Isokrates: Seine Positionen in Der Auseinandersetzung Mit Den Zeitgenössischen Philosophen [Reprint 2014 ed.] 3110086468, 9783110086461

In der 1968 gegründeten Reihe erscheinen Monographien aus den Gebieten der Griechischen und Lateinischen Philologie sowi

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Isokrates: Seine Positionen in Der Auseinandersetzung Mit Den Zeitgenössischen Philosophen [Reprint 2014 ed.]
 3110086468, 9783110086461

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Sophistenrede
1. Terminologische Probleme
2. Die Polemik gegen die Streitredner
3. Die Polemik gegen die Redelehrer
4. Das Prinzip der Doxa
5. Platons Reaktion auf die Sophistenrede
II. Helena-Rede
A. Das Proömium
1. Die Eristiker-Terminologie und der platonische Euthydem
2. Die sokratische Lehre als ,Paradoxie’
3. Die Grundsätze des isokratischen Programms und der Platonismus
4. Der finanzielle Aspekt
5. Nähere Bestimmung der isokratischen Redekunst
6. Ergebnisse
B. Der Hauptteil
1. Das Verhältnis zu Gorgias und das Problem der Einheit der Gesamtrede
2. Der Helena-Mythos
3. Der Theseus-Exkurs
4. Die Auseinandersetzung mit Antisthenes und Platon
C. Die Helena-Rede und Platon
1. Symposion
2. Die Bedeutung der Stesichoros-Gestalt in Politeia und Phaidros
III. Das Problem von Schriftlichkeit und Mündlichkeit
1. Alkidamas und Isokrates
2. Alkidamas und Platon
3. Der Brief an Dionys
4. Der Philippos
IV. Panegyrikos
A. Das agonale Prinzip
1. Das Proömium
2. Die Hauptrede
3. Der Epilog
4. Generelle Bedeutung
B. Beziehungen zum platonischen Menexenos
C. Athenische Kultur und isokratische Bildung
V. Busiris
1. Datierung
2. Das Enkomion auf Busiris und die Politeia
3. Die Belehrung des Polykrates über die Grenzen des Erlaubten
4. Platons Gegenbild im Timaios
5. Timaios und Areopagitikos
VI. Die kyprischen Reden
A. Die Rede an Nikokles
1. Das Proömium
2. Der Hauptteil
3. Der Epilog
4. Stellungnahmen zu Platon
a. Erkenntniskritische und methodische Fragen
b. Das Urteil über Dichtung
5. Stellungnahmen zu anderen Autoren
B. ,Nikokles’ oder ,An die Kyprier’
1. Das Proömium
2. Der Hauptteil
C. Euagoras
1. Hauptaspekte
2. Die Beziehung zu Platon
VII. Platons Stellungnahme zu Isokrates im Phaidros und im Theaetet
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Stellenregister

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Christoph Eucken · Isokrates

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte

Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Zwierlein

Band 19

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1983

Isokrates Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen

von Christoph Eucken

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1983

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern.

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Eucken, Christoph: Isokrates : seine Positionen in d. Auseinandersetzung mit d. zeitgenòss Philosophen / von Christoph Eucken. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte ; Bd. 19) ISBN 3-11-008646-8 NE: GT

© 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp. Berlin 30, Genthiner Straße 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: W. Pieper, Würzburg Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die umgearbeitete Fassung einer Habilitationsschrift, die im Jahre 1979/80 der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern vorlag. Herrn Professor Thomas Geizer möchte ich bei dieser Gelegenheit für vielfache Förderung und Anregung, den Professoren Herrn Gigon und Herrn Graeser für wertvolle Kritik danken. Ein Aufenthalt am Center for Hellenic Studies in Washington gab in dankenswerter Weise die Möglichkeit, die Arbeit neu zu überdenken und in verschiedener Hinsicht weiterzuführen. Das Manuskript wurde im Juni 1982 abgeschlossen. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme des Buches in diese Reihe, Herrn Professor Bühler auch für die freundliche Mithilfe beim Korrekturlesen. Bern, im Frühling 1983

Ch. Eucken

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung I. Sophistenrede 1. 2. 3. 4. 5.

.

V 1

. . .

5

Terminologische Probleme Die Polemik gegen die Streitredner Die Polemik gegen die Redelehrer Das Prinzip der Doxa Piatons Reaktion auf die Sophistenrede

II. Helena-Rede

6 18 27 32 36 .

44

A. Das Proömium 1. Die Eristiker-Terminologie und der platonische Euthydem . 2. Die sokratische Lehre als ,Paradoxie' 3. Die Grundsätze des isokratisdien Programms und der Platonismus 4. Der finanzielle Aspekt 5. Nähere Bestimmung der isokratischen Redekunst . . . 6. Ergebnisse

" .

44 45 53

B. Der Hauptteil 1. Das Verhältnis zu Gorgias und das Problem der Einheit der Gesamtrede 2. Der Helena-Mythos 3. Der Theseus-Exkurs 4. Die Auseinandersetzung mit Antisthenes und Piaton . .

74

C. Die Helena-Rede und Piaton 1. Symposion 2. Die Bedeutung der Stesidioros-Gestalt in Politela und Phaidros III. Das Problem von Schriftlichkeit und Mündlichkeit . . . . 1. 2. 3. 4.

Alkidamas und Isokrates Alkidamas und Piaton Der Brief an Dionys Der Philippos

56 63 65 71

74 80 95 101 107 107 115 121 121 130 132 138

Vili

Inhaltsverzeichnis

IV. Panegyrikos

. . 1 4 1

Α. Das agonale Prinzip 1. Das Proömium 2. Die Hauptrede 3. Der Epilog 4. Generelle Bedeutung

142 142 152 159 161

B. Beziehungen zum platonischen Menexenos

162

C. Athenische Kultur und isokratische Bildung

165

V. Busiris

172

1. 2. 3. 4. 5.

173 183 195 208 210

Datierung Das Enkomion auf Busiris und die Politela Die Belehrung des Polykrates über die Grenzen des Erlaubten Piatons Gegenbild im Timaios Timaios und Areopagitikos

VI. Die kyprischen Reden

213

A. Die Rede an Nikokles 1. Das Proömium 2. Der Hauptteil 3. Der Epilog 4. Stellungnahmen zu Piaton a. Erkenntniskritische und methodische Fragen . . . . b. Das Urteil über Dichtung 5. Stellungnahmen zu anderen Autoren

216 216 225 231 235 235 243 247

Β. ,Nikokles' oder ,An die Kyprier' 1. Das Proömium 2. Der Hauptteil

248 249 255

C. Euagoras 1. Hauptaspekte 2. Die Beziehung zu Piaton

264 264 267

VII. Piatons Stellungnahme zu Isokrates im Phaidros und im Theaetet 270 Zusammenfassung Literaturverzeichnis Stellenregister

284 289 294

Einleitung Die literarischen Beziehungen des Isokrates zu den Philosophen seiner Zeit, insbesondere zu Piaton, sind in der älteren Forschung wiederholt untersucht worden, so unter anderen von Teichmüller Dümmler 2 und H . Gomperz 3 . Dabei lag das Interesse vor allem darin, die Abhängigkeit des Isokrates von seinen philosophischen Zeitgenossen zu erweisen. Daß er ein beschränkter, unselbständiger Geist sei, schien von einer an Piaton orientierten Sicht aus selbstverständlich. So fand Teichmüller, er sei ein Schönredner, der die Natur einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht begreife 4 , Dümmler sprach nur mit Verachtung von dem ,Epigonen', der ,vermeinte' mit Piaton .rivalisieren zu können' 5 , und Gomperz urteilte, er sei nie etwas anderes gewesen als ein hohler Wortmacher 6 . Obwohl die Bedeutung des Isokrates völlig verkannt wurde, so war es doch das unbestreitbare Verdienst dieser Forscher, eine Fülle von zitathaften Anklängen bei ihm und den konkurrierenden Erziehern festgestellt zu haben, die den Ausgangspunkt für die weitere Beschäftigung bilden mußten. In neuerer Zeit lernte man die Erziehungslehre des Isokrates besser zu verstehen, so vor allem durch die Arbeiten von W. Jaeger 7 , Steidle 8 und Marrou 9 . Daß Isokrates freilich in seiner geistigen Statur in keiner Weise einem Piaton zu vergleichen sei, ist eine bis heute allgemein gültige Annahme geblieben. So urteilt Marrou, der seine Bedeutung für das antike Bildungswesen besonders hervorgehoben hat: „Wenn man Piaton und Isokrates nacheinander studiert, so kommt man nicht darum herum, Isokrates in ein 1

Literarische Fehden im vierten Jahrhundert vor Chr , 2 Bde, Breslau 1881/84. Chronologische Beitrage zu einigen platonischen Dialogen aus den Reden des Isokrates, Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel 1890, abgedr. in: Kleine Schriften Bd. I, Leipzig 1901, 79—139. 3 Isokrates und die Sokratik I, Wiener Studien 27, 1905,163—207; II, Wiener Studien 28, 1906, 1—42. t Lit. Fehden I, 264 5 Kleine Schriften I, 134 6 Wiener Studien 28, 35 7 Paideia III, Berlin 1947, 105—225 8 Redekunst und Bildung bei Isokrates, Hermes 80, 1952, 257—296 (abgedr. in: Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike, hrsg ν H.-Th Johann, Darmstadt 1976, 170—226). 9 Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, München 1977 (Übersetzung nach der 3. frz. Aufl. 1955). 2

2

Einleitung

ungünstiges Licht zu rücken und ihn mehr oder weniger seinem glänzenden Rivalen zu opfern. Welchen Gesichtspunkt man auch wählen mag, Macht der Anziehung, Strahlungskraft der Persönlichkeit, Reichtum des Temperaments, Tiefe des Denkens, künstlerische Vollendung, nirgends könnte Isokrates der gleiche Rang zuerkannt werden wie Piaton . . 1 0 . Die begrenzte Anerkennung des Isokrates als Erzieher hat zwar die ältere Vermutung einseitiger Abhängigkeit von Piaton und anderen zurücktreten lassen, aber doch die Möglichkeit einer ernsthaften und tiefgehenden Auseinandersetzung zwischen diesen Rivalen nicht ins Blickfeld gerückt. So stellt K. Ries in seiner stofflich sehr gründlichen Arbeit über das Verhältnis von Piaton und Isokrates, der letzten zusammenfassenden Untersuchung zu diesem Thema, Piaton eher als Richter denn als Rivalen des Isokrates dar 11 . In der Besprechung des Werks konstatierte W. Burkert — sicher zu Recht — eine allgemeine Resignation der neueren Forschung auf diesem Gebiet, zu genaueren Ergebnissen zu gelangen12. Doch die Schwierigkeit, die hier gegeben scheint, ist zu einem wesentlichen Teil in der immer noch einseitigen Bewertung der beiden Erzieher und der Unterschätzung der geistigen Prägnanz des Isokrates begründet. Schon die Frage nach der Beziehung der beiden Schulhäupter kann kein höheres Interesse beanspruchen, wenn man diese als letztlich unvergleichbar in ihrem geistigen Niveau ansieht 13 . So ist es wohl begreiflich, daß es zur Zeit keine aktuelle Forschungsdiskussion zu unserem Thema gibt. Die vorliegende Arbeit geht nicht von der heute im großen vorgegebenen Gesamtbeurteilung des Erziehers Isokrates aus, sondern macht neben seinen Kontroversen seine grundsätzliche philosophische Position selbst zum Gegenstand der Untersuchung. Es wird zu zeigen sein, daß er fortlaufend zu den einflußreichen Denkern seiner Zeit Stellung genommen hat, und die Betrachtung seiner Polemik wird sich als der Weg erweisen, seine Erziehungs-, Staats- und Gesellschaftslehre besser zu erkennen. Dabei wird eine Auseinandersetzung grundsätzlicher Art mit nachhaltigen Auswirkungen audi auf Pia ton sichtbar werden. Die weitgehend unerkannte Sozialphilosophie des Isokrates und sein Verhältnis zu Piaton und zu anderen Erziehern stellen daher die beiden miteinander verbundenen Hauptthemen dieser Arbeit dar. Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, 160. 11 Isokrates und Piaton im Ringen um die Philosophia, Diss. München 1959; dort (10 fi.) auch ein Abriß der Forschungsgeschichte. — Zu seiner Beurteilung von Piaton und Isokrates vgl. 168 ff., audi 129 ff. 12 Gnomon 33, 1961, 349. — Audi Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, 179, drückt seine Skepsis über die Möglichkeit aus, die Geschichte der Beziehungen von Piaton und Isokrates aufzuzeigen. υ Vgl. Burkert, Gnomon 33, 1961, 353 f.: „ . es steht zu befürchten, daß in unserer Wirklichkeit Piaton dem Isokrates weit radikaler unterliegt, als im geistigen Bereich Isokrates dem Piaton unterlag. Daß Piaton als Denker gegenüber Isokrates schlechthin inkommensurabel ist, steht außer Frage; "

Einleitung

3

Das große methodische Problem liegt in der angemessenen Auswertung der verhaltenen und beziehungsreichen Ausdrudesweise der Autoren. Nur indirekt — in der Regel mit modifizierten Zitaten — weisen sie auf den Gegner hin und lassen damit ihre Darlegung als gegen jenen gerichtet erkennen. Für die Leser jener Zeit waren solche Anspielungen viel leichter verständlich als sie es für uns sind, die wir oft zuerst die relative Chronologie der Schriften zu bestimmen haben. Schwieriger noch in seiner Diktion als Piaton ist Isokrates. Denn es sind nicht nur seine polemischen Bezüge, sondern auch seine grundsätzlichen Positionen selbst, die er in andeutender Redeweise darstellt. Er schreibt einfach für ein weiteres Publikum, das, ohne in schwierige allgemeine Fragen verwickelt zu werden, die praktischen Konsequenzen seiner Anschauungen erfassen soll. Das ist der Aspekt, den wir allein wahrzunehmen uns gewöhnt haben. Zugleich aber richtet er sich' mit seinen Werken, die in ihrer kunstvollen Klarheit den höchsten Anspruch stellen, an die Intellektuellen, die Konkurrenten, kritischen Beurteiler und möglichen Schüler, welche die dabei implizierten prinzipiellen Probleme und kritischen Argumente erkennen. Der Sinn seiner der Allgemeinheit präsentierten konkreten Ratschläge und Leitbilder wird dadurch nicht relativiert, sondern aus einem allgemeinen Zusammenhang bekräftigt. Daß er auf dieser Ebene verstanden wurde und wirkungsmächtig war, bezeugt uns Piaton in seinem Kampf gegen ihn in der eindrucksvollsten Weise. Isokrates selbst hat uns einen gewissen Hinweis gegeben, auf das verhalten Angedeutete in seinen Schriften zu achten. Am Ende des Panathenaikos, seines letzten Werkes, hat er eine Diskussion mit seinen Schülern angefügt, die man gleichsam sein ,Testament' nennen könnte 14 . Hier läßt er seine eigene Schrift von einem seiner Schüler als „zweideutig" 15 interpretieren. Sie habe einen vordergründigen Sinn für die Menge und einen heimlichen für die wenigen Wahrheitssuchenden (240—242; 261). Zu dieser Deutung erklärt der Schüler berechtigt oder geradezu aufgefordert zu sein durch die Art und Weise, mit der in der isokratischen Schule Literatur betrachtet werde (236). Die viel diskutierte Frage, wie wir seine Interpretation verstehen sollen, inwieweit sie tatsächlich die Intentionen des Isokrates trifft, ist zu schwierig, um hier erörtert zu werden 16 . Isokrates läßt sie n Isoc. 12, 233—265 (im Anschluß an eine erste Diskussion (200—232)); H. v. Arnim hat in einem Aufsatz mit dem Titel J)as Testament des Isokrates' (Deutsche Revue 42, 1917, II, 245—256; III, 28—41, abgedr. in: Isokrates, hrsg. v. F. Seck, Darmstadt 1976, 40—73) den gesamten Panathenaikos in dieser Weise bezeichnet. 15 Isoc. 12,240: λόγοι αμφίβολοι. In dem Artikel .Leitende Gedanken im isokratischen Panathenaikos' (Mus. Helv. 39, 1982, 43—70) habe ich versucht, den größeren Gedankenzusammenhang deutlich zu machen, aus dem auch die Interpretation des Schülers zu begreifen ist. Sie ist — so gesehen — dem Werk nicht angemessen, fördert aber dessen Verständnis, indem sie ein ihm inhärentes Problem starker hervortreten läßt

4

Einleitung

offen und scheint den Leser zu ihrer Entscheidung zu berufen. Doch unabhängig davon, wie man sie beantwortet, hat die einfache Tatsache, daß er überhaupt die Möglichkeit eines verborgenen Sinnes in seinem Werk — mit Hinweis auf seine Unterrichtspraxis — diskutiert, eine allgemeine Bedeutung für das Verständnis nicht nur des Panathenaikos sondern seiner Schriften überhaupt. Dabei sind wir keineswegs gehalten, unsere Sicht von vorneherein festzulegen und die ,Amphibolie' als seine Methode anzusehen, zumal Isokrates den Begriff sonst nicht gebraucht und ihn hier mit einer gewissen Distanz durch seinen Schüler einführen läßt. Doch können wir die geheimnisvoll offen endende Unterhaltung über sein eigenes Werk am Schlußpunkt seines ganzen Schaffens wohl als eine bewußte Hinführung zu seiner nidit leicht ausschöpfbaren Darstellungsweise auffassen. Bei unserer Untersuchung gehen wir in chronologischer Abfolge vor. Die Schwierigkeit der Probleme bedingt es, daß wir nicht die gesamte Zeit der isokratischen Lehrtätigkeit behandeln. Mit Ausnahme einiger weitergehender Überblicke wird die Darstellung nur bis zum Euagoras geführt, dem Werk, in dem die Auseinandersetzung mit Piatons Staat einen auch von Isokrates selbst markierten Abschluß erhält.

