Historische Arbeitsmarktforschung: Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft 9783666357077, 3525357079, 9783525357071

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Historische Arbeitsmarktforschung: Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft
 9783666357077, 3525357079, 9783525357071

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 49

KRITISCHE STUDIEN Z U R GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 49 T . Pierenkemper / R. H. Tilly (Hg.) Historische Arbeitsmarktforschung

G Ö T T I N G E N · V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T · 1982

Historische Arbeitsmarktforschung Entstehung, Entwicklung und Probleme der Vermarktung von Arbeitskraft

Herausgegeben von TONI PIERENKEMPER und R I C H A R D TILLY

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1982

CIP'Kurztitelau

fiiahme

der Deutschen

Bibliothek

Historische Arbeitsmarkfßrschutig: Entstehung, Entwicklung u. Probleme d. Vermarktung von Arbeitskraft / hrsg. von Toni Pierenkemper u. Richard Tilly. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1982. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 49) ISBN 3-525-35707-9 NE: Pierenkemper, Toni [Hrsg.); G T

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982. Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Schrift 10/11 ρ Bembo, gesetzt auf Linotron 202 System 3 (Linotype) Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorwort

7

T O N I PIERENKEMPER

Historische Arbeitsmarktforschung: Vorüberlegungen zu einem Forschungsprogramm

9

ANGELIKA W I L L M S

Modernisierung durch Frauenarbeit? Zum Zusammenhang von wirtschaftlichem Strukturwandel und weiblicher Arbeitsmarktlage in Deutschland, 1882-1939 Kommentar: Gerd Hohorst

37 71

C L A U D I A H U E R K A M P UND REINHARD SPREE

Arbeitsmarktstrategien der deutschen Ärzteschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zur Entwicklung des Marktes fur professionelle ärztliche Dienstleistungen Kommentar: W R . L e e

77 117

T O N I PIERENKEMPER

Der Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe im Jahre 1880 Kommentar: Robert A. Dickler

121 144

H E R M A N N VON LAER

Der Arbeitsmarkt für Techniker in Deutschland. Von der Industriellen Revolution bis zum 1. Weltkrieg Kommentar: Alf Lüdtke KLAUS J .

152 176

BADE

Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich. Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis Kommentar: Walter Kamphoefner

182 211

HEIDRUN HOMBURG

Externer und interner Arbeitsmarkt: Zur Entstehung und Funktion des Siemens-Werkvereins 1906-1918 Kommentar: Michael Buttgereit

215 249 5

ANSELM FAUST

Arbeitsmarktpolitik in Deutschland: Die Entstehung der öffentlichen Arbeitsvermittlung 1890-1927 Kommentar: Karl Heinrich Kaufhold

253 273

RICHARD H . TILLY

Märkte — Mächte - Arbeit. Historische Beiträge zur Arbeitsmarktforschung 277 Abkürzungsverzeichnis

6

289

Vorwort

Die Beiträge dieses Sammelbandes entstammen einer Arbeitstagung, die vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Münster in Verbindung mit der QUANTUM-Arbeitsgruppe Theoretisch-quantitative Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte über historische Arbeitsmarktforschung vom 26. bis 28. Juni 1980 in Haus Rothenberge, dem Gästehaus der Universität Münster, durchgeführt wurde. Leider konnten nicht alle dort gehaltenen Referate mit in diesen Band aufgenommen werden, so ein Beitrag von Wolfgang Kleber, VASMA-Projekt, Mannheim »Die historische Entwicklung von Berufen, Beschäftigtengruppen und Wirtschaftszweigen auf der Datenbasis der Berufs- und Arbeitsstättenzählung 1875-1961«. Allen Referenten, Kommentatoren und Diskutanten sei an dieser Stelle nochmals für ihre Beiträge zum erfolgreichen Verlauf dieser Tagung gedankt. Ebenfalls zu danken ist der Stiftung Volkswagenwerk, die in großzügiger Weise sowohl die Arbeitstagung selbst finanzierte als auch die Drucklegung der Beiträge mit einem Druckkostenzuschuß förderte. Die Veranstaltung über historische Arbeitsmarktforschung steht im Zusammenhang einer Reihe von Arbeitstagungen, mit der die oben genannte QUANTUM-Arbeitsgruppe vor allem das Gespräch zwischen jüngeren Historikern und Sozialwissenschaftlern über wichtige Themen des Fachs fördern will. Im Jahre 1978 fand an gleichem Orte bereits eine solche Tagung über regionale Differenzierung statt*, und auch 1981 wurde eine solche über ökonomische Ungleichheit durchgeführt, deren Ergebnisse bald publiziert werden. Weitere Veranstaltungen dieser Art sind geplant.

* Die Beiträge finden sich bei Rainer Fremdling u. Richard H. Tilly (Hg.), Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1979 (Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 7).

7

T O N I PIERENKEMPER

Historische Arbeitsmarktforschung Vorüberlegungen zu einem Forschungsprogramm

I Obwohl der Arbeitsmarkt einen zentralen Bereich der modernen Industriegesellschaft kapitalistischen Typs darstellt, wurde er in den Sozialwissenschaften bisher meistens stiefmütterlich behandelt1. Dies gilt sicherlich auch für die historische Analyse der Arbeitsmarktbeziehungen. Bevor allerdings die Möglichkeiten einer vertiefenden Perspektive historischer Arbeitsmarktforschung ausgelotet werden können, müssen einige begriffliche Grundvoraussetzungen über den Arbeitsmarkt geklärt werden. Dabei gilt es zuerst einmal festzuhalten, daß das zugrundeliegende gesellschaftliche Problem, nämlich die Rekrutierung von Arbeitskraft für produktive Zwecke, prinzipiell durchaus auch anders als durch den Arbeitsmarkt zu lösen ist2. Der Arbeitsmarkt erscheint demnach als eine historisch und sozial-kulturell spezifische Organisation der gesellschaftlichen Arbeit. Im historischen wie interkulturellem Vergleich läßt sich eine Vielfalt alternativer Strukturen aufzeigen, die auf die jeweils herrschenden sozio-politischen Bedingungen zurückzufuhren sind. Neuere Untersuchungen zeigen z.B. die Logik der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit ohne freie Arbeitsmärkte für die Grundherrschaft im mittelalterlihen Europa3, die Leibeigenschaft in Rußland4 und die Sklaverei in den USA5. Diese Untersuchungen verdeutlichen, daß sich das System des »freien«, sich selbst regulierenden Arbeitsmarktes erst in der Moderne entwickelte6 und auch hier nicht die einzige Form der Rekrutierung von Arbeitskraft darstellt7. Darüber hinaus gibt es Autoren, die auf die insgesamt sehr begrenzte Dauer marktwirtschaftlicher Systeme verweisen und deshalb auch fur die Zukunft alternative Wirtschaftssysteme, also auch entsprechende Systeme der Rekrutierung von Arbeit, nicht ausschließen8. Sicherlich besteht größtenteils Übereinstimmung darin, den Markt und damit auch den Arbeitsmarkt als den ökonomischen Ort des Austausches zwischen Angebot und Nachfrage zu interpretieren9. Jedoch gibt es auch zu dieser Konzeption alternative Auffassungen. So ist unter besonderer Betonung der sozialen Funktion des Arbeitsmarktes festzuhalten, daß der 9

Arbeitsmarkt als der ökonomische Ort erscheint, auf dem der Arbeiter mit den übrigen Klassen der Gesellschaft verbunden ist10. Aus der grundsätzlichen Überlegenheit des Arbeitgebers gegenüber dem einzelnen Arbeiter stellt sich dabei die Situation auf dem Arbeitsmarkt bei freier Konkurrenz durchweg ungünstig fur die Arbeiter dar, die daraus ihrerseits wiederum die Notwendigkeit des Zusammenschlusses in Organisationen herleiten. Arbeitsmarkt ist also organisiert und nicht »frei«, der Kampf um die Herrschaft über den Arbeitsmarkt erfolgt demnach häufig über die Kontrolle der Arbeitsnachweise". Ebenfalls kritisiert Marx im Rahmen der Analyse der Lohnarbeit das vorgebliche Äquivalenzverhältnis beim Tausch der Ware Arbeitskraft12. In dieser Sichtweise erscheint der Arbeitsmarkt dann als »täuschender Schein eines harmonischen Assoziationsverhältnisses«13, das der Realität der zugrundeliegenden kapitalistischen Ausbeutung in keiner Weise entspricht. Auch die oben erwähnte Übereinstimmung der konventionellen Ansätze, die im Arbeitsmarkt den ökonomischen Ort des Austausches zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage sehen, besteht allerdings schon nicht mehr, wenn es gilt, das Obejekt, das auf dem Arbeitsmarkt ausgetauscht wird, näher zu bestimmen. Verschiedene Autoren haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von der »Ware«, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt wird. Kaum jemand wird behaupten wollen, daß auf den modernen Arbeitsmärkten die Arbeitskräfte selbst, d h. die arbeitswilligen Menschen, als Personen gehandelt werden. Jedoch gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es sich beim Tauschobjekt auf dem Arbeitsmarkt um »Arbeitskraft«14, »Arbeitsleistung«15, »Arbeitsverhältnisse«16 oder »Arbeitsverträge« handelt17 Obwohl der Begriff Arbeitsleistung, verstanden als tatsächliche Verausgabung von Arbeit, in deutlicher Ablehnung gegenüber dem marxistischen Begriff der Ware Arbeitskraft formuliert wurde, erscheinen beide Begriffe inhaltlich nicht sehr unterschiedlich. Der Mangel bei der Verwendung des Begriffs Arbeitsleistung wird vor allem darin gesehen, daß bei einer Begrenzung der Definition des Tauschobjektes am Arbeitsmarkt auf den Bereich der tatsächlichen Verausgabung von Arbeit der Herrschaftsaspekt des Arbeitsverhältnisses vernachlässigt wird. Es werden auf dem Arbeitsmarkt ja nicht von vornherein bereits realisierte Arbeitsleistungen getauscht, sondern vielmehr Arbeitspotentiale, deren Überfuhrung in produktive Inputs in die Verfugungsmacht des Käufers gegeben wird. Die Realisierung der tatsächlichen Arbeitsleistung erfolgt also im Herrschaftsbereich des Käufers. Jedoch sind nicht nur Gegenstand des Objektes, das auf dem Arbeitsmarkt getauscht wird, sondern auch dessen besondere Eigenschaften strittig. Hier zeigt sich in deutlichem Unterschied zu den Gütermärkten ebenfalls eine fundamentale Sonderstellung der Arbeitskraft, die sie von allen anderen Waren unterscheidet18. Es besteht nämlich einerseits ein 10

Angebotszwang für die Anbieter von Arbeitskraft, weil Quantität, Qualität, Ort und Zeitpunkt des Arbeitsangebots nur in sehr engen Grenzen veränderbar sind, andererseits auch ein Verkaufszwang, weil Arbeitskraft nur dann für den Anbieter zur Quelle seiner Subsistenz werden kann, wenn sie verkauft wird. Die empirisch auffindbaren Indizien innerhalb der rechtlichen Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen in der Bundesrepublik Deutschland stützen eine Interpretation, die eine Verwendung des Begriffs »Arbeitskraft« als Tauschobjekt auf dem Arbeitsmarkt nahelegt. So hat der Käufer der Arbeitskraft im Rahmen der kollektivrechtlichen Normen und individuellen Arbeitsverträge ein allgemeines Direktionsrecht gegenüber dem Verkäufer der Arbeitskraft19. Darüber hinaus unterliegt die Nichtarbeitszeit des Verkäufers in gewissen Grenzen, ζ. B. durch Erholungspflicht und Verbot von Nebenbeschäftigungen, ebenfalls dem Zugriff des Käufers, was gleichfalls auf den Erwerb des Arbeitspotentials des Verkäufers hinweist. Auch besitzt der Käufer ein Aneignungsrecht auf nicht vereinbarte Leistungen des Verkäufers während seiner Arbeitstätigkeit, etwa bei Erfindungen. Alle diese Fakten weisen darauf hin, daß der Begriff »Arbeitskraft« die Tauschobjekte des Arbeitsmarktes zutreffender beschreibt als die konkurrierenden Begriffe, zumal der Begriff »Arbeitsvertrag« die Definitionsproblematik nur auf die juristische Ebene verlagert20. Somit läßt sich vorläufig zusammenfassend der Arbeitsmarkt als der ökonomische Ort des Austausches zwischen dem Angebot an Arbeitskraft und der Nachfrage nach Arbeitskraft definieren. Die konkrete Erfassung dieses Angebotes und dieser Nachfrage ist sehr schwierig. Die Angebotsseite wird generell von Personen bestimmt, die Arbeitsplätze inne haben bzw. solche aktiv suchen, während die Nachfrageseite durch die Zahl der besetzten und unbesetzten Arbeitsplätze determiniert wird21. Beide Seiten des Arbeitsmarktes werden durch eine Vielzahl von Variablen beeinflußt, denen wir uns nun zuwenden wollen. Zunächst einmal stehen nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Nur ein Teil der Bevölkerung tritt als Anbieter von Arbeitskraft - sei es als Erwerbstätige oder Arbeitslose - und damit als Nachfrager nach Arbeitsplätzen direkt auf den Arbeitsmarkt, die Erwerbsbevölkerung nämlich. Die Nichterwerbsbevölkerung geht entweder keiner Erwerbstätigkeit nach oder befindet sich im Ausbildungsbereich der Gesellschaft. Die vielfältigen Mobilitätsprozesse zwischen diesen Bevölkerungsgruppen lassen sich vereinfacht in einem Schaubild darstellen22 (Schaubild 1 S. 12). Die Bestimmung der Proportionen zwischen den einzelnen arbeitsmarktrelevanten Bevölkerungsgruppen sowie die Prognose der Mobilitätsprozesse zwischen diesen bilden einen Schwerpunkt der aktuellen Arbeitsmarktforschung und Arbeitsmarktpolitik. Die Hauptschwierigkeit dabei besteht darin, die Vielfalt der Einflußfaktoren, wie etwa Bevöl11

Demographischer

Vündei

Ψ Nichterwerbsbevötkerung

• Ausbildung

Nichterwerbstätige

Arbeitslose

Erwerbstätige unselbstständig

selbstständig

Erwerbsbevölkerung

Ο

Organisatorischer und technischer Wandel

Schaubild 1: Arbeitsmarktrelevante Bevölkerungsgruppen und Mobilitätsprozesse kerungswachstum, internationale Wanderung, Mortalität, Schulpflicht, Pensionsalter etc., wie auch den Strukturwandel der Wirtschaft, Wachstum usw. sinnvoll u n d umfassend zu erfassen und zu klassifizieren. Ein solcher Versuch kann u n t e r n o m m e n werden, indem die M a r k t p r o d u k t e als Funktion des Arbeitsinputs aufgefaßt werden. Demnach sind die M a r k t p r o dukte das Ergebnis von Arbeitsleistungen, die von Personen mit spezifischer Produktivität (Fähigkeiten) während der Arbeitszeit erbracht werden 23 . (1)

Υ = Α

ρ

h

Y A ρ h

= Marktprodukte = Anzahl der Arbeitskräfte = Arbeitsproduktivität = Arbeitszeit

Die Gleichung (1) kann n u n dazu benutzt werden, die Faktoren, die sowohl auf die Angebotsseite als auch auf die Nachfrageseite wirken, zu klassifizieren und damit die wichtigsten Variablen der Arbeitsmarktforschung und Beschäftigungspolitik zu veranschaulichen 24 (Schaubild 2 S. 13). Die Versuche, ein theoretisches Funktionsmodell für den Arbeitsmarkt moderner Industriestaaten zu entwickeln, leiden vor allem darunter, daß zwar eine grundsätzliche Interdependenz zwischen allen Faktoren wie auch eine völlige Offenheit dieses Systems gegenüber anderen Systemen angen o m m e n wird, die empirische Konkretisierung der Interdependenzen aber 12

Schaubild 2: Einflußgrößen auf dem Arbeitsmarkt 13

allein durch das Einsetzen von Erfahrungswerten erfolgt. Veränderungen am Arbeitsmarkt bzw. diese beeinflussende gesellschaftliche Bedingungen sind immer nur ex-post zu bestimmen25. Notwendig bleibt hingegen ein Modell, bei dem die Beziehungen zwischen den Variablen kausal begründet und empirisch bestätigt sind und das damit auch zu gehaltvollen Prognosen für die Beschäftigungspolitik fuhren kann. Erste Versuche dieser Art, die Problemfelder einer Theorie der erwerbswirtschaftlichen Arbeit in einem Bezugssystem zu identifizieren und zu ordnen, sind auffindbar. Ein solches Bezugssystem läßt sich ζ. B. als erste Stufe von Ablaufdiagrammen, Flußdiagrammen und Regeldiagrammen auffassen, durch die die Beziehungen zwischen den Problemfeldern sowie Rückkoppelungen und Interdependenzen dargestellt werden können26. Angesichts der Vielfalt der bislang aufgezeigten Bedingungsfaktoren für Prozesse auf dem Arbeitsmarkt scheint es jedoch insgesamt fraglich, ob der Begriff »Arbeitsmarkt« überhaupt als eine universelle Kategorie zu verwenden ist, oder ob seine kulturspezifischen Differenzen für jede besondere Gesellschaft eine gesonderte Bestimmung seiner Eigenarten erfordern. Zweifel an der universellen Verwendbarkeit sind angebracht, zeigen doch vergleichende Untersuchungen immer wieder, daß die Zuordnung gesellschaftlicher Teilbereiche sehr variabel sein kann, obwohl deren Gesamtheit in den verschiedenen Gesellschaften denselben Zweck erfüllt. Dies gilt auch für die gesellschaftliche Organisation der Arbeit27 Die Variabilität innerhalb der gesellschaftlichen Subsysteme bestätigt sich ebenfalls bezüglich der Vorbedingungen der Industriealisierung in der historischen Perspektive28, wie auch für die Ausgestaltung der industriellen Beziehungen in der modernen Gesellschaft29 Ob die Unterschiede in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zwischen den einzelnen westlichen Industriegesellschaften allerdings so bedeutsam sind, daß hier die allgemeine Kategorie »Arbeitsmarkt« ebenfalls kulturspezifisch differenziert werden müßte, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden und bedarf weiterer Forschungen. Wichtig ist jedoch festzuhalten, daß gerade für die historische Arbeitsmarktforschung kulturspezifische Aspekte einen besonderen Stellenwert erhalten, treten doch bei der Untersuchung der Entstehung und Entwicklung von Arbeitsmärkten die besonderen historischen Bedingungen in den Vordergrund. Deshalb gilt es, sich nicht durch die Verwendung universeller Kategorien den Blick für das Besondere verstellen zu lassen.

II In einer dogmengeschichtlichen Rückschau zum Thema Arbeitsmarkt fällt auf, daß eine gesonderte Analyse von Beschäftigung und Arbeitsmarkt sowie die Herausbildung einer darauf aufbauenden Arbeitsmarkt- und 14

Beschäftigungspolitik erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist, als die Vorstellung von den dem kapitalistischen Wirtschaftssystem innewohnenden Selbstheilungskräften und Gleichgewichtstendenzen sich in der ökonomischen Praxis zunehmend als problematisch herausstellte 30 . In den »klassischen« Ansätzen der Ö k o n o m i e findet sich keine gesonderte Theorie des Arbeitsmarktes. Lohnhöhe und U m f a n g der Beschäftigung werden dort als integrale Bestandteile der gesamtwirtschaftlichen Größen bestimmt 31 . Die klassischen Ö k o n o m e n behandelten Arbeit und Arbeitsmarkt innerhalb ihrer Systeme unter zwei grundsätzlich verschiedenen Fragestellungen. Einerseits behandelten sie Arbeit im Zusammenhang mit der Frage, welches der wertbildende Faktor der Güter sei, andererseits suchten sie nach den Bestimmungsgründen für die Allokation der Arbeit. Entsprechend den zwei verschiedenen Fragestellungen wurden auch zwei unterschiedliche Antworten formuliert. Die Antwort auf die erste Frage nach der Ursache des Wertes sollte die allgemeine Werttheorie geben und die auf die zweite Frage die Lohntheorie. Diese beiden Antworten fielen bei den verschiedenen Autoren durchaus unterschiedlich und ζ. T. in sich widersprüchlich aus32. Hinsichtlich der Lohnfindung weist bereits Adam Smith darauf hin, daß diese, wie das gesamte wirtschaftliche Geschehen, sich durch Preise auf Märkten vollziehe, daß Angebot und Nachfrage die Lohnhöhe bestimmen 33 . Dabei wird deutlich gesehen, daß der freie Arbeitsvertrag und die unterschiedlichen, ζ. T. schon organisierten Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Funktionserfordernis für den Arbeitsmarkt gelten, ebenso wie bereits Anzeichen der Imperfektion des Arbeitsmarktes konstatiert werden, da den Arbeitgebern auf dem Arbeitsmarkt prinzipiell ein Verhandlungsvorteil zugeschrieben wird 34 . Auf der Angebotsseite ging Adam Smith, und in seiner Folge alle klassischen Ö k o n o m e n , von der Existenz eines vollständig elastischen Arbeitsangebots aus, d. h. v o m Vorhandensein einer unbegrenzten Menge arbeitsfähiger Menschen, deren Konkurrenz untereinander notwendigerweise zu einer Reduzierung des Arbeitseinkommens bis hin zum Subsistenzminimum führen mußte 35 . Eine Verbesserung der Situation wurde insofern ausgeschlossen, weil jede Lohnerhöhung automatisch zu einem Zuwachs der Bevölkerung führen würde, der dann durch die damit verbundene Erhöhung des Arbeitsangebots und eine entsprechende verstärkte Konkurrenz u m die Arbeitsplätze die Lohnerhöhung rückgängig mache 36 . Die einzelnen Autoren unterschieden sich nur hinsichtlich der Einschätzung der langfristigen Folgen dieser als unveränderlich angesehenen Arbeitsmarktsituation für die Lage der Lohnarbeiterschaft. Während eine optimistischere Variante dieser Theorie argumentierte, daß wegen der zunehmenden Arbeitsteilung die gesamtwirtschaftliche Produktivität immer stärker steigen werde als die Bevölkerungszahl und damit die 15

Früchte einer zunehmenden Arbeitsteilung die Möglichkeit eröffne, die Nachteile einer entsprechenden Bevölkerungsvermehrung zu kompensieren, d. h. den Lohnsatz über das Existenzminimum ansteigen zu lassen37, leugnete die pessimistische Variante dieser Theorie diese Möglichkeit. Diese sieht im Subsistenzlohn vielmehr allein den »natürlichen Lohn«, d. h. den Lohn der die Reproduktion der Arbeitskraft gerade sicherstellt, dessen Anhebung nur durch eine Beschränkung des Bevölkerungswachstums möglich wäre, eine Möglichkeit, die diese Autoren jedoch aufgrund ihrer Annahmen über das menschliche Verhalten für wenig wahrscheinlich erachteten38. Jedoch finden sich auch bei den sog. »klassischen« Ökonomen erste Ansätze, die auf die besondere Problematik des Arbeitsmarktes gegenüber anderen Märkten hinweisen. So zeigt ζ. B. John Elliot Cairness, daß die Gesetze der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nur begrenzt gelten, weil nämlich ein beliebiges Abströmen der Arbeit von einen in einen anderen Berufszweig nur in sehr eingegrenztem Maße stattfindet39. Dies liege daran, daß verschiedene Angebotsgruppen mit unterschiedlichen Lohnverhältnissen entstanden seien, die nicht direkt miteinander konkurrieren. Der Arbeitsmarkt wird also von diesem Autor als ein Markt angesehen, auf dem keine vollständige Konkurrenz unter allen Anbietern herrscht, weil sich Strukturen im Sinne von »non competing groups« entwickelt haben40 - eine frühe Form beruflicher Teilarbeitsmärkte. Diese theoretischen Reflexionen über Wert und Lohn und die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt in den Werken der »klassischen« Ökonomen müssen vor dem Hintergrund einer umfassenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in England zu jener Zeit gesehen werden. Die Belege für die miserable Lebenssituation vor allem der neu entstehenden Industriearbeiterschaft sind beeindruckend und zahlreich41. Diese Situation stellt den vorläufigen Endpunkt einer schon länger andauernden Entwicklung der Verarmung breiter Massen dar, die mit der Zerstörung der ländlichen Agrarverfassung, der sog. Agrarrevolution, ihren Anfang genommen hatte und die zu einer Freisetzung ländlicher Arbeitskräfte gefuhrt hatte42. Das daraus folgende Überangebot an Arbeit konnte in der beginnenden Industrialisierung als Arbeitskräftereservoir genutzt werden, ohne daß damit ein wesentliches Ansteigen der Löhne und damit eine merkliche Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Betroffenen verbunden war. Auch das ausgedehnte System der Armenfürsorge konnte an diesen Zuständen nichts ändern, lag doch das Hauptproblem in einer unzureichenden Entlohnung der Arbeiter43. Auch Marx steht in der zuvor geschilderten Theorietradition insoweit, als er die ökonomische Analyse der Arbeit nur im Zusammenhang mit den allgemeinen Bedingungen der Produktion vornimmt und sich dabei explizit auf die Arbeitswerttheorie bezieht. In seiner Analyse der kapitalistischen Akkumulation 44 untersucht er im Modell der »erweiterten Reproduktion« 16

eine Situation, in der der gesellschaftlich produzierte Mehrwert auf Kapitalisten, konstantes und variables Kapital verteilt wird45. Steigende Akkumulation, d.h. ökonomisches Wachstum, ist mit einem Zuwachs in der Nachfrage nach Arbeit verbunden. Damit steigt auch ihr Preis. Da jedoch nicht automatisch das Angebot erhöht wird, müßte sich der Lohn über den Wert der Arbeitskraft, der sich gemäß den Annahmen der allgemeinen Werttheorie aus den Reproduktionskosten bestimmt, erheben. Hier fuhrt Marx den Begriff der »industriellen Reservearmee« ein, mit dem er die aus der zeitgenössischen Anschauung gewonnene Auffassung einer relativen Überbevölkerung in den Industriestaaten beschreibt. Die unbeschäftigten Arbeiter üben durch ihren aktiven Wettbewerb auf dem Markt einen dauerhaften Druck auf das Lohnniveau aus, so daß die Akkumulation bei konstanter Lohnhöhe erfolgen kann. Zudem sind die Kapitalisten in der Lage, die mit der Akkumulation verbundenen Tendenzen zur Lohnsteigerung durch Mechanisierung und Rationalisierung zu unterlaufen, so daß damit die industrielle Reservearmee ständig reproduziert wird46. Eine langfristige Verbesserung der Lage der Arbeiter durch eine Erhöhung des Lohnsatzes ist also ebenfalls ausgeschlossen. In einem Wechsel der Perspektive von der langfristigen Entwicklung des Wirtschaftssystems und darin eingebunden der des Arbeitsmarktes hin zu den kurzfristigen Prozessen der Lohnbildung auf dem Arbeitsmarkt formulierten die sog. »Neoklassiker« 47 die Wahlhandlungstheorie. Durch die Einbeziehung individueller Nutzenkalküle in die ökonomische Analyse wurde die ökonomische Theorie auf eine neue Basis gestellt. Die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge dienten nicht mehr direkt, sondern nur noch indirekt als Bezugspunkte der Analyse, vermittelt über das individuelle Handeln des »homo oeconomicus« 48 . Im Rahmen der Wertlehre bedeutete dies, daß nicht länger der Wert eines Gutes als durch die Kosten bzw. die aufgewendete Arbeit bestimmt angesehen wurde (objektive Wertlehre), sondern durch die individuelle Nutzenschätzung der Wirtschaftssubjekte49. Auch die klassischen Ökonomen kannten den »Gebrauchswert« eines Gutes, der durch dessen Nützlichkeit bestimmt wurde, benutzten diesen jedoch nicht zu dessen Wertbestimmung. So konnte es im Rahmen ihrer Theorie zu dem sog. »Wertparadoxon« kommen, d.h., daß ein Gut von hohem Nutzen nur einen geringen Wert besitzen und umgekehrt, daß ein Gut von geringem Nutzen einen sehr hohen Wert haben konnte 50 . Die Lösung dieses Wertparadoxons wurde durch die Grenznutzentheorie möglich, die anknüpfend an Arbeiten von Hermann Heinrich Gossen 5 ' unabhängig voneinander von William Stanley Jevous, Leon Walras und Karl Menger zu Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde 52 . Demnach wurde der Wert eines Gutes durch den zusätzlichen Nutzen, den eine zusätzliche Einheit dieses Gutes zu stiften vermochte, bestimmt. Wenn auch manche Zeitgenossen diese Neuorientierung der ökonomischen Theorie als »wissenschaftliche Revolution« 53 empfunden haben mögen, so 17

