugnis ausgestellt werden kann. Oft wird es einfacher sein, nur die Anteile der Erben auszuweisen, obwohl auch dies in bestimmten Fällen einige Zeit in Anspruch nehmen 11

12

13

14

Dies ist zum Beispiel in den Niederlanden die Wirkung der ‚zuivere aanvaarding‘, Artikel 192 Buch 4 des niederländischen Zivilrechts, sofern ein Erbe das Erbe nicht „onder het voorrecht van boedelbeschrijving“ antritt, Artikel 190 und 184 Buch 4 des niederländischen Zivilgesetzbuchs. Dies scheint der Fall in der Tschechischen Republik zu sein. Siehe dazu Lenka Leszay EP Studie, Nr. 2.45. Im niederländischen Recht ist ein entsprechendes Beispiel in Artikel 18 Buch 4 des niederländischen Zivilrechts zu finden. In innerstaatlichen Fällen wird es akzeptiert, dass in der Zwischenzeit ein Zeugnis ausgestellt werden kann, wobei dieses angeben muss, dass die Frist nach Artikel 18 noch bis zu einem bestimmten Datum läuft. Drittparteien werden dazu ermahnt, weitere Anfragen zu diesem Thema zu machen, bevor sie darauf vertrauen, welche Rechte die Erben haben. Wenn das niederländische Recht auf die Rechtsnachfolge angewendet wird, scheint es möglich, ein Zeugnis mit dieser Art von Angaben auszustellen, anstatt zu warten, bis die Frist nach Artikel 18, welche drei Monate nach dem Todestag beträgt, abgelaufen ist. Die Verordnung befasst sich aber nicht mit diesem Problem. Dies ist der Fall in Finnland, der Tschechischen Republik, Slowakei, Österreich, und Ungarn, Lenka Leszay, EP Bericht, Nr. 2.4.6.

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Artikel 68, Rn. 30–32

kann, zum Beispiel wenn alle Kinder des Erblassers einen gleichen Anteil bekommen, es aber nicht klar ist, wie viele Kinder des Erblasser hatte und ob sie alle noch am Leben sind bzw. wiederum Kinder haben, die ihren Platz in der Erbfolge einnehmen. 30 Wenn das Zeugnis in einem Mitgliedstaat ausgestellt wird, der in seinen

nationalen Zeugnissen in der Regel keine Vermögenswerte feststellt, ist es unwahrscheinlich, dass die Ausstellungsbehörde alle Vermögenswerte ermittelt, insbesondere wenn einige von ihnen nicht in dem ausstellenden Mitgliedstaat belegen sind. 31 In allen Fällen darf nicht vergessen werden, dass die Angaben, die in

dem Zeugnis aufzunehmen sind, vom Zweck des Antrags vorgegeben werden. Auch wenn es in dem Ausstellungsstaat üblich ist, abzuwarten, bis alle Angaben zu den Vermögenwerten des Nachlasses gesammelt sind und entschieden ist, wie diese Vermögenswerte und Schulden zwischen den Berechtigten aufgeteilt werden, sind diese Angaben nicht erforderlich, wenn nur ein eingeschränktes Zeugnis beantragt ist, um die Rechte und Pflichten eines Testamentsvollstreckers festzustellen. Denn das Zeugnis muss ausgestellt werden, sobald alle dafür erforderlichen Angaben verfügbar sind. In diesem Fall darf die Ausstellungsbehörde die Ausstellung des Zeugnisses nicht mit dem Einwand verzögern, dass noch nicht alle Angaben vorhanden sind. 32 Unter diesem Buchstaben ist auch zu erwähnen, wenn nach dem Tes-

tament oder dem anzuwendenden Recht das Nachlassvermögen auf eine bestimmte Weise zwischen den Erben aufzuteilen ist. Dabei kann es auch vorkommen, dass die Rechte bestimmter Erben zu Gunsten des überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partners eingeschränkt werden. In diesen Fällen kann es schwer sein, zu beschreiben, welche Rechte der überlebende Ehegatte genau als Nutzungsberechtigter hat. In einigen Rechtssystemen wird es sinnvoller sein, dass der Ehegatte als „Besitzer“ und die Einschränkungen der Rechte der Kinder unter lit. n beschrieben werden.15

15

Zum Beispiel im niederländischen Recht, Artikel 13 Buch 4 des niederländischen Zivilrechts. Lenka Leszay, EP Bericht Nr. 2.4.8.

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Artikel 68, Rn. 33–36

m) Artikel 68 lit. m Wenn es Vermächtnisnehmer gibt, ist es sinnvoll anzugeben, welche 33 Rechte sie haben: steht ihnen eine unmittelbare Berechtigung am Nachlass zu, oder haben sie nur einen Anspruch gegenüber den Erben? Es hängt vom Zweck des Zeugnisses ab, ob auch eine Liste der Vermö- 34 genswerte, die einem Vermächtnisnehmer zufallen, Teil des Zeugnisses sein soll. Wenn dieser eine unmittelbare Berechtigung am Nachlass hat, kann dies sinnvoll sein, insbesondere wenn dadurch die Rechte der Erben eingeschränkt werden. Wenn diese unmittelbare Wirkung nicht existiert, weil der Anspruch des Vermächtnisnehmers gegen den Erben nur von finanzieller Natur ist, und der Erbe zum Beispiel das Zeugnis nur benötigt, um ein Haus in einem anderem Mitgliedstaat auf seinen Name umzuschreiben, kann die Angabe der Vermächtnisnehmer im Zeugnis entfallen.16 Wenn das Zeugnis von einem Testamentsvollstrecker beantragt wird, 35 kann es für diesen nützlich sein, zu wissen, welche Rechte des Vermächtnisnehmers bestehen, da er diese eventuell erfüllen muss, bevor er den Restnachlass den Erben überträgt.

k) Artikel 68 lit. n Wenn unter lit. l eine rechtliche Aufteilung des Nachlasses festgestellt 36 wird, kann es bestimmte weitere Wirkungen für die Rechte des/der Erben oder des/r Vermächtnisnehmer geben, die hier erwähnt werden müssen. Wie bereits unter lit. l erwähnt, kann dies zum Beispiel unter Anwendung des niederländischen Rechts der Fall sein: Aufgrund einer wettelijke verdeling werden die Rechte bestimmter Erben eingeschränkt (vgl. dazu Artikel 13 des Buchs 4 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches).17 Die Vermögenswerte und Schulden werden auf den überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partner übertragen; die

16

17

Lenka Leszay, EP Bericht Nr. 2.4.6. Die Übertragung von unbeweglichen Vermögenswerten auf den Namen des Erbens wird nach der lex rei sitae vollzogen, siehe dazu Artikel 2 Absatz 2, lit. k und l der Verordnung. Siehe Buschbaum/ Simon, ZEV 2012, S. 527. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 527. Sie erwähnen, dass auch das französische und italienische Erbrecht diese Art von testamentarischer Aufteilung kennen.

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Artikel 68, Rn. 37–39

Kinder des Erblassers erhalten nur einen finanziellen Anspruch gegenüber dem überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partner.18 Dieser überlebende Partner erhält den alleinigen Besitz an den Vermögenswerten und kann unbewegliche Vermögenswerte in einem anderen Mitgliedstaat auf seinen Namen übertragen, obwohl die Kinder des Erblassers ebenfalls Erben sind.

l) Artikel 68 lit. o 37 In jedem Mitgliedstaat sind die Befugnisse des Testamentsvollstreckers

und/oder des Nachlassverwalters unterschiedlich. Unter lit. o wird verlangt, diese Befugnisse und die Beschränkung dieser Befugnisse anzugeben. Dies kann sich zum Beispiel auf die Frage beziehen, ob die Erben Verfügungsrechte haben, solange die Vermögenswerte noch in den Händen des Testamentsvollstreckers oder Nachlassverwalters sind, oder auf das Recht des Testamentsvollstreckers oder Nachlassverwalters, die Nachlassgegenstände zu verkaufen. Wenn dies der Fall ist, ist ggf. anzugeben, ob er die Auswahl an Vermögenswerten, die er verkaufen will, treffen kann, oder ob er die Verkaufsreihenfolge mit den Erben absprechen muss. 38 Unter lit. o kann auch die Frage, ob die Befugnisse dieser Personen zeit-

lich beschränkt sind, angegeben werden. In einigen Mitgliedstaaten sind die Befugnisse des Testamentsvollstreckers zum Beispiel auf ein Jahr begrenzt.19 39 In einigen Mitgliedstaaten gibt es ferner zwei Arten von Testaments-

vollstreckern: einer, der die Pflicht hat, die Schulden des Nachlass zu bezahlen und dann den Reinnachlass an die Erben zu übertragen; der andere, der den Anteil eines Erben für eine gewisse Zeit verwaltet, z.B. wenn der Erbe minderjährig oder nicht in der Lage ist, seine eigenen Angelegenheit aufgrund einer Behinderung oder Krankheit selbst zu

18

19

Die Kinder können auch Rechte auf die Übertragung von bestimmten Vermögenswerten haben, wenn der überlebende Ehegatte oder eingetragene Partner erneut heiratet. Lehmann, DStR 2012, S. 2087 erwähnt Zeitbegrenzungen im belgischen und italienischem Recht.

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Artikel 69

besorgen (z.B. im niederländischen Recht, testamentair bewind).20 In dem anzuwendenden Recht oder in dem Testament kann man dazu Zeitbegrenzungen finden, die im Zeugnis gemäß lit. o angegeben werden müssen. Artikel 69: Wirkungen des Zeugnisses (1) Das Zeugnis entfaltet seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf. (2) Es wird vermutet, dass das Zeugnis die Sachverhalte, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder einem anderen auf spezifische Sachverhalte anzuwendenden Recht festgestellt wurden, zutreffend ausweist. Es wird vermutet, dass die Person, die im Zeugnis als Erbe, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter genannt ist, die in dem Zeugnis genannte Rechtsstellung und/oder die in dem Zeugnis aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat und dass diese Rechte oder Befugnisse keinen anderen als den im Zeugnis aufgeführten Bedingungen und/oder Beschränkungen unterliegen. (3) Wer auf der Grundlage der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben einer Person Zahlungen leistet oder Vermögenswerte übergibt, die in dem Zeugnis als zur Entgegennahme derselben berechtigt bezeichnet wird, gilt als Person, die an einen zur Entgegennahme der Zahlungen oder Vermögenswerte Berechtigten geleistet hat, es sei denn, er wusste, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist, oder ihm war dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt. (4) Verfügt eine Person, die in dem Zeugnis als zur Verfügung über Nachlassvermögen berechtigt bezeichnet wird, über Nachlassvermögen zugunsten eines anderen, so gilt dieser andere, falls er auf der Grundlage der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben handelt, als Person, die von einem zur Verfügung über das betreffende Vermögen Berechtigten erworben hat, es sei denn, er wusste, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist, oder ihm war dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt. (5) Das Zeugnis stellt ein wirksames Schriftstück für die Eintragung des Nachlassvermögens in das einschlägige Register eines Mitgliedstaats dar, unbeschadet des Artikels 1 Absatz 2 Buchstaben k und l.

20

Lehmann, DStR 2012, S. 2087, nennt dies Dauertestamentsvollstreckung.

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Artikel 69, Rn. 1, 2 I. II. III. IV. V.

Allgemeines Absatz 1 Absatz 2 Absatz 3 Absatz 4 1. Rechtsbegriffe, die im Erbrecht des ausstellenden Mitgliedstaats nicht bekannt sind

1 2 4 8 13

2. Wirkung der Vermutung der Richtigkeit zwischen zwei Personen, die behaupten, widersprüchliche Rechte an dem Nachlassvermögen zu haben 15 16 VI. Absatz 5

14

I. Allgemeines 1 Artikel 69 löst ein für die Praxis bei internationalen Erbfällen wichtiges

Problem: das Zeugnis wird in allen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es dafür eines besonderen Verfahrens bedarf. Es wird angenommen, dass das Zeugnis korrekt ist und dass Dritte allgemein entsprechend seinem Inhalt handeln können. Es ist eine gültige Urkunde, die gegenüber öffentlichen Registern verwendet werden kann, insbesondere um das Eigentum auf den/die Erben umzuschreiben. Die Formalitäten der Übertragung selbst werden dagegen von der lex rei sitae geregelt. Obwohl das Zeugnis in erster Linie dazu gedacht ist, in anderen Mitgliedstaaten verwendet zu werden, kann es auch in dem Staat, in dem es ausgestellt wurde, benutzt werden (siehe dazu Artikel 62 Absatz 3).1

II. Absatz 1 2 Das Zeugnis wird in allen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es eines

besonderen Verfahrens bedarf. Artikel 74 ergänzt dies in der Weise, dass es keiner Legalisierung oder ähnlicher Formalitäten bedarf.2 Dies wird die Nachlassabwicklung im Vergleich mit der Zeit vor der Verordnung, als innerstaatliche Zeugnisse in der Regel nicht von anderen Staaten akzeptiert wurden, vereinfachen. Denn bisher mussten Erben in internationalen Nachlassangelegenheiten häufig einzelstaatliche Zeugnisse nach jedem nationalen Recht in den Staaten, in denen Vermögenswerte belegen waren, beantragen.

1 2

Dies basiert auf dem Prinzip der Subsidiarität, Lenka Leszay, EP Bericht S. 9. Goossens/Verbeke, Nr. 60.

