25 Jahre Fritz Bauer Institut. Zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen [1. ed.] 9783835350779, 9783835347878

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25 Jahre Fritz Bauer Institut. Zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen [1. ed.]
 9783835350779, 9783835347878

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Katharina Rauschenberger: »Produktive Störung«. Zur Gründungsgeschichte des Fritz Bauer Instituts
Podiumsdikussion: Das Fritz Bauer Institut. Bedingungen und Formen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen – damals und heute
Mitwirkende

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25 Jahre Fritz Bauer Institut Zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen

kleine reihe zur geschichte und wirkung des holocaust Herausgegeben von Sybille Steinbacher im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Band 2

25 JAHRE FRITZ BAUER INSTITUT Zur Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen Herausgegeben von Sybille Steinbacher

WALLSTEIN V ERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und der Meta Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Coverfotografie: Internationales Hearing. Arbeitsstelle zur Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust, 23. bis 25. Oktober 1991. Am Rednerpult Dan Diner, hinter ihm Hanno Loewy; Foto: Klaus Meier-Ude, © Institut für Stadtgeschichte, ISG ohne Signatur Lektorat im Fritz Bauer Institut: Andrea Kirchner ISBN (Print) 978-3-8353-5077-9 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4787-8

INHALT

VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 KATHARINA RAUSCHENBERGER

»Produktive Störung« Zur Gründungsgeschichte des Fritz Bauer Instituts . . . . 11 PODIUMSDISKUSSION

Das Fritz Bauer Institut 1995 und 2020 Bedingungen und Formen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen – damals und heute . . . . . . . . . . . . . . 39 MITWIRKENDE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

VORWORT

Das Fritz Bauer Institut beging den 25. Jahrestag seines Bestehens im Januar 2020 mit einem Festakt. Im vorliegenden Band ist die Feier dokumentiert, die vor großem Publikum im Foyer des Präsidiumsgebäudes der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand. Katharina Rauschenberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut, blickte in ihrem Vortrag auf dessen Entstehungsgeschichte zurück. Wesentlichen Anteil an der Gründung des Instituts hatte der ehemalige Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff. Nach der Rückkehr von einem Besuch in Israel 1989 schwebte ihm vor, in Deutschland, dem »Land der Täter«, ein deutsches Yad Vashem einzurichten, also einen Ort der Beschäftigung mit dem Holocaust. Anfang 1995, 50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, nahm das Fritz Bauer Institut als interdisziplinäre Forschungs- und Bildungseinrichtung seine Arbeit auf. Entstanden ist damit das erste Studien- und Dokumentationszentrum in Deutschland, das sich ausschließlich mit der Geschichte und der Wirkungsgeschichte der national­ sozialistischen Verbrechen befasst. Historische Forschung und pädagogische Vermittlung machte es sich damals ebenso zur Aufgabe wie künstlerische Interventionen und die Verantwortung für die demokratische Kultur der Bundesrepublik. Der Gründung gingen turbulente Jahre voraus, in denen keineswegs gesichert war, dass am Ende ein neues Institut entstehen würde. Dessen feierlicher Gründungsakt fand schließlich am 15. Januar 1995 im Frankfurter Schauspielhaus statt. Dass es gelang, das Fritz Bauer Institut ins Leben zu rufen, dafür sorgten neben dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt am Main vor allem auch engagierte Frankfurter Bürgerinnen und Bürger, die sich zu einem Förderverein zusammengeschlossen hatten. Wie sehr gesellschaftliches Engagement für die Schaffung des Instituts ausschlaggebend war, führt Katharina Rauschenberger anschaulich vor Augen.

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vorwort

Ebenfalls im vorliegenden Band dokumentiert ist eine Podiumsdiskussion, deren Ziel es zum einen war, zurückzuschauen auf die Gründungsphase des Fritz Bauer Instituts und dabei die gesellschaftlichen, politischen und historiografischen Rahmenbedingungen zu erörtern, unter denen es entstanden ist. Zum anderen ging es auch um den Blick auf die Gegenwart und die Frage, was die kritische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen heute bedeutet. Die Bedingungen haben sich selbstredend verändert. Anders als in den 1990er Jahren ist die Erforschung des Holocaust heute international längst etabliert. Vielerlei Forschungsdiskussionen haben seither stattgefunden. Neue gesellschaftliche und politische Herausforderungen sind entstanden, darunter der in Deutschland und anderswo wiedererstarkende Nationalismus und Antisemitismus. Von Beginn an ging es dem Fritz Bauer Institut darum, historisches Begreifen zu fördern. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Gemeint ist damit die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, wobei historisches Begreifen sich von sogenannter Erinnerung und Erinnerungskultur durchaus unterscheidet. Auch das ist Gegenstand der Podiumsdiskussion, an der Protagonisten und Protagonistinnen von einst teilnahmen: Hanno Loewy, der Gründungsdirektor des Fritz Bauer Instituts, Gottfried Kößler, der als Lehrer die Vermittlungsarbeit des Instituts von Beginn an prägte, Jutta Ebeling, langjährige Vorsitzende des Fördervereins, Norbert Frei und Volkhard Knigge, die die Arbeit des Fritz Bauer Instituts seit seinen Anfängen mehrere Jahre im Wissenschaftlichen Beirat begleiteten, Frei als dessen Vorsitzender. Dass die Wahl auf Fritz Bauer als Namensgeber des neuen Instituts fallen würde, stand nicht von Anfang an fest. Lediglich einigen Spezialisten und Spezialistinnen aus der Zeitgeschichte und der Jurisprudenz war Bauers Name damals bekannt. Auf Initiative der Frankfurter Kulturdezernentin Linda Reisch befasste sich eine Expertengruppe mit der inhaltlichen Ausrichtung des Instituts. Das Gremium brachte Fritz Bauer ins

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Spiel. Wer Bauer war, musste seinerzeit häufig auch in Frankfurt erläutert werden, obwohl der hessische Generalstaatsanwalt bis zu seinem Tod 1968 hier seine Wirkungsstätte besaß. Im Nationalsozialismus selbst verfolgt, hatte er in den 1950er Jahren zur Ergreifung von Adolf Eichmann beigetragen und den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) vorbereitet. Bauer war ein Streiter für die Demokratie. Ganz in diesem Sinne verstand und versteht das nach ihm benannte Institut bis heute seine Arbeit: nämlich durch historische Forschung sowie Aufklärungs- und Bildungsarbeit im Wege von Publikationen, öffentlichen Veranstaltungen und Ausstellungen zum Nationalsozialismus und seinen Verbrechen demokratisches Bewusstsein zu stärken. Zwischen der Jubiläumsfeier des Instituts und der Publikation dieses Dokumentationsbandes liegt die Covid-19-Pandemie. Deren Auswirkungen trugen dazu bei, dass dieser Band später erscheint als zunächst geplant, denn eine Fülle von Aufgaben war seither zu bewältigen. Über die aktuelle Arbeit des Instituts geben unsere Jahresberichte und unsere Website detailliert Auskunft. Unser jährlich erscheinendes Bulletin Einsicht diskutiert pro Heft zwei Schwerpunktthemen und bietet einen ausführ­ lichen Rezensionsteil. Das Fritz Bauer Institut erfährt bis heute reichlich Unterstützung aus der deutschen Gesellschaft. Unserem Förderverein, der seit Mai 2022 von Herbert Mai geleitet wird, sind wir zu großem Dank verpflichtet. Unser Dank gilt ferner dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt: für stete Unterstützung, finan­ zielle Förderung und großes Wohlwollen. Für ihr Engagement als weitere Trägerin des Fritz Bauer Instituts danken wir bestens auch der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sybille Steinbacher Direktorin des Fritz Bauer Instituts im Herbst 2022

Katharina Rauschenberger »PRODUKTIVE STÖRUNG« Zur Gründungsgeschichte des Fritz Bauer Instituts

Am 15. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut als Stiftung bürgerlichen Rechts in das Goldene Stiftungsbuch der Stadt Frankfurt am Main eingetragen. Der Festakt im Schauspiel war begleitet von Ansprachen der höchsten Repräsentanten der damaligen drei Träger des Instituts, dem Hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel, dem Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt Andreas von Schoeler und dem Vorsitzenden des Fördervereins des Fritz Bauer Instituts Werner Schneider-Quindeau. Synagogale Stücke des frühbarocken italienischen Komponisten Salomone Rossi Ebreo rahmten den Akt musikalisch. Eine Lesung aus Peter Weiss’ Meine Ortschaft und die Eröffnung einer Ausstellung mit Environments von Józef Szajna machten deutlich, wie weit das Themenfeld war, innerhalb dessen sich die neue Institution verorten wollte. Mit Szajna einen der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Theaterregisseure Polens einzuladen, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatte, war den Organisatoren ein Anliegen. Seine kraftvolle Installation »Reminiszenzen«, die im Foyer des Schauspiels Frankfurt für einige Wochen gezeigt wurde, erinnerte an eine Gruppe von Kunstprofessoren und -studenten aus Krakau, die von den Deutschen in Auschwitz ermordet worden waren. Die Gründung des Instituts fiel nicht zufällig in den Monat, in dem sich die Befreiung von Auschwitz zum 50. Mal jährte. Ab dem 24. Januar 1995 präsentierte eine ganze Reihe von Veranstaltungen über fast vier Wochen Filme, Diskussionen, Lesungen, Theateraufführungen und Zeitzeugengespräche. Doch war das Datum auch das Ergebnis eines sechs Jahre währenden Diskussionsprozesses, der mit der Institutsgründung nicht beendet, sondern verstetigt werden sollte.

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Abb. 1: Eintrag ins Goldene Stiftungsbuch der Stadt Frankfurt am Main am 15. Januar 1995 im Schauspielhaus Frankfurt. V.l.n.r.: Vorsitzender des Fördervereins Werner Schneider-Quindeau, Institutsmitarbeiter Gottfried Kößler, Hessens Ministerpräsident Hans Eichel, Kulturdezer­ nentin Linda Reisch, Oberbürgermeister Andreas von Schoeler und Wissenschaftsministerin Evelies Mayer Fotograf: Frank Kleefeldt, ©Deutsche Presse-Agentur GmbH

Die Idee für ein Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust entstand 1989, nachdem der unlängst zum Frankfurter Oberbürgermeister gewählte SPD -Politiker Volker Hauff nach Israel gereist war und dort die Gedenkstätte Yad Vashem besucht hatte. Hauff wurde begleitet von der Stadtverordnetenvorsteherin Ute Hochgrebe, dem Stadtrat Andreas von Schoeler, dem Leiter des OB -Büros Jan von Trott, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Ignatz Bubis und dem Stadtverordneten Michel Friedman.1 Während der Reise entstand in dieser Runde der Plan, in Frankfurt am Main eine ähnliche Gedenkstätte oder ein Museum als erstes seiner Art in Deutschland zu schaffen. Im Sommer 1989 ahnte noch niemand, dass sich schon 1 Oberbürgermeister reist heute nach Tel Aviv, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 7. 1989, S. 30.

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bald die Koordinaten für die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gänzlich verschieben würden. Mit dem Ende des Kalten Kriegs, dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und der damit verbundenen Anerkennung der Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit auch durch Ostdeutschland bekam eine solche Äußerung wenige Monate nach ihrer Verlautbarung unmittelbar eine nationale und auch eine internationale Bedeutung. Wurde der Fall der Mauer von den Deutschen in Ost und West besungen und gefeiert, so nahmen die deutschen Juden die Euphorie über die historischen Ereignisse mit Zurück­haltung auf. In einem persönlichen Brief an den frischgewählten Oberbürgermeister schrieb der junge Literaturwissenschaftler Hanno Loewy, ebenfalls ein Mitglied der SPD , am 12. November 1989: »Ein ganzes Volk ist besoffen. Das hatten wir schon einmal. Nur sind sie diesmal glücklich und zufrieden. Und des­wegen tun sie auch niemandem etwas. […] Die Deutschen sind gerührt, sympathisch, solidarisch, glückstrunken und sie können es noch gar nicht fassen. Nimmst Du mir übel, dass ich argwöhne?«2 Wie sollte man in einer solchen Atmosphäre der Ermordung der europäischen Juden gedenken? Wie sollte man darüber aufklären? An welche Traditionslinien sollte man dabei anknüpfen? Welche Themen in den Blick nehmen? Wen adressieren? Loewy nutzte den Moment im November 1989, in dem vieles möglich schien, um Hauff auf den Standort am Börneplatz3 2 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /24, Hanno Loewy an Volker Hauff, 12. 11. 1989, S. 3. 3 Am Frankfurter Börneplatz waren bei Bauarbeiten für einen neuen Verwaltungsbau der Frankfurter Stadtwerke 1987 Überreste von mehreren Häusern und zwei Mikwen des frühneuzeitlichen Frankfurter Judenghettos, der Judengasse, gefunden worden. In den folgenden Jahren entbrannte ein Streit um den angemessenen Umgang mit den Fundamenten. Die Stadt Frankfurt setzte den Bau des Verwaltungs­ gebäudes durch, gestand aber zu, dass ein Areal neben dem mittelalterlichen Friedhof in eine Gedenkstätte umgewandelt wurde. Sie wurde 1996 eingeweiht. Darüber hinaus wurde in dem neuen Verwaltungsbau eine Dependance des 1988 eröffneten Jüdischen Museums

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für den künftigen Lernort festzulegen. Er schrieb: »Du weißt, es gibt nur diesen Ort, wenn es Dir auch darum geht ein politisches Symbol zu bilden, ein Symbol dafür, daß es Wunden gibt, die nicht zu schließen sind.«4 Aus eigener Initiative erarbeiteten noch im Dezember 1989 Hanno Loewy und Andrzej Bodek, späterer Referent im Kulturdezernat der Stadt Frankfurt, den ersten Entwurf für ein Konzept eines zukünftigen »Lehr- und Dokumentationszen­ trums der Shoah« – tatsächlich kursierten in der Anfangsphase beide Begriffe: Lern- und Lehrzentrum. Warum diese beiden Personen? Sie waren nach der Eröffnung des Jüdischen Museums in Frankfurt im November 1988 damit beschäftigt, eine Ausstellung zum Ghetto Łódź zusammenzustellen. Sie basierte im Wesentlichen auf Farbdias der deutschen Ghettoverwaltung, die das Jüdische Museum kurz zuvor angekauft hatte, und kontrastierte deren Sicht mit der Perspektive der Ghettoinsassen und Judenräte.5 Dieser Ansatz war neu und stellte einen Diskussionsbeitrag in der gerade entbrannten Debatte über die Rolle der Judenräte im Vernichtungsgeschehen dar. Loewy und Bodek entwarfen mit dem Papier eine Art Strukturplan. Festgehalten waren die Arbeitsschritte über einen Zeitraum von drei Jahren. Bis dahin, so die Zielvorgabe, solle das Zentrum gegründet worden sein. Es erhob mit dem angedachten Titel »Deutsches Zentrum« einen nationalen Anspruch. der Stadt untergebracht, in der über die Geschichte der Frankfurter Judengasse informiert werden sollte. Daraus entstand 1992 das Museum Judengasse. S. Dieter Bartetzko, Roswitha Nees (Hrsg.): Statio­ nen des Vergessens: Der Börneplatz-Konflikt. Begleitbuch zur Eröffnungsausstellung, Museum Judengasse, Frankfurt am Main 1992. 4 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /24, Loewy an Hauff (wie Anm. 2), S. 5. 5 Hanno Loewy, Gerhard Schoenberner (Red.): »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Das Getto in Łódź 1940-1944. Eine Ausstellung des Jü­ dischen Museums Frankfurt am Main von 30. März bis 10. Juni 1990, hrsg. vom Jüdischen Museum im Auftrag der Stadt Frankfurt am Main, Wien 1990.

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Auschwitz sollte als ständige Herausforderung im Bewusstsein der heutigen und kommender Generationen verankert sein. Den beiden schwebte Großes vor: Eine Ausstellung zum Holocaust sollte entwickelt werden, die als Teil des künftigen Zentrums gedacht war. Es sollte zudem eine Stiftung aufgebaut werden, die als Trägerin des Zentrums Stadt, Land und Bund gleichermaßen in die Verantwortung nähme. Die Stadt Frankfurt habe in der Entwicklungsphase eine Arbeitsstelle zu finanzieren, der ein beratendes Kuratorium zur Seite gestellt werden sollte. Die ersten Namen, die in diesem Zusammenhang fielen, waren: Dan Diner, Detlef Hoffmann, Peter Steinbach, Julius Schoeps, Jörg Kammler, Klaus Dörner, Manfred Messerschmidt und Detlev Claussen.6 Die Skizze war an den Oberbürgermeister adressiert, der sie an den noch amtierenden Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann weiterleitete. Die Vorschläge mussten dann dem Magistrat zur Entscheidung vorgelegt werden. Im Mai 1990 folgte Linda Reisch im Amt der Kulturdezernentin auf Hoffmann. Frankfurt war immer noch im Gründungsfieber um das Mu6 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /1, Andrzej Bodek, Hanno Loewy: Deutsches Lehr- und Dokumentationszentrum der Shoah, Frankfurt am Main. Erster Entwurf einer Konzeption, Frankfurt am Main 18. Dezember 1989. Dan Diner war zu diesem Zeitpunkt Professor für Außereuropäische Geschichte an der Universität Essen und Professor für Europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv, Detlef Hoffmann war Professor für Kunstgeschichte an der Universität Oldenburg, Peter Steinbach war Professor für Historische und theoretische Grundlagen der Politik an der Universität Passau, Julius Schoeps war Professor für Politische Wissenschaften an der Universität/Gesamthochschule Duisburg, Jörg Kammler lehrte Politische Theorie und Politische Soziologie an der Gesamthochschule Kassel, Klaus Dörner war ärztlicher Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh und lehrte Psychiatrie an der Universität Witten/Herdecke, Manfred Messerschmidt war Militärhistoriker und bis 1988 leitender Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg im Breisgau, Detlev Claussen war Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover.