I. Sophistenrede Isokrates' Schrift ,Gegen die Sophisten' enthält eine Darlegung seines erzieherischen Programms. Ihre Datierung ist im großen einzugrenzen einerseits durch Isokrates' eigene Aussage, daß er sie am Anfang seiner Tätigkeit als Redelehrer verfaßt habe 1 , andererseits durch ihr Verhältnis zu seinen Gerichtsreden. Diese gehören in die Zeit zwischen 403 und 390 2 , von den letzten fällt der Trapezitikos etwa in die Zeit 394—390, der Aiginetikos in das Jahr 390 3 . In der Sophistenrede verwirft Isokrates eine Redekunst, die sich auf Gerichtsreden beschränkt 4 . Sie ist daher an das Ende der Zeit zu setzen, in der er sich mit diesen beschäftigte. Eine weitergehende und zweifelhafte Annahme ist es dagegen, daß dies Programm seine weitere Tätigkeit als Gerichtsredenschreiber schlechthin ausgeschlossen habe, so daß wir in den letzten Gerichtsreden den Terminus post quem der Sophistenrede hätten 5 . Dionys von Halikarnass berichtet, daß Isokrates den Trapezitikos für einen Schüler geschrieben habe 6 . Danach wäre die Schule vor 390 gegründet, und auch die Sophistenrede könnte in dieser Zeit entstanden sein 7 . Selbst wenn man auf diese Nachricht keine fixe Datierung mit unter Umständen weittragenden Konsequenzen bauen will, so kann man doch die Möglichkeit einer frühen Schulgründung neben einer gelegentlichen Fortführung seiner vorigen Tätigkeit nicht ausschließen. Eine genauere Datierung, als die, daß die Sophistenrede wahrscheinlich um 390 entstanden ist, läßt sich vorerst nicht gewinnen. Ein eigenes Problem stellt sich bei dieser Rede dadurch, daß der uns vorliegende Text den Anschein eines Fragments hat. Isokrates schließt mit der Ankündigung, er glaube, die Gründe für seine Überzeugungen auch anderen ι 15,193. 2 F. Blass, Die attische Beredsamkeit, II 2 , Leipzig 1892, 14 f.; 213 fi.; E. Drerup, Isocratis opera omnia I, Leipzig 1906, CXIX fi.; Κ. Münsdier, Isokrates, RE 9, 1916, 2156 fi.; G. Mathieu in: Isocrate, Discours I, par G Mathieu et E Brémond2, Paris 1956, 3; 16; 37; 48; 68; 91 f. 3 Blass, Att. Bereds. II, 230; 235 f.; Drerup, Isoc. opera I, CXXV; CXXVIf.; Münsdier RE 9, 2165; 2167; Mathieu, Isocrate I, 68; 91 f. 4 13, 19 f. — Daß er die Gerichtsrede ablehnt, wie Ries, Isokrates und Piaton im Ringen um die Philosophia, 25, behauptet, ist nicht zutreffend. Sie ist in der von ihm vertretenen Redekunst miteingeschlossen, vgl auch Blass, Att. Bereds. II, 24. 5 Vgl. W. Jaeger, Paideia III, 115; 399; Ries, Isokrates und Piaton, 25. 6 Dion. Hal. Isoc. 18. 7 Zum Zeitpunkt der Schulgründung vgl. audi Blass, Att. Bereds. II, 17 f.; Münsdier, RE 9, 2169 f.

6

Sophistenrede

leicht klar machen zu können. Das legt die Vermutung nahe, daß hier kürzere oder längere Ausführungen im ursprünglichen Text gefolgt sind 8 . Dennoch, stünde dieser letzte Satz nicht da, man würde nach dem gedanklichen Zusammenhang keine Fortsetzung verlangen. Ähnlich liegt der Fall bei zwei Gerichtsreden und drei Briefen des Isokrates, die sich formal als Ausschnitte geben, inhaltlich aber eine Einheit bilden 9 . So erscheint die weithin akzeptierte Annahme berechtigt, daß Isokrates selbst die Schrift in dieser Form publiziert hat. Den Schlußsatz kann man als Aufforderung verstehen, in seinem Unterricht das Weitere zu hören 10 . Die Rede baut sich in folgenden Teilen auf: Nach einer einleitenden allgemeinen Kritik an zu großen Versprechungen der Erzieher, die die Beschäftigung mit der ,Philosophie' diskreditierten, wendet sich die Polemik nacheinander zwei verschiedenen Gruppen zu: Erst den ,Streitrednern' oder ,Eristikern' (οί περί τάς έριδας διατρίβοντες 1) (1—8), danach den Lehrern der politischen Reden' (πολιτικοί λόγοι 9) (9—13), in denen Isokrates selbst unterrichtet (21). Auf verhältnismäßig knappem Raum folgt die Darlegung des eigenen Programms (14—18). Der letzte Teil vereinigt eine kurze Kritik an den Verfassern von Lehrbüchern zur Gerichtsrhetorik, die eine besondere Gruppe unter den Lehrern der .politischen Reden' darstellen, mit einer nochmaligen Stellungnahme zu den ,Eristikern' sowie einer weiteren Erklärung des eigenen Standpunkts (19—21). Die Rede schließt mit der schon besprochenen Ankündigung (22). 1. Terminologische Probleme Grundlegende Termini dieser Rede sowie der Bildungslehre des Isokrates überhaupt sind die Begriffe ,Sophist', .Philosophie', ,Eristik' und politische Reden'. Ihre für uns in mancher Hinsicht fremde Bedeutung ist in der modernen Forschung bisher nur in ganz unzureichendem Maße bewußt geworden 11 . Das Verständnis der isokratischen Position war so von vorneherein beeinträchtigt. s G.E. Benseier-F. Blass, Isocratis orationes, Leipzig 1878/9, II, 86; Blass, Att. Bereds. II, 240 f.; Drerup, Isoc. opera I, CXXIX f 9 Isoc. or. 16; 20; ep. 1; 6; 9. Die Frage der Echtheit der Briefe, die den sechsten und insbesondere den neunten betrifft (dazu U. v. Wilamowitz-MoellendorS, Aristoteles und Athen, Berlin 1893, II 391 ff.; Münsdier, RE 9, 2202 f.; G. Mathieu in Isocrate, Discours IV, par G. Mathieu et E. Brémond, Paris 1962, 169 fi.) ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, da ja auch eine Isokrates-Imitation aufsdüußreidi für einen Usus in seinen Publikationen wäre. 10 Wilamowitz, Aristoteles und Athen I, 320, 12; Münscher, RE 9, 2174 f.; Mathieu, Isocrate I, 140 f. 11 In der einschlägigen Arbeit zur isokratischen Terminologie, H. Wersdörfer, Die ΦΙΛΟΣΟΦΙΑ des Isokrates im Spiegel ihrer Terminologie, Leipzig 1940, sind die hier genannten Begriffe nicht behandelt, audi nicht der im Titel aufgeführte der Philosophie.

Terminologische Probleme

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Den Begriff des Sophisten gebraucht Isokrates nicht, wie man öfters angenommen hat, in abfälligem oder kritischem Sinn I2 , auch nicht in der vorliegenden Rede, die eine solche Vermutung durch ihren Titel erwecken kann. In ihr erscheint der ,Sophist' einmal (14) als Erzieher zum Reden und staatsmännischen Handeln, das andere Mal (19) sind mit diesem Ausdruck Lehrer gemeint, von denen Isokrates trotz ihrer gegenwärtig anderslautenden Versprechungen behauptet, daß sie sich noch zu seinem Standpunkt bekehren werden. Der Sophist ist demnach hier der professionelle Weisheitslehrer oder Erzieher, als welchen sich auch Isokrates vorstellt. Die Schrift richtet sich nicht gegen das ,Sophist'-sein an sich, sondern gegen diejenigen, die in dieser Tätigkeit ihre Aufgabe verfehlen. Diese Bedeutung hat Isokrates in den späteren Schriften durchgehend beibehalten und demgemäß sowohl seine Gegner und Konkurrenten wie indirekt auch sich selbst als Sophisten bezeichnet13. Mit seiner Verwendungsweise des Begriffs knüpft er an einen älteren Sprachgebrauch an. Zunächst bedeutet das Wort schlechthin den Weisen; in diesem Sinne wird es bei Herodot auf Solon, Pythagoras und die Begründer des dionysischen Kultes angewandt 14 . Dann bezeichnet es auch den Weisheitslehrer, insbesondere den, der für seinen Unterricht Geld nimmt 15 . Diese Lehrer haben sich selbst ,Sophisten' genannt 16 . Abgewertet erscheint der Begriff schon bei Aristophanes17 und später dann vor allem bei Piaton. Daß er allgemein keinen guten Klang mehr habe, stellt Isokrates gegen die Mitte des vierten Jahrhunderts fest, ohne jedoch selbst die Umwertung mitzuvollziehen18. Beim Begriff der Sophistik ist die genuin von Piaton unterschiedene Bedeutung im großen klar 19 , den ebenfalls schwierigen Begriff der Eristik hin-

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J. S. Morrison, The Origins of Plato's Philosopher-Statesman, Class Quart 52, 1958, 198 ff., vertritt die Ansicht (218), daß Isokrates grundsätzlich die gleiche Terminologie wie Platon habe, indem er seine eigene Lehre .Philosophie', die seiner Gegner ,Sophistik' nenne. Seiner Auffassung folgt W Burkert, Piaton oder Pythagoras? Zum Ursprung des Wortes ,Philosophie', Hermes 88, 1960, 174 f ; vgl. auch M. Pohlenz, Aus Piatos Werdezeit, Berlin 1913 , 200 f.; 203, Ries, Isokrates und Piaton, 31. 13 Vgl. 4, 3; 11,43; 15,268; die positive Bedeutung tritt besonders hervor in 2,13; 15,167 ff.; 220. Am stärksten zeigt sich eine Verachtung bestimmter .Sophisten' in der letzten Rede, dem Panathenaikos (5; 18). Aber auch hier ist der Begriff für sich genommen nicht negativ verstanden. » H e r . 1,29,1; 4 , 9 5 , 2 ; 2 , 4 9 , 1 . 15 Vgl. Xen. Mem. 1, 6,13; Plat. Prot. 313 c. ι«- Vgl. Plat. Prot. 317 b; Xen. Cyn. 13,8. 17 Arist. Nub. 331 ff.; 360; 1111; 1309. 18 Isoc. 15, 235; vgl. auch Xen. Cyn. 13; Dem. Cor. 276. ι» Zum Bedeutungswandel des Begriffs siehe die gründliche Übersicht bei W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy III, Cambridge 1969, 27 ff. und: Sophistik, hrsg. v. C. J. Classen, Darmstadt 1976, Einleitung, 1 ff.

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Sophistenrede

gegen ist man gewohnt, selbstverständlich in dem Sinne zu nehmen, den ihm Piaton gegeben hat 20 . Piaton definiert im Euthydem die εριστική als die Fähigkeit, das jeweils Gesagte zu widerlegen, sei es nun wahr oder falsch (272 a/b), und macht sie anschaulich in der Zeichnung ihrer beiden Vertreter, Euthydem und Dionysodor. Diese stellen unter Ausnützung gewisser logischer Probleme oder sprachlicher Zweideutigkeiten Behauptungen auf, wie daß sie alles wüßten und verstünden und zwar von Geburt an, daß ihre Väter Väter aller Tiere und Menschen seien (294 a ff.; 298 b ff.), in der offenkundigen Absicht, einem von niemandem geglaubten Unsinn eine im Augenblick nicht einfach zu widerlegende Begründung zu geben. Aristoteles beschreibt dann die εριστική als Kunst, mit jeglichen Mitteln im Streitgespräch als Sieger zu erscheinen21. Entsprechend begreifen auch wir ,Eristik' als Technik unernster Beweisführung. Bei Isokrates hat der Begriff jedoch eine andere Bedeutung. In der Sophistenrede figurieren die ,Eristiker' als die eine wichtige Gruppe von Erziehern neben der anderen der .politischen Redner'. Wer hier mit diesem Terminus gemeint sei, wurde verschieden beurteilt. Die Ansicht, es handle sich um Eristiker in unserem Sinne22, wird dadurch widerlegt, daß Isokrates diesen Gegnern bei Kritik in anderer Hinsicht zubilligt, Tugend und Besonnenheit lehren zu wollen, wodurch sie den Verfassern rhetorischer Lehrbücher überlegen seien (4; 6; 20). So ist klar, daß ,Eristiker' hier ernstzunehmende Gegner von moralischem Ansehen und Anspruch sind 23 . Überwiegend hat man hier sokratische Philosophen angegriffen gesehen, die Megariker24, Piaton 25 oder Antisthenes 26 . Da man jedoch dabei die uns geläufige Bedeutung von Eristik voraussetzte, so mußte die Bezeichnung unsachlich oder gar verleumderisch erscheinen27. 20 Vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen I, 2&, Leipzig 1920, 1371 fi ; W. Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940, 291; R. Robinson, Plato's Earlier Dialectics, Oxford 1953, 84 fi., geht kritisch auf den platonischen Eristik-Begrifi ein, ohne jedoch seine ganz andere Bedeutung bei Isokrates zu beachten. 21 Arist. Soph. El. 171b 8 fi. 22 Blass, Att. Bereds. II, 23; Th. Bergk, Fünf Abhandlungen zur Gesdiichte der griediisdien Philosophie und Astronomie, Leipzig 1883, 33 f. 23 So schon L. Spengel, Isokrates und Piaton, Abh. d. bayer. Ak. Philos-philol. Kl. 7. Bd. München 1855, 747. 24 Spengel, Isokrates und Piaton, 746 f. 25 W. Jaeger, Paideia III, 115; 398; W. Steidle, Redekunst und Bildung bei Isokrates, Hermes 80, 1952, 259; Ries, Isokrates und Piaton, 25 fi. 26 G. Teichmüller, Literarische Fehden im vierten Jahrhundert v. Chr. I, Breslau 1881, 84; U.v.Wilamowitz-Moellendorfi, Platon 112, Berlin 1920, 108 f.; W. Burkert, Rezension von Ries, Isokrates und Platon, Gnomon 33, 1961, 351,2. 27 So urteilt W. Jaeger, Paideia III, 116: „(Isokrates) . . . wirft die Dialektik kurzerhand mit der Eristik zusammen, von der die echte Philosophie sich stets zu unterscheiden suchte, ..." — Ries, Isokrates und Piaton, 31, erklärt. „In geschickter Aus-

Terminologische Probleme

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Aus den weiteren Auseinandersetzungen des Isokrates mit den ,Eristikern' läßt sich die Bedeutung, die der Begriff bei ihm hat, klarer bestimmen. Im Proömium der Helena-Rede kritisiert er Männer, die unsinnige Thesen aufstellen und ihren Ehrgeiz darein setzen, diese zu verteidigen: Die einen behaupteten, daß man nichts Falsches sagen und nicht widersprechen könne, die anderen, daß Tapferkeit, Weisheit, Gerechtigkeit dasselbe seien, daß wir sie nicht durch Naturanlage sondern durch Wissen allein besässen. Wieder andere gäben sich mit Streitgesprächen' ab, die keinen Nutzen hätten, sondern nur den Gesprächspartnern Schwierigkeiten bereiteten (1) 28 . Über die Identifikation des ersten der Reihe, der die Unmöglichkeit des Widerspruchs behauptet, besteht Einigkeit: Es ist Antisthenes29. Nicht so einhellig wurde die Frage beantwortet, wer mit dem zweiten gemeint sei 30 . Jedenfalls handelt es sich um einen Vertreter der sokratischen Position. Daß diese Sokratiker gewissen ,Eristikern' gegenübergestellt werden, hat man in der Weise interpretiert, daß sie hier nicht als ,Eristiker' gelten 31 . Dabei hat man jedoch nicht angemessen beachtet, daß sie mit gan2 bestimmten ,Eristikern' konfrontiert werden, mit solchen nämlich, die keine Theoreme haben, sondern nur im Gespräch in Schwierigkeiten verwickeln können. Zum anderen ist die in § 6 folgende Bemerkung übersehen, in der das paradoxe Reden zusammenfassend ,eristische Philosophie' (ή περί τάς έριδας φιλοσοφία) genannt wird. Antisthenes und andere Sokratiker gehören demnach hier ebenso zur ,Eristik' wie die von ihnen unterschiedene Gruppe, auf die wir eher diesen Ausdruck anwenden würden.

nutzung der öffentlichen Meinung stempelt er seine Gegner mit den unklaren, aber affektgeladenen Begriffen Sophisten und Eristiker ab und erreicht genau, was er will: Erregung von Ressentiments statt Schaffung von Klarheit." 28 άλλοι δέ περί τάς έριδας διατρίβουσι τάς ουδέν μεν ώφελούσας, πράγματα δέ παρέχειν τοις πλησιάζουσι δυναμένας. » Vgl. Arist. Metaph. 1024 b 26 ff.; s. a. Bergk, Fünf Abhandlungen, 34; H. Gomperz, Isokrates und die Sokratik, Wiener Studien 27, 1905, 174; Münscher, RE 9, 2181; Brémond in: Isocrate, Discours I, 155; Ries, Isokrates und Platon, 50. — Daß Isokrates hier auf Protagoras verwiesen hat, dem Piaton dieses Theorem zuschreibt (Euthyd. 285 d ff.; 286 c), ist deshalb ausgeschlossen, weil er sich gegen Zeitgenossen wendet, die er im folgenden (2) ausdrücklich als Epigonen u. a. audi des Protagoras bezeichnet. — Ebenso ist es ganz unwahrscheinlich, daß er hier Prodikos meint, dem auf einem neugefundenen Papyrus dieselbe These zugewiesen wird (vgl. G. Binder / L. Liesenborghs, Eine Zuweisung der Sentenz ουκ εστίν άντιλέγειν an Prodikos von Keos, Mus. Helv. 23,1966,37 ff.). Mit Prodikos, der in der Abfassungszeit der Helena (jedenfalls einige Jahre nach der Sophistenrede) sehr alt gewesen sein muß, wenn er überhaupt noch lebte, hat sich Isokrates, soweit wir sehen, nie auseinandergesetzt. 30 Vgl. die Zusammenstellung bei Ries, Isokrates und Piaton, 49; dazu E. Zeller, Die Philosophie der Griechen II, 15, Leipzig 1922, 313,1. 31 Ries, Isokrates und Piaton, 49; Burkert, Gnomon 33, 351.

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In einem Passus der Antidosis-Rede, der unzweifelhaft gegen Piaton und die Akademie gerichtet ist (258 ff.) 32 , nennt Isokrates seine Gegner των περί τάς έριδας σπουδαζόντων ενιοί τίνες (258), zählt sie somit — betontermaßen neben anderen — zu den Eristikern. Im Brief an Alexander taucht der Ausdruck aus der Helena-Rede wieder auf: των τε φιλοσοφιών . . . την περί τάς έριδας (ep. 5,3). Die Polemik zielt wohl in erster Linie auf Aristoteles, den damaligen Lehrer Alexanders33. Der Überblick zeigt, daß der isokratische Begriff weder auf Eristiker in unserem Sinne eingeengt werden kann, noch in steter Hinsicht auf bestimmte einzelne Philosophen gebraucht wird 34 . Allen, die so bezeichnet sind, ist gemeinsam, daß sie über allgemeine Fragen theoretisch disputieren. Die Berechtigung der isokratischen Terminologie wird im Blick auf die ältere Verwendungsweise der Ausdrücke ερις, έρίζειν usw. offenbar. Sie gelten dort einfach für Diskussionen, so bei Euripides 35 , Thukydides 36 und Aristophanes37. Aufschlußreich ist es auch, daß die Bedeutung von Eristik im Sinne des Euthydem und nachfolgender Schriften auch beim frühen Piaton mit den Worten ερις, έρίζειν usw. noch nicht verbunden ist. Im Lysis (207 c) wird έρίζειν und άμφισβητεϊν fast auswechselbar nebeneinander verwendet; im Protagoras unterscheidet Prodikos zwischen diesen beiden Ausdrücken, fordert die Gesprächspartner zum άμφισβητεϊν auf und warnt vor dem έρίζειν, das ihm als Tätigkeit von Feinden gilt (337 a/b). Im selben Dialog wird Simonides interpretiert, als ob er gegen Pittakos ,streite', wobei die Ausdrücke έρίζειν und άμφισβητεϊν wiederum gleichgesetzt werden (343 d). Audi die Weiterbildung έριστικός hat dort, wo sie zum ersten Mal bei Piaton auftaucht (Lysis 211 b), noch nicht die spezifische Bedeutung, die sie später bei ihm haben wird: Mit ihr wird der Sokrates befreundete, streitlustige' Menexenos charakterisiert. Eben der Euthydem bringt dann die Darstellung eines bestimmten Verfahrens, das nunmehr έριστική genannt wird, und seine deutliche Abgrenzung vom dialektischen38. Dieselbe terminologische Verwendung von έριστικός 32 Vgl. Spengel, Isokrates und Piaton, Abh. München 1855, 747 ff.; Bergk, Fünf Abh. 23; Gomperz, Wiener Studien 28,9 ff.; F. Dümmler, Chronologische Beiträge zu einigen platonischen Dialogen aus den Reden des Isokrates, in· Kleine Schriften I, Leipzig 1901, 85 fi.; W. Jaeger, Paideia III, 216; Ries, Isokrates und Piaton, 160. 33 Vgl. Münscher, RE 9, 2216; Mathieu, Isocrate, Discours IV, 177; 214,2. 34 Die Auffassung von W. Jaeger, Paideia III, 115; 398, und Steidle, Hermes 80, 259, mit ^Eristiker' sei — unter anderen Sokratikern — regelmäßig Piaton bezeichnet, erweist sich als nidit haltbar. 35 Bacch. 715: λόγων . εριν: eine Beratung von Hirten, vgl. auch Eur. Phoen. 1460; Soph. El. 466 f. 36 6, 35,1: Eine Auseinandersetzung in der syrakusanischen Volksversammlung; ähnlich 2,54 3; 3,111,4. 37 Ran. 866; 877; 1105· Der Agon zwischen Aischylos und Euripides. 38 Vgl. den wichtigen Ausdrude διαλεκτικοί (290 c) zur Bezeichnung derer, die die höchste Wissenschaft vertreten.