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Artikel 69, Rn. 3–6

Nach dem Wortlaut der Verordnung ist noch nicht klar, ob Übersetzun- 3 gen des Zeugnisses notwendig werden, wenn man dieses in einem anderen Mitgliedstaat benutzen will. Dies wird auch davon abhängen, wie das Formblatt gestaltet wird. Wenn Kosten für Übersetzungen anfallen, müssen diese vom Anwender des Zeugnisses getragen werden.3

III. Absatz 2 Es wird vermutet, dass das Zeugnis die Sachverhalte, die nach dem auf 4 die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder einem anderen auf spezifische Sachverhalte anzuwendenden Recht festgestellt wurden, zutreffend ausweist. Dies schließt die rechtlichen Sachverhalte, die in dem Zeugnis erwähnt werden und die Angabe des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts ein. Sollten die Angaben nicht zutreffend sein, kann das Gegenteil bewiesen 5 werden. Dann muss das Zeugnis nach Artikel 71 berichtigt werden. Solange der Gegenbeweis nicht geführt ist, wird aber vermutet, dass der Inhalt des Zeugnisses zutreffend ist.4 Eines der Probleme, die in der Verordnung nicht erwähnt werden, ist 6 die Qualifikation bestimmter rechtlicher Konzepte an den Schnittstellen zwischen ehelichem Güterecht und Erbrecht. Ein Beispiel dafür ist der deutsche § 1371 BGB, wonach in bestimmten Fällen der überlebende Ehegatte ein Viertel des Nachlassvermögens aufgrund einer Bestimmung des ehelichen Güterrechts erhält. Die Vermutung des Zeugnisses gilt aber nur für Erbsachen, nicht für Angelegenheiten, die auf der Anwendung des nationalen internationalen Privatrecht zum ehelichen Güterrecht (wie in der Kommentierung zu Artikel 65 dargelegt) beruhen.5 3 4

5

Bericht des Max Plank Instituts, Nr. 303. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, 2, S. 527; Rechberger, ÖJZ 2012, S. 16, Fußnote 32. Dörner, ZEV 2012, S. 508. Die Lösung dieses Problems könnte im deutschen ehelichen Güterrecht selbst liegen, in dem eine andere Lösung gewählt wird, die für gewöhnlich nicht in innerstaatlichen Nachlassangelegenheiten zulässig ist, die aber hilfsweise als Lösung für den Anwendungskonflikt in internationalen Fällen denkbar wäre. Danach würde es nicht zur pauschalen Erhöhung der Erbquote gemäß § 1371 BGB kommen, sondern die Ansprüche des Ehegatten wür-

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Artikel 69, Rn. 7–9

7 Gemäß Absatz 2 wird vermutet, dass die Person, die im Zeugnis als Er-

be, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter genannt ist, die in dem Zeugnis genannte Rechtsstellung und/oder die in dem Zeugnis aufgeführten Rechte oder Befugnisse hat, und dass diese Rechte oder Befugnisse keinen anderen als den im Zeugnis aufgeführten Bedingungen und/oder Beschränkungen unterliegen. Ein Erbe kann damit z.B. das Zeugnis als Beweis präsentieren, dass er an den Vermögenswerten, die in einem Schließfach in einer Bank verwahrt werden, berechtigt ist, oder dass er Geldmittel von einem Bankkonto, das auf den Namen des Erblasser unterhalten wurde, abheben darf. Die Bank wird vermuten, dass diese Person der Erbe ist, wie es das Zeugnis besagt, und dass er die genannten Befugnisse hat, sofern im Zeugnis nichts anders angegeben ist (siehe dazu auch die Kommentierung zu Artikel 68).

IV. Absatz 3 8 Wer auf der Grundlage der im Zeugnis enthaltenen Angaben an eine

Person Zahlung leistet oder Vermögenswerte übergibt, die in dem Zeugnis als zur Entgegennahme derselben berechtigt bezeichnet wird, gilt als Person, die an einen zur Entgegennahme der Zahlung oder Vermögenswerte Berechtigten geleistet hat, es sei denn, er wusste, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist, oder ihm war dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt. 9 Dabei stellt sich die Frage, wie nachgewiesen werden kann, dass eine

Drittpartei Kenntnis davon hatte, dass das Zeugnis inhaltlich unrichtig ist. Die Verordnung lässt diese Frage unbeantwortet.6 Es scheint so, dass dies in jedem Mitgliedstaat nach dem eigenen nationalen Recht entschieden werden muss. Dies kann bewirken, dass in einigen Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen vermutet wird, dass die Drittpartei entsprechende Kenntnis hatte, während in anderen Mitgliedstaaten mit strengeren Beweisregeln der Sachverhalt nicht eindeutig rechtlich festgestellt werden kann, und deshalb die Drittpartei entsprechend dem Zeugnis handeln konnte..

6

den konkret berechnet wie bei Beendigung der Zugewinngemeinschaft in Scheidungsfällen. Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 320.

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Artikel 69, Rn. 10–13

Absatz 3 umfasst zum einen den Fall, dass der Erbe oder Testaments- 10 vollstrecker Zahlungen auf einen Anspruch des Erblassers entgegennimmt, zum anderen, dass er sich andere Vermögenswerte übertragen lässt. In beiden Fällen kann die andere Partei vermuten, dass er eine schuldbefreiende Zahlung geleistet oder eine rechtlich gültige Übergabe getätigt hat, wenn der Empfänger in dem Zeugnis als berechtigte Person für die Bezahlung oder Übergabe angegeben wird. Wenn sich später herausstellt, dass dies nicht der Fall war, ist die Drittpartei nicht verpflichtet, nochmals an die richtige Person zu leisten. Dieser Gutglaubensschutz kann dabei auf eine andere Weise definiert 11 sein als in den innerstaatlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten. Dort kann z.B. ein anderer Grad der Fahrlässigkeit angewendet werden.7 Da die Verordnung Vorrang vor innerstaatlichem Recht hat, ist die Gutglaubensregel der Verordnung in internationalen Fällen anzuwenden. In rein nationalen Fällen können dagegen die Mitgliedstaaten unverändert ihre eigenen Regeln zum Schutz von gutgläubigen Drittparteien anwenden, auch wenn es zu einem geringeren Schutzniveau führt, wie zum Beispiel im belgischem Recht.8 Es ist zwar möglich, dass die Verordnung mit der Zeit zu einer Art indirekten Harmonisierung der innerstaatlichen Regeln zur Gutgläubigkeit führt, dies ist aber natürlich nicht zwingend. Der Wortlaut der Absätze 3 und 4 scheint anzudeuten, dass die Dritt- 12 partei keine Kopie des Zeugnisses empfangen haben muss. Die Drittpartei kann sich nur auf die Tatsache verlassen, dass die Person, die im Besitz des Zeugnisses ist, die im Zeugnis angegebenen Rechte besitzt.

V. Absatz 4 In Absatz 4 werden die Rollen im Vergleich zu Absatz 3 vertauscht: die 13 7

8

Siehe dazu zum Beispiel die deutschen Bestimmungen zu Gutgläubigkeit, Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 527. In Deutschland wird es in bestimmten Fällen immer noch möglich sein nach Gutgläubigkeit zu handeln, während dies nicht nach dem Zeugnis möglich ist, siehe dazu § 2366 BGB. Janzen, S. 7. Für das belgische Recht siehe Elise Goossens, Notarieel en Fiscaal maandblad 2013/7, S. 227, Nr. 13-17. Sie vergleicht auch verschiedene europäische Rechte zu diesem Thema.

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Artikel 69, Rn. 14

Person, die in dem Zeugnis genannt wird, verfügt über einen Vermögenswert des Nachlassvermögens. Auch in diesem Fall gilt die Gutglaubensregel wie in Absatz 3: die Drittpartei ist geschützt, sofern sie nicht weiß, dass das Zeugnis inhaltlich unzutreffend ist, oder ihr das infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war. Da der Begriff der Gutgläubigkeit der gleiche ist wie in Absatz 3, gelten die dortigen Erläuterungen entsprechend. Der Wortlaut der Absätze 3 und 4 scheint anzudeuten, dass der Drittpartei nicht eine Kopie des Zeugnisses präsentiert werden muss, um die Schutzwirkungen des Art. 69 zu entfalten.9 Die Drittpartei ist auch ohne Vorlage des Zeugnisses in dem guten Glauben geschützt, dass die Person, die im Besitz des Zeugnisses ist, die Rechte, die im Zeugnis angegeben werden, ausüben darf.10

1. Rechtsbegriffe, die im Erbrecht des ausstellenden Mitgliedstaats nicht bekannt sind 14 Wenn man die Gutglaubensregeln in den Absätzen 3 und 4 betrachtet,

drängt sich die Frage auf, wie mit Rechtsbegriffen, die Teil des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht sind, aber im Erbrecht des ausstellenden Mitgliedstaats nicht vergleichbar bekannt sind, zu verfahren ist. Dies kann z.B. ein Testamentsvollstrecker sein, der nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht, wie in Artikel 68 lit. o erwähnt, bestimmte Rechte hat, wobei diese Rechte in dem Mitgliedstaat, in dem er handeln möchte, unbekannt sind.11 Leider sagt die Verordnung nicht, wie dieses Problem zu lösen ist. In der Rechtsliteratur findet sich der Vorschlag, dass eine innerstaatliche Behörde in jedem Mitgliedstaat diese ausländischen Rechtsbegriffe in Begriffe, die dem ausstellenden Mitgliedstaat bekannt sind, „umdeuten“ soll. Dies müsste aber im jeweiligen Ausführungsgesetz, das die Verordnung in jedem Mitgliedstaat implementiert, geregelt werden. Unklar ist, ob die Verordnung dies erlaubt,12 aber es scheint die 9

10

11 12

Buschbaum/Simon, ZEV 2012,S. 528, erwähnen dies explizit, da dies in einer früheren Version von Absatz 4 nicht der Fall war. J. Mayer, Münchner Kommentar, § 2353, Rn. 195. Es wird nicht deutlich, ob die Meinung von Mayer im Widerspruch mit der von Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 528 steht. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 528. Dörner, ZEV 2010, S. 228; Dörner, ZEV 2012, S. 509. Dörner schlägt eine inner-

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Artikel 69, Rn. 15–17

einzige Weise zu sein, dieses Problem auf praktische Weise zu lösen, um innerstaatliches Nachlassrecht, eheliches Güterrecht, Trust, Grundbücher etc. in Gleichklang zu bringen.

2. Wirkung der Vermutung der Richtigkeit zwischen zwei Personen, die behaupten, widersprüchliche Rechte an dem Nachlassvermögen zu haben Es ist nicht klar, ob die Umkehr der Beweislast in allen Sachverhalten in 15 der Weise gilt, dass die andere Partei beweisen muss, dass das Zeugnis nicht korrekt ist oder ob man eine Ausnahme in der Beziehung zwischen zwei Personen macht, die behaupten, eine widersprüchliche Berechtigung am Nachlass zu haben.13

VI. Absatz 5 Das Zeugnis stellt ein wirksames Schriftstück für die Eintragung des 16 Nachlassvermögens in das einschlägige Register dar, unbeschadet des Artikels 1 Absatz 2 lit. k und lit. l. Das auf die Eintragung anzuwendende Recht und das Recht, das die formalen Voraussetzungen bestimmt, um Vermögen zu übertragen, werden von der lex rei sitae bestimmt.14 Wenn der Nachlass Anteile von juristischen Personen enthält, ist es das 17 Recht, das auf diese Gesellschaften anzuwenden ist, das bestimmt, wie und unter welchen Bedingungen diese Anteile übertragen werden. Dies

13

14

staatliche Behörde vor, die die ausländischen Rechtsbegriffe in innerstaatliche Begriffe umdeuten kann. Diese Behörde würde eine Art addendum zu dem Zeugnis machen, um anderen innerstaatlichen Behörden zu helfen, wenn diese z.B. registriertes Eigentum übertragen müssen, aber das innerstaatliche Register nicht die Möglichkeit bietet, die ausländischen Rechtsbegriffe einzutragen. Das addendum, das er vorschlägt, ist in seinem Anwendungsbereich auf den Mitgliedstaat, in dem es ausgestellt wurde, begrenzt. Fritz Sturm/Gudrun Sturm, Das Europäische Nachlasszeugnis. Zum Vorschlag der Kommission vom 14. Oktober 2009 Zbornik PFZ 2012, 62 (1-2), S. 349, geben einige Beispiele für praktische Lösungen im deutschen Recht. Siehe Rechberger, ÖJZ 2012, s. 16, mit einer Referenz zu Aikatarin Kousoula, Europäischer Erbschein, 2009, S. 169. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 529.

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Artikel 69, Rn. 18–20

liegt außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung; siehe dazu Artikel 1 Absatz 1 lit. h, k und l.15 18 In einigen Mitgliedstaaten ist es notwendig, dass eine öffentliche Ur-

kunde errichtet wird, um unbewegliche Vermögenswerte zu übertragen oder um Anteile an juristischen Personen zu registrieren.16 Es stellt sich die Frage, ob das Zeugnis als eine solche Urkunde angesehen werden kann. Dies hängt von den Umständen ab, die in Artikel 3 Absatz 1 lit. i genannt sind: welche Behörde das Zeugnis ausgestellt hat und welchen Inhalt das Zeugnis hat. Dies ist für die Frage relevant, ob der Inhalt so glaubhaft ist, dass das Register das Vermögen auf den Namen des neuen Eigentümers ohne weitere Prüfungen überschreiben kann oder nicht.17 19 Auch wenn in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwen-

denden Recht eine separate Übertragung von Nachlassgegenständen nicht notwendig ist, weil z.B. die Nachlassteilung unmittelbar mit Wirkung zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers erfolgt, bleibt es notwendig, die Regeln zur Vermögensübertragung der lex rei sitae zu befolgen, wenn ein unmittelbarer Vermögensübergang in dem Mitgliedstaat, in dem das Vermögens belegen ist, nicht bekannt ist; vgl. dazu Artikel 69 Absatz 5 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 2 lit. k und l und Artikel 31 der Verordnung.18 Dies schließt auch die Regeln zur Bezahlung von Steuern ein, wenn dies in einem Mitgliedstaat verpflichtend ist, bevor das Vermögen auf den Namen des Erben umgeschrieben werden kann.19 Auch die Frage, was Teil des Nachlasses ist – anders ausgedrückt: was Eigentum des Erblassers war und was nicht – wird von der lex rei sitae bestimmt, da diese Frage außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung liegt.20 20 Das Zeugnis kann nur einen Titel für die Übertragung des Nachlasses

darstellen, soweit die lex registrationis dies erlaubt. Wenn, wie zum Bei15 16 17

18 19 20

Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 529. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 529. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 528, mit einer Referenz zur Entscheidung des EuGH vom 17. Juni 1999, Unibank, DNotZ 1999, S. 919. J. Mayer, MünchnerKommentar, § 2353 BGB, Rn. 196. Janzen, DNotZ 2012, S. 487. Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 528.