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seumsufer. Die Debatten um die Aufführung des FassbinderStücks »Die Stadt, der Müll und der Tod« lagen gerade einmal vier Jahre zurück. Die Besetzung der Baustelle der Stadtwerke auf dem Frankfurter Börneplatz hatte 1987 zu heftigen Debatten darüber geführt, wie mit der Erinnerung an die Ghettoisierung der Frankfurter Juden in der frühen Neuzeit umgegangen werden sollte. Die Planungen für das LDZ , wie das Lern- und Dokumentationszentrum bald charmant abgekürzt wurde, begannen in einer streitbaren, intellektuell vielstimmigen Stadt, die sich in der Tradition der Frankfurter Schule, der Studierendenbewegung und des Pflasterstrand7 sah und maßgeblich von der Debattenkultur der Jusos, der Grünen und der Jüdischen Gruppe beeinflusst wurde.8 In dieser Konstellation fiel die Ini­ tiative Volker Hauffs auf fruchtbaren Boden. Er selbst trat 1991 als Oberbürgermeister zurück, Linda Reisch blieb und hatte als Kulturdezernentin den im März 1990 ergangenen Magistrats­ beschluss zur Einrichtung eines Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust umzusetzen. Dieser sah vor, einen Auftrag zur Ausrichtung eines vorbereitenden Expertengesprächs sowie zur Abfassung eines Gutachtens über ein mögliches Zentrum zu vergeben. Mit der Ausarbeitung des Gutachtens beauftragte das Kulturdezernat Hanno Loewy. Das ebenfalls von ihm konzipierte Expertengespräch behandelte die Rolle der Judenräte und fand im Mai 1990 statt. Das Gutachten umfasste 151 Seiten und wurde von Loewy im Sommer 1991 vorgelegt.9 7 Der Pflasterstrand ging 1976 aus der AS tA-Zeitschrift Fuzzy hervor und verstand sich als Frankfurter Magazin für eine linke SpontiSzene. Sein verantwortlicher Redakteur war viele Jahre Daniel CohnBendit. 1990 wurde das Magazin nach einer vorangegangenen Neukonzeption eingestellt. 8 Zur Frankfurter Jüdischen Gruppe und zum Streit um das FassbinderStück s. Tobias Freimüller: Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945-1990, Göttingen 2020, S. 456-487. 9 Hanno Loewy: Gutachten. Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust, Stadt Frankfurt am Main, Dezernat für Kultur und Freizeit, Sommer 1991.

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Ein Gutachten zu Konzept und Struktur eines »Holocaust-Instituts«

Unterdessen waren zahlreiche Gespräche geführt und Reisen unternommen worden. Zwar überwog die positive Resonanz der befragten Experten, jedoch gingen in Detailfragen die Meinungen auseinander: War Frankfurt, das kein Zentrum der nationalsozialistischen Politik gewesen war, der richtige Standort? Sollte man sich auf die Vernichtung der europäischen Juden beschränken oder andere Verfolgtengruppen einbeziehen? Sollte man sich allein auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentrieren oder darüber hinausdenken? Welchen Einfluss sollte die regionale Geschichte haben? Welche Bedeutung die Oral History? Wie vollständig konnte der Holocaust erzählt werden? Sollte ein Museum im Rahmen dieses Zentrums entstehen? Wie groß sollte man denken, wie viel Geld fordern? Wie sollte das Verhältnis zu bestehenden Einrichtungen wie etwa den KZ -Gedenkstätten sein? An wen sollte man sich wegen der Finanzierung wenden? Das Gutachten von 1991 sah den großen Wurf vor und gab eine Bestandsaufnahme der internationalen Museums- und Gedenkstättenlandschaft wie auch der Forschungseinrichtungen zum Thema Holocaust. Darin legte Hanno Loewy dar, auf welche Weise sich die aktuelle Forschung zwischen Faschismustheorie und Totalitarismusforschung von der Konkretion der Verbrechen an den Juden entfernt hatte. In der DDR habe die Geschichte des antifaschistischen Widerstands im Vordergrund gestanden, in der das zentrale Ereignis des Nationalsozialismus keinen Platz gefunden habe. Die ökonomistische Sicht mit dem Feindbild des Kapitalismus habe den Blick auf den Holocaust versperrt; die gesellschaftliche Beteiligung an den Verbrechen seien in der DDR verschwiegen worden. Auch im Westen sei die Vernichtungspolitik nicht als Kernelement nationalsozialistischer Herrschaft gesehen worden, sondern als schrecklicher Endpunkt einer Entwicklung, die in anderen Ländern vergleichbar stattgefunden habe. Hier beherrschten, so Loewy, Betroffenheitsrituale den öffentlichen Raum, statt

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eines Willens zu verstehen, was, wie und durch wen geschehen war. Die Unwissenheit über das tatsächliche Geschehen sei nach wie vor groß. Das Gutachten machte offenbar, dass im Aufeinander-bezogen-Sein beider deutscher Staaten nach 1945 die »Interpretation des Nationalsozialismus eine […] existentielle und politisch höchst wirksame Rolle gespielt« habe, wie es Dan Diner formuliert hatte.10 Diese Rolle musste nach 1989 neu ausgehandelt werden; ein neues Zentrum konnte hier richtungsweisend sein. Angeregt durch Reisen innerhalb Deutschlands, aber auch nach Österreich, Polen, Israel und in die USA , schilderte Loewy in dem Gutachten die neuesten Entwicklungen und Überlegungen in thematisch nahestehenden Einrichtungen. Die einge­ holten Expertisen stammten von Gedenkstätten an historischen Orten, Museen zur jüdischen Geschichte mit Holocaustabteilungen, Forschungseinrichtungen, Dokumentationszentren, Bibliotheken, Archiven und Interessensvertretungen. Unter ihren Verfassern befanden sich Vertreter der Holocaustforschung, der jüdischen Geschichte und der Geschichte der beiden Nachkriegsdeutschlands sowie der Kulturgeschichte, der Pädagogik und des Ausstellungswesens. Es war offen, wohin man sich mit dem LDZ orientieren wollte. Von den amerikanischen Holocaustmuseen war nach Hanno Loewy zu lernen, dass sie den Holocaust nicht allein als bestimmenden Referenzrahmen für die Identität des amerikani­ schen Judentums akzeptieren wollten; sie nahmen ihn zum An­lass, um über die multiethnische Gesellschaft der USA und ihre Bedrohung zu reflektieren. Sie, wie auch die israelischen Museen, hatten einen teleologischen Sinn in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust vor Augen. Dies wurde als zentraler Unterschied zu einem »deutschen Yad Vashem«, wie Reinhard Rürup es ausdrückte,11 gesehen. Das in den USA in den 1980er Jahren – und bis heute – populäre Programm der Non-Profit10 Ebd., S. 23. 11 Ebd., S. 38.

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Organisation Facing History and Ourselves, das an der Yale University entwickelt worden war, nahm historische Begebenheiten als Ausgangspunkt, um über gegenwärtige Probleme der multiethnischen Gesellschaft zu sprechen.12 Dabei wurde mit emotionalen Zugängen nicht gespart. Dieses Konzept konnte und sollte nicht auf das neue Institut übertragen werden. Loewy plädierte für einen kognitiven Zugang zum Lerngegenstand, in den auch lebensweltliche Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einbezogen werden sollten. Freilich verfolgten deutsche Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen in ausgesprochener oder unausgesprochener Weise auch ein Ziel, nämlich dass sich der Besucher oder Workshopteilnehmer mit den Opfern identifizieren möge, sodass bei ihm ein Verlangen nach politischer Bildung wachse. Dies sollte helfen, Verbrechen in Zukunft zu verhindern. Darin sah Loewy eine Gefahr für das neue Zentrum. Eine Verbindung von historischem Lernen und politischer Bildung betrachtete er skeptisch. Der Aspekt der Vermittlung des Wissens über den Holocaust war von Anfang an Bestandteil der Forschungsfragen und sollte daher einen der Kernbereiche des neuen Zentrums bilden. Lokalgeschichtliche Ansätze sollten in die Arbeit einfließen. Forschungen zum von den Nationalsozialisten in Frankfurt unterhaltenen Institut zur Erforschung der Judenfrage waren aus Sicht der Konzeption geeignet, hier einen Schwerpunkt zu bilden. Darüber sei zu zeigen, wie mit den Juden auch jede Erinnerung an sie vernichtet und beherrscht werden sollte. Regionalgeschichtlich anschlussfähig waren auch die Forschungen zu den Displaced Persons nach 1945 und zum Auschwitz-Prozess, die auf je spezifische Weise die Konflikte der postnationalsozialistischen Gesellschaft mit diesem Erbe aufgriffen. Die Op-

12 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /18, Jacqueline Giere: ­Facing History in Three Countries. Facing Three Histories, in: F ­ acing His�tory and Ourselves News, o. D.

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fererfahrungen sollten in Zeitzeugenprojekten dokumentiert werden. Für das Vorhaben formulierte Hanno Loewy den Zuschnitt so: Das Frankfurter Zentrum sollte »sich weniger als Forschungsstätte denn als Studienzentrum, als interdisziplinäre Akademie begreifen, die in vielfältiger Form sich auch mit den symbo­ lischen Formen und den Erfahrungsgehalten des Nationalsozialismus und seines Vernichtungsprojektes auseinanderzusetzen vermag. Damit rückt das geschichtliche Bewusstsein selbst, und damit die kollektive Erinnerung mit all ihren Widersprüchen als Bedingung der Gegenwart in den Mittelpunkt des Interesses.«13 Auf diese Weise würde die Erinnerung an den Holocaust historisch kontextualisiert und man könnte, so die Hoffnung, dem relativierenden Sog entgehen. Es ist unschwer herauszulesen, dass das Gutachten sich mit der Deutung des Holocaust gegen die Stimmen wandte, die im Historikerstreit 1986/87 dafür waren, die Verbrechen des Nationalsozialismus mit denen des Stalinismus zu vergleichen und sie als Ausdruck einer Epoche zu werten, nicht als historischen Bruch. Ein Nachtrag zum Historikerstreit

Das Gutachten forderte beträchtliche Mittel für seine vierfache Funktion als Lern- und Studienzentrum, als Fortbildungseinrichtung, als Dokumentationsstätte sowie als Dauer- und Wechselausstellungsbetrieb. Erste Berechnungen für 1991 beliefen sich auf eine Summe von mehr als einer Million Mark. Ob es eine nationale Bedeutung erhalte, hänge am Mut der politisch Verantwortlichen, so Loewy, die sich dazu entschließen müssten, ein Zentrum zu fördern, in dem weder der Widerstand gegen, noch die deutschen Opfer des Nationalsozialismus im Vordergrund stünden. Eigene Grundlagenforschung sollte 13 Loewy: Gutachten (wie Anm. 9), S. 53.

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das Zentrum nicht betreiben. Ebenso wenig sollte es nach der Vorstellung Hanno Loewys ein Ort gemeinsamen rituellen Gedenkens sein. Das Gutachten empfahl einen Ort des Verstehens, der gefällige Geschichtsbilder beständig unterlaufen und immer wieder Debatten anregen sollte. Es ging um die praxisbezogene Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Zum großen Wurf gehörte auch, dass für den Oktober 1991 ein internationales Hearing geplant wurde, auf dem an drei Tagen die Formen des kollektiven Gedächtnisses, die Formen der gesellschaftlichen Aneignung von historischem Wissen und die liturgische, ästhetische und pädagogische Praxis der Auseinandersetzung mit dem Holocaust diskutiert werden sollten. Zu dem Hearing, das im Plenarsaal der Stadtverordneten im Frankfurter Römer stattfand, wurden 40 Personen aus unterschiedlichen Fachrichtungen eingeladen, darunter auch einige aus den USA , Israel, Polen und der ehemaligen DDR . Das Hearing bekam neben der inhaltlichen Diskussion so die wichtige Funktion, international breit auf das geplante Vorhaben aufmerksam zu machen, Kontakte zu knüpfen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Aktivistinnen und Aktivisten persönlich kennenzulernen – mit einem Wort: sichtbar zu werden. Angesichts der massiven internationalen Unterstützung konnte sich die Stadt Frankfurt einen Rückzug aus diesem Unternehmen danach kaum noch leisten. Der Standort Frankfurt hatte auch Auswirkungen auf die inhaltliche Debatte. Lutz Niethammer brachte es im Hearing auf den Punkt: »In der relativen Offenheit des kollektiven Gedächtnisses, die durch die deutsche und europäische Vereinigung entstanden ist, wird ins Spiel der institutionellen Neuverteilung seiner Komponenten mit dem geplanten Frankfurter Zentrum eine Einrichtung eingebracht, die sich dem Strom nationaler Normalisierung und positiver Identitätskonstruktion entgegenstellen könnte […] in einer Stadt mit einem starken Rückhalt in jüdischen und links-intellektuellen Traditionen. Diese gut platzierte Außenseiterrolle könnte dem

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rischen Aufblühen Berliner Gedenkverwaltungen eine aktivere Position entgegensetzen, eine produktive Störung.«14 Zudem wurde bei dem Hearing deutlich, dass der Zwiespalt im Historikerstreit zwischen denjenigen, die »das unbegreiflich-welthistorisch Einmalige, das die Holocaust genannte Massenvernichtung darstellte«, wie Micha Brumlik es 1986 in der taz ausdrückte,15 und denen, die den breiteren Kontext des Holocaust zu berücksichtigen anmahnten und den Vergleich mit anderen Massenverbrechen totalitärer Staaten für das Verständnis des Holocaust unverzichtbar fanden, immer noch bestand und in die Debatte hineingetragen wurde. Dies kommt besonders in einer Korrespondenz zwischen Hanno Loewy und dem gerade emeritierten Züricher Ordinarius für Philosophie und Politische Theorie Hermann Lübbe zum Ausdruck, die sie im Zusammenhang mit der V ­ erarbeitung der Redemanuskripte zu dem Aufsatzband Holocaust: Grenzen des Verstehens führten. Loewy kritisierte Lübbes Manuskript und bat den Autor, die darin verwendeten Gleichklänge von »national-sozialistisch« und »international-sozialistisch« sowie von »Rassenmord« und »Klassenmord« noch einmal zu überdenken.16 Lübbes Antwort war spröde und abweisend. Er schrieb: »Ich mache die P ­ rognose, dass die guten Absichten, die man in Frankfurt mit dem Holocaust-Dokumentationszentrum hat, scheitern werden, wenn Sie dieses Dokumentationszentrum dazu missbrauchen, jene Geschichtsphilosophie zu präsentieren und als verbindlich herauszustellen, von der Sie meinen, dass sie uns erst ins richtige Verhältnis zum Holocaust setze. Statt zur Kenntnis zu nehmen, 14 Hanno Loewy (Hrsg.): Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Hamburg 1992, S. 24. 15 Micha Brumlik: Neuer Staatsmythos Ostfront. Die neueste Entwicklung der Geschichtswissenschaft der BRD, in: taz vom 12. 7. 1986, zit. nach: Reinhard Kühnl: Streit ums Geschichtsbild: Die »Historiker-Debatte«. Dokumentation, Darstellung, Kritik, Köln 1987, S. 53-56, hier: S. 53. 16 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /6, Hanno Loewy an Hermann Lübbe, 4. 2. 1992, S. 2.

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was wirklich stattgefunden hat, wird sich ein Teil der Besucher des Dokumentationszentrums alsdann über die Dreistigkeit derer empören, die die Verbindlichkeit des moralisch-politischen Urteils über den Holocaust, das doch in intellektueller Hinsicht ein triviales Urteil ist, auf ihre Geschichtsphilosophie zu übertragen suchen, die intellektuell alles andere als trivial ist.«17 Lübbe witterte richtig, dass das Zentrum zwar als Diskussionsforum für sich in Anspruch nahm, das historisch Wahre erst noch verhandeln zu wollen. Doch geschah dies, indem es an die jüdische Tradition des Erinnerns anknüpfte, die das Gedenken an Katastrophen ebenso einschloss wie das an Rettungen.18 Es ging um historische Forschung bei gleichzeitiger Empathie mit den Opfern. Historische Ereignisse, so Loewy, folgten zudem keinem teleo­logischen Ziel; sie erlaubten nicht die erlösende Aussicht, Lehren aus der Erinnerung ziehen zu können. Auch aus dem Holocaust sei nichts zu lernen.19 Man könne sich lediglich der historischen Geschehnisse vergewissern. Die Einleitung zu dem 1992 im Rowohlt Verlag erschienenen Aufsatzband kann also als Fortsetzung der Diskussion mit Lübbe gelesen werden. Nicht ohne Grund trug das Buch den Untertitel Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Die Erwartungen an ein »Holocaust-Lernzentrum«

Sowohl das Hearing als auch die Veröffentlichung des Tagungsbandes standen bereits unter der Wirkung der im September 1991 in Hoyerswerda verübten Brandanschläge auf eine Unterkunft von Vertragsarbeitern aus Mosambik und Vietnam sowie auf ein Wohnheim von Geflüchteten. Vorausgegangen war im Dezember 1990 die Ermordung des aus Angola stammenden 17 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /6, Hermann Lübbe an Hanno Loewy, 17. 3. 1992. 18 Loewy: Holocaust (wie Anm. 14), S. 9 f. 19 Ebd., S. 14.

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Vertragsarbeiters Amadeu Antonio Kiowa, der von neonazistischen Skinheads in Eberswalde zu Tode geprügelt worden war. In den Jahren 1992 und 1993 folgten die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und die Brandanschläge von Mölln und Solingen. Einen unermüdlichen Fürsprecher hatten die Verfechter eines Frankfurter Holocaust-Zentrums in Ignatz Bubis, der bereits Volker Hauff auf seiner Reise nach Israel begleitet hatte. Bubis, der 1992 zum Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt wurde, beobachtete die rechts­ radikalen Ausschreitungen in Ost- und Westdeutschland mit großer Sorge und warnte davor, den Anstieg rechtsradikaler Gewalt mit der Einschränkung des Asylrechts politisch zu beantworten und die Morde und Anschläge als »Ausschreitungen« zu verharmlosen.20 Bubis stellte inhaltlich die Brücke her zwischen der Empathie für die in Deutschland lebenden Geflüchteten und der Situation, in der sich die Juden Deutschlands und Europas im Nationalsozialismus befanden, die oft vergeblich nach Emigrationsmöglichkeiten suchten. Die Protagonisten der Frankfurter Diskussionen um das künftige Institut kommentierten diese alarmierenden Anzeichen rassistischen Hasses dagegen nicht und stellten den Bezug zur eigenen Arbeit nicht her. Allerdings klang bereits in dem erwähnten Brief Hanno Loewys an Volker Hauff aus dem Jahr 1989 die Sorge um die Umwidmung des 9. November zum künftigen nationalen Jubeltag durch. Er warnte darin vor der Katerstimmung nach anfänglicher Einigungsbegeisterung und einer drohenden Polarisierung zwischen Ost und West.21 Für die Öffentlichkeit ließen die neonazistischen Gewalt­taten der 1990er Jahre die Gründung eines Frankfurter Holocaust20 S. Werner Konitzer: Alibi oder Zeuge? Ignatz Bubis und die fremdenfeindliche Gewalt im vereinigten Deutschland, in: Fritz Backhaus, Raphael Gross, Michael Lenarz (Hrsg.): Ignatz Bubis. Ein jüdisches Leben, Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main 2007, S. 141-148, hier: S. 144. 21 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /24, Loewy an Hauff (wie Anm. 2), S. 4.