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bzw. ερις und έρίζειν erscheint wiederholt, in der Gegenüberstellung von Eristik und Dialektik im Menon (75 c/d; 80 e; 81 d) und im Staat (454 a), sowie in der Erörterung der Eristik im Sophistes (225 c ff.)39. Eine Disputationskunst, die eine Entwicklung zur Dialektik wie zur Eristik im platonischen Sinne offen ließ, war zuvor in der eleatischen und sophistischen Philosophie ausgebildet worden. Zenon hat es verstanden, wie wir bei Piaton lesen, „ein und dasselbe als ähnlich und unähnlich, eines und vieles, bleibend und bewegt erscheinen" zu lassen40. Möglicherweise hat das betreffende Werk den Titel εριδες getragen 41 . Piatons eigene Haltung zu Zenons Verfahren ist nicht einheitlich. Im Phaidros (261 d) rechnet er es zur Antilogik, die er an anderer Stelle (Rep. 454 a; Soph. 225 b f.) mit der Eristik auf eine Stufe stellt, im Parmenides gibt er ihm eine hohe Bedeutung, indem er es aus der Absicht erklärt, die parmenideische Lehre vom Einen zu verteidigen (127 d ff.), und es zum Muster seiner eigenen Erörterung über diese Frage macht (135 d ff.). Aristoteles hat Zenon als Erfinder der Dialektik und somit als Vorgänger Piatons bezeichnet42. Von großer Bedeutung für die weitere Ausbildung einer Antilogien-Technik war dann Protagoras. Sein Werk Άντιλογίαι hat Ausstrahlungen in verschiedene Bereiche theoretischer Auseinandersetzungen und in die praktische sophistische Widerlegungskunst gehabt 43 . Zwischen ,Antilogik' und ,Eristik' hat Isokrates keinen Unterschied gemacht. Bei der Aufzählung von verschiedenen Literaturformen (15,45) erwähnt er auch diejenigen, „die sich mit Fragen und Antworten beschäftigen, die man Antilogiker nennt," offensichtlich eine Variante der sonst gebräuchlichen Termini, die mit ερις gebildet sind. Auch verwendet er έρίζειν und άντιλέγειν gemeinsam in der Kritik der ,Eristik' in seinem Brief an Alexander (3). Die Kunst der Disputation, die Isokrates einheitlich benennt, ist offenkundig auch vor ihm nicht begrifflich in verschiedene Zweige aufgeteilt gewesen. Die Tatsache, daß Dialektik und Eristik im Euthydem in ihrer Bedeutung als konträre Methoden dialogischer Beweisführung vorgeführt, im Menon dagegen kurz und beiläufig im gleichen Sinne einander gegenübergestellt 39 Vgl. audi Rep. 499 a; Phileb. 17 a. 40 Phaedr. 261 d; vgl. G. J. de Vries, A commentary on the Phaedrus of Plato, Amsterdam 1969, 204 f. +1 Diels/Kranz, Fragm. d. Vorsokr. I*, 248, 17 und H. D. P. Lee, Zeno of Elea, London 1936, Nachdruck Amsterdam 1967, 6 ff. « Fr. 65 (Rose). « F. Heinimann, Eine vorplatonische Theorie der τέχνη, Mus. Helv. 18,1961, 111 ff.; Zeller, Philos, d. Griechen 1,2, 1371 fi. — Inwieweit man die Termini ερις, έρίζειν mit ihm in Verbindung bringen kann, ist ungewiß. Eine τέχνη εριστική wurde ihm jedenfalls zugeschrieben (Diog. L. 9,55). Zur Echtheit der Titel bei Diog. L. vgl. K. v.Fritz, Protagoras, RE 23, 1957, 919 f. Der Skeptiker Timon hat später über die Fähigkeit des Protagoras zu .streiten' (έριζέμεναι) gespottet (Diog. L. 9,52).

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werden, liefert in der umstrittenen Frage der relativen Chronologie der beiden Schriften44 ein wichtiges Indiz für die Priorität des Euthydem. So wenig wie der hier entwickelte Begriff der Eristik ist der komplementäre der Dialektik für Pia ton von Anfang an vorgegeben gewesen45. Er wird bei ihm über mehrere Stufen allmählich entwickelt. In den frühen Dialogen kommt nur das Wort διαλέγεσθαι vor, doch auch da schon in programmatischer Bedeutung. So wird es im Protagoras (334 c ff.), ähnlich noch im Gorgias (448 c ff.) als auf ein Problem konzentriertes Fragen und Antworten bestimmt und polemisch von den langen Reden, d. h. von einer rhetorischen Darstellung abgesetzt. Die abstraktere und wesentlich anspruchsvollere Weiterbildung διαλεκτικός findet sich erst im Euthydem (290 c), dem kaum wesentlich früher wenn nicht später verfaßten Kratylos (390 c f.) 4 6 sowie im Menon (75 d), in den beiden zuerst genannten Werken als Bezeichnung der ,Dialektiker', im Menon als Beschreibung der platonischen Methode. Erst im Staat erscheint die Bildung διαλεκτική, mithin die volle Prägung des Begriffs ,Dialektik' 47 . Es zeigt sich hier ein fortschreitendes Methodenbewußtsein und der enge Zusammenhang, in dem die Begriffe Dialektik und Eristik sich bei Piaton ausgebildet haben. Daß in diesem Prozeß auch die Abwehr der isokratischen Eristiker-Terminologie eine Rolle gespielt hat, wird später zu zeigen sein 48 . Anders als Piaton teilt Isokrates die Erzieher nicht nach der Art und Weise ihres Vorgehens, nach in bestimmter Weise definierten Formen ihrer Techne ein, sondern nach dem Charakter der Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen. So stellt er in der Sophistenrede denen, die mit Streitfragen umgehen, als zweite Hauptgruppe diejenigen gegenüber, die ,politische Reden' (πολιτικοί λόγοι) ,versprechen' (9; vgl. 20). Es ist dies der Terminus, mit dem er hier sowohl wie in späteren Schriften seine eigene Tätigkeit be-

44 Für die Priorität des Menon traten u. a. ein: Wilamowitz, Platon I, 286; L. Méridier in: Piaton, Oeuvres complètes V, 1, Paris 1931, 139 ff.; Ries, Isokrates und Piaton, 35 ff.; für diejenige des Euthydem H. v. Arnim, Piatos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros, Leipzig 1914, 123 ff ; P. Friedländer, Piaton 112, Berlin 1957, 306 (Kap. 14, Anm.3) und 308 (Anm. 12); M.Soreth, Zur relativen Chronologie von Menon und Euthydem, Hermes 83, 1955, 377 ff. Für unentscheidbar hielt die Frage H. Keulen, Untersuchungen zu Piatons „Euthydem", Wiesbaden 1971, 49, 28; vgl. auch Guthrie, Hist. Greek Philos. IV, 1975, 266. 45 W. Mûri, Das Wort Dialektik bei Platon, Mus. Helv. 1, 1944, 152 ff., hat die Entwicklung des Ausdrucks διαλέγεσθαι und seiner Ableitungen bei Piaton nachgezeichnet und daraus zu Recht geschlossen, daß der Begriff nicht von Zenon übernommen ist; im gleichen Sinne urteilt auch Robinson, Plato's Earlier Dialectic, 88 ff. 46 Zum Problem der Datierung des Kratylos vgl. Guthrie, Hist. Greek Philos. V, 1978, If. 47 διαλεκτική adjektivisch 532 b; 533 c; substantivisch: 534 e; 536 d. 48 Vgl. unten S. 47 fi.

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nennt 49 . Den uns geläufigen, sowohl von Piaton 50 wie auch von Alkidamas51 gebrauchten Begriff der ,Rhetorik' (ρητορική) vermeidet er durchgehend. Die Ausdrücke ,Rhetor' und .Rhetorikos' bezeichnen bei ihm den in der Menge auftretenden Redner 52 . Daß er selbst kein solcher ,Rhetor' sei, hat er später betont 53 . Die entsprechende Fähigkeit, ρητορεία genannt, kann, wie er in der Sophistenrede sagt (21), aus der Beschäftigung mit den politischen Reden' resultieren, erscheint zugleich aber nicht als das Hauptziel seines Unterrichts. Der Terminus πολιτικοί λόγοι unterscheidet sich von dem der ρητορική einmal dadurch, daß das Moment des /Technischen' zurücktritt und der Nachdruck auf dem Gegenstand der Tätigkeit liegt, zum anderen darin, daß dieser in einem weiteren Sinne vorgestellt wird als in dem der öffentlich vorgetragenen Rede. Logoi können bei Isokrates mündlich oder schriftlich dargelegt sein 54 . Demgemäß unterscheidet er bei denen, die es im Umgang mit den Logoi zu einer Meisterschaft bringen, zwischen dem ,guten Kämpfer' (αγωνιστής) und dem ,Redendichter' (λόγων ποιητής), d.h. zwischen dem Rhetor und dem Schriftsteller (13,15). Als Schriftsteller konnte er den Anspruch erheben, zugleich Rhetoren auszubilden, weil seine Werke zum ganz überwiegenden Teil als mündliche Reden stilisiert sind. Der Begriff des Logos bzw. der Logoi hat aber bei ihm noch eine weiterreichende, im allgemeinen nicht erkannte Bedeutung. Er umfaßt nicht nur eine rednerische Ausführung in mündlicher oder schriftlicher Form, sondern jede sprachliche Darlegung und so auch die Diskussionen der ,Streitredner' 55 . Diese sind offensichtlich neben anderen literarischen Gattungen in seiner Schule behandelt worden. So erklärt er in der vorliegenden Rede zum unabdingbaren Bestandteil von Bildung das Wissen der ,Ideen, aus denen wir alle Logoi sagen und verfassen' (16). Daß mit dem Ausdruck ,alle Logoi' tatsächlich unter anderen auch die der Eristiker gemeint sind, bestätigt die Antidosis (45 f.). Hier kennzeichnet er es als seine Beschäftigung, Kenntnis von verschiedenen Logoi zu haben, so auch von denen der ,Antilogiker', es aber ,vorzuziehen' (προήρηνται), politische und hellenische Reden' zu schreiben. Dieses ,Vorziehen' gehört selbst, wie bereits die Sophistenrede klarmacht (16), zur entscheidenden Fähigkeit, das Wissen von jenen Formen « V g l . 13,21; 10,9; 2,51; 15,46; 260. Gorg. 449 a; 450 b; 453 b und oft; Eufhyd. 307 a; Menex 235 e f.; Theaet. 177 b; Phaedr. 261 a. 51 Περί βοφιστών 1/2. 52 3, 8; 15,189 f.; 5,81. 53 5, 81; vgl. 12,9. 5+ 13,16: έξ τους λόγους απαντας και λέγομεν και συντίθεμεν; vgl. audi § 9: χείρον γράφοντες τους λόγους ή των 'ιδιωτών τινές αύτοσχεδιάζουσιν. 55 Als Gegenstand eristischer Tätigkeit erscheinen Logoi hier in 13,7 und 20. Der Ausdrude λόγοι έριστικοί kommt vor in 2,51 und 15,261. 50

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richtig anzuwenden. Die breite Fundamentierung seiner Reden in einer allgemeinen Bildung wird hier offenbar. Letztlich betreffen Logoi im isokratischen Sinn auch den inneren Menschen und seine Denktätigkeit 56 . Man kann sie daher schlechthin als geistige Gestaltungen verstehen. Durch den Zusatz πολιτικοί wird ein Grundgedanke des Isokrates angedeutet: Es ist die Bewältigung der praktischen zwischenmenschlichen Probleme, in der sich jene Prägungen vorbildhaft realisieren. Die Ausdrücke ,Redekunst', ,Beredsamkeit' und ,Rhetorik' erscheinen unzulänglich, weil sie die Bedeutung von ,Logoi' nicht voll erkennen lassen. Doch bezeichnen sie einen wichtigen Aspekt der isokratischen Beschäftigung mit dem Wort, und so sollen sie audi in den weiteren Erörterungen für diese gebraucht werden. Wenn Isokrates in unserer Rede seine Gegner πολιτικοί λόγοι versprechen' (13,9) oder ,zu ihnen aufrufen' (13,20) läßt, so bedeutet das keineswegs, daß jene die gleiche Terminologie gehabt haben. Die über Redekunst schreibenden Zeitgenossen Piaton und Alkidamas sprechen von ρητορική. Den Ausdruck πολιτικοί λόγοι verwendet Platon in einem spezifischen Sinne für ,Staatsreden'57. Isokrates stellt offensichtlich die eigene Terminologie, indem er sie auf die Konkurrenten überträgt, als die allgemein verbindliche hin. Entsprechend hat Alkidamas in seiner Programmschrift Περί σοφιστών, die ganz gegen Isokrates gerichtet ist 58 , diesem vorgeworfen (§1/2), er maße sich den Besitz der gesamten ρητορική an. Später hat sich der Terminus πολιτικοί λόγοι für Rede- oder Sprachkunst teilweise durchgesetzt, so bei Anaximenes (Ars rhet. 1), der das Wort ρητορική nicht braucht, und bei Dionys von Halikarnass (De vet. orat. 1), der beide Ausdrücke nebeneinander verwendet. Dem Begriff des Logos steht bei Isokrates der der Philosophie nahe. Auch dessen Eigenart und Anwendungsweise hat man bisher kaum angemessen erfaßt 59 . Es ist wohl bekannt, daß Isokrates seine eigene Erziehungsmethode als ,Philosophie' bezeichnet, aber praktisch unbeachtet geblieben, daß er — in späterer Zeit allerdings eingeschränkt — die seiner Gegner ebenso nennt 60 . In der vorliegenden Rede erscheint φιλοσοφία zu Beginn (1) 56

So vor allem 3,6 fi., wieder aufgenommen in 15, 254 ff.; vgl. hierzu auch F. Kühnert, Die Bildungskonzeption des Isokrates, in: Der Mensdi als Maß der Dinge, hrsg. v. R. Müller, Berlin 1976, 332 f. 57 Phaedr. 278 c; Menex. 249 e. 58 Vgl. unten S. 121 ff. 59 Am besten W.Jaeger, Paideia III, 108 f.; vgl. audi Α. Burk, Die Pädagogik des Isokrates, Würzburg 1923, 65 fi.; Η. Wersdörfer, Die ΦΙΛΟΣΟΦΙΑ des Isokrates im Spiegel ihrer Terminologie, Einleitung (ohne Seitenzahl); E.Mikkola, Isokrates, Helsinki 1954,201 fi. w Daß für Isolates Philosophie identisch mit seiner Redekunst sei, hatte schon Spengel, Isokrates und Piaton, Abh. München 1855, 742, gesagt. So ist sie insbesondere auch von Wersdörfer, a. O., verstanden. Bei der Behauptung von Morrison,

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als die gemeinsame Tätigkeit, die die beiden hier unterschiedenen Arten von Erziehern, die Streitredner und die Redelehrer, ausüben. In der nicht viel späteren Helena-Rede (6) wird von einer ,Philosophie der Streitfragen' gesprochen, und in der um 370 entstandenen Schrift ,An Nikokles' werden als Methoden der Philosophie die ,politischen Reden', die .eristischen' — als deren Hauptvertreter damals Piaton erscheint61 — und dritte nicht näher definierte unterschieden (51). In der Sophistenrede wird zudem klar (18), daß nicht nur Erzieher sondern auch Zöglinge den Namen von philosophierenden' verdienen. Schließlich kann, wie die folgenden Schriften zeigen, ein von Schulmethoden unabhängiges, im einzelnen Menschen oder in der Kultur wirkendes Bildungsstreben ,Philosophie' heißen 62 . Diese umfassende Verwendungsweise scheint in der späten Antidosis (um 353) modifiziert, in einem Werk, das gerade Sinn und Wert der Philosophie ausführlich erörtert. Die Frage ist, ob zumindest hier vorliegt, was man vielfach für den ganzen Isokrates fälschlich annahm, daß der Begriff Philosophie auf die eigene Lehre verengt ist. Hierfür scheint die schon erwähnte (S. 10) Polemik gegen die platonische Schule (258 ff.) zu sprechen. Isokrates legt hier dar, daß die überflüssigen und schwierigen Reden 63 derer, die ,in den Streitreden herrschen' 64 , sowie Geometrie und Astronomie seines Erachtens nicht ,Philosophie' seien, wohl aber als strenge Denkschulung eine Vorbereitung für sie. Die mit jenen Übungen verbundene Seinsspekulation, die er von den ,alten Sophisten' Parmenides, Empedokles u.a. übernommen sieht, scheint er völlig von der ,Philosophie' auszuschließen, obwohl er zugibt, daß sie als solche allgemein angesehen werde 65 . Philosophie in seinem Sinne definiert er daraufhin (270 f.) im Gegensatz zu der abgelehnten als Umgang mit solchen Dingen, durch die man möglichst schnell weise werde, d. h. vernünftige Urteile fällen könne. Die weitere Angabe, welche Beschäftigung eine derartige Fähigkeit ausbilde, relativiert er von vorneherein, indem er erklärt, eine Kunst, die Menschen gut zu machen, könne es nicht geben (272—4). Die begrenzten Möglichkeiten, besser zu werden, sieht er für die Menschen dann eröffnet, wenn sie den Ehrgeiz hätten, gut zu reden (ευ λέγειν), bestrebt seien, in ihren Hörern Überzeugungen erwecken (πεί•θειν) zu können und begehrten, vernünftigen Vorteil zu erlangen (275). Ευ λέγειν und πείθειν sind aber nun bei Isokrates ebenso wie λόγοι nicht spezi-

Class. Quart. 52,216 fi. und Burkert, Hermes 88, 174 f., Isokrates nenne — wie Piaton — das Anliegen seiner Gegner Sophistik, das eigene Philosophie, ist seine Gebrauchsweise beider Termini nicht richtig gesehen. « Siehe unten S. 181 f.; 238 f. 62 Vgl. bes. 4,47 und die Parallele 11,22; weiter 8, 116; 5,29. 63 15,264 ιαριττο?.ογία, 265· δυσκαταμαθήτοις πράγμασιν 64 261: τούς έν τοις ?ριστικοις λόγοις δυναστεύοντας. « 268—270; 285.