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Artikel 69, Rn. 21; Artikel 70, Rn. 1

spiel in Belgien, eine Übertragung von registriertem Vermögen nur zwischen lebenden Personen vollzogen werden kann, ist es nicht möglich, das Zeugnis als Anrecht auf die Übertragung nach dem Tod des Erblassers zu benutzen.21 Erwägungsgrund 71 stellt eindeutig fest, dass das Zeugnis nicht als Voll- 21 streckungstitel benutzt werden kann. Artikel 70: Beglaubigte Abschriften des Zeugnisses (1) Die Ausstellungsbehörde bewahrt die Urschrift des Zeugnisses auf und stellt dem Antragsteller und jeder anderen Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, eine oder mehrere beglaubigte Abschriften aus. (2) Die Ausstellungsbehörde führt für die Zwecke des Artikels 71 Absatz 3 und des Artikels 73 Absatz 2 ein Verzeichnis der Personen, denen beglaubigte Abschriften nach Absatz 1 ausgestellt wurden. (3) Die beglaubigten Abschriften sind für einen begrenzten Zeitraum von sechs Monaten gültig, der in der beglaubigten Abschrift jeweils durch ein Ablaufdatum angegeben wird. In ordnungsgemäß begründeten Ausnahmefällen kann die Ausstellungsbehörde abweichend davon eine längere Gültigkeitsfrist beschließen. Nach Ablauf dieses Zeitraums muss jede Person, die sich im Besitz einer beglaubigten Abschrift befindet, bei der Ausstellungsbehörde eine Verlängerung der Gültigkeitsfrist der beglaubigten Abschrift oder eine neue beglaubigte Abschrift beantragen, um das Zeugnis zu den in Artikel 63 angegebenen Zwecken verwenden zu können.

I. Absatz 1 Die Ausstellungsbehörde bewahrt die Urschrift des Zeugnisses auf und 1 stellt dem Antragsteller und jeder anderen Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, eine oder mehrere beglaubigte Abschriften aus. Wie in Artikel 63 dargestellt, kann dies auch ein Gläubiger des Erblassers sein. Auf diese Weise kann er ermitteln, an wen er sich mit seiner Forderung wenden muss. Dies kann ein Erbe sein, der für die Schulden

21

Goossens/Verbeke, Nr. 78.

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315

Artikel 70, Rn. 2–5

des Erblasser haftbar ist oder ein Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter, dessen Aufgabe es ist, die Nachlassschulden zu bezahlen. 2 Auch wenn sich dies von der Praxis einiger Mitgliedstaaten unterschei-

det, bei denen die Urschrift des innerstaatlichen Zeugnisses dem Antragsteller ausgehändigt wird,1 wird das Zeugnis im Original immer von der Ausstellungsbehörde behalten und es werden nur beglaubige Abschriften davon ausgestellt.

II. Absatz 2 3 Um den Überblick über die ausgestellten Abschriften zu behalten, muss

die Ausstellungsbehörde eine Liste der Personen, denen eine beglaubigte Abschrift nach Absatz 1 erteilt wurde, führen. Dies ist notwendig, um diese Personen zu informieren, wenn ein Zeugnis nach Artikel 71 Absatz 3 berichtigt, geändert oder widerrufen wurde, und wenn die Wirkung des Zeugnisses nach Artikel 73 Absatz 2 ausgesetzt wurde. Möglicherweise werden Änderungen in den innerstaatlichen Gesetzen der Mitgliedstaaten notwendig, um eine solche Liste bei den zuständigen Behörden einzuführen. Die Liste kann auch einem innerstaatlichen System, das verwendet wird, um den Überblick über innerstaatliche Zeugnisse zu behalten, hinzugefügt werden. 4 In der Regel ist zwar die Wirkung des Zeugnisses auf sechs Monate be-

grenzt, aber in den vorgenannten Fällen ist es notwendig, diese Personen darüber zu informieren, dass das Zeugnis nicht länger richtig bzw. gültig ist.

III. Absatz 3 5 Die beglaubigten Abschriften sind für einen begrenzten Zeitraum von

sechs Monaten gültig,2 der in der Abschrift durch ein Ablaufdatum an1 2

Zum Beispiel in Deutschland, siehe dazu Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 526. In einer früheren Version der Verordnung wurde er auf drei Monate begrenzt, siehe dazu http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2009: 0154:FIN:EN:PDF. In der Endfassung wurde dieser Zeitraum zwar auf sechs Monate verlängert, ist aber immer noch kürzer als die Gültigkeit vieler innerstaatlicher Zeugnisse. Wenn die lex succesionis einen längeren Gültigkeitszeit-

316

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Artikel 70, Rn. 6–8

gegeben wird. In ordnungsgemäß begründeten Ausnahmefällen kann die Ausstellungsbehörde abweichend davon eine längere Gültigkeitsfrist beschließen. Nach Ablauf dieses Zeitraums muss jede Person, die sich im Besitz ei- 6 ner beglaubigten Abschrift befindet, bei der Ausstellungsbehörde eine Verlängerung der Gültigkeitsfrist der beglaubigten Abschrift oder eine neue beglaubigte Abschrift beantragen, um das Zeugnis zu den in Artikel 63 angegebenen Zwecken verwenden zu können. Mit dieser begrenzten Gültigkeitsdauer soll verhindert werden, dass Zeugnisse, die nicht korrekt sind, im Umlauf bleiben. Auch wenn die Personen, denen ein Zeugnis ausgestellt wurde, so umfassend wie möglich zu informieren sind, wird dies der Ausstellungsbehörde nicht immer gelingen. In diesem Fall wird das Problem zumindest verringert, indem das unkorrekte Zeugnis seine Gültigkeit nach Ablauf der sechs Monate verliert. Dennoch bleibt es ein schwerwiegendes Problem. In der Zwischenzeit 7 kann z.B. eine Person, die fälschlicherweise als Erbe ausgewiesen wurde, erfolgreich alle Bankkonten des Erblassers leeren und andere Vermögenswerte in Besitz nehmen und das Land so verlassen, dass es nahezu ausgeschlossen ist, die Vermögenswerte wiederzuerlangen.3 Es kann auch vorkommen, dass eine solche Person alle Entscheidungen zur Nachlassabwicklung blockiert, die ohne ihren Widerstand korrekt erfolgen könnte. Ein weiteres Problem kann sein, dass einer der tatsächlichen Erben, 8 dessen Mitwirkung notwendig ist, um das Nachlassvermögen korrekt zu verwalten und zu verteilen, nicht mit ausgewiesen wurde. Dies kann zur Folge haben, dass alle oder viele Rechtshandlungen der im Zeugnis genannten Personen, die in der Zwischenzeit handelten, unwirksam sind oder angefochten werden können, sofern diese nicht vom Schutzbereich des Artikels 69 gedeckt sind.

3

raum vorsieht, kann dies nicht auf das europäische Zeugnis für diesen Erbfall angewendet werden. Vgl. dazu Goossens/Verbeke, Nr. 64, Fn. 81 für weitere Informationen zu der deutschen Rechtsliteratur zu diesem Thema. Siehe Goossens/Verbeke, Nr. 64.

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Artikel 70, Rn. 9–11; Artikel 71

9 Diese Risiken sind die Verfasser der Verordnung aber bewusst einge-

gangen, um die Nachlassverwaltung und/oder -aufteilung bei internationalen Nachlassfällen zu vereinfachen. 10 In dem Bericht des Max Planck Instituts wurde dagegen z.B. die Idee

eines Registers entwickelt, durch das man überprüfen könnte, ob ein Zeugnis immer noch gültig ist. Diese Idee wurde aber nicht in die Endfassung der Verordnung übernommen.4 11 Die Begrenzung der Gültigkeit des Zeugnisses kann ein Grund sein, ein

innerstaatliches Zeugnis in dem Mitgliedstaat, in dem Vermögenswerte belegen sind, zu beantragen. Dies bleibt auch nach der Verordnung immer möglich. Da aber die innerstaatlichen Zeugnisse nicht zur internationalen Verwendung bestimmt sind, beinhalten diese nicht die Vorteile des europäischen Zeugnisses gemäß Artikel 68.5 Artikel 71: Berichtigung, Änderung oder Widerruf des Zeugnisses (1) Die Ausstellungsbehörde berichtigt das Zeugnis im Falle eines Schreibfehlers auf Verlangen jedweder Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, oder von Amts wegen. (2) Die Ausstellungsbehörde ändert oder widerruft das Zeugnis auf Verlangen jedweder Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, oder, soweit dies nach innerstaatlichem Recht möglich ist, von Amts wegen, wenn feststeht, dass das Zeugnis oder einzelne Teile des Zeugnisses inhaltlich unrichtig sind. (3) Die Ausstellungsbehörde unterrichtet unverzüglich alle Personen, denen beglaubigte Abschriften des Zeugnisses gemäß Artikel 70 Absatz 1 ausgestellt wurden, über eine Berichtigung, eine Änderung oder einen Widerruf des Zeugnisses.

4 5

Bericht des Max Planck Instituts, Nr. 341 ff. Vergleiche dazu auch die Kommentierung bei Artikel 62 zur gleichzeitigen Verwendung zweier Zeugnisse.

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Artikel 71, Rn. 1–4

I. Allgemeines Es kann vorkommen, dass das Zeugnis nicht seinem ganzen Inhalt nach 1 richtig ist. Dabei kann es sich um Schreibfehler handeln, die in Absatz 1 behandelt werden oder um echte inhaltliche Fehler, für die Absatz 2 gilt.

II. Absatz 1 Die Ausstellungsbehörde berichtigt das Zeugnis im Falle eines Schreib- 2 fehlers auf Verlangen jedweder Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, oder von Amts wegen. Dabei kann es sich zum Beispiel um einen Schreibfehler im Namen oder im Geburtsdatum der Personen, die in dem Zeugnis erwähnt werden, handeln. In jedem Fall muss es sich um einen Fehler handeln, der offensichtlich ist und der nicht den sachlichen Inhalt des Zeugnisses ändert.

III. Absatz 2 Die Ausstellungsbehörde ändert oder widerruft das Zeugnis auf Verlan- 3 gen jedweder Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, oder, soweit dies nach innerstaatlichem Recht möglich ist, von Amts wegen, wenn feststeht, dass das Zeugnis oder einzelne Teile des Zeugnisses inhaltlich unrichtig sind. Diese ernsthafteren Fehler betreffen den sachlichen Inhalt des Zeugnisses. Ein Beispiel ist der Fall, dass ein nach dem anwendbaren Erbrecht tatsächlich berufener Erbe in dem Zeugnis nicht erwähnt wird. Dies kann z.B. vorkommen, wenn vermutet wurde, dass die genannte Person zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers noch am Leben ist, diese aber tatsächlich verstorben ist und ihr Kind den Platz in der Erbfolge eingenommen hat. Es hängt vom innerstaatlichen Recht ab, ob die Ausstellungsbehörde 4 nur auf Antrag einer Person, die ein legitimes Interesse an der Änderung bzw. dem Widerruf des Zeugnisses hat, tätig werden kann, oder ob die Ausstellungsbörde von Amt wegen das Zeugnis ändern und widerrufen darf. Dies ist immer dann relevant, wenn die Gültigkeitsfrist von 6 Monaten noch nicht abgelaufen ist, wenn der Fehler erkannt wird.

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Artikel 72, Rn. 1, 2

Artikel 72: Rechtsbehelfe (1) Entscheidungen, die die Ausstellungsbehörde nach Artikel 67 getroffen hat, können von einer Person, die berechtigt ist, ein Zeugnis zu beantragen, angefochten werden. Entscheidungen, die die Ausstellungsbehörde nach Artikel 71 und Artikel 73 Absatz 1 Buchstabe a getroffen hat, können von einer Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, angefochten werden. Der Rechtsbehelf ist bei einem Gericht des Mitgliedstaats der Ausstellungsbehörde nach dem Recht dieses Staates einzulegen. (2) Führt eine Anfechtungsklage nach Absatz 1 zu der Feststellung, dass das ausgestellte Zeugnis nicht den Tatsachen entspricht, so ändert die zuständige Behörde das Zeugnis oder widerruft es oder sorgt dafür, dass die Ausstellungsbehörde das Zeugnis berichtigt, ändert oder widerruft. Führt eine Anfechtungsklage nach Absatz 1 zu der Feststellung, dass die Versagung der Ausstellung nicht gerechtfertigt war, so stellen die zuständigen Justizbehörden das Zeugnis aus oder stellen sicher, dass die Ausstellungsbehörde den Fall erneut prüft und eine neue Entscheidung trifft.

I. Absätze 1 und 2 1. Rechtsbehelf bezüglich der Versagung der Ausstellung 1 Entscheidungen, die die Ausstellungsbehörde nach Artikel 67 getroffen

hat, können von einer Person, die berechtigt ist, ein Zeugnis zu beantragen, angefochten werden. Der Rechtsbehelf ist bei einem Gericht des Mitgliedstaats der Ausstellungsbehörde nach dem Recht dieses Staates einzulegen. Dies umfasst nicht Streitigkeiten zum konkreten Inhalt des Zeugnisses, da diese von Artikel 71 umfasst sind (vgl. dazu Absatz 2). Dieser Rechtsbehelf betrifft damit nur die Entscheidung, die Ausstellung eines Zeugnisses zu versagen, z.B. wenn die ausstellende Behörde der Meinung ist, dass der Antragsteller nicht nach Artikel 63 berechtigt ist. 2 Führt eine Anfechtungsklage nach Absatz 1 zu der Feststellung, dass die

Versagung der Ausstellung nicht gerechtfertigt war, haben die zuständigen Justizbehörden nach Absatz 2 letzter Satz das Zeugnis selbst auszustellen oder sicherzustellen, dass die Ausstellungsbehörde den Fall er320

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Artikel 72, Rn. 3, 4; Artikel 73

neut prüft und eine neue Entscheidung trifft. Auf diese Weise wird die falsche Entscheidung behoben.

2. Rechtsbehelf bezüglich der Entscheidung zur Änderung, Berichtigung oder des Widerrufs eines Zeugnisses Dieser Rechtsbehelf gegenüber Entscheidungen, die vom Anwendungs- 3 bereich des Art. 71 umfasst sind, kann nach Absatz 1 Unterabsatz 2 von jeder Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, eingelegt werden. Dies kann der Antragsteller sein, aber auch eine andere Person mit legitimem Interesse, wie zum Beispiel ein Nachlassgläubiger. Der Rechtsbehelf ist bei einem Gericht des Mitgliedstaats der Ausstellungsbehörde nach dem Recht dieses Staates einzulegen.