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Lernzentrums als desto dringlicher erscheinen. Die Zuschriften an Hanno Loewy sahen dann auch im Institut ein Instrument gegen rassistische Hetze schlechthin. So sprach der noch amtierende Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, in einer Grußadresse am 15. Oktober 1991 davon, dass es »angesichts der Vorgänge der letzten Wochen, die man insgesamt das Syndrom Hoyerswerda nennen könnte«, wichtig sei, ein solches Institut zu gründen. Auch die damalige Bundes­ justizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, formulierte anlässlich ihres Beitritts zum Förderverein für das Institut 1993: »[M]it großem Interesse und großer Freude habe ich gelesen, dass in Frankfurt ein Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust, das den Namen ›Fritz Bauer Institut‹ tragen soll, gegründet werden soll. Ich begrüße dies nachdrücklich, denn dadurch kann ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass Bürger und Staat bei den aufkeimenden rechtsextremen Gewalttaten das unsagbare Leiden von Deutschen jüdischen Glaubens in den Konzentrationslagern nicht vergessen haben. Eine starke Erinnerung daran ist von großer Bedeutung, damit sich derart furchtbare Verbrechen nicht wiederholen.«22 So auf den Punkt gebracht wich die öffentliche Erwartung an das zu gründende Institut von dem ab, was sich seine Gründer selbst vorgenommen hatten: eine Erinnerungskultur zu etablieren, die das Gedenken an die Opfer zweckfrei ermöglichte, die der Opfer um ihrer selbst willen gedachte und die der Gesellschaft zumutete, sich erschüttern zu lassen. Dass dieses Konzept jedoch immer auch mit Blick auf aktuelle Ereignisse und Fragen verbunden sein würde, schlug sich zunehmend in den Konzeptpapieren nieder. Um dies zu leisten, mussten Forschung und Pädagogik Hand in Hand arbeiten. Dabei war der Plan, die Perspektive der amerikanischen Pädagogen auf die multiethnische Gesellschaft auch in die deutsche Debatte zu übernehmen, wie dies vor allem durch Jacqueline Giere, die als Lehrerin seit 22 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /19, Sabine LeutheusserSchnarrenberger an Hanno Loewy, 26. 1. 1993.

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Juli 1992 an die Arbeitsstelle abgeordnet war, konzeptionell entwickelt wurde.23 Jedoch sollte das neue Institut nicht als interventionistische, sondern als reflektierende Einrichtung arbeiten. Die Idee war, Lehrkräfte an Schulen sowie überhaupt Pädagoginnen und Pädagogen zu beraten. Die politische Öffentlichkeit wollte darüber hinausgehend eine Einrichtung, die direkt in Problembereiche eingreifen sollte – eine Erwartung, die der Pädagogik eine unmittelbare Wirkung auf das Publikum zudachte. Dies konnte dazu führen, das künftige Institut zu überfordern, und barg die Gefahr, Erinnerungsdiskurse wieder in politische Rituale abrutschen zu lassen.24 Heute mag es überraschen, dass zu dem Hearing auch ein Repräsentant der Hessischen Staatskanzlei geladen war, den man dort nicht erwarten würde. Alexander Gaulands Rede­ beiträge weisen ihn als Befürworter der dort diskutierten Institution aus; sie waren aus der Sicht eines liberalen Konservativen konstruktiv für die Debatte, die sich auch mit der Identitätsfindung der nunmehr geeinten Nation befasste.25 Inzwischen hatte eine Planungsgruppe, einberufen von der Kulturdezernentin, damit begonnen, an einem Konzept für das geplante Zentrum zu arbeiten. Zu dieser Gruppe gehörten Elisabeth Abendroth, Micha Brumlik, Annegret Ehmann, Detlef Hoffmann, Volkhard Knigge, Gertrud Koch, Cilly Kugelmann, Johann Baptist Metz, Thomas Sandkühler, Dieter Schiefelbein, Michael Zimmermann26 sowie für das Kulturdezernat der Stadt 23 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /19, Jacqueline Giere an Hanno Loewy, 10. 7. 1992; ebd., Jacqueline Giere an Andrzej Bodek, 10. 7. 1992. 24 In diesem Sinne argumentierte auch Micha Brumlik: Trauerrituale und politische Kultur nach der Shoah in der Bundesrepublik, in: Loewy: Holocaust (wie Anm. 14), S. 191-212. 25 Hanno Loewy (Hrsg.): Internationales Hearing  /  Arbeitsstelle zur Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust, 23.-25. Oktober 1991, Bd. 1: Vorträge und Diskussionen, Frankfurt am Main 1991, S. 138-142. 26 Elisabeth Abendroth war 1992 Referentin im Hessischen Kultusministerium und engagierte sich für die Erinnerung an die Opfer

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Frankfurt Andrzej Bodek und Hanno Loewy und für das Hessische Kultusministerium Jacqueline Giere. Auf einer Klausursitzung im August 1992 in Usingen fiel der Name Fritz Bauers zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem zu gründenden Institut und fand sofort die Zustimmung aller Unterstützer. Der Vorschlag dazu kam von Andrzej Bodek, in dessen Fami­ liengedächtnis der Auschwitz-Prozess, aber auch die Person Fritz Bauers eine wichtige Rolle gespielt hatten.27 Bauer war die ideale Person, sämtliche Überlegungen zu bündeln: Er hatte zu den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus gehört und sich gleichwohl als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft gesehen, die die Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten hatte. Bauer hatte den Blick auf die Nachkriegsprozesse und somit auf das Fortwirken von Mentalitäten und Karrieren in Westdeutschland gelenkt. Er war eine Integrationsfigur über den Eisernen Vorhang hinweg; er hatte die Zusammenarbeit mit Polen und der DDR für die Durchführung der Prozesse befürwortet und so deutlich gemacht, dass die Aufklärung über den Holocaust auch in Osteuropa geleistet wurde und weiterdes Nationalsozialismus in Frankfurt, Micha Brumlik war Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Heidelberg, Annegret Ehmann war Leiterin der Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Detlef Hoffmann war Professor für Kunstgeschichte an der Universität Oldenburg, Volkhard Knigge war 1992 Assistent bei Lutz Niethammer an der Universität Jena, G ­ ertrud Koch war Professorin für Filmwissenschaften an der Universität Bochum, Cilly Kugelmann war pädagogische Mitarbeiterin am Jüdischen Museum Frankfurt, Johann Baptist Metz war Professor für Fundamentaltheologie an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Münster, Thomas Sandkühler war als Historiker wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld und schrieb an seiner Dissertation über den Judenmord in Ostgalizien, Dieter Schiefelbein war Buchhändler und Historiker und arbeitete zum Institut zur Erforschung der Judenfrage und Michael Zimmermann war als Historiker in der Alten Synagoge Essen tätig. 27 Gespräch der Verfasserin mit Andrzej Bodek am 5. 12. 2019; Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /2, Thomas Sandkühler an Hanno Loewy, 5. 12. 1992.

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hin geleistet werden musste. Zudem stellte er immer wieder die Bedeutung stabilen und verlässlichen Rechts für das Gelingen einer Demokratie heraus. Die Prozesse hatten für ihn also eine starke politische Bedeutung. Bauer hatte die Prozesse jedoch auch zum Medienereignis gemacht in der Hoffnung, pädagogische Wirkung zu erzielen – mit den Worten Loewys, eine »Antipädagogik«, weil er Bevormundung abgrundtief ablehnte.28 In Bauers Person bündelten sich die vielfältigen Möglichkeiten der Annäherung an die Verbrechen. Nach der erwähnten Klausursitzung legte die Planungsgruppe ihren Abschlussbericht vor, der in der Materialienreihe des späteren Instituts gedruckt wurde. Als Prämisse wissenschaftlicher Arbeit am Institut verankerte sie darin ein Verständnis, das die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht als historischen Gegenstand wie jeden anderen klassi­fizierte. Es schien folgerichtig, die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus über die Strafprozesse – allen voran den Auschwitz-Prozess – zu beginnen, da hier die Reflexion der Taten aus Sicht der 20 Jahre später Handelnden unmittelbar zur Geschichtlichkeit von Erinnerung führte. Zentral in der Programmatik war es, die Rezeptionsgeschichte des Holocaust selbst zum Gegenstand von Forschung und Diskussion zu machen. Das Institut sollte den ständigen Austausch mit der Öffentlichkeit und den aktuellen Thematiken suchen und gleichzeitig seine Ergebnisse Interessierten zur Verfügung stellen. Dies sei am wirkungsvollsten durch die Einrichtung eines Kollegs zu gewährleisten, in dem 12 bis 15 Kollegiatinnen und Kollegiaten aus verschiedenen Disziplinen miteinander in Austausch treten könnten. Kongresse, Symposien, Vorträge und Veröffentlichungen täten ein Übriges. Das Hineinwirken in die Schulen müsse durch die pädagogische Arbeitsstelle, die vom 28 »Das Zentrum wird keine Obergedenkstätte sein«. Interview mit Hanno Loewy, Mitbegründer des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums, über dessen Konzeption und Ausrichtung, in: taz vom 26. 1. 1993.

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Hessischen Kultusministerium durch Abordnung von Lehrkräften geschaffen werden sollte, organisiert werden. Neben einer wissenschaftlichen Dokumentation sollte eine Ausstellung zum Repertoire des künftigen Zentrums gehören. Vorgesehen war eine kollegiale Leitung aus Wissenschaft, Pädagogik und Veranstaltungswesen. Der Dauerbetrieb, so der Abschlussbericht weiterhin, sollte von Stadt, Land und Bund gemeinsam finanziert werden. Gefordert wurden 24 Stellen zuzüglich der Kollegiaten, der Honorar- und Hilfskräfte sowie Personal zur Kinderbetreuung. Zehn Büroräume, drei Seminar- und vier Projekträume sowie Veranstaltungs- und Ausstellungsfläche von 500 Quadratmetern, eine Videowerkstatt und ein Interviewraum gehörten zum Forderungskatalog; auch ein Gästehaus hatte man in der Aufzählung nicht vergessen. Die Kosten des laufenden Betriebs wurden auf 3,23 Millionen Mark veranschlagt, dazu sollten Mittel für Ausstellungen, Bibliotheks­ ankäufe, Veranstaltungen, Publikationen, den Aufbau einer Dokumentation usw. in Höhe von noch einmal 1,22 Millionen Mark kommen, die auch aus Drittmitteln einzuspielen seien.29 Administrative Hürden

Der Versuch, den Bund als Geldgeber zu verpflichten, misslang. Die Ablehnung des Bundesinnenministeriums kam einen Tag vor Weihnachten 1992.30 Der Bund habe für kulturelle Angelegenheiten deutlich weniger Mittel als geplant, so die Begründung. Erst im Juni 1991 hatte der Deutsche Bundestag 29 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /7, Abschlußbericht der Planungsgruppe Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust im Auftrag der Stadt Frankfurt Main, Dezernat Kultur und Freizeit, am 23. 11. 1992 auf einer Pressekonferenz an die Kulturdezernentin, Linda Reisch, übergeben. 30 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /2, Trautmann [ohne Vornamen] im Auftrag des Bundesministeriums des Innern an Hanno Loewy, 23. 12. 1992.

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beschlossen, den Sitz von Parlament und Bundesregierung nach Berlin zu verlegen. Der Bund sah mit der Unterstützung von KZ-G edenkstätten bundesweit sowie der Ausstattung der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz und dem Ausbau des Deutschen Historischen Museums immense Aufgaben auf sich zukommen. Zudem begann eine Diskussion um die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas in der neuen Bundeshauptstadt. Frankfurt konnte dagegen nicht ankommen. An Publikationen erschien 1992 mit einem Aufsatz von Volkhard Knigge unter dem Titel Aneignen – Abwehren. Einführung in die Tagung: Perspektiven auf den Holocaust. Der industrielle Massenmord als Gegenstand der schulischen und außerschulischen Bildung das erste Heft der Materialienreihe. Und als Ergebnis einer Tagung in der Evangelischen Akademie in Arnoldshain erschien im Campus Verlag die von Doron Kiesel, Cilly Kugelmann, Hanno Loewy und Dietrich Neuhauß herausgegebene Aufsatzsammlung »Wer zum Leben, wer zum Tod …«. Strategien jüdischen Überlebens im Ghetto. Im Januar 1993 wurde mit großer öffentlicher Unterstützung unter anderem von Ignatz Bubis und Michel Friedman ein Förderverein Fritz Bauer Institut unter dem Vorsitz des Frankfurter Stadtkirchenpfarrers Werner Schneider-Quindeau gegründet. Es war wichtig, dem Institut einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt zu verschaffen und damit den Druck auf Stadt und Land zu erhöhen. Es war zudem wichtig, eine Organisation zu haben, die Mittel einwerben und so zur Aufbringung des Stiftungskapitals beitragen konnte. Im Januar 1993 bezog die Arbeitsstelle für die Einrichtung eines Studien- und Dokumentationszentrums des Holocaust ein Büro in der Walter-Kolb-Straße in Sachsenhausen. Statt der beantragten 24 gab es zunächst zweieinhalb Stellen. Eine hatte Hanno Loewy inne, die anderen die an die Arbeitsstelle abgeordneten Lehrkräfte Jacqueline Giere und Gottfried Kößler. Die Diskussion darüber, wo das Institut seine dauerhafte Residenz haben sollte, spiegelt wider, welche erinnerungs­politischen Debatten in Frankfurt in diesem Zeitraum geführt wurden. Genannt wurden als möglicher Sitz der Börneplatz, die

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Abb. 2: Die Gründungsfeier des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. 1993 in der Walter-Kolb-Straße 9-11 V.l.n.r.: Jacqueline Giere, Hanno Loewy, Gottfried Kößler Fotograf: unbekannt, © Fritz Bauer Institut

markthalle, der Bunker in der Friedberger Anlage, das Grundstück hinter dem Jüdischen Museum, auf dem heute dessen neuer Anbau steht, das ehemalige Gebäude der Gestapo in der Lindenstraße, das IG Farben-Haus, das Haus der Jugend und das Museumsufer – also Orte der jüdischen Geschichte und Orte des Terrors sowie der Verwaltungssitz der IG Farben und die Touristenattraktion am Mainufer, über deren Nutzung in den 1990er Jahren noch nicht entschieden worden war. Statt gezielt den Aufbau der Stiftung zu betreiben, scheint das Jahr 1993 weiter mit öffentlichen Diskussionen und wissenschaftlichen Tagungen bestritten worden zu sein. Im Dezember 1993 fand ein Kongress mit dem Titel »Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess« statt. Schon im Mai hatte es eine Tagung in der Gedenkstätte Buchenwald zum »Zusammenhang von KZ System und Vernichtungspolitik als Problem von Historiographie und Erinnerung« sowie eine Gruppenreise von Mitgliedern des Fördervereins nach Auschwitz gegeben. Ein Symposium

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»NS -›Euthanasie‹-Prozesse. Grenzen juristischer Bewältigung?« würdigte 1994 den 50. Jahrestag des Aufstands des Sonderkommandos in Auschwitz. Doch trotz dieser Aktivitäten und der Bereitstellung eigener Büroräume war das Projekt noch lange nicht gesichert. Ganz im Gegenteil: Zum 31. Dezember 1993 endete der Arbeitsvertrag von Hanno Loewy mit der Stadt Frankfurt, eine Verlängerung wurde ausgeschlossen.31 In dieser Situation halfen Andrzej Bodek und der Förderverein aus der Misere: Bodek ging als Beschäftigter des Kulturdezernats auf eine halbe Stelle. Die Absicht war, die dadurch frei werdenden Mittel umzuwidmen und für die Weiterbeschäftigung Hanno Loewys zu verwenden. Die Stadt sollte die zweite Hälfte für einen Vertrag mit Loewy aufstocken.32 Dieser neue Vertrag sollte jedoch nicht mit der Stadt oder dem Kulturdezernat geschlossen werden, sondern mit dem Förderverein des zu gründenden Instituts. Diese Konstruktion ging schließlich auf; ohne sie wäre das Projekt 1993 begraben worden. Welche Bauchschmerzen die Stadt mit diesem Vorgehen hatte, spiegelt ein Schreiben des Leiters des Amtes für Wissenschaft und Kunst, Frank Mußmann, wider, der davor warnte, dass die Stadt auch nicht über den Umweg des Vereins Personalmittel stellen dürfe, die über den genehmigten Haushalt hinausgingen. Das führe zur Einklagbarkeit der Stelle, wie andere Beispiele zeigten.33 Der Leiter des Personal- und Organisationsamtes der Stadt Frankfurt wurde dann 31 Privatarchiv Andrzej Bodek, [Frank] Mußmann für das städtische Amt für Wissenschaft und Kunst an Hanno Loewy, 23. 12. 1993. Mein besonderer Dank geht an Andrzej Bodek, der in mehreren Gesprächen durch seine Hinweise zu einem differenzierten Bild ­dieser Gründungsgeschichte beitrug. An dieser Stelle möchte ich auch Gottfried Kößler danken, der mich ebenfalls beim Verfassen dieses Artikels beraten hat. 32 Privatarchiv Andrzej Bodek, Andrzej Bodek an das Personal- und Organisationsamt der Stadt Frankfurt am Main, 13. 1. 1994. 33 Privatarchiv Andrzej Bodek, Mußmann: Vermerk für Frau Reisch. Beschäftigung von Hanno Loewy durch den Förderverein FritzBauer-Institut, 23. 12. 1993.