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fisch rhetorische' Begriffe 66, und so bleibt audi diese Bestimmung offen im Blick auf die Frage, in welcher Weise die genannten Bestrebungen zum Ziel kommen. Trotz der Abgrenzung gegen Piaton, insbesondere gegen dessen Ontologie, scheint eine Vorstellung von ,Philosophie', die mehr bezeichnet als die eigene Methode, hier nicht ausgeschlossen. Sie tritt in anderer Hinsicht, zumal in der Disposition der Rede deutlich hervor. Isokrates stellt in seiner Apologie zunächst seine persönliche Tätigkeit und ihren Gegenstand dar (33 ff.; 46 ff.), die πολιτικοί λόγοι, die er — den allgemeinen Begriff spezifizierend—,Philosophie jener Reden' (48) bzw. ,meine Philosophie' (50) nennt. An diese Erörterung des ,Eigenen' (ιδίων, ίδια 167 f.) fügt er in einem zweiten Teil die lange Verteidigung gegen die gemeinsame' (κοινή) Verleumdung der ,Sophisten' (168), die umschrieben wird als ablehnendes Verhalten gegen Erziehung (παιδεία) zu den Logoi (168) und als Verleumdung und Haß gegen die ,Philosophie' (170). Hier sowenig wie in anderen Schriften ist ,Philosophie' der Terminus für seine Redekunst. Sie ist als weitergefaßter Begriff unterschieden von der Bemühung um πολιτικοί λόγοι und dem übergeordneten Ausdruck παιδεία των λόγων gleichgestellt67. Diese Auffassung bestätigen weitere Bemerkungen in der Antidosis. So sagt Isokrates (162), daß er seine Schule gegründet habe in der Erwartung, sich in der Philosophie vor den anderen auszuzeichnen. Seine Philosophen-Kollegen kritisiert er (147) in einer Weise, die erkennen läßt, daß er unter ihnen Redelehrer und ,Eristiker' versteht 68 . Auch das Interpretieren von Dichtung (45) sowie das Erfassen von Grundsätzen politischen Verhaltens nennt er philosophieren' (121). Zu den vorbildlichen Philosophen der Vergangenheit zählt er, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, den ,Sophisten' Solon, sowie die Lehrer des Perikles, Damon und Anaxagoras, den Naturphilosophen

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So gilt das Bemühen um das ευ λέγειν in der Helena-Rede (14) allgemein fur Streitredner und Rhetoren (zum Begriff des ευ λέγειν, den audi Platon für sich beansprucht, siehe unten S. 249), und das πείθειν kommt in der Sophistenrede nicht nur im Zusammenhang der Redekunst (13,22) sondern auch in dem der Eristik vor (13, 3), zur Bezeichnung der Versuche, bestimmte Lehrsatze plausibel zu machen; umfassend wird πείθειν in 3, 6 und 15,254 als vom Anfang der Kulturentwicklung her wirksam verstanden. Verfehlt ist die Erklärung von Burk, Die Pädagogik des Isokrates, 65 f., die Wersdörfer, Die Philosophie des Isokrates, Einleitung, zustimmend zitiert: „Nach unserem Sprachgebrauch freilich wirft Isokrates die Begriffe Philosophie, Rhetorik und Bildung zusammen Richtiger aber würde man sagen: eine reinliche Scheidung dieser Begriffe war von ihm noch nicht vorgenommen und wurde audi von seinem Leserkreis nicht erwartet." Die Begriffe sind anders gefaßt, als wir sie gebraudien. In ihren Unterscheidungen und Gemeinsamkeiten sind sie bewußt definiert. 147: δρώσι γαρ εκείνων (seil, των περί την φιλοσοφίαν καί την αϋτήν σοι πραγματείαν δντων) μέν τούς πλείστους . . . επιδείξεις ποιουμένους, διαγωνιζομένους πρός άλλήλους, καθ' ύπερβολήν ύπισχνουμένους, έρίζοντας, λοιδορουμένου: etc.

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(235) 69 . Somit ist klar, daß er in dieser Rede nicht nur seine Methode sondern die höhere Erziehung überhaupt verteidigt. Audi die bedingte Anerkennung Piatons ist in diesem Rahmen zu sehen. Eine ganz andere Bedeutung hat .Philosophie' bei Pia ton. Er versteht sie als höchste Wissenschaft und erklärt sie zum exklusiven Gegenstand seiner Lehre 70 . Wenn man Isokrates eine fachspezifische Bedeutung von Philosophie zuschreibt, überträgt man eine für Piaton geltende Vorstellung auf ihn. Mit seinem Begriff von .Philosophie' steht Isokrates wie mit dem der Sophistik und Eristik in einer Tradition. Wer das Wort .Philosophie' geschaffen hat, wissen wir nicht. Die Anekdote des Herakleides, wonach Pythagoras sich als erster ,Philosoph' genannt hat 71 , ist als eine Erfindung der platonischen Schule wahrscheinlich gemacht worden 72 . Ob Heraklit den Begriff gebraucht hat, ist nicht sicher73. Unzweifelhaft überliefert finden wir ihn zuerst bei Herodot (1,30,2). Hier sagt Kroisos, sein Gastfreund Solon habe Reisen in viele Länder ,um des Anschauens willen' φιλοσοφέων gemacht. Gemeint ist dabei ein allgemeines Streben nach Wissen oder Weisheit. Ähnlich gebraucht den Begriff Thukydides, wenn er Perikles von den Athenern in ihrer Gesamtheit sagen läßt, daß sie philosophierten' (2,40, l) 7 4 . Dagegen erscheint in einer schon eher technischen' Bedeutung φιλόσοφος bei Gorgias. In seinem Lobpreis des Logos (Hei. 13) unterscheidet er drei Arten, mit ihm umzugehen: Die Reden der ,Meteorologen' d. h. der Naturphilosophen, die notwendigen Redekämpfe' (αναγκαίους λόγων αγώνας), in denen die Rede mit Kunst (τέχνη), nicht nach Wahrheit verfertigt, die Menge ergötze und überrede 75 , und schließlich die ,Wettkämpf e der philosophischen Reden' (φιλοσόφων λόγων άμιλλας). Dies mögen wohl Disputationen um allgemeine praktische und ethische Fragen sein, wie sie sophistische Streitredner aber auch Sokrates geführt haben 76 . Den philosophischen Re-

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Sie werden nicht explizit ,Philosophen' genannt, doch als solche gekennzeichnet: als Erzieher zu den Logoi und zu praktischer Vernunft. 70 Vgl. Rep. 474 b ff. 71 Herakleides Pontikos, Frg. 87 f. (W.) 72 Vgl. Burkert, Piaton oder Pythagoras, Zum Ursprung des Wortes ,Philosophie*, Hermes 88, 1960, 159 ff. 73 Β 35 (DK). — Dabei ist fraglich, ob φιλοσόφους zum Zitat hinzugehört; vgl Burkert, a. O., 171,1, und O. Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel 1945, 240. 74 In einem verwandten Sinne ist φιλοσοφείν bei dem Mythologen Herodor v. Herakleia (FGrHist 31 F 14) als Grundlage der moralischen Festigkeit des Herakles vorgestellt. 75 Damit sind, wie O Immisch in Gorgiae Helena, Berlin 1927, 32, und Burkert, Hermes 88,173, meinen, Gerichtsreden, aber darüberhinaus wohl auch Volksreden bezeichnet, die vom Staat aus gesehen ebenfalls .notwendig* sind. 76 Ähnlich urteilt Immisch, Gorgiae Helena, 32 f.

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Sophistenrede

den' enthält Gorgias die rhetorisch relevanten Auszeichnungen vor, die er den notwendigen Redekämpfen' zuerkennt, Kunstmäßigkeit und Wirkung auf das Publikum. Er hat offensichtlich anders als Isokrates und audi als dessen Rivale Alkidamas 77 Redekunst und Philosophie nicht terminologisch miteinander verbunden. Ebenfalls in einem spezialisierten Sinn erscheint der Begriff der Philosophie in der Schrift ,Über die alte Medizin' (20). Hier wird er jedoch auf ein ganz anderes Gebiet angewandt: die Naturphilosophie des Empedokles und anderer 78 . So zeigt sich der ältere Sprachgebraudi noch uneinheitlich. Weder Isokrates noch Piaton haben ihn einfach übernehmen können, für beide lagen Ansätze zur Weiterbildung vor. So entwickelt Piaton die technische Verwendungsweise zum Begriff einer transzendentalen Wissenschaft, Isokrates die allgemeine zu dem eines kulturtragenden Bildungsstrebens. Die anderen Termini, Sophistik, Eristik und die Bezeichnungen für Redekunst, weisen eine ähnliche Geschichte auf: Sie sind vor Isokrates und Piaton noch nicht eindeutig festgelegt. Von dieser Situation ausgehend schafft Isokrates — vor oder gleichzeitig mit Piaton und in ganz anderer Weise als jener — eine eigene, in sich kohärente Begrifflichkeit. Sie ist als solche bisher für uns unerkannt geblieben, wohl auch deshalb, weil man geneigt ist, Vorstellungen Piatons, die uns selbstverständlich geworden sind, unwillkürlich auch bei seinem Gegner vorauszusetzen. So zeigt sich in diesen Fragen bereits die Schwierigkeit, durch die in der Neuzeit dominierende Nachwirkung Piatons zu einem Verständnis des Isokrates zu gelangen. Für die eigene Ausdrucksweise werden wir uns jedoch im folgenden weitgehend an den heute geltenden Sprachgebrauch halten, und demnach ζ. B. als Philosophen Pia ton und Antisthenes, als Sophisten Protagoras und Prodikos, als Rhetoren Gorgias und Alkidamas bezeichnen. 2. Die Polemik gegen die Streitredner Daß die Streitredner in der Sophistenrede jedenfalls ernstzunehmende Philosophen sind, geht, wie schon gesagt, aus einer gewissen Anerkennung hervor, die ihnen Isokrates trotz heftiger Kritik entgegenbringt. Wen er aber spezifisch im Auge hat, wird erst aus einer genaueren Betrachtung seiner Stellungnahme ersichtlich werden. „Wer nämlich haßte und verachtete nicht zugleich erstlich die Streitredner, die beanspruchen, nach der Wahrheit zu forschen, aber gleich zu Beginn ihrer επαγγέλματα es unternehmen die Unwahrheit zu sagen", so beginnt Isokra7 7 Περί σοφιστών 2. 78 A -J. Festugière in· Hippocrate, L'Ancienne Médecine, Paris 1948, 57 f , sieht hier zu Recht einen technischen' Sinn des Wortes, bei Herodot und Thukydides hingegen einen allgemeinen ausgedrückt.

Gegen die Streitredner

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tes — nach der allgemeinen Kritik an den prahlerischen Versprechungen der Erzieher überhaupt — seine Polemik gegen diese erste Gruppe (1). Das επάγγελμα ist die Erklärung der Leistung, die man auf einem bestimmten Gebiet zu geben verspricht. Als Erzieher wirbt man mit ihm für den eigenen Unterricht. So haben Protagoras, Euthydem, die Tugendlehrer bei Xenophon ein επάγγελμα79, hier bei Isokrates die Streitredner ebenso (1; 5; 20) wie die Redelehrer (9; 10). Daß der Begriff nur hier so häufig und dabei stets in polemischem Zusammenhang erscheint — später lediglich einmal nodi in der Helena-Rede (9) —, ist kein Zufall, denn die Sophistenrede ist selbst ein επάγγελμα des Isokrates, freilich von besonderer, kritisch distanzierter Art. Denn Isokrates nimmt den Kampf mit den Konkurrenten damit auf, daß er nicht mehr sondern weniger verspricht und generell die Begrenztheit der Möglichkeiten hervorhebt, die der Erziehung gegeben sind. Worin besteht das επάγγελμα der Streitredner? Man hat den nun folgenden Satz (2): „Ich glaube nämlich, es ist allen klar, daß es nicht in unserer Natur liegt, die Zukunft vorauszusehen . . . " mit den weiteren Ausführungen zuweilen als Inhalt des Programms aufgefaßt, so als ob jene Philosophen den expliziten Anspruch erhoben hätten, die Zukunft vorauszusagen80. Es handelt sich aber um eine Stellungnahme des Isokrates (οΐμαι γάρ), der im folgenden, deutlich abgesetzt (ούτοι τοίνυν), die Aussagen der Philosophen selbst gegenübergestellt werden: „Sie versuchen die jungen Leute zu überzeugen, daß sie, wenn sie in ihre Schule gehen, wissen werden, was sie tun müssen, und durch dieses Wissen (έπιστήμη) glückselig (εύδαΐμονες) werden" (3). Dieses επάγγελμα hat Isokrates nicht nur vorgestellt sondern auch kritisiert. Daß es eine prinzipielle Unwahrheit enthält, wie er zuerst behauptet hatte, ist erläutert in der zunächst ausgeführten Erwägung (2), daß wir die Zukunft nicht voraussehen können. Daher wissen wir nicht — das ist gedanklich zu ergänzen —, was wir tun müssen, um glückselig zu werden. Wir hören später, daß diese Lehrer den Anspruch erheben, zur gesamten Tugend (4) bzw. zu Tugend und Gerechtigkeit (6; 20) zu erziehen. Dieser Zug vervollständigt für uns das Bild. Jenes Wissen soll die Glückseligkeit garantieren und zur sittlichen Tugend führen. Das heißt mit anderen Worten, daß nach Auffassung jener Erzieher die Tugend ein Wissen ist und ihr Besitz die Glückseligkeit verbürgt. Die Position, die hier umrissen wird, ist die sokratische allgemein. Daß Tugend ein Wissen sei, ist die zentrale philosophische Aussage des Sokrates 81 . Ihr folgte Antisthenes 82 , Euklid 83 und Piaton in seinen frühen 79 Plat. Prot. 319 a; Arist.Rhet. 1402 a 23 ff.; Plat. Euthyd. 274 a; Xen. Mem. 1, 2,7 so Münscher, RE 9, 2173; Ries, Isokrates und Piaton, 27. si Arist. Eth. Nie. 1144 b 17 ff.; Eth. Eud. 1216 b 6. 82 Diog. L. 6,10. 83 Vgl. Κ. V. Fritz, Megariker, RE Suppl. Bd. V, 1931, 715 f.; K. Döring, Die Megariker, Amsterdam 1972, 85.

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Sophistenrede

Schriften84. Die Überzeugung, daß ein tugendhaftes Leben ein glückliches sei, haben Antisthenes 85 und Piaton 86 vertreten, audi ist sie für Sokrates bezeugt 87 . Insofern können hier verschiedene philosophische Richtungen in ihrem gemeinsamen Ausgangspunkt kritisiert sein. Doch kann man die isokratische Polemik in einer Hinsicht vielleicht noch genauer nehmen. Nach seiner Darstellung behaupten jene Erzieher, das glücklichmachende Wissen zu besitzen und vermitteln zu können. Eine solche apodiktische Gewißheit ist der fragenden und suchenden Haltung des Sokrates entgegengesetzt, aber auch verschieden vom Stil der aporetischen Frühdialoge Piatons. Sie könnte wohl am ehesten auf Antisthenes zutreffen. Inwieweit er tatsächlich als Hauptgegner angesehen werden kann, wird sich im folgenden noch von anderen Gesichtspunkten her beurteilen lassen. Der Einwand des Isokrates, daß wir die Zukunft nicht voraussehen können, mag uns zunächst befremden. Hat das überhaupt eine Relevanz für die sokratische Auffassung? Tatsächlich ist hier eine wesentliche Gegenposition markiert. Von ihr aus gesehen kann ein Handeln richtig nur in Hinsicht auf die jeweiligen Umstände sein, in denen es sich vollzieht. Isokrates wird später diese Auffassung weiter explizieren, hier setzt er sie als absolut selbstverständlich voraus und zieht die sich für seine Gegner ergebende lächerliche Konsequenz: Wer den Anspruch erhebt, ein Handlungswissen zu besitzen, behauptet damit eben schon, auch wenn er es nicht gesagt hat, daß er die Zukunft im voraus kennt. Diese Art der Polemik, die gegnerische Position von vorneherein aus eigenen Voraussetzungen, als wären sie unbezweifelbar, zu relativieren, ist nicht Ausdruck eines Mangels an Reflexion und geistiger Klarheit, wie es zunächst erscheinen mag. Die weitere Untersuchung wird zeigen, daß hier eine tiefergehende grundsätzliche Auseinandersetzung absichtlich durch eine Leichtigkeit der Haltung verdeckt wird, als seien die Dinge so klar, daß man nicht mehr über sie diskutieren müßte. Indem Isokrates im folgenden (4—6) über das finanziell-geschäftliche Verhalten der Gegner spricht, behandelt er — wiederum in Spott und spielerischer Herablassung — fundamentale Probleme von Lebenswirklichkeit und Bildung: Diese Erzieher schämten sich nicht, für die Vermittlung so großer Güter 3—-4 Minen Lehrgeld zu nehmen. Wenn sie andere Güter unter ihrem Wert verkauften, würden sie wohl selbst nicht bestreiten, nicht klug zu sein. Wenn sie aber die gesamte Tugend und die Glückseligkeit so gering bewerteten, wollten sie als vernünftige Männer Lehrer der anderen sein. Und während sie erklärten, keines Geldes zu bedürfen, und verächtlich 8t Euthyph. 14 c/d; Lach. 194 c/d; 199 c/d; Prot. 352 b ff ; bes 357 b ff ; und Guthrie, Hist.GreekPhilos.IV, 1975, 123 f ; 132; 222.