3. Antrag auf Aussetzung eines Zeugnisses Artikel 73 macht es möglich, die Wirkungen eines Zeugnisses auszuset- 4 zen, so lange ein Verfahren zur Änderung, Berichtigung oder Widerruf eines Zeugnisses anhängig ist. Die Aussetzung kann von jeder Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, beantragt werden. Über Artikel 72 bekommen diesen Personen auch das Recht, die Entscheidung, die die Wirkungen des Zeugnisses aussetzen bzw. nicht auszusetzen, anzufechten. Der Rechtsbehelf ist bei einem Gericht des Mitgliedstaats der Ausstellungsbehörde nach dem Recht dieses Staates einzulegen. Artikel 73: Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses (1) Die Wirkungen des Zeugnisses können ausgesetzt werden a) von der Ausstellungsbehörde auf Verlangen einer Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, bis zur Änderung oder zum Widerruf des Zeugnisses nach Artikel 71 oder b) von dem Rechtsmittelgericht auf Antrag einer Person, die berechtigt ist, eine von der Ausstellungsbehörde nach Artikel 72 getroffene Entscheidung anzufechten, während der Anhängigkeit des Rechtsbehelfs. (2) Die Ausstellungsbehörde oder gegebenenfalls das Rechtsmittelgericht unterrichtet unverzüglich alle Personen, denen beglaubigte Abschriften des Zeugnisses nach Artikel 70 Absatz 1 ausgestellt worden sind, über eine Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses. Barbara Reinhartz

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Artikel 73, Rn. 1–3

Während der Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses dürfen keine weiteren beglaubigten Abschriften des Zeugnisses ausgestellt werden.

I. Absatz 1 Die Wirkungen des Zeugnisses können nach den Buchstaben a und b wie folgt ausgesetzt werden:

1. Lit. a 1 Dieses Verfahren ist eine Ergänzung zu dem Prüfungsverfahren der

Ausstellungsbehörde nach Art. 71, ob diese ein Zeugnis ändert oder widerruft. Solange das Verfahren zur Änderung oder zum Widerruf eines Zeugnisses anhängig ist, kann es sinnvoll sein, die vorläufige Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses zu beantragen. Während einer solchen Aussetzung dürfen gemäß Absatz 2 letzter Satz keine weiteren beglaubigten Abschriften des Zeugnisses ausgestellt werden. Das Verfahren, eine Aussetzung zu erreichen, ist auf die Personen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen, begrenzt. Dies sind u.a. die Personen, die nach Artikel 65 selbst ein Zeugnis beantragen können.1

2. Lit. b 2 Wenn eine Person eine Entscheidung der Ausstellungsbehörde gemäß

Artikel 72 anficht, kann sie bei der Ausstellungsbehörde die Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses beantragen. Auch im Rahmen dieser Aussetzung dürfen keine weiteren beglaubigten Abschriften des Zeugnisses ausgestellt werden. Dieses Verfahren kann auf Antrag jeder Person, die dazu berechtigt ist, eine Entscheidung der Ausstellungsbehörde nach Artikel 72 anzufechten, erfolgen. Der Kreis dieser Personen ist größer als der in lit. a.2 3 Dies kann zum Beispiel eine Person sein, die behauptet, Erbe zu sein,

aber (bisher) noch nicht als solcher anerkannt wurde. Sie kann ein Aussetzungsverfahren einleiten, um zu verhindern, dass der Erbe, der in 1 2

Buschbaum/Simon, ZEV 2012, S. 527. Lokin, NIPR 2013, S. 337, Fußnote 79.

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Artikel 73, Rn. 4, 5; Artikel 74

dem Zeugnis angegeben wurde, über die Vermögenswerte des Nachlasses verfügt oder die Bankkonten des Erblassers leert. Das Gericht muss dazu entscheiden, ob diese Person nach Artikel 72 das Recht hat, die von der Ausstellungsbehörde getroffene Entscheidung anzufechten. Während diesem gerichtlichen Verfahren können die Wirkungen des Zeugnisses ausgesetzt werden. In beiden Fällen gibt die Verordnung keine Frist an, in der die Ausset- 4 zung beantragt werden muss. Das Verfahren nach Art. 73 kann jederzeit eingeleitet werden.3

II. Absatz 2 Wie bereits bei Absatz 1 erwähnt wurde, führt die Aussetzung auch da- 5 zu, dass vorläufig keine weiteren beglaubigten Abschriften des Zeugnisses ausgestellt werden dürfen.4 Absatz 2 ordnet ferner an, dass die Ausstellungsbehörde oder ggf. das Rechtsmittelgericht selbst unverzüglich alle Personen, denen beglaubigte Abschriften des Zeugnisses nach Artikel 70 Absatz 1 ausgestellt worden sind, über eine Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses unterrichtet. Aufgrund dieser Information dürfen die Personen für den Zeitraum der Aussetzung das Zeugnis nicht mehr verwenden.

Kapitel VII: Allgemeine und Schlussbestimmungen Artikel 74: Legalisation oder ähnliche Förmlichkeiten Im Rahmen dieser Verordnung bedarf es hinsichtlich Urkunden, die in einem Mitgliedstaat ausgestellt werden, weder der Legalisation noch einer ähnlichen Förmlichkeit.

3 4

Buschbaum/Simon ZEV 2012, S. 527. Lokin, NIPR 2013, S. 337.

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Artikel 74, Rn. 1; Artikel 75

1 Die Verordnung stellt klar, dass es keiner Legalisation oder ähnlicher

Förmlichkeiten hinsichtlich von Urkunden, die in einem Mitgliedstaat ausgestellt werden, bedarf. Dies ist v.a. wichtig bei Verwendung des Europäischen Nachlasszeugnisses; es bedarf keiner weiteren formalen Nachweise, bevor es in einem anderen Mitgliedstaat verwendet werden kann. Artikel 75: Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen (1) Diese Verordnung lässt die Anwendung internationaler Übereinkommen unberührt, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören und die Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind. Insbesondere wenden die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des Haager Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht sind, in Bezug auf die Formgültigkeit von Testamenten und gemeinschaftlichen Testamenten anstelle des Artikels 27 dieser Verordnung weiterhin die Bestimmungen dieses Übereinkommens an. (2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat diese Verordnung jedoch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor ausschließlich zwischen zwei oder mehreren von ihnen geschlossenen Übereinkünften, soweit diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind. (3) Diese Verordnung steht der Anwendung des Übereinkommens vom 19. November 1934 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden mit Bestimmungen des Internationalen Privatrechts über Rechtsnachfolge von Todes wegen, Testamente und Nachlassverwaltung in der geänderten Fassung der zwischenstaatlichen Vereinbarung zwischen diesen Staaten vom 1. Juni 2012 durch die ihm angehörenden Mitgliedstaaten nicht entgegen, soweit dieses Übereinkommen Folgendes vorsieht: a) Vorschriften über die verfahrensrechtlichen Aspekte der Nachlassverwaltung im Sinne der in dem Übereinkommen enthaltenen Begriffsbestimmung und die diesbezügliche Unterstützung durch die Behörden der dem Übereinkommen angehörenden Staaten und b) vereinfachte und beschleunigte Verfahren für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Erbsachen.

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Artikel 75, Rn. 1–5

I. Absatz 1 Die Verordnung lässt die Anwendung internationaler Übereinkommen, 1 denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören und die Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind, unberührt. Insbesondere wenden die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des 2 Haager Testamentsformübereinkommens vom 5. Oktober 1961 sind, in Bezug auf die Formgültigkeit von Testamenten und gemeinschaftlichen Testamenten anstelle des Artikels 27 dieser Verordnung weiterhin die Bestimmungen dieses Übereinkommens an. Für die Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien dieses Übereinkommen sind,1 bleibt das Übereinkommen unmittelbar anwendbar, wie auch Erwägungsgrund 73 klarstellt. Ebenso besagt Erwägungsgrund 52, dass die Vorschriften in Artikel 27 zwar im Einklang mit denen des Haager Testamentsformübereinkommens von 1961 sind, dass aber das Übereinkommen von 1961 zwischen dessen Vertragsstaaten angewendet wird, wenn sich die Vorschriften des Haager Übereinkommens von denen der Verordnung unterscheiden. Dies ist auch für alle anderen internationalen Übereinkommen der Fall, 3 solange nicht der Vorbehalt des Absatz 2 Anwendung findet.

II. Absatz 2 Ungeachtet des Absatzes 1 hat diese Verordnung jedoch im Verhältnis 4 zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor ausschließlich zwischen zwei oder mehreren von ihnen geschlossenen Übereinkommen, soweit diese Bereiche betreffen, die in der Verordnung geregelt sind. Bilaterale oder multilaterale Übereinkommen zwischen Mitgliedstaaten 5 zu erbrechtlichen Themen, die von der Erbrechtsverordnung behandelt werden, werden also von der Verordnung hintangesetzt.

1

Siehe dazu die Statustabelle zu dem Übereinkommen auf http://www.hcch.net/ index_en.php?act=conventions.status&cid=40.

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Artikel 75, Rn. 6; Artikel 76, Rn. 1, 2

III. Absatz 3 6 Als Ausnahme zu Absatz 2 wird aber wiederum das Übereinkommen

vom 1934 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden in der neuen Fassung von 20122 nicht von der Verordnung hintangesetzt, soweit dieses Übereinkommen folgende Verfahren betrifft: a) Vorschriften über die verfahrensrechtlichen Aspekte der Nachlassverwaltung im Sinne der in dem Übereinkommen enthaltenen Begriffsbestimmung und die diesbezügliche Unterstützung durch die Behörden der dem Übereinkommen angehörenden Staaten und b) vereinfachte und beschleunigte Verfahren für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Erbsachen.3 Artikel 76: Verhältnis zur Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates Diese Verordnung lässt die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren unberührt.

1 Die EU-Insolvenzverordnung wird angewendet, wenn der Erblasser in-

solvent war.1 In einigen Mitgliedstaaten ist es möglich, einen Insolvenzantrag über das Nachlassvermögen noch nach dem Tod des Erblassers zu stellen; in anderen, wie zum Beispiel in den Niederlanden, wo ein besonderes Verfahren angewendet wird, wenn der Nettowert des Nachlasses negativ ist, ist dies dagegen nicht zulässig. 2 Wenn eine Insolvenz im europäischen Zusammenhang erfolgt, kann

die europäische Insolvenzordnung auch dann noch angewendet werden, wenn der Schuldner bereits verstorben ist. Wie das Max Planck 2

3 1

Die Nordische Nachlasskonvention vom 19.11.1934 (NAIDE) mit Bestimmungen des Internationalen Privatrechts über Rechtsnachfolge von Todes wegen, Testamente und Nachlassverwaltung. Siehe zum Beispiel für Finnland: http:// www.successions-europe.eu/en/finland/topics/which-law-applies_can-i-choose-the-applicable-law-to-my-inheritance. Vgl. dazu Erwägungsgrund 74. OJ L 160, 30.6.2000, S. 1.

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Artikel 77, Rn. 1

Institut darstellte, kann dies aber dazu führen, dass die beiden Verordnungen zu unterschiedlichen Lösungen hinsichtlich der Zuständigkeit und hinsichtlich des anwendbaren Rechts führen.2 Artikel 77: Informationen für die Öffentlichkeit Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission eine kurze Zusammenfassung ihrer innerstaatlichen erbrechtlichen Vorschriften und Verfahren, einschließlich Informationen zu der Art von Behörde, die für Erbsachen zuständig ist, sowie zu der Art von Behörde, die für die Entgegennahme von Erklärungen über die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils zuständig ist, damit die betreffenden Informationen der Öffentlichkeit im Rahmen des Europäischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen zur Verfügung gestellt werden können. Die Mitgliedstaaten stellen auch Merkblätter bereit, in denen alle Urkunden und/oder Angaben aufgeführt sind, die für die Eintragung einer in ihrem Hoheitsgebiet belegenen unbeweglichen Sache im Regelfall erforderlich sind. Die Mitgliedstaaten halten die Informationen stets auf dem neuesten Stand.

Zu diesem Artikel geben die Erwägungsgründe Nr. 75 und 76 folgende 1 Erläuterung: „(75) Um die Anwendung dieser Verordnung zu erleichtern, sollten die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, über das mit der Entscheidung 2001/470/EG des Rates eingerichtete Europäische Justizielle Netz für Zivil- und Handelssachen bestimmte Angaben zu ihren erbrechtlichen Vorschriften und Verfahren zu machen. Damit sämtliche Informationen, die für die praktische Anwendung dieser Verordnung von Bedeutung sind, rechtzeitig im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden können, sollten die Mitgliedstaaten der Kommission auch diese Informationen vor dem Beginn der Anwendung der Verordnung mitteilen.

2

Der Bericht des Max Planck Insituts, Nr. 356, gibt verschiedene Beispiele für Probleme, die auftreten können.

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Artikel 77, Rn. 2, 3; Artikel 78

(76) Um die Anwendung dieser Verordnung zu erleichtern und um die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien zu ermöglichen, sollten Standardformblätter für die Bescheinigungen, die im Zusammenhang mit einem Antrag auf Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung, einer öffentlichen Urkunde oder eines gerichtlichen Vergleichs und mit einem Antrag auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses vorzulegen sind, sowie für das Zeugnis selbst vorgesehen werden.“ 2 Das Informationssystem, das in Erwägungsgrund 75 erwähnt wird, ist

bereits vorhanden; siehe die Seite http://www.successions-europe.eu, auf der Informationen zu den Erbrechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten gefunden werden können. Diese Informationen werden regelmäßig aktualisiert.1 3 Das Standardformblatt, das in Erwägungsgrund 76 erwähnt ist, wurde

vor Drucklegung des Kommentars veröffentlicht. In einem Entwurf der Verordnung war ein Standardformblatt beigefügt,2 dieses wurde jedoch in der endgültigen Fassung nicht übernommen. Das inzwischen veröffentlichte Formblatt ist im Anhang des Kommentars zu finden. Artikel 78: Informationen zu Kontaktdaten und Verfahren (1) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission bis zum 16. Januar 2014 mit: a) die Namen und Kontaktdaten der für Anträge auf Vollstreckbarerklärung gemäß Artikel 45 Absatz 1 und für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen über derartige Anträge gemäß Artikel 50 Absatz 2 zuständigen Gerichte oder Behörden; b) die in Artikel 51 genannten Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung über den Rechtsbehelf; c) die einschlägigen Informationen zu den Behörden, die für die Ausstellung des Zeugnisses nach Artikel 64 zuständig sind, und d) die in Artikel 72 genannten Rechtsbehelfe. Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission über spätere Änderungen dieser Informationen. 1 2

E.N. Frohn, B.F.P. Lhoëst, FJR 2010, S. 20. Der Text KOM/2009/154 enthielt den Entwurf dieses Formblatts: http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2009:0154:FIN:EN:PDF.