darf doch nicht vergessen werden, daß sie in einer langen wissenschaftlichen Tradition stand54. Entsprechend den individuellen Nutzenkalkülen auf dem Arbeitsmarkt ergibt sich die Arbeitsnachfrage aus der Verhaltensprämisse des typischen Unternehmers, seinem Streben nach maximalem Gewinn. Da die Produktionsfunktion eines Unternehmens durch sinkende Grenzerträge gekennzeichnet ist, zeigt sich ein Nachfrageverhalten nach Arbeit, das die Unternehmen dazu veranlaßt, wegen der fallenden Ertragszuwächse gemäß ihrer Produktionsfunktion so lange zusätzliche Arbeit nachzufragen, bis das Grenzprodukt der letzten nachgefragten Arbeitseinheit genau dem Grenzerlös entspricht, und der liegt bei der Annahme der vollständigen Konkurrenz beim Produktpreis55. Entsprechend verhalten ich auch die privaten Haushalte der Anbieter von Arbeit. Sie maximieren ihren individuellen Nutzen dadurch, daß sie solange zusätzliche Arbeit anbieten, wie der damit erzielbare Nutzen durch zusätzliches Einkommen größer ist als der Nutzenverzicht durch den Verlust an Freizeit. Erklärungsvariable in beiden Kalkülen ist der Lohnsatz, der in diesem Modell dazu dient, Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung zu bringen. Da mit steigendem Lohnsatz das Arbeitsangebot steigt und die Nachfrage nach Arbeit zurückgeht und bei sinkendem Lohnsatz die beiden Größen sich umgekehrt entwickeln, gibt es immer einen Lohnsatz, bei dem jeder, der zu diesem Lohnsatz arbeiten möchte, auch beschäftigt wird. Es herrscht also notwendigerweise auf dem Arbeitsmarkt Gleichgewicht und in der Wirtschaft Vollbeschäftigung56. Arbeitslosigkeit ist in diesem Modell nur denkbar, wenn das Funktionieren des beschriebenen Marktmechanismus behindert wird. Der Wirtschaftsablauf in den meisten Industrieländern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entsprach jedoch kaum den Vorstellungen dieser Theorie von Gleichgewicht und Vollbeschäftigung. Sowohl das 19. Jahrhundert als auch insbesondere die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts waren ζ. B. in Deutschland durch ökonomische Krisen geprägt57 Vor dem Hintergrund der Depression in den frühen 30er Jahren zeigte sich in besonderem Maße die Unzulänglichkeit der auf individuellen Nutzenkalkülen fußenden herrschenden ökonomischen Doktrin mit ihren Vorstellungen von einem dem Wirtschaftsablauf angeblich innewohnenden Automatismus zu Stabilität und Gleichgewicht. In dieser Situation stellte John Maynard Keynes58 eine neue Wirtschaftslehre vor, die es zuließ, Unterbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt auch bei Gleichgewicht auf dem Gütermarkt zu erklären59 Die Ursache für die Unterbeschäftigung wurde vor allem in einem Mangel an effektiver Nachfrage gesehen und er forderte konsequenterweise eine staatliche Wirtschaftspolitik, um diese Nachfragelücke zu schließen60. Keynes sah als Mangel der herrschenden ökonomischen Theorien vor allem, daß die Probleme der Bestimmung der Produktionsmenge und damit der Größe der Beschäftigung und der Höhe des Gesamteinkommens 18

zugunsten der Fragen der Verteilung eines bestehenden Einkommens vernachlässigt wurden 61 . Darüber hinaus glaubte er, daß nicht nur rationale Nutzenkalküle, sondern auch psychologische Faktoren das Verhalten von Wirtschaftssubjekten entscheidend mitbestimmen. Hinsichtlich einer speziellen Arbeitsmarkttheorie ist gegenüber dem Keynesschen Ansatz zweierlei festzuhalten. Einmal bemüht sich Keynes nicht darum, eine besondere auf Arbeit bezogene Werttheorie zu entwikkeln. Die Frage nach der Ursache des Wertes von Waren tritt bei ihm gegenüber der Frage der Allokation der Arbeit in den Hintergrund. Die Allokation der Arbeit hingegen wird bestimmt vom Umfang der vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten, die wiederum von der Höhe der Gesamtproduktion abhängig sind. Die Gesetze, die den Umfang der Produktion bestimmen, schlagen jedoch nicht unmittelbar auf den Arbeitsmarkt durch, sondern der Arbeitsmarkt ist ein besonderer Markt mit eigenen Gesetzen und Regeln62. Damit ist auch der zweite wesentliche Punkt hinsichtlich einer Arbeitsmarkttheorie im Keynesschen System genannt: es besteht ein gesonderter Arbeitsmarkt, der sich sowohl vom Gütermarkt als auch vom Geldmarkt unterscheiden läßt.

III Den besonderen Strukturbedingungen und Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt widmet sich - zunächst vorwiegend im angelsächsischen Sprachraum - eine spezielle Arbeitsmarkttheorie 63 . Die ersten Ansätze dieser Art orientierten sich jedoch noch sehr stark an neoklassischen Vorstellungen, die allerdings schon bald einer umfassenden Kritik unterzogen wurden 64 . Insgesamt lassen sich im englischen Sprachraum inzwischen zwei Bereiche der Beschäftigung mit den Problemen und Eigenarten des Arbeitsmarktes unterscheiden 65 : (1) Eine relativ umfassend konzipierte »Labor Economics« (Politische Ökonomie der Arbeit), die als allgemeiner Begriff das wissenschaftliche Umfeld der (2) »Labor Market Theory« beschreibt, die ihrerseits i.e.S. die ». Struktur und Funktionsweise des Marktes für die Ware Arbeitskraft .« untersucht. Durch ein Schaubild kann man den Zusammenhang dieser beiden Forschungsbereiche sowie deren jeweilige Gegenstände gut veranschaulichen66 (Schaubild 3 S. 20). Die Hauptprobleme innerhalb der verschiedenen Bereiche dieses Forschungsgebietes lassen sich sehr unterschiedlich angehen. Zumindest zwei Schulen sind unterscheidbar, die der Ökonomisten, bei denen in der neoklassischen Tradition das den Nutzen maximierende Individuum im Mittel19

Politische

Ökonomie

der

Arbeit

Sozialisationstheorie ........ Schichten-und Klassentheorie Theorie

der



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Quatifikationstheorie Bildungsökonomie

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UnterbeschäftigungsArbeitslosigkeitstheorie

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Schaubild 3: Forschungsbereiche der A r b e i t s m a r k t t h e o r i e n

p u n k t des Interesses steht, u n d die der Institutionalisiert, die ihre U n t e r s u c h u n g e n m e h r auf die besonderen Eigenarten des Arbeitsmarktes abstellen. Z u einer einheitlichen T h e o r i e haben sich bislang w e d e r die einzelnen Ergebnisse der beiden Schulen, w e n i g e r n o c h die aller Ansätze insgesamt z u s a m m e n f u g e n lassen. Dies gilt in b e s o n d e r e m M a ß e f ü r die Diskussion in der B u n d e s r e p u b l i k Deutschland, in die die angelsächsischen Ergebnisse erst allmählich E i n g a n g finden. N e u e r e A r b e i t e n stehen ebenfalls in der T r a d i t i o n der beiden a n g e s p r o chenen Schulen. D i e G r u p p e derjenigen, die o b e n als » Ö k o n o m i s t e n « bezeichnet w u r d e n , zeigt in ihren Ansätzen eine starke modelltheoretische O r i e n t i e r u n g , beschränkt sich auf formalisierte ö k o n o m i s c h e Kalküle u n d zögert, auch n i c h t ö k o n o m i s c h e Gegenstände in die Analyse einzubeziehen 67 A u s g e h e n d v o n der Feststellung, daß allein die neoklassische T h e o r i e ein ». konsistentes, einigermaßen geschlossenes deduktives S y s t e m v o n Aussagen z u m A r b e i t s m a r k t v e r h a l t e n .« enthält 68 , ist es nicht v e r w u n derlich, daß eine Reihe v o n Arbeiten implizit oder explizit an den P r ä m i s sen dieses Systems festhalten u n d v o n daher eine gehaltvolle A r b e i t s m a r k t theorie zu entwickeln suchen. Diese Ansätze sind durchaus in der Lage, L o h n u n t e r s c h i e d e d u r c h A u s b i l d u n g s - b z w . Produktivitätsunterschiede u n t e r den A r b e i t e r n zu erklären, o h n e die neoklassische Prämisse des langfristigen Ausgleichs zwischen Grenzerlös u n d Grenzkosten aufgeben zu müssen 6 9 . In dieser T r a d i t i o n finden sich eine Reihe v o n M o d i f i k a t i o 20

nen70, und auch die sog. Flexibilitätsforschung ist hier einzuordnen 71 . Dieser Ansatz versucht, die Hemmnisse zwischen verschiedenen Teilbereichen des Arbeitsmarktes zu identifizieren und die Mobilität zwischen ihnen auf individueller zu fördern, u m damit dem Funktionieren der marktwirtschaftlichen Anpassungsprozesse Vorschub zu leisten72. Eine Weiterentwicklung des neoklassischen Modells stellt auch die sog. »Job Search and Labor Turnover Theory« dar73. Diese schenkt vor allem den Suchprozessen der Anbieter von offenen Stellen und dem Suchverhalten der Nachfrager nach offenen Stellen besondere Aufmerksamkeit. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit wird dabei verlagert von der Betrachtung des gesamtwirtschaftlichen Angebots an Stellen und der gesamten Erwerbsbevölkerung auf den Teil des Arbeitsmarktes, der durch Stellensuche, Arbeitslosigkeit und unbesetzten Stellen charakterisiert ist. Die Kritik an der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie und der auf ihr aufbauenden Ansätze ist jedoch nicht verstummt 74 . Die wesentlichen Argumente lassen sich kurz in drei Punkten zusammenfassen 75 . (1) Die institutionellen Voraussetzungen für die Gültigkeit der Theorie sind nicht gegeben. (2) Die Theorie ist prinzipiell nicht falsifizierbar, da sie mit allen empirischen Befunden vereinbar ist. (3) Wird die Theorie jedoch eindeutig bestimmt, so gerät sie in Widerspruch mit den empirischen Untersuchungen. Mit der Kritik an den neoklassischen Ansätzen wurden zugleich T h e o rien entwickelt, die eher der oben beschriebenen Schule der »Institutionalisten« zuzurechnen sind. Die wissenschaftliche Orientierung dieser Arbeiten zeichnet sich durch Problemorientierung in der Konfrontation mit widersprüchlichen Fakten und eine häufige Einbeziehung von Variablen, die üblicherweise in ökonomischen Modellen keinen Platz finden, aus76. Schon früh wurde der Kritik an den Prämissen der neoklassischen Theorie insofern Rechnung getragen, als zwar die Annahme einer allgemeinen Konkurrenz u m die Stellen auf dem Arbeitsmarkt beibehalten wurde, aber nicht alle Anbieter von Arbeitskraft als gleichermaßen geeignet für die verschiedenen Arbeitsplätze angesehen wurden. Mobilitätsbarrieren aufgrund individueller Fähigkeiten und Berufsqualifikationen führen dann zu einer Segmentierung des Arbeitsmarktes und zur Existenz von Nichtwettbewerbsgruppen77 Diese Überlegungen wurden von zahlreichen Autoren aufgegriffen und ausgebaut 78 . Die Erkenntnis, daß der Arbeitsmarkt durchaus als Konglomerat recht unterschiedlicher Segmente zu interpretieren sei, führte zur Entstehung einer sog. Segmentierungstheorie. Bei dieser Konzeption einer Segmentierung des Arbeitsmarktes in Teilmärkte stellen sich drei grundsätzliche Fragen 79 . (1) Wie ist der Arbeitsmarkt segmentiert, d. h. in welche und wieviele Segmente teilt sich der Arbeitsmarkt auf? 21

(2) Wie kommt es zu diesen Spaltungen, wo liegen deren Ursachen und wie erklärt sich ihre Stabilität? (3) Welche Folgen ergeben sich aus der Arbeitsmarktsegmentation für die Betroffenen und die Arbeitsmarktpolitik? Auf die Frage nach dem Umfang der Segmentation auf dem Arbeitsmarkt lassen sich verschiedene Antworten finden80. Im Rahmen der Theorie des dualen Arbeitsmarktef wird die Existenz eines primären Arbeitsmarktes mit stabilen Arbeitsplätzen und eines sekundären Arbeitsmarktes mit schwankender Nachfrage, hoher zwischenbetrieblicher Mobilität und generell schlechteren Arbeitsbedingungen unterstellt. Die beiden Segmente des Arbeitsmarktes werden durch sozialökonomische Mechanismen begründet und aufrechterhalten, ζ. B . durch die Dualisierung der Wirtschaft in privilegierte Großbetriebe und den Rest der Betriebe82, durch Sozialisationsund Qualifikationsprozesse, wie auch einer Orientierung der Gewerkschaftspolitik vorwiegend an den machtvollen Interessen ihrer Mitglieder im primären Arbeitsmarktsektor 83 . Eine andere Aufteilung des Arbeitsmarktes richtet ein stärkeres Augenmerk auf die Qualifikationen der Beschäftigten und unterscheidet demgemäß zwischen drei Segmenten, nämlich zwischen Teilarbeitsmärkten fur betriebs-, fach- und unspezifische QualifikationenIm Prinzip ist die Anzahl der Segmente nicht a priori zu definieren, sondern sie ist historisch und forschungsspezifisch variabel. So lassen sich etwa auch verschiedene berufliche Teilmärkte unterscheiden. Ebenso findet sich eine Differenzierung zwischen betriebsinternen und externen Arbeitsmärkten8ä. Diese letzte Theorie geht von dem Faktum aus, daß zunehmend auch Großbetriebe über ein System organisierter betrieblicher Mobilitätspfade mit unterschiedlichen Eintrittsund Austrittstorten verfugen, ähnlich den Laufbahnen des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik Deutschland. Der Zugang in solche internen Arbeitsmärkte ist begrenzt, unterliegt besonderen Selektionsmechanismen und verweist eine große Zahl von Arbeitskräften auf den externen Arbeitsmarkt, auf dem zudem häufig nur »sekundäre« Stellen vermittelt werden86. Auch die zweite Frage nach den Ursachen der Segmentation eröffnet viele Antwortmöglichkeiten. Jeder Arbeitsplatzwechsel ζ. B. stellt u. a. auch eine Investition in Information und Qualifikation dar und ist deshalb mit Kosten verbunden. Bei einem Wechsel innerhalb bestimmter Beschäftigungsaggregate mit ähnlichen Qualifikationen sind diese Kosten gering, während ein Wechsel zwischen verschiedenen Aggregaten hohe Kosten verursacht. Die Kosten des Arbeitsplatzwechsels zwischen verschiedenen Beschäftigungsaggregaten konstituieren demnach verschiedene Teilarbeitsmärkte87. Andere Autoren sehen andere Zusammenhänge zwischen Segmentation und Qualifikation88. Daneben ließen sich eine weitere Vielzahl von Faktoren anfuhren, die ebenfalls im Widerspruch zu den recht restriktiven Annahmen des klassischen Arbeitsmarktmodells stehen und 22

damit mehr oder weniger der Segmentation des Arbeitsmarktes Vorschub leisten89 Die Wirkung der Arbeitsmarktsegmentation auf die Betroffenen ist bislang kaum untersucht worden90. Versuche, die Konsequenzen der Segmentation für die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu bestimmen, stehen immer wieder vor dem Problem, daß die Theorie der Arbeitsmarktsegmentation kaum in der Lage ist, das Entstehen von Arbeitslosigkeit zu erklären - dazu ist man dann auf die bestehenden Erklärungsmuster zurückverwiesen wohl aber für die Überwindung von Arbeitslosigkeit von höchster Relevanz ist. Arbeitslosigkeit tritt gegenwärtig zumeist deutlich strukturiert, d. h. auf bestimmte Problemgruppen konzentriert auf 2 . Eine Ursache für diese Konzentration der Arbeitslosigkeit auf bestimmte Beschäftigungskategorien liegt sicherlich auch in der unterschiedlichen Häufigkeit, mit der diese in den verschiedenen Segmenten des Arbeitsmarktes vertreten sind. Darüber hinaus lassen sich soziale Mechanismen aufzeigen, die für die Zuteilung von Arbeitslosigkeit bedeutsam sind, ζ. B. die Existenz von Alternativrollen außerhalb des Erwerbssystems für die betroffenen Personengruppen93. Hiervor sind vor allem weibliche Arbeitskräfte betroffen94. Die Erweiterung der Arbeitsmarktmodelle in Hinblick auf die Berücksichtigung der unterschiedlichen Strukturierungen von Arbeitsmärkten hat dazu geführt, daß damit auch die Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Arbeitsmarktstrukturen mit in das Bückfeld des Interesses gerieten. Die Perspektive erweiterte sich also von einer isolierten Analyse der Arbeitsmarktbedingungen zu einer integrierten Analyse des Arbeitsmarktes mit allen seinen gesellschaftlichen Einbindungen. Der Arbeitsmarkt war also auch im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu erörtern. Hier bot sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, beginnend mit demographischen Prozessen bis hin zu den Problemen der technologischen Entwicklung95. Bislang standen jedoch vor allem Versuche zur Analyse des Zusammenhanges zwischen Arbeit und Qualifikation, zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, im Vordergrund96. Neben der Einbeziehung der Prozesse, die von außerhalb auf den Arbeitsmarkt wirken, bieten sich zur besseren Erfassung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt auch internationale Vergleiche an97. Insgesamt finden sich im Rahmen der neueren Arbeitsmarkttheorien also zahlreiche entwicklungsfähige Versuche zu einer schlüssigen Arbeitsmarktanalyse.

IV Die aufgezeigte Vielfalt der Ansätze zur Erklärung des Arbeitsmarktverhaltens legt es nahe, diese auf Möglichkeiten hin abzufragen, die sie für eine empirische Analyse von Arbeitsmärkten bieten. Dabei sollte »empirisch« 23

nicht zu eng im Sinne der Techniken und Methoden der aktuellen empirischen Sozialforschung verstanden werden, sondern damit die Möglichkeit gegeben sein, »historische« Zeiten zu berücksichtigen98. Es zeigt sich doch gerade bei der Untersuchung von Arbeitsmarktprozessen, daß diese einen längeren Zeitraum der Entfaltung beanspruchen, so daß allein an aktuellen Manifestationen und Ursachenkomplexen orientierte Arbeiten häufig zu kurz greifen. Gerade der Arbeitsmarkt bietet u. E. auch ein gutes Beispiel fur die häufig beschworene Zusammenarbeit von Geschichte und Soziologie". Die Möglichkeiten einer solcherart erweiterten sozialwissenschaftlichen Perspektive gegenüber dem Arbeitsmarkt lassen sich in fünf Fragekomplexen erörtern100. Der erste Fragenkomplex bezieht sich auf die Entstehung eines industriellen Arbeitsmarktes. Schon weiter oben wurde erwähnt, daß es sich dabei um eine Form der Rekrutierung der gesellschaftlichen Arbeit handelte, die durchaus nicht alternativlos war und deshalb durch spezifische Eigenarten geprägt wurde. Die Expansion der im industriellen Bereich beschäftigten Arbeitskräfte im Zuge der Industrialisierung seit etwa 1800 läßt sich für alle betroffenen Länder gut belegen101. Die Zahlen zeigen jedoch, daß nicht nur im neu entstehenden industriellen Sektor die Beschäftigung deutlich anstieg, sondern ebenso in den traditionellen Sektoren. Die allgemeine Expansion der Beschäftigung war bedingt durch ein starkes Bevölkerungswachstum und eine damit einhergehende Mobilisierung der gesamten Bevölkerung. Das überproportionale Anwachsen der Beschäftigten im industriellen Sektor - und diese Berufsgruppe wurde zunächst wesentlich über den entsprechenden Arbeitsmarkt rekrutiert - scheint deshalb nicht durch Berufswechsel der bereits beschäftigten Bevölkerungsteile (IntraGenerationsmobilität) gespeist worden zu sein, sondern vorwiegend durch Zugang aus der wachsenden Bevölkerung (Inter-Generationsmobilität). Die Expansion der Beschäftigten und die Umstrukturierung innerhalb der Beschäftigungsbereiche müssen in engem Zusammenhang mit den institutionellen Reformen der Zeit gesehen werden. Diese schufen zugleich die institutionellen Voraussetzungen für die Existenz eines Arbeitsmarktes102, d. h. nichts anderes als für die Entstehung der Lohnarbeit. Sowohl in England103 als auch in den in der Industrialisierung nachfolgenden Staaten104 läßt sich die Entstehung von Lohnarbeit vor allem als Konsequenz aus Veränderungen in der Agrarverfassung interpretieren. Dabei wird ζ. B . für Preußen besonders deutlich, daß erst die Agrarreformen dazu geführt haben, einen ländlichen Arbeitsmarkt zu etablieren. Es besteht jedoch durchaus keine Klarheit darüber, ob die Freisetzung der ländlichen Arbeitskräfte aus ihren feudalistischen Bindungen im Endeffekt auch zu einer Freisetzung von Arbeitskräften geführt hat oder ob sich die Nachfrage nach Arbeitskräften insgesamt erhöht hat. Umstritten bleibt darüber hinaus auch die Frage, ob dieser ländliche Arbeitsmarkt, falls er Arbeitskraft freigesetzt hat, die Nachfrage nach industrieller Arbeitskraft befriedigen 24

konnte, d.h., ob die Fähigkeiten und Qualifikationen ehemaliger Landarbeiter ausgereicht hätten, der industriellen Nachfrage zu entsprechen. Neben dem Zustrom aus der Landwirtschaft rekrutierten sich Lohnarbeiter aus dem vorindustriellen Handwerk und dem Bevölkerungszuwachs105. Im Zusammenhang mit der Konstituierung eines industriellen Arbeitsmarktes ist es ebenfalls bedeutsam, die ersten Ansätze zur Institutionalisierung der Marktbeziehungen zu beachten. Hierher gehören einerseits die Versuche der Anbieter von Arbeitskraft, ihren strukturellen Nachteil gegenüber den Nachfragern durch Organisation zu überwinden106, andererseits aber auch entsprechende Anstrengung der Unternehmer, so daß schon bald die Arbeitsmarktparteien sich in Organisationen zusammengefaßt am Arbeitsmarkt gegenüberstanden107 Hinzu trat außerdem bald der Staat, der durch Versicherungspflicht, Arbeitsvermittlung etc. ebenfalls die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt mit beeinflußte108. Die Konstitutionsbedingungen des Arbeitsmarktes haben zu zahlreichen theoretischen Interpretationen Anlaß gegeben. Marx z.B. unterscheidet dabei zwei Stufen der Durchsetzung marktmäßiger Bedingungen für die Ware Arbeitskraft109. In einem ersten Schritt erfolgt die »formelle Subsumption der Arbeit unter das Kapital«, d.h. die Warenproduktion für den anonymen Markt setzt sich unter Beibehaltung traditioneller Arbeitsorganisation (Handwerk, Verlag) durch. Später erfolgt dann die »reelle Subsumption der Arbeit unter das Kapital«, indem auch die Arbeitsorganisation und damit auch die Rekrutierung der Arbeitskräfte auf Lohnarbeit in Fabriken umgeformt wird. Die historische Entwicklung zeigt hinsichtlich der Probleme des Arbeitsmarktes zwei bemerkenswerte Ergebnisse. Einmal konstituiert sich ein Arbeitsmarkt, Arbeit wird »frei« und die Arbeitskraft wird zur Ware. Zweitens konstituiert sich Fabrikarbeit, d. h. die Anforderungen an die Ware Arbeitskraft verändern sich, traditionelle Arbeitsweisen werden zerstört und neue Forderungen nach Zeitrhythmus110, Arbeitsdisziplin111 etc. setzen sich durch. Ein zweiter wichtiger Problembereich im Zusammenhang mit der Existenz von Arbeitsmärkten wird durch die Frage nach den Bedingungen der Lohnbildung für die Ware Arbeitskraft umschrieben. Hier stand und steht vor allem die Frage im Vordergrund, wie sich die Einkommen im Zeitablauf verändern112 und ob die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu einem Abbau der Lohndifferenzen führt, oder ob eine Verstärkung der Einkommensunterschiede zwischen den Beschäftigten zu beobachten ist113. Allgemein wird häufig angenommen, daß mit der einsetzenden Industrialisierung ein Sinken des Einkommens und eine Verschlechterung des allgemeinen Lebensstandards für weite Kreise der Bevölkerung zu beobachten war114. Diese Behauptung eines generell sinkenden Lebensstandards der Lohnarbeiterschaft hat zu einer ausgedehnten Kontroverse geführt115, in der Material sowohl zur Stützung als auch zur Widerlegung dieser These 25

mobilisiert w o r d e n ist. Betrachtet m a n bei der Konstituierung der industriellen Arbeitsmärkte neben den Veränderungen der Beschäftigtenanteile zugleich auch die Veränderungen der Einkommensverhältnisse in den entsprechenden Bereichen, so scheint ein tendenzieller Abbau der relativen Einkommensdifferenzen auf die zunehmende Durchsetzung von M a r k t b e ziehungen auf d e m Arbeitsmarkt hinzudeuten 116 . Wenn auch f ü r den modernen Arbeitsmarkt zunehmend auf nicht-marktwirtschaftliche Faktoren bei der B e s t i m m u n g des Arbeitseinkommens hingewiesen wird, so bleibt ohne Zweifel die Frage nach den Einkommensdisparitäten der Beschäftigten höchst relevant. So zeigen sich auch noch in neuerer Zeit zwischen einigen Autoren Meinungsverschiedenheiten über die zu erwartende Entwicklung der E i n k o m m e n i m Verlauf des Industrialisierungsprozesses. Während einerseits eine Annäherung der E i n k o m m e n der Arbeitskräfte vermutet wird 117 , läßt sich andererseits auch die gegenteilige Mein u n g auffinden 118 . Eine dritte bedeutsame Frage bezieht sich auf das Gleichgewicht bzw. die Stabilität des Arbeitsmarktes. Hierbei geht es d a r u m festzustellen, ob auf d e m Arbeitsmarkt tatsächlich eine Tendenz z u m Ausgleich zwischen Angebot u n d Nachfrage bestand und besteht, oder ob d e m widersprechend Arbeitslosigkeit existiert. Im Gegensatz zu manchen theoretischen Voraussagen ist Arbeitslosigkeit ein dauernder Begleiter im K o n j u n k t u r - und Wachstumsverlauf 1 9 Ursachen und Folgen von Ungleichgewichten auf d e m Arbeitsmarkt, von Disparitäten zwischen Angebot und Nachfrage, stellen einen wichtigen Bereich für empirische Untersuchungen dar. Die Frage nach den Ursachen der Arbeitslosigkeit beschäftigt die ö k o n o mische Theorie schon seit langem und wird zumeist den zyklischen Schwankungen der Wirtschaftstätigkeit zugeschrieben, die der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eigen sind. Dabei unterscheidet m a n heute allgemein vier Ursachenkomplexe (Jahreszeiten, Unvollkommenheiten im Arbeitsmarkt, Konjunkturschwankungen und Strukturwandel), die zu Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage auf d e m Arbeitsmarkt führen können und damit den U m f a n g der Beschäftigung bestimmen 120 . Als Ursache für Arbeitslosigkeit sind vor allem konjunkturelle u n d strukturelle Faktoren von Belang 121 . Daß Massenarbeitslosigkeit nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und politische Konsequenzen hat, ist sowohl aus der großen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre 122 als auch aus den Konjunktureinbrüchen in der Bundesrepublik bekannt 123 . Deutlich wird auch, daß nicht alle Beschäftigungsgruppen des Arbeitsmarktes in gleicher Weise von der Arbeitslosigkeit betroffen werden, sondern daß es eine Reihe besonderer »Problemgruppen« gibt124. Dazu zählen gegenwärtig vor allem auch Jugendliche 125 . Es gilt also, für eine Reihe von gesonderten Arbeitsmarktbereichen das Problem der Stabilität u n d des Gleichgewichts besonders zu behandeln 126 . Ein vierter Bereich arbeitsmarktrelevanter Probleme läßt sich in die Frage 26