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auch deutlich: »Zudem sind wir der Auffassung«, hieß es in einem Schreiben vom August 1993 an Linda Reisch, »daß es möglich ist, dieses Projekt bis 31. 12. 1993, d. h. innerhalb der bereits um zwei Jahre verlängerten Frist, in die Trägerschaft einer öffentlich-rechtlichen Stiftung oder in eine andere geeignete Rechtsform zu überführen.«34 Man war offensichtlich verärgert und der Auffassung, Hanno Loewy habe seine Hausaufgaben nicht gemacht. Dessen ungeachtet ging die Verhandlung zwischen dem Dezernat für Kultur und Freizeit, dem Amt für Wissenschaft und Kunst und der für die Etatplanung zuständigen Stadtkämmerei weiter. Im Amtsdeutsch war schließlich von überplanmäßigen Ausgaben des Unterabschnitts 3.120 der Haushaltsstelle 6.285 die Rede, die sich auf »35.000 DM für die Realisierung dringender Projekte des Instituts«35 beliefen – was den Personalkosten für die Stadt zur Aufstockung der Stelle entsprach. Der zuständige Magistratsdirektor in der Stadtkämmerei hatte sich konsequenterweise bis zur Bewilligung des Haushalts 1994 gegen diese Lösung verwahrt.36 Erst Mitte des Jahres 1994 war die Finanzierung der Stelle für Hanno Loewy gesichert. Dieser hatte die Zeichen der Verwaltung verstanden und nutzte das Jahr vor allem dafür, eine Stiftung zu gründen und Spendenmittel über den Förderverein zu akquirieren. Ein Magistratsbeschluss vom 15. Juli 1994 erklärte sich für die Gründung der »Stiftung Fritz Bauer Institut. Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust«.37 Oberbürgermeister von Schoeler wandte sich zudem an den hes34 Privatarchiv Andrzej Bodek, Personal- und Organisationsamt an das Dezernat Kultur und Freizeit, 18. 8. 1993. 35 Privatarchiv Andrzej Bodek, Mußmann an die Stadtkämmerei, 17. 2. 1994; ebd., [Hans-Peter] Ruppert an Amt für Wissenschaft und Kunst, 28. 6. 1994. 36 Privatarchiv Andrzej Bodek, Stadtkämmerei an das Amt für Wissenschaft und Kunst, 18. 4. 1994. 37 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /19, Magistrats-Beschluss Nr. 1241 vom 15. 7. 1994.

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sischen Ministerpräsidenten mit dem Ansinnen, das Land solle sich in gleicher Höhe wie die Stadt an den laufenden Kosten beteiligen – es ging um 400.000 Mark pro Träger, für das Land inklusive der abgeordneten Lehrkräfte. Das Stiftungsvermögen von 600.000 Mark sollte von Stadt, Land und Förderverein zu gleichen Teilen eingebracht werden.38 Damit sollte die politische Verantwortung für das Projekt und die Finanzierung desselben, die beide bis dahin ausschließlich von der Stadt Frankfurt getragen worden waren, auf mehrere Schultern verteilt werden. Nach einigen Verhandlungen sagte das Land zu; man war jetzt in der Lage, zum Juli 1995 Werner Renz als Dokumentar ans Institut zu holen, der schon 1994 an einer Publikation zum Sonderkommando in Auschwitz mitgewirkt hatte. Im selben Jahr erhielt auch Werner Lott eine Festanstellung als Büroleiter. Am 30. September 1996 konstituierte sich der Wissenschaft­ liche Beirat des Fritz Bauer Instituts, der sich in einer öffent­lichen Veranstaltung den Mitgliedern des Fördervereins vorstellte. Ihm gehörten an: Aleida Assmann, damals an der Universität Konstanz; Norbert Frei vom Institut für Zeitgeschichte München; Peter Hayes von der Northwestern University Chicago; Friedrich Kahlenberg, Direktor des Bundesarchivs; Ruth Klüger, Überlebende von Auschwitz und anderer Lager, die ohne ihre akademische Anbindung an die University of California in ­Irvine erwähnt wurde; Volkhard Knigge, inzwischen Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora; Ilany Kogan, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin aus Israel; Krystyna Oleksy, die stellvertretende Direktorin des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau; Michael Stolleis vom MaxPlanck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main und Silke Wenk von der Universität Oldenburg. Von den vielen Plänen und Konzepten ist nicht alles realisiert worden. So wurde beispielsweise nie ein Kolleg eingerichtet, 38 Archiv des Fritz Bauer Instituts, HA GG /19, Linda Reisch und Werner Schneider-Quindeau mit identischen Schreiben an Armin Clauss, Roland Koch, Rupert von Plottnitz und Ruth Wagner, 27. 9. 1994.

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Abb. 3: Der Wissenschaftliche Beirat des Fritz Bauer Instituts besichtigt am 1. Oktober 1996 das IG Farben-Haus V.l.n.r.: Michael Stolleis, Aleida Assmann, Norbert Frei, Irmtrud Wojak (stellvertretende Direktorin des Instituts), Ilany Kogan, Hanno Loewy (Direktor des Instituts), Micha Brumlik, Volkhard Knigge, Gottfried Kößler (Mitarbeiter des Instituts), Werner Renz (Mitarbeiter des Instituts), Krystyna Oleksy, Silke Wenk, Andreas Knapp (Mitarbeiter des Instituts) Fotograf: unbekannt, © Fritz Bauer Institut

eine Ausstellung zum Auschwitz-Prozess kam erst 2004 – dann auch nicht als dauerhaftes Instrument für die Bildungsarbeit, sondern als Wechselausstellung. Das Institut hat in den 25 Jahren seines Bestehens jedoch viele Veranstaltungen, Tagungen, Forschungsprojekte, Publikationen und auch Wechselausstellungen realisiert. Die pädagogische Abteilung hat neuartige Konzepte zum Lernen über den Holocaust in der Migrations­ gesellschaft, zu Fragen von Politik und Gedenken und zur Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus erarbeitet. Namentlich Gottfried Kößler hat zudem dazu beigetragen, das Profil des Fritz Bauer Instituts zu schärfen, unter anderem indem er darauf drängte, einen weiteren Ort für die politische Bildung zu schaffen, was mit der Gründung der Jugendbegegnungsstätte

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Abb. 4: Katharina Rauschenberger hält den Festvortrag zur Gründungsgeschichte des Instituts Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Anne Frank (heute Bildungsstätte Anne Frank) geschah. Sie wurde am 15. Juni 1997 eröffnet. Das Institut hat auch intensive Krisenzeiten erlebt, in denen seine Existenz gefährdet war. Sie waren unter anderem der Ausschlag dafür, eine institutionelle Anbindung an die GoetheUniversität zu suchen. War die Haltung des Historischen Seminars der Johann Wolfgang Goethe-Universität, wie sie damals noch hieß, in den 1990er Jahren zu der neuen Institution eher abwartend distanziert, hat das Institut seitdem jedoch in der historischen Forschung Anerkennung gefunden. Heute stellen die Abkehr von einer Erinnerungskultur, wie sie sich insbesondere seit den 1990er Jahren etabliert hat, und das Leugnen von Erkenntnissen historischer Forschung das Fritz Bauer Institut erneut und nicht weniger scharf als in der Anfangsphase vor die Frage, was es zu leisten imstande ist. Was die Protagonisten der Institutsgründung von Anfang an befürchteten – das Wiederaufleben eines ungebremsten Nationalismus –

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mündete in einen »Vereinigungsrassismus«, mit dem überall in Deutschland wieder Wahlen gewonnen werden können.39 Wir sind also ebenso wie Mitte der 1990er Jahre angehalten, aktuelle Erscheinungen zu analysieren und in ihrem historischen Kontext zu verstehen. Dafür war die Professionalisierung durch die Einrichtung der Professur zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust 2017 ein notwendiger Schritt. Daneben werden weiter der interdisziplinäre Austausch mit anderen Forschungsrichtungen und die Vermittlung dieser Erkenntnisse in die Öffentlichkeit die wichtigsten Aufgaben für das Fritz Bauer Institut bleiben.

39 Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina, Maik Tändler: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019, S. 16.

DAS FRITZ BAUER INSTITUT 1995 UND 2020 Bedingungen und Formen der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen – damals und heute

Podiumsdiskussion mit Jutta Ebeling, Norbert Frei, Hanno Loewy, Gottfried Kößler, Volkhard Knigge und Sybille Steinbacher am 16. Januar 2020 in der Goethe-Universität Frankfurt am Main

Steinbacher  Ich begrüße Sie, sehr verehrte Gäste im Saal, und Sie, unsere Gäste auf dem Podium, sehr herzlich.1 Im ersten Teil der Podiumsdiskussion soll es um den Blick auf die 1990er Jahre gehen: auf die damaligen politischen und gesellschaft­ lichen Diskussionen zum Umgang mit der NS -Zeit und um die Frage, inwiefern sie für die Gründung des Fritz Bauer Instituts eine Rolle gespielt haben. Im zweiten Teil richten wir den Blick auf die Gegenwart und die Frage nach den aktuellen Bedingungen der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen und deren gesellschaftliche und politische Bedeutung in Deutschland heute. – Frau Ebeling, Sie waren in den 1990er Jahren Dezernentin für Bildung in der Stadt Frankfurt und in die Diskussionen um die Gründung des »LDZ «, wie das zu schaffende Institut damals genannt wurde, unmittelbar involviert. Wie haben Sie sie im Gedächtnis und wie haben Sie die Entstehungsphase des Instituts beziehungsweise des Lern- und Dokumentationszentrums wahrgenommen, die Frau 1 Die Podiumsdiskussion wurde auf Video aufgezeichnet. Die Abschrift besorgte Gudrun Weidner, der dafür ebenso herzlich gedankt sei wie Manuela Ritzheim, die für den Abgleich von Text und Aufnahme sorgte. Der Text wurde für die Veröffentlichung in diesem Band leicht überarbeitet.

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Abb. 1: Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz Bauer Instituts und Inhaberin der Professur zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Rauschenberger in ihrem Vortrag gerade eindrücklich geschildert hat? Eine zweite Frage will ich daran anknüpfen: Sie sind seit sieben Jahren Vorsitzende des Fördervereins des Fritz Bauer Instituts, der damals bei der Gründung eine wichtige Rolle spielte. Woher kam dieses zivilgesellschaftliche Engagement? Ebeling  Ich fand den Vortrag von Frau Rauschenberger auße­rordentlich interessant. Vieles wusste ich nicht mehr und manches habe ich vielleicht auch noch nie gewusst, obwohl ich damals in der Entstehungszeit schon politisch tätig war. Wenn ich zurückdenke, dann würde ich gerne zeitlich noch ein wenig weiter zurückblicken. Wir hatten 1988 in Frankfurt eine Situation, in der es einen sehr scharfen ausländerfeindlichen Kommunalwahlkampf seitens der CDU gegeben hat. Das muss man in dem Kontext doch sagen: einen Wahlkampf mit auch latent antisemitischen Tönen. Es gab ein Plakat, das Daniel Cohn-Bendit zeigte, und es hieß dem Sinne nach, »der will uns

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unsere Heimat wegnehmen«; es waren schon sehr harsche Töne, die man sich heute wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen kann. Herr Gauland hat sie aber bewahrt bis heute. 1989 kam dann eine Aufbruchsituation mit Rot-Grün. Da passte dieses Projekt vom Lern- und Dokumentationszentrum in die politische Landschaft hinein, die durchaus schon polarisiert war. Wenn man sich die 1990er Jahre anschaut, mit der Frage »Was ist der Unterschied zu heute?«, die wir nachher diskutieren werden, dann muss man auf diese Anschläge schauen – Solingen, Hoyerswerda, Mölln. Sie waren ja nicht nur im Osten, das will ich hier unterstreichen. Und kein Politiker ist dort hingefahren, nur Ignatz Bubis war in Rostock-Lichtenhagen und hat seine Erschütterung öffentlich bekundet. In dieser Situation also hat die Institutsgründung natürlich eine hohe, auch hohe politische Bedeutung gehabt. Und der damalige Oberbürgermeister Volker Hauff hat dieses Projekt vorangetrieben, aus der tiefen Überzeugung heraus, dass die Aufarbeitung des Holocaust und die Wirkungsgeschichte des Holocaust in Frankfurt einen Platz haben müssen. Dass aus den gewünschten 24 Stellen am Ende nur zweieinhalb geworden sind, wie Frau Rauschenberger dargestellt hat, hatte 1993 auch mit der Situation zu tun, dass es um die Finanzen der Stadt Frankfurt dramatisch schlecht stand. Also wirklich dramatisch schlecht, und trotzdem hat man offenkundig nicht die Unterstützung beim Land und beim Bund gefunden, die es gebraucht hätte, um das Vorhaben von Anfang an gut aufzustellen. Die – wie soll man sagen – Halbherzigkeit ist zu viel; die Zögerlichkeit der damaligen Stadtregierung, das voranzutreiben, hatte möglicherweise allerdings nicht nur finanzielle Gründe, sondern könnte zudem etwas damit zu tun gehabt haben, dass Ausländerfeindlichkeit und latenter Antisemitismus auch in Frankfurt einen Ort hatten. Sicherlich nicht so wie in anderen Städten, aber auch hier gab es sie. Die Krisen, die das Fritz Bauer Institut später hatte, so würde ich sagen, waren nicht nur finanzieller Art. Und natürlich war es jeweils in diesen Krisensituationen von großer Bedeutung,

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dass die Stadtgesellschaft dieses Projekt mitgetragen hat, und zwar über den Förderverein. Er hatte am Anfang 40 Mitglieder, dann 350 im Jahr 1993 und dann 1995 mit Gründung des Instituts bereits 850. Heute pendeln wir uns etwa bei 1.000 ein, also: die Zahl ist gehalten worden. Der Förderverein hat das Institut gefestigt und hat auch die Erkenntnisse in die Stadt­gesellschaft getragen, die im Fritz Bauer Institut erarbeitet worden sind. Seine Rolle hat in der Organisation des Instituts dadurch Ausdruck gefunden, dass der Förderverein wirklich ein Träger des Instituts ist. Das ist ja nicht ein Förderverein, wie viele Institutionen Fördervereine haben, sondern wirklich einer der Träger des Instituts. Bis heute findet dieses bürgerschaftliche Engagement hier seinen Ausdruck. Ich denke, das ist auch das Wichtige und das Neue und Andere gewesen, was auch dann mit der Holocaust-Professur weitergeführt wird, dass das, was wissenschaftlich hier erarbeitet wird, dann über den Förderverein auch außeruniversitär diskutiert wird. Also insofern, wenn Sie [gemeint ist das Publikum] noch nicht Mitglied des Fördervereins sind, dann sollten Sie das sofort, unbedingt, jetzt gleich und heute werden, weil wir Sie alle brauchen. Ich werde nachher noch mehr zur heutigen Zeit sagen, aber man kann schon hier zwei Menschen danken, die auf dem Podium sitzen, nämlich Gottfried Kößler und Hanno Loewy, ohne die das Institut nicht das geworden wäre, was es heute ist. Steinbacher  Hanno Loewy, Sie sind der Gründungsdirektor des Instituts. Mich würde interessieren, wie Sie die Geschehnisse damals aus Ihrer Warte sahen. Wie sehr prägte das intellektuelle Gefüge, überhaupt die Streit- und Debattenkultur Frankfurts – Stichwort Börneplatz, Stichwort Faßbinder – die Diskussionen um das Institut? Es war ja sicher kein Zufall, dass das Institut in Frankfurt eingerichtet worden ist. Lutz Niethammer sprach damals enthusiastisch von einer »produktiven Störung«, für die es sorgen werde. Die Historiker an der Goethe-Universität hingegen reagierten alles andere als begeistert.

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43 Abb. 2: Hanno Loewy, Gründungsdirektor des Fritz Bauer Instituts Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Loewy  Ich würde den Dank gerne noch auf Andrzej Bodek ausdehnen. Wir haben vorhin sehr eindrucksvoll gehört, was nötig war dafür, dass wir heute hier sitzen. Als ich jetzt den Vortrag von Katharina Rauschenberger gehört habe, habe ich auch gedacht, da weiß ich vieles nicht mehr, und bei manchen Sachen bin ich sogar froh darum. Damit meine ich manche Dinge, die ich damals geschrieben habe. Ich war 28, als wir angefangen haben mit dem Projekt. Als Andrzej und ich an einem kalten Januartag 1990 im Vogelsberg spazieren gingen und eigentlich ohne wirklichen Auftrag, nur mit diesem im Raum stehenden Wort des Oberbürgermeisters, er hätte gern ein deutsches Holocaustmuseum in Frankfurt, versuchen wollten, sozusagen für dieses komische Flugzeug irgendwo eine Landebahn zu bauen, das war schon eine ziemliche Luftnummer, die wir da machen mussten. Und das zweite, was ich sehr, sehr spannend fand, ist dieser Briefwechsel mit Hermann Lübbe. Der Vortrag hat mich noch einmal intensiv daran erinnert. Der ist noch in einer ganz anderen Hinsicht symptomatisch, weil es wirklich ein sehr gepflegtes Aneinander-vorbei-Reden war – auf was für einem Niveau auch immer. Das Interessante daran war, dass Hermann Lübbe eine

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klassische totalitarismustheoretische Position vertrat und mich jetzt für einen Vertreter dieser These hielt, der Holocaust sei etwas Heiliges, Einzigartiges und darf mit nichts verglichen werden. Ich habe ihm damals nicht nur zurückgeschrieben, was Frau Rauschenberger zitiert hat, sondern vor allem auch, dass, wenn er denn vergleichen will, warum vergleicht er nicht die gewaltsame mörderische Industrialisierung Stalins mit dem »Bauernlegen«, mit den ebenfalls zum Teil gewaltsamen Formen der Industrialisierung im frühen Kapitalismus oder mit dem Aushungern der Iren durch die Engländer oder mit anderen historischen Ereignissen, die man genauso legitim zum Vergleich heranziehen kann. Darauf hat er gar nicht geantwortet. Das hat er überhaupt nicht verstanden: dass man Dinge miteinander vergleichen kann, die nicht gleichzeitig stattfinden oder die in seinem Weltbild nicht sowieso eins sind. Er hatte vor allem eines damals nicht verstanden, und das war, glaube ich, beim Januarspaziergang im Vogelsberg das, was uns eigentlich beschäftigt hat: Wir wollten tatsächlich vergleichen. Wir wollten die vielen verschiedenen Holocausts, die in den Köpfen, in den politischen Debatten waren, motiviert durch die verschiedensten politischen Interessen, Weltanschauungen, Ideologien und Systemgegensätze – politische Gegensätze, nationale Gegensätze –, wir wollten uns dieses historische Geschehen und seine Wirkungsgeschichte auch davon ausgehend betrachten, dass es ziemlich viele verschiedene Arten und Weisen gibt, den Holocaust den eigenen Interessen gemäß zu interpretieren. Lübbe hat das etwas böse Wort »Missbrauch« benutzt, nennen wir es einfach »Gebrauch«. Und diese kritische Perspektive mündete dann in den Buchuntertitel Die Besetzung der Geschichte.2 Norbert Frei hat mir gerade vorhin noch gestanden, wie ihn dieser Titel damals geärgert habe. Möglicherweise war das auch die Absicht, die wir mit dem Titel verfolgt haben. Wir wollten, glaube ich, damit 2 Hanno Loewy (Hrsg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Hamburg 1992.