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Artikel 78, Rn. 1; Artikel 79, Rn. 1; Artikel 80

(2) Die Kommission veröffentlicht die nach Absatz 1 übermittelten Informationen im Amtsblatt der Europäischen Union, mit Ausnahme der Anschriften und sonstigen Kontaktdaten der unter Absatz 1 Buchstabe a genannten Gerichte und Behörden. (3) Die Kommission stellt der Öffentlichkeit alle nach Absatz 1 übermittelten Informationen auf andere geeignete Weise, inbesonderes über das Europäische Justizielle Netz für Zivil- und Handelssachen zur Verfügung.

1

Dieser Artikel ist selbsterklärend. Artikel 79: Erstellung und spätere Änderung der Liste der in Artikel 3 Absatz 2 vorgesehenen Informationen (1) Die Kommission erstellt anhand der Mitteilungen der Mitgliedstaaten die Liste der in Artikel 3 Absatz 2 genannten sonstigen Behörden und Angehörigen von Rechtsberufen. (2) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission spätere Änderungen der in dieser Liste enthaltenen Angaben mit. Die Kommission ändert die Liste entsprechend. (3) Die Kommission veröffentlicht die Liste und etwaige spätere Änderungen im Amtsblatt der Europäischen Union. (4) Die Kommission stellt der Öffentlichkeit alle nach den Absätzen 1 und 2 mitgeteilten Informationen auf andere geeignete Weise, insbesondere über das Europäische Justizielle Netz für Zivil- und Handelssachen, zur Verfügung.

1

Dieser Artikel ist selbsterklärend. Artikel 80: Erstellung und spätere Änderung der Bescheinigungen und der Formblätter nach den Artikeln 46, 59, 60, 61, 65 und 67 Die Kommission erlässt Durchführungsrechtsakte zur Erstellung und späteren Änderung der Bescheinigungen und der Formblätter nach den Artikeln 46, 59, 60, 61, 65 und 67. Diese Durchführungsrechtsakte werden nach dem in Artikel 81 Absatz 2 genannten Beratungsverfahren angenommen. Barbara Reinhartz

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Artikel 80, Rn. 1; Artikel 81, Rn. 1; Artikel 82, Rn. 1

1 Die Kommission erlässt Durchführungsrechtsakte zur Erstellung und

späteren Änderung der Bescheinigungen und der Formblätter nach den Artikeln 46, 59, 60, 61, 65 und 67. Dies betrifft das Verfahren in Erbsachen (Artikel 46), das Verfahren zur Annahme öffentlicher Urkunden (Artikel 59), die Vollstreckbarerklärung öffentlicher Urkunden (Artikel 60) und gerichtlicher Vergleiche (Artikel 61), den Antrag auf Ausstellung eines Europäisches Nachlasszeugnisses (Artikel 65) und die Ausstellung des Zeugnisses (Artikel 67). Vergleiche dazu die Kommentierung zu diesen Artikeln für weitere Informationen. Artikel 81: Ausschussverfahren (1) Die Kommission wird von einem Ausschuss unterstützt. Dieser Ausschuss ist ein Ausschuss im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 182/2011. (2) Wird auf diesen Absatz Bezug genommen, so gilt Artikel 4 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011.

1 Dieser Artikel ist selbsterklärend.

Artikel 82: Überprüfung Die Kommission legt dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss bis 18. August 2025 einen Bericht über die Anwendung dieser Verordnung vor, der auch eine Evaluierung der etwaigen praktischen Probleme enthält, die in Bezug auf die parallele außergerichtliche Beilegung von Erbstreitigkeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten oder eine außergerichtliche Beilegung in einem Mitgliedstaat parallel zu einem gerichtlichen Vergleich in einem anderen Mitgliedstaat aufgetreten sind. Dem Bericht werden gegebenenfalls Änderungsvorschläge beigefügt.

1 Dieser Artikel ist selbsterklärend. Nach zehn Jahren der Anwendung ist

die Verordnung zu überprüfen.

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Artikel 83, Rn. 1, 2

Artikel 83: Übergangsbestimmungen (1) Diese Verordnung findet auf die Rechtsnachfolge von Personen Anwendung, die am 17. August 2015 oder danach verstorben sind. (2) Hatte der Erblasser das auf seine Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht vor dem 17. August 2015 gewählt, so ist diese Rechtswahl wirksam, wenn sie die Voraussetzungen des Kapitels III erfüllt oder wenn sie nach den zum Zeitpunkt der Rechtswahl geltenden Vorschriften des Internationalen Privatrechts in dem Staat, in dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, wirksam ist. (3) Eine vor dem 17. August 2015 errichtete Verfügung von Todes wegen ist zulässig sowie materiell und formell wirksam, wenn sie die Voraussetzungen des Kapitels III erfüllt oder wenn sie nach den zum Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung geltenden Vorschriften des Internationalen Privatrechts in dem Staat, in dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, zulässig sowie materiell und formell wirksam ist. (4) Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 nach dem Recht errichtet, welches der Erblasser gemäß dieser Verordnung hätte wählen können, so gilt dieses Recht als das auf die Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht.

I. Absatz 1 Diese Verordnung findet auf die Rechtsnachfolge von Personen An- 1 wendung, die am 17. August 2015 oder danach verstorben sind. Die Rechtsnachfolge von Personen, die vor diesem Datum versterben, wird noch von den jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten zum internationalen Privatrecht geregelt.

II. Absatz 2 Hatte der Erblasser das auf seine Rechtsnachfolge von Todes wegen an- 2 zuwendende Recht vor dem 17. August 2015 gewählt, so ist diese Rechtswahl wirksam, wenn sie die Voraussetzungen des Kapitels III erfüllt oder wenn sie nach den zum Zeitpunkt der Rechtswahl geltenden Vorschriften des Internationalen Privatrechts in dem Staat, in dem der Barbara Reinhartz

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Artikel 83, Rn. 3–6

Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, wirksam ist. 3 Im Hinblick auf diese Übergangsvorschrift, ist es wichtig, dass juristi-

sche Berater in Nachlassangelegenheiten, wie zum Beispiel Notare, schon vor dem 17. August 2015 die Vorschriften der Verordnung in Betracht ziehen, um eine sachgerechte Rechtswahl vorzusehen. 4 Wenn der Erblasser nach dem 17. August 2015 verstirbt, aber schon zu-

vor eine Rechtswahl für seine Erbfolge entsprechend den Vorschriften der Verordnung getroffen hat, wird diese Rechtswahl wirksam, auch wenn die Rechtswahl nach den Vorschriften des nationalen internationalen Privatrechts zum Zeitpunkt der Verfügung möglicherweise ungültig war.1 Die Rechtswahl bleibt aber auch gültig, wenn sie nach den Vorschriften des Internationalen Privatrechts gültig war, das zum Zeitpunkt der Verfügung in dem Staat, in dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte oder dessen Staatsangehörigkeit er besaß, galt.2 5 Für die Nachlassplanung eröffnet dies einen Weg, eine Rechtswahl für

den gesamten Nachlass zu treffen, auch wenn die anzuwendenden Vorschriften des Internationalen Privatrechts zum Zeitpunkt der Rechtswahl keine Wahl bezüglich des unbeweglichen Vermögens zulässt, da diese ausschließlich von der lex rei sitae geregelt werden. Die Rechtswahl für den gesamten Nachlass wird gültig, wenn der Todeszeitpunkt des Erblassers nach dem 16. August 2015 liegt.

III. Absatz 3 6 Eine vor dem 17. August 2015 errichtete Verfügung von Todes wegen ist

zulässig sowie materiell und formell wirksam, wenn sie die Voraussetzungen des Kapitels III erfüllt oder wenn sie nach den zum Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung geltenden Vorschriften des Internationalen Privatrechts in dem Staat, in dem der Erblasser seinen gewöhnli1

2

B.F.P. Lhoëst, Estate Planner Digitaal, 2012/09, S. 1-8; http://www.internationaal-familierecht.nl/artikel/recente-en-toekomstige-ontwikkelingen-het-internationaal-huwelijksvermogens-en-erfrecht-er-iets-nieuws-onder-de-zon. Dörner, ZEV 2012, S. 506.

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Artikel 83, Rn. 7–11

chen Aufenthalt hatte, oder in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, zulässig sowie materiell und formell wirksam ist. Wenn der Erblasser nach dem 16. August 2015 verstirbt, aber er eine 7 Verfügung von Todes wegen entsprechend den Vorschriften der Verordnung errichtet hat, wird die Verfügung wirksam, unabhängig davon, ob diese nach den Vorschriften des Internationalen Privatrecht zum Zeitpunkt der Verfügung wirksam war.3 Sie bleibt aber auch wirksam, wenn die Verfügung entsprechend den Vorschriften des Internationalen Privatrechts gültig war, das zum Zeitpunkt der Verfügung in dem Staat, in dem der Erblasser seine gewöhnlichen Aufenthalt hatte oder dessen Staatsangehörigkeit er besaß, galt.

IV. Absatz 4 Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 nach 8 dem Recht errichtet, welches der Erblasser gemäß dieser Verordnung hätte wählen können, so gilt dieses Recht als das auf die Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht. In Absatz 2 dieses Artikels, werden die Übergangsbestimmungen für 9 eine ausdrückliche Rechtswahl geregelt. Es ist aber auch möglich, dass eine vor dem 17.8.2015 errichtete Verfü- 10 gung von Todes wegen keine Rechtswahl enthält, aber gemäß einem bestimmten innerstaatlichen Erbrecht verfasst wurde. In diesem Fall wird durch Absatz 4 unterstellt, dass dieses Erbrecht gewählt wurde, vorausgesetzt eine entsprechende explizite Rechtswahl wäre nach Absatz 2 gültig. Dieser Artikel beinhaltet aber keine Lösung für Personen, die mit dem 11 Recht, das vor Inkrafttreten der Verordnung anzuwenden war, zufrieden waren und deshalb kein Testament verfasst haben. Sie müssen nun

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B.F.P. Lhoëst, Estate Planner Digitaal, 2012/09, S. 1-8; http://www.internationaal-familierecht.nl/artikel/recente-en-toekomstige-ontwikkelingen-het-internationaal-huwelijksvermogens-en-erfrecht-er-iets-nieuws-onder-de-zon.

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Artikel 84, Rn. 1, 2

ein Testament errichten, um sicherzustellen, dass ihr letzter Wille auch nach dem 17.8.2015 zur Geltung kommt.4 Artikel 84: Inkrafttreten Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft. Sie gilt ab dem 17. August 2015, mit Ausnahme der Artikel 77 und 78, die ab dem 16. Januar 2014 gelten, und der Artikel 79, 80 und 81, die ab dem 5. Juli 2012 gelten. Diese Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt gemäß den Verträgen unmittelbar in den Mitgliedstaaten.

1 Dieser Artikel regelt das Inkrafttreten der Verordnung in den Mitglied-

staaten. Dies sind alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Irland und Dänemark; vgl. dazu die Erwägungsgründe 82 und 83.1 2 Die Verordnung wurde im Amtsblatt der Europäischen Union am

27. Juli 2012 veröffentlicht. Deshalb gilt sie vom 17. August 2015 an, mit Ausnahme der Artikel 77 (Informationen für die Öffentlichkeit) und 78 (Informationen zu Kontaktdaten und Verfahren), die seit dem 16. Januar 2014 gelten, und der Artikel 79 (Erstellung und spätere Änderung der Liste der in Artikel 3 Absatz 2 vorgesehenen Informationen), 80 (Erstellung und spätere Änderung der Bescheinigungen und der Formblätter nach den Artikeln 46, 59, 60, 61, 65 und 67 ) und 81 (Ausschussverfahren), die seitdem 5. Juli 2012 gelten.

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Lehmann, DStR 2012, S. 2088. Das Vereinigte Königreich und Irland haben die Verordnung nicht angenommen, könnten aber zu einem späteren Zeitpunkt beitreten. Zur anderen Auslegung des Begriffs Mitgliedstaat vgl. die Kommentierung von Frimston zu Art. 3 Rn. 43.

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Artikel 84, Rn. 3

Diese Verordnung ist in ihrer Gesamtheit bindend und direkt in den 3 Mitgliedstaten des Abkommens anzuwenden.

Die Verordnung ist in all ihren Teilen verbindlich und gilt gemäß den Verträgen unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Geschehen zu Straßburg am 4. Juli 2012. Im Namen des Europäischen Parlaments Der Präsident M. SCHULZ Im Namen des Rates Der Präsident A. D. NAVROYIANNIS

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Anhang

Anhang DURCHFÜHRUNGSVERORDNUNG (EU) Nr. 1329/2014 DER KOMMISSION vom 9. Dezember 2014 zur Festlegung der Formblätter nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION – gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, gestützt auf die Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses1, insbesondere auf Artikel 46 Absatz 3 Buchstabe b, Artikel 59 Absatz 1, Artikel 60 Absatz 2, Artikel 61 Absatz 2, Artikel 65 Absatz 2 und Artikel 67 Absatz 1, in Erwägung nachstehender Gründe: (1) Zur ordnungsgemäßen Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 sollen mehrere Formblätter erstellt werden. (2) Das Vereinigte Königreich und Irland haben sich entsprechend dem Protokoll Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Anhang zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht an der Annahme der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 beteiligt. Das Vereinigte Königreich und Irland beteiligen sich deshalb nicht an der Annahme dieser Verordnung. (3) Nach den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Verordnung, die daher für Dänemark weder bindend noch Dänemark gegenüber anwendbar ist.

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ABl. L 201 vom 27.7.2012, S. 107.

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(4) Die in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen stehen im Einklang mit der Stellungnahme des Ausschusses für Erbsachen – HAT FOLGENDE VERORDNUNG ERLASSEN:

Artikel 1 (1) Für die Bescheinigung betreffend eine Entscheidung in einer Erbsache gemäß Artikel 46 Absatz 3 Buchstabe b der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 ist das Formblatt I in Anhang 1 zu verwenden. (2) Für die Bescheinigung betreffend eine öffentliche Urkunde in einer Erbsache gemäß Artikel 59 Absatz 1 und Artikel 60 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 ist das Formblatt II in Anhang 2 zu verwenden. (3) Für die Bescheinigung betreffend einen gerichtlichen Vergleich in einer Erbsache gemäß Artikel 61 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 ist das Formblatt III in Anhang 3 zu verwenden. (4) Für den Antrag auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses gemäß Artikel 65 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 ist das Formblatt IV in Anhang 4 zu verwenden. (5) Für das Europäische Nachlasszeugnis gemäß Artikel 67 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 ist das Formblatt V in Anhang 5 zu verwenden.