85 Diog. L.6,11. 86 Gorg. 470 e; vgl Charm. 171 d ff. 87 Xen. Mem. 1,6,10; 4 , 8 , 6 .

Gegen die Streitredner

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von ihm redeten, versprächen sie aus dem Streben nach geringem Gewinn fast, ihre Schüler unsterblich zu machen. Was aber nun das Lächerlichste von allem sei: Sie ließen das Lehrgeld im voraus bei Dritten hinterlegen, vertrauten damit jenen, die sie nie unterrichtet hätten, und mißtrauten den Schülern, denen sie Gerechtigkeit einpflanzen wollten. Damit seien sie wohlberaten im Blick auf ihre Sicherheit, handelten aber gegen ihr Programm. Denn die Schüler würden sich ja wohl nicht gerade gegen die schlecht benehmen, durch die sie gerecht geworden seien. Daß hier eine sachliche Kritik der gegnerischen Lehre gegeben wird, ist durchweg übersehen worden 88 . Als Weisheits- und Tugendlehrer für den Unterricht Geld zu nehmen, ist bei den Sokratikern umstritten 89 , aber für Isokrates selbstverständlich90. Er verlangte, wie überliefert ist, 10 Minen für einen Kurs, und dies scheint, zumindest in etwas späterer Zeit, der Normalsatz gewesen zu sein 91 . Ein Honorar von 3—4 Minen, auf das hier Isokrates hinweist, erscheint demnach gering. Isokrates wirft den Tugendlehrern nicht vor, daß sie überhaupt ein Lehrgeld fordern, sondern macht auf das Mißverhältnis aufmerksam, das zwischen dessen geringer Höhe und der Größe der Versprechungen, alle Tugend und Glückseligkeit zu vermitteln, besteht, wobei man nebenbei auch wohl noch verstehen soll, daß damit der Wert dieses Unterrichts richtig eingeschätzt ist. In seiner zweiten kritischen Erwägung stellt er fest, daß jene Lehrer mit ihrem Unterricht einen Gewinn erstreben, dabei aber erklären, von Geld unabhängig zu sein. Daß sie Geld unbedingt nötig haben, erfährt man bald darauf, und daß sie bei seiner Sicherung ,wohlberaten' sind, wird eigens betont. In der Antidosis (161 f.) wird Isokrates von sich selbst erklären, daß der Wunsch, Geld zu verdienen und zu größerem Ansehen zu gelangen, für ihn maßgebend war, eine Schule zu gründen. Auch hier kritisiert er nicht das Gewinnstreben als solches, das gerade bei diesen bedrängten Lehrern berechtigt erscheint, sondern dessen Leugnung in der Theorie. Schließlich weist Isokrates auf die Ungereimtheit, daß ein Gerechtigkeitslehrer sich davor glaubt schützen zu müssen, von seinen Schülern um das vereinbarte Honorar betrogen zu werden. Der Gedanke, die Leistung des Lehrers am Verhalten des Schülers beim Bezahlen des Honorars zu messen, kann schon älter sein. So wird von Protagoras die Anekdote überliefert 92 , 88

W.Jaeger, Paideia III, 117: „Das Argument (das Deponieren des Honorars betreffend) scheint allzu niedrig gegriffen ..."; Ries, Isokrates und Piaton, 29: » . . . eine reine Verleumdung, die Piaton ärgern soll." 89 Xen. Mem. 1,6,1 ff.; 11 ff.; Aristippi et Cyrenaicorum Fragmenta, ed. E. Mannebach, Leiden/Köln 1961, Fr. 3—8. 90 15,155; 219 f. 91 Vgl. Ps. Plut. 837 d; Ps. Dem. 35,42; Ps. Plut. 842 d. Dagegen nahmen die älteren Sophisten wesentlich mehr: Für Protagoras und Gorgias werden 100 Minen genannt (Diog.L.9,52; Quint. 3,1,10; Diod. 12,53,2; Suda, s.v. Gorgias). 92 Diog. L. 9,56.

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Sophistenrede

sein Schüler Euathlos habe, von ihm zur Zahlung aufgefordert, geantwortet: „Ich habe noch keinen Sieg (im Reden) erfochten", worauf jener erwidert habe: „Wohlan wenn ich siege (im Prozeß vor Gericht), muß ich das Lehrgeld haben, weil ich gesiegt habe, wenn aber du, dann weil du gesiegt hast." Ob nun das Motiv vor Isokrates schon erfunden war oder nicht — Piatons Version im Gorgias (519cff.) ist sicher später 93 — , jedenfalls hat es bei ihm eine spezifische Ausprägung und einen eigenen Sinn. Geht es bei Protagoras um die Rhetorik, so bei ihm um die Erziehung zur Gerechtigkeit und Tugend. Er spricht nicht über Resultate des Unterrichts sondern über die Voraussicht der Lehrer. Ihre Haltung lobt er als Wohlberatenheit und läßt sie so mit ihren unausgesprochenen realistischen Annahmen bei der praktischen Lebensgestaltung selbst den Maßstab liefern, an dem ihr theoretisches Programm getadelt werden kann. Gegen Schluß seiner Rede bezeichnet Isokrates es ausdrücklich als seine Auffassung, daß Gerechtigkeit nicht lehrbar sei und einem zur Tugend schlecht veranlagten Menschen nicht eingepflanzt werden könne (21). So ist expliziert, was hier schon als eine von jenen Erziehern selbst, die das Gegenteil behaupten, wahrgenommene Tatsache erscheint: Daß die Möglichkeiten moralischer Erziehung begrenzt sind. Die Erörterungen über das finanzielle Interesse der Tugendlehrer haben nicht den Zweck, deren persönliche Moralität zu verdächtigen, sondern umgekehrt am Beispiel ihres Lebens die von ihnen vertretene Lehre einer absoluten weltunabhängigen Macht des Tugendwissens zu widerlegen. Evident erscheint dabei die Bedeutung der materiellen Bedürfnisse sowie die allgemeine Erfahrung, daß man den Zögling nicht völlig gerecht machen kann. In einem gedrängten Abschluß faßt Isokrates seine Kritik zusammen (7—8): „Wenn von Privatleuten einige, die darüber nachgedacht haben, sehen, daß die Lehrer der Weisheit und Vermittler der Glückseligkeit selbst an vielem Mangel haben und von ihren Schülern wenig Honorar verlangen, Gegensätze in Worten beachten, aber in der Wirklichkeit nicht sehen, und weiter beanspruchen, ein Wissen vom Zukünftigen zu haben, aber über das Gegenwärtige das Erforderliche weder sagen noch raten können, diejenigen aber, die sich nach Meinungen ausrichten, einträchtiger und erfolgreicher sind als die, die in ihrem Programm erklären, das Wissen zu besitzen, so sind sie (jene Privatleute), wie idi glaube, mit Recht voller Verachtung und glauben, daß eine derartige Beschäftigung Geschwätz und Streit um Kleinigkeiten, aber keine Sorge um die Seele sei." Die Antithesenreihe behandelt den Widerspruch von Leben und Lehre, Versprechen und Leistung nocheinmal und rekapituliert dabei teilweise die vorangegangene Darstellung. Diese wird aber nun nach verschiedener Richtung erweitert. So wird die Beschreibung des Gegners fortgeführt, und wir « Siehe unten S. 36 ff.

Gegen die Streitredner

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erfahren, um das Wichtigste zu nennen, daß diese Erzieher in Armut leben, sich mit theoretischen Problemen und Diskussionen abgeben und unter sich nicht einig sind. In der negativen Abgrenzung läßt Isokrates nun auch deutlicher hervortreten, an welchen Maßstäben sich ein Erzieher und Weisheitslehrer auszurichten hat. Da wird zunächst auf die Bedeutung der εργα, der Wirklichkeit hingewiesen, die jene nicht sehen, dann auf die Hauptaufgabe, der sie nicht genügen, nämlich im Blick auf die jeweilige Lage (περί των παρόντων) das Erforderliche (τα δέοντα)94 sagen und raten zu können. Noch einen Schritt weiter führt das Folgende. Das gibt die letzte Begründung und zugleich die genaue Definition der konträren Positionen: Diejenigen sind erfolgreicher und einmütiger, die sich auf Meinungen stützen, als die, die ein Wissen zu besitzen erklären. Das heißt in anderen Worten: Ein Wissen in der hier relevanten Frage, wie man handeln soll, anzustreben, ist sinnlos. Grundlegend für das richtige Leben ist nicht Wissen sondern δόξα. Isokrates greift hier auf die Polemik des Anfangs zurück und führt den Gedanken zu Ende. Die besondere Weise, in der hier Doxa verstanden wird, eröffnet, wie wir später noch klarer sehen werden, in theoretischer Hinsicht einen neuen Horizont. Mit der Doxa wird nicht eine subjektive Befangenheit zu der Weisheit letztem Schluß gemacht, vielmehr erscheint sie, im Konsens und im praktischen Erfolg bestätigt, als die angemessene Annäherung an eine objektive Wirklichkeit, an die .Wahrheit', die die Erzieher mit ihren übergroßen Versprechungen verfehlen (1; 9). Nachdem die Positionen in dieser Weise gegeneinander abgegrenzt sind, werden wir in einer letzten überraschenden Wendung auf eine dem Isokrates und seinen Gegnern gemeinsame Leitvorstellung geführt. Was jene Leute tun, ist, wie Isokrates sagt, Geschwätz und Kleinigkeitskrämerei, keine Sorge um die Seele. Wir wissen, daß der Ausdruck ,Sorge um die Seele' (ψυχής επιμέλεια) die Formulierung des Sokrates selbst war, mit der er die Intention seines Philosophierens bezeichnete95. Gerade den Sokratikern spricht Isokrates ab, diesem Leitbild nahezukommen. Aber indem er es als gültigen Maßstab hinstellt, beansprucht er es für sich selbst. In seiner Auffassung ist es die auf den Erfolg in der Wirklichkeit abzielende Erziehung, die verdient, eine Sorge um die Seele genannt zu werden. Charakteristisch ist auch hier die Darstellungsweise des Isokrates. Seine kunstvoll angeordneten Überlegungen über die Aufgabe eines Sophisten, über das Verhältnis von έπιστήμη und δόξα und über den richtigen Weg zur Bildung der Seele, das sind nach seiner Darstellung die wahrscheinlichen Eindrücke und Gedanken von Außenstehenden (ίδιωται). Seine Ansichten 94 Ein wichtiger Begriff bei Isokrates: vgl. 2,52; 15,276. « P k t . A p o l . 2 9 e ; 30b; Xen.Mem 1 , 2 , 4 ; vgl. W.Jaeger, Paideia II, Berlin 1944,

87 ff.

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Sophistenrede

mögen denen eines breiteren Publikums in manchem nahestehen, in der Vertiefung und Kohärenz, in der sie hier entwickelt sind, gehören sie ihm allein zu. Es ist von allgemeinem methodischen Interesse, daß er — bei einer Bestimmung des Erkenntnisprinzips im Handeln — uns suggeriert, er lege selbstverständliche und verbreitete Anschauungen dar. Der allgemeine Konsens, auf den er sich beruft, ist offenkundig weniger vorgegeben, als daß er vielmehr im Kampf mit diesen Konkurrenten befestigt und gestaltet werden soll. Am Schluß seiner Rede geht Isokrates nodi einmal kurz auf die Streitredner ein. Er kritisiert dort die Verfasser von Lehrbüchern zur Gerichtsrhetorik (20) und stellt fest, daß sie um so viel schlechter seien als die Streitredner, als „diese zwar derart lächerliche Behauptungen vortrugen, daß wenn einer in der Wirklichkeit dabei bleiben wollte, er sich sofort in jeglicher Not befände, dennoch aber mit ihnen (jenen Reden) Tugend und Besonnenheit zu lehren ankündigten, jene aber (die Gerichtsrhetoren), die zur Ausbildung in den politischen Reden aufriefen, da sie die anderen der ihnen eigenen Vorzüge vernachlässigten, sich darauf einließen, Lehrer von Vielgeschäftigkeit und im Erringen von Vorteil zu sein." Das Urteil über die Streitredner ist hier in einer sorgfältigen Abstimmung mit dem über die Techniker der Gerichtsrede verbunden. Daß man durch ihre Lehren in die schlimmsten Notlagen käme, ist im Zusammenhang mit der anerkennenden Feststellung, daß sie — im Gegensatz zu den Rhetoriklehrern — zu Tugend und Besonnenheit erziehen wollten, natürlich nicht in dem Sinn zu verstehen, sie seien unmoralisch 96, als vielmehr in dem, sie seien unpraktisch. Die zuvor geäußerte Kritik, sie seien nicht in der Lage, das Erforderliche in der jeweiligen Situation zu raten, ist hier auf ihre Lehre selbst bezogen. In der Fähigkeit, das praktische Leben zu meistern, sind sie den Rhetoren unterlegen. Denn wenn das in der knappen Darstellung hier nur angedeutet wird, so ist doch klar, daß Isokrates auch der Gerichtsberedsamkeit ein αγαθόν zubilligt97, das im Erlangen von Vorteil liegt. Und doch stehen die Gerichtsrhetoren, da sie die den Philosophen wichtigen Tugenden vernachlässigt haben, als Lehrer eines auf Vorteil bedachten Verhaltens unter jenen. Isokrates stuft hier seine Kritik deutlich ab und bestimmt damit seinen Standort. Er lehnt Tugend ohne Vorteil ab, aber mit größerer Entschiedenheit Vorteil ohne Tugend. So stellt er sich näher zu den Philosophen, deren Bemühen um die Erziehung zum Gutsein er übernimmt wie die ψυχής έπιμέλεια. Daß die Beredsamkeit, die er lehrt, zur sittlichen Bildung mehr beiträgt als zur Fähigkeit des rhetorischen Vortrage (ρητορεία), fügt er ausdrücklich an (21). Wenn er in dieser Ausrichtung auf ein ethisches Ziel mit 96 Vgl. Blass, Att. Bereds. II, 23,1. 97 20: άμελήσαντβς των Αλλων τών προσόντων αύτοΐς άγαθών. Vgl. Blass, Att. Bereds. II, 24.

Gegen die Streitredner

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den Philosophen einig geht, so grenzt er seinen Standpunkt doch auch wieder ab (21): „Auch soll niemand glauben, idi sage, die Gerechtigkeit sei etwas Lehrbares. Allgemein nämlich glaube ich, daß es keine Kunst der Art gibt, daß sie solchen, die zur Tugend schlecht veranlagt sind, Besonnenheit und Gerechtigkeit einpflanzen könne. Indessen glaube ich, daß die Bemühung um die Redekunst (πολιτικοί λόγοι) am ehesten eine anspornende und fördernde Wirkung haben dürfte." Auch wenn er in diesem letzten Abschnitt keine direkte Polemik gegen die Streitredner zeigt, so ergänzt er doch seine Stellungnahme zu ihnen in einem wichtigen Punkt. Er bestimmt als Ursache der von ihnen theoretisch nicht anerkannten und doch praktisch beachteten Grenze der Erziehungsfähigkeit die Veranlagung, die Physis des Menschen98. Wenn er hier betontermaßen von seiner eigenen Meinung spricht, so scheint diese doch nur zu präzisieren, was er zuvor als eine allgemeine unbestreitbare Erfahrung hingestellt hatte. Die Hauptgesichtspunkte seiner Kritik an den Philosophen sind nun deutlich markiert: Er anerkennt ihr Erziehungsideal insoweit, als er in letzter Hinsicht nicht Fertigkeiten vermitteln sondern die Seele d.h. die moralischen Tugenden bilden will. Was aber die Möglichkeit angeht, zu diesem Ziel zu gelangen, so stellt er ihrer Position eine völlig andere entgegen: Er weist die Theorie eines Handlungswissens zurück und statuiert demgegenüber das Prinzip, daß man nach .Meinung' vorgehen müsse, er verwirft die Vorstellung, daß man den Menschen ohne Rücksicht auf seine Physis gut machen könne, und er gibt der Bewältigung der jeweils gegebenen Lebensumstände, und damit der Kunst, die dies zum Problem hat, der Redekunst, den wesentlichen weiteren Sinn, zu einer inneren Bildung zu führen. Die Polemik des Isokrates wurde bisher auf die in ihr enthaltene generelle Kritik an dem sokratischen Gedanken, durch Wissen zu Tugend und Glückseligkeit zu gelangen, betrachtet. Unter diesem Aspekt können alle Sokratiker, die von diesem Gedanken ausgehen, als betroffen angesehen werden: Antisthenes sowohl wie Piaton und Euklid. Es gibt jedoch Hinweise, daß einer unter ihnen besonders anvisiert ist: Neben dem Dogmatismus, von dem schon die Rede war, sind Armut, Unterricht gegen Geld, dabei eine zur Schau getragene Verachtung des Geldes Züge, die spezifisch auf Antisthenes zutreffen Daß er arm war und den Reichtum gleichwohl verachtete, zeigt seine Selbstdarstellung in Xenophons Symposion (4,34 ff.). Daß er sich den Unterricht bezahlen ließ, ist aus zwei Anekdoten bei Dioge-

98 99

21: τοις κακώς πεφυκόσι πρός άρετήν. Auch Aeschines war arm und hielt Vorträge gegen Geld (Diog. L. 2,61 f.). Eine ausgeprägte Lehrmeinung hat er jedoch nicht vertreten (vgl. O. Gigon, Sokrates2, Bern 1979, 307 ff.)

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Sophistenrede

nes Laertius zu erschließen100. Auch die Bezeichnung des Geldes als άργυρίδιον und χρυσίδιον, von der Isokrates spricht (4), paßt am besten auf ihn. Die Stoiker — in gewisser Hinsicht Nachfolger des Antisthenes und der Kyniker — haben diesen Ausdruck in derselben abschätzigen Bedeutung verwendet 101. Dazu fügen sich eine Reihe weniger auffälliger Hinweise und Anspielungen. Im Schriftenkatalog des Antisthenes findet sich ein Werk mit dem Titel 'Αλήθεια 102 , worauf sich Isokrates möglicherweise bezieht, wenn er einleitend von seinen Gegnern sagt, daß sie vorgeben die Wahrheit zu suchen103. So kann audi seine Homerinterpretation besonders auf Antisthenes berechnet sein. Homer, erklärt er (2), habe die Götter selbst in Beratungen über die Zukunft dargestellt, um zu zeigen, daß diese zu kennen für die Menschen unmöglich sei. Antisthenes hat Homer als einen Erzieher und Lehrer interpretiert 104 , und so richtet sich dieses Argument auf seinem eigenen Felde gegen ihn. Schließlich hat auch die Kritik an der überflüssigen Genauigkeit in Wortgebrauch oder Definitionen (7) einen Anhaltspunkt in der Praxis und im Schrifttum des Antisthenes105. So einhellig dies alles auf Antisthenes weist, so beschränkt sich dodi die Kritik nicht auf ihn allein. Das ergibt sich einmal aus der Bedeutung ihres zentralen Gesichtspunkts, der Frage, ob Wissen oder Meinung unser Handeln zu bestimmen habe, mit der Isokrates auf die sokratische Lehre allgemein Bezug nimmt. Er gibt aber nodi einen zusätzlichen Hinweis, wenn er sagt, daß jene, die ein Wissen zu besitzen beanspruchen, weniger einig sind, als die, die sich auf Meinungen verlassen. Dies kann als Anspielung auf den Streit der sokratischen Schulen und Richtungen untereinander verstanden werden und deutet damit auf den weiteren Zusammenhang der Auseinandersetzung. Wenn Antisthenes hier im Vordergrund der Kritik steht, so bedarf es dazu keiner Erklärung aus persönlicher Feindseligkeit,06. Antisthenes war wohl damals als Erzieher und Lehrer der wirkungsvollste Repräsentant des von Isokrates bekämpften Standpunkts. Was die anderen bedeutenden So1Q0 Diog. L. 6, 4: Geschichte vom .silbernen Stab', mit dem er die Schüler vertreibt; 6,9: Überlistung eines Schülers, der seine Schulden nicht zahlte (vgl. Gigon, Sokrates, 291). ιοί Epict. Diss. 1,18,22. 102 Diog. L. 6,16. 103 Diese Beobachtung schon bei Wilamowitz, Platon II, 108 f. 104 F. D. Caizzi, Antisthenis Fragmenta, Mailand 1966, Fr. 51—62. 105 Im Schriftenverzeichnis des Antisthenes (Diog. L. 6,17) finden sich die Titel περί παιδείας η περί ονομάτων und περί δνομάτων χρήσεως. Epiktet (Diss. 1,17,12) zitiert Antisthenes mit dem Wort: αρχή παιδεύσεως ή των δνομάτων έπίσκεψις. 106 Uber vorangegangene Fehden auf rhetorischem Gebiet vgl. H. Usener, Die Abfassungszeit des Platonischen Phaidros, in: Kleine Schriften III, Leipzig/Berlin 1914, 61 ff.