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sehr viele Leute ärgern, von denen wir das Gefühl haben, dass sie alle dieses historische Ereignis in irgendetwas einbauen, weil sie damit etwas wollen, was tatsächlich mit dieser Geschichte gar nichts zu tun hat. Oder jedenfalls nur sehr wenig zu tun hat. Und das ist, glaube ich, die Perspektive, die die ganzen Projekte der ersten Jahre, die Tagungen, die Ausstellungen, all die Dinge geprägt hat, die wir dann versucht haben, mit wirklich sehr bescheidenen Mitteln in die Welt zu bringen. Immer wieder als Störung. Lutz Niethammer hat das tatsächlich ziemlich gut zusammengefasst, was uns damals als Projekt beschäftigt hat. Ich glaube allerdings, wenn ich mir die Welt heute anschaue, wäre diese kritische Perspektive auf die Art und Weise, wie mit dem Holocaust umgegangen wird, heute noch nötiger, als sie es damals war. Steinbacher  Noch ein Wort zu den Frankfurter Besonderheiten und auch zur Reaktion des Historischen Seminars der Goethe-Universität auf die Gründung des Instituts? Loewy  Es gab in Frankfurt eine sehr engagierte Debattenkultur, die tatsächlich mit dem Thema etwas zu tun hatte. Wenn man zurückschaut, ist da immer wieder dieses oft gebrauchte, missbrauchte und falsch verstandene Adorno-Zitat (das angebliche Verbot, Gedichte zu schreiben). Aber letztlich geht es darum, dass man im Reden über Auschwitz Auschwitz permanent in etwas verwandelt, was man eh schon kennt und kennen will. Darin liegt eben ein Problem. Und es hat etwas mit den Frankfurter Diskussionen zu tun, dass man hier eine kritische Perspektive einnimmt. Es hat auch etwas damit zu tun, dass es hier innerhalb der Jüdischen Gemeinde eine offene Streitkultur gab, offen nicht immer aus der Perspektive des Gemeindevorstands, aber offen, wenn man es von außen betrachtete. Man hat sich hier übrigens tatsächlich auch schon früh gegen die Indienstnahme des Holocaust innerhalb einer jüdischen Perspektive gewehrt und das in der Jüdischen Gruppe kritisch diskutiert, die heute auch schon genannt worden ist.

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Abb. 3: Norbert Frei, von 1996 bis 2001 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Fritz Bauer Instituts, und Sybille Steinbacher Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Also diese Diskussion hatte in Frankfurt mehr Bedeutung und mehr Potenzial als in anderen Orten in Deutschland. Es war also wirklich kein Zufall, dass diese Institutsgründung hier in Frankfurt passierte. An der Goethe-Universität hatte damals die Holocaustforschung – wir reden hier von einer Zeit vor 30 Jahren – wiederum keinen großen Stellenwert gehabt. Da war Frankfurt nicht alleine, aber natürlich gerade die Historiker in Frankfurt haben uns im Wesentlichen als Störung empfunden und null Interesse daran gezeigt, in irgendeiner Art und Weise in ein engeres Kooperationsverhältnis mit diesem neuen Institut zu treten. Wir hatten von Anfang an immer den Traum, irgendeine Art von interdisziplinärer Struktur mit der Uni gemeinsam zu bilden, die aber sozusagen dem Fritz Bauer Institut das Spielbein lässt, in der Öffentlichkeit, mit Ausstellungen und öffentlichen Projekten zu operieren, aber darüber reden wir später noch.

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Steinbacher  Herr Frei, was lässt sich über die Gründungs­ geschichte des Instituts im Lichte der Debatten der 1990er Jahre in der Auseinandersetzung über die NS-Zeit sagen? Als der Wissenschaftliche Beirat 1996 zusammengetreten ist, dessen Vorsitzender Sie waren, wurden ja hitzige Debatten in der Öffentlichkeit geführt: über die Wehrmachtsausstellung und über das Buch von Daniel Goldhagen, bald folgte der Walser-BubisKonflikt. Spielte all das eine Rolle während der Gründung und für die Ausrichtung der Arbeit des Instituts, die der Wissenschaftliche Beirat begleitet hat? Frei  Als der Wissenschaftliche Beirat zum ersten Mal zusammentrat – das klingt jetzt vielleicht ein bisschen komisch –, hatte das mit den aktuellen geschichtspolitischen Debatten nicht viel zu tun. Ich habe gestern aus dem ungefähr halben laufenden Meter meiner Akten zum Fritz Bauer Institut das Protokoll unserer ersten Beiratssitzung herausgesucht. Wir hatten eine sehr intensive Diskussion. Da kamen nochmals die Forderungen aus dem Gründungspapier aufs Tapet, und der Beirat versuchte, den frustrierten zweieinhalb Mitarbeitern klar­ zumachen, dass es jetzt darum gehe, nicht weiterhin alles zu fordern, sondern Boden unter die Füße zu kriegen und das Ganze auf eine gewisse Kontinuität hin anzulegen. Das waren harte Kämpfe, um von den hochfliegenden Ambitionen zum Möglichen und Machbaren zu kommen. Einen ganzen Vormittag lang haben wir über die Frage Stiftungsprofessur diskutiert und ob es nicht besser wäre – ich glaube, das war dann mein Begriff –, eine Stiftungsgastprofessur anzustreben. Denn es war ja klar, dass der interdisziplinäre Anspruch, den Hanno Loewy und seine Mitstreiter im Kopf hatten und der ja auch richtig und wichtig war, sich mit der Logik der Universität und zumal mit der Logik der hiesigen damaligen Historiker schlecht vertrug. Aber gehen wir noch einmal zurück zu dem Internationalen Hearing 1991, zu dem ich eingeladen war – für mich war das auch eine Art Rückkehr in meine Heimatstadt – und zu dem ich mir jetzt auch die Akten noch einmal angeschaut habe. Im ersten

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Programmentwurf findet sich ja noch der Name von Lothar Gall, also des langjährigen Platzhirschs unter den Frankfurter Historikern.3 Er steht neben dem von Alexander Gauland, der einem heute sofort ins Auge sticht, Frau Rauschenberger hat es gesagt. Im Unterschied zu Gall kam Gauland dann tatsächlich auch und hat, kultiviert und kenntnisreich, eine klar liberal-konservative, sozusagen popularisierte Lübbe’sche Transformationsformel vorgetragen. Würde er das heute alles so sagen, würde man wohl denken: Na gut, das ist halt eine bildungsbürgerliche Perspektive, mit der man leben kann. Aber was im Nachhinein symptomatisch erscheint: Nicht präsent bei dem Gründungshearing war die Kollegenschaft des Historischen Seminars der Universität Frankfurt. Und von daher war es eigentlich über Jahre hinweg die Aufgabe des Wissenschaftlichen Beirats, so würde ich sagen, die Reputationsgewinnung dieses Instituts, das mit »produktiver Störung« auch aus deren Sicht vermutlich milde beschrieben war, zu befördern, nicht nur in die Stadtgesellschaft hinein. Denn in der Stadt, das war ja das Tolle, wurde die Störung ja dankend ­angenommen und von vielen unterstützt. Aber die harte Nuss, das war die Universität, und die zu bearbeiten, war unser langjähriges Hauptgeschäft als Wissenschaftlicher Beirat. Darüber sind wir natürlich manchmal auch mit Hanno Loewy aneinandergeraten. Denn was wir von außen doch relativ klargesehen haben, das, glaube ich, habt ihr als Vogelsberger Gründungsgruppe so nicht gesehen: Wie weit wir mit dem Lern- und Dokumentationszentrum ja eigentlich schon waren. Wir hatten die Stadtgesellschaft auf unserer Seite, aber das Geld war damals wirklich knapp. Insofern war es vielleicht nicht besonders zwingend, 12 bis 15 Kollegiaten zu fordern. Insgesamt hat sich die Sache aber dann doch relativ schnell in eine gute und richtige Richtung entwickelt. Das Institut war eben nicht nur – das wäre jetzt die zeitgeschichtliche Kontextu3 Lothar Gall war von 1975 bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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alisierung – in dieser Stadt gewissermaßen fällig, sondern es war in der Bundesrepublik fällig. Frankfurt war im Umgang mit der NS -Vergangenheit ja in gewisser Weise seit den späten 1950er Jahren Avantgarde, da herrschte eine andere politische Kultur als etwa in München, wo ich das lange beobachten konnte und wo es sehr viel länger dauerte, ein NS -Dokumentationszentrum einzurichten, obwohl es, weiß Gott, triftige Gründe gegeben hätte, Tempo zu machen. Gewiss, es gab schon seit den 1980er Jahren lokale Initiativen, etwa im Ruhrgebiet, aber die Fokussierung auf den Holocaust wie in Frankfurt seit den frühen 1990er Jahren, das war schon etwas Besonderes. Und es gehört in den Kontext einer Entwicklung, die dann am Ende des Jahrzehnts in Berlin zum Bau des Holocaustdenkmals führte. Die Frankfurter Initiative war in diesem Sinn Teil und Ausdruck der Bewusstwerdung der deutschen Gesellschaft mit Blick auf den Holocaust. Die sogenannte Täterforschung war schon voll im Gang, das einschlägige Buch von Christopher Browning kam 1992 heraus,4 1996 entbrannte dann die GoldhagenDebatte.5 Vor diesem Hintergrund und in diesem Kontext hat der Wissenschaftliche Beirat gearbeitet, in langen, manchmal schier endlosen Sitzungen, aber immer im Bewusstsein, dass wir über die Richtigkeit und die gesellschaftliche Bedeutung der gemeinsamen Sache gar nicht weiter reden müssten, weil sie sich in diesem Gremium von selbst verstand. Steinbacher  Herr Knigge, auch an Sie die Frage, wie Sie die Geschehnisse damals wahrgenommen haben. Sie sind ja 1994 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und MittelbauDora geworden. Die 1990er waren eine Zeit des Umbruchs in der Gedenkstättenlandschaft. Mich würde interessieren: Spielten diese Zusammenhänge für die Institutsgründung eine Rolle, 4 Christopher Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992 (deutsche Ausgabe 1993). 5 Daniel Jonah Goldhagen: Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996 (deutsche Ausgabe 1996).

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zum Beispiel gerade in der Vermittlungsarbeit, die ja ein wichtiges Standbein des Instituts war. Und die Benennung nach Fritz Bauer: Wie bekannt war denn Fritz Bauer damals eigentlich? Knigge  Fangen wir mit Letzterem an: Fritz Bauer kannte so gut wie keiner. Er gehörte noch nicht wie heute – man denke an die beiden Spielfilme über ihn und den Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 – zu den Gründungshelden einer durch Aufarbeitung sich vom Nationalsozialismus lösenden »neuen« Bundesrepublik, wie er heute dargestellt wird. Damals musste man ihn kennen wollen und sich gegebenenfalls noch rechtfertigen, warum ein »Nestbeschmutzer« Orientierungsfigur für Deutsche sein sollte. Und damit bin ich vielleicht ein bisschen bei meinem Zugang. Ich kannte das Fritz Bauer Institut, Hanno Loewy und Gottfried Kößler schon vor dem Beginn meiner Arbeit in Buchenwald und Mittelbau-Dora, also vor 1994. Ich hatte ja nicht geplant, überhaupt dort je Direktor zu werden. Ich habe das Fritz Bauer Institut kennengelernt – und das ist mein erster Zugang zu diesem Institut – als ein Forum, das Raum gab, in einem transdisziplinären Diskurs – Geschichte, Pädagogik, Gesellschaftswissenschaft, Ästhetik – Ziele, Kategorien und Begriffe zu entwickeln für institutionalisiertes selbstkritisches Erinnern in und mit der Gesellschaft. Ich bin dazu gekommen über das zusammen mit Detlef Hoffmann, Jörn Rüsen und anderen ab Ende der 1980er Jahre verfolgte Forschungsprojekt »Vergegenständlichte Erinnerung. Denkmale auf den Geländen ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager«. Eine Frage war: Wie wurden aus diesen Lagern nach der Befreiung überhaupt Gedenkstätten? Das Projekt hatten wir konzipiert vor dem Hintergrund einer Tagung in Auschwitz »Kunst und Holocaust«, an der die wenigen aus Ost und West teilgenommen hatten, die sich überhaupt mit den in den KZ s und Vernichtungslagern entstandenen Bildern aus Häftlingshand beschäftigt hatten.6 Und 6 Vgl. »Ich vermisse die Aufbruchstimmung der 90er.« Hanno Müller im Gespräch mit Volkhard Knigge über Arbeitserfahrungen in

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Abb. 4: Volkhard Knigge, bis April 2020 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, und Norbert Frei Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Hintergrund war auch der erschütternde Befund, dass in der Bundesrepublik so gut wie niemand – weder aus der Geschichtswissenschaft noch aus der Kunstgeschichte noch aus sonst infrage kommenden Fächern – damals hätte substanziell sagen können, in welchen ästhetischen Formen und (gebrochenen) Denkmalstraditionen und mit welchen Argumenten die Erfahrungen der Ausgrenzung, der Verfolgung und der Lager überhaupt repräsentiert worden sind. Einzig das von Ulrike Puvogel und der Bundeszentrale für politische Bildung vorgelegte Verzeichnis von auf den Nationalsozialismus bezogenen Gedenkstätten in der Bundesrepublik gab eine rudimentäre Orientierung.7 Ein hisBuchenwald, in: Volkhard Knigge: Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Axel Doßmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Göttingen 2020, S. 451-481, hier: S. 460 f. 7 Ulrike Puvogel: Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bonn 1987.

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torisch und kunstgeschichtlich kommentiertes Inventar entsprechender Denkmale, Denkmalvorhaben und damit verbundener Konflikte war ein Desiderat. Vor diesem Hintergrund entstand dieses Forschungsprojekt, mit einer ähnlichen Erfahrung, wie Norbert Frei sie eben beschrieben hat. Der Forschungsantrag – auch das noch zum Zeithintergrund – ist fast zwei Jahre durch die VW -Stiftung mäandert. Für die auf Schriftquellen fokussierte Geschichtswissenschaft steckte in der Quellengattung Bild/ Denkmal damals wohl noch zu viel Kunst und umgekehrt für die Kunstgeschichte zu viel (unschöne) Geschichte. Und für die Verbindung beider Dimensionen mit Fragen der gesellschaft­lichen Bewusstseinsbildung, der Vermittlung und Bildung fühlten sich beide Fächer nicht wirklich zuständig. Schließlich haben wir für ein Jahr Geld für eine vergleichende Pilotstudie bekommen – Polen, DDR , Bundesrepublik, Frankreich – und darüber sind wir mit Hanno Loewy und dem Fritz Bauer Institut in Gründung in Verbindung gekommen. Es haben uns ja genau die Fragen in diesem Forschungsprojekt beschäftigt, die Kernfragen auch für die Konzeptualisierung des Fritz Bauer Instituts waren, nämlich erstens die historische Forschung zur Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust, zweitens die Verbindung von Forschung und Pädagogik beziehungsweise Vermittlung einschließlich Vermittlung als öffentlicher Intervention, aber auch als Lehrerfortbildung beziehungsweise als das, was man dann später Gedenkstättenpädagogik nannte und was etwa von Gottfried Kößler und dem pädagogischen Bereich des Fritz Bauer Instituts mitentwickelt worden ist. Und dann drittens aber auch die Frage der Repräsentation der Verbrechen und die Würdigung der Verfolgten in Formaten der Kunst und des Ästhetischen, etwa durch Denkmale oder durch künstlerische Auseinandersetzungen und Vergegenwärtigungen. Das war genau dieser Zuschnitt. Und das zweite, was uns verband, war Folgendes – und das muss man von heute aus sehen, wo es schwindet, es steckt in der Beschreibung von Lutz Niethammer: Das Institut sollte eine Störung sein, den Bruch offenhalten, für den Auschwitz konkret und symbolisch steht, »Versöhnung« ohne

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konkrete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Trägern und Nutznießern verhindern, die Kontinuitäten nach 1945 aufdecken, die »Gnade der späten Geburt« infrage stellen und die selbstkritische Befragung der Gegenwart im Licht der verheerenden geschichtlichen Erfahrung stärken. Das Fritz Bauer Institut sollte kein Ort affirmativer Selbstberuhigung ein für alle Mal gelungener Aufarbeitung sein, kein Ort routinierten Erinnerungsjargons und auch kein Ausweis »geheilter«, »normalisierter« nationaler Identität. Es ging vielmehr um Begreifen, Vermitteln, Reflexion, Bewusstsein, gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Und das ist genau das, um was es heute wieder gehen muss. Es ging zum Beispiel nicht einfach um sentimentalische Identifikation mit Opfern, von denen man nicht einmal mehr sagen kann oder will, wer sie warum zu Opfern gemacht hat. Das war und ist natürlich auch eine Herausforderung für Gedenkstätten. Es ging damals schon um etwas, was ich heute explizit nennen würde: historisches Begreifen. Es ging um die Wer-, Warum-, Weshalb-Fragen. Es ging, paradox formuliert, um das Nichtidentische, das Beunruhigende an nationaler Identität. Es ging nicht um Aufarbeitungsstolz und Pathos, sondern die produktive Wahrung von Fassungslosigkeit und geschichtsbewusster Sensibilität als Kraftquellen für die Stärkung und Fortentwicklung demokratischer Kultur und staatlicher Verfassung. Im Blick auf Gedenkstätten und das Fritz Bauer Institut damals gibt es aber noch etwas Gemeinsames. Das Fritz Bauer Institut hätte es trotz des ersten Anlaufs nicht gegeben, wenn der damalige Mitarbeiter der Stadtverwaltung Andrzej Bodek nicht auf eine halbe Stelle gegangen wäre, um so die Finanzierung der Weiterbeschäftigung von Hanno Loewy zu sichern, und wenn nicht die Zivilgesellschaft eingesprungen wäre. Auch die institutionelle, staatlich mitgetragene Sicherung, Finanzierung der KZ -Gedenkstätten in der Bundesrepublik und ab 1999/2000 die Gedenkstättenförderkonzeption des Bundes hätte es wohl kaum gegeben ohne die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten und damit die Übernahme der großen Nationalen