Artikel 2 Diese Verordnung tritt am 17. August 2015 in Kraft. Diese Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt gemäß den Verträgen unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Brüssel, den 9. Dezember 2014 Für die Kommission Der Präsident Jean-Claude JUNCKER

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Glossar Amtsblatt der Europäischen Union Das Amtsblatt wird an jedem Arbeitstag in allen offiziellen Sprachen der Europäischen Union veröffentlicht und besteht aus zwei zusammengehörigen Serien (L für Gesetzgebung und C für Informationen und Notizen), s. auch http://publications.europa.eu/official/index_en. htm.

Anerkennung (Artikel 39) Die Anerkennung ist in keiner EU-Verordnung definiert, besagt aber, dass Entscheidungen in allen Mitgliedstaaten dieselbe Wirkung erhalten, die sie in dem Staat, in dem sie ergangen sind, haben.

Annahme von öffentlichen Urkunden (Artikel 59) Das internationale Konzept der Anerkennung wird nur bezüglich Gerichtsurteilen für anwendbar erachtet. Öffentliche Urkunden sind dagegen nicht für eine Anerkennung geeignet, so dass für diese das Konzept der Annahme entwickelt wurde. Annahme bedeutet, dass einer öffentlichen Urkunde die gleiche Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat zuerkannt wird.

Anwendungsbereich Der Begriff „Anwendungsbereich“ wird in der Verordnung in unterschiedlicher Weise verwendet. Für die Anwendung der Verordnung ist der Anwendungsbereich in einer umfassenden Weise definiert, vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen in Artikel 1. Bezüglich der Bereiche, die vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind, kann kein Teil bzw. keine Bestimmung der Verordnung verwendet werden. Der Anwendungsbereich des anzuwendenden Rechts wird positiv definiert als das Recht, das die Rechtsnachfolge von Todes wegen als Ganzes bestimmt, und umfasst alle Fragen, die in Artikel 23 Abs. 2 aufgezählt sind. Die Aufzählung in Artikel 23 Abs. 2 ist aber nicht vollständig. Es gibt auch Fragen in der Verordnung, wie zum Beispiel die Zuständigkeit und einige Vereinbarungen bezüglich Erbangelegenheiten, die nicht vom anzuwendenden Recht geregelt werden.

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Glossar

Anzuwendendes Recht (Kapitel III) Wenn die Frage der internationalen Zuständigkeit geklärt ist, hat das zuständige Gericht zu entscheiden, welches Erbrecht anzuwenden ist. In erster Linie ist dies das Erbrecht des Staates, in dem der Verstorbene seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu seinem Todeszeitpunkt hatte.

Apostille (Artikel 74) Legalisierung nach dem Haager Legalisierungsübereinkommen von 1961. Im Anwendungsbereich der Erbrechtsverordnung ist keine Legalisierung oder Apostille für Dokumente, die in einem Mitgliedstaat ausgestellt werden, notwendig.

Ausgleichung und Anrechnung unentgeltlicher Zuwendungen Auch wenn unentgeltliche Zuwendungen außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung liegen (Artikel 1 Abs. 2 lit. g), werden Fragen der Ausgleichung und Anrechnung vom anzuwendenden Erbrecht geregelt (Artikel 23 Abs. 2 lit. i). In welchem Umfang ein Eigentumsrecht, das durch eine Zuwendung, die außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung liegt, erworben wurde, von einer Ausgleichung und Anrechnung gemäß der Verordnung betroffen ist, wird oftmals eine schwierige Frage sein.

Batiffol-Bericht Der Erläuterungsbericht von Henri Batiffol zum Haager Testamentsformübereinkommen von 1961.

Beginn des Erbverfahrens Der Zeitpunkt und der Ort, an dem ein Erbverfahren beginnt oder eröffnet wird, kann von Staat zu Staat variieren. Es kann von Amts wegen nach dem Tod des Erblassers eröffnet werden oder es kann eines Antrags eines Erbes oder des Nachlassverwalters bedürfen. Diese Fragen werden von dem anzuwendenden Recht gemäß Artikel 23 Abs. 2 lit. a bestimmt.

Berechtigter/Begünstigter (Erwägungsgrund 47) Der Begriff „Berechtigter“ oder „Begünstigter“ wird in vielen Staaten (v. a. des common law) für die Person oder die Personen benutzt, die bezüglich des Reinnachlasses nach Schulden-, Steuer- und Vermächtniszahlungen anspruchsberechtigt sind. In anderen Staaten wird der 392

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Glossar

Nachlass an die Erben, die selbst für die Bezahlung der Schulden und Vermächtnisse verantwortlich sind, übertragen. Es ist eine Frage des anzuwendenden Erbrechts im Einzelfall, die jeweils exakte Definition des Berechtigten bzw. Begünstigten zu bestimmen. Der Oberbegriff umfasst unter den meisten Rechtsordnungen Erben, Vermächtnisnehmer und Personen, die zu einem Pflichtanteil berechtigt sind.

Besondere Arten von Vermögenswerten (Artikel 30) Einige Staaten schützen bestimmte unbewegliche Sachen, Unternehmen oder besondere Vermögenswerte durch spezielle Regelungen, die aus wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Erwägungen Beschränkungen der Vererbung festlegen. Die Verordnung gestattet solche besonderen Regelungen unabhängig von dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht. Diese Ausnahme unterliegt aber einer engen Auslegung.

Bona Vacantia Siehe erbenloser Nachlass

Brüssel Ia-Verordnung Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.

Brüssel IIa-Verordnung Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000.

Dingliche Rechte Ein dingliches Recht ist ein Eigentumsrecht oder sonstiges unmittelbares Recht an Sachen, im Unterschied zu einem Recht, das eine Forderung oder einen sonstigen Rechtsanspruch gegen eine andere Person darstellt. Das jeweilige Sachenrecht der Mitgliedstaaten kann eine begrenzte Anzahl solcher Eigentumsrechte oder dinglichen Rechte enthalten. Einige Mitgliedstaaten verwenden Konzepte wie Nießbrauch und Fideikommiss, andere den Trust. Die Verordnung setzt sich aber nicht Richard Frimston

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Glossar

über die Eigentumsrechte der Mitgliedstaaten hinweg, und kein Mitgliedstaat wird dazu verpflichtet, ein dingliches Recht des Mitgliedstaats, dessen Erbrecht anwendbar ist, anzuerkennen, wenn dieses dingliche Recht in seinem Sachenrecht nicht bekannt ist. Jedoch muss das unbekannte dingliche Recht an das ähnlichste nationale Rechtsinstitut angepasst werden (Artikel 31 und Erwägungsgrund 17).

Domizil Die Brüssel Ia-Verordnung verwendet den Begriff Domizil als Anknüpfungspunkt, jedoch mit einigen speziellen Definitionen. Verschiedene Staaten verwenden den Begriff „Domizil“ in ihrem innerstaatlichen Recht mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen. In vielen Staaten des common law meint „domicile“ den Herkunftsstaat oder den Staat, mit dem der Erblasser am nächsten verbunden ist, wohingegen die Bedeutung in anderen Staaten näher am aktuellen Wohnsitz liegt. Die Verordnung benutzt dagegen das Anknüpfungsmerkmal des „gewöhnlichen Aufenthalts“, bezieht sich aber auf das Domizil in Fragen der Vollstreckung in ähnlicher Weise wie die Brüssel Ia-Verordnung.

Ehelicher Güterstand Das Güterrecht ist generell aus dem Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen. Artikel 2 lit. a der vorgeschlagenen Verordnung KOM (2011) 126 definiert als „ehelicher Güterstand“ sämtliche vermögensrechtliche Regelungen, die im Verhältnis der Ehegatten untereinander sowie zwischen ihnen und Dritten gelten. KOM (2011) 127 gilt entsprechend für Güterrechte eingetragener Partnerschaften.

Einordnung/Qualifikation Die Entscheidung, ob eine spezielle rechtliche Frage zu einer rechtlichen Kategorie oder einer anderen gehört, wird im Internationalen Privatrecht als „Einordnung“ oder „Qualifikation“ bezeichnet. In einigen Staaten schließt z. B. der Begriff „Erbschaft“ Angelegenheiten ein, die in anderen Staaten nicht eingeschlossen sind.

Entscheidung (Artikel 3 lit. g) Der Begriff ist in der Verordnung weit definiert und schließt alle Formen von Entscheidungen in einer Erbangelegenheit, die von einem Gericht eines Mitgliedstaats getroffen werden, ein.

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Glossar

Erbe Siehe auch Begünstigter

Erbenloser Nachlass (Artikel 33) Fälle, bei denen keine Person erbberechtigt ist, werden von den Staaten unterschiedlich behandelt. In einigen Rechtsordnungen ist der Staat berechtigt, als gesetzlicher Erbe aufzutreten, wohingegen nach anderen Rechtsordnungen der Staat das Recht hat, sich den Nachlass anzueignen. Die Verordnung verwehrt es, vorbehaltlich der Rechte der Nachlassgläubiger, keinem Staat, sich das Nachlassvermögen in seinem Hoheitsgebiet anzueignen.

Erbvertrag (Artikel 3 Abs. 1 lit. b) Nicht alle Staaten sind mit dem Konzept eines Vertrages, welchen der Erblasser zu seinen Lebzeiten mit einer anderen Person schließt und mit dem die Verteilung seines Vermögens nach seinem Tod geregelt wird, vertraut. Der Erbvertrag erhielt in der Verordnung eine weite Definition und schließt jegliche schriftliche Vereinbarung ein, die ein Recht an dem Nachlass bzw. den Nachlässen eines oder mehrerer Vertragsparteien begründet, ändert oder entzieht.

Erläuterndes Memorandum Erläuterndes Memorandum vom 29. Oktober 2009 der Kommission in KOM (2009) 154.

Europäisches Justizielles Netz in Zivil- und Handelssachen (EJN) Diese Internetseite wird von der Europäischen Kommission betrieben und wird regelmäßig zusammen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union aktualisiert. Sie beinhaltet viele Informationen über die Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsrecht, Europäisches Recht und viele Aspekte des Zivil- und Handelsrechts, siehe http://ec.europa.eu/civiljustice/index_de.htm.

Europäisches Nachlasszeugnis (Artikel 62 bis 73) Um die Abwicklung grenzüberschreitender Erbangelegenheiten zu beschleunigen und reibungslos zu gestalten, führt die Verordnung das Konzept eines einheitlichen Zeugnisses ein, das in einem Mitgliedstaat ausgestellt wird, um in allen anderen Mitgliedstaat benutzt werden zu Richard Frimston

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Glossar

können. Kapitel VI der Verordnung enthält dazu die maßgeblichen Regeln.

Executor Siehe Nachlassverwalter

Exequatur Als Exequatur wird die Vollstreckbarerklärung bezeichnet, die von einem Gericht ausgestellt wird, um die Vollstreckbarkeit eines Urteils, einer öffentlichen Urkunde oder eines gerichtlichen Vergleichs aus einem anderen Land festzustellen.

Formgültigkeit einer Annahme- oder Ausschlagungserklärung (Artikel 28) Eine Annahme- oder Ausschlagungserklärung ist hinsichtlich ihrer Form wirksam, wenn diese entweder den Formerfordernissen des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts oder denen des Rechts des Staates, in dem der Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, entspricht.

Formgültigkeit einer schriftlichen Verfügung von Todes wegen (Artikel 27) Verfügungen von Todes wegen, die mündlich gemacht werden, sind von der Verordnung nicht umfasst. Die Regeln des Haager Testamentsformübereinkommens von 1961 werden dagegen von der Verordnung erweitert, indem diese auch Erbverträge einschließt. Es gibt aber keine ausdrückliche Bestimmung bezüglich des Widerrufs durch eine nachfolgende Verfügung von Todes wegen.

Forum Necessitas (Artikel 11) Die Doktrin des forum non conveniens, die in einigen Staaten des common law verwendet wird, findet in der Verordnung keine Anwendung. Artikel 11 erlaubt den Gerichten der Mitgliedstaaten in Ausnahmefällen jedoch, Entscheidungen zu treffen, wenn es den Beteiligten nicht zuzumuten ist, ein Verfahren in einem Drittstaat, zu dem die Sache einen engeren Bezug aufweist, einzuleiten.

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Glossar

Gemeinschaftliches Testament (Artikel 3 Abs. 1 lit. c) Die Definition der Verordnung kann weiter gefasst sein als im nationalen Recht einiger Mitgliedstaaten. Es schließt alle Verfügungen von Todes wegen ein, die von zwei oder mehr Personen in einem Dokument getroffen werden. Siehe dazu auch das Stichwort Erbvertrag.

Gericht (Artikel 3 Abs. 2) Die Definition „Gericht“ in der Verordnung ist weiter als gewöhnlich und schließt Notare und andere Behörden mit Zuständigkeiten in Erbangelegenheiten ein, falls diese eine gerichtliche Funktion ausüben.

Gerichtsstandsvereinbarung (Artikel 5) Unter bestimmten Umständen können die Beteiligten in einer Nachlassangelegenheit vereinbaren, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, dessen Erbrecht der Erblasser als sein Staatsangehörigkeitsrecht gewählt hat, zuständig sein sollen. Es gibt aber keine Vorschrift, die es dem Erblasser ermöglicht, das zuständige Gericht zu bestimmen.

Gewöhnlicher Aufenthalt Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ wurde nicht näher definiert. Es wird aber diskutiert, dass seine Bedeutung etwas enger ist als in anderen Verordnungen: Es sollte etwas schwieriger sein, ihn zu verlieren, zu verändern oder zu erlangen. Der gewöhnliche Aufenthalt sollte eine enge und stabile Beziehung zu dem betroffenen Staat unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele der Verordnung zeigen.

Gleichzeitiger Todesfall Siehe Kommorienten

Haager Erbrechtsübereinkommen Das Haager Übereinkommen vom 1. August 1989 über das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht.

Haager Testamentsformübereinkommen Das Haager Übereinkommen vom 1. Juli 1961 über das auf die Form letztwillige Verfügungen anzuwendende Recht.

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Glossar

Haager Trustübereinkommen Das Haager Übereinkommen vom 1. Juli 1985 über das auf Trusts anzuwendende Recht und deren Anerkennung.

Haager Nachlassverwaltungsübereinkommen Das Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1973 über die Internationale Verwaltung von Nachlässen.