Gegen die Redelehrer

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krates-Schüler angeht, so war Euklid nicht in Athen und durch seine Lehre kaum für eine breitere Wirkung geeignet, Aristipp dagegen stand mit seinem Skeptizismus und seiner Weltklugheit dem Isokrates näher als den übrigen Sokratikern107. Daß aber Piaton hier nicht in erster Linie berücksichtigt ist, hat seinen Grund wohl darin, daß sein Einfluß noch gering war. Die Akademie bestand noch nicht, und man kann sich vorstellen, daß die frühen Schriften, die für den Außenstehenden keine klaren Ergebnisse enthalten, keine größere Resonanz gefunden haben 108 . 3. Die Polemik gegen die Redelehrer Seine erkenntniskritische und ethische Position definiert Isokrates in der Auseinandersetzung mit den Philosophen, die Methode seiner Redekunst bestimmt er in derjenigen mit den Redelehrern (9—13). Ausgangspunkt der Kritik ist ein επάγγελμα, das einen ganz ähnlichen Charakter wie das der Philosophen hat: Die Redelehrer, ebenfalls sorglos um die Wahrheit und um materiellen Gewinn bemüht, beachten weder das Gewicht der Erfahrung (έμπειρίαι) nodi das der natürlichen Veranlagung (φύσις) der Schüler und erklären, das Wissen von der Kunst der Rede in gleicher Weise vermitteln zu können wie die Kenntnis der Schrift (10). Wie bei den Philosophen ist es das Wissen allein, das zum Erfolg führen soll. Und wie er dort sein Prinzip der δόξα dagegen gestellt hatte, so entwickelt er hier eine Auffassung der Redekunst, die jenem allgemeinen Prinzip analog ist bzw. es voraussetzt. Jene Lehrer seien sich wohl selbst nicht darüber im klaren, daß sie für eine dichterische Sache (ποιητικόν πράγμα) eine festgeordnete (τεταγμένην) Tedine als Beispiel anführten (12). Mit einem Mangel an Wissen erklärt Isokrates ihren verfehlten Wissensanspruch: Wer außer ihnen ,wüßte' (οιδε) nicht 109 , daß man nach unveränderlichen Regeln mit den Buchstaben umgehe, für Reden jedoch ganz anderes gelte. Derjenige sei der Kunstreichste (τεχνικώτατος), der sachgerecht (άξίως των πραγμάτων) rede und anderes als die anderen finden könne. Das größte Zeichen aber der Ungleichartigkeit von Redekunst und Schriftkenntnis sei dies: „Reden können nicht recht und schön beschaffen sein (καλώς εχειν), wenn sie nicht Anteil haben an den καιροί, an Angemessenheit und Neuheit (τοΰ πρεπόντως και καινως εχειν); zum Gebrauch der Buchstaben aber bedarf es nichts davon" (13). Isokrates bestimmt hier — gleichsam beiläufig — die rhetorische Bedeutung von καιροί. Daß sie nicht einfach die .äußeren Umstände' bezeichnen u o , 107 Vgl. Steidle, Hermes 80, 283. ios über das Verhältnis dieser Schrift zum platonischen Gorgias, den man vielfach hier von Isokrates berücksichtigt glaubte, siehe unten S. 36 ff. 109 Vgl. auch die Wendung in § 10· κακώς είδότες, ebenfalls von den Redelehrern gesagt. no So in der Übersetzung von Mathieu-Brémond, Isocrate I, 147.

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Sophistenrede

wenn die Wendung, gute Logoi hätten an ihnen Anteil (μετάσχωσιν), einen genauen Sinn haben soll, hat zu Recht schon Wersdörfer festgestellt111. Seine Annahme jedoch, mit ihnen sei hier die „architektonische Gliederung" gemeint, paßt nicht in den Zusammenhang. Eine derartige Bedeutung scheint zu eng und gerade auf einen Aspekt konzentriert, in dem gewisse gleichbleibende Formen wie Proömium, Hauptteil etc. wichtig sind. Isokrates stellt aber hier der regelhaften Zusammensetzung von Buchstaben zu Worten die niemals wiederkehrende Kompositionsform guter Reden gegenüber und bezeichnet eben als deren unterscheidendes Merkmal — neben dem πρέπον und καινόν — die καιροί. Es sind offenkundig die für jede Rede gegebenen besonderen Gestaltungsmöglichkeiten, die durch ,Angemessenheit' und ,Neuheit' charakterisiert sind. Dieser literarische Sinn von καιρός wird an der zweiten Stelle, an der er genannt wird (16), bestätigt: Ihn zu treffen, bedeutet hier, die Rede — wiederum nach dem Maßstab der ,Angemessenheit' — mit Enthymemen zu bereichern und sie im sprachlichen Ausdruck musikalisch zu gestalten. Freilich entspricht der καιρός, insofern er das πρέπον einschließt, auch der äußeren Lage, den παρόντα, deren Bewältigung als erste Aufgabe zuvor (8) bestimmt worden war 112 . Die Wahrnehmung des καιρός ist bei Isokrates, obwohl nicht lehrbar, gleichwohl Ausdruck hoher τέχνη. So heißt der, der im Blick auf ihn die höchste Leistung vollbringt, τεχνικώτατος (12), nachdem generell erklärt worden war, daß Technai von jenen großgemacht würden, die herausfinden könnten, was in jeder einzelnen enthalten sei (10) 113 . Eine mindere Form von Techne aber ist dann gegeben, wenn es — wie im Falle der Schrift — allein auf Kenntnis ankommt. Die Wertung ist gerade umgekehrt, als sie uns von Piaton her geläufig und selbstverständlich ist. Nicht Genauigkeit und Sicherheit des Wissens, sondern Erfassen des Unberechenbaren kennzeichnet den Meister. Die später kritisierten systematischen Lehren zur Gerichtsrhetorik sind weder im schlichten noch im anspruchsvollen Sinne ,Kunst', sie werden als „sogenannte" Techniken eingeführt (19). Der mit Isokrates zeitgenössische Redelehrer Alkidamas hat sein Programm, wie er es in der Schrift ,Über die Sophisten' darstellt, an einem ganz anders verstandenen καιρός orientiert. Er sieht in ihm den unerwarteten, flüchtigen Augenblick, wie er sich in einer Volksversammlung oder vor Gericht ergibt. Um für ihn gerüstet zu sein, empfiehlt er eine Ausbildung im

m Wersdörfer, Die Philosophia des Isokrates, 81 fi. 112 Ausdrücklich sind καιροί im politischen und literarischen Sinn unterschieden im Proömium des Panegyrikos (5). 113 Vgl. auch später § 15: ή δέ παίδευσις τους μέν τοιούτους (die Erfahrenen und Begabten) τεχνικωτέρους καί προς τό ζητεϊν εΰπορωτέρους έποίησεν.

Gegen die Redelehrer

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Reden aus dem Stegreif114. Gerade im Gegensatz zu Isokrates begründet hier die äußere praktische Anforderung eine Vernachlässigung von Stil und sprachlicher Schönheit. Isokrates sieht, wie auch seine späteren Schriften zu politischen Fragen zeigen, den καιρός der äußeren Situation als längerfristig an, so daß eine wohlüberlegte Stellungnahme zu ihm erlaubt und geboten ist. Doch besteht auch ein Unterschied in der Grundsätzlichkeit der Betrachtungsweise: Alkidamas will den besonderen Bedürfnissen des demokratischen Alltags entgegenkommen (§ 11), während Isokrates die Möglichkeiten literarischer Bildung und politischen Handelns überhaupt bestimmt. Über den καιρός hat Gorgias eine Schrift verfaßt 115 , und die Ansicht wurde vertreten, daß Isokrates in seiner Lehre von ihr abhängig sei 1I6 . Obwohl wir nichts Näheres über dieses Werk wissen, so läßt dodi die bloße Tatsache einer eigenen Abhandlung vermuten, daß Gorgias die Erfassung des καιρός theoretisch zu lehren suchte — was Isokrates für unmöglich hält. Auch die gorgianische Unterrichtsmethode, die Schüler oft verwendbare Redestücke auswendig lernen zu lassen117, steht im Gegensatz zur Auffassung des Isokrates. So ist dessen Abhängigkeit in keiner Weise wahrscheinlich. Wie in der Auseinandersetzung mit den Philosophen der besondere DoxaBegriff, so wird in derjenigen mit den Rhetoren die entsprechende Vorstellung von τέχνη und καιρός entwickelt. Die weitreichende Konzeption, in der auch schon die spätere Ablehnung der Technographen angelegt ist (19 f.), hat ihre spezielle polemische Ausrichtung auf einen zeitgenössischen Rhetor, der den Anspruch, ein Wissen von der Redekunst zu haben, nachdrücklich geltend machte und dabei das Beispiel vom Erlernen der Schrift gebrauchte. Daß der Angegriffene Alkidamas sei, wurde wiederholt angenommen, jedoch auch bestritten m . Der Bezug legt sich deshalb nahe, weil Alkidamas unter den konkurrierenden Redelehrern wohl der wichtigste ist und die vorliegende Polemik sich ihrem Tone nach gegen den prominenten Vertreter des Fachs richtet. Nun kann aber die uns von Alkidamas überlieferte Programmschrift Περί σοφιστών kaum das Objekt der isokratischen Polemik sein. Daß Isokrates nicht auf das erklärte Ziel seines Rivalen, zur Stegreifrede zu erziehen, ausdrücklich eingeht, fällt weniger ins Gewicht. Man könnte sogar 114 Vgl, Alcid. Π. σοφ. 3; 9: και πολλάκις άπροσδοκήτως καιροί πραγμάτων παραπίπτουσιν. 34: όστις ουν έπιθυμεΤ, φήτωρ γενέσθαι δεινός άλλα μή ποιητής λόγων ικανός, καΐ βούλεται μάλλον τοις καιροΐς χρήσθαι καλώς η τοίς όνόμασι λέγειν ακριβώς . . . "S Dion. Hal. De comp. II p. 45,12 fi. U. R. 116 W. Süss, Ethos, Leipzig 1910, 18 fi.; J. R. Wilson, KAIROS as „Due Measure", Glotta 58, 1980, 199. 117 Arist. Soph. El. 183 b 37 ff. us Die Auffassung wurde von C. Reinhardt, De Isocratis aemulis, Diss. Bonn 1873,13 f., begründet Auf ihn greift Wilamowitz, Platon II, 110, zurück. Den Bezug auf Alkidamas sieht auch W. Jaeger, Paideia III, 119 f. — Dagegen hat ausführlich G. Walberer, Isokrates und Alkidamas, Diss. Hamburg 1938, 22 ff., argumentiert.

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Sophistenrede

eine leise Hindeutung bei ihm in den Worten sehen, jene Lehrer schrieben schlechter als manche Privatleute aus dem Stegreif sprächen (9). Daß er diesen Gesichtspunkt nur derart verhalten angedeutet hätte, wäre aus seiner Perspektive, in der andere Dinge wichtig sind, verständlich. Was jedoch garnicht paßt, ist sein Vorwurf, jene Rhetoren behaupteten, ein Wissen von Logoi vermitteln zu können, ohne ,Erfahrung' und ,Natur' zu berücksiditigen (10). Alkidamas betont gerade (3; 32), daß für das Improvisieren hervorragende Naturanlage und fortgesetzte Übung notwendig seien119. Nun enthält der Panegyrikos, wie sich zeigen wird, eine Antwort auf die Schrift des Alkidamas120, und so ist anzunehmen, daß diese erst nach der isokratischen Sophistenrede entstand. Doch ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß sich Isokrates hier gegen einen früheren, radikaleren Standpunkt des Alkidamas wendet. Denn dessen Methode, wie sie in seiner Programmschrift zum Ausdrude kommt, steht doch der bei Isokrates kritisierten in wesentlicher Hinsicht nahe 121 . Das Programm, im voraus Enthymeme und Redeanordnungen zu lernen und das freie Sprechen ständig zu üben 122 , kann im weiteren Sinne unter die isokratische Kritik fallen, da ein generelles Wissen von Topen und Gliederungen für verschiedene Fälle gelehrt, jedoch nicht die angemessene Erfassung eines Problems erstrebt wird m . Als Lehrer einer Improvisation, die auf die Kenntnis allgemein verwendbarer rhetorischer Schemata gestützt war, kann Alkidamas die Bedeutung seines Wissens zunächst viel stärker hervorgehoben und audi das Erlernen einer solchen Redekunst mit dem von Buchstaben verglichen haben. Daß er in der Sophistenrede eine vorsichtigere Haltung zeigt, läßt sich eben aus der Polemik des Isokrates erklären. Dessen Wissenskritik hat auch bei den Philosophen, wie wir noch sehen werden, tiefgreifende Auswirkungen gehabt. Für Alkidamas ist nicht auszuschließen, was wir bei Isokrates selbst und bei Piaton feststellen werden, daß die Auseinandersetzungen mit den Konkurrenten Modifikationen der Lehre veranlassen. So mag Alkidamas sehr wohl der von Isokrates attackierte Redelehrer sein. Dagegen kommt Lysias, den man an seiner Stelle als Ange-

l i ' Auf eine Seite dieser Diskrepanz verweist zu Redit Walberer, Isokrates und Alkidamas, 24. 120 Isoc. 4,11; vgl. unten S. 125 ff. 121 Das Argument von Walberer, Isok. u. Alkid., 22 ff., Isokrates wende sich in seiner Rhetorenkritik gegen Vertreter des einfachen Stils (besonders in § 9: χείρον γράφοντες τους λόγους ή των Ιδιωτών τινές αύτοσχεδιάζουσι), Alkidamas aber habe einen prunkhaften gehabt, ist in keiner Weise durchschlagend. Das Problem der Stilhöhe ist in der isokratisdien Sophistenrede nicht thematisch, es wird zum Gegenstand im Panegyrikos (11/12), und da wird Alkidamas eben dem einfachen Stil zugeordnet (vgl. unten S. 127 ff.). 122 Alkid. Περί σοφιστών 19; 33; 34.

123 Diese Beziehung hat bereits Reinhardt, a. O., gesehen.

Gegen die Redelehrer

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griffenen vermutete 124 , nicht in Betracht, da er in jener Zeit als Logograph tätig war und, wie uns bezeugt wird, keinen Redeunterricht mehr erteilte 125. In der positiven Darstellung des eigenen Programms (14—18) führt Isokrates die in der Polemik bereits hervorgetretenen Grundzüge seiner Auffassung weiter aus. Zunächst begrenzt er nocheinmal den Anspruch, den man an eine rednerische Erziehung überhaupt stellen kann (14—15). Viele hervorragende Redner und Politiker hätten keine Ausbildung bei einem Sophisten' gehabt. „Denn die Fähigkeiten zu den Logoi und zu allen anderen Werken liegen in den von Natur Begabten (εύφυέσιν) und in den durch Erfahrung Geübten (τοις περί τάς εμπειρίας γεγυμνασμένοις)." Die Erziehung könne diese wie auch die weniger Begabten nur in gewissem Maße fördern. Dann folgt die konzentrierte Darstellung seiner Unterrichtsprinzipien (16—17): „Ich behaupte nämlich, daß das Wissen (επιστήμη) von den Formen (ίδέαι) zu erwerben, mit denen wir alle Reden halten und verfassen, nicht sehr schwierig ist, wenn man sich nicht denen anvertraut, die leichthin Versprechungen machen, sondern denen, die etwas davon wissen (είδόσι). Die richtige Auswahl aber dieser Redeformen bei jedem Gegenstand, ihre gehörige Mischung und Anordnung, und schließlich die Fähigkeit, die gegebenen Möglichkeiten (καιροί) nicht zu verfehlen, sondern sowohl mit Gedanken die gesamte Rede angemessen zu schmücken wie auch in Worten musikalisch und rhythmisch zu sprechen, das, behaupte ich, bedarf großer Bemühung und ist Sache einer mutvollen und in Meinungen treffsicheren Seele (ψυχής ανδρικής και δοξαστικής έργον)." Wie in der Kritik der Philosophen sind hier δόξα und επιστήμη miteinander konfrontiert, freilich mit dem Unterschied, daß der επιστήμη hier eine Funktion zufällt. Isokrates bestreitet nicht die Möglichkeit des Wissens, wie das zuweilen behauptet wird 126 . Einen Mangel an Wissen hat er den Redelehrern in elementaren Fragen ihres Berufs vorgeworfen, und Wissen zu vermitteln, verspricht er nun selbst. Doch gibt er diesem — und das ist das Entscheidende — eine untergeordnete Bedeutung gegenüber der Doxa. Diese zeigt sich hier von anderer Seite. An der früheren Stelle war auf einen Konsens von in der Wirklichkeit bewährten Annahmen hingewiesen worden 127 . In diesem Zusammenhang steht nun das δοξαστικόν in Bezug zum καιρός und meint die Fähigkeit des Einzelnen, die jeweiligen Möglich12* Walberer, Isok. u. Alkid., 27 ff. ι « Aristoteles bei Cie. Brut. 48; vgl. Blass, Att. Bereds. I, 347 f. — Vgl. audi Isoc. 15. 41, wo behauptet wird, daß die Tätigkeit eines Logographen und die eines Redelehrers nicht zugleich ausgeübt werde. 126 Vgl. Kuhnert, Die Bildungskonzeption des Isokrates, in: Der Mensch als Maß der Dinge, 331; Lesky, Gesdiichte der griechischen Literature Bern/München 1971, 660 f. 127 8: μάλλον όμονοοΰντας καί πλΰω κατορΟοΐντας τους ταΐς δόξαις χρωμένους η τούς τήν έπιστήμην Ιχειν έπαγγελλο,μένους.