kleiden, ob es sich beim Arbeitsmarkt tatsächlich u m einen Markt handelt, auf dem homogene Waren getauscht werden, oder ob die Arbeitskraft als inhomogen bezeichnet werden muß. Die Antwort auf diese Frage lautet zumeist, daß es sich beim Arbeitsmarkt weitgehend u m einen inhomogenen Markt handelt. Problematisch wird es allerdings dann, wenn es gilt, die einzelnen Segmente des Arbeitsmarktes voneinander zu scheiden. Ein häufig angewandter Versuch dazu besteht darin, drei Sektoren der Wirtschaft zu unterscheiden und die dort Beschäftigten als relativ homogene Arbeitsmarktgruppen zu interpretieren, deren Beschäftigungsbedingungen im wesentlichen durch die Nachfrageentwicklung nach den Produkten der Sektoren und durch den technologischen Fortschritt in den Sektoren selbst bestimmt werden 127 Untersuchungen dieser Art bestätigen die vermutete Entwicklung, die charakterisiert ist durch ein kontinuierliches Sinken der Zahl der Beschäftigten im primären, landwirtschaftlichen Sektor, ein zunächst starkes, dann abgeschwächtes, zuletzt stagnierendes bis rückläufiges Wachstum der Beschäftigten im sekundären gewerblichen Sektor und ein erst langsames, dann starkes Anwachsen der Zahl der Beschäftigten im tertiären Dienstleistungssektor 128 . O b eine solche Konzeption, die sich an den Produktionsbedingungen in den drei Sektoren orientiert, tatsächlich dazu dient, Arbeitskräfte zu klassifizieren, kann bezweifelt werden 129 . In der Praxis gibt es zahlreiche Untersuchungen, die wesentlich engere Teilarbeitsmärkte für bestimmte Beschäftigungsgruppen nach vielfältigen Kriterien, wie ζ. B. soziale Bewertung des Arbeitsplatzes, Qualifikation, Geschlecht, Wohnort etc. bestimmen 130 . Dabei wird zumeist auf den »Beruf« als Konstituens eines Teilsarbeitsmarktes zurückgegriffen, und je nach Enge des zugrunde gelegten Berufsbegriffs lassen sich unterschiedlich große berufliche Teilarbeitsmärkte abgrenzen. Eine solche weite Definition erlaubt es z . B . , Angestellte als einen beruflichen Teilarbeitsmarkt zu untersuchen und diesen dann noch in verschiedene berufliche Teilbereiche aufzuspalten 131 , oder auch die gewerbliche Arbeiterschaft insgesamt als einen Teilarbeitsmarkt zu interpretieren 132 . O f t jedoch werden einzelne Berufsgruppen herausgegriffen, wobei neben deren allgemeiner wirtschaftlicher und sozialer Lage häufig auch ihre Arbeitsmarktbedingungen untersucht werden 133 . Dabei wird ebenfalls deutlich, daß Teilarbeitsmärkte zumeist in bestimmten Regionen konstituiert werden 134 . Darüber hinaus ließen sich weitere Merkmale der Bestimmung von Teilarbeitsmärkten anfuhren 135 . Insgesamt findet sich also eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, die alle versuchen, die Unterstellung eines homogenen Arbeitsmarktes durch eine realitätsbezogene Aufteilung desselben in Teilarbeitsmärkte aufzuheben. Als letzten und fiinften zentralen Bereich der Arbeitsmarktforschung läßt sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen dem Arbeitsmarkt und anderen Teilen der Gesellschaft formulieren. Dabei können prinzipiell alle Bereiche der Gesellschaft Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt zei27

gen, die jedoch erfahrungsgemäß von unterschiedlicher Bedeutung sind136. Hier können diese jedoch nur für einige wichtige ausgewählte Teilbereiche veranschaulicht werden, vor allem für den Bereich der Bevölkerungsentwicklung, des Qualifikations- und Bildungssystems und den Bereich der politischen Gestaltung, der Arbeitsmarktpolitik. Wie schon weiter oben im Schaubild 1 dargestellt, besteht ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen der Bevölkerung und dem Umfang der Beschäftigung. Eine zahlreiche Bevölkerung erfordert eine große Anzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Probleme einer wachsenden Bevölkerung für die Beschäftigung und Wohlfahrt einer Gesellschaft sind ebenfalls bereits bei der Diskussion der klassischen Arbeitsmarkttheorie angesprochen worden. Wenn auch das zunächst ungebremste Bevölkerungswachstum im Verlauf der Industrialisierung sich verlangsamte137, so gelten vergleichbare Probleme heute jedoch zumindest noch für eine Reihe von Entwicklungsländern 138 . Die Determinanten der Bevölkerungsentwicklung sind vielfaltiger Art; denn das biologische Fortpflanzungsverhalten des Menschen ist sozial überlagert139. Als besonderes Forschungsproblem erweist sich dabei die Tatsache, daß es sich bei den demographischen Strukturen innerhalb einer Bevölkerung nicht um Bewußtseinstatsachen handelt, sie zudem sozial differenziert und wandelbar sind, so daß deren empirische Bestimmung erst »ex-post« und mit großen Ungenauigkeiten versehen möglich ist140. Darüber hinaus ist die Bestimmung des Arbeitspotentials, d. h. des Teils der Bevölkerung, der arbeitsfähig und arbeitswillig ist, wie auch die des Arbeitsplatzangebotes der Wirtschaft häufig sehr schwierig141. Die Einbeziehung der Wanderung innerhalb der Bevölkerung eröffnet weitere Probleme; denn Zu- und Abwanderung von arbeitsfähigen Personen hat eine unmittelbare Wirkung auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsentwicklung 142 , wie auch umgekehrt die Lage der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes die Bereitschaft zur Wanderung beeinflußte143. Einen zweiten wichtigen Bereich des Zusammenhanges zwischen Arbeitsmarkt und Gesellschaft stellt der Bereich des Bildungssystems dar. Das Bildungssystem produziert Qualifikationen, die auf dem Arbeitsmarkt verwertet werden können. Auf die Unzulänglichkeiten des an klassischen Idealen orientierten Bildungssystems zur Vorbereitung für industrielle Arbeit gerade in Deutschland ist häufig hingewiesen worden144. Die Ausbildung und Entwicklung eines an den qualifikatorischen Bedürfnissen des industriellen Systems ausgerichteten Bildungssystems fand dann zögernd, doch letztlich sehr erfolgreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt145. Die Ergebnisse der modernen Qualifikationsforschung weisen allerdings daraufhin, daß der Zusammenhang zwischen schulischer Bildung und den betrieblichen Ausbildungsanforderungen ein nur sehr loser und zudem wechselhafter ist146. Einmal lassen sich die Bildungsvoraussetzungen für die meisten Arbeitsqualifikationen nur sehr allgemein und ungenau festlegen, 28

andererseits gibt es innerhalb der Arbeitsplatzorganisation Freiräume, die eine Anpassung an vorgegebene Qualifikationsstrukturen erlauben147. Langfristige Prognosen fur eine arbeitsmarktbezogene Bildungspolitik sind deshalb äußerst schwierig. Damit wäre zugleich ein weiterer Bereich des Zusammenhanges zwischen Arbeitsmarkt und Gesellschaft angesprochen, nämlich die Möglichkeiten zur gestaltenden Einflußnahme auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitsmarktpolitik. Die Notwendigkeit vor allem staatlicher Eingriffe in den Arbeitsmarkt war in der großen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre unabweisbar geworden148. Jedoch erst in der Nachkriegszeit wurde Beschäftigungspolitik zu einer umfassenden staatlichen Aufgabe, die institutionell verankert und rechtlich verfestigt wurde149 Grundsätzlich gelten dabei die gleichen Bedingungen wie für die allgemeine Wirtschaftspolitik150.

Anmerkungen 1 Vgl. ζ. Β. A. Hegelheimer, Bildungs- und Arbeitskräfteplanung, München 1970. 2 G. Schmid, (Steuerungssysteme des Arbeitsmarktes - Vergleich von Frankreich, Großbritannien, Schweden, D D R und Sowjetunion mit der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1975, S. 7) sieht das »Systemproblem« des Arbeitsmarktes ähnlich in der optimalen Z u o r d nung von Arbeitskraft und Arbeitsmitteln. 3 D. North u. R. Thomas, The Rise and Fall of the Manorial System. A Theoretical Model, in: JEH, Jg. 31, 1971, S. 778-803. 4 E. Domar, The Causes of Slavery and Serfdom. A Hypothesis, in: J E H , Jg. 30, 1970, S. 18-32. 5 S. L. Engerman, Some Considerations Relating to Property Rights in Man, in: J E H , Jg. 33, 1973, S. 43-65. 6 Dazu P. Kriedte u. a., Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Lande in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977. 7 Vgl. ζ. B. die Form der Arbeitskräftelenkung in den sozialistischen Ländern, beispielsweise in der D D R , w o eine Reihe staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen die Befugnis der Betriebe, freie Arbeitskräfte einzustellen, beschränken. Dazu: Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation 1972, S. 185 u. G. Schmid, Steuerungssysteme. 8 K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen, Wien 1977. 9 W. Kleber, Arbeitsmarkt und Arbeitsmobilität. Versuche zu einer soziologischen Arbeitsmarktperspektive. Arbeitspapier Nr. 5 des VASMA Projektes, Mannheim 1979, S. 1 u. S. Gensior u. B. Krais, Arbeitsmarkt und Qualifikation. Z u r Problematik der Ermittlung und Verallgemeinerung von Qualifikationsanforderungen, in: SW, Jg. 25, 1974, S. 396. 10 E. Lederer u. J. Marschak, Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisation, in: Grundriß der Sozialökonomik, IX. Abt. II. Teil, Tübingen 1927, S. 106-258, S. 112ff. 11 Ebd., S. 118. 12 K. Marx, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Der Produktionsprozeß des Kapitals, M E W Bd. 23, Berlin (Ost) 1962, S. 557 ff. 13 U . Kadritzke, Angestellte - Die geduldigen Arbeiter. Zur Soziologie und zur sozialen Bewegung der Angestellten, Frankfurt/M. 1975, S. 113.

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14 Z . B . Κ. Marx, Das Kapital; E. Altvater, Arbeitsmarkt und Krise, in: M. Bolle (Hg.), Arbeitsmarkttheorie und Arbeitsmarktpolitik, Opladen 1976, S. 52. 15 D. Mertens, Der Arbeitsmarkt als System von Angebot und Nachfrage, in: MittAB, 6. Jg., 1973, S. 229; E. Willeke, Art. Arbeitsmarkt, in: HDSW, Stuttgart 1956, S. 321. 16 J. Kühl, Bezugssystem fur Ansätze einer Theorie der erwerbswirtschaftlichen und kontrahierten Arbeit, in: MittAB, 8. Jg., 1975, S. 289. 17 W. Kleber, Arbeitsmarkt, S. 2 ff. 18 C. Offe u. K. Hinrichs, Sozialökonomie des Arbeitsmarktes und die Lage »benachteiligter« Gruppen von Arbeitnehmern, in: C. O f f e u.a., Opfer des Arbeitsmarktes. Zur Theorie der strukturierten Arbeitslosigkeit, Neuwied 1977, S. 3-61, hier S. 8 f. 19 W. Siebert, Art. Arbeitsvertrag, in: HDSW, Stuttgart 1956, S.377; R. Wiethölter, Rechtswissenschaften, Frankfurt/M. 1968, S. 281. 20 W. Kleber, Arbeitsmarkt, S. 5. 21 S. Gensior u. B. Krais, Arbeitsmarkt, S. 396. 22 Eine vereinfachte Darstellung des Schaubildes auf S. 31 bei W. Kleber, Arbeitsmarkt. Eine ähnliche Untergliederung in Form von Arbeitsmarktkonten bei C. Offe u. K. Hinrichs, Sozialökonomie des Arbeitsmarktes, S. 22 ff. 23 D. Mertens, Arbeitsmarkt, S. 230. 24 Ebd., S. 236. Ähnliche Versuche bei G. Schmid, Steuerungssysteme, S. 10 u. S. 28 und J. Kühl u. a., Bezugssystem. 25 Z u dieser Kritik vgl. S. Gensior u. B. Krais, Gesellschaftstheoretische Erklärungsmuster von Arbeitsmärkten, in: M. Bolle (Hg.), Arbeitsmarkttheorie und Arbeitsmarktpolitik, Opladen 1976, S. 93ff. Hier liegt vermutlich der kritische Punkt aller separaten Analysen des Arbeitsmarktes, die notwendigerweise von den zugrundeliegenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen etc. weitgehend abstrahieren müssen. 26 J. Kühl u.a., Bezugssystem, insbes. S. 291. 27 B. Lutz (Bildungssystem und Beschäftigungsstruktur. Z u m Einfluß des Bildungssystems auf die Gestaltung betrieblicher Beschäftigungsstrukturen, in: H.-G. Mendius u.a., Betrieb - Arbeitsmarkt - Qualifikation 1, Frankfurt/M. 1976, S. 83-151) zeigt solche Unterschiede sogar zwischen zwei ähnlich hoch entwickelten Industriegesellschaften. 28 A. Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: H. U . Wehler (Hg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1973, S. 121-139. 29 M. Maurice u.a.: Die Entwicklung der Hierarchie in Industrieunternehmen: Untersuchungen eines gesellschaftlichen Effektes, in: SW 3/1979, S. 295-327. 30 A. Stobbe, Gesamtwirtschaftliche Theorie, Berlin 1975, S. 104ff. 31 N . Koubek u. E. Seifert, Z u m Begriff, Gegenstand und Entstehen des Arbeitsmarktes, in: B. Clasen u. a. (Hg.), Arbeitsmarkt. Strukturwandel und Politik, Frankfurt/M. 1977, S. 1-17, hier S. 5. 32 So wird der Werttheorie von A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1974 (1776), insbes. Kap. 8, S. 56-75 allgemein ein hohes Maß an Inkonsistenz bescheinigt. Vgl. G. Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie, Göttingen 1969, S. 55; W. Hofinann, Wert- und Preislehre, Berlin 1961, S. 51; S. Wendt, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1968, S. 32-37 und Autorenkollektiv, Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen, Berlin (Ost) 1965, S. 69. Gleiches gilt für seine Lohntheorie. Vgl. F. Bülow, Zur Einkommenslehre bei Adam Smith, in: A. Montaner, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Köln 1967, S. 117-143; M. Blaug, Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie, Bd. 1, München 1971, S. 101 f. 33 A. Smith, Der Wohlstand, S. 57; vgl. dazu S. Wendt, Geschichte, S. 35; G. Stavenhagen, Geschichte, S. 56. 34 A. Smith, Der Wohlstand, S. 58 f., F. Bülow, Einkommenslehre, S. 135 f., M. Blaug, Theoriegeschichte, S. 104. 35 G. Stavenhagen, Geschichte, S. 70. Eine allgemeine Analyse dieses Sachverhaltes bei A. Lewis, Economic Development with Unlimited Supply of Labour, in: A. N . Agarwala u. S. P. Singh (Hg.), The Economics of Underdevelopment, N e w York 1973, S. 400-449.

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36 Dieses Reproduktionsverhalten entspricht dem Verhalten des sog. »Malthusischen« Bevölkerungsgesetzes, das von den klassischen Autoren allgemein als gültig unterstellt wurde. Vgl. dazu T. R. Malthus, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, Jena 1934 (Übersetzung der 6. Auflage von 1826), insbes. Kap. 1 - 3 und allgemein: M. Blaug, Theoriegeschichte, S. 137ff. 37 Hauptvertreter dieser Theorie war: A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Vgl. dazu auch: W. Stark, Geschichte der Volkswirtschaftslehre in ihrer Beziehung zur sozialen Entwicklung, Dordrecht/Holland 1960, S. 26f. 38 D. Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation, London 1929 (1817) war der Hauptvertreter dieser Denktradition. Vgl. G. Stavenhagen, Geschichte, S. 38. 39 J. E. Cairness, Some Principles of Political Economy Newly Expounded, London 1874. 40 G. Stavenhagen, Geschichte, S. 95. 41 F. Engels, (Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Berlin (Ost) 1964 (1845) stellt die in Deutschland bekannteste zeitgenössische Schilderung der Verhältnisse dar. Eine wichtige offizielle Quelle bildet: The Poor Law Report of 1834, hg. von S. G. u. Ε. Ο. A. Checkland, Harmonds worth 1974. 42 Ε. L. Jones (Hg.), Agriculture and Economic Growth in England 1650-1815, London 1967 (insbes. den Beitrag von Chambers), J. D. Chambers u. G. E. Mingay, The Agricultural Revolution 1750-1880, London 1966, ein kurzer Überblick bei P. Dean, The First Industrial Revolution, Cambridge 1965, Kap. 3. 43 Μ. E. Rose, The Relief of Poverty 1834-1914, London 1979. Allgemein zur Armengesetzgebung: P. Gregg, Α Social and Economic History of Britain 1760-1970, London 1971, insbes. S. 180fF, J. R. Poynter, Society and Pauperismus, English Ideas on Poor Relief, 1795-1834, London 1969 und zu den historischen Vorläufern Ε. Μ. Leonard, The Early History of English Poor Relief, London 1965 (1900) . 44 K. Marx, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, 1. Bd., Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin (Ost) 1962 (1867), 7. Abschnitt, insbes. Kap. 21 bis 23, S. 589-740. 45 P. M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Eine analytische Studie über die Prinzipien der Marxschen Sozialökonomie, Frankfurt/M. 1970, S. 104ff. 46 Marx nennt diesen Zusammenhang »ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz«. Vgl. K. Marx, Das Kapital, S. 660. Daneben sorgen auch die zyklisch auftretenden Krisen ebenfalls fur eine Reproduktion der industriellen Reservearmee. 47 Über den Begriff besteht in der Literatur keine Einigkeit; vgl. dazu H. (Vinkel, Die Volkswirtschaftslehre in der neueren Zeit, Darmstadt 1973, S. 55. 48 Eine Bewertung dieser Modellkonstruktion bei T. Pierenkemper, Wirtschaftssoziologie. Eine problemorientierte Einfuhrung, Köln 1980, S. 19f. 49 H. Winkel, Die Volkswirtschaftslehre, S. 1. 50 Umfassend zu den Vorläufern, zur Entstehung und zur Weiterentwicklung der subjektiven Wertlehre vgl. G. Stavenhagen, Geschichte, S. 277 ff. 51 Η. H. Gossen, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854; nach ihm sind auch die »Gossenschen Gesetze«, die Basis der subjektiven Wertlehre, benannt. 52 W. St. Jevous, The Theory of Political Economy (1871); L. Walras, Elements d'economie politique pure, Bd. 1 und 2, Paris 1874, 1877. C. Menger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre (1871). Ausfuhrlich zu den drei Autoren und die an ihnen anknüpfenden Schulen vgl. H. Winkel, Volkswirtschaftslehre, S. 8-54. 53 Vgl. A. Kruse, Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien, Berlin 1959, S. 182. 54 H. Winkel, Volkswirtschaftslehre, S. 3-5. 55 Eine der vielen Darstellungen dieser Art bei A. Stobbe, Gesamtwirtschaftliche Theorie, S. 85fF. Z u r Fundierung dieser Theorie ebenfalls H. Winkel, Volkswirtschaftslehre, S. 1-54, die dort allerdings als »Grenznutzenschule« von der »Neoklassik« abgesetzt wurde. Z u alternativen theoretischen Entwicklungen vgl. C. Napoleoni, Grundzüge der modernen ökonomischen Theorie, Frankfurt/M. 1968. 56 Es sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich auf die besondere Definition von Vollbe-

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schäftigung und damit von Arbeitslosigkeit hingewiesen. Vollbeschäftigung in diesem Sinne bedeutet nicht, daß jeder Arbeitsfähige Arbeit hat, sondern nur, daß jeder Arbeitsfähige, der zum herrschenden Lohnsatz arbeiten will, dies auch tut. 57 R. Spree u. M . Tybus, Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913, Göttingen 1978; D . Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977. 58 J . M . Keynes, General Theory o f Employment, Interest and Money, London 1936. 59 A. Stobbe, Theorie, auch Η. Winkel, Volkswirtschaftslehre, S. 109fr.; S. Wendt, Geschichte, S. 157ff.; G. Stavenhagen, Geschichte, S. 589-598. 60 Er bestreitet also die Gültigkeit des Sayschen Gesetzes, nach dem sich ein Angebot automatisch wegen der dabei erzielten Einkünfte auch seine Nachfrage schaffe. Keynes sieht, daß durch Horten eine Nachfragelücke entstehen kann. 61 G. Stavenhagen, Geschichte, S. 588. 62 So ζ. B . mit Minimallöhnen und Geldillusion. 63 J . H. Hicks, T h e Theory o f Wages, London 1964 (1932) und A. C. Pigou, The Theory o f Unemployment, London 1933. 64 J . Dunlop, Wage Determination under Trade Unions, New York 1944 u. Α. M . Ross, Trade Union Wage Policy, Berkeley 1948. 65 Zu dieser Unterscheidung vgl. D. Freiburghaus u. G. Schmid, Theorie der Segmentierung von Arbeitsmärkten, in: Leviathan, 1975, S. 418ff. 66 Ebd., S. 419. 67 Ebd., S. 421. Vgl. auch D . Freiburghaus, Arbeitsmarktsegmentation, Wissenschaftliche Modellerscheinung oder arbeitsmarkttheoretische Revolution, in: Brinckmann, u. a. (Hg.), Arbeitsmarktsegmentation - Theorie und Empirie im Lichte empirischer Befunde, Nürnberg 1979, S. 159-183. 68 W. Sengenberger, Arbeitsmarktstruktur. Ansätze zu einem Modell des segmentierten Arbeitsmarktes, Frankfurt/M. 1978, S. 3. Zum neoklassischen Arbeitsmarktmodell und seinen Problemen vgl. umfassend G. Weißhuhn, Beschäftigungschancen und Qualifikation, Frankfurt/M. 1978, S. 12fF. 69 Vgl. D. Ahner, Arbeitsmarkt und Lohnstruktur. Zum Einfluß von Aufbau und Funktionsweise des Arbeitsmarktes auf die Lohnstruktur, Tübingen 1978, S. 9 ff. 70 Ζ. B. bei R. Buchenegger, Bestimmungsgründe der Erwerbsquoten und Prognosen des Arbeitskräftepotentials, Linz 1972, S. 17ff. Vgl. auch H. Pfiiem, Die Grundstruktur der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie, in: W. Sengenberger (Hg.), Der gespaltene Arbeitsmarkt. Probleme der Arbeitsmarktsegmentation, S. 43-53, Frankfurt/M. 1978, S. 50f., der die Einbeziehung der Humankapitaltheorie als Aufgabe der Homogenitätsbedingung und Suchansätze als Aufgabe der Annahme der vollständigen Transparenz und Information auf dem Arbeitsmarkt interpretiert. 71 Dazu D. Mertens, Der unscharfe Arbeitsmarkt. Eine Zwischenbilanz der Flexibilitätsforschung, in: MittAB, 6. J g . , 1973, S. 314-335. Zu den Grenzen dieses Ansatzes U . Beck u. a.: Soziale Grenzen beruflicher Flexibilität, in: MittAB, 12. J g . , 1979, S. 584-593. 72 Formuliert wurde dieses Konzept vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit dem Modell der beruflichen Teilarbeitsmärkte, auf das weiter unten noch eingegangen wird. 73 Vgl. dazu: D . Freiburghaus, Zentrale Kontroversen der neuen Arbeitsmarkttheorie und Arbeitsmarktpolitik, Opladen 1976, S. 71-91 u. G. Weißhuhn, Beschäftigungschancen, S. 27 ff. 74 E. Willeke, Art. Arbeitsmarkt, S. 326-332; G. Weißhuhn, Beschäftigungschancen, S. 14ff. 75 W. Sengenberger, Arbeitsmarktstruktur, S. 10-13. 76 D . Freiburghaus u. G. Schmid, Theorie, S. 421. 77 D. Ahner, Arbeitsmarkt, S. 51 ff. 78 Z . B . b e i W . Sengenberger, Arbeitsmarktstruktur, S. 19ff. u. B. Lutz u. W. Sengenberger, Arbeitsmarktstrukturen und öffentliche Arbeitsmarktpolitik, Göttingen 1974, S. 43 ff. Eine andere Interpretation der Mobilitätsbarrieren bei Th. Vietorisz u. B . Harrison, Der arbeits-