Informationen der Mitgliedstaaten (Artikel 77) Die Mitgliedstaaten sind dazu verpflichtet, im EJN aktuelle Informationen, einschließlich eines Überblicks über die nationale Gesetzgebung und Verfahrensabläufe sowie Informationsblätter bezüglich der Registrierung von Immobilien in ihrem Hoheitsgebiet zu veröffentlichen.

Informationen der Kommission (Artikel 78) Die Kommission muss eine Liste aller Behörden und anderer Personen mit Zuständigkeit in Erbsachen, die der Definition des „Gerichts“ in Art. 3 Abs. 2 unterfallen, erstellen und diese mit späteren Ergänzungen im Amtsblatt der Europäischen Union und im EJN veröffentlichen. Die Liste muss auch Kontaktdaten und das jeweilige Verfahren zur Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses und die Rechtsbehelfsverfahren umfassen.

Inkrafttreten (Artikel 84) Die Verordnung trat am 17. Januar 2012 in Kraft, da dies der zwanzigste Tag nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union war. Anwendbar ist die Verordnung grundsätzlich ab dem 17. August 2015, mit Ausnahme von Art. 77 und 78, die seit dem 16. Januar 2014 gelten, und Artikel 79, 80 und 81, die seit dem 5. Juli 2012 gelten (obwohl sie bis zum 17. August 2012 nicht in Kraft traten).

Insolvenzverordnung Die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren. In Artikel 76 wird klargestellt, dass die Erbrechtsverordnung die Insolvenzverordnung nicht beeinflusst.

Internationale Übereinkommen (Artikel 75) Die Auswirkungen der Verordnung auf andere internationale Überein-

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Glossar

kommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten als Parteien angehören, sind komplex. Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien des Haager Testamentformübereinkommens von 1961 sind, wenden bezüglich der Formgültigkeit von Testamenten weiterhin die Bestimmungen dieses Übereinkommens statt Art. 27 der Erbrechtsverordnung an. Die Verordnung schließt unter bestimmten Voraussetzungen auch nicht die Anwendung der Nordischen Erbübereinkommens von 1934 aus. Die Erbrechtsverordnung hat aber gegenüber diesen beiden Übereinkommen Vorrang, wenn nur Verhältnisse zwischen zwei Mitgliedstaaten betroffen sind. Zu beachten ist ferner, dass der Anwendungsbereich der Verordnung enger sein kann als der dieser Übereinkommen. Daher können diese Übereinkommen außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung weiterhin anwendbar sein.

Kommorienten (Artikel 32) Viele Staaten haben unterschiedliche Regeln für den Fall, dass die zeitliche Reihenfolge des Todes von zwei oder mehreren Personen ungewiss ist. Wenn nach der Verordnung für diese Personen unterschiedliche Erbrechte zur Anwendung kommen, und diese den Sachverhalt unterschiedlich behandeln oder gar nicht regeln, hat keiner der Verstorbenen Anspruch auf den Nachlass des oder der Anderen.

Legalisierung Im Anwendungsbereich der Verordnung ist keine Legalisierung oder Apostille für Dokumente, die in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurden, notwendig.

Mitgliedstaaten Es ist unsicher, ob alle Mitgliedstaaten der EU von dem Begriff „Mitgliedstaat“ in der Verordnung umfasst sind, oder ob Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich, die nicht an die Verordnung gebunden sind, ausgeschlossen sind.

Nachlass In vielen Staaten und im Haager Erbrechtsübereinkommens von 1989 bezeichnet der Begriff Nachlass alle Vermögensgegenstände, deren Eigentümer der Verstorbene war bzw. an denen er zum Zeitpunkt seines Todes vererbliche Rechte und Ansprüche hatte. In der Verordnung wird Richard Frimston

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Glossar

der Begriff Nachlass nicht definiert, jedoch kann man aus der weiten Definition des Begriffs „Rechtsnachfolge von Todes wegen“ ableiten, dass der Nachlass sehr umfassend zu verstehen ist. Vorausgesetzt, dass ein Recht oder eine Verpflichtung eine Erbangelegenheit betrifft und nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen ist, ist es geeignet, im Begriff Nachlass eingeschlossen zu sein.

Nachlasseinheit Einige Staaten wenden im nationalen IPR das gleiche Recht an, um den ganzen Nachlass zu regeln (unitarisch), wohingegen andere unterschiedliche Rechte für bewegliche und unbewegliche Nachlassgegenstände anwenden (schismatisch). Das nach der Verordnung anzuwendende Recht beruht auf dem unitären Prinzip der Nachlasseinheit, unabhängig davon, ob Vermögen in einem Mitgliedstaat oder einem Drittstaat belegen ist. Allerdings ist unter bestimmten Voraussetzungen ein Renvoi vorgesehen, wobei verschiedene Vermögensgegenstände unterschiedlichen Rechten unterliegen können. Im Ergebnis kann es damit doch zur Nachlassspaltung kommen.

Nachlassverwalter (Artikel 29) In einigen Staaten geht der Nachlass unmittelbar auf den oder die Erben über, in anderen Ländern wird er erst übertragen, wenn der Erbe diesen beansprucht. In wiederum anderen Staaten werden die Vermögensgegenstände des Verstorbenen auf einen Testamentsvollstrecker oder gerichtlichen Nachlassverwalter – den „personal representative“ – entweder direkt oder auf Anordnung des Gerichts übertragen. Dieser nimmt das Vermögen in Besitz, erfüllt alle Verbindlichkeiten und Steuerforderungen und leitet den Restnachlass an die testamentarisch oder gesetzlich Begünstigten weiter.

Nichtanerkennung (Artikel 40) Es gibt abschließend aufgezählte Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat, insbesondere wenn diese gegen die öffentliche Ordnung (ordre public) verstößt, Zustellungsregeln verletzt wurden oder diese mit einer anderen Entscheidung unvereinbar ist.

Nießbrauch Im common law wurde das Konzept der „Nutzung“ durch eine andere 400

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Glossar

Person als den formalen Eigentümer in den Formen des Trust entwickelt. Das Recht der meisten Mitgliedstaaten kennt dagegen das dingliche Recht des Nießbrauchs. Auf diese Weise wird das Recht zum wirtschaftlichen Gebrauch zwischen dem Eigentümer und dem Nießbraucher geteilt. Letzterer hat das Recht auf Nutzung und Ertrag auf Lebenszeit oder für einen begrenzten Zeitraum.

Nordisches Übereinkommen von 1934 Übereinkommen vom 19. November 1934 (in der geänderten Fassung) zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden über Rechtsnachfolge von Todes wegen, Testamente und Nachlassverwaltung.

Öffentliche Ordnung (ordre public) (Artikel 35) Die Anwendung einer Vorschrift des nach dieser Verordnung bezeichneten Rechts darf von einem Mitgliedstaat nur versagt werden, wenn das Ergebnis mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des anzuwendenden Gerichts offensichtlich nicht vereinbar ist. Die Fälle, in denen dies relevant wird, werden sehr begrenzt sein.

Öffentliche Urkunde (Kapitel V) In den meisten Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Dänemark, Finnland, Irland, Schweden, Zypern und dem Vereinigtem Königreich, werden Vorgänge von einem Notar in Form einer öffentlichen Urkunde beurkundet oder beglaubigt. In manchen Mitgliedstaaten ist auch der Übergang des Nachlasses von einer öffentlichen Urkunde mittels eines Nachlassverzeichnisses, welches das Vermögen, die Verbindlichkeiten, die Erben und die Vermächtnisnehmer festlegt, abhängig. In manchen Staaten händigt ein Gericht oder eine andere dem Gericht gleichgestellte Person einen Erbschein, ein Testamentsvollstreckungszeugnis oder eine entsprechende Bestätigung in Form einer öffentlichen Urkunde aus.

Ordre Public Siehe Öffentliche Ordnung

Personal Representative Die Bezeichnung eines Nachlassverwalters im common law.

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Glossar

Rechtsfähigkeit Fragen bezüglich der Rechtsfähigkeit einer Person können komplex sein. Persönliche Fähigkeiten sind keine separate rechtliche Klassifizierung, sondern betreffen verschiedene spezielle Fragen im Recht vieler Staaten. Die genauen Anforderungen können sich zwischen verschiedenen Rechtsordnungen unterscheiden. Die Erbfähigkeit wird dabei vom anzuwendenden Erbrecht geregelt (Artikel 23 Abs. 2 lit. c). Die Testierfähigkeit wird als Angelegenheit der materiellen Wirksamkeit der Verfügung von Tode wegen betrachtet (Art. 26 Abs. 1 lit. a).

Rechtsnachfolge von Todes wegen (Artikel 3 Abs. 1 lit.a) Der Begriff „Rechtsnachfolge von Todes wegen“ ist autonom auszulegen und bezeichnet jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten Erbfolge durch eine Verfügung von Todes wegen oder im Wege der gesetzlichen Erbfolge.

Rechtswahl (Artikel 22) In manchen Staaten hat „Rechtswahl“ im Zusammenhang mit Fragen des Internationalen Privatrechts die gleiche Bedeutung wie „anzuwendendes Recht“. In der Verordnung bezieht sich der Begriff Rechtswahl auf die „professio juris“, d.h. dass der Erblasser das Recht seiner Nationalität an Stelle des Rechts seines gewöhnlichen Aufenthalts wählen kann.

Rom I-Verordnung Verordnung (EG) Nr. 593/2008 vom 17. Juni 2008 über das auf vertraglichen Schuldverhältnisse anzuwendende Recht.

Rom II-Verordnung Verordnung (EG) Nr. 864/2007 vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht.

Rom III-Verordnung Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 vom 20. Dezember 2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts.

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Glossar

Rückverweisung/Renvoi (Artikel 34) Das Konzept des Renvoi (Rück- und Weiterverweisung) betrifft die IPR-Frage, ob mit einer Anknüpfung an das Recht eines anderen Staates nur auf dessen innerstaatliches Sachrecht oder auf die gesamte Rechtsordnung einschließlich dessen eigenem Internationalen Privatrecht verwiesen wird. Eine Gesamtanknüpfung kann zu einer Rückverweisung oder einer Weiterverweisung zu dem Recht eines anderen Staats führen. Im System der Erbrechtsverordnung stellt das Konzept des Renvoi nur die Ausnahme dar. Nur wenn von einem Drittstaat zu einem Mitgliedstaat oder zu einem anderen Drittstaat, der sein eigenes Recht anwenden würde, verwiesen wird, ist dies zu beachten. Zum Begriff „Mitgliedstaat“ vgl. dort. Jedoch kommt es in keinem Fall zu einem Renvoi, wenn der Erblasser sein Staatsangehörigkeitsrecht nach Artikel 22 gewählt hat.

Schenkungen Siehe Ausgleichung und Anerkennung unentgeltlicher Zuwendungen

Staaten mit mehr als einem Rechtssystem – Interlokale Kollisionsvorschriften (Artikel 36) Einige Staaten, wie z. B. Spanien, das Vereinigte Königreich, Kanada, Australien und die Vereinigten Staaten von Amerika umfassen mehrere territoriale Gebietseinheiten, von denen jede eigene Rechtsvorschriften für die Rechtsnachfolge von Todes wegen hat. Grundsätzlich bestimmen die internen Kollisionsvorschriften eines solchen Staates die Gebietseinheit, deren Rechtsvorschriften anzuwenden sind. In Ermangelung solcher interner Kollisionsvorschriften legt Artikel 36 Abs. 2 und 3 die Anknüpfungsmerkmale fest, die das anzuwendende Recht bestimmen. Gemäß Artikel 38 ist ein Mitgliedstaat mit mehreren territorialen Rechtseinheiten nicht verpflichtet, die Verordnung auf Kollisionen, die ausschließlich zwischen diesen Rechtseinheiten auftreten, anzuwenden.

Staaten mit mehr als einem Rechtssystem – Interpersonale Kollisionsvorschriften (Artikel 37) Einige Staaten wie z. B. Indien, der Libanon und Marokko haben unterschiedliche Rechtssysteme für verschiedene Personengruppen, die abhängig von deren Religion sind. Richard Frimston

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Glossar

Grundsätzlich bestimmen die internen Kollisionsvorschriften eines solchen Staates die Kriterien, welche Rechtsvorschrift jeweils anzuwenden ist. In Ermangelung solcher Kriterien ist das Rechtssystem anzuwenden, zu dem der Erblasser die engste Verbindung hatte.

Subsidiäre Zuständigkeit (Artikel 10) Primär sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt seines Todes hatte. Wenn jedoch kein Mitgliedstaat eine solche primäre Zuständigkeit hat, haben die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen des Verstorbenen befindet, die (sekundäre) Zuständigkeit für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaates zum Zeitpunkt seines Todes besaß, oder ersatzweise wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb der letzten fünf Jahre in dem Mitgliedstaat hatte. Für den Fall, dass danach kein Gericht in einem Mitgliedstaat allgemeine Zuständigkeit hat, sind die Gerichte in den Mitgliedstaaten zumindest subsidiär zuständig für Entscheidungen bezüglich Nachlassvermögen, das sich in dem jeweiligen Mitgliedstaat befindet.

Trust Obwohl Art. 1 Abs. 2 lit. i die Errichtung, Funktionsweise und Auflösung eines Trusts vom Anwendungsbereich der Verordnung ausschließt, bezieht sich dieser Ausschluss nur auf die Funktion des Trusts. Wenn aber ein Trust in einem Testament oder nach gesetzlichen Erbregeln geschaffen wird, ist das gemäß der Verordnung auf die Erbfolge anzuwendende Recht maßgeblich dafür, dass die Übertragung von Vermögensgegenständen in einen Trust erfolgt und wie die Begünstigten bestimmt werden.

Übergangsbestimmungen (Artikel 83) Die Verordnung findet auf die Rechtsnachfolge von Personen Anwendung, die am 17. August 2015 oder danach versterben. Hatte der Erblasser das auf seine Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht vor dem 17. August 2015 gewählt, so bleibt diese Rechtswahl aber wirksam, wenn sie die Voraussetzungen des Kapitels III erfüllt oder wenn sie nach den zum Zeitpunkt der Rechtswahl geltenden Vorschriften des Internationalen Privatrechts in dem Staat, in dem der Erblasser 404

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Glossar

seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besaß, wirksam ist. Es gibt ferner Übergangsbestimmungen bezüglich der formellen und materiellen Wirksamkeit von Verfügungen von Todes wegen, die vor dem 17. August errichtet wurden. Eine Verfügung von Todes wegen, die vor dem 17. August 2015 auf Grundlage eines bestimmten Rechts errichtet wurde, wird zugleich als Rechtswahl dieses Rechtes behandelt, wenn diese im Übrigen in Übereinstimmung mit der Verordnung erfolgte.