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Mahn- und Gedenkstätten der DDR  – Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen. Zwar gab es um 1980 mehr und mehr Initiativen für die Umwandlung der »vergessenen Lager« zu Gedenkstätten, aber die 1990 existierenden KZ -Gedenkstätten waren – wenn überhaupt – eher Friedhöfe als Lernorte, standen finanziell auf wackeligen Beinen, verfügten kaum über Personal und adäquate institutionelle Strukturen wie Archiv, Sammlung, Pädagogik, Forschung, Museologie usw. Dachau etwa war quasi exterritorialisiert und von Bayern in die Zuständigkeit des Internationalen Dachau Komitees der Überlebenden übergeben worden, während die staatliche Verwaltung der Bayerischen Schlösser, Gärten und Seen nur für die Geländepflege zuständig war. Außerdem waren große Teile des ehemaligen KZ überbaut und wurden, auch von der Polizei, nachgenutzt und waren nicht zugänglich. Erst 1995 – aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung – hat ein bayerischer Ministerpräsident die Gedenkstätte besucht und an einer Befreiungsfeier teilgenommen. Die großen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR abzuwickeln oder auf das Maß der Bundesrepublik herunter­ zufahren, wäre aber nach 1990 gesellschaftlich und (außen-) politisch nicht mehr möglich gewesen. Immerhin hatte sogar die erzkonservative britische Premierministerin Margaret Thatcher mit Blick auf die Vereinigung vor einem »Vierten Reich« gewarnt. Kurzum, die Entwicklung der KZ -Gedenkstätten in der Bundesrepublik hat zwar eine intrinsisch motivierte Dimension, aber auch eine extrinsisch-funktionale, sie ist zu einem erheblichen Teil über die Bande gespielt in Gang gesetzt worden. Auch wenn man die zeitliche Koinzidenz der Entwicklung von Fritz Bauer Institut und KZ -Gedenkstätten im Nachhinein als Glücksfall betrachten kann und die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements in beiden Fällen nicht unterschätzt werden soll, bleibt ein erhebliches Moment der Kontingenz und des nationalpolitischen Funktionalismus, die eine glatte, quasi heroische Erzählung vom reinen – staat­lichen – Willen zur entschiedenen historischen Selbstaufklärung und -selbstkritik konterkarieren. Um so wichtiger war, dass es das Fritz Bauer Institut

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als Reflexions- und Diskursort gab, um die Chancen der Zeit zu nutzen und der historischen Verantwortung tatsächlich gerecht zu werden. Etwa auch durch eine adäquate Konzeptualisierung von KZ -Gedenkstätten, nämlich als eine besondere Form zeithistorischer Museen. Museen, das meinte nicht abschließende Musealisierung, Historisierung des Nationalsozialismus, sondern sie müssen sammeln, bewahren und erschließen können, zu anwendungsbezogener historischer Forschung in der Lage sein als Voraussetzung fürs Ausstellungmachen und Vermitteln. Sie müssen mehr sein als stille Denkmale und Friedhöfe. Mit besondere Museen war gemeint, durch Gestaltung, Angebote, Betrieb aber keineswegs vergessen zu machen, dass sie auch Tat- und Leidensorte sind, dass sie konkret und symbolisch Friedhöfe sind und dass sie einen spezifischen Bildungsauftrag haben, der bei aller Diskursivität und Methoden- und Zugangsvielfalt in seiner politisch-sittlichen Substanz nicht verhandelbar ist. Solche und ähnliche Debatten, auch in Bezug darauf, was Bildungsarbeit an diesen Orten überhaupt leisten kann, konnte man damals nur führen in einem kleinen Kreis von Kolleginnen und Kollegen in den Gedenkstätten, aus Hochschulen oder in Initiativen, und das Fritz Bauer Institut war auf seine Weise ein Kristallisationspunkt. Ja, das ist für mich eigentlich das damals wirklich Wichtige am Fritz Bauer Institut gewesen. Sich heute darauf zurückzubesinnen, kann resistent machen gegen die Auszehrung von Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit durch Fixierung auf ihre affirmativ-repräsentative Dimension beziehungsweise ihre moralpädagogische Engführung. Beides reicht angesichts der Wiederbelebung – und parlamentarischen Einnistung – antidemokratischen, ethnonationalistischen Denkens und politischen Agierens mit allen aggressiven Folgen nicht aus. Steinbacher  Herr Kößler, das Stichwort »Pädagogik am Menschen« ist gefallen. Sie haben damals gemeinsam mit Jacqueline Giere in der pädagogischen Arbeit des Instituts etwas völlig Neues gemacht: Sie haben Handreichungen für Lehrkräfte

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arbeitet und Unterrichtsmaterialien zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust erstellt. Zugleich waren Sie weiterhin als Lehrer tätig. Welche Erfahrungen haben Sie in der Schule mit dem Thema gemacht und wie erinnern Sie sich an die Gründungszeit des Instituts? Kößler  Zum Glück hat Volkhard Knigge eben die wesentlichen theoretischen Grundlagen schon abgearbeitet. Ich möchte nur auf eine Kontinuität hinweisen, die hat auch etwas mit meiner biografischen Erfahrung in Frankfurt zu tun. Gemeint ist Detlef Hoffmann, weil ich ihn am Historischen Museum in Frankfurt kennengelernt habe. Seine Art und Weise, historische Ausstellungen zu konzipieren, dabei mit Interviews zu arbeiten, die Personen, die in der Ausstellung verhandelt werden, selber zu Akteuren zu machen, das hat mich sehr geprägt in meinem Blick darauf, was Museumsarbeit und auch Bildungsarbeit eigentlich ist.8 Von daher zieht sich ein Strang theoretisch reflektierter Vermittlungsarbeit durch. Zur Frage nach der Schule: Ich war tatsächlich von 1983 an erst einmal hauptsächlich Lehrer in Frankfurt und habe zweierlei miterlebt: nämlich einerseits die Entdeckung der jüdischen Regionalgeschichte auf dem Weg über die Erforschung der Biografien der Emigranten, die in den kommunalen Einladungs­ programmen für ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger auftauchten. Das geschah in einer Arbeitsgruppe, die es auch heute noch gibt. Gleichzeitig fand auch die Veränderung oder die Entdeckung der Veränderung der Schülerschaft statt. Die Tatsache, dass sich die verschiedenen Gruppen in meinen Oberstufenkursen gegenseitig als »Jugo« und »Kümmeltürke« bezeichneten und sich dabei kaputtlachten, war mir erst nach einiger Zeit als eine Besonderheit der aktuellen Situation auf8 Vgl. Detlef Hoffmann, Doris Pokorny, Albrecht Werner (Hrsg.): Arbeiterjugendbewegung in Frankfurt 1904-1945. Material zu einer verschütteten Kulturgeschichte. Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main 1978.

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Abb. 5: Gottfried Kößler, pädagogischer Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts von 1995 bis 2019, und Jutta Ebeling, Vorsitzende des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. von 2013 bis 2022 Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

gefallen. Uns Lehrkräften ist während der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren deutlich geworden, dass wir tatsächlich darüber nachdenken müssen, was dieses Geschehen »dort unten« für die Unterrichtsinhalte bedeutet. Unter den Schülerinnen und Schülern waren Leute, die in ihren Familien Erfahrungen machten, die aktuell und direkt mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind. Solche Themen lassen sich nicht einfach als historische behandeln, da sie gewissermaßen in der Lerngruppe ausgehandelt werden. Kurz zu meinen ersten Kontakten zu Hanno Loewy und dem Arbeitszusammenhang des Instituts: Der erste Kontakt entstand in der Arbeit an der Ausstellung zum Ghetto Łódź. Als sie im Jüdischen Museum erarbeitet wurde, war ich gerade mit vier oder fünf Wochenstunden ans Historische Museum abgeordnet worden als »Lehrer im Museum«. In dieser Funktion wurde ich angefragt, ob ich nicht bei der Vorbereitung der Institutsgründung mithelfen wollte. Und so sind wir, es waren

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noch mehrere Lehrkräfte dabei, sozusagen da hineingeraten. Das war einerseits Arbeit mit Quellen, denn Hanno Loewy und Andrzej Bodek hatten auf abenteuerliche Weise direkt Quellen aus Łódź nach Frankfurt transferiert, mit denen man arbeiten konnte. Und diese Quellen haben wir als pädagogische Arbeitsmittel benutzt. Diese Tätigkeit war für mich die erste Erfahrung mit der jüdischen Perspektive auf das Mordgeschehen des Holocaust. Diese grundsätzliche didaktische Perspektive hat die Arbeit im Fritz Bauer Institut maßgeblich geprägt. Es geht um Per­ spektivenübernahme – das ist der Unterschied zu der Art und Weise, wie damals üblicherweise über die NS -Geschichte und den Holocaust Bildungsarbeit gemacht wurde. Die jüdische Perspektive muss tatsächlich als eine andere gedacht werden, und man hat diese Perspektivierung immer mitzudenken, wenn man konzeptionell an der Vermittlung von Geschichte arbeitet. Dies sind in meinem Verständnis die zentralen Anforderungen an die moralische Bildung. Sie prägten meine Beschäftigung mit dem Themenfeld und auch die Arbeit später im Fritz Bauer Institut und dann im Jüdischen Museum. Jetzt zur Gründungsgeschichte: Für mich ist da die Rolle des Fördervereins eine besondere. Andrzej Bodek hat mir dieser Tage eine Quelle zugeschickt, ein Protokoll der Besprechung vor der Gründungsinitiative im Dezember 1992. Da war ich schon Schriftführer im Vorstand des Fördervereins, das war ich dann ziemlich lange, und da ging es interessanterweise überhaupt nicht um Inhalte, sondern darum, dass man jetzt Geld beschaffen solle und der Förderverein dafür da sei, das zu organisieren, weil die politische Situation so war, wie sie war, ähnlich wie Norbert Frei das geschildert hat aus der Sicht des Wissenschaftlichen Beirats. Die Grundlage, also der inhaltliche Horizont war klar. Es ging immer um die konkreten Dinge, das war der Impuls für den Förderverein. Die Mitgliederzahl wuchs und das Stiftungsgeld wurde zusammengetragen. Die Grundidee – und das finde ich sehr wichtig, das hat Jutta Ebeling vorhin auch schon gesagt – war, dass der Förderverein als

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bürgerschaftliches Element von vornherein in dieser Stiftung präsent sein sollte, um zu verhindern, dass politische Konjunkturen und Konstellationen dieses Institut, das da zu gründen war, immer wieder aus dem Gleis bringen würden. Das war die Idee, und die Rolle nimmt der Förderverein ja nach wie vor wahr – und mit großer Energie. Anekdotisch möchte ich beisteuern: Als die Gründung eigentlich schon durch war, machten wir die Erfahrung – Hanno Loewy, Jacqueline Giere und ich, später waren ja noch ein paar Leute mehr dabei, von denen noch heute Werner Lott und Manuela Ritzheim im Fritz Bauer Institut arbeiten –, dass von außen alle den Eindruck hatten, wir seien jetzt eine größere Institution und man könne die entsprechenden Abteilungsleitungen ansprechen, wenn irgendetwas zu klären sei. Es hieß dann, man solle doch mal eben Gutachten oder Tagungen vorbereiten. Das war eine Erfahrung, mit der wir immer wieder zu tun hatten, und von daher waren wir dem Wissenschaftlichen Beirat nicht undankbar, dass er mitgeholfen hat, diese Anforderungen einzufangen. Da hatten Jacqueline Giere und ich die pädagogische Aufgabe nach innen, dafür zu sorgen, dass die Motivation nicht verloren geht, aber der Realitätsbezug ebenso wenig. Ein Punkt, der ebenfalls wichtig ist, um die Wirksamkeit und auch die Ausrichtung der pädagogischen Arbeit des Instituts zu zeigen, die ja den interdisziplinären Anspruch eigentlich ohne Widerstand durchsetzen konnte, betrifft die Organisation der Lehrerbildung. Anders als auf der Forschungsebene und in Bezug auf die Universität, wo das nicht möglich war, hatten wir als Fortbildner große inhaltliche Freiheiten. In Hessen war die Lehrerfortbildung in den 1980er Jahren bis Mitte der 1990er als kooperatives Projekt organisiert. Es waren einwöchige Seminare, bei denen Lehrkräfte sich in einem Tagungshaus versammelten. Das Ergebnis sollte am Schluss sein, dass ein Paket von Unterrichtskonzepten, hektografiert damals, zur Verfügung stand, das auch von anderen Lehrkräften im Land benutzt werden konnte. Diese Praxis hat sehr lange funktioniert und war für viele eine

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wichtige Bildungseinrichtung. In diesem Kontext haben wir dann gemeinsam mit Facing History and Ourselves, dem amerikanischen Holocaust Education Institut, über Jahre hinweg solche Wochenseminare gemacht. Wir versuchten, in einem gemeinsamen Prozess mit den Lehrkräften, die daran teilnahmen, zu verstehen, was von diesem Ansatz für den deutschen Kontext sinnvoll war. Denn das US-amerikanische Programm konnte für den deutschen Kontext nicht umstandslos übernommen werden. Der Ansatz kam aus der Bürgerrechtsbewegung, er nutzt den Holocaust als Exempel, um die pädagogische Auseinandersetzung mit den Menschenrechten zu stimulieren. Die Seminare des Fritz Bauer Instituts loteten aus, was davon übertragbar wäre und was nicht. Ein zentrales Thema ist auch heute noch der Umgang mit den Erzählungen von Überlebenden. Hier zeigte sich in der intensiven Beschäftigung mit den Quellen, dass die Lehrkräfte sich emotionalen, auch familiengeschichtlichen Fragen stellen mussten. Der angesichts der rassistischen Pogrome der 1990er Jahre in der Öffentlichkeit formulierte Auftrag, dass die Holocaust Education zu einer moralischen Orientierung der Jugend führen müsse, begleitete bereits diese Phase des Fritz Bauer Instituts. Das Konzept Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust war das Ergebnis dieser Suchbewegung.9 Früh hatte der Wissenschaftliche Beirat geraten, für dieses Konzept das Thema »Volksgemeinschaft« in den Blick zu nehmen. So wurden zwei Innovationen in Bezug auf die Vermittlung der NS-Geschichte für das Fritz Bauer Institut prägend: das Bewusstsein von der Heterogenität der Lernenden und der Anspruch, den Nationalsozialismus als rassistisches Projekt der Mehrheitsgesellschaft zu verstehen. 9 Neben dem Weiterbildungsangebot erarbeitete die Pädagogische Abteilung des Fritz Bauer Instituts eine Publikationsreihe von sechs Heften mit Quellen und methodischen Vorschlägen. Eine Auflistung findet sich hier: https://www.fritz-bauer-institut.de/publikationenpaed.

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Steinbacher  Ich möchte gern den Bogen in die Gegenwart schlagen und die Frage stellen, worin die Bedeutung der Aus­ einandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust heute, vor allem auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen liegt. Ungefähr seit der Jahrtausendwende sprechen wir ja von einer sogenannten Erinnerungskultur, also einem geschichtskulturellen Konsens zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, wonach die Auseinandersetzung mit der NS -Zeit Teil unseres nationalen Selbstverständnisses ist. In dieser Tradition steht die, wie ich finde, sehr gute Rede der Bundeskanzlerin, die sie vor ein paar Wochen bei ihrem Besuch in Auschwitz gehalten hat. Sie sagte wörtlich: »Es gibt keinen Schlussstrich.«10 Zugleich erleben wir in den letzten Jahren aber ein Anschwellen des Antisemitismus und zunehmende rechtsradikale Übergriffe. Die Frage ist also: Glückt die Auseinandersetzung mit der NS -Zeit und trägt sie tatsächlich zur Stärkung der Demokratie und der Demokratiefähigkeit in Deutschland bei? Was ist über das historische Bewusstsein in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen heute zu sagen und wie stabil ist es? Und was heißt es für die Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt – ein Thema, das nun schon seit über 20 Jahren in Forschung und Öffentlichkeit immer wieder erörtert wird? Diese Fragen möchte ich an alle auf dem Podium richten. Herr Loewy, Sie haben am Jüdischen Museum Hohenems gerade eine Ausstellung mit dem Titel »Ende der Zeitzeugenschaft?« – zu betonen ist das Fragezeichen – erarbeitet, die auch in Deutschland an mehreren Standorten zu

10 Die Rede von Angela Merkel zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember 2019 in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ist hier einsehbar: http://www.bundeskanzle� rin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zumzehnjaehrigen-bestehen-der-stiftung-auschwitz-birkenau-am-6-dezember-2019-in-auschwitz-1704518 (27. 10. 2022).

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sehen sein wird.11 Wie ist das nun mit den Zeitzeugen und der heutigen Beschäftigung mit der NS -Zeit? Loewy  Zwei Punkte: Die Ausstellung haben wir, denke ich, als Intervention in einer Debatte entworfen, die, wie Sie sagten, schon lange anhält, nämlich: Was passiert, wenn wir keine lebendigen Zeitzeugen der Vernichtung, also Überlebende des Holocaust, mehr interviewen, in Schulen und öffentliche Vorträge einladen, ihnen – wenn man so will – das Recht nicht mehr geben können, gegen andere Geschichtserzählungen mit ihrer Erfahrung zu intervenieren? Das ist logischerweise irgendwann vorbei. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass in der Bildungsarbeit, in der Ausstellungstätigkeit und in der Forschung zu diesem Thema ohnehin schon seit Langem die unterschiedlichsten Methoden, Quellen und Menschen einbezogen werden. Die Frage, die wir stellen, lautet: Ist es tatsächlich, außer dem symbolischen Watershed-Event der »aussterbenden« Zeitzeugen, so eine Zäsur im Umgang mit dem Holocaust, die jetzt stattfindet? Diese Frage beantworten wir auch in dieser Ausstellung natürlich nicht, aber diese Frage provoziert einiges Nachdenken. Ich mache jetzt noch einmal eine Kurve und gehe zurück zu dem, was Volkhard Knigge und Gottfried Kößler gesagt haben, was, glaube ich, tatsächlich in die Gegenwart nicht nur hineinragt, sondern heute wichtiger ist denn je. Ich glaube, ein Thema, das wir im Fritz Bauer Institut damals fast als Erste thematisiert haben, unter anderem aus der Erfahrung der Balkankriege heraus, war, dass wir über den Holocaust überhaupt nur reden können, gerade in einem Bildungszusammenhang, wenn wir ernst nehmen, dass die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, ob das jetzt junge oder alte Leute sind, ist egal, unterschiedliche legitime Perspektiven und Wahrnehmungen dieser 11 Für Informationen zur Ausstellung siehe die Website des Jüdischen Museums Hohenems: www.jm-hohenems.at/ausstellungen/rueckblick/endeder-zeitzeugenschaft (27. 10. 2022).