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marktendogene Ursprung von Mobilitätsbarrieren, in: W. Sengenberger (Hg.), Der gespaltene Arbeitsmarkt, S. 99-115. 79 W. Sengenberger, Einfuhrung: Die Segmentation des Arbeitsmarktes als politisches und wissenschaftliches Problem, in: ders.: (Hg.), Der gespaltene Arbeitsmarkt, S. 14-42. 80 Ein Überblick bei G. Weißhuhn, Beschäftigungschancen, S. 29ff. 81 Dazu D. Freiburghaus, Kontroversen, S. 72 ff. u. S. 87 ff. u. D. Freiburghaus u. G. Schmid, Theorie, S. 431-445. 82 J. K. Galbraith, The N e w Industrial State, Boston 1967. 83 Kritisch dazu M. L. Wachtier, Das Konzept des dualen Arbeitsmarktes aus neoklassischer Sicht, in: W. Sengenberger (Hg.), Der gespaltene Arbeitsmarkt, S. 139-184. 84 W. Sengenberger, Arbeitsmarktstruktur, S. 58 ff. 85 Eine neuere Kontroverse um dieses Konzept bei K. Hoßnann u. R. Schmitt, Arbeitsmarktsegmentation - Karriere eines Konzeptes - , in: WSI-Mitt. 1980/1, S. 33-43 u. B. Lutz u. W. Sengenberger, Segmentationsanalyse und Beschäftigungspolitik, in: WSI-Mitt. 1980/3, S. 291-299. 86 G. Mendius u. W. Sengenberger, Konjunkturschwankungen und betriebliche Politik. Z u r Entstehung und Verfestigung von Arbeitsmarktsegmentation, in: H.-G. Mendius u.a.: Betrieb - Arbeitsmarkt - Qualifikation I, Frankfurt/M. 1974, S. 15-81, hier S. 38-41 u. D. Ahner, Arbeitsmarkt S. 84-128. Zu internen und externen Arbeitsmärkten vgl. auch F. Butler u. a. Messung und Interpretation betriebsinterner Arbeitsmarktbewegungen - Ein empirischer Beitrag zur nichtmarktgesteuerten Ablokation von Arbeitskräften, in: W. Sengenberger (Hg.), Der gespaltene Arbeitsmarkt, S. 185-224. R. Schultz-Wild, Betriebliche Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarkt: Z u m Zusammenhang zwischen Personalanpassung und Arbeitsmarktstruktur und -entwicklung, S. 74-101 u. H. Biehler u.a., Interne und externe Arbeitsmärkte - Theorie und Empirie - zur Kritik eines neoklassischen Paradigmas, beide in: Ch. Brinckmann u.a. (Hg.), Arbeitsmarktsegmentation. 87 W. Sengenberger, Arbeitsmarktstruktur, S. 19ff., G. Weißhuhn, Beschäftigungschancen, S. 25 ff. u. B. Lutz u. W. Sengenberger, Arbeitsmarktstrukturen, S. 43 ff. 88 Vgl. u. a. B. Lutz, Qualifikation und Arbeitsmarktsegmentation, in: Ch. Brinckmann u. a. (Hg.), Arbeitsmarktsegmentation, S. 45-73 u. N . Altmann u. F. Bühle, Betriebsspezifische Qualifizierung und Humanisierung der Arbeit, in: H.-G. Mendius u. a., Betrieb, S. 153-206. 89 Neben der schon genannten Arbeit von Th. Vietorisz und B. Harrison, Der arbeitsmarktendogene Ursprung, wären hier noch zu nennen: M. J. Piore, Lernprozesse, Mobilitätsketten und Arbeitsmarktsegmente, S. 67-98 u. L. C. Thurow, Die Arbeitskräfteschlange und das Modell des Arbeitsplatzwettbewerbs, S. 117-138, alle in: W. Sengenberger (Hg.), auch W. Sengenberger u. H.-G. Mendius, Konjunkturschwankungen. 90 Erste Ansätze bei M. Reich u. a.: Arbeitsmarktsegmentation und Herrschaft, in: W. Sengenberger (Hg.), Arbeitsmarkt, S. 55-66. 91 Dies kann sowohl durch marxistisch orientierte Konzepte wie etwa bei H. Schui, Arbeitslosigkeit: Erklärung durch die Segmentationsthese oder durch ökonomische Analyse, in: Ch. Brinckmann u. a. (Hg.), Arbeitsmarktsegmentation, S. 148-158, wie auch in der Keynesschen Tradition stehende Ansätze erfolgen, wie etwa bei M. Bolle, Keynesianische Beschäftigungstheorie und Segmentierungskonzepte, in: ebd., S. 285-314. 92 F. Egle, Strukturalisierung der Arbeitslosigkeit und Segmentation des Arbeitsmarktes. Einige empirische Befunde, in: Ch. Brinckmann u. a. (Hg.), Arbeitsmarktsegmentation, S. 184-204. 93 C. Offe u. K. Hinrichs, Sozialökonomie des Arbeitsmarktes und die Lage »benachteiligter« Gruppen von Arbeitnehmern, in: C. O f f e u. a. (Hg.), Opfer des Arbeitsmarktes. Z u r Theorie der strukturierten Arbeitslosigkeit, Neuwied 1977, S. 3-61, insbes. S. 34f. 94 G. Schmid, Frauenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ch. Brinckmann u. a. (Hg.), Arbeitsmarktsegmentation, S. 315-378 u. J. Peikert, Frauenarbeit Proletarisierung auf Widerruf?, in: C. Offe u. a. (Hg.), Opfer S. 63-92. 95 W. Dostal, Technischer Wandel und Beschäftigung u. D. Hoeckel, Die Bewältigung

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technisch induzierter Beschäftigungsprobleme im Rahmen der Marktwirtschaft, beides Vortrage im Arbeitskreis 5 der Jahrestagung der Gesellschaft fur Wirtschafts- und Sozialwissenschaften - Verein fur Socialpolitik, am 16. Sept. 1980 in Nürnberg. 96 Vgl. z . B . die Arbeiten von U . Teichler u. a., Hochschulexpansion und Bedarf der Gesellschaft, Stuttgart 1976; M. Baethge u. a., Produktion und Qualifikation. Eine Vorstudie zur Untersuchung von Planungsprozessen im System der beruflichen Bildung, Hannover 1975; B. Lutz, Zum Verhältnis von Bildungssystem und Beschäftigungssystem, in: Stifterverband fiir die Deutsche Wissenschaft (Hg.), Bildungsexpansion und Beschäftigungsstruktur. Am Beispiel des Abiturientenproblems, Essen 1976, S. 31-39. 97 J . Vincens, Bildung und Arbeitsmarktsegmentation in Frankreich, S. 225-256 u. G. Celletti, Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsmarktstruktur in Italien, S. 257-295, beide in: W. Sengenberger (Hg.), Arbeitsmarkt. B. Lutz, Bildungssystem und Beschäftigungsstruktur in Deutschland und Frankreich, in: H.-G. Mendius u. a., Betrieb, S. 83-152. 98 Zu diesem BegrifT vgl. H . - U . Wehler (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1976, Einleitung. 99 H . - U . Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 9 - 4 4 u. auch P. Ch. Ludz, Soziologie und Sozialgeschichte, Sonderheft 16/1972 der KZfSS. 100 Neben den bei D. Freiburghaus u. G. Schmid, Theorie, S. 420, genannten Problemen der Eigenschaften der Ware Arbeitskraft, des Gleichgewichts, der Preisbildung und der Allokation auf dem Arbeitsmarkt sollten dazu noch die Beziehungen des Arbeitsmarktes zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gezählt werden, ebenso wie internationale Vergleiche, s. o. S. 20. 101 Für England ζ. B . bei P. Deane u. W. A. Cole, British Economic Growth, 1688-1959, Trends and Structure, Cambridge 1962, S. 142; für die U S A in: Historical Statistics o f the United States, Colonial Times to 1957, Washington D. C. 1960, S. 70ff. und für Deutschland bei W. G. Hoffinann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 204f. 102 E. Lederer u. J . Marschak, Klassen, S. 112fif. 103 Vgl. dazu kurz P. Dean, The First Industrial Revolution, S. 36-50. 104 Für Preußen vgl. R. Berthold u. a.: Der preußische Weg der Landwirtschaft und neuere westdeutsche Forschungen, in: J b W , 1970/IV S. 259-289 u. G. Ipsen, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau, in: W. Köllmann u. P. Marschalck (Hg), Bevölkerungsgeschichte, Köln 1972, S. 154-189. 105 H. Henning, Sozialgeschichtliche Entwicklungen in Deutschland von 1815 bis 1860, Paderborn 1977, S. 174. 106 Für die englische Entwicklung S. u. B . Webb, Die Geschichte des Britischen Trade Unionismus, Stuttgart 1895 und fur eine bedeutende deutsche Berufsgruppe K. Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiter an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Kap. X I , S. 345ff., BonnBad Godesberg 1977. 107 Ein kurzer Uberblick über die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland bis in die 1920er Jahre und die entsprechende Entwicklung der Arbeitgeberverbände bei E. Lederer u. J . Marschak, Klassen, S. 137ff., 159ff. 108 Vgl. F. Syrup, Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839-1939, aus dem Nachlaß hg. v. J . Scheuble, Stuttgart 1957, S. 218f. S. 303ff. u. O. Weigert, Die Organisation des Arbeitsmarktes, in: B . Harms (Hg.), Strukturwandlungen der deutschen Wirtschaft, Bd. 1, Berlin 1929, S. 400-502. 109 Vgl. dazu J . H. Mender, Technologische Entwicklung und Arbeitsprozeß, Frankfurt/ M . 1975. 110 Vgl. Ε. P. Thompson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: R. Braun u. a. (Hg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution, Köln 1973, S. 81-112, und allgemein: K. Heinemann u. P. Ludes, Zeitbewußtsein und Kontrolle der Zeit, in: K. Hammerich u. M . Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Sonderheft 20/1978 der KZfSS, S. 220-243.

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111 S. Pollard, Fabrikdisziplin in der Industriellen Revolution, in: W. Fischer u. G. Bajor (Hg.), Die soziale Frage. Neuere Studien zur Lage der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung, Stuttgart 1967, S. 159ff. 112 Entsprechende Untersuchungen für Deutschland Α. V. Desai, Real Wages in Germany 1871-1913, Oxford 1968 u. G. Bry, Wages in Germany 1871-1940, Princeton 1960. 113 J. Tinbergen, Einkommensverteilung, in: SW, Jg. 27, 1976, S. 1-7. 114 Dazu ζ. B. F. Engels, Lage. 115 Vgl. die Beiträge von A. J. Taylor, E. J . Hobsbawm, T. S. Ashton und R. M. Hartwell bei W. Fischer u. G. Bajor, Die soziale Frage. 116 Für England vgl. z.B. P. Dean u. A. W. Cole, British Economic Growth, S. 142/143 und S. 152. 117 J. Williamson, Regional Inequality and the Process of National Development: A Description o f Patterns, in: Economic Development and Cultural Change (13) 1965, S. 1-84. 118 G. Myrdal, Economic Theory and Under-Development Regions, London 1965. 119 K. Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen 1800-1914, in: Η. Aubin u. W. Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 198-275, insbes. S. 264. 120 Eine Zusammenstellung entsprechender Konjunkturtheorien bei G. Habeler, Prosperität und Depression. Eine theoretische Untersuchung der Konjunkturbewegung, Berlin 1948 und eine dogmenhistorische Darstellung bei G. Stavenhagen, Geschichte, S. 543-605. 121 E. Dürr u. G. Neuhauser, Währungspolitik, Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, Stuttgart 1975, S. 108ff. 122 Eine aufschlußreiche erste Untersuchung über die Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit Μ.Jahoda u. a.: Die Arbeitslosigkeit von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt/M. 1975 (1933). 123 Neuere Untersuchungen: Ch. Brinckmann, Finanzielle und psychosoziale Belastungen während der Arbeitslosigkeit, in: MittAB 1976, S. 397-413 u. A. Wacker, Arbeitslosigkeit. Soziale und psychische Voraussetzungen und Folgen, Frankfurt/M. 1976. 124 U. Engelen-Kefer, Problemgruppen des Arbeitsmarktes, in: WSI-Mitt. 1978/5, S. 270-278. 125 H.-Ch. Harten, Strukturelle Jugendarbeitslosigkeit. Bildungs- und beschäftigungspolitische Konzeptionen und Maßnahmen, München 1977. 126 Vgl. zu dieser Problematik die Ausführungen zu Arbeitsmarktsegmentation und Arbeitslosigkeit weiter oben auf S. 18f. 127 Zu den verschiedenen Ansätzen siehe C. Clark, The Conditions o f Economic Progress, London 1960; A. G. Β. Fisher, Production, Primary, Secondary and Tertiary, in: Economic Record (1939), S. 24ff. u. J. Fourastie, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1969. 128 Vgl. die Zahlen bei M. Jungblut, Die Rebellion der Uberflüssigen, Bergisch-Gladbach 1970, S. 29ff. und auch bei J. Kocka, Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie, Göttingen 1977, S. 40. 129 H.-J. Pohl, Kritik der Drei-Sektoren-Theorie, in: MittAB, 3. Jg., 1970, S. 313-325. 130 Vgl. dazu U. Engelen-Kefer, Beschäftigungspolitik, S. 46ff. 131 H. Speier, Die Angestellten, S. 22ff. 132 K.-H. Kaußiold, Entstehung, Entwicklung und Gliederung der gewerblichen Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland 1800-1875, in: H. Kellenbenz (Hg.), Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt, München 1974, S. 69-85 u. H. Henning, Entwicklungen, S. 172ff. 133 Z . B . fur die Textilarbeiterschaft bei G. Adelmann, Strukturelle Krisen im ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands zu Beginn der Industrialisierung, in: H. Kellenbenz (Hg.), Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt, S. 110-128 u. R. Engelsing, Der Arbeitsmarkt der Dienstboten im 17., 18. und 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 159-237; ders., Die wirtschaftliche und soziale Differenzierung der deutschen kaufmännischen Angestellten 1690-1900, in: ZfdgSt. 1967, Bd. 123, S. 347-380 und S. 482-515.

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134 F. Blaich, D e r Einfluß der Eisenbahnpolitik auf die Struktur der A r b e i t s m ä r k t e i m Zeitalter der Industrialisierung, in: H . Kellenbenz (Hg.), Wirtschaftspolitik S. 86-109. 135 Ζ . B. das Geschlecht, vgl. dazu J. Handl, Prozesse sozialstrukturellen Wandels am Beispiel der E n t w i c k l u n g v o n Qualifikations- u n d E r w e r b s s t r u k t u r e n der Frauen i m D e u t schen Reich u n d in der Bundesrepublik Deutschland, V A S M A , Arbeitspapier N r . 6, M a n n h e i m 1979 u. E. Beck-Gernsheim u. I. Ostner, Frauen verändern - Berufe nicht? Ein theoretischer Ansatz zur P r o b l e m a t i k v o n Frau u n d Beruf, in: SW, J g . 29, 1978, S. 258-287, o d e r die Qualifikation, dazu: U . Teichler u. a., Hochschulexpansion u. M . Baethge u . a . P r o d u k t i o n u n d Qualifikation, H a n n o v e r 1975. 136 Eine u m f a s s e n d e Z u s a m m e n s t e l l u n g möglicher Beziehungen b e i j . Kühl u. a., Bezugssystem für Ansätze. Vgl. dazu: G. Briefs, B e v ö l k e r u n g s b e w e g u n g u n d A r b e i t s m a r k t e n t w i c k lung, in: B. Harms, S t r u k t u r w a n d l u n g e n , S. 57-74. 137 Die Bevölkerungswissenschaftler haben diesen Prozeß der Anpassung der B e v ö l k e rungsweise an die Gegebenheiten der Industriegesellschaft als »demographischen Ü b e r g a n g « beschrieben. Vgl. dazu R. Mackensen, E n t w i c k l u n g u n d Situation der E r d b e v ö l k e r u n g , in: R. Mackensen u. H . W e v e r (Hg.), D y n a m i k der Bevölkerungsentwicklung, Strukturen B e d i n g u n g e n - Folgen, M ü n c h e n 1973, S. 20-39, insbes. S. 32. 138 Vgl. dazu P. Khalathari, Ü b e r b e v ö l k e r u n g in den Entwicklungsländern, Berlin (Ost) 1968. 139 Eine u m f a s s e n d e E i n f ü h r u n g in diese T h e m a t i k : G. Mackenroth, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie u n d Statistik der Bevölkerung, Berlin 1953. 140 Dazu auch: W . Köllmann u. P. Marschalck (Hg.), Bevölkerungsgeschichte, K ö l n 1972, insbes. die Einleitung v o n W . K ö l l m a n n . 141 Ein w e n i g überzeugender Versuch bei W . Köllmann, B e v ö l k e r u n g u n d Arbeitskräftepotential in Deutschland 1815-1865. Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperism u s , in: ders., B e v ö l k e r u n g in der industriellen Revolution, Göttingen 1974, S. 61-98, neuerdings J. Jüttner, Arbeitspotential, Arbeitsmarktreserven u n d Vollbeschäftigung, in: Z f d g S t . 1972, 128. J g . , S. 22-38. 142 Ein Modell, das die W i r k u n g der E i n w a n d e r u n g s w e l l e n auf die Wirtschaft der U S A beschreibt bei R. A. Easterlin, E c o n o m i c - D e m o g r a p h i c Interactions and L o n g Swings in E c o n o m i c G r o w t h , in: A E R , J g . 56, 1966, S. 1063-1104. 143 Κ. P. Marschalck, Die deutsche Ü b e r s e e w a n d e r u n g im 19. J a h r h u n d e r t , Stuttgart 1973. 144 Eine z u s a m m e n f a s s e n d e Darstellung bei H . - U . Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, G ö t t i n g e n 1973, S. 122-131. Ausführlich bei D . K. Müller, Sozialstruktur u n d Schulsystem. Aspekte z u m S t r u k t u r w a n d e l des Schulwesens im 19. J a h r h u n d e r t , G ö t t i n g e n 1977; Κ. E . Jeistnann, Das preußische G y m n a s i u m in Staat u n d Gesellschaft, Stuttgart 1974 u. H . v. Laer, Industrialisierung u n d Qualität der Arbeit. Eine b i l d u n g s ö k o n o m i s c h e U n t e r s u c h u n g f ü r das 19. J a h r h u n d e r t , N e w Y o r k 1977; Ρ Lundgreen, Schulbildung u n d F r ü h i n d u strialisierung in Berlin/Preußen. Eine E i n f u h r u n g in den historischen u n d systematischen Z u s a m m e n h a n g v o n Schule u n d Wirtschaft, in: O . Büsch (Hg.), U n t e r s u c h u n g e n zur Geschichte der f r ü h e n Industrialisierung v o r n e h m l i c h im Wirtschaftsraum B e r l i n / B r a n d e n b u r g , Berlin 1971, S. 562-610. 145 Vgl. z . B . P. Lundgreen, Techniker in Preußen w ä h r e n d der f r ü h e n Industrialisierung, Berlin 1975 u. i m Ü b e r b l i c k , ders., Bildung u n d W i r t s c h a f t s w a c h s t u m i m Industrialisier u n g s p r o z e ß des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973. Eine D a t e n s a m m l u n g dazu bei P. Flora, Indikatoren der M o d e r n i s i e r u n g , O p l a d e n 1975, S. 123 ff. 146 U . Teichler u. a., Hochschulexpansion u n d Bedarf der Gesellschaft, S. 12ff. 147 D a z u W Fricke, Arbeitsorganisation u n d Qualifikation. Ein industriesoziologischer Beitrag zur H u m a n i s i e r u n g der Arbeit, B o n n 1978. 148 L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 363 ff. 149 U . Engelen-Kefer, Beschäftigungspolitik. 150 Vgl. T h . Pütz, G r u n d l a g e n der theoretischen Wirtschaftspolitik, Stuttgart 1971.

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ANGELIKA WILLMS

Modernisierung durch Frauenarbeit? Z u m Zusammenhang von wirtschaftlichem Strukturwandel und weiblicher Arbeitsmarktlage in Deutschland, 1882-1939*

1. Problemstellung Gerade in jüngster Zeit erlebt die Frauenerwerbstätigkeit als soziologisches Modethema eine Renaissance, sei es aus demographischer Perspektive vor dem Hintergrund sinkender Kinderzahlen, aus einem sozialpolitischen Impetus der Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsmarkt oder aus dem emanzipatorischen Interesse an einem Belastungsausgleich zwischen den Geschlechtern, sowohl im Beruf als auch in der Familie. In meinem Beitrag werde ich nicht so sehr an dieser aktuellen Diskussion anknüpfen, sondern durch eine historische Perspektive den Blick auf die Genese der gegenwärtigen Situation lenken, so daß sie verständlich wird als Ergebnis eines langfristigen gesellschaftlichen Prozesses. Ich möchte versuchen, das hohe Ausmaß an geschlechtsspezifischer Segregation des Arbeitsmarktes - sei es nach Branchen, nach Berufen oder beruflichen Stellungen das wir beobachten, als Ergebnis eines historischen Segregierungsprozesses darzustellen. Meine Frage ist, in welcher Weise sich Frauenarbeit und Männerarbeit zu verschiedenen historischen Zeitpunkten zwischen 1882 und 1939 unterschieden haben und welchen Zusammenhang es zwischen dem Wandel der Wirtschaftsstruktur und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung gibt. Der historischen Perspektive angemessen erscheint mir dabei, nicht die Überlegenheit eines theoretischen Ansatzes gegenüber den anderen, bezogen auf das Insgesamt an geschlechtsspezifischer Segregation, zu erweisen, sondern für verschiedene Bereiche der Erwerbsstruktur unterschiedliche Mechanismen, unterschiedliche Entwicklungslinien und damit eine spezifische »Segregationsgeschichte« anzunehmen. Ich vermute, daß etwa die heute beobachtbaren Unterschiede in der Fabrikarbeit von Frauen und Männern auf andere Prinzipien zurückzufuhren sind, als sie der Herausbildung geschlechtsspezifischer Unterschiede in den Professionen zugrunde liegen, sodaß auch unterschiedliche theoretische Fragen gestellt werden müssen'. Ich beschäftige mich in diesem Beitrag nur mit einem Ausschnitt aus 37

dem Erwerbssystem, mit der Industrie und dem Gewerbe, in denen die Konstitution eines Arbeitsmarktes mit der starken Expansion dieses Bereiches gesellschaftlicher Arbeit verbunden war. Neben der Untersuchung der Unterschiede von Frauenarbeit und Männerarbeit steht daher die Frage, welche theoretischen Modelle zur Verfugung stehen, um den Zusammenhang von Strukturwandel und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu bestimmen. Die Argumentation wird sich dabei an folgendem Ablauf orientieren: In einem ersten Schritt werde ich in einer sozialgeschichtlichen Perspektive die historische Entwicklung des Verhältnisses von Haushalt und Produktion skizzieren. Ausgehend von der These, daß sich dieses Verhältnis stark gewandelt hat, und für die Erwerbschancen einer Person die Stellung auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zur Stellung im Haushalt an Bedeutung gewinnt, werde ich dann zwei theoretische Ansätze diskutieren, die die Ursache für geschlechtsspezifische Erwerbschancen aus der Organisation der Produktion heraus, d. h. als Folge von Bedingungen der Kapitalverwertung oder Funktionsmechanismen des Arbeitsmarktes zu erklären beanspruchen: Reservearmeethese und Theorie des segmentierten Arbeitsmarktes. Gerade zur Erklärung der weiblichen Erwerbschancen erscheinen mir diese Ansätze ergänzungsbedürftig, da sie den Zusammenhang von Erwerbstätigkeit mit Haushalt bzw. Familie ausblenden. Anknüpfend an den ersten Abschnitt möchte ich daher eine Ergänzung der arbeitsmarkttheoretischen Ansätze vorschlagen, die mir zur >Historisierung< der Thesen unerläßlich erscheint. Im abschließenden empirischen Teil des Beitrages werden dann auf der Basis von Daten aus den Berufszählungen im Deutschen Reich einige der zuvor abgeleiteten Thesen geprüft werden.

2. Zum Verhältnis von Produktion, Haushalt und Markt in historischer Perspektive Wenn man in zeitgenössischen Schriften zur Frauenarbeit, etwa in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, das sich dort zeigende Problembewußtsein gegenüber der Erwerbstätigkeit von Frauen als späten Reflex wirklicher sozialer Veränderungen untersucht, findet sich immer wieder ein deutlicher Akzent auf der >Fabrikarbeit< als dem eigentlich Neuen bzw. Kritikhervorrufenden an der Frauenarbeit, wie etwa der Titel »Von Frauenarbeit zur Frauenfabrikarbeit« einer im Jahr 1937 in Heidelberg vorgelegten Dissertation zeigt2. Fabrikarbeit, die in dieser Zeit ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte, wird als ein soziales Problem definiert, dessen Lösung entweder in der Änderung der Erwerbsformen oder in der Durchsetzung bürgerlicher Familienvorstellungen auch in den 38

Unterschichten gesucht wird. Es scheint, daß in diesem zeitgenössischen Problembewußtsein - wenn auch verspätet - ein Bruch in der Art der normativen Z u o r d n u n g von produktiven und reproduktiven Tätigkeiten zu Personen zum Ausdruck k o m m t , zum mindesten eine erhebliche Diskontinuität der Entwicklung. Die Integration einer Person i m Produktions- und Reproduktionsbereich war in den haushaltsmäßig organisierten Produktionsgemeinschaften, die wir vor der industriellen Revolution in Landwirtschaft und Handwerk finden, durch spezifische Ausschlußmechanismen geregelt. Bestimmte Gruppen von Arbeitenden, wie Knechte, Mägde, Gesellen, waren in der Regel von der Familiengründung ausgeschlossen; andere Erwerbsformen, wie Lehrzeit oder Dienst im fremden Haushalt, galten als zur Normalbiographie gehörende Übergangsphase, die ebenfalls eine Eheschließung hinauszögerte 3 . Erstmalig wird dieses System erschüttert in der Phase der Protoindustrialisierung, in der die Heimarbeit zusätzliche Subsistenzmittel unabhängig v o m Besitz einer >Stelle< erschloß, >Bettelhochzeiten< ermöglichte und z . T . zahlreiche Nachkommenschaft wünschenswert machte. In dieser Arbeitsform blieb allerdings der Haushalt als Produktionsgemeinschaft erhalten 4 . Eine Produktionsweise, die industriell organisiert ist, setzt dagegen in der Regel den individuellen Arbeiter als Produzenten voraus 5 , sie impliziert eine Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz, fuhrt zu individuellem statt zu Familieneinkommen und überläßt das Schicksal des einzelnen Arbeiters Marktmechanismen. Die in den industriellen Arbeitsformen realisierte gesellschaftliche Trennung von Produktions- und Reproduktionsbereich gilt aber nicht für den faktischen Lebenszusammenhang: die Lebenschancen der Lohnarbeiterfamilie bestimmen sich aus der Gesamtheit ihrer Erwerbschancen. Die Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Produktion und familialer Reproduktion treten mit dem allgemeinen Zugang zur Eheschließung für immer größere Bevölkerungsgruppen zutage. Während sich in der bürgerlichen Familie das prekäre Verhältnis von Erwerb und Familie durch strikte Rollentrennung zwischen Mann und Frau und die historische >Erfindung< der Mutterschaft als Vollzeitbeschäftigung 6 ausbalancieren läßt, läßt es sich in Unterschichtsfamilien aus ökonomischen Gründen nicht in dieser Weise lösen und wird damit ein generalisiertes, soziales Problem, dessen Reflex wir in den zeitgenössischen Studien finden. Die Vergesellschaftung der Frauenarbeit hat außerdem zur Konsequenz, daß die Allokation weiblicher Arbeitskraft zunehmend Marktmechanismen unterliegt, und daß für die Erwerbschancen von Frauen außer der ehemals dominanten familialen Stellung jene Faktoren wichtig werden, die die »Chancen der Marktverwertung von Gütern und Leistungen« 7 auf dem Arbeitsmarkt steuern und die eine geschlechtsspezifische Arbeitsmarktlage konstituieren. In einem ersten Schritt möchte ich deshalb feststellen, 39

inwieweit es i m Rückgriff auf arbeitsmarkttheoretische Ansätze i m weitesten Sinn gelingt, geschlechtsspezifische Segregation und ihre Entwicklung von der Produktionsseite aus zu erklären.