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keiten wahrzunehmen, d. h. urteilen zu können. Das Prinzip, nach Doxa zu handeln, bedeutet daher nicht nur, von anerkannten Vorstellungen auszugehen, sondern auch in individueller Leistung ein Wissen anzuwenden und dabei das unberechenbar Richtige zu treffen. Daraufhin nennt Isokrates zusammenfassend die Bedingungen, denen Lehrer und Schüler, wenn sie erfolgreich sein wollen, genügen müssen (17—18): Der Schüler muß die beschriebene Naturanlage haben, die Redeformen lernen und sich in ihrer Anwendung üben. Im großen gesehen ist diese Dreiheit der Forderungen traditionell128, das Besondere ist ihre Gewichtung, die sich aus der vorangehenden Darlegung ergibt. Der Lehrer muß das ,Lehrbare' vollständig darbieten und im ,Übrigen' ein Vorbild für solche Schüler sein, die sich prägen lassen. So hebt Isokrates die Bedeutung des Nichtlehrbaren auch im persönlichen Umgang hervor. Die Schrift als Ganzes ist kühn, nicht nur in der spielerischen Form als scheinbares Proömium, sondern auch in ihrem Inhalt. Gegen die verschiedenen Erzieher, Philosophen sowohl wie Rhetoren, tritt Isokrates mit radikaler Kritik auf, um selbst ein Programm von betont reduziertem Anspruch vorzulegen. Mit einer Geste, als sei im Grunde alles längst klar, entwickelt er auf knappem Raum eine eigene Begrifflichkeit und stellt eine Methode der Erziehung vor, die sich konsequent aus einer neuen Auffassung vom praktischen Erkennen und Urteilen ergibt.

4. Das Prinzip der Doxa So oft man den hier wie auch in anderen Reden 129 erkennbaren Tatbestand bemerkt hat, daß Isokrates seine Philosophie und Redekunst auf die δόξα baut, so wenig hat man darin eine originelle Leistung gesehen. Man hielt es nicht für besonders beachtenswert, oder man nahm an, daß er von älteren Anschauungen, insbesondere denen des Protagoras und Gorgias beeinflußt sei 13°. Doch gerade im Verhältnis zu diesen Vorgängern zeigt sich bei ihm eine andere Auffassung. Von einer Doxalehre des Protagoras erfahren wir vor allem durch Piatons Darstellung im Theaetet 131 . Ob seine Gedanken authentisch wiedergegeben sind, ist unsicher132, doch steht die auch durch andere Zeugnisse gestützte Tatsache fest, daß er seinen Satz vom Menschen als Maß aller Dinge in der Hinsicht ausführte, daß dasjenige, was für ihn scheint, auch «β Vgl. Protagoras Β 3 (DK). 129 io,5; 15,271. 130 Wilamowitz, Piaton II, 110; W.Jaeger, Paideia III, 116; 118; Steidle, Hermes 80, 262. 131 Plat. Theaet. 152 a ff.; vgl. audi Crat. 385 e fi. "2 Vgl. J. P. Maguire, Protagoras — or Plato? Phronesis 18, 1973, 115 fi.

Das Prinzip der Doxa

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für ihn ist 133 . So läßt Piaton ihn seine Lehre mit den sinnlichen Eindrücken des Einzelnen exemplifizieren: Für den Kranken scheine das, was er zu sich nehme, bitter, und so sei es auch für ihn, während für den Gesunden das Gegenteil wahr sei134. Während so nach Protagoras .Scheinen' und ,Sein' zusammenfallen, gibt es für Isokrates eine wahre Wirklichkeit, die von den Menschen erreicht oder verfehlt werden kann. Der erste Satz seiner Schrift macht dies deutlich und weist auch schon auf das hierbei maßgebende Kriterium hin: „Wenn alle, die zu erziehen versuchen, die Wahrheit (αληθή) sagen und keine größeren Versprechungen machen wollten als die, die sie erfüllen sollten (ών ήμελλον έπιτελεΐν), würden sie bei den Außenstehenden (ίδιώται) nicht in schlechtem Rufe stehen." Den Anspruch auf Wahrheit stellt Isokrates an die Spitze seines Programms, in ähnlicher Form auch jeweils an den Beginn der Polemik gegen die Eristiker (1) und Redelehrer (9). Was er hier fordert, ist aber, wie er es darstellt, nicht die Erkenntnis eines bisher nicht Erkannten, sondern das Eingeständnis einer unleugbaren Tatsache, über die die Allgemeinheit eine Vorstellung besitzt, daß Aufgaben und Grenzen der Erziehung im großen vorgegeben sind. Eben die Betrachtungsweise aber, in dieser Form auf anerkannte Gegebenheiten zurückzugehen, ist neu. Als wesentlich erscheint es, eine Wirklichkeit ernstzunehmen, die sich gegen alle weitergehenden Behauptungen im Handeln manifestiert. Entsprechend ist dann die Doxa auf eine Handlungswelt ausgerichtet. Durch Doxa gelangt man, wie wir später lesen, zu Übereinstimmung und Erfolg, mit ihr soll man die richtigen Möglichkeiten treffen. Maßstab ihrer Angemessenheit ist daher die Bestätigung in der Wirklichkeit in einem umfassenden Sinn, der einen allgemeinen Konsens miteinschließt. Das ist nicht so sehr eine pragmatische Position, wonach sich jeder auf seine Weise behelfen mag, als vielmehr eine realistische, in der man von den übereinstimmenden Erfahrungen der Menschen ausgeht. Bei Protagoras ist, soweit wir sehen, das Vorstellen, sei es von Individuen oder von Gemeinschaften, als in einer subjektiven Sphäre eingeschlossen gedacht. Über diese ist die Doxa des Isokrates durch ihren Bezug auf eine Handlungswelt hinausgeführt. Damit ist eine erkenntnistheoretische Begründung sinnvollen Handelns gegeben, die man bei Protagoras noch nicht findet. In praktischer Hinsicht scheint dieser allgemein-verbindliche Maßstäbe von ,gut' und ,schlecht' bzw. .zuträglich' und ,schädlich' anerkannt und damit auch seine eigene Lehrtätigkeit begründet zu haben 135 . Doch ergibt sich dabei ein

133 Plat.Theaet. 152 a; 161 cf.; 162 cf.; 166 d f f ; Crat. 386a/c; vgl. Arist.Metaph. 1009 a 6 ff.; 1062 b 12 ff.; Sext. Emp. Adv. Math. 7,60. — Bei den Zitierungen sind sowohl die mit δοκείν verwandten Ausdrücke wie auch φαίνεσθαι gebraucht. 134 Theaet. 166 e. 135 Plat. Theaet. 167 a ff.

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unauflösbarer Widerspruch zur relativistischen Erkenntnislehre. Wie sollte, wenn jede Vorstellung für ihren Träger wahr ist, ein übergreifendes Zuträgliches erkannt werden können? 136 Gorgias hat vor allem in seinem Lobpreis des Logos in der Helena (8—14) ausführlich über das Wesen der Doxa gesprochen. Er beschreibt sie als trügerisch, unbeständig und verderblich (11) und demonstriert ihre Haltlosigkeit u. a. an den Reden der ,Meteorologen' und ,Philosophen', die eine unbegründete Meinung um die andere zur Geltung brächten (13). Darin, daß Doxa für das Handeln der Menschen weithin bestimmend ist, sieht er die irrationale Macht des zauberischen Logos gegründet (11). In pointierter Weise setzt er auch im Palamedes (24) die unzuverlässige Meinung dem Wissen (ε'ιδέναι) und der Wahrheit entgegen 137 . Doxa ist bei Gorgias anders bewertet als bei Isokrates — sie erscheint bei ihm als Ursache von Unglück, bei jenem als Ursache von Erfolg und Einigkeit — , sie ist aber auch begrifflich jeweils verschieden gefaßt. Das wird besonders in der Stellungnahme zu .philosophischen' oder spekulativen Theorien deutlich. Während Gorgias die Beliebigkeit der Doxa an den ,meteorologischen' und ,philosophischen' Reden aufzuzeigen sucht, stellt Isokrates die Philosophen, die ein Wissen zu haben vorgeben, denen gegenüber, die sich auf Doxai stützen. Das Meinen geschieht bei Isokrates in dem Bewußtsein oder soll in ihm geschehen, daß es ein Wissen, das im Handeln entscheiden könnte, nicht gibt. M. a. W . : Mit Doxa bezeichnet er nicht eine naive Haltung, die glaubt oder behauptet zu wissen, wie Gorgias, sondern eine aufgeklärte, die sich über die Problematik eines weitergehenden Wissensanspruchs im klaren ist. Von Protagoras unterscheidet sich Gorgias darin, daß er Meinen bzw. Scheinen und Wahrheit voneinander trennt. In dem wesentlichen Punkt gehören beide aber doch zusammen, daß sie Doxa in einem subjektiven, durch keine objektive Erfahrung geläuterten Sinne fassen. Die für Isokrates charakteristische Vorstellung, daß ohne absolutes Wissen eine Orientierung auf eine vorgegebene Wirklichkeit hin möglich ist, haben sie nicht.

« 6 Auf diesen Widerspruch weist auch K. v. Fritz, Protagoras, R E 23, 1957, 917. Zur Deutung der protagoreisdien Erkenntnislehre vgl. weiter E Kapp, Gnomon 12, 1936, 70 ff. und Gigon, Sokrates, 247 fi. Vgl. auch die Feststellung der Kluft zwischen Sein und Scheinen in Β 26 (DK). — In der Schrift über das Nichtseiende spielt der Begriff der Doxa, vor allem aber auch das Problem der Orientierung menschlichen Handelns keine Rolle — Der Versuch von H - J . Newiger, Untersuchungen zu Gorgias' Schrift Über das Nichtseiende, Berlin 1973, in der Aufstellung der paradoxen Thesen, es sei nichts, und wenn etwas sei, so sei es nicht erkennbar, und wenn dieses, so sei es nicht mitteilbar, eine Grundlegung der Rhetorik und die Eröffnung der Sidit gerade auf die .natürliche' Welt (185 f ) nachzuweisen, ist nicht uberzeugend (vgl W Κ C Guthrie, Gnomon 47, 1975, 705 ff und A Graeser, Gott Gel Anzeigen 230, 1978, 64 ff.).

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Die Auffassung von Protagoras und Gorgias ist wiederum von einer älteren Tradition her geprägt. Parmenides hatte generell die .Meinungen' der Menschen (βροτών δόξαι) verworfen, indem er ihnen die Wahrheit als das Radikal-Andere entgegensetzte (B 1,30; 8,51). Danach haben auch andere Denker und Forscher die ,Meinung' der Wahrheit gegenübergestellt — so Demokrit (B 7) — oder dem Wissen — so Sokrates138 und Antisthenes 139 . Obwohl Protagoras die Antithese von Scheinen und Sein negierte, führte er doch die vom Eleatismus herstammende Auffassung einer in sich befangenen, zu einer äußeren Realität im wesentlichen beziehungslosen menschlichen Vorstellungswelt weiter. Sie wurde bei ihm zur zentralen Gegebenheit 140. Gorgias steht, auch wenn er mit den Eleaten und den späteren Philosophen die Wahrheit von der Doxa scheidet, doch audi in der Hinsicht Protagoras nahe, daß er auf dem Bestehen der unsicheren Meinungen seine Kunst aufbaut. Mit dem erfahrungsbezogenen, kritisch reflektierten, operativen Doxa-Begriff des Isokrates ist eine neue Grundlage für Handeln und Reden gegeben 141. Erst bei ihm ist auch die Einheit von Theorie und Methode erreicht, indem nun nicht mehr dem persönlichen Wahrheitsanspruch des Lehrers die Doktrin von der generellen Subjektivität oder Unsicherheit menschlichen Meinens gegenübersteht. Bedeutungsvoll ist der isokratische Doxa-Begriff nicht nur im Verhältnis zu seinen sophistischen Vorgängern sondern auch in Beziehung zur Sokratik. Er ist entwickelt in betonter Absetzung gegen ihren Rationalismus, mit dem das Leben durchgehend wissenschaftlich gestaltet werden soll. Für Isokrates kommt es auf die Fähigkeit des Urteils, den .Geist der Feinheit' 142 an, der mehr ist als Wissen.

»8 Xen. Mem. 3 , 9 , 6 ; Plat. Apol. 21 c ff. 139 Diog. L. 6,17 (vgl. Zeller, Philosophie d. Griechen II, 1, 302 f.); sowie audi Fr. 58 (Caizzi) mit der Entgegensetzung von άλήθεια und δόξα. "ο Κ. Reinhardt, Parmenides^, Frankfurt 1959, 242, sagt: „Mir steht fest, daß audi Protagoras vor allem Schüler der Eleaten war, daß auch sein Relativismus aus der eleatisdien δόξα entwickelt ist." Nicht zutreffend ist dagegen das Urteil von F. Jürss, Zum Erkenntnisproblem bei den frühgriediischen Denkern, Berlin 1976, 93: „Protagoras hatte die Welt der Doxa von ihrer Diskreditierung durch Parmenides befreit . . D a s hat erst Isokrates mit einem neuen, nicht-relativistischen Doxa-Begriff getan. 1^1 Newiger, Untersuchungen zu Gorgias' Schrift Über das Nichtseiende, 186, setzt in gewisser Hinsicht für Gorgias voraus, was erst Isokrates geleistet hat. 142 Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, 178 f., findet in Isokrates einen unvollkomenen Vertreter des esprit de finesse (im Sinne Pascals) gegen den platonischen esprit de géométrie. Der Vergleich ist treffend, das Werturteil anfechtbar.

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5. Piatons Reaktion auf die Sophistenrede Es ist seit langem bemerkt, daß die Charakterisierung der Rhetorik im platonischen Gorgias (463 a) 143 eine auffallende Übereinstimmung mit derjenigen in der isokratischen Sophistenrede (16) 144 aufweist. Sokrates nennt sie eine Beschäftigung, die nicht kunstmäßig sei, aber eine in Vermutungen treffsichere (στοχαστικής), mutige und von Natur zum Umgang mit Menschen befähigte Seele voraussetze. Isokrates dagegen bezeichnet die Redekunst als Sache einer mutigen und in Meinungen treffsicheren (δοξαστικής) Seele. Man beschäftigte sich nun mit der Frage, ob — bei Unsicherheit der relativen Chronologie beider Schriften — Piaton sich hier auf Isokrates beziehe oder ob — unter der Voraussetzung der Priorität des platonischen Werks — eine gemeinsame Vorlage, für die man zumeist Gorgias vermutete, anzunehmen sei145. Daß Isokrates von Piaton beeinflußt wurde, hat man nicht erwogen, und dies zu Recht, da sich eine die Grundposition des Isokrates ausdrückende Formulierung nicht von spöttischen Bemerkungen bei Piaton abhängig machen läßt. Das charakteristische Moment der beiden Stellen ist das δοξαστικόν bzw. στοχαστικόν. Die Ausdrücke sind in dieser Form ungewöhnlich für beide Autoren 146 . Nun hat sich gezeigt, daß die besondere Auffassung der δόξα bei Isokrates nicht von Gorgias übernommen ist. Da dieser noch die traditionelle Auffassung von δόξα hat, kann von ihm eine sinngemäß ähnliche Kennzeichnung der Rhetorik wie die des Isokrates nicht stammen. Der Ausdruck στοχαστικόν bei Piaton bezeichnet eben in wesentlicher Hinsicht die Bedeutung, die das δοξαστικόν bei Isokrates hat: die Fähigkeit, sich der Wahrheit anzunähern, ohne ein leitendes Wissen zu haben. Prüft man weiter die Möglichkeit, daß Piaton hier gegen Isokrates polemisiert, so läßt sich auch dem Zusatz ,fähig mit Menschen umzugehen' ein polemischer Sinn abgewinnen. Denn Isokrates, der nicht öffentlich auftrat, besaß zumindest die Gabe, mit der Menge umzugehen, nicht. So läge hier ein Hinweis auf eine wohl auch sonst kritisierte Schwäche des Isokrates. 143

έπιτήδευμα τεχνικόν μεν οΰ, ψυχής δέ στοχαστικής και ανδρείας καί φύσει δεινής προσομιλεϊν τοις άνθρώποις ψυχής Ανδρικής καί δοξαστικής έργον H5 Die erste Möglichkeit vertrat ohne weitere Begründung S. Sudhaus, Zur Zeitbestimmung des Euthydem, des Gorgias und der Republik, Rhein. Mus 44, 1889,54. — Die Annahme einer gemeinsamen Vorlage fand größere Zustimmung; vgl. Dümmler, Kleine Schriften I, 84 f.; Steidle, Hermes 80, 263,4; Ries, Isokrates und Piaton, 33 f. — Die unergiebige Stellungnahme zu dieser Frage bei E. R Dodds, Gorgias, A Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1959, 225, beruht auf einem Mißverständnis des isokratischen Textes, als handle er nicht von der Kunst der Rede allgemein sondern nur von ihrer τάξις 146 Bei Isokrates ist δοξαστικός einmalig, bei Piaton erscheint στοχαστικός nur nodi einmal später im Philebos (55 e), wo in etwas anderer Bewertung das vorliegende Problem des Gorgias wiederaufgegriffen wird: Die Bestimmung wahrer Kunst. ί44

Piatons Reaktion

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Die Chronologie beider Schriften ist zu unsicher, als daß man sich von vorneherein auf ein bestimmtes Datum festlegen könnte. Doch läßt sich der Zeitraum der Entstehung für den Gorgias etwa zwischen 390 und 385 eingrenzen 147, für die Sophistenrede ist eine Zeit um 390, wie oben dargelegt wurde, wahrscheinlich. Danach ist die zeitliche Priorität der Sophistenrede möglich. Wesentlich ist aber nun der weitere Zusammenhang der platonischen Polemik. Die zitierte Stelle steht im Rahmen einer prinzipiellen Erörterung, in der einerseits die Rhetorik definiert, andererseits zwei Formen, mit Geist und Körper umzugehen, einander entgegengesetzt werden (462 b — 465 e): Unterschieden wird die Fähigkeit, Lust und Wohlgefallen zu erzeugen, von der wahren Kunst, die auf das Beste zielt. Zu jenem Typus zählt die Kunst zu kochen und sich zu putzen, die Sophistik und eben die Rhetorik, zu diesem die Heilkunst, Gymnastik, Gesetzgebungskunst und Rechtspflege (bzw. Gerechtigkeit148). Kochkunst, Rhetorik usw. stützen sich auf ,Erfahrung' (εμπειρία 462 c) und ,Vermutung' (στοχασαμένη 464 c), im Gegensatz zu den wirklichen Künsten haben sie keine Erkenntnis (ov γνοϋσα 464 c) und vermögen sich keine Rechenschaft über ihr Vorgehen zu geben (465 a). Trotz der Ungenauigkeit gilt aber ein solches Verfahren nicht einfach als unzulänglich, vielmehr wird ihm eine spezifische Wirksamkeit im Bereich der Lust zugeschrieben. Piaton kritisiert hier eine Methode, die in wesentlichen Punkten der des Isokrates entspricht: im ,Zielen', ohne zu wissen, und in der Hinwendung zur .Erfahrung' (έμπειρία). Wie jener stellt er diesem Verfahren den Anspruch exakter Erfassung gegenüber und diskutiert beide Prinzipien im Blick sowohl auf die Redekunst wie darüberhinaus auf die gesamte Lebensgestaltung. So liegt eine der isokratischen Darlegung völlig angepaßte Entgegnung vor. Die mit jener übereinstimmende Formulierung zu Beginn wird nun als ein bewußt gesetztes Zitat evident, mit dem Piaton eine zentrale Stelle herausgreift, um auf Schrift und Lehre des Gegners zu verweisen, die er dann einer fundamentalen Kritik unterzieht. Aus der wörtlichen und gedanklichen Entsprechung ergibt sich, daß Piaton auf Isokrates antwortet. Piatons wesentliches Argument besteht darin, die Methode des Gegners auf ein bestimmtes Ziel festzulegen. Sie sei, so behauptet er (464 d), auf Lust, nicht auf das Beste ausgerichtet, und so nennt er sie auch schlichtweg .Schmeichelei'149. Daß ein empirisch bestimmtes, abwägendes Vorgehen mit einer hedonistischen Zielsetzung wesensmäßig zusammengehöre, ist keineswegs einleuch-

"7 Dodds, Gorgias, 18 fi.; Guthrie, Hist. Greek Philos. IV, 284 f. 148 Nach den verschiedenen Lesarten δικαστική und δικαιοσύνη. 149 κολακεία 463 c; 464 e und oft.