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Ereignisse haben. Das ist so, wenn wir über die Jugoslawienkriege reden, das ist erst recht so, wenn wir über Migranten und Migrantinnen sprechen, die aus Weltgegenden zu uns kommen, die zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und zur Shoah ein ganz anderes Verhältnis haben. Und dieses Thema, das wir damals auch aufgegriffen haben – also: Was bedeutet Erinnerung an diese Ereignisse in einer Migrationsgesellschaft? –, das ist nun ganz nah und heute tausendmal so aktuell wie damals. Wir haben damals zumindest schon sehr früh den Schluss gezogen, dass es in einer solchen Situation ganz offenkundig zu seltsamen Kollateralschäden des Holocaustunterrichts oder der Bildungsarbeit zu diesem Thema kommen kann. In einer Gesellschaft sind nämlich Menschen unterschiedlich nah an den Ressourcen, die man als identitätsstiftend ansieht. Und wenn ich einen Unterricht in einer Schule aus der Perspektive des Annehmens »unserer Geschichte« und der Verantwortung – manche haben moralisiert und daraus dann Schuld und ich weiß nicht was abgeleitet –, wenn wir das zum Kern einer Holocaustpädagogik machen, dann war eine unserer Fragen, die uns damals beschäftigt haben, was heißt das für türkische Migrantenkinder, die hierherkommen und denen wir damit eigentlich nur eins signalisieren, aus ihrer Wahrnehmung: Ihr gehört nicht dazu! Und ihr habt auch keine Chance dazuzugehören, weil ihr werdet niemals eure eigene Vergangenheit ändern können, die die Eintrittskarte zu dem ist, was man als »Zugehörigkeit zu Deutschland« formuliert. Da ging es nicht um Islam, da ging es vielmehr um die Fragen des eigenen Familienhintergrundes. Das ist etwas, das haben wir damals schon thematisiert, und zwar mit einer gewissen Ratlosigkeit, weil das ja nicht heißen kann, wir reden jetzt nicht mehr über den Holocaust, weil das die türkischen Kinder in der Klasse abschreckt. Wir haben das erst einmal nur als Paradox formuliert. Was wir heute erleben – und jetzt komme ich in die Gegenwart – ist, dass sich dieses Problem insofern radikalisiert, als dass das Thema Holocaust und erst recht das Thema Antisemitismus heute tatsächlich nicht mehr nur als ein Problem im Weg steht, wenn in einem

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Bildungszusammenhang ernsthaft Zugehörigkeit und Teilhabe und damit Integration ermöglicht werden sollen, sondern immer mehr geradezu dazu benutzt wird, um das zu verhindern. Wenn ich mir die heutigen Debatten über »Antisemitismus ist gleich Antizionismus« anschaue, dann sehe ich, dass sowohl der deutsche Staat als auch Österreich – das wurde nun gerade vor drei Wochen auch ins Regierungsprogramm in Österreich hineingeschrieben – nicht mehr das bloße Existenzrecht Israels und seiner Bürger verteidigt, sondern auch die Tatsache, dass diese Bürger, egal ob sie Juden sind oder nicht, akzeptieren sollen, dass sich dieser Staat als jüdischer Staat definiert. Wenn ich als Muslim hier in diese Gesellschaft komme, kann ich nur sagen, das ist mir wurscht. Das ist etwas, das würde ich als Muslim nie unterschreiben. Und wenn ich das nicht unterschreiben kann, dann heißt das nur, diese Gesellschaft benutzt unser Thema, an dem uns so viel liegt im Moment, um nationale, ethnische Homogenität zu propagieren, um rassistische Ressentiments gegen muslimische Einwanderer zu befördern, um Sprachregelungen durchzusetzen und Tabus zu errichten, worüber man legitimerweise reden darf und worüber nicht, und schließlich auch, um aus der Politik heraus darüber zu entscheiden, ob Leute, die vielleicht mal irgendwann vor zehn Jahren irgend etwas gesagt oder unterschrieben haben, in einem Jüdischen Museum auftreten dürfen. Diese Diskussion haben wir jetzt gerade in Berlin gehabt, da hat es gereicht, dass einer vor zehn Jahren einmal etwas unterschrieben hat, das auf einer BDS 12-Homepage veröffentlicht worden ist, und es gibt eine Pressekampagne gegen das Jüdische Museum. Und schließlich wird ein Direktor mehr oder weniger gezwungen, zu gehen.13 Das ist doch im Moment die politische Realität. 12 BDS ist die gegen die israelische Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten gerichtete Kampagne »Boycott, Divestment and Sanctions«. 13 Alexandra Föderl-Schmid: Streit um Jüdisches Museum Berlin. »Entsetzt über die unerhörten Angriffe auf seine Person«, in: Süddeutsche Zeitung, 24. 6. 2019.

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Abb. 6: V.l.n.r.: Volkhard Knigge, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Hanno Loewy, Jutta Ebeling, Gottfried Kößler Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Vielleicht sind die Österreicher ein bisschen später dran, aber sie lernen es jetzt auch gerade, wie man diese Sprach­regelung einübt. Es gibt jetzt einen Haufen Dinge, über die darf man nicht mehr diskutieren, und über die dürfen insbesondere Juden nicht mehr diskutieren. Denn diese Sprechverbote treffen ja am meisten jüdische Intellektuelle, die alle darüber diskutieren wollen, ob die Ideologie des Zionismus wirklich die Lösung aller Probleme ist. Wenn ein jüdischer Intellektueller heute in Deutschland so etwas diskutiert, dann gerät er sofort unter Antisemitismusverdacht. So weit sind wir schon. Ich habe da kein Rezept. Das Einzige, was ich sagen kann, ist: In all diesen Fragen geht es eben nicht um richtig und falsch und nicht nur um historische Erkenntnisse und Forschungen, sondern tatsächlich um Teilhabe an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Und wenn man nicht auf der Ebene politischer Manifeste agieren will, was auch nicht die Sache eines Instituts sein kann, sondern nach einer Auseinandersetzungsform sucht, in der man in solche Debatten produktiv hineinagieren kann, dann finde ich,

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sind Ausstellungen ein gutes Medium. Ausstellungen funktionieren nicht nach dem Prinzip richtig oder falsch, Ausstellungen setzen vielmehr Objekte, Bilder und Texte der öffentlichen Diskussion und Betrachtung aus. Jede Ausstellung verändert sich in jedem Moment, wenn der nächste Besucher, die nächste Besucherin den Raum betritt, dann ist es schon wieder eine andere Ausstellung. Man kann Dinge vieldeutig diskutieren, das kann man am besten, glaube ich, in diesem Medium. Ich finde es einfach wichtig, wenn ich noch an den alten Traum des Instituts erinnern darf, etwas, was das Institut tatsächlich braucht, ist ein Ausstellungsraum für sich selbst, den es souverän bespielen kann und damit Öffentlichkeit in diese andere Form von Diskussion bringen kann als in anderen Medien. Steinbacher  Herr Knigge, das Thema Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Verbrechen unter den Vorzeichen der Migrationsgesellschaft oder Postmigrationsgesellschaft ist auch eines, das Sie umtreibt. Worin liegt die Herausforderung, auch angesichts unserer gegenwärtigen Situation mit zunehmendem Antisemitismus und Rechtsradikalismus? Knigge  Ich sollte vielleicht zuerst noch eine Gauland-Anekdote nachtragen. Detlef Hoffmann und ich haben ihn 1988 zu einer gemeinsam mit der Kulturpolitischen Gesellschaft veranstalteten Tagung eingeladen: »Das neue Interesse an der Kultur«. Die reagierte auf eine Tagung ein Jahr zuvor auf Initiative von Lothar Späth: »High Tech – High Culture«. Uns interessierte, warum interessieren sich plötzlich Konservative und Wirtschaftsliberale so intensiv für mehr als nur die bürgerlich geprägte Hochkultur, nachdem Kultur unter dem Stichwort »Kultur für alle – Kultur von Allen« (Hilmar Hoffmann) nach 1968 eher ein Gegenstand linksliberaler beziehungsweise soziokultureller Initiativen gewesen war. Alexander Gauland war damals einer der wenigen klar Konservativen, die ernstlich über das Thema nachdachten; ich habe für heute noch einmal seinen Vortrag von damals, »Kultur,

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Politik und postindustrielle Gesellschaft«,14 nachgelesen. Und da begegnet man einem Gauland, der fast melancholisch, in der Tradition von Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte,15 bedauert, dass die deutsche Kultur auseinanderwabert, ihren vermeintlich einmal alle verbindenden, prägenden Kern verliert, sich ausdifferenziert, pluralisiert und Kunst damit ihren gesellschaftlich prägenden Charakter verliert. Ausdifferenzierung und Pluralität statt Homogenität. Eine Welt ohne Ideale. Damals nimmt er das noch eher wehmütig, ein bisschen sogar gelassen als eine bedauerliche, aber letztlich unvermeidliche Folge ausdifferenzierter und in dem Sinne steuerloser Moderne. Er belässt es aber nicht bei der Melancholie, sondern formuliert als zentrale politische Aufgabe »in einer solchen dezentral gesteuerten Gesellschaft […] eine zentrale Instanz zu bewahren, die gesamtgesellschaftliche Ziele formuliert«.16 Wie diese – autoritäre – Instanz beschaffen sein soll, hat sein politisches Engagement in der AfD hinlänglich klargemacht, ebenso, dass die Symbole und Symbolisierungen, mit denen diese Ziele legitimiert und vermittelt werden sollen, einer von Auschwitz entlasteten deutschen Geschichte und Kultur entnommen werden sollen. Mit den Folgen dieser Revitalisierung des völkisch-homogenisierenden, antidemokratischen Denkens haben wir es ja heute auf einmal wieder zu tun. Und das stellt Gedenkstättenarbeit tatsächlich vor besondere Herausforderungen. Natürlich wendeten sich Nationalkonservative etwa noch Mitte der 1980er Jahre enttäuscht von zu wenig Helmut Kohl’scher Wende und entsetzt von Richard von Weizsäckers Rede als Bundespräsident zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs 1985 – er hatte ja von Befreiung gesprochen, NS -Opfergruppen konkret 14 Alexander Gauland: Kultur, Politik und postindustrielle Gesellschaft, in: Hajo Cornel, Volkhard Knigge (Hrsg.): Das neue Interesse an der Kultur, Hagen 1990, S. 59-64. 15 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg, Wien 1948 (seither diverse Auflagen). 16 Gauland: Kultur (wie Anm. 12), S. 64.

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genannt und von Erinnerung als Erlösung – krass gegen selbstkritisches historisches Erinnern als Schwächung des nationalen Selbstbewusstseins oder als Verewigung von Schande. Aber sie haben – im Gegensatz zu heute – die Systemfrage nicht gestellt. Bundesinnenminister Manfred Kanther warnte – damals noch für Kultur in der Bundesregierung zuständig – zwar im Vorfeld von »Weimar – Europäische Kulturstadt 1999« nachdrücklich vor der »Buchenwaldisierung« Weimars, aber das klang damals bereits ziemlich schräg und es zielte nicht auf eine ganz andere politische Ordnung und Staatsverfassung. Es war kein Plädoyer für das Zurück ins völkisch-antidemokratisch Ethnohomogene. Wenn ich an mein Gespräch mit Stephan Brandner von der AfD17 und anderen denke, dann ist klar, dass man es mit Leuten zu tun hat, die die Systemfrage stellen, und das ist ein gewaltiger Unterschied. Das ist die eine Herausforderung. Ich würde das am liebsten gelassen-lakonisch sagen, aber es geht doch in einer gewissen Weise wieder ums Ganze. Gleichzeitig, und das ist das andere – du, Hanno, hast es angesprochen –, das fand ich an den frühen Debatten im Fritz Bauer Institut immer so wichtig, gleichzeitig scheint Auschwitz heute keine tatsächliche Herausforderung mehr zu sein. Auschwitz und alles, wofür es steht, erscheint oft als ein Phänomen von gestern oder als eine historisch entkernte, entkonkretisierte Metapher für das gesteigerte allgemeinmenschlich Böse. Damals war hingegen klar: Auschwitz bleibt Herausforderung und muss Herausforderung bleiben, es ist nicht abschließend einholbar, es bleibt für das Denken, für das Fühlen Reibung, Stachel und – in welcher Form auch immer – eine Möglichkeit der Geschichte. Heute ist Auschwitz sprachlich oft eingehegt. Rhetorisch wird es in die Unvorstellbarkeit abgeschoben. Imre Kertész hat dagegengesetzt, die Rede von der Unvorstellbarkeit soll von der 17 Brandner ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Zum erwähnten Gespräch am 8. August 2018 in der KZ-G edenkstätte Buchenwald siehe das Interview mit Volkhard Knigge, »Brandner hat sich jeglicher Klärung verweigert«, in: Süddeutsche Zeitung, 9. 8. 2018.

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Unannehmbarkeit ablenken. Davon ablenken und entlasten, sich wirklich damit auseinanderzusetzen, was es heißt, dass Auschwitz in unserer Kultur möglich geworden ist und nicht unter Barbaren.18 Dieser Verschleiß, dieses Einhegende, dieses Glattmachende, dieses vielleicht auch zu Routinierte, das haben junge Menschen – biodeutsche oder nicht –, die in die KZ -Gedenkstätten kommen, natürlich als eine Erfahrung mit real existierender Erinnerungskultur im Kopf. Nicht die Reibungserfahrung unserer Generation ist für sie prägend beziehungsweise im Vordergrund. Wir wollten ja »Nestbeschmutzer« sein, wenn Nestbeschmutzung hieß, das unter den Teppich Gekehrte hervorzuholen. Der Gegenwind, den man bekam, hat doch auch motiviert und das Interesse verstärkt. Heute können Gedenkstättenbesuche zur unterrichtlichen Konvention gehören. Jugendliche reagieren darauf, indem sie vermeintlich sozial erwartetes Verhalten zeigen beziehungsweise mit Floskeln reagieren. Dass es darum nicht geht, ist als Erstes aufzuklären, am besten, indem Gegenwartsrelevanz, die Unabgeschlossenheit der Geschichte erfahrbar wird. Womit man junge Menschen erreicht, ist vor allem eigenständigforschendes Lernen, ist detektivisches Fragen und Aufdecken: Wie konnte das überhaupt geschehen? Wer wollte das? Wie organisiert man Menschenfeindlichkeit politisch? Wie legitimiert man sie? Wie setzt man sie durch? Wie muss man dafür das Recht umbauen, die politische Ordnung? Solche Fragen. Darum geht es und nicht um einen leerlaufenden Erinnerungsimperativ, der schnell mit »Sonntagsreden« gleichgesetzt wird, die im Alltag kaum Geltung haben – denen Alltagserfahrungen von Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Gewalt sogar deutlich entgegenstehen können. Es geht vielmehr darum zu 18 Imre Kertész: Meine Rede über das Jahrhundert. Vortrag am Hamburger Institut für Sozialforschung, 14. 5. 1995, in: Ders.: Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt, Reinbek 1999, S. 14-40.

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begreifen, was man besser nicht tut, damit Gesellschaften ihren humanen Atem nicht verlieren. Das kann man am Nationalsozialismus und seiner Vorgeschichte erschließen, wenn man das kleinarbeitet und sich wirklich damit konkret befasst. Es geht immer um historische Konkretisierung, um Wissen und historische Vorstellungskraft, um gegenwartsbezogene Vergleiche und Reflexion. Dann wird es spannend und dann erreicht man junge Leute. Dann minimiert sich auch das Problem, dass Menschen anderer Herkunft und mit anderen historischen Erinnerungen sich für die Erfahrung des deutschen Nationalsozialismus vermeintlich zwangsläufig nicht interessieren. Erinnerungen sind zwar an Erfahrungen gebunden, das gilt für Individuen wie für Gruppen, aber Erinnerung ist nicht der einzige Zugang zur Geschichte. Ist die lebensweltliche Relevanz historischen Lernens und Begreifens einsichtig, kann man sich aus ganz eigenem Interesse auch für die Geschichte und die historischen Erfahrungen der »Anderen« interessieren und dies als Horizonterweiterung, als Erweiterung des eigenen Erfahrungsraums erleben. Die deutsche Geschichte in diesem Sinn zu behandeln, darum geht es. Und damit sind wir wieder bei den Wer-, Warum- und WeshalbFragen. Jugend­liche mit Migrationshintergrund stolpern zum Beispiel über die Frage: Aber hallo, die Deutschen, Kulturvolk, mitten in Europa und dann Unmenschlichkeit als Staatsräson, Krieg, Massenmord, Holocaust?! In einem Interview mit Cem Özdemir in dem Band Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? im Rahmen der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte spricht er dieses Paradox eindrücklich an.19 Er kommt darauf zu sprechen, was seine Mutter immer sagte: Holocaust und die Deutschen, das passt nicht zusammen. So ordentliche Men19 Cem Özdemir im Gespräch mit Claus Christian Malzahn und Volkhard Knigge: »Das hat mich brennend interessiert«, in: Volkhard Knigge, Sybille Steinbacher (Hrsg.): Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? Die Erfahrung des Nationalsozialismus und historisch-politisches Lernen in der (Post-)Migrationsgesellschaft, Göttingen 2019, S. 173-192, hier: S. 173 f.

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schen, so verlässlich, so zuverlässig.20 So beginnt historische Neugier, beginnen Lernprozesse. Auf einmal kann man – ohne dass man alle ­Gewalterfahrungen in einen Topf schmeißt und mahnt: »Macht so etwas bitte nie wieder, seid tolerant und nett zueinander!« – Erfahrungen austauschen, vergleichen, historisch einordnen und sich in diesem Interesse treffen, nämlich zu begreifen, was man besser nicht tut. Man kann aus der Geschichte nicht lernen, was man tun soll. Das würde ich mit Koselleck immer sagen, das funktio­ niert nicht.21 Aber an den Punkten, um es hochgestochen zu formulieren, an denen zivilisatorische, vorreflexive Selbstverständlichkeiten, die man zum Beispiel den Deutschen und ihrer Kultur zugeschrieben hat oder auch der Moderne, dann brechen, da entstehen die Fragen, und die lassen sich transkulturell diskutieren und dann eben auch in dieser detektivischen Weise bearbeiten. Das heißt dann auch, gerade für die Digital Natives, ins Archiv, an die Sachen, an die Objekte rangehen; Geschichte in die Hand nehmen. Dass das Analoge spannend und sozusagen im intellektuellen Sinn erotisch sein kann, das ist dann fast beiläufig eine neue Erfahrung. Man kann wunderbare Entdeckungen und Erfahrungen mit unterschiedlichsten jungen Leuten im Archiv, in der Sammlung, mit dem Dokument, mit dem Objekt in der Hand machen und sich an die detektivische Aufklärung der Gewaltgeschichte machen. Opfer und Täter fallen nicht vom Himmel; beide werden in gewisser Weise gemacht, machen sich, und da spielen die gesellschaft­lichen, die politischen Kontexte eine ganz große Rolle. Deswegen ist 20 Wörtlich hatte Özdemir das uneingeschränkt positive Deutschlandbild seiner Mutter so kommentiert: »Der [deutsche Staat] ist so perfekt, so korruptionsfrei, handelt so sehr im Interesse der Menschen, dass er alles, was für die Menschen Schaden anrichten könnte, niemals zulassen würde. Und die Vorfahren derer, die dieses Land regieren, sollten solche unbeschreiblichen Verbrechen nicht nur zugelassen, sondern aktiv begangen haben? Das war jenseits aller Vorstellungskraft.« Ebd., S. 174. 21 Reinhart Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Berlin 2010.