3. Theoretische Ansätze zur B e s t i m m u n g der weiblichen Arbeitsmarktlage Ein klassischer theoretischer Ansatz, der sich mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktlage befaßt, entstammt der marxistischen Tradition. In der Vorstellung, daß weibliche Arbeitskräfte als »industrielle Reservearmee« auf dem Arbeitsmarkt fungieren, wird unterstellt, daß Frauen bei der m a r k t m ä ß i g e n Verwertung ihrer Arbeitskraft den Männern grundsätzlich unterlegen sind, da ihre Arbeit Zusatzarbeit, ihr E i n k o m m e n Zusatzeink o m m e n ist (bzw. so aufgefaßt wird), so daß sie sich mit den weniger gut bezahlten, weniger entwicklungsfähigen, statusniedrigen und unsicheren beruflichen Positionen zufriedengeben müssen 8 . D e m Ansatz liegt die Vorstellung zugrunde, daß weibliche Arbeitskräfte als industrielle Reservearmee j e nach wirtschaftlicher Lage mobilisiert bzw. aus d e m Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden 9 In historischer Perspektive erscheint hier die Entwicklung der E r w e r b s struktur als Resultat der Entfaltung der Produktivkräfte, die alte Arbeitsf o r m e n obsolet werden u n d neue entstehen läßt. Unentschieden ist die Frage, welche Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskraft, welche Entscheidungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten die neuen Arbeitsplätze bieten. N e b e n der These einer Tendenz zur Proletarisierung der Arbeitskräfte steht die A n n a h m e der Polarisierungstheoretiker, die ein neues Nebeneinander von wenigen Arbeitsplätzen mit h o h e m Qualifikationsniveau und vielen >Jedermannsarbeitsplätzen< entstehen sehen 10 . Stärker als in der Reservearmeethese liegt in der Theorie des segmentierten Arbeitsmarktes der Akzent auf der Qualifikationsstruktur der Arbeitskraft bzw. den A n f o r d e r u n g e n der Arbeitsplätze. In dieser Konzeption wird nicht mehr von einem an sich homogenen, nach den Regeln von Angebot und N a c h f r a g e funktionierenden Arbeitsmarkt ausgegangen, sondern von >TeilarbeitsmärktenHilfskräfte< in der Fabrik einstellt. 6 Vgl. A. S. Rossi, Equality between the sexes: an immodest proposal, in: Daedalus 93, 1964, S. 615. 7 Vgl. Μ. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 177. 8 Vgl. die Darstellung bei A. Szymanski, The socialization of women's oppression: a

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marxist theory of the changing position of women in advanced capitalist society, in: The Insurgent Sociologist, Jg. 6, H. 2, 1976, S. 31-58 sowie Replik Η. 3, S. 35-45. 9 Zur Kritik dieses Ansatzes, die insbesondere die Vernachlässigung der Qualität der Arbeitskraft und die Unterstellung einer ungebrochenen Aggregierung der Mikroereignisse auf Makroebene der Gesellschaft betrifft, vgl. A. Willms, S. 41 f.; sowie aus marxistischer Sicht A. Szymanski. 10 Vgl. zur Polarisierungsthese H. Kern u. M. Schumann, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, 2 Bde., Frankfurt 1970; zum Konzept des >Jedermannsarbeitsmarktsegments< vgl. B. Lutz u. W. Sengenberger, Arbeitsmarktstrukturen und öffentliche Arbeitsmarktpolitik. Eine kritische Analyse von Zielen und Instrumenten, Göttingen 1974, S. 57-64. 11 Vgl. B. Lutz u. W. Sengenberger. Zu einer Kritik dieses Ansatzes aus >verwertungstheoretischer< Perspektive, vgl. I. Peikert, Frauen auf dem Arbeitsmarkt, in: Leviathan, Jg. 4, 1976, S. 494-516, und A. Willms, S. 43f. 12 Vgl. E. Beck-Gernsheim, Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt, Frankfurt 1976; E. Beck-Gemsheim, Männerrolle, Frauenrolle - aber was steht dahinter?, in: R. Eckert (Hg.), Geschlechtsrollen und Arbeitsteilung, München 1979; I. Ostner, Beruf und Hausarbeit, Frankfurt 1978. 13 Vgl. R. Bridenthal, Beyond >Kinder, Kirche, Küchec Weimar women at work, in: CEH, Jg. 6, 1973, S. 155. 14 Vgl. P. Branca, A new perspective on women's work: a comparative typology, in: JSH, Bd. 9, 1975, S. 142f. 15 Vgl. J. Kuczynski, Studien zur Geschichte der Lage der Arbeiterin in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart, Berlin 19652, S. 208. 16 G. Bäumer, Die Frau in Volkswirtschaft und Staatsleben der Gegenwart, Stuttgart 1914, S. 105. 17 H. Wilensky, Women's work: economic growth, ideology, structure, in: Industrial Relations, Bd. 7, 1968, S. 241. 18 Vgl. F. D. Blau u. C. L.Jusenius, Economists' approaches to sex segregation in the labor market: an appraisal, in: M. Blaxall u. B. Reagan (Hg.), Women and the workplace, Chicago 1976, S. 192f. 19 Wichtig erscheint mir, daß nicht Geschlechtsrollen als solche, sondern aufgrund ihres Zusammenhangs mit familialen Rollen die Arbeitsmarktlage der Frauen determinieren. 20 Vgl. C. Offe u. K. Hinrichs, Sozialökonomie des Arbeitsmarktes und die Lage b e n a c h teiligten Gruppen von Arbeitnehmern, in: C. Offe, Opfer des Arbeitsmarktes. Zur Theorie der strukturierten Arbeitslosigkeit, Neuwied 1977. 21 Z u r Relevanz von Alter und Familienstand fur weibliche Erwerbschancen, vgl. auch P. Branca, S. 141. 22 Quellenangaben der EDV-lesbaren Datensätze, vgl. A. Willms, Anhang, S. 1*, sowie G. Arminger u. a., Die Verwendung log-linearer Modelle zur Disaggregierung aggregierter Daten, Arbeitspapier Nr. 11 des VASMA-Projektes, Universität Mannheim 1980, S. 8. 23 Zur kurzen historischen Charakterisierung der Erhebungszeitpunkte, vgl. A. Willms, S. 3-5. 24 Zur Veränderung von Erhebungszielen und -verfahren in den deutschen Berufszählungen, vgl. A. Willms, Anhang, S. 4*-36*. 25 Zur Definition von familialen und familienfremden Arbeitsformen, vgl. ebd., S. 15-24. 26 Vgl. G. Aminger u. a. 27 Zur Konstruktion der vergleichbaren Klassifikation für Branchen, die eine noch vorläufige Lösung darstellt, vgl. A. Willms, Anhang, S. 39*-45*. 28 In der Tabelle sind sowohl Erwerbstätige als auch Erwerbslose enthalten. Der dennoch zurückgehende Frauenanteil ist ein Indiz fur versteckte Arbeitslosigkeit von Frauen, die sich in der Berufszählung nicht als erwerbslos bezeichnen, sondern als nichtberufstätige Angehörige, nachdem sie ihren Arbeitsplatz in der Wirtschaftskrise verloren haben. 29 Z u m Verfahren der loglinearen Analyse, vgl. L. A. Goodman, Analyzing qualitative/

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categorical data, London 1978; G. Arminger, Loglineare Modelle zur Analyse nominal skalierter Variablen, Wien 1976; M. Küchler, Multivariate Analyseverfahren, Stuttgart 1979. 30 Allerdings ist die so ermittelte >Varianzreduktion< ein problematischer Indikator für die relative Stärke einzelner Assoziationen, denn da die Veränderung der Geschlechterproportion einen zwar signifikanten, aber nur geringen Effekt in H ö h e von 0,5% reduzierter Abweichung hat (Modell 4), sind Segregation und Branchenstrukturwandel als direkt konkurrierende Effekte zu verstehen. Dies würde bedeuten, daß eine Ausdehnung des Untersuchungszeitraumes zu einer Erhöhung des Struktureffekts auf Kosten des Segregationseffekts fuhren würde, während bei einer Verkürzung des Zeitraumes der Segregationseffekt an Gewicht gewinnt. 31 Die Analyse ist beschränkt auf die Erhebungen von 1895, 1907 und 1925, da allein für diese Zählungen eine hinreichend differenzierte Klassifikation der beruflichen Stellung in den veröffentlichten Tabellen vorliegt. 32 Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Kategorie >gelernte Arbeiten 1925 etwas weiter definiert wurde als 1907, was möglicherweise Frauen und Männer in ungleicher Weise betrifft. Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 408, S. 181. 33 1895 und 1907 fand die Berufszählung auf vergleichbarem Gebietsstand statt, 1925 fehlten Saarland und Elsaß-Lothringen, d . h . bezogen auf einen konstanten Gebietsstand ergäbe sich eine echte Verdoppelung der Erwerbspersonenzahl zwischen 1895 und 1925. 34 Die Interpretation der Tabelle wird in zweifacher Hinsicht eingeschränkt. Z u m einen ist zu berücksichtigen, daß die Kategorie sonstige Branchen, ohne Angabe oder ohne feste Stellung< eine Restkategorie ist, die mit zunehmender Differenzierung der Klassifikation nach Branchen von 1895 und 1907 weitgehend aufgelöst wird und dann mit der Umstellung der Klassifikation auf eine >echte< Wirtschaftszweigklassifikation 1925 neu entsteht, d. h. die Zuwächse bzw. Verluste dieser Kategorie sind methodische Artefakte. Z u m anderen handelt es sich bei dem >Zuwachs< oder >Verlust< an Erwerbspersonen nur bedingt u m einen Ausdruck fur >neue< oder >verschwundene< Arbeitsplätze. Die absolute Differenz in der Zahl der weiblichen Erwerbspersonen je Branche resultiert sowohl aus neu entstehenden Arbeitsplätzen, die weiblich besetzt werden, als auch aus solchen Arbeitsplätzen, die in der Zählung zuvor von Männern gehalten wurden. 35 Ein Teil davon ist möglicherweise der erweiterten Definition der gelernten Arbeit in der Zählung 1925 zuzurechnen, etwa die starke Z u n a h m e gelernter Arbeiterinnen in der Textilindustrie, vielleicht aber auch der Umstellung von Heimarbeit auf industrielle Arbeit. 36 Vgl. P. Branca, S. 145. 37 Vgl. A. Willms, S. 110f., S. 135-147. 38 Vgl. A. Geyer, Die Frau im Beruf, in: A. Bios (Hg.), Die Frauenfrage im Lichte des Sozialismus, Dresden 1930, S. 190; auch A. v. Zahn-Harnack, Die arbeitende Frau, Breslau 1924, S. 46.

GERD HOHORST

Kommentar zu Angelika Willms: Modernisierung durch Frauenarbeit? Zum Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Strukturwandel und weiblicher Arbeitsmarktlage in Deutschland, 1882-1939 Geschlechtsspezifisch segregierte Arbeitsmärkte sind eine alte wirtschaftsund sozialgeschichtliche Erscheinung; die Erforschung gerade dieses Phänomens ist bisher jedoch nicht so recht vorangekommen. Vielleicht 71

bedurfte es einer Verbindung moderner Theorie mit entwickelten statistischen Analysemethoden, wie sie die Arbeit von Angelika Willms enthält, um in dieser Frage einen Fortschritt zu erzielen. Ebenso wichtig scheint mir darüber hinaus ein Erkenntnisinteresse zu sein, das ganz definitiv an der gegenwärtigen Problemlage ansetzt, um aus einer historisch tiefen Erklärung der genannten Segregation etwas für die Zukunft zu lernen. Über Rankes (forschend verstehen) ». wie es eigentlich gewesen ist« weit hinausgreifend ist es erklärtes Ziel dieser Arbeit, die gegenwärtige Situation »als Ergebnis eines historischen Segregierungsprozesses darzustellen«. Ich kann diese Intention nur nachdrücklich unterstützen. Bevor ich zu einigen kritischen Fragen komme, zu denen eine so klare Arbeit natürlich in besonderem Maße herausfordert, will ich versuchen, die theoretische und methodische Essenz sowie die Materialbasis kurz ins Gedächtnis zu rufen. Als gleichsam übergeordnetes Prinzip fungiert aus naheliegenden Gründen die konkrete Ausformung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kontext sozialen Wandels als greifbare Manifestation je zeitspezifischer Arbeitsmarktprozesse zusammen mit ebenso zeitvariablen Funktionsmechanismen der Kapitalverwertung; daraus lassen sich generalisierende Thesen zur Erklärung segmentierter und stärker auf den Punkt gebracht: durch geschlechtsspezifische Disparitäten ausgezeichnete Arbeitsmärkte ableiten. Willms nennt hier die in den allgemeinen sozialen Wandel eingebettete Reservearmeethese sowie Ausschließungs- und Solidarisierungsprozesse als Ursachen jener Disparitäten. Ihr erscheinen jedoch zu Recht diese Thesen, da die Analyse einer wie immer definierten historischen Perspektive der Segregation verpflichtet bleibt, in dieser Form offenbar wenig ergiebig. So rückt sie konsequenterweise spezifische Segregationsgeschichten stärker in den Mittelpunkt der Diskussion. Dennoch wirkt der Exkurs zum geschichtlichen Verhältnis von Haushalt und Produktion etwas angestrengt, zumal ein Topos wie Protoindustrialisierung zwar in die Diskussion gebracht wird, indessen dann doch ohne Stellenwert bleibt, da der eigentliche theoretische Rahmen der Arbeit um die zentrale Variable >Arbeitsmarktlage der Frau< herum aufgebaut wird. So schlüssig diese Vorgehensweise auf den ersten Blick auch ist, so scheint sie doch die Weichen für die Enthistorisierung des Gegenstandes zu stellen, weil der Wandel der genannten Arbeitsmarktlage nunmehr bloß noch Zeitvariabilität, nicht jedoch historische Tiefe enthält. Da es sich bei der vorgegebenen Datenbasis - den Gewerbezählungen 1882-1939 - um Momentaufnahmen mit langen Zwischenräumen handelt, fugen sich Formulierung der ausgewählten Hypothesen und im Text angewendete Methoden eher der Logik einer Zeitpunkt- als einer Zeitreihenanalyse. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen. Die im theoretischen Teil referierten Thesen selber offenbaren in ihrer Widersprüchlichkeit den wenig fortgeschrittenen Forschungsstand, wenn auch ihre Zentrierung um Qualifikationsdefizit, spezifisch weibliches 72

Arbeitsvermögen und den prinzipiell subsidiären Charakter von Frauenarbeit einerseits und den Familienbezug auf der anderen Seite die wichtigsten Zugriffe zur Erklärung der Arbeitsmarktlage der Frauen umschließt. Insgesamt sind die Thesen und Theoreme auf den Arbeitsmarkt bezogen; die empirische Überprüfung, deren Möglichkeiten vom Material her eingeschränkt werden, kann nur einen Teil des Arbeitsmarktes, nämlich die tatsächlich Beschäftigten als Variable nutzen. Ausgehend vom Ergebnis der Arbeit möchte ich nun mit einigen zugespitzten Fragen versuchen, Anregungen zur Bearbeitung des Aufsatzes zu geben. Dabei wäre sicherlich auch der theoretische Teil mit der kritischen Diskussion der Literatur und einigen neuen Vorschlägen der Autorin interessant; im Rahmen der Tagung scheint es mir indessen wichtiger zu sein, den Forschungsprozeß im empirischen Teil nachzuvollziehen und kritisch zu reflektieren. 1. Der Grundintention der Arbeit entsprechend wurden zur Überprüfung solche Hypothesen ausgewählt, die sich auf Entwicklung, d. h. auf Änderungen der geschlechtsspezifischen Segregation beziehen. Wenn man die vier Einzelbehauptungen, die aus der Literatur stammen ( S. 41 und 42) und sowohl verschiedene Aspekte betonen als auch Widersprüche enthalten als komplexes System von hypostasierten Erscheinungen aufFaßt, so ergibt sich als Testaufgabe, ein konsistentes Aussagensystem zur Entwicklung geschlechtsspezifischer Segregation in Deutschland zwischen 1882 und 1939 aufzustellen. Es handelt sich vorerst freilich nur um deskriptive Hypothesen mit angedeuteten Ursachenfaktoren, deren Variablen allesamt Strömungsgrößen sind. Die Prüfmaterialien enthalten jedoch lediglich Bestandsgrößen. Meine erste Frage wäre daher, ob die aus Bestandsgrößen zu verschiedenen Zeitpunkten gebildeten Strömungsgrößen nicht im Sinne der Hypothesen gemischte, ja sogar kontradiktorische Variablen repräsentieren. So könnte die Frauenarbeit in expandierenden Industrien durchaus per Saldo auch expandieren (These 1) trotz sinkender Erwerbschancen für Frauen durch Strukturwandel (These 2), wenn die vom Strukturwandel besonders betroffenen expandierenden Industrien überproportional viele marginale Arbeitsplätze für Frauen (These 3) schaffen. Ein stattgehabter Austausch von Frauen höherer gegen solche niedrigster Qualifikation wäre empirisch nicht diagnostizierbar. Damit käme sofort die zweite Frage zum Zuge, nämlich, ob nicht damit historische Bedingungskonstellationen und so die entscheidenden Ansätze fur Erklärungen aus dem Hypothesentest eliminiert werden. 2. Die Variable >Arbeitsmarktlage der Frau< wird vernünftigerweise auf dem Hintergrund des gesamten Arbeitsmarktes definiert. Eine gegenüber den Männern schlechtere Position, die letztlich entscheidend ist für die marktmäßige Benachteiligung der Frauen, kann, wie die Literaturdiskussion gezeigt hat, an einer Reihe verschiedener Faktoren festgemacht werden. Soweit diese bestimmte Arbeitsfähigkeiten meinen, wird das Testver73

fahren zweckmäßig auf von den Unternehmen als Nachfrager abgeleitete Arbeitsmarktsegmente bezogen. Tatsächlich handelt es sich dabei um Unternehmensgruppen, die Branchen. In der vorliegenden Arbeit spielen nun Branchen als Variable eine wichtige Rolle. Meine erste Frage: handelt es sich bei der Branchenstruktur um eine skalierbare Variable, die zur Variablen >Arbeitsmarktlage der FrauArbeitsmarktlage der Frau< abhängt - und in dieser Arbeit die inhaltliche Bewertung der getesteten Hypothesen. 3. Die historischen Prozessen angemessene Analyse bezieht sich im theoretischen Ansatz auch inhaltlich auf die mit der Zeit variierenden Variablen, nicht bloß auf einen mehr oder weniger technisch-formal definierten Term, der dann die gemeinte Variable abbilden soll. Methodisch adäquat dazu sind Methoden der Zeitreihenanalyse, am erfolgreichsten wohl solche, die sich auf stochastische Prozesse anwenden lassen; 74

freilich müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Unter diesem Punkt möchte ich mich ein wenig mit den von Angelika Willms benutzten Methoden beschäftigen, ohne jedoch gleich in einen wahrscheinlichkeitstheoretischen Exkurs abzugleiten. Bestimmte Überlegungen zu Wahrscheinlichkeit und Zufall gehören indessen doch zur Basis der statistischen Methoden und sie sind für den Test statischer (Querschnitts-)Hypothesen anders formuliert als für dynamische (»Zeitreihenhypothesen«), mag die für beide Formulierungen gültige Wahrscheinlichkeitsmathematik den Unterschied auch verwischen. Was ich sagen will ist, daß bei Änderungen in der Zeit die Änderungsrichtung eine zentrale Rolle spielt. Nun arbeiten die loglinearen Modelle in der Zeitreihenanalyse ja nicht mehr mit echten Häufigkeiten in den Zellen der Tabellen, sondern mit Abweichungen vom zeitlichen Durchschnitt. Diese Dynamisierung einer vom Ansatz her statischen Methode hat, wie die Autorin selber sagt, ihre Tücken und Unzulänglichkeiten. U m auf den Kern der Sache zu kommen, möchte ich ganz zugespitzt fragen: Einmal angenommen, man untersucht mit der Methode loglinearer Modelle zwei unterschiedliche zeitliche Verläufe der Variablen, deren Konstellation und Definition sonst gleich sein soll, weiter unterstellt: die ungleichen zeitlichen Verläufe seien in der Weise symmetrisch, daß einem steigenden linearen Trend auf der einen ein sinkender auf der anderen Seite entspricht. Muß, jetzt die Frage, dann nicht das mit der genannten Methode erzielbare Ergebnis absolut gleich sein, weil die zeitliche Struktur der Abweichungen vom für beide Fälle identischen Mittelwert zwar unterschiedlich, aber symmetrisch ist? Nun ist es nicht schwer, derart klare Trends unabhängig von der loglinearen Analyse zu identifizieren. Historische Trends, und erst recht die kürzerfristigen Schwankungen - also die gesamte zeitliche Varianz zeitabhängiger Variablen - verlaufen jedoch selten so überschaubar klar. Erlaubt angesichts dieser Lage der Dinge ein in welcher Modellfassung auch immer formulierter Fehlerterm wirklich, über das Ergebnis der Analyse hinaus die historische Entwicklung korrekt mitzubearbeiten? Und, um diesen Punkt abzuschließen, ist nicht die Benutzung des Dissimilaritätsindex ähnlich angreifbar, weil er für zeitlich spiegelbildlich identische, historisch jedoch grundlegend unterschiedliche Konstellationen denselben Wert angibt? 4. Wer die Systematik wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse untersuchen will, seien sie auf Wachstum, Konjunktur oder geschlechtsspezifische Arbeitsmarktlage hin präzisiert, befindet sich unausweichlich zwischen Szjlla und Charybdis: der klassisch-historischen Sonderfalldiskussion ohne theoretisch fundierte Systematik und der enthistorisierten bloß theoretischtechnisch begründeten Skelettanalyse der Variablen >ZeitBranche< keine Variable, an der Kausalbeziehungen festgemacht werden können. Die Geschichte der genannten Benachteiligung bleibt eine Geschichte ihrer Verursachung, mag sie auch theoretisch fundiert und methodisch ausgefeilt geschrieben werden. Die zusätzliche Bedingung ist, daß das historische Umfeld der statistischen Momentaufnahmen aufgearbeitet wird, da Kausalität über die zeitlichen Lücken hinweg einerseits nur in genauer Bearbeitung der Entwicklungsprozesse auffindbar ist (Konjunkturen und Wachstumsprozesse) und auf der anderen Seite einmalige Ereignisse von umbruchartiger Bedeutung wie die Kriege oder die Machtergreifung der Nationalsozialisten ganz neue und dann fortwirkende Bedingungskonstellationen für die Arbeitsmarktpositionen von Frauen und Männern geschaffen haben (können).

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C L A U D I A H U E R K A M P U N D R E I N H A R D SPREE

Arbeitsmarktstrategien der deutschen Ärzteschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Zur Entwicklung des Marktes für professionelle ärztliche Dienstleistungen

1. Z u m Konzept eines Arbeitsmarkts für Anbieter ärztlicher Dienstleistungen Arbeitsmarkt kann definiert werden »als der ökonomische O r t des Austausches zwischen dem Angebot an Arbeitskraft und der Nachfrage nach Arbeitskraft« 1 . Seine gesellschaftliche Funktion ist offenbar, die Rekrutierung von Arbeit für produktive Zwecke zu organisieren. Diese Funktion ist zweifellos auf unterschiedliche Weise institutionalisierbar, so daß ein freier, das heißt hinsichtlich seiner Strukturierung und Regulierung den Arbeitsmarkt-Parteien überlassener Arbeitsmarkt als eine historisch und sozial-kulturell spezifische Organisationsform erscheint2. In der Realität dürfte sich sowohl beim historischen wie beim interkulturellen Vergleich eine Vielfalt von alternativen Strukturen erkennen lassen, die in jeweils unterschiedlicher Weise, unter Vorgabe verschiedenartiger, staatlichgesellschaftlich kontrollierter und legitimierter Bedingungen und Einschränkungen gesellschaftliche Subsysteme so koordinieren, daß die universellen Bedürfnisse gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion unter Ausnutzung menschlicher Arbeitsleistung befriedigt werden können. Diese Vielfalt der Arrangements zur Erbringung einer gesellschaftlichen Funktion ist besonders in historischen Arbeitsmarkt-Untersuchungen beachtlich. Sie legt die Vermutung nahe, daß es auch in bezug auf eine bestimmte Gesellschaft in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau sinnvoll erscheinen kann, ein solches Arrangement als Einheit, als den Arbeitsmarkt einer Gesellschaft zu begreifen. Zu erwarten ist eher das Nebeneinander einer größeren Zahl unterschiedlich strukturierter sozialer Gebilde, die in variierender Form Arbeitsmarktfunktionen leisten. Noch klarer stellt sich dies Problem von der Angebotsseite her. Die angebotene Arbeitskraft kann nämlich in der Regel nicht als homogenes Gut betrachtet werden, so daß aufgrund der Inhomogenität des Angebots der gedanklich fingierte Arbeitsmarkt als in Teilmärkte segmentiert 77

erscheint. Die Segmente unterscheiden sich hinsichtlich der für sie typischen Arbeitsplatzbedingungen und -anforderungen, der dafür benötigten Ausbildungsgänge, Zertifikate und Qualifikationen, der sozialen Bewertung und wirtschaftlichen Sicherung der Arbeitsplätze, der Einkommensniveaus, des Ausmaßes an ethnischer, religiöser, geschlechtsspezifischer und regionaler Homogenität der Beschäftigten beziehungsweise entsprechender Diskriminierungspraktiken der Beschäftiger3. Eine derzeit vieldiskutierte Annahme ist die, daß »der« Arbeitsmarkt einer Gesellschaft grundsätzlich in zwei verschiedene Sektoren untergliedert sei, einen primären und einen sekundären, wobei der primäre noch einmal in ein oberes und ein unteres Segment differenziert wird. Global betrachtet bietet der primäre Sektor »Arbeitsplätze mit relativ hohen Löhnen, guten Arbeitsbedingungen, Aufstiegschancen, Fairneß und Respektierung der individuellen Rechte bei der Anwendung von Arbeitsbestimmungen, sowie vor allem stabile Beschäftigung. Arbeitsplätze im sekundären Sektor dagegen sind eher schlecht bezahlt, weisen ungünstigere Arbeitsbedingungen auf und bieten geringe Aufstiegschancen.«4 Außerdem sind sie, neben einem stark personalisierten Verhältnis zwischen Arbeitern und Vorgesetzten, charakterisiert durch ein großes konjunkturelles Risiko und eine hohe Fluktuation unter den Arbeitnehmern. Die Vorstellung eines dualen Arbeitsmarkts im eben beschriebenen Sinne wird dadurch differenziert, daß man eine Teilung des primären Sektors unterstellt. Und zwar sollen die genannten Merkmale dieses Sektors im wesentlichen für dessen unteres Segment gelten, während ein oberes Segment deutlich abweichenden Bedingungen unterliegt. Zu denken ist hier nicht nur an eine bessere Bezahlung, einen höheren Status und größere Aufstiegsmöglichkeiten für Positionsinhaber in diesem Segment. Vielmehr ist für sie auch größere Mobilität und Fluktuation typisch, ebenso das Fehlen detaillierter Arbeitsbestimmungen und formeller Verfahrensvorschriften. Man erwartet von ihnen einen internalisierten Verhaltenscodex, intrinsische Arbeitsmotivation und eine längere, formelle Ausbildung; - Voraussetzungen, die es erlauben, den Arbeitskräften im oberen Segment des primären Sektors einen relativ großen Freiraum für Kreativität und Eigeninitiative zu garantieren. Gliedert diese Theorie eines dreigeteilten Arbeitsmarktes auch in Form des oberen Segments des primären Sektors Angehörige sogenannter akademischer Berufe und Führungskräfte aus der diesen Sektor insgesamt bildenden Gruppe qualifizierterer Arbeiter, Angestellter und Beamter aus, bleibt sie doch für die Zwecke einer Analyse des ärztlichen Arbeitsmarktes viel zu grob. Sie ist zu sehr auf die Belange eines Marktes für Arbeitskräfte in großen Organisationen, besonders in der Industrie, zugeschnitten. Für den hier ins Auge gefaßten, sehr eng begrenzten Teilarbeitsmarkt (für Ärzte) scheinen die gängigen Arbeitsmarkt-Theorien wenig Erklärungswert zu besitzen. 78

Von einem Arbeitsmarkt im engeren Sinne kann allerdings im Hinblick auf die Ärzte, die während des Untersuchungszeitraums in der Regel freiberuflich tätig waren, nicht gesprochen werden. Diese bieten ja nicht ihre Arbeitskraft als Ware an, sondern »Produkte«, nämlich professionelle Dienstleistungen. Genaugenommen handelt es sich u m einen Markt für medizinische Dienstleistungen, der aber in seiner Struktur und Funktion einem ärztlichen Arbeitsmarkt sehr nahe k o m m t , da die Erbringung der auf ihm gehandelten Dienstleistungen direkt an die Person des Produzenten der Leistungen gebunden ist. Es erscheint daher legitim, im folgenden von ärztlichem Arbeitsmarkt zu sprechen und damit nicht nur einen Stellenmarkt zu meinen (abgesehen von der noch zu thematisierenden Ausnahme der »Kassenarztstellen« bei Krankenkassen war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nur ein verschwindend kleiner Teil der Ärzteschaft abhängig beschäftigt, etwa als Krankenhausärzte oder Gesundheitsbeamte 5 ), sondern den ganzen Bereich freiberuflich organisierter ärztlicher Tätigkeit miteinzubeziehen. Der Terminus Arbeitsmarkt sieht dabei den Markt fur gesundheitliche Dienstleistungen von der Seite der Anbieter, also der Ärzte, und ihrer Situation auf diesem Markt her, während der im folgenden ebenfalls des öfteren verwendete Begriff »Absatzmarkt« den gleichen Markt von der Seite der Nachfrager aus, an die die ärztlichen Leistungen abgesetzt werden müssen, ins Auge faßt. Wegen der Besonderheiten der ärztlichen Berufstätigkeit während des Untersuchungszeitraums bieten die gängigen Arbeitsmarkttheorien kaum Anknüpfungspunkte zur Konzeptualisierung dieses Teilarbeitsmarktes. Solche finden sich dagegen in Professionalisierungstheorien, die teilweise ausgesprochene Theorien der Konstituierung eines spezifischen Arbeitsmarktes sind. Der enge Zusammenhang zwischen dem Professionalisierungsprozeß einer Berufsgruppe und der Herausbildung eines Marktes für professionelle Dienstleistungen wird in diesen Theorien auf verschiedene Weise begründet, wobei die unterschiedlichen Sichtweisen sich aber wechselseitig ergänzen, ja geradezu benötigen. So wird etwa von Elliot Freidson als Professionskriterium die Erringung und staatlich-gesellschaftliche Absicherung beruflicher Autonomie vorgeschlagen. Eine Profession zeichne sich gegenüber anderen Berufsgruppen dadurch aus, daß sie in der Lage sei, den Gegenstand, den Inhalt und die Bedingungen ihrer Arbeit selbst zu kontrollieren 6 . Das beinhaltet in der Regel die Kontrolle des Zugangs zum Beruf (der Ausbildungsinhalte und -formen sowie der spezifischen Berufseintrittsbedingungen), die Erlangung einer Dominanz innerhalb des Berufsfeldes in bezug auf die darin stattfindende Arbeitsteilung (das heißt Dominanz besonders gegenüber nachgeordneten Berufen) sowie die Durchsetzung eines einheitlichen gesellschaftlichen Status für die Professionsangehörigen. Unvollständig bleibt eine solche Betrachtungsweise, wenn nicht gleichzeitig der hohe Legitimationsbedarf berücksichtigt wird, den die Gewäh79

rung derartiger Autonomie impliziert. Die Dienstleistungen der betreffenden Berufsgruppe müssen offenbar gesellschaftlich beziehungsweise staatlicherseits sehr geschätzt werden, vor allem aber müssen die Produzenten dieser Leistungen ein ungewöhnliches Maß an sozialem Kredit eingeräumt bekommen, wenn auf direkte gesellschaftliche Kontrolle ihrer Produkte und besonders des Prozesses der Leistungserstellung im Sinne der Zubilligung professioneller Autonomie weitgehend verzichtet wird7 Ein anderer, diskussionswürdiger Ansatz zur Erklärung des Professionalisierungsprozesses geht von der Struktur des Absatzmarktes aus. Professionalisierung wird in diesem Fall verstanden als ein sogenanntes kollektives Projekt der Angehörigen einer Berufsgruppe mit dem Ziel der Erringung monopolartiger Kontrolle über den Markt für ihre Produkte8. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, daß Professionen Produkte eines spezifischen Charakters erstellen, nämlich Dienstleistungen. Produktion und Konsum derselben erfolgen notwendigerweise unu actu, so daß der Gebrauchswert dieser Waren nicht zu trennen ist von der Art und Weise, wie sie produziert werden, d.h., der Gebrauchswert ist untrennbar mit der Individualität der Produzenten verkoppelt. Der Versuch, den Absatzmarkt für derartige Leistungen tendenziell zu monopolisieren, verlangt u. a. eine klare Definition der Produkte, vor allem die Möglichkeit, sie in den Augen der Konsumenten eindeutig von Konkurrenzprodukten unterscheidbar zu machen. Am besten läßt sich das über eine Standardisierung der Produkte erreichen. Wegen des spezifischen Dienstleistungscharakters impliziert eine solche Standardisierung der Produkte eine »Standardisierung der Produzenten«9 In der Regel bedeutet das, und hier konvergieren die diskutierten Ansätze: Vereinheitlichung und Kontrolle der Ausbildung, des Berufszugangs sowie der Regeln der Berufsausübung durch die Profession. Sollen derartig weitreichende Kompetenzen einer Berufsgruppe gesellschaftlich wirksam durchgesetzt werden, ist dazu ein Mindestmaß an staatlicher Mitwirkung notwendig (z.B. staatliche Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse und Verbot oder zumindest Diskriminierung der Berufsausübung durch Personen ohne solchen Abschluß). U m sich eine möglichst große Autonomie bei der inhaltlichen Gestaltung der Ausbildung und der Standards der Berufsausübung zu sichern, sind die sich professionalisierenden Berufsgruppen bemüht, die staatliche Mitwirkung auf formale Aspekte zu beschränken. U m so höher ist der Bedarf an sozialem Kredit bzw. an gesellschaftlicher Legitimation der Profession und ihrer Leistungen. Der Prozeß der Etablierung des Professions-Status für eine bestimmte Berufsgruppe ist somit stets zugleich - wenn auch nicht ausschließlich - ein Prozeß der Konstituierung und institutionellen Absicherung eines besonderen Arbeitsmarkt-Segments der Professionsangehörigen. Die Entwicklung solcher Arbeitsmärkte weist zwar, auf hohem Abstraktionsniveau betrachtet, meist sehr ähnliche Etappen und Merkmale auf, ist aber vor 80

allem ein historisch-spezifischer, durch die jeweils besonderen Momente der Sozialstruktur und der kulturellen Traditionen einer Gesellschaft geprägter Vorgang. Seine konkreten Formen bedürfen der historischgenetischen Untersuchung, wobei sich die genannten professionalisierungstheoretischen Aspekte als Strukturierung anbieten. Das entscheidende Problem fur die deutsche Ärzteschaft während des 19. Jahrhunderts, das es zu lösen galt, wenn ein spezifischer Markt für ärztliche Dienstleistungen konstituiert werden sollte, war es, die zunächst standesmäßig beschränkte Legitimation ärztlicher Leistungen im gesamtgesellschaftlichen Maßstab zu generalisieren und damit einen Absatzmarkt zu sichern, der mehr als nur subkulturell beschränkte Abnehmergruppen erreichte. Das war nicht ohne Hilfestellung gesellschaftlicher Eliten, besonders aber des Staates (auf dem Wege der Medizinalgesetzgebung) zu erreichen, dürfe jedoch wiederum auch nicht darauf beschränkt bleiben. Vielmehr konnte dies »Projekt« nur erfolgreich sein aufgrund seiner Einbettung in und Begünstigung durch übergreifende Prozesse wirtschaftsund sozialstrukturellen Wandels, die unter den Oberbegriffen Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung der Wert- und Verhaltensmuster zusammengefaßt werden. Während die allgemeineren Merkmale dieses Professionalisierungsprozesses und damit der Konstituierung eines Arbeitsmarktes für akademisch gebildete Ärzte in letzter Zeit schon mehrfach - unter wechselnden Erklärungsperspektiven10 - dargestellt worden sind, gilt es hier einen weniger beachteten Aspekt hervorzuheben und in den entwickelten systematischen Zusammenhang zu stellen. Seit den 1880er Jahren fühlte sich die akademisch gebildete Ärzteschaft zunehmend bedroht sowohl durch wachsenden Konkurrenzdruck (stark ansteigende Ärztezahlen; Konkurrenz sogenannter Kurpfuscher) wie auch durch Vergesellschaftungstendenzen, die besonders durch die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) repräsentiert wurden. Die in diesem Zusammenhang von den Ärzten diskutierten, initiierten oder durchgeführten Abwehrmaßnahmen trugen entscheidend zur Konstituierung, Strukturierung und Konsolidierung eines spezifischen Marktes für ärztliche Dienstleistungen, eines entsprechenden Arbeitsmarktes und - mit diesen Prozessen begrifflich fast identisch - der ärztlichen Profession bei. Der Abwehrkampf der Ärzte gegen drohende Vergesellschaftungstendenzen kann als konstitutive Bedingung ärztlicher Professionalisierung in Deutschland angesehen werden. Darüber hinaus wirkten die Diskussionen der Ärzte, ihre Kämpfe mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen während des späten Kaiserreichs und das sich auf diese Weise profilierende Professionsbewußtsein bis in die Gegenwart »stilbildend«. Das liegt natürlich nicht zuletzt daran, daß die seinerzeit erkämpften Strukturen zur Regulierung des ärztlichen Arbeitsmarktes und der ärztlichen Tätigkeit in den folgenden Jahrzehnten nur unwesentlich modifiziert wurden. Diese Einschätzung läßt es gerechtfer81

tigt erscheinen, die den Arbeitsmarkt betreffenden Maßnahmen und Aktivitäten der Ärzte während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts genauer zu untersuchen.

2. Entwicklungstendenzen des ärztlichen Arbeitsmarkts während des späten 19. Jahrhunderts U m die soziale Bedeutung der professionalisierungs- und arbeitsmarktstrategischen Bemühungen der approbierten Ärzte in Deutschland während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts einschätzen zu können, genügt es nicht, Entwicklungstendenzen auf dem Markt für ärztliche Dienstleistungen beziehungsweise auf dem ärztlichen Arbeitsmarkt zu skizzieren. Vielmehr muß ein kurzer Blick auf strukturelle Wandlungen in diesem Feld während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts geworfen werden. Der wichtigste Tatbestand ist zweifellos das bis ins späte 19. Jahrhundert konstatierbare Nebeneinander-Bestehen unterschiedlicher Gruppen von haupt- oder nebenberuflichen »Heilern«, die sich hinsichtlich ihrer Vorbildung, ihrer Diagnose- und Therapieformen, ihrer Klientel, aber auch hinsichtlich der Anlässe, zu denen ihre Dienste in Anspruch genommen wurden, deutlich voneinander abhoben". Große Teile der Bevölkerung, nämlich vor allem die Landbevölkerung und die Mehrheit der städtischen Unterschichten, gingen aus verschiedensten Gründen bis ins späte 19. Jahrhundert kaum jemals einen approbierten Arzt um Hilfe an. Dabei spielten neben häufig gegebener übergroßer räumlicher Entfernung eines solchen Arztes und der Armutsschranke zwei Faktoren eine Rolle, die für die Arbeitsmarktchancen der modernen Medizin im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu Schlüsselvariablen wurden: stark abweichende Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen in der Bevölkerung, die nicht nur grob nach Klassen oder Schichten, sondern nach schichtinternen, regional, ethnisch und religiös modifizierten Subkulturen differenziert waren, einerseits, mit diesen subkulturellen Traditionen verbundene Widerstände (Unverständnis, Angst usw.) gegenüber der sich zunehmend rationalisierenden, naturwissenschaftlich legitimierenden und hinsichtlich der Diagnoseverfahren und therapeutischen Mittel (Medikamente) industrialisierenden Medizin andererseits. Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein suchte die Masse der Bevölkerung im Krankheitsfall Hilfe bei Laienmedizinern, das heißt bei Hebammen, alten (weisen) Frauen, Schäfern, Pfarrern, Badern und Barbieren, Abdekkern, Wahrsagern, Teufelsfängern, Beschwörern, Alchimisten, Wasserbrennern und anderen. Von diesen hatten die Hebammen, Bader, Barbiere und die - weit weniger zahlreichen und deshalb auch seltener in Anspruch genommenen - niederen Wundärzte immerhin eine handwerkliche Ausbil82

dung genossen. Die ebenfalls im Bereich der Krankenberatung und -behandlung tätigen Geistlichen verfugten meist über ein nicht unbedeutendes Buchwissen. Die zahlreichen übrigen Laien-Mediziner schöpften ihr Wissen und Können aus alten Überlieferungen oder auch aus diffusen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen. Gerade aufgrund dieser Tatsache wie aufgrund ihrer Herkunft »aus dem Volke« waren sie ihrer Klientel typischerweise bewußtseinsmäßig und sozial sehr nahe beziehungsweise vertraut, was allerdings wiederum in der Regel die Zubilligung eines abgehobenen Experten-Status in den Augen ihrer zur Selbstmedikation neigenden potentiellen Patienten verhindert haben dürfte. Klient und Heiler »stehen sich vielmehr als gleich und gleich in wechselnden Situationen gegenüber, ohne feste Normen für ihre Beziehungen und ohne institutionelle Regelungen, die beide Parteien gegen bestimmte Ansprüche und Forderungen der anderen Seite abschirmen würden« 12 . Diese »gesundheitliche Versorgungssituation« des bei weitem größeren Teils der deutschen Bevölkerung während des 19. Jahrhunderts wurde schon von zeitgenössischen Beobachtern (besonders von Vertretern der approbierten Ärzte), aber erstaunlicherweise auch immer wieder von modernen Medizin-Historikern oder -Soziologen konstatiert und dabei deutlich negativ bewertet 13 Dem entspricht eine explizite oder zumindest implizite Aufwertung der approbierten Ärzte, denen auch für die Zeit vor 1870/80, das heißt vor dem deutlichen Aufschwung der medizinischen Wissenschaft, ein im Vergleich zu den Laien-Medizinern überlegenes Wissen und Können zugetraut wird. Diese Auffassung dürfte jedoch für die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts irreführend sein. Denn das medizinische Wissen war zu dieser Zeit noch weitgehend symptomorientiert, therapeutische Erfolge waren höchst ungewiß und zufällig14. Erst seit den späten 1860er Jahren beschleunigten sich die Fortschritte sowohl der medizinischen Wissenschaft als auch der medizinischen Technologie. Zwar stellten die Entdeckungen und Entwicklungen die Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der approbierten Ärzte auf eine neue, verbesserte, nämlich den naturwissenschaftlichen Kriterien des Experimentierens und Überprüfens von Hypothesen genügende Basis. Damit stiegen die Chancen der Universitätsmedizin, ihre Leistungen als auf intersubjektiv überprüfbaren Einsichten basierend, methodischen Standards einer strengen Wissenschaft genügend, insofern der vernünftigen Überlegung und Kontrolle zugänglich, darzustellen. Das impliziert allerdings noch keine im gesamtgesellschaftlichen Maßstab generalisierbare Erhöhung der Chance, ihren Produkten am Gesundheitsmarkt verbesserte Absatzmöglichkeiten zu sichern. Bis ins späte 19. Jahrhundert stand dem einerseits die Tatsache entgegen, daß naturwissenschaftliche Legitimation keineswegs in allen gesellschaftlichen Gruppen und Subkulturen dieselbe oder sogar eine erhöhte Wertschätzung (gegenüber traditionalen Formen der Legitimation) einbrachte. Andererseits gab 83

es nur in sehr wenigen Therapiebereichen bis Ende des 19. Jahrhunderts nachprüfbare, allseits anerkannte Erfolge. Die neuen Erkenntnisse (zum Beispiel im Bereich der Mikrobiologie, der Bakteriologie) und neuen Technologien (etwa die Einführung der Röntgenstrahlen) stellten die Krankheitsdiagnose auf eine gesichertere Basis, eröffneten aber nur in seltenen Fällen unmittelbar darauf aufbauende Verbesserungen der Heilungschancen 15 . Soweit diese möglich waren, betrafen sie vor allem die Behandlung im Krankenhaus (Geburtshilfe; Chirurgie: Erfindung/Einführung der Anästhesie, Antisepsis und Asepsis), dessen Rufsich während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts rasch verbesserte, so daß es zusehends das Image der Armenanstalt verlor und auch für die bürgerlichen Mittelschichten attraktiv wurde16, während die Masse der niedergelassenen Ärzte kaum überlegene Leistungen im Vergleich zur Laien-Medizin anzubieten hatte. Die zersplitterte Angebotsseite eines fiktiven Arbeitsmarktes für Anbieter gesundheitlicher Dienstleistungen wurde während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen deutschen Staaten durch Medizinalreformen umstrukturiert. Diese werteten die approbierten Ärzte auf, integrierten sie mit den Chirurgen und Wundärzten zu einer einheitlich universitär ausgebildeten Gruppe 17 , vereinheitlichten also insofern einen Teil des Leistungsangebotes. Zugleich etablierten sie eine Dominanz der approbierten Ärzte gegenüber dem niederen Heilpersonal und diskriminierten in der Tendenz die Laien-Medizin. Die regulierenden und homogenisierenden staatlichen Reformmaßnahmen beschränkten sich jedoch auf die kleinere Gruppe von »Heilern« (ausgebildete, teilweise studierte, in jedem Fall staatlich geprüfte und lizensierte Heilpersonen), die zugleich nur einen geringen Teil der Bevölkerung erreichte: gehobene Sozialgruppen sowie ausgesprochene Arme, im wesentlichen in den Städten. Der Absatzmarkt für die Produkte (Leistungen) dieser Anbietergruppe wurde durch die sie privilegierenden staatlichen Maßnahmen kaum berührt. Ausnahmen waren allenfalls die Einführung des Impfzwangs in verschiedenen deutschen Staaten während der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, der als Zwangskonsum eines bestimmten Produkts einer privilegierten Produzentengruppe (der approbierten Ärzte) zu werten ist, sowie die Delegation hoheitlicher Gewalt auf die approbierten Ärzte durch ihren Einsatz im Bereich gesundheitspolizeilicher Maßnahmen (Seuchenbekämpfung, Verhängung von Quarantänemaßnahmen, Armenfursorge etc.) und in der Gerichtsmedizin 18 . Ansonsten blieb die prinzipielle Aufsplitterung des Marktes für gesundheitliche Dienstleistungen in eine große Zahl weitgehend unverbundener, deshalb nicht einmal in klaren Konkurrenzbeziehungen zueinander stehender Anbieter und die subkulturell differenzierten Nachfrager (Klientel) fast unverändert bis in die 1880er Jahre hinein bestehen. Dieser Sachverhalt spiegelt sich deutlich in der quantitativen Entwicklung des Ärzteangebots. Zwar nahm die Zahl der approbierten Ärzte 84

während dieses Zeitraums in fast allen deutschen Staaten, absolut gesehen, zu; bezogen auf die Bevölkerungszahl veränderte sich jedoch das »Versorgungsverhältnis« seit den 1840er Jahren in der Regel nicht mehr. Gegenüber der Situation während des frühen 19. Jahrhunderts hatte sich die Relation von approbierten Ärzten pro 10000 Einwohner in den meisten deutschen Staaten bis in die 1870er Jahre hinein sogar tendenziell verschlechtert" Berücksichtigt m a n die mit d e m Einsetzen der Industrialisierung und der Urbanisierung verschärfte Ungleichverteilung gerade der approbierten Ärzte, die sich nämlich - den Einkommenschancen folgend in den mittleren und Großstädten konzentrierten (so daß sich die »Versorgungssituation« der kleinen Städte und des Landes weiter verschlechterte, ebenso wie auch die mit der Industrialisierung rasant wachsenden typischen Arbeiterstädte und Vorstädte »unterversorgt« blieben) 20 , so ist, allein von diesen Angebotsbedingungen her gesehen, eine soziale Vereinheitlichung des Marktes für Gesundheitsleistungen bis in die 1870er Jahre hinein unwahrscheinlich gewesen. Die so skizzierte Situation änderte sich seit den frühen 1880er Jahren spürbar. Industrialisierung (durch beschleunigtes Wachstum des Sozialprodukts, langfristigen durchschnittlichen Anstieg der Reallöhne, Abbau standesgesellschaftlicher Sozialstrukturen) und Urbanisierung (durch Veränder u n g von Mentalitäten und von gruppenspezifischen Verhaltensweisen) trugen zu einem starken Anstieg der Medizinstudenten an den Universitäten sowie der approbierten Ärzte bei (vgl. Tabellen 1-3 im Anhang). Dabei n a h m die Zahl der approbierten Ärzte (absolut betrachtet) bis zur J a h r h u n dertwende deutlich rascher zu als das Bevölkerungswachstum, so daß sich die Relation Ärzte auf 10000 Einwohner im Deutschen Reich von 3,2 im Jahre 1876 über 3,4 im Jahre 1885 auf 4,9 im Jahre 1900 verbesserte. D e r Z u w a c h s verlangsamte sich während des frühen 20. Jahrhunderts 2 1 . A u ß e r dem w u r d e 1883 die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) eingeführt, die den Absatzmarkt für ärztliche Dienstleistungen nicht nur relativ rasch quantitativ ausweitete, sondern vor allem auch erheblich umstrukturierte. Die Veränderungen ihrer Arbeitsmarktlage wurden von den Ärzten im wesentlichen negativ interpretiert. Gelegenheit zur standesinternen Aussprache und kollektiven Willensbildung boten die seit den späten 1860er und frühen 1870er Jahren in rascher Zahl entstandenen Berufs verbände, die sich 1873 i m Deutschen Ärztevereinsbund eine Dachorganisation und in den jährlich abgehaltenen Ärztetagen ein zentrales F o r u m geschaffen hatten. Die Diskussionen in den Verbänden und auf den Ärztetagen w u r d e n seit den 1880er Jahren zunehmend beherrscht von Klagen über den sich verschlechternden ärztlichen Arbeitsmarkt. Die Ärzte litten unter d e m ständig wachsenden Konkurrenzdruck durch den Medizinernachwuchs einerseits, der seit der Freigabe der Heilberufe in den Gewerbeordnungen von 1869 beziehungsweise 1871 legalisierten Formen der Laienmedizin (»Kurpfuscherei«), deren U m f a n g sich angeblich drastisch ausgeweitet 85

hatte, andererseits. Die Schlagworte zur Charakterisierung dieser beiden Problemkreise waren »Überfullung des ärztlichen Standes« und »Kampf gegen das Kurpfuschertum«. Darüber hinaus wurden die Auswirkungen der GKV höchst ambivalent beurteilt: Zwar nahm man immer deutlicher die dadurch geschaffene Marktaus Weitung wahr, das heißt die gestiegenen Verdienstchancen, doch schien den Ärzten das von den Krankenkassen praktizierte Vertrags- und Honorierungssystem längerfristig immer weniger tolerabel. Zwischen Arzt und Patient traten die Kassenvorstände als eine Instanz, die zunächst direkte Arbeitgeber-Funktionen wahrnahm, also tendenziell einen ärztlichen Arbeitsmarkt im engeren Sinne aufbaute. Das brachte die Kassenärzte in eine flir den Stand bisher völlig unbekannte Vertrags- und Abhängigkeitssituation, nämlich in die Arbeitnehmerrolle. Zudem schuf das Kassenarztsystem in wachsendem Maße unterschiedliche Arbeitsbedingungen und Einkommen sowie gleichzeitig Interessengegensätze zwischen Kassen- und Nichtkassenärzten. Die Bestrebungen der Ärzte, in ihren Beziehungen zu den gesetzlichen Kassen Änderungen herbeizuführen, lassen sich mit den Schlagworten »Zusammenfassung der wirtschaftlichen Interessen der Ärzte« und »Kampf für die freie Arztwahl« kennzeichnen.

3. Ärztliche Strategien zur Strukturierung des Arbeitsmarktes Entsprechend den verschiedenen Problemkreisen lassen sich bei den Reaktionen der Ärzteschaft auf die sich in ihren Augen verschlechternde Arbeitsmarktlage zwei Strategien unterscheiden: - Verknappung des Angebots an ärztlichen Leistungen, im wesentlichen durch Versuche, die Zahl der Neuzugänge zum Arztberuf zu beeinflussen; daneben auch durch Bemühungen, andere Anbieter solcher Leistungen vom Markt zu verdrängen; - Organisierung und kollektive Zusammenfassung der Angebotsseite des ärztlichen Arbeitsmarktes.

3.1

Versuche der

Angebotsverknappung

Einer Verknappung des Angebots am ärztlichen Arbeitsmarkt durch Regulierung des Zugangs zum Beruf konnte während des späten 19. Jahrhunderts nicht der zentrale Stellenwert zukommen, den diese Strategie in der Bundesrepublik Deutschland erlangt hat. Die Ärzteschaft hatte keinen direkten Einfluß auf die Entwicklung der Studentenzahlen und damit auf den Zugang zum Beruf. Es gab auch keine Berechnung von Ausbildungskapazitäten der einzelnen medizinischen Fakultäten, folglich auch keine 86

Grundlage fur eine Beschränkung der aufzunehmenden Studenten. Die quantitative Nachwuchsentwicklung konnte nur indirekt gesteuert werden. Zunächst sei ein Blick auf die Studentenzahlen geworfen, die in den zeitgenössischen Diskussionen gern zitiert wurden. In Tabelle 1 (im Anhang) läßt sich der rasche Anstieg der Zahl der Medizinstudenten seit Beginn der 1880er Jahre erkennen, der den Zuwachs der Studentenzahlen im allgemeinen erheblich übertraf. Der Anteil der Mediziner an sämtlichen Studierenden nahm entsprechend zwischen 1880/81 und 1890/91 von 19,5% auf 29,5% zu. Die Gründe fur diese Entwicklung können nur vermutet werden: Der allgemeine Aufschwung der Naturwissenschaften und besonders die spektakulären Entdeckungen und Fortschritte in der Medizin dürften die Attraktivität des Medizinstudiums erhöht haben. Ebenso könnten die Einführung der GKV und die zunehmende Bedeutung des Gesundheitswesens im engeren Sinne, der im Zuge der Assanierungsbewegung rasch wachsenden gesundheitsrelevanten Infrastruktur im weiteren Sinne gewirkt haben, die eine Ausdehnung des ärztlichen Arbeitsfeldes bedeuteten und die Zukunftsaussichten des Medizinstudenten und späteren Arztes in ein günstiges Licht rückten. Mindestens ebenso wichtig war aber die Tatsache, daß sich gleichzeitig die Berufsaussichten für die Studierenden an der juristischen und an der philosophischen Fakultät rapide verschlechterten. Während der 1880er Jahre mußten infolge der Puttkammerschen Reformen Justiz-Assessoren nach dem Referendardienst mit einer mehijährigen (mitunter bis zu zehn Jahren dauernden) Wartezeit rechnen, ehe sie in eine bezahlte Stellung kamen22. Hatten auch die Absolventen der philosophischen Fakultät wegen erheblicher Expansion der Planstellen für Oberlehrer während der 1870er Jahre keinerlei Anstellungsschwierigkeiten, so begann die preußische Kultusbürokratie schon 1881 vor dem Philologiestudium zu warnen, da sich ein Überfluß an Gymnasiallehrern abzeichnete. Seit Mitte der 1880er Jahre nahm die Zahl der schlecht bezahlten, nicht abgesicherten Hilfslehrerstellen rasch zu23. Angesichts der restriktiven Anstellungspolitik der staatlichen Behörden kann es kaum verwundern, daß die Zahl der Jura- und Philologiestudenten während der 1880er Jahre relativ und sogar absolut zurückging und sich statt dessen eine steigende Zahl von Abiturienten dem Medizinstudium zuwandte. Hatte während der 1870er Jahre der Anteil der preußischen Abiturienten, die Medizin studieren wollten, zwischen 19 und 23% geschwankt, so wählten vom Jahrgang 1883/84 fast 32% diese Studienrichtung24. Im Gegensatz zu den Behörden, die durch Einrichtung von Wartelisten und ähnliche Maßnahmen den Zugang zu den Berufspositionen im Staatsdienst unter Kontrolle halten konnten, stand der Ärzteschaft kein vergleichbares Instrument zur Verfugung, um den mit gewissem zeitlichen Abstand zum Wachstum der Studentenzahlen steigenden Approbationen wirksam zu begegnen (vgl. Tabelle 3 im Anhang). 87

Obwohl die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen, besonders im Zusammenhang mit der Einfuhrung der GKV und dem allgemeinen Reallohnanstieg, zunahm, wiesen in den Augen der Ärzte verschiedene bis heute aufgrund fehlender einschlägiger Forschungen schwer zu objektivierende - Anzeichen daraufhin, daß sich in den späten 1880er und in den 1890er Jahren ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf dem ärztlichen Arbeitsmarkt entwickelt, insofern eine Verschärfung der Konkurrenz stattgefunden hatte25. Die Ärzte zeigten jedenfalls ein lebhaftes Interesse daran, den Berufsnachwuchs nicht unkontrolliert zunehmen zu lassen. Es lag nahe, als mögliches Steuerungsinstrument in diesem Zusammenhang an eine Abmahnung vom Studium der Medizin durch gezielte Information über die »Überfiillung« und die damit sinkenden Einkommenschancen im ärztlichen Beruf zu denken. Ein entsprechender Antrag, der 1892 auf dem Ärztetag gestellt wurde, stieß allerdings auf schwerwiegende Bedenken. Z u m einen wurde die Wirksamkeit einer solchen Maßnahme bezweifelt, unter anderem mit dem Hinweis, daß die Ärzte mit der »Überfullungsthese« in der Öffentlichkeit keinen Glauben finden würden, da auf dem Lande vielfach noch ein objektiver Mangel an Ärzten bestehe. Z u m anderen widersprach ein solch unverhülltes Eintreten für die eigenen wirtschaftlichen Interessen und fur die ungeschmälerte Sicherung der eigenen Einkommen dem Selbstverständnis der Mehrzahl der versammelten Ärzte, die ihr »Arzttum« als über die wirtschaftlichen Tagesinteressen erhaben und sich selbst als höheren Idealen dienend sahen. Selbst der Antragsteller bezeichnete den Weg der jährlichen Abmahnung als »sehr peinlich«; nach Meinung eines anderen Redners erinnerte er zu sehr »an ein gewisses Gebahren von Gewerbetreibenden« 26 . Der Antrag wurde daraufhin zurückgezogen und durch einen Eventualantrag ersetzt, in dem die versammelten Ärzte sich damit begnügten, festzustellen, daß »das Anwachsen der Ärztezahl in keinem Verhältnis zu dem der Bevölkerung« stehe27 Eine andere Möglichkeit, den Andrang zum Medizinstudium zu drosseln, die den Ärzten zugleich erlaubte, ihre »Standesehre« zu wahren und sich nicht mit dem Odium der egoistischen Interessenpolitik zu belasten, war die Verschärfung der Studien- und Prüfungsbestimmungen. Nachdem erst 1883 durch eine neue Prüfungsordnung die Studiendauer von acht auf neun Semester erhöht und die Zahl der Prüfungsfächer von fünf auf sieben erweitert worden war, kam schon Ende der 1880er Jahre die Frage einer Studienreform erneut in die Diskussion und beschäftigte die Ärztetage bis 1891. Bevor 1890 und 1891 detaillierte Kommissionsberichte über einzelne Änderungsvorschläge zur bestehenden Prüfungsordnung vorgelegt wurden28, beschloß der Ärztetag 1889, daß die obligate Studiendauer auf mindestens fünfJahre festgelegt werden solle. Das dabei von dem Referenten, Dr. Dressler, ausdrücklich genannte Motiv, auf diesem Wege gegen 88

die »Überfüllung« des Medizinstudiums anzugehen29, wurde zwar auf den beiden folgenden Ärztetagen von der Mehrzahl der Redner zurückgewiesen. Statt dessen betonte man, daß die Verlängerung des Studiums ausschließlich im Interesse einer am erreichten Stand der Wissenschaft orientierten Ausbildung und damit im Interesse der Allgemeinheit an umfassend qualifizierten Ärzten liege30. Jedoch ist die gleichzeitige Funktion der Studienverlängerung, durch Erhöhung der Ausbildungskosten soziale Barrieren fur die Wahl des Medizinstudiums zu errichten und so die Konkurrenz einzudämmen, unübersehbar. Die gleiche doppelte Funktion, nämlich einerseits die praktische Ausbildung zu verbessern, andererseits zu erreichen, daß »viele, die jetzt vier Jahre Studium ihr Leben fristen, gar nicht mehr anfangen würden«3', hatte auch die Forderung nach dem »praktischen Jahr«. Zwischen Staatsexamen und Approbation sollte gemäß dieser Forderung, die erstmals vom Ärztetag 1891 offiziell erhoben wurde32, ein Jahr (unbezahlte) praktische Unterweisung in verschiedenen Krankenhausabteilungen erfolgen. Es dauerte indes noch genau zehn Jahre, bis der Bundesrat am 28. Mai 1901 eine neue Prüfungsordnung fur Ärzte erließ, deren wesentlichste Änderungen gegenüber der alten Prüfungsordnung von 1883 die Verlängerung des Studiums von neun auf zehn Semester und die Einfuhrung des »praktischen Jahres« waren33. Da in den Jahren von 1886/87 bis 1895/96 jeweils rund die Hälfte der Mediziner das Examen nach der zulässigen Mindeststudienzeit von neun Semestern absolviert hatte, mußte sich die Erhöhung der vorgeschriebenen Mindeststudiendauer auch auf die durchschnittliche Studiendauer auswirken. Während letztere - nach Abzug von aus besonderen Gründen ungewöhnlich lange Studierenden - von 1886/87 bis 1891 rund zehn Semester betrug, von 1891/92 bis 1895/96 sogar nur 9,9 Semester, stieg sie im Durchschnitt der Studienjahre 1902/03 bis 1911/12 auf 10,7 Semester an. Damit hatte die medizinische Fakultät, die auch schon vor 1901 die längste durchschnittliche Studiendauer aufwies, ihren Abstand vor den anderen Fakultäten noch erhöht: Bei den Juristen betrug die durchschnittliche Studiendauer in der Zeit von 1899/1900 bis 1911/12 6,9 Semester, bei den katholischen Theologen 7,1 und bei den evangelischen 7,4 Semester, bei den Naturwissenschaftlern und Mathematikern 8,7 und bei den Philologen 9,1 Semester34. Des weiteren wurden die Ausbildungskosten erhöht durch das ebenfalls 1901 eingeführte »praktische Jahr«. Da die Approbation erst nach der Absolvierung des einjährigen Krankenhausdienstes erteilt wurde, bestand für die frisch examinierten Mediziner kaum noch die Möglichkeit, durch Urlaubsvertretungen für niedergelassene Ärzte nebenher etwas Geld zu verdienen. So konnte ein Beobachter 1902 im »Ärztlichen Vereinsblatt« die Kosten eines Medizinstudiums bis zur Approbation auf »mehr als 12000,- Mark« beziffern35. Verschärfend wirkte die gleichzeitig erfolgende drastische Reduzierung 89

der Stipendien (vgl. Tabelle 4 i m A n h a n g ) . Z w a r sank - bei e t w a gleichbleibender absoluter Z a h l der unterstützten Studenten - der Anteil der S t i p e n d i e n e m p f ä n g e r an sämtlichen Fakultäten der preußischen U n i v e r s i täten v o n 3 7 , 2 % i m Wintersemester 1886/87 auf 2 0 % i m Wintersemester 1911/12. D o c h w a r dieser R ü c k g a n g bei den Medizinern stärker ausgeprägt als in den ü b r i g e n Fakultäten: W ä h r e n d i m D u r c h s c h n i t t der Studienhalbj a h r e 1887/88 bis 1891 v o n 1115 Medizinstudenten 3 5 , 9 % in irgendeiner F o r m unterstützt w u r d e n (zum Vergleich der Anteil der S t i p e n d i e n e m p fänger i m D u r c h s c h n i t t aller Fakultäten: 33,9%) u n d 1899/1900 n o c h 790 Studenten ( = 2 9 , 2 % der Medizinstudenten; Stipendienempfänger i m D u r c h s c h n i t t aller Fakultäten: 27,6%), erhielten 1911/12 n u r n o c h 539 M e d i z i n s t u d e n t e n ( = 15,9%) eine finanzielle U n t e r s t ü t z u n g (Anteil der S t i p e n d i e n e m p f ä n g e r i m D u r c h s c h n i t t aller Fakultäten: r u n d 2 0 % ) . M i t k n a p p 16% lag der Anteil der Stipendienempfänger an der medizinischen Fakultät z w a r i m m e r n o c h etwa doppelt so h o c h wie bei den Juristen, w o er n u r 7 , 8 % betrug; aber hier hatte der Prozentsatz der unterstützten Studenten v o n j e h e r wesentlich unter d e m Universitätsdurchschnitt gelegen. Zweifellos h a b e n s o w o h l der Stipendienrückgang als auch die Verlänger u n g des S t u d i u m s z u m beschleunigten Absinken der Studentenzahlen an den medizinischen Fakultäten seit der J a h r h u n d e r t w e n d e beigetragen, i n d e m sie besonders S ö h n e aus m i n d e r b e m i t t e l t e n Elternhäusern v o m M e d i z i n s t u d i u m abhielten. In die gleiche R i c h t u n g w i r k t e n die i m m e r stärker an die Öffentlichkeit gebrachten Klagen der Ärzte über ihre a n g e b lich miserable E i n k o m m e n s s i t u a t i o n , über die U n t e r b e z a h l u n g der ärztlichen Arbeit d u r c h die Krankenkassen, über die a u f g r u n d der M o n o p o l i s i e r u n g g r o ß e r Teile der Kassenpraxis in H ä n d e n w e n i g e r »fixierter Kassenärzte« w a c h s e n d e n Schwierigkeiten j u n g e r Ärzte, eine a u s k ö m m l i c h e P r a xis a u f z u b a u e n u s w . I m Z u g e der V e r s c h ä r f u n g der Interessenkonflikte zwischen Ärzteschaft u n d Krankenkassen hatten die Ärzte nämlich ihre v o r n e h m e Z u r ü c k h a l t u n g , die sie n o c h auf d e m Ärztetag 1892 zeigten, a u f g e g e b e n u n d i m m e r deutlicher ihr Interesse an einer B e s c h r ä n k u n g der K o n k u r r e n z artikuliert. 1900 riefen die Ärzte K n o b l o c h u n d Müller i m Ärztevereinsblatt dazu auf, einen »Angriff gegen die Ü b e r f u l l u n g , eine der U r s a c h e n der N o t h l a g e (zu) richten. Zweifellos ist es, daß die Ärzte besser stünden, w e n n die Patienten die Ärzte suchen m ü ß t e n , nicht u m g e k e h r t . In anderen Berufsarten suchte m a n durch eindringliche W a r n u n g der d r o h e n den H o c h f l u t h v o r z u b e u g e n u n d erreichte meist das Ziel. W a r u m sollten w i r nicht diesen W e g gehen? W a r n e n w i r die Gymnasiasten v o r d e m S t u d i u m der Medizin, β36 Einer v o n diesen beiden Ärzten d u r c h S a m m e l n v o n Spenden finanzierten Flugschrift, die in 2000 E x e m p l a r e n g e d r u c k t u n d an ü b e r 400 G y m n a s i e n verteilt wurde 3 7 , folgte 1903 der Beschluß des Ärztetages in Köln, den Geschäftsausschuß des Ärztevereinsbundes m i t der A u s a r b e i t u n g einer sozusagen »offiziellen« B r o s c h ü r e zur Verteilung an die 90

Abiturienten zu beauftragen. In dieser 1904 zum erstenmal verteilten Flugschrift wird die »wirtschaftliche Nothlage vieler Ärzte Deutschlands«, die aus der Steigerung der Ärztezahlen, dem Wachstum des »Kurpfuschertums« und der GKV resultiere, in düsteren Farben geschildert 38 . Daß die »Einnahmen des größeren Teils der Ärzte sich seit Jahren verringert (haben) und unbedeutend« sind, versucht die Broschüre unter anderem durch einen Vergleich der Einnahmen von Ärzten in Berlin/Brandenburg nach der Einkommensteuerstatistik mit den Einnahmen der Rechtsanwälte sowie durch den Hinweis auf die starke Inanspruchnahme der ärztlichen Unterstützungskassen für notleidende Ärzte und deren Hinterbliebene zu erhärten. Die Flugschrift schließt mit den Worten: »Möge daher ein jeder die Universität Beziehende erwägen, daß der Arzt in Z u k u n f t in der Regel manches Jahr verbringen muß, ehe er den für seinen Lebensunterhalt nötigen Verdienst sich erringen kann.« Daß solche Warnungen ihre Wirkung vor allem auf Studienwillige aus den unteren und mittleren sozialen Schichten ausüben mußten und auch sollten, da sie in erster Linie die v o m Studium abhalten sollten, »die darin lediglich einen Weg zu baldigem Broterwerb erblicken«, wie schon der Antrag von 1892 formuliert hatte39, liegt auf der Hand. Das Ziel, gleichzeitig mit der Drosselung des Andrangs zum Medizinstudium die sozialen Selektionsschwellen zu erhöhen, wurde - zumindest teilweise - erreicht. Hatten im Durchschnitt der Semester 1887/88 bis 1891 rund 23% der Medizinstudenten an preußischen Universitäten Akademiker, Offiziere oder Rittergutsbesitzer als Väter, so hatte sich der Anteil von Studenten aus diesen gehobenen Sozialgruppen 1902/03 auf 27,2% erhöht und hielt sich bis 1911/12 auf dieser Höhe. Der Anteil von Studenten, die eindeutig aus kleinbürgerlichen Sozialschichten kamen, stagnierte dagegen bei 19-20% (zwischen 1899/1900 und 1905/06 sank er sogar von 20,7 auf 17,8% ab), während er im Durchschnitt aller Fakultäten im gesamten betrachteten Zeitraum kontinuierlich anstieg, nämlich von gut einem Fünftel aller Studenten auf mehr als ein Viertel (vgl. Tabelle 5 im Anhang). Insgesamt kann man gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine deutliche Annäherung des sozialen Rekrutierungsfeldes der Mediziner an das der Juristen feststellen, die von jeher die exklusivste Gruppe bildeten: Kamen im Durchschnitt der Studienjahre 1887/88 bis 1891 noch 38,5% der Jurastudenten aus Akademiker- und Offiziersfamilien gegenüber 23,1% bei den Medizinstudenten, so hatte sich 1905/06 dieser Abstand auf 29,5 gegenüber 28,5% verringert. Allerdings konnte weder die Verschärfung der Prüfungsbestimmungen noch die Verlängerung und damit Verteuerung des Studiums noch die Verknappung der Stipendien auf Dauer (rein quantitativ) den Zugang zum Medizinstudium und damit zum Arztberuf wirksam drosseln: Die Mediziner hatten an dem steilen Anstieg der Studentenzahlen seit ca. 1906 sogar überproportional Anteil (vgl. Tabelle 1 im Anhang). Z u diesem erneuten 91

Anstieg trug nicht unerheblich bei, daß mit der Prüfungsordnung von 1901 den Absolventen von Realgymnasien die Möglichkeit des Medizinstudiums eröffnet worden war und 1905 auch den Abiturienten der Oberrealschulen, beides Maßnahmen, gegen die die Ärzteverbände schärfstens opponiert hatten. 1905/06 kamen zwar noch fast 90% der Medizinstudenten von einem humanistischen Gymnasium, 1911/12 jedoch nur noch knapp 80%. 14% der Studierenden waren zu diesem Zeitpunkt Absolventen eines Realgymnasiums, 6,6% einer Oberrealschule 40 . Wesentlich bescheidener nimmt sich dagegen der Anteil der Frauen unter den Medizinstudenten aus: Er hatte 1911 noch nicht einmal 5% erreicht41. Neben den dargestellten Strategien einer Verknappung des Angebots am ärztlichen Arbeitsmarkt durch Erschwerung des Zugangs zum Beruf sollte ein weiterer Faktor kurz erwähnt werden: die Bemühungen, das Angebot an medizinischen Dienstleistungen bei den approbierten Ärzten zu monopolisieren, das heißt, unlizensierte Heiler aller Art legal vom Markt auszuschließen. Einer klaren Aussage über die Auswirkungen, die der Kampf der Ärzteorganisationen gegen die »Kurpfuscherei« auf den ärztlichen Arbeitsmarkt hatte, steht allerdings die Schwierigkeit entgegen, das Ausmaß des ohne Approbation betriebenen Heilgewerbes halbwegs zuverlässig zu quantifizieren. In Untersuchungen von Ärzten wird durchweg davon ausgegangen, daß die »Kurpfuscherei« seit 1869, also seit der Aufhebung des »Kurpfuscherei«-Verbots und der Einfuhrung der sogenannten »Kurierfreiheit« in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, erheblich zugenommen habe42. Doch ist klar, daß die Ärzte dazu neigten, die widersprüchlichen und höchst unsicheren Fakten und Materialien so zu interpretieren, daß ihre Forderung nach Wiedereinführung des »Kurpfuscherei«-Verbotes dadurch wirksam unterstützt wurde 43 . 1902 wurde zwar in Preußen für nicht-approbierte Personen, die sich gewerbsmäßig mit der Ausübung der Heilkunde befaßten, die Meldepflicht beim Kreisarzt eingeführt, doch die seitdem in den amtlichen preußischen Sanitätsberichten festgestellte jährliche Zunahme dieses Personenkreises spiegelt nicht unbedingt einen realen Zuwachs der »Kurpfuscherei« wider. Sie kann auch aufbessere Erfassung bzw. wechselnde Kriterien zurückgeführt werden, abgesehen davon, daß der Meldepflicht in höchst unterschiedlichem Umfang nachgekommen wurde. Zudem war der weite Bereich der Laienmedizin keineswegs mit denjenigen Personen identisch, die »gewerbsmäßig« die Heilkunde betrieben. Die Zahl der - häufig betrügerischen - Geschäftemacher, die unter Ausnutzung der Leichtgläubigkeit des Publikums mit Hilfe geschickt eingesetzter, ausgedehnter Reklame und oft in Verbindung mit dem Verkauf von empfängnisverhütenden oder abtreibenden Mitteln ihr Gewerbe betrieben44, nahm vielleicht seit Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich zu. Dagegen könnte das Netz nicht-approbierter, auf einen engen lokalen Wirkungsbereich beschränkter Heilpersonen, die namentlich auf dem Lande 92

lange die approbierten Ärzte ersetzt hatten, geschrumpft sein. Zu diesem Prozeß dürfte neben der dichteren Versorgung auch der ländlichen Regionen mit approbierten Ärzten und dem langsam zurückgehenden Mißtrauen der Landbevölkerung gegenüber den »studierten« Ärzten eine sich allmählich in den Unterschichten durchsetzende Rationalisierung der privaten Lebensführung, sowie die - nicht zuletzt durch die Ärzteschaft energisch vorangetriebene - zunehmende Diskriminierung, ja Kriminalisierung der Laienmediziner beigetragen haben. Während diese Effekte schwer abzuschätzen sind, kann andererseits festgestellt werden, daß es der ärztlichen Profession während des frühen 20. Jahrhunderts trotz vieler anderer Erfolge in ihrem Abwehrkampf gegen die vermutete drohende Vergesellschaftung des Gesundheitswesens und des Arztberufs nicht gelang, das mit der Einfuhrung der Gewerbefreiheit verlorengegangene rechtlich fixierte Monopol wiederherzustellen. Offenbar konnten die Ärzte weder die Öffentlichkeit noch die herrschenden Eliten bis zum Ersten Weltkrieg von der Notwendigkeit einer solchen Privilegierung überzeugen.

3.2

Organisierung

des Angebots

und Aufiau

einer

Marktmachtstellung

Angesichts der Unzulänglichkeit der den Ärzten gegebenen Möglichkeiten, das Angebot auf dem ärztlichen Arbeitsmarkt quantitativ zu steuern und ein Monopol im Markt für gesundheitliche Dienstleistungen durchzusetzen, scheint das zweite hier zu behandelnde Bündel von Strategien als das weitaus wichtigere: nämlich der Versuch, die Angebotsseite des ärztlichen Arbeitsmarkts zu organisieren und die Verhandlungsposition der Ärzte gegenüber den als kollektive Nachfrager (Arbeitgeber) auftretenden Krankenkassen zu stärken. Da über die Auseinandersetzung zwischen Krankenkassen und Ärzteorganisationen schon viel geschrieben wurde, sollen hier nur einige wenige Punkte hervorgehoben werden, die in der bisherigen Diskussion eher unterbelichtet waren. In der einschlägigen Literatur45 wird stets die »einzigartige Monopolstellung« (Tennstedt) der Kassen herausgearbeitet, die als »Nachfrage-Oligopole« (Naschold) gegenüber dem zersplitterten Angebot der Ärzte letztere in die ungünstigere Arbeitsmarktposition drängen konnten. In Anlehnung an die Praxis bei den schon bestehenden Betriebskrankenkassen und bei den kommunalen Armen Verwaltungen schlossen die meisten der seit 1883 neugebildeten Kassen zunächst mit einzelnen Ärzten Verträge ab, in denen sie die Ärzte verpflichteten, meist gegen ein festes Jahreshonorar die Behandlung der erkrankten Kassenmitglieder und, wo das Statut dies vorsah, eventuell auch von deren Angehörigen zu übernehmen. Dieser Anstellungsmodus entwickelte sich für die Ärzteschaft in dem Umfang zum Problem, in dem mit fortschreitender Industrialisierung und aufeinanderfolgenden Novellen des Krankenversicherungsgesetzes der Versicher93

tenkreis ständig größer w u r d e (vgl. Tabelle 6 im Anhang). Wenn auch auf Reichsebene die Mitgliederzahl der reichsgesetzlichen Kassen bis z u m Ersten Weltkrieg 20% der Bevölkerung nur knapp überschritt, verbergen sich doch hinter dieser Globalzahl erhebliche regionale und lokale U n t e r schiede: In industriereichen Regionen sowie generell in den Großstädten lag der Prozentsatz der versicherten Bevölkerung weit über d e m Reichsdurchschnitt, während er z u m Beispiel in den ländlichen Provinzen i m Osten Preußens erheblich darunter blieb. D o c h auch bei Berücksichtigung der großen Unterschiede i m Anteil der versicherten Bevölkerung liefert die Reichsstatistik ein verzerrtes Bild. Sie enthält nämlich keine Angaben darüber, wie viele Kassen auch den Angehörigen ihrer Mitglieder freie ärztliche Behandlung und eventuell Arznei gewährten, eine Möglichkeit, von der i m m e r m e h r Kassen Gebrauch machten, nachdem sie den gesetzlich vorgeschriebenen Rücklagenfonds erreicht hatten. Z u r B e s t i m m u n g der Größe dieses Personenkreises ist man auf Schätzungen oder auf spezielle Erhebungen einzelner Städte oder Kassen angewiesen. So waren 1900 von 85000 Einwohnern Augsburgs rund 32000 gesetzlich versichert ( = 37,4%). Durch die mitversicherten Familienangehörigen stieg dieser Prozentsatz, o b w o h l die Familienversicherung nur bei einem Teil der Kassen eingeführt war, auf 61 % 46 . In der Provinz Schlesien stellte die Ärztekammer 1896 im Rahmen einer Krankenkassen-Enquete den U m f a n g der Familienversicherung bei den schlesischen Krankenkassen fest. D e m n a c h gewährten in dieser Provinz 25% der Kassen, in denen 40% sämtlicher Kassenmitglieder versichert waren, den Angehörigen ihrer M i t glieder freie ärztliche Behandlung. Der Regierungsbezirk O p p e l n lag dabei weit vorn: Hier erhielten die Angehörigen von 72,2% der Kassenmitglieder freie ärztliche Behandlung, während in der Stadt Breslau nur 16% diese Vergünstigung genossen. Rechnet man pro Kassenmitglied zwei bis drei Angehörige 4 7 , so steigt die Gesamtzahl der von der G K V erfaßten Personen in der Provinz von 639629 (nur Mitglieder) auf 1286346 (Mitglieder plus mitversicherte Angehörige) u n d damit der Anteil der versicherten Bevölkerung von 14,7% auf 29,5%, im Regierungsbezirk Oppeln sogar von 14,3% auf 40% 48 . N i m m t m a n nun Städte, w o schon die Mitglieder der Kassen einen wesentlich höheren Prozentsatz ausmachten, als dem Reichsdurchschnitt entsprach, u n d w o die Familienversicherung auf breiterer Basis eingeführt war; berücksichtigt man zudem die Bevölkerungsgruppe, die zwar nicht d e m Versicherungszwang unterlag, aber über Sanitätsvereine und andere freiwillige Versicherungen ärztliche Hilfe erhielt und so ebenfalls d e m freien M a r k t entzogen war, - dann erscheinen selbst Versichertenanteile wie der von 90%, der 1902 für Leipzig genannt w u r d e - hier befand sich die größte, reichste und bestorganisierte Ortskrankenkasse des Reiches - , als nicht unwahrscheinlich 4 9 Die Möglichkeit der Kassen, die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen in 94

i m m e r stärkerem M a ß e zu lenken u n d zu verteilen, i n d e m sie Ärzte zur Kassenpraxis zuließen oder sie d a v o n ausschlossen, entfaltete eine erhebliche Brisanz angesichts der gerade A n f a n g der 1890er Jahre besonders h o h e n Z a h l v o n A p p r o b a t i o n e n (vgl. Tabelle 3 i m A n h a n g ) u n d der dadurch bedingten steigenden Arztdichte. Beides z u s a m m e n b e w i r k t e - trotz w a c h sender N a c h f r a g e nach ärztlichen Leistungen - eine V e r s c h ä r f u n g des K o n k u r r e n z k a m p f e s innerhalb der Ärzteschaft, zumindest in b e s t i m m t e n B a l l u n g s r ä u m e n . Indizien d a f ü r sind die meist g r o ß e Zahl v o n ärztlichen B e w e r b e r n u m j e d e einzelne Kassenarztstelle s o w i e v o r allem die z u n e h m e n d e n Berichte u n d Klagen über U n t e r b i e t u n g e n , Bestechungen u n d andere unlautere M e t h o d e n bei der B e w e r b u n g u m Stellen oder generell b e i m A u f b a u einer Praxis 50 . Allerdings w u r d e n auch diese I n f o r m a t i o n e n in den ärztlichen Publikationsorganen u n d Diskussionen ebenso stark a u f g e bauscht u n d propagandistisch v e r w e r t e t wie diejenigen über den w a c h s e n den W e t t b e w e r b u n d die angeblich unlauteren M e t h o d e n der » K u r p f u scher«. O b sich mit der verschärften Konkurrenzsituation die ö k o n o m i s c h e Lage der Ärzte verschlechterte, o b also das D u r c h s c h n i t t s e i n k o m m e n relativ oder absolut sank, das ist eine zweite Frage. W e n n die Ärzte auch nicht m ü d e w u r d e n , dies zu behaupten, so haben sie d o c h n i r g e n d w o der Öffentlichkeit repräsentative A n g a b e n zur E n t w i c k l u n g ärztlicher D u r c h s c h n i t t s e i n k o m m e n vorgelegt, aus denen eine E i n k o m m e n s v e r s c h l e c h t e r u n g h e r v o r g e g a n g e n wäre. Die w e n i g e n v e r f u g b a r e n D a t e n aus d e m 1. J a h r z e h n t des 20. J a h r h u n d e r t s scheinen eher das Gegenteil zu b e w e i sen 51 , w i e auch die stetig steigenden Ausgaben der Krankenkassen f ü r ärztliches H o n o r a r (1887 b e t r u g e n die Arztkosten p r o praktizierenden Zivilarzt k n a p p 800 M k . , 11 Jahre später, 1898, schon 1374 Mk. 52 ) gegen sinkende E i n k o m m e n sprechen. Allerdings spielt es f ü r die gegenüber den Krankenkassen ergriffenen M a ß n a h m e n u n d Aktivitäten der Ärzte auch k a u m eine Rolle, o b sie sich auf realen ö k o n o m i s c h e n D r u c k oder eher auf U n z u f r i e d e n h e i t m i t der A b h ä n g i g k e i t v o n den Kassenvorständen, auf Statusfurcht oder auf der A b l e h n u n g der d u r c h die G K V symbolisierten Vergesellschaftungstendenzen des Arztberufs gründeten. Z u m i n d e s t i m B e w u ß t s e i n der Ärzte u n d in der Agitation ihrer V e r b ä n d e stellte sich die Gesamtsituation des einzelnen Arztes so dar, daß es seit Inkrafttreten der G K V ständig bergab gegangen w a r . D i e E n t s t e h u n g einer ärztlichen K a m p f f r o n t gegenüber den K r a n k e n k a s sen w i r d allgemein, s o w o h l v o n den Zeitgenossen als auch in der neueren Literatur, auf die - reale oder n u r vermeintliche - Statusverschlechterung der Ä r z t e i m Gefolge der Krankenversicherung z u r ü c k g e f ü h r t . Diese B e t r a c h t u n g s w e i s e ist j e d o c h zu undifferenziert. D e n n bei der Darstellung der Kassenarztfrage als Konflikt zwischen zwei K o n t r a h e n t e n , hier die Ärzte, da die Kassen, gerät eine andere Konsequenz eben dieses Systems m e h r o d e r w e n i g e r aus d e m Blick: die z u n e h m e n d e Interessen-Heterogeni95