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tend 15°. Isokrates konnte mit gutem Recht eine solche Auffassung zurückweisen. Seine Reden sollen, wenn man Äußerungen aus späterer Zeit nimmt, zwar audi Lust erzeugen, gerade dadurch aber nützlich und zuträglich sein151, oder, um die Ausdrücke der Sophistenrede selbst zu gebrauchen, nicht nur musikalisch und rhythmisch sein, sondern auch das Erforderliche in der jeweiligen Situation raten können. Ein solches Ziel zu verfolgen, hat für ihn den weiteren Sinn einer moralischen Bildung. Die platonische Antithese ist jedoch zweifellos sehr eindrucksvoll im Zusammenhang des Dialogs. Für seine Gestaltung hat sie eine zentrale Funktion. Das einführende Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias gibt noch keinen direkten Hinweis auf Isokrates, aber es werden hier bereits Positionen umrissen, die für die spätere Auseinandersetzung wesentlich sind. In der Kritik der dort gegebenen Definition (453 a) von Rhetorik, sie sei Meisterin darin, Überzeugungen zu erwecken — sie mag den Anschauungen des historischen Gorgias nahekommen152 — werden επιστήμη (μάθησις) und πίστις als die beiden verschiedenen Ziele bestimmt, auf die das πείθειν ausgerichtet sein kann (454 c ff.). Der Rhetor vermöge nur πίστις hervorzubringen (455 a). Der Ausdruck δόξα wird — wie auch später — vermieden, doch wird die Sache diskutiert, die er bezeichnet. Dodds 153 stellt fest, daß in den Schriften Piatons ,Wissen' und ,Meinung' hier zum ersten Mal förmlich unterschieden werden. In dem Begriff πίστις tritt ein anderer Aspekt der Doxa-Problematik hervor als in dem nachher gebrauchten des στοχάζεσθαι. Hier ist nicht das aktive Zielen und Vermuten sondern das Hinnehmen des Fürwahrgehaltenen gemeint. Doch hat sich eine ähnliche Bedeutungsbreite auch bei der Doxa des Isokrates gezeigt. Die ganze Erörterung über die von Gorgias gutgeheißene Rhetorik-Definition ist aber nur ein Vorspiel. Die grundsätzliche Ebene der Diskussion ist mit der zweiten Definition erreicht, die Sokrates als die seinige vorlegt und die zugleich die isokratische in polemischer Fassung ist. Mit der im gleichen Zuge entwickelten Entgegensetzung der beiden Erkenntnis- und Handlungsweisen ist der für das gesamte Werk dominierende Gesichtspunkt gewonnen. Von ihm aus wird sowohl die Rhetorik wie auch die praktische Politik verurteilt. So sollen die Männer, die Athen groß gemacht haben — Miltiades, Themistokles, Kimon, Perikles — nach dem verwerflichen Prinzip handelnd Diener der Lust gewesen sein (515 d ff.). Auf der anderen Seite wird von hier aus auch das platonische Programm einer ethisch-politischen Wissenschaft umrissen. Die gesamte Gesprächskonstellation ist selbst mit 150 Der Gedanke bei Demokrit (B 69), auf den Dodds, Gorgias, 228 f., als Parallele hinweist, betrifft nicht das hier entscheidende methodische Problem. 151 4,4; 2,52 f.; 15,47; 12,2. 152 Vgl. Hei. 8; 13 f. 153 Gorgias, 206.

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der Unterscheidung der beiden konträren Prinzipien charakterisiert: Sokrates als der Philosoph, der sich um die wahre Kunst bemüht (521 d), steht den Vertretern der falschen Kunst gegenüber, und folgerichtig ist er es auch allein, der eine ungerechte Gewaltherrschaft ablehnt (471 äff.). Die Theorie des Kallikles von der Berechtigung des hemmungslosen Mehrhabenwollens (482 c ff.) erscheint dann als der klare und entschiedene Ausdruck für das Wesen des unexakten Verfahrens, nach dem die anderen handeln, ohne diese Konsequenz sich und anderen einzugestehen. So stellt der Dialog den wissenschaftlichen Philosophen denjenigen gegenüber, die mit dem Anspruch auf Weisheit nach ,Vermutung' und ,Erfahrung' d. h. nach ,Meinung' handeln. Die Tatsache, daß Piaton dabei nicht das Wort δόξα, sondern πίστις, στοχάζεσθαι und εμπειρία gebraucht, hat dazu geführt, daß man diesem Dialog in der Frage der platonischen Doxalehre nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat 154 . Der Begriff der Doxa ist aber durch den Bezug auf Isokrates und durch seine Umschreibung mit anderen Ausdrücken gegenwärtig. In keinem anderen Werk Piatons ist der Gegensatz von Episteme und Doxa nicht nur als theoretischer sondern auch als einer des gelebten Lebens mit solcher Schärfe dargestellt. Es ist zugleich die erste Behandlung des Problems. Sie ist evident als Antwort auf die Herausforderung des Isokrates, die das Zentrum der platonischen Lehre betraf. Isokrates hatte nicht Piaton direkt angegriffen, aber die auch für ihn maßgebende sokratische Wissensethik als unrealistisch verworfen und ihr einen neuen Begriff der Meinung als Ausdruck höherer Einsicht und als Grundlage seiner Erziehungspraxis entgegengesetzt. Piaton hat im Gorgias noch in einer anderen Frage zur Sophistenrede Stellung genommen. In beiden Schriften erscheint, wie man schon beobachtet hat, der gleiche Gedanke, den Erfolg des Gerechtigkeitslehrers an der Zahlungswilligkeit des Schülers zu messen155. Man erklärte dies entweder damit, daß Isokrates von Piaton abhängig sei156 oder fand einfach einen alten Scherz wiederholt 157 . Dabei hat man aber die jeweils verschiedene Ausgestaltung des Motivs bei beiden Autoren zu wenig beachtet. Die chronologischen Ansätze beruhten auf Mißverständnissen des Textes 158 . 154 Vgl. J. Sprute, Der Begriff der DOXA in der platonischen Philosophie, Göttingen 1962, bes. die Literaturübersicht 16 ίϊ.; E. Tieisch, Die Platonischen Versionen der griechischen Doxalehre, Meisenheim am Glan 1970, und Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Piatons, Untersuchungen zum ,Charmides', ,Menon' und .Staat', Berlin 1974, behandeln den Gorgias nicht; vgl. jedoch jetzt Y. Lafrance, La théorie platonicienne de la Doxa, Montreal/Paris 1981, 59 ff. iss Isoc. 13,5—6; Plat. Gorg. 519 b ff. 156 W. Jaeger, Paideia III, 117; Ries, Isok. u. Piaton, 28 f. 157 Dodds, Gorgias, 365, Burkert, Gnomon 33, 351. 158 Der Sinn der isokratischen Darlegung ist es nicht, wie Jaeger, a. O., meint, den Philosophen ein Mißtrauen gegen ihre Schüler nachzuweisen; Ries, a. O., setzt fälschlich die isokratische Version des Motivs bei Piaton voraus, um sie dann bei diesem für ursprünglich zu erklären.

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Isokrates nimmt die Vorsorge der Philosophen für die Sicherung ihres Honorars als Zeichen dafür, daß sie selbst nicht an ihr Programm, den Schüler gerecht zu machen, glauben. Piaton hingegen kritisiert die Tugendlehrer, die sich über das undankbare Verhalten und die Nichtbezahlung des Honorars beklagen. Dazu hätten sie ebensowenig ein Recht, wie die Staatsmänner, die von den Bürgern, die sie regiert haben, schlecht behandelt werden. Seine Beurteilung des Problems ist derjenigen des Isokrates entgegengesetzt: Wenn die Schüler nicht gerecht werden, so ist damit nicht die grundsätzliche Begrenztheit erzieherischer Möglichkeiten, sondern die Unfähigkeit des Lehrers erwiesen. Im selben Sinne führt er weiter aus, daß ein Tugendlehrer überhaupt kein Honorar verlangen dürfe und sich auf die tätige Dankbarkeit des Schülers verlassen müsse159. Die auffallend mit Isokrates übereinstimmende Formulierung spricht dafür, daß Piaton auf jenen bewußt hindeutet 160 . Auch zeigt sich eine der Kritik des Isokrates korrespondierende Argumentation. Piaton vertritt hier in größerer Entschiedenheit den gleichen Anspruch wie Antisthenes, daß der Zögling des Tugendlehrers gut werden müsse. Den Spott des Isokrates, daß ein Lehrer, der solches verspreche, in seinen finanziellen Forderungen eine ganz andere Ansicht bekunde, nimmt er auf, um von den vorgeblichen die wahren Tugendlehrer zu unterscheiden, die auf ihre finanzielle Sicherheit nicht bedacht sein müssen. So distanziert er sich von Antisthenes 161 und läßl durch die radikale praktische Forderung die theoretische Unbedingtheit, die er mit jenem gemeinsam hat, glaubwürdiger erscheinen. Wenn Piaton in der Frage des Unterrichtshonorars Isokrates entgegnet und Antisthenes kritisiert — und dies nachdrücklich, keineswegs .scherzhaft', sondern mit großer Schärfe —, so gibt er zu erkennen, wie er seine Schule zu führen gedenkt, sei es daß ihre Gründung schon vollzogen war oder 15» 520 c fi. — Die Sophisten, die Geld für ihren Unterricht nehmen, hatte Piaton schon früher abfällig beurteilt (Prot. 313 c ff.). Von der unbedingten Verantwortung des Tugendlehrers für das Verhalten des Zöglings spricht er aber hier zum ersten Mal. Einem derart unerbittlichen Maßstab unterstellt auch der Sokrates des Xenophon (Mem. 1,2,6—8) den Tugendlehrer nicht, obwohl er ebenfalls den bezahlten Unterricht ablehnt. 140 Isoc. 13,6: . . . ηώς οΰκ ¿ίλογόν έστι μή τοις μαθηταΐς μάλιστα πιστεύειν; ού γαρ δή που περί τους άλλους δντες καλοί ΐοάγαθο'ι και δίκαιοι περί τούτους έξαμαρτήσονται 8ι* ους τοιούτοι γεγόνασιν. Plat. Gorg. 519 d: καΐ τούτου του λόγου τι δν άλογώτερον εϊη πράγμα, ανθρώπους αγαθούς κα'ι διικαίους γενομένους, . . . άδικεϊν . . . ; 519 e: ού δοκεϊ σοι &λογον είναι αγαθόν φάσκοντα πεποιηκέναι τινά μέμφεσθαι τούτφ δτι ΰφ' έαυτοΰ Αγαθός γεγονώς τε καΐ Ιπειτα πονηρός έστιν; im Mit den .Sophisten', die ihre Schüler gut zu machen erklären und sich über deren Undankbarkeit beklagen, meint Piaton wohl vornehmlich Antisthenes selbst. Daß ihn Isokrates anders darstellt, nicht post festum entrüstet, sondern sich zuvor klug vorsehend, scheint eher charakteristisch für eine andere Form der Polemik. Antisthenes kann beide Verhaltensweisen gezeigt haben.

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erst noch bevorstand 162 . Den Charakter eines Schulprogramms hat der Gorgias im ganzen dadurch, daß er die Notwendigkeit einer Belehrung in wissenschaftlicher Ethik darlegt und in diesem Grundgedanken wesentlich von der Stellungnahme zu dem Eröfinungsprogramm einer anderen Schule geprägt ist. Nicht nur in ihrer theoretischen Lehre sondern auch in der — damit zusammenhängenden — praktischen Realisierung scheint die platonische Schule definiert in Rücksicht auf Isokrates und dessen Kritik an anderen sokratischen Erziehern. Die Akademie wird so gesehen gegen Isokrates gegründet. Dieser Eindruck wird durch den platonischen Euthydem bestätigt werden. In der Frage, welche Bedeutung Episteme und Doxa für das Handeln besitze, hat sich Piaton mit der Antwort im Gorgias, die auf eine sittliche Verdammung der gegnerischen Methode hinauslief, nicht begnügt. Der Menon bringt die Lehre von der αληθής δόξα und somit eine —freilich beschränkte — Anerkennung des zuvor unter anderem Namen diskutierten Prinzips. Er erklärt nun, daß richtiges Handeln auf Doxa beruhen könne (97 b), zugleich aber auch, daß sie nicht beständig und nicht weiterzugeben sei (97 d ff.; 99 b). So erscheint es weiterhin problematisch, auf sie eine Erziehung zu bauen Letztlich wird es auch hier zur Aufgabe gemacht, vom Meinen zum Wissen zu gelangen (vgl. 85 cf.). Aus der gewandelten Auffassung der Doxa läßt sich auch die Wendung im Urteil über die athenischen Staatsmänner verstehen 163. Daß sie dort verworfen, hier aber mit einer gewissen Achtung gewürdigt werden 164 , entspricht der verschiedenen Beurteilung des für sie bestimmenden Prinzips, nach ,Meinung' zu handeln. Auch wenn im Menon direkte Bezüge zu Isokrates schwer feststellbar sind, so gehört dieser Dialog doch, insoweit er die im Gorgias erörterte Problematik weiterführt, in die Auseinandersetzung mit ihm hinein. Aber auch bei dieser Lösung ist Piaton nicht stehengeblieben. Im Menon bezieht er die beiden Erkenntnisweisen auf dieselben sinnlichen und mathematischen Gegenstände165, in der neuen Darstellung des Problems im Staat (476 e — 479 e) ordnet er sie nunmehr verschiedenen Bereichen zu, das Wissen dem wahrhaft Seienden, den Ideen, die Meinung der Welt des Viel162 Dodds, Gorgias, 24 fi., setzt den Gorgias etwa in die Zeit, in der man die Einrichtung der Akademie (um 387) annimmt, und hält es audi im Blick auf die Stelle 484 e (τάς ύμετέρας διατριβάζ) für möglich (24,3), daß sie bei seiner Abfassung bereits bestand. 163 Vgl. Th. Gomperz, Griechische Denker IP, Leipzig 1912, 303 fi.; Pohlenz, Aus Piatos Werdezeit, 183 fi.; P. Cauer, Piatons Menon und sein Verhältnis zu Protagoras und Gorgias, Rhein. Mus. 72, 1917/8, 288 ff.; Dodds, Gorgias, 23; 29 fi., R.S.Bluck, Plato's Meno, Cambridge 1961, 116 f. 164 Men. 93 b f.; 94 b; 99 b ff.; im Vergleich zu Gorg. 515 d ff. 165 Der Beweis über die Größe der Diagonalen im Quadrat und der Weg nach Larisa in Thessalien kann, wie er darlegt, von einem Wissenden und einem Meinenden erfaßt werden (85 c; 97 a ff.).

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fältigen, die sich zwischen Seiendem und Nichtseiendem befindet. Diese Darlegung ist eingelassen in eine Erörterung über das Wesen des Philosophen (474 b — 480 b). Er wird als derjenige definiert, der die Ideen zu erkennen vermag, und unterschieden von jenen, die nur auf die vielen Dinge sehen. Im Gegensatz zu ihm werden sie als ,Meinungsliebende' bezeichnet (480 a). Einige Forscher nahmen bereits an, daß hier Isokrates angegriffen sei, sahen aber darin einen eher beiläufigen Bezug 166 , andere meinten, es gehe um Antisthenes 167 , zumeist aber wurde diese für die Politela anerkanntermaßen zentrale Stelle ohne Berücksichtigung ihrer ausgedehnten polemischen Seite interpretiert 168 . Daß Piaton in erster Linie auf Isokrates zielt, hat er selbst deutlich gemacht. Wenn er davon spricht, daß jene Leute wohl zürnen könnten, weil man sie nicht Philosophen sondern ,Philodoxe' nenne (480 a), so ist klar, daß sie den Anspruch erheben, Philosophen zu heißen. Das ist einer der Hinweise auf Isokrates. Vor allem läßt an ihn die Bezeichnung ,Philodox' denken, weil es sein erklärtes Prinzip war, nach ,Doxa' zu verfahren, während Antisthenes ebenso wie Piaton ein ,Wissen' lehrte. Piatons Feststellung, diese Meinungsliebenden sähen nur die vielen Dinge, nicht aber die eine ihnen übergeordnete Idee (479 a/e; 480 a), umschreibt polemisch den Grundsatz des Isokrates, von den empirischen Gegebenheiten auszugehen. Dümmler vermutete wohl zu Recht, daß — nach den Formulierungen Piatons zu schließen — jener Gegner die Ideenlehre ausdrücklich abgelehnt hatte 1 6 9 . Aber seine Behauptung, nur Antisthenes, nicht Isokrates habe zu ihr kritisch Stellung genommen, ist nicht richtig. Isokrates hat sich, wie noch darzulegen sein wird, wiederholt mit der Ideenlehre auseinandergesetzt, zum ersten Mal in der Helena-Rede, die sicher vor der Politela erschienen ist 1 7 0 . C. Reinhardt, De Isocratis aemulis, 37; Ries, Isokrates und Piaton, 69 ff.: „Hat man an dieser Kernstelle erkannt, wie Piaton in der Politela gegen seine Gegner kämpft, wie er von den Höhen des eigenen Gedankengangs nur nebenhin auf seine Konkurrenten blidct . . ( S . 72). 167 Dümmler, Kleine Schriften, 47 f.; vgl. audi J. Adam, The Republic of Plato I, Cambridge 1902, 337 f. 168 Vgl. Friedländer, Platon III, 96 ff.; Guthrie, Hist. Greek Phil. IV, 487 ff.; Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Piatons, 109 ff., relativiert die hier gegebene Unterscheidung von Meinung und Wissen, indem er nachzuweisen sucht, daß sie nidit den Auffassungen des Sokrates d. h. Piatons, sondern denen des der Doxa verhafteten Glaukon entsprechen. Wäre das richtig, so wäre der von Piaton vorgesehene Staat von einem falsch definierten Philosophen zu regieren (Zur Kritik vgl auch K.-H. Illing, Arch. f. Gesch. d. Philos. 58, 1976, 187 ff.) 169 Dümmler, Kleine Schriften I, 48, mit Bezug auf 479 a: ούδαμή άνεχόμενος fiv τις εν τό καλόν