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Abb. 7: Vordere Reihe (v.l.n.r.): Detlev Claussen, Norbert Frei, Universitätsvizepräsident Roger Erb, Staatssekretärin Ayse Asar, Jutta Ebeling, Volkhard Knigge, Landtagsabgeordneter Turgut Yüksel Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

das mit der Gedenkstättenarbeit in der (Post-)Migrations­ gesellschaft zwar herausfordernd, aber auch nicht so ein großes, gar unüberwindliches Problem. Erst wenn die Identitätsfrage kommt, die Hanno Loewy angesprochen hat, also »bekennst du dich zum Holocaust, dann gehörst du dazu, und sonst nicht«, das evoziert dann Widerstand. Dann kann man hören: »Wieso, ihr Oberlehrer, jetzt wollt ihr uns eure Schuld aufbürden? Nö, das ist eure Geschichte.« Aber es gilt auch: »Solange ihr sagt, das ist eure Geschichte und erklärt, warum die auch für andere interessant und relevant ist – und für die politische Grundverfassung Deutschlands –, sind wir dabei.« Statt aus Auschwitz eine Identitätsfrage, eine Zugehörigkeitsfrage zu machen, ginge es darum, die mit der politischen und gesellschaftlichen Ermöglichung von Auschwitz, der deutschen Realisierung von Auschwitz verbundenen, auch menschheitlich relevanten Herausforderungen und Konsequenzen herauszuarbeiten und begreifbar und diskutierbar zu machen.

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Steinbacher  Herr Frei, wo sehen Sie die Bedeutung der Aus­ einandersetzung mit der NS -Zeit heute und was hat es mit dem Ende der Zeitgenossenschaft auf sich? Inwiefern ist das eine Zäsur? Frei  Ich würde gerne, wenn ich darf, kurz reagieren auf das, was Volkhard Knigge und Hanno Loewy gesagt haben. Ich stimme überein mit dem, was du, Volkhard, über die konkrete Arbeit mit jungen Leuten gesagt hast und wie man sie gewinnen kann für das Thema, und dass vor diesem Hintergrund sich am Ende sogar die Migrationsfrage kaum noch stellt, wenn man sich mit Konkretem befasst – das leuchtet mir alles sehr ein, darüber haben wir schon oft gesprochen und davon bin ich auch überzeugt. Aber ich finde, wir sollten uns hier auf dem Podium – gerade in der gegenwärtigen politischen Situation – auch vor Übertreibungen und sprachlichen Leichtfertigkeiten hüten. Also wenn Hanno sagt, in der Bundesrepublik werde die Existenz Israels als jüdischer Staat zur Staatsräson erklärt, dann stimmt das einfach nicht. Ich finde es auch nicht gut, wenn wir hier davon reden, dass man bestimmte Dinge nicht mehr sagen kann. Ich meine, das ist die Strategie von Leuten, die wir bekämpfen wollen, und wenn wir solche Vokabeln in den Mund nehmen, dann bedienen wir da letzten Endes auch etwas. Wir sollten uns klarmachen, dass wir in den zurückliegenden 25, 30 Jahren doch auch ein ganzes Stück weitergekommen sind. Und dass wir inzwischen eine Gesellschaft haben, die hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der NS -Vergangenheit nach der Zeitgenossenschaft – das war ja auch die Frage – jetzt in der Gefahr ist, Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Das sollten wir reflektieren, darüber müssen wir kritisch reden. Aber wir sollten nicht zu sehr über unsere politische Klasse herziehen, die insgesamt doch gut gelernt hat und sich weiter bemüht, nur weil die AfD gemerkt hat, dass das ein Punkt ist, an dem man mit großem Effekt drücken kann. Sie drückt damit ja an einem Punkt, der ein Viertel der Deutschen, vielleicht ist es auch »nur« ein Fünftel, traditionell stört. Aber dem steht doch

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eine gesellschaftliche Majorität gegenüber, die anders denkt, auch anders, als das noch in den Anfängen dieses Instituts, also in der Ära Kohl, der Fall gewesen ist. Nehmen Sie Helmut Kohl: Es gibt jetzt eine sehr aufschlussreiche Monografie, die zeigt, wie Lernkurven auch in der Politik aussehen.22 Dieser Helmut Kohl mit seiner angestrebten »Tendenzwende« und all dem, was ihn nahe an den heute viel­zitierten Herrn Gauland bringt, verwandte in den frühen 1980er Jahren viel Kraft darauf, den Bau des Holocaust Memorial Museums in Washington zu verhindern, und wenn es doch gebaut würde, dann nur mit einem Annex, der die Erfolgs­ geschichte der Bundesrepublik feiern würde. Derselbe Bundeskanzler ist am Ende seiner Amtszeit derjenige, der das von einer Bürgerinitiative lange geforderte Holocaustdenkmal in Berlin durchsetzt. Und wenn jetzt die Bundeskanzlerin gegen Ende ihrer Amtszeit nach Auschwitz fährt und dort eine Rede hält, die nun wirklich alles enthält, was in diesem jahrzehntelangen Lernprozess gelernt worden ist – bis hin zum Punkt der Unabschließbarkeit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit –, dann sollten wir als Intellektuelle und als diejenigen, die sich seit Langem in diesem Bereich engagieren, nicht einfach die Nase rümpfen und sagen, ja, das ist jetzt alles glatt und das ist halt, was die Politik so sagt. Es mag ja sein, dass manches heute glatt daherkommt, aber das ist auch ein Element des Erfolgs dieser kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wir müssen jetzt in der Tat neue Antworten auf eine neue Situation suchen. Aber ich glaube, eher dann in dem Sinne, wie es Volkhard Knigge beschrieben hat: In der konkreten empirischen Arbeit mit jungen Leuten, nicht durch ein Generalverdikt gegenüber dem bisher Geleisteten, das den Rechtsradikalen nur wie eine Bestätigung erscheinen kann. Wir müssen uns ab 22 Jacob S. Eder: Holocaust-Angst. Die Bundesrepublik, die USA und die Erinnerung an den Judenmord seit den siebziger Jahren, Göttingen 2020.

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und zu auch einfach klarmachen, wie mühsam und zäh dieser jahrzehntelange Prozess gewesen ist, und dass wir die Lernkurve nicht kleinreden sollten, nur weil wir im Moment in einer schwierigen Situation sind. Loewy  Ich wollte jetzt gar kein Urteil darüber fällen, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Es ist ja nicht erst die österreichische Regierungsvereinbarung vom Januar 2020, die das Existenzrecht Israels als das eines jüdischen Staats definiert und das als Staatsräson Österreichs darstellt; genau diesen Satz hat unsere deutsche Kanzlerin schon seit einigen Jahren bei ziemlich vielen Gelegenheiten benutzt. Ich sage mal, wir sind auch in Deutschland schon längst an diesem Punkt, auch wenn es noch nicht in einem Regierungsprogramm steht. Kößler  Ich verstehe diese Diskussion als Aufforderung, nicht so weit in die Geschichte der Erinnerungskultur zu gehen, sondern konkret aus gegenwärtigen Erfahrungen im Bereich von Projekten zur Antisemitismusprävention zu berichten. Ich hatte gerade in der Schlussauswertungsphase der Förderlinie der Bundesregierung zum Thema »Demokratie leben« damit zu tun. Was Hanno Loewy beschrieben hat, ist tatsächlich nicht nur in den Feuilletons, sondern eben gerade auch in der pädagogischen Arbeit ein großes Problem. Viele pädagogisch Handelnde sehen sich in einer Schwierigkeit bei der Behandlung des Nahostkonflikts, ja bereits allein bei der kritischen Analyse des Antisemitismus. Die Orientierung an der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA ) von Antisemitismus befördert die Annahme, die Politik der israelischen Regierung verteidigen zu müssen. Viele fürchten, Probleme mit fördernden Institutionen zu bekommen, da sie in Verdacht geraten, antisemitisch zu sein, wenn sie nicht in Bezug auf den Nahostkonflikt von vornherein darauf beharren, es sei keine Kritik an der israelischen Politik zu üben. Pädagogisch besteht das Problem darin, dass Israel durch sein Staatsbürgerschaftsrecht das Jude-Sein als Grundlage der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen

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definiert. Aus der Sicht rassismuskritischer Pädagogik geht es hier um Inklusions- und Exklusionsfragen – Hanno Loewy hat es schon angesprochen –, und wir haben damit ein Problem, das man wirklich nicht gebraucht hätte. Denn der Antisemitismus ist unter pädagogischen Fachkräften und unter Jugendlichen natürlich ein Thema und spielt immer wieder eine Rolle. Auch der Antisemitismus, der sich im Kontext von Reden über den Nahostkonflikt äußert, ist ein wichtiger Teil dieses Problems. Dieser wesentliche Aspekt der Auseinandersetzung ist durch die Polarisierung, durch eine dichotome Vorstellung von dem politischen Konflikt, für die Einzelnen im Alltag kaum noch handhabbar. Dieses exkludierende Konzept von Zugehörigkeit korrespondiert mit den Vorstellungen von einer homogenen deutschen Gesellschaft. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wird gleichzeitig als Leistung der nationalen Gemeinschaft der Deutschen gesehen, wie das vorhin Volkhard Knigge beschrieben hat. Diese Problemlage wurde hier an der Goethe-Universität bereits vor 20 Jahren erziehungswissenschaftlich untersucht, unter anderem in einem Forschungsprojekt von Frank-Olaf Radtke am Fachbereich Erziehungswissenschaft in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut.23 Es wurde genau dieses Phänomen aus den tiefenhermeneutischen Analysen von Unterrichtsprotokollen herausgearbeitet. Klar wurde, dass die erwartete Rede über die deutsche Verantwortung als Konsequenz aus den NS Verbrechen von den Jugendlichen tatsächlich »geliefert« wird, sie aber eben nichts zu tun hat mit Erkenntnisprozessen, die man doch gerne als Ergebnis von Lernprozessen sähe. Es wird erst einmal gelernt, wie man zu sprechen hat, damit man keine Probleme kriegt. Aber das möchten wir in der Demokratie doch gar nicht haben, wir möchten mündige Bürgerinnen und Bürger erziehen. Es gibt also Probleme, die immer wieder damit zu tun haben, dass der politische Raum mit dem pädagogischen 23 Wolfgang Meseth, Matthias Proske, Frank-Olaf Radtke (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main, New York 2004.

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Raum so eng vernetzt ist, dass diese politischen Diskurse, auch politische Grenzziehungen, politische Positionierungen auf verschiedenen Wegen – nicht über Unterrichtsmaterial, sondern zum Teil dadurch, welche Medien von allen Beteiligten konsumiert werden – in diese pädagogischen Räume hineinragen. Das muss reflektiert werden, das ist ein Teil der Lehrerbildung. Die Probleme, die ich sehe, sind reale Probleme im Alltag. Nicht Probleme auf der Ebene von Feuilletons, sondern im ­Alltag pädagogischen Handelns. Wie reagiere ich im Unterricht spontan auf eine antisemitische Rede? Und das ist ja das, was eine Lehrkraft eigentlich machen muss. Ich bin in einer Schulklasse, und es gibt dort jemand, der äußert sich abfällig mit antisemitischen Formulierungsanteilen, Ressentiments über den Nahostkonflikt. Gleichzeitig weiß ich aber, dass er oder vielleicht jemand anders in der Lerngruppe familiäre Beziehungen zu Palästinensern hat oder sich auf andere Weise arabisch identifiziert. Damit muss ich umgehen können. Und zwar nicht in der Weise, in der ich möglichst eindeutige Positionen beziehe, sondern indem ich versuche, das Diskursfeld offenzuhalten. Dafür braucht man ein differenziertes Bild. Ebeling  Das ist sicher richtig. Aber das ist sicher auch gar nicht das, was Herr Frei ansprechen wollte, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich würde Ihre Position gerne noch einmal unterstützen, Herr Frei, weil ich glaube, dass man sowohl die positiven wie die negativen Seiten der geschichtlichen und der gesellschaftlichen Entwicklung werten muss, um sich auch tatsächlich gut positionieren zu können für eine demokratische Auseinandersetzung. Deswegen fange ich einmal mit dem Positiven an. Ich denke, es ist ein wirklicher Fortschritt, dass ein CDU -Minister, Boris Rhein,24 hier in Frankfurt die 24 Boris Rhein war von 2010 bis 2014 Hessischer Innenminister, von 2014 bis 2019 Hessischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst und von 2019 bis 2022 Präsident des Hessischen Landtags. Seit Mai 2022 ist er Ministerpräsident.

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Abb. 8: Jutta Ebeling Foto: Werner Lott, Fritz Bauer Institut

Holocaust-Professur eingerichtet hat. Das ist ein Lernprozess; Sie haben von Lernkurven gesprochen. Insofern ist da wirklich auch etwas Positives passiert, und zwar deshalb, weil in der Tat die Wirkungsgeschichte des Holocaust jetzt auch mit den nötigen Ressourcen an der Universität bearbeitet werden kann. Und dann nach draußen getragen werden kann. Das zweite ist, ich habe vorhin von den 1990er Jahren gesprochen, habe aber vergessen zu erwähnen, dass damals die Auseinandersetzung um Zuwanderung 1993 im sogenannten Asylkompromiss geendet ist, der im Grunde den Rechten mit ihrem Kampf gegen die »Überfremdung«, gegen die »Überflutung«, wie sie es beschrieben haben, nachgegeben hat. Sonst hätte man ja den Asylkompromiss nicht machen müssen. Heute hingegen, wenn da eine Kanzlerin 2015 in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen sagt »Wir schaffen das«, halte ich das für einen Fortschritt. Und ich finde, das muss man sich ja auch klarmachen, schon deswegen, damit man auch gestärkt die Auseinandersetzung, die dringend nötig ist, führen kann, dass nämlich der Rechtsradikalismus Einzug in den Bundestag gehalten hat. Das ist in der Tat eine total neue Situation. Heute

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sitzen sie da im Bundestag mit deutlich mehr als zehn Prozent. Ich meine, da müssen wir doch etwas tun! Und dazu braucht es intellektuelle Unterstützung und politischen Mut, um in dieser, wie ich finde, bedrohlichen Situation sich dem Bedrohlichen entgegenstellen zu können. Es geht dann darum, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Aus diesem Grund, finde ich, sollte man das unterstützen, was Herr Frei gesagt hat. Zu den Zeitzeugen: Ich will Ihnen sagen, mich beschleicht da immer ein komisches Gefühl. Dass sie sterben, finde ich deswegen traurig, weil es oftmals wunderbare Menschen sind. Aber nicht deswegen, weil dann die pädagogische und aufklärerische Debatte schwieriger zu führen sein wird. Mit anderen Worten: Wenn wir die Frage nach den Zeitzeugen stellen, sind wir dann nicht dabei, auch ein Stück Verantwortung zu verschieben? Also: Jetzt gibt’s die nicht mehr, oh je, was machen wir denn dann? Das ist, finde ich, nicht die richtige Haltung. Steinbacher  Wir hatten eigentlich vor, unser Gespräch auch für das Publikum zu öffnen. Aber die Diskussion auf dem ­Podium war so interessant und intensiv, dass die Zeit nun schon weit, leider zu weit fortgeschritten ist. Ich bedanke mich bei den Teilnehmenden auf dem Podium. Ich danke Frau Rauschenberger für Ihren Vortrag. Und ich danke Ihnen allen dafür, dass Sie mit uns das 25-jährige Bestehen des Fritz Bauer Instituts gefeiert haben.

MITWIRKENDE

Jutta Ebeling, Vorsitzende des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. von 2013 bis 2022. Für die Grünen Mitglied im Magistrat der Stadt Frankfurt, 1989 Dezernentin für Bildung, bis 2012 in verschiedenen Funktionen und unterschiedlichen politischen Konstellationen als Dezernentin tätig, von 2006 bis 2012 auch als Bürgermeisterin (mit Petra Roth als Oberbürgermeisterin). Norbert Frei, Prof. Dr., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Von 1996 bis 2001 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Fritz Bauer Instituts und bis 2003 Mitglied des Gremiums; seit 2018 erneut Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats. Gegenwärtig erforscht er im Auftrag des Bundespräsidialamts den Umgang der deutschen Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Richard von Weizsäcker mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Volkhard Knigge, Prof. em. Dr., Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von 1994 bis 2020 und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 2008 bis 2020. Von 1996 bis 2010 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Fritz Bauer Instituts. Kurator und verantwortlicher Leiter zahlreicher Ausstellungen zur Geschichte von Gesellschaftsverbrechen im 20. Jahrhundert. Gottfried Kößler, Gymnasiallehrer im Ruhestand für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde; Mitglied im Gründungskreis des Fritz Bauer Instituts, dessen pädagogischen Arbeitsbereich er wesentlich mitaufgebaut hat. Von 2005 bis zu seiner Pensionierung 2019 stellvertretender Direktor des

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Das Fritz Bauer Institut 1995 und 2020

Fritz Bauer Instituts, von 2009 bis 2019 tätig am Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. Hanno Loewy, Dr., Direktor des Jüdischen Museums Hohen­ ems seit 2004, Literatur- und Filmwissenschaftler, Publizist und Ausstellungskurator. Von 1990 bis 1995 Projektleiter der Arbeitsstelle Fritz Bauer Institut der Stadt Frankfurt am Main, 1995 Gründungsdirektor des Fritz Bauer Instituts. In dieser Funktion tätig bis 2000, bis 2003 am Fritz Bauer Institut befasst mit Erinnerungskultur, Rezeptionsforschung und einem Forschungsprojekt zur Repräsentation des Holocaust im Spielfilm. Von 2011 bis 2017 Präsident der Association of European Jewish Museums. Katharina Rauschenberger, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut seit 2008, zuständig für die Entwicklung, Konzeption und Koordination des Veranstaltungsprogramms. Am Jüdischen Museum Frankfurt zuvor als Mitarbeiterin in verschiedenen Projekten tätig. Gegenwärtig arbeitet sie an einer Studie über den DDR -Juristen und Publizisten Friedrich Karl Kaul und die Rolle der DDR in westdeutschen Gerichtsverfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Sybille Steinbacher, Prof. Dr., Direktorin des Fritz Bauer Instituts und Professorin für Geschichte und Wirkung des Holocaust am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main seit 2017. Von 2010 bis 2017 Universitätsprofessorin für Zeitgeschichte / Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozid­ forschung an der Universität Wien.