tat innerhalb der Ärzteschaft, die sich mehr und mehr in zwei große Lager aufspaltete. Auf der einen Seite gab es die, die von der Kassengesetzgebung profitierten, weil sie z u m Teil recht lukrative Verträge mit einer oder auch mehreren Kassen hatten, und daher an einer Änderung des Systems wenig interessiert waren. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die von der so organisierten Kassenpraxis ausgeschlossen waren und deshalb eine Verallgemeinerung der Zulassung auf alle Ärzte, die sogenannte freie Arztwahl, anstrebten. Bis ca. 1900 hatten sich bei den Kassen hauptsächlich folgende »Arztsysteme« herausgebildet. Eine Reihe von Kassen hatte die von ärztlicher Seite geforderte freie Arztwahl eingeführt, das heißt, jeder Arzt, der die Zulassung bei der Kasse beantragte, w u r d e auch zugelassen, teilweise allerdings mit der Auflage, daß er schon eine Zeitlang am O r t praktiziert haben m u ß t e (Karenzzeit). Die zahlreichen kleineren Kassen - noch 1900 betrug die Durchschnittsmitgliederzahl pro Kasse nur 381 Mitglieder - hatten meist nur einen Vertragsarzt, an den die Kassenmitglieder sich im Fall einer E r k r a n k u n g zu wenden hatten. Bei einem Teil der größeren Kassen bestand ein Distriktarztsystem, das heißt, der Einzugsbereich der Kasse w u r d e nach Wohnbezirken in bestimmte Distrikte eingeteilt; für jeden Distrikt w a r ein v o n der Kasse bestimmter Arzt zuständig, bei d e m sich die Patienten, die i m jeweiligen Bezirk wohnten, im Krankheitsfall behandeln lassen m u ß t e n . N a c h diesem System w u r d e zum Beispiel in Berlin u n d in Dresden sowie bei den Eisenbahner- und Knappschaftskassen verfahren 53 . Ein anderer Teil der größeren Kassen hatte die sogenannte »beschränkt freie Arztwahl« eingeführt, bei der die Patienten unter einer Reihe bei der Kasse tätiger Ärzte wählen konnten. Der entscheidende Unterschied zwischen den verschiedenen Varianten des »Kassenarztsystems« auf der einen und der von den Ärzteverbänden geforderten freien Arztwahl auf der anderen Seite bestand darin, daß i m ersteren Falle die Kassenvorstände nach ihrem Ermessen Ärzte durch Abschluß eines Einzelvertrages zur Kassenpraxis zuließen und auch die Verteilung des Gesamthonorars unter die beteiligten Ärzte übernahmen. Im Fall der freien Arztwahl w u r d e dagegen zwischen d e m Kassenvorstand und d e m lokalen ärztlichen Verein faktisch ein Kollektivvertrag geschlossen, durch den automatisch alle Mitglieder des betreffenden Vereins, die sich zur Einhaltung bestimmter Regeln bei der Behandlung der Kassenkranken verpflichtet hatten, zur Kassenpraxis zugelassen wurden. 1891 w u r d e erstmals von einem Ärztetag die These aufgestellt, daß die »freie Wahl des Arztes bei den Krankencassen sowohl den Interessen der Cassenmitglieder als auch den berechtigten Forderungen der Ärzte« am besten entspreche und deshalb überall, w o dies möglich sei, eingeführt werden solle54. Etwa seit dieser Zeit entstanden in einer Reihe von G r o ß städten, beginnend mit Berlin, lokale wirtschaftliche Ärzteorganisationen, die, entweder als besondere Abteilungen oder Kommissionen des lokalen 96

Ärztevereins oder als eigenständige Vereine zur Einführung freier Arztwahl, die Durchsetzung der allgemeinen Zulassung zur Kassenpraxis anstrebten. Daß diese lokalen Vereinigungen insgesamt relativ vereinzelt und auch ihre Erfolge bis 1900 sehr begrenzt blieben, lag u. a. daran, daß die »Kassenarztfrage«, regional gesehen, längst nicht überall als drückend empfunden wurde. In mehr ländlich strukturierten Gebieten sowie in vielen Kleinstädten tauchte sie als Problem erst gar nicht auf, da es ganz selbstverständlich war, daß der ortsansässige Arzt die Behandlung der Kassenkranken übernahm oder mehrere Ärzte am Ort jeweils eine oder mehrere Stellen bei den vorhandenen Kassen innehatten. Aber auch Berichte aus verschiedenen Großstädten zeigen, daß vielfach selbst beim Distriktarztsystem oder bei beschränkt freier Arztwahl das Gros der Ärzte keinen Anlaß sah, gegen die Kassen zu opponieren55. Zum anderen lagen die mangelnden Erfolge der »Vereine zur Einführung freier Arztwahl« in den schon angesprochenen Interessenunterschieden der Ärzte begründet. Die Vereine wurden in der Regel von jüngeren Ärzten, die selbst keine nennenswerte Kassenpraxis hatten, gegründet: In Berlin etwa hatten 90% der Mitglieder des »Vereins freigewählter Kassenärzte« vor Einfuhrung der freien Arztwahl keine Kassenpraxis ausgeübt56. Ärzte, die eine auskömmliche Position bei einer Krankenkasse hatten und bei Einführung der freien Arztwahl um ihre garantierten Einkünfte fürchten mußten, waren schwerlich zum Eintritt in einen »Verein zur Einführung der freien Arztwahl« zu bewegen. Dies wissend, setzte ein solcher Verein mit seinen Forderungen meist nicht bei den Kassenmonopolen der etablierten Ärzte (der sog. »Kassenlöwen«) an, sondern versuchte, das Prinzip der freien Arztwahl durchzusetzen, wenn bei einzelnen Kassen Arztstellen vakant oder neue Kassen gegründet wurden. Es gab allerdings auch häufig Fälle, wo selbst »fixierte« Kassenärzte mit ihrer Position unzufrieden waren, über ungerechtfertigte Kündigungen oder nicht begründete willkürliche Honorarkürzungen seitens des Kassenvorstandes zu klagen hatten und dann zu einem gemeinsamen Vorgehen mit allen ortsansässigen Ärzten bereit waren. Wenn es jedoch auch zur gemeinsamen Kündigung der bisherigen Kassenärzte kam und die ärztliche Lokalorganisation oder ihre Krankenkassenkommission als Sprecherin der gesamten Ärzte mit der Kasse in Verhandlungen eintreten wollte, blieb als Achillesferse solchen Vorgehens immer noch der lokale Charakter der ärztlichen Organisationen. Vielfach war es für die Kassenvorstände ein Leichtes, wenn sie nicht auf die Forderungen und Bedingungen der ortsansässigen Ärzte eingehen wollten, vakante Stellen durch Ausschreibungen mit Ärzten von außerhalb zu besetzen. Besonders eklatant in dieser Hinsicht war der Remscheider Ärztestreik 1898: Die 10 Remscheider Kassenärzte kündigten geschlossen, nachdem der Kassenvorstand hinter ihrem Rücken zwei auswärtige Ärzte, die eine beamtenähnliche Stellung mit Pensionsberechtigung unter Ausschluß jeglicher Privatpraxis erhalten soll97

ten, eingestellt und dafür zwei Remscheider Kollegen nicht wiedergewählt hatte. Nach der Kündigung der Remscheider Ärzte stellte der Kassenvorstand in kürzester Zeit sieben weitere neue Ärzte mit einem Fixum von je 6000 Mk. an, so daß keine ärztliche Unterversorgung bei der Kasse bestand und die »Remscheider Ärzte ihren Streik innerhalb drei Tagen vollständig verloren« hatten, obwohl sich sämtliche Ärzte des Bergischen Ärztevereins mit ihrem Vorgehen solidarisch erklärt hatten57 In der weit überwiegenden Zahl der Fälle, in denen bis ca. zur Jahrhundertwende die freie Arztwahl im Sinne der Forderungen der Ärztetage eingeführt wurde, geschah dies nicht aufgrund von Kampfmaßnahmen der Ärzte wie Streiks (der Begriff tauchte übrigens während der Auseinandersetzungen in Barmen und Remscheid zum erstenmal im Ärztevereinsblatt auf), sondern durch das Eingehen von Kassen vorständen - ζ. T. unter dem Druck der Mitgliedschaft - auf die entsprechenden Verhandlungsangebote der Ärztevereine bzw. der »Vereine für freie Arztwahl« (so etwa in Mainz, Düsseldorf, Mannheim, Freiburg i. B., Stuttgart und Frankfurt) 58 . Auf die starke Interessen-Heterogenität innerhalb der Ärzteschaft in bezug auf ihre Stellung zu den Kassen weisen nicht nur die spezifischen Schwächen und Schwierigkeiten der Lokalorganisationen hin, die auf den in den ersten zehn Jahren seit Bestehen der GKV herangewachsenen Stamm von ärztlichen Monopolstelleninhabern bei den Krankenkassen Rücksicht nehmen mußten. Sie spiegelt sich auch sehr deutlich in der Vereinspresse und auf den Ärztetagen, besonders in den Verhandlungen des Ärztetages von 1895. Dort hatte der Co-Referent zu dem die freie Arztwahl befürwortenden Referat von Dr. Busch, der Berliner Arzt Windeis, ausgeführt, man könne heute, nachdem sich in zwölf Jahren bestimmte Strukturen in der ärztlichen Versorgung bei den Kassen herausgebildet hätten, nicht vorbehaltlos für freie Arztwahl eintreten, denn dadurch würde »einer sehr großen Zahl von Kollegen die Existenzmöglichkeit geradezu entzogen« 59 Für seine dementsprechende These, der Ärztetag könne sich nicht für die generelle Einführung der freien Arztwahl aussprechen, erhielt Windeis immerhin 3077 Stimmen gegenüber 7997 für Busch. Auf den folgenden Ärztetagen schmolz die innerärztliche Opposition gegen die freie Arztwahl immer mehr zusammen, und auf dem Kölner Ärztetag 1903 wurde sogar einstimmig (!) eine Resolution angenommen: »Der 31. Deutsche Ärztetag erwartet von den dem Ärztevereinsbund angehörenden Vereinen, daß sie ihre Mitglieder verpflichten, sich jeglicher Stellungnahme gegen die Durchführung der freien Arztwahl zu enthalten. « ω Jedoch scheint solche eindrucksvolle Geschlossenheit, wie sie auch den außerordentlichen Ärztetag 1903 in Berlin zur Novelle des Kranken Versicherungsgesetzes kennzeichnete, nicht zuletzt dadurch zustande gekommen zu sein, daß die der »Kassenarzt-Frage« indifferent gegenüberstehenden und die an einer Veränderung des Status quo nicht 98

interessierten Ärzte sich weniger im ärztlichen Vereinsleben engagierten und daher kaum Delegierte zu den Ärztetagen stellten. Auch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts standen jedenfalls die Ärzte keineswegs als ein monolithischer Block den Krankenkassen gegenüber, wie dies manche Ärztetagergebnisse und die Erfolge einiger weniger großer »Ärztestreiks« suggerieren könnten. Daß die unterschiedlichen Haltungen gegenüber dem Krankenkassenproblem fortbestanden, zeigen zum einen die öffentlichen Erklärungen der Bahnärzte und vor allem der Knappschaftsärzte, die seit jeher gegen freie Arztwahl gewesen waren und dieser Haltung auch in eigenständigen Organisationen, den Knappschaftsärztevereinen, Ausdruck gaben61. Zum anderen wird dies deutlich an der regional sehr unterschiedlichen Bereitschaft der Ärzte, den seit 1902 von ärztlichen Vertragskommissionen der einzelnen Ärztekammern ins Leben gerufenen »Schutz- und Trutz-Bündnissen« beizutreten. 1900 war der Leipziger Wirtschaftliche Verband, der später nach seinem Gründer benannte Hartmannbund, gegründet worden und hatte sich, nach anfänglichen Auseinandersetzungen mit der etablierten Standesorganisation, dem seit 1873 bestehenden Ärztevereinsbund, rasch als anerkannte Organisation zur Vertretung der ökonomischen Interessen der Ärzte etablieren können. 1903 war er dem Ärztevereinsbund als dessen »wirtschaftliche Abteilung« unter der Bezeichnung »Verband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen« angegliedert worden62. Mit dieser Gründung war zweifellos eine entscheidende Etappe im Professionalisierungsprozeß der Ärzte Deutschlands erreicht. Oberster Grundsatz des Leipziger Verbandes war, das seit Jahren vom Ärztevereinsbund erfolglos betriebene Petitionieren beim Gesetzgeber um Verbesserung der Stellung der Ärzte gegenüber den Krankenkassen durch wirksame Selbsthilfe abzulösen. Ziele waren nicht nur die Durchsetzung der freien Arztwahl, sondern ebenso Honorarerhöhungen und das Erreichen einer »standesgemäßen« Stellung der Kassenärzte, also Schutz vor willkürlichen Kündigungen. Dadurch konnten auch »fixierte« Kassenärzte im Verband eine Vertretung ihrer Interessen sehen. Zudem versuchte die Verbandsleitung, diese Gruppe durch allerlei Zugeständnisse, etwa Besitzstandsklauseln im Falle der Einfuhrung der freien Arztwahl, zum Verbandsbeitritt zu bewegen. Ein weiteres Mittel, um die zur Realisierung der Ziele unerläßliche Geschlossenheit der Ärzteschaft zu erreichen, waren die erwähnten »Schutz- und Trutz-Bündnisse«. In diesen verpflichteten sich die beteiligten Ärzte durch Unterzeichnen eines entsprechenden »Revers« ehrenwörtlich, Verträge, die sie mit Krankenkassen abschlossen, der zuständigen Kommission vorher zur Genehmigung vorzulegen und sich außerdem nicht um Kassenarztstellen zu bewerben, die zwischen Ärzteschaft und Kassen in irgendeiner Weise umstritten waren. Die Agitation für die Verpflichtungsscheine (Reverse) war zunächst Sache der Krankenkassenvertragskommissionen der jeweiligen Ärztekammern. 1904 wurden 99

diese verschiedenen Scheine aber ergänzt durch einen zentralen Revers, der bei der Verbandszentrale in Leipzig aufbewahrt wurde63. Die ärztlichen Lokalvereine übten auf die ortsansässigen Ärzte einen moralischen Druck aus, die Reverse zu unterschreiben, und war die Unterschrift erst einmal geleistet, so drohten dem Arzt, der sich trotzdem um eine vom Leipziger Verband gesperrte Kassenarztstelle bewarb, hohe Konventionalstrafen und ehrengerichtliche Verfolgung. Die Ergebnisse der vereinten Bemühungen von Vertragskommissionen, Leipziger Verband und Lokalvereinen, möglichst alle Ärzte zur Unterschrift unter den Verpflichtungsschein zu bringen, waren allerdings nicht so durchschlagend, wie Theodor Plaut dies in seiner 1913 erschienenen klassischen Untersuchung über den »Gewerkschaftskampf der deutschen Ärzte« darstellt und wie es auch in den neueren Darstellungen zu den Organisationsbestrebungen der Ärzte anklingt. Plaut fuhrt nur die Zahlen von Sachsen und Schleswig-Holstein an, wo jeweils 95-98% aller Ärzte den Verpflichtungsschein unterzeichneten 64 . Demgegenüber hat Hans Niemann in einer gerade erschienenen Untersuchung anhand der Protokolle der Ärztekammer der Provinz Hannover herausgearbeitet, daß im Bezirk dieser Ärztekammer bis zum Mai 1905 von 431 Ärzten nur 136, also 31,5% ihre Unterschrift geleistet hatten65. Niemann fuhrt dies darauf zurück, daß »unter den überwiegend ländlichen Verhältnissen der Provinz Hannover die Auswirkungen der Krankenversicherungsgesetzgebung auf die ärztliche Tätigkeit im Vergleich zu industrialisierten Gebieten sehr viel später und abgeschwächter« auftraten. Diese Feststellung ist sicherlich zutreffend und wird noch unterstrichen durch die Tatsache, daß auch in den ländlichen Bezirken der Provinz Posen oder in Westpreußen der Prozentsatz der Unterschriften nicht sehr viel höher war. Dadurch wird allerdings nicht erklärt, warum auch in der Provinz Westfalen nur 59,9% der Ärzte den Verpflichtungsschein unterschrieben und warum im Bezirk der Ärztekammer Brandenburg/Berlin die Unterzeichnung auf »vielfachen Widerspruch« stieß, so daß die Aktion sogar abgebrochen werden mußte 66 . Als ein weiter Faktor zur Erklärung dieser starken Schwankungen muß hier vermutlich neben dem unterschiedlichen Industrialisierungsgrad die regional und lokal unterschiedliche Position der Ärzte bei den Krankenkassen genannt werden. Waren die meisten Ärzte eines Ortes mit ihren Kassenverträgen zufrieden, so bestand naturgemäß wenig Neigung, auf das Recht des freien Vertragsabschlusses zu verzichten und jede Vertragserneuerung oder -änderung der Vertragskommission zur Genehmigung vorzulegen. Umgekehrt waren die Ärzte, die sich in drückender Abhängigkeit von der Willkür eines Kassenvorstandes fühlten, eher zu solchem kollektiven Vorgehen und dem entsprechenden Verzicht auf individuelle Vertragsabschlüsse bereit. Wenn der Leipziger Verband trotzdem so erstaunliche Erfolge zu verzeichnen hatte - von 1022 Konfliktfällen in den Jahren 1900 bis 1911 100

wurden 921 gewonnen67 - so ist dies vor allem auf folgende Maßnahmen des Verbandes zurückzufuhren: - Bekanntmachung jedes einzelnen Konfliktfalles auf zentraler Ebene in Form der seit 1902 in jeder Nummer des ärztlichen Vereinsblattes und in den wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichten »Cavete-Tafel«, einer Liste der Stellen, vor deren Annahme gewarnt wurde; - starke soziale Diskriminierung sogenannter »Streikbrecher«, die »den kämpfenden Ärzten in den Rücken fallen«; - zunehmende reale Schwierigkeiten nonkonformistischer Kollegen, ein angemessenes Auskommen zu finden. Hierbei ist vor allem daran zu denken, daß sogenannten Streikbrechern der Abbruch jeglicher kollegialer Beziehungen gewiß war. Ihnen wurde »die Erwerbung sonstiger kassenärztlicher oder privater Praxis aufs äußerste erschwert«68, so daß sie in hohem Grade von ihrem Arbeitgeber, dem Kassenvorstand, abhängig wurden. Hinzu kam in vielen Fällen eine Arbeitsüberlastung, da es den Kassen in Konfliktfällen vielfach nicht gelang, eine genügende Anzahl von Ärzten fur die Versorgung ihrer Kassenmitglieder zu finden. Besonders prekär wurde die Lage eines »Streikbrechers«, falls die Kasse sich wegen ärztlicher Unterversorgung ihrer Mitglieder nach einiger Zeit doch gezwungen sah, mit den alten Kassenärzten in ein neues Vertragsverhältnis einzutreten69. Unter diesen Bedingungen waren auch Ärzte, die nicht organisiert waren und keinen Verpflichtungsschein unterschrieben hatten, immer weniger bereit, gesperrte Kassenarztstellen zu übernehmen. So konnte Hartmann in seinem Geschäftsbericht für das Jahr 1904 behaupten, das »Gros der sogenannten Streikbrecher setz(e) sich zusammen aus ehrengerichtlich Bestraften, Überschuldeten, Morphinisten und Alkoholisten«70. Da die Kassen gesetzlich verpflichtet waren, ihren Mitgliedern freie ärztliche Hilfe in natura zu gewährleisten, befanden sie sich bei geschlossenem Vorgehen der Ärzte in einer schwachen Position. War nämlich die ärztliche Versorgung der Mitglieder nicht mehr gewährleistet, konnte die Aufsichtsbehörde einschreiten. Durch solchermaßen motivierte behördliche Eingriffe wurden nicht nur die beiden größten Konflikte, der Leipziger Ärztestreik 1904 und der Streik in Köln 1908, entschieden, sondern auch viele kleinere Konflikte. Nachdem einige große Auseinandersetzungen zugunsten der Ärzte ausgegangen waren, reichte in der Folgezeit meist schon die Androhung eines Streiks, um die Kasse zum Einlenken zu zwingen. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch die kostenlose Stellenvermittlung des Leipziger Verbandes. Immerhin wurden in den Jahren 1904 bis 1909 insgeamt 11791 Stellen (Assistenzarzt-, Vertreter- und Praxisstellen) vermittelt71. Dadurch wirkte der Leipziger Verband direkt und indirekt dem Streikbruch entgegen. Indirekt, indem er zur Verteilung 101

der jungen Ärzte nach dem realen Bedarf und so zur Vermeidung unnötiger Konkurrenz beitrug; direkt, indem er von allen, die die kostenlose Stellenvermittlung in Anspruch nahmen, die Verpflichtung verlangte, auf die Annahme von gesperrten Kassenarztstellen zu verzichten. Damit wurde eine wichtige Gruppe von Ärzten, nämlich die der noch nicht etablierten, die wegen ihrer Mobilität eine besondere Gefahr fur ein geschlossenes Vorgehen der Ärzteschaft darstellten, in die Politik des Verbandes integriert. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Interessenkonflikte zwischen Ärzteschaft und Krankenkassen widersprüchliche, zum Teil gegenläufige Konsequenzen gehabt haben: Zum einen wurde die Kohärenz der Ärzteschaft geschwächt dadurch, daß die einzelnen Ärzte, je nach der Art ihrer konkreten Position bei den Kassen, ganz unterschiedliche Interessen diesen gegenüber entwickelten; zum anderen wurden aber auch durch die Drohung von Statusverlust und die Umformung der Arbeitsmarktlage die Anreize zur strafferen Organisierung der Ärzteschaft und damit zur schlagkräftigeren Vertretung professioneller Interessen erhöht. Gerade mit Blick auf die organisatorische und verbandspolitische Entwicklung der Ärzteschaft müssen bei der Beurteilung der »Kassen-Frage« die Unterschiede in der Interessenlage einzelner Gruppen von Ärzten stärker herausgearbeitet werden, als dies bislang geschehen ist. Dennoch kann behauptet werden, daß es dem Leipziger Verband (Hartmann-Bund) durch seine sinnvoll aufeinander abgestimmten Maßnahmen gelang, die seit Einfuhrung der G K V entstandenen Interessengegensätze innerhalb der Ärzteschaft erfolgreich zu neutralisieren. Die während des späten 19. Jahrhunderts aufgebrochenen und sich verschärfenden Konfliktfronten zwischen Kassen- und Nicht-Kassenärzten, zwischen Allgemein-Praktikern und Spezialisten, zwischen Krankenhausärzten einerseits, privat praktizierenden Ärzten andererseits, zwischen Großstadt- und Landärzten, die sich an wachsenden Unterschieden der Arbeitsbedingungen, der Einkommenshöhe, des gesellschaftlichen Status und der allgemeinen Lebenslage festmachten, konnten intra-professionell gehalten werden. Das implizierte die Organisierung und Konzentration des Ärbeitskräfteangebots auf dem ärztlichen Arbeitsmarkt und den damit verbundenen Aufbau einer Marktmachtstellung der Ärzte gegenüber den als Nachfrage-Oligopolisten auftretenden Krankenkassen. Diese Entwicklung war offenbar nur möglich durch geschickte verbandsmäßige Stilisierung einer Außenbedrohung des gesamten ärztlichen Standes, die sichtbar werdenden Vergesellschaftungstendenzen, sowie durch das Nähren der latenten Statusangst der Ärzte: Maßnahmen, die geeignet waren, einen die konkreten Interessengegensätze überbrückenden SolidarisierungsefFekt auf emotioneller Basis auszulösen. Doch hätten vermutlich diese Maßnahmen noch nicht ausgereicht, wenn nicht reale ökonomische Vorteile durch harte, gewerkschaftsähnliche Aktionen erkämpft worden wären und wenn 102

nicht zugleich eine beachtliche Verschärfung der Kontrolle abweichenden Verhaltens, gekoppelt mit handfesten Sanktionierungsmaßnahmen, stattgefunden hätte. Die GKV förderte insofern, unbeabsichtigt und von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen, die Konsolidierung eines spezifischen ärztlichen Arbeitsmarktes und den Professionalisierungsprozeß der Ärzte. 4. Diskussion der empirisch-historischen Ergebnisse Die Bedeutung der in Teil 3 dargestellten arbeitsmarktrelevanten Strategien der approbierten Ärzteschaft für die langfristige Strukturierung eines klar definierten ärztlichen Arbeitsmarktes muß in engem Zusammenhang mit der Herausbildung und Konsolidierung der ärztlichen Profession gesehen werden. Dieser Prozeß wiederum erscheint theoretisch wie empirisch eingebettet in die tiefgreifenden Veränderungen des Marktes für gesundheitliche Leistungen während des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts, die sich in wesentlichen Dimensionen als Teil des säkularen sozialstrukturellen Wandels einer sich industrialisierenden Gesellschaft begreifen lassen. Industrialisierung und Urbanisierung waren mit starken sozialstrukturellen Veränderungen verbunden, die nicht nur für ständig wachsende Teile der Bevölkerung völlig neue Lebensbedingungen schufen, einen tiefgreifenden Wandel der Wertesysteme induzierten, wachsende Teile der Unterschichten mit Kaufkraft ausstatteten und die überkommene standesgesellschaftliche Sozialschichtung klassengesellschaftlich umformten. Diese Veränderungen begünstigten objektiv das Leistungsangebot der approbierten Ärzte, deren Teilmarkt auf Kosten der übrigen Anbietergruppen am Gesundheitsmarkt hätte wachsen