Universelle Anwendung (Artikel 20) Vorbehaltlich der Übereinstimmung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) ist jedes von der Verordnung bezeichnete Recht anzuwenden, unabhängig davon, ob es das Recht eines Mitgliedstaates ist.

Unterhaltsverordnung Verordnung (EG) Nr. 4/2009 vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen.

Ursprungsmitgliedstaat (Artikel 3 Abs. 1 lit. e) Der Mitgliedstaat, in dem eine Entscheidung ergangen ist, ein gerichtlichen Vergleich genehmigt oder eine öffentliche Urkunde oder ein Europäisches Nachlasszeugnis ausgestellt wurde.

Verfügung von Todes wegen (Artikel 3 Abs. 1 lit. d) Der von der Verordnung definierte Begriff „Verfügung von Todes wegen“ schließt ein Testament, ein gemeinsames Testament und einen Erbvertrag ein, sofern solche Dokumente zukünftige Rechte statt gegenwärtige Rechte betreffen.

Vermächtnisnehmer Siehe Begünstigter

Verwaltung des Nachlasses In einigen Staaten v.a. des common law wird die Verwaltung und Verteilung des Nachlasses anders eingeordnet als Fragen der Erbfolge. In der Verordnung bezieht sich der Begriff „Rechtsnachfolge von Todes

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Glossar

wegen“ (Art. 3 Abs. 1 lit. a) auf alle Aspekte des Erbgangs einschließlich der Übergabe, Verwaltung und Verteilung des Nachlasses.

Vorfragen International Angelegenheiten sind manchmal abhängig von der Entscheidung einer Vorfrage. Die Verordnung regelt eine Vielzahl solcher präjudizieller Fragen, jedoch nicht alle. Die Frage, ob eine Person mit dem Erblasser gültig verheiratet war und deshalb ein möglicher Erbe ist, liegt zum Beispiel außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung; diese Frage hat daher das zuständige Gericht gemäß seinem Internationalen Privatrecht zu entscheiden.

Vollstreckbarkeit gerichtlicher Entscheidungen (Artikel 43) Die Verordnung beabsichtigt, die Anerkennung und Vollstreckbarkeit von Entscheidungen eines Mitgliedstaats in anderen Mitgliedstaaten zu sichern. Vorbehaltlich von Fragen der öffentlichen Ordnung (ordre public), soll eine gerichtliche Entscheidung, die im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, auf Antrag einer Partei nach dem in den Artikeln 45 bis 58 beschriebenen Verfahren auch in einem anderen Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt werden.

Vollstreckbarkeit gerichtlicher Vergleiche (Artikel 61) Die Verordnung strebt ebenfalls an, die Anerkennung und Vollstreckbarkeit gerichtlicher Vergleiche zu sichern. Vorbehaltlich von Fragen der öffentlichen Ordnung (ordre public), soll ein gerichtlicher Vergleich, der im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, auf Antrag einer Partei nach dem in den Artikeln 45 bis 58 beschriebenen Verfahren auch in einem anderen Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt werden.

Vollstreckbarkeit öffentlicher Urkunden (Artikel 60) Die Verordnung strebt ferner die Anerkennung und Vollstreckbarkeit von öffentlichen Urkunden an. Vorbehaltlich der Fragen der öffentlichen Ordnung (ordre public), soll eine öffentliche Urkunde, die im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, auf Antrag einer Partei nach dem in den Artikeln 45-58 beschriebenen Verfahren auch in anderen Mitgliedstaaten für vollstreckbar erklärt werden.

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Glossar

Vollstreckungsmitgliedstaat [Artikel 3 Abs. 1 lit. f] Der Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung einer Entscheidung, eines gerichtlichen Vergleichs oder einer öffentlichen Urkunde aus einem anderen Mitgliedstaat beantragt wird.

Waters-Bericht Der erläuternde Bericht von Donovan Waters zum Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989.

Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit von Verfügungen von Todes wegen Die Fragen bezüglich Zulässigkeit und materieller Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen werden unterschiedlich für einseitige Testamente und Erbverträge behandelt. Artikel 26 regelt allgemein die Umstände, die zur materiellen Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen gezählt werden (wie z. B. Fragen der Testierfähigkeit, der Täuschung, der Nötigung oder eines Irrtums). Artikel 24 regelt, welches Recht die Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit von (einseitigen) Verfügungen von Todes wegen mit Ausnahme von Erbverträgen regelt. Artikel 25 bestimmt dagegen, welche Rechte die Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit eines Erbvertrages und dessen Bindungswirkungen regelt.

Zuständigkeit (Artikel 4) Primär zuständig sind die Gerichte des Mitgliedstaates, in welchem der Verstorbene seinen gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt seines Todes hatte.

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Index Administrator siehe Testamentsvollstrecker (Personal Representative) Anerkennung Einleitung 39 f.; 74 1 Anerkennung der Zuständigkeit 7 7 ff. Annahme öffentlicher Urkunden 59 4 f. Annahme und Ausschlagung der Erbschaft 13 1 f.; 14 3; 23 25 f.; 28 1 f.; 29 12; 65 31; 68 26, 27; 77 1 f. Anpassung dinglicher Rechte 31 1 ff. Anrufung eines Gerichts 14 1 f. Anti-Suit Injunction 40 15 Anwendbares Recht Einleitung 13 f.; 20-38 ; 75 ; 83 Arrest 54 9 Auslegung 26 6 Ausnahmeklausel Einleitung 25; 21 12 f.; 34 8 Ausschlagungserklärung siehe Annahme und Ausschlagung der Erbschaft Aussetzung des Verfahrens 17 9; 18 5 Begünstigte/Berechtigte (beneficiaries) 23 7; 29 4; 65 17, 31; 66 7 f.; 67 4; 68 13, 26 f. Beschränkung des Verfahrens 12 1 f. Besondere Gegenstände Einleitung 22; 30 1 f. Besondere zwingende Regelungen 30 1, 4 f.; 34 12 Beteiligte Parteien 43 5 Beteiligte dritte Personen 50 3 Betroffene Parteien 5 6 f.; 6 6

Betrug 26 7; 40 19 Beweislast 40 6 Brüssel IIa-Verordnung

21 9 f.

Charta der Grundrechte der Europäischen Union 35 5 Clawback 40 10; siehe auch Rückgängigmachung von Schenkungen Deutsches Notarinstitut Einleitung 3 Diskriminierung von Erben 35 3 f. Domizil/Domicile Einleitung 16, 23; 27 6 Doppelte Staatsangehörigkeit 10 6; 21 11; 22 7, 8; 24 8; 27 5 Drittstaaten Einleitung 49; 12 1; 23 23; 29 4; 34 1; 35 7; 39 3; 75 2 Ehegatte, überlebender 23 7, 9; 65 16 f.; 68 9 f.; 69 6 Eheliches Güterrecht Einleitung 5, 6; 23 45; 65 25; 68 15 f. Eingetragene Lebenspartnerschaft 23 11; 65 16 f.; 68 10 f. Einlassung auf das Verfahren 40 22 Einstweilige Maßnahmen 19 1 f.; 54 12 Engste Verbindung 25 7; 36 11; 37 2 Enterbung 23 15 f. Entscheidung 4 6 Erbenloser Nachlass 33 1 f. Erbfähigkeit 23 12; 26 4 Erbunwürdigkeit 23 17 Erbvertrag Einleitung 32 f.; 24 1 f.; 25 1 f.; 27 2 f.; 34 10 Eröffnung des Nachlasses 23 4 f. Ersatzzustellung 40 31

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Index

Europäisches Nachlasszeugnis

Europäisches Nachlasszeugnis Einleitung 44 f.; 4 6; 6 6; Chapter VI Executor siehe Testamentsvollstrecker/Personal Representative Exequatur Einleitung 41; 74 1 Familienwohnheim 23 37 Formgültigkeit einer Annahme- oder Ausschlagungserklärung 23 28; 28 1 f. Formgültigkeit einer Rechtswahl 21 4; 22 10 f.; 24 9 Formgültigkeit einer Verfügung von Todes wegen 21 4; 24 9; 27 1 f.; 34 11 Forum Non Conveniens 6 2 Frist 50 9 Gebühren 58 3 Gemeinschaftliches Testament 24 2 Gerichtsstandsvereinbarung 5 1 f.; 6 2, 9; 7 6; 9 6; 15 2; 22 3 45 9 Gesetzgebungsverfahren Einleitung 4 Gewöhnlicher Aufenthalt Einleitung 24; 4 4 f.; 9 11; 21 1, 3, 5 f.; 27 4; 83 1 f. Gläubiger 23 29, 34; 29 11; 63 4; 65 1; 70 1; 72 3 Gleichlaufgrundsatz 4 4; 6 1 Grundrechte 11 1;35 5 Haager Testamentsformübereinkommen von 1961 Einleitung 35; 22 10; 27 1 f.; 65 20; 75 2 Haager Zustellungsübereinkommen von 1965 16 2 Haager Übereinkommen von 1973 über die internationale Nachlassverwaltung Einleitung 46

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Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989 Einleitung 19; 22 4; 23 3, 15, 36, 39; 25 1, 8; 32 1, 5; 34 1; 36 2 Haftung für Nachlassverbindlichkeiten 13 5; 63 7 f.; 65 3, 31; 68 26, 35, 38; 70 1 Inkrafttreten Einleitung 50 Innerstaatliche Kollisionen 38 1 f. Interlokale Kollisionsvorschriften 36 1 f. Internationale Zuständigkeit 4 1 f.; 7 4 f.; 10 2 f.; 12 1; 15 1 Interpersonale Kollisionsvorschriften 37 1 f. Juristische Personen 23 14 Kommorienten 23 5; 32 Lebensmittelpunkt 21 3, 10 Lex rei sitae Einleitung 22; 29 4; 30 1, 4; 31 3; 33 2; 69 1, 16, 19; 83 5 Mareva Injunction 40 16 Materielle Wirksamkeit eines Erbvertrags 25 1, 5, 7; 26 1 f. Materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen 24 4 f.; 26 1 f. Nachlasseinheit Einleitung 8, 15, 21, 36; 21 1 f.; 22 6; 23 2 f.; 34 4 Nachlassspaltung Einleitung 15; 34 4 Nachlassverwaltung (administration) Einleitung 36; 23 4, 18 f., 29 f.; 29 1 f., 8 f. Nicht-streitige Verfahren 4 3; 5 6 f.; 6 3; 8 1; 14 1, 7 f.; 16 4; 17 6; 19 7

Index

Vorschlag der Europäischen Kommission

Nießbrauch (Usufruct) Einleitung 15; 31 3 Notzuständigkeit (Forum Necessitatis) 11 1 f.

Testamentsvollstrecker (Personal Representative) Einleitung 18, 37 f.; 23 21 f.; 30; 29 1 f.; 63 4 f. Testierfähigkeit 26 3, 11 f.

Öffentliche Ordnung (Ordre Public) 35 1 f.; 40 7 Öffentliche Urkunden Einleitung 42 f.; 59 1 f. Örtliche Zuständigkeit 4 2; 13 3 Ordentliche Rechtsbehelfe 42 5

Übergang von Nachlassgegenständen Einleitung 37 f.; 23 11; 29 12 Übergang von Nachlassverbindlichkeiten 23 33 f.; 29 12; 33 6 Unbewegliches Vermögen 21 4; 27 7; 30 2; 31 3; 34 3, 12; 69 18; 83 5 Universelle Anwendung 20 1, 2 Unternehmen 30 2; 34 12 Unterscheidung zwischen beweglichem und unbeweglichem Vermögen 21 2; 34 4 Unvereinbare Entscheidungen 40 43 51 Unzuständigerklärung 6 6, 9

Pflichtteil 21 2; 22 4; 23 16, 38 f.; 35 6; 40 10; 65 17, 30; 66 9; 68 23; 77 1 f. Qualifikation 26 1 f.; 27 9 f.; 30 5 Rechtshängigkeit 7 2; 10 6; 14 2; 17 1 f. Rechtskraft (Res Judicata) 39 8 Rechtswahl (Professio Juris) Einleitung 17, 28 f.; 50; 5 2 f.; 6 5; 7 3; 8 1; 22 1-13; 23 2; 24 7 f.; 25 6 f.; 28 1; 34 9 f.; 83 2 f. Rückgängigmachung von Schenkungen 23 39 f. Rügelose Einlassung 7 8; 9 1 Sachenrechte 31 1 f. Schenkungen see Restoration of Lifetime Gifts Schiedsspruch 40 47 Sozialversicherung 21 8, 11 Staaten mit mehr als einem Rechtssystem siehe Interlokale und interpersonale Kollisionsvorschriften Streitige Verfahren 50 5 Subsidiäre Zuständigkeit 10 1 f.

Verfahren von Amts wegen siehe nicht-streitige Verfahren Verfügung von Todes wegen Einleitung 32, 50; 24 1 f.; 27 1 f. Vergleich 40, 46 Verteilung von Nachlassgegenständen 23 44 f. Vertrag von Amsterdam Einleitung 2 Vertretung geschäftsunfähiger Personen 26 5; 65 11, 15, 33; 68 11 Vollstreckbarkeit gerichtlicher Vergleiche 61 1 f. Vollstreckbarkeit öffentliche Urkunden 60 1 f. Vorläufige Entscheidungen 40 45 Vorfrage 23 10; 39 14 Vormundschaft 26 3 Vorschlag der Europäischen Kommission Einleitung 3, 4

Testament siehe Verfügung von Todes wegen

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Waters-Bericht

Waters-Bericht 22 11; 30 3 Wechsel des Anknüpfungsmerkmals 22 7, 26 10 f. Wechsel des anwendbaren Erbrechts 26 12 Wechselseitige Verfügungen von Todes wegen 24 2; 27 11 Widerruf einer Rechtswahl 22 13 Widerruf einer Verfügung von Todes wegen 24 10 f.; 26 16; 27 8

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Index

Zeuge 27 10 Zusammenhängende Verfahren 18 1 f. Zuständigkeit Einleitung 9 f. Zuständigkeit, universelle siehe internationale Zuständigkeit Zuständigkeit aufgrund rügeloser Einlassung 7 8; 9 1 f.; 15 2 Zustellung 16 1 f.; 40 31 Zustimmung 22 12; 26 7 f. Zwangsvollstreckung 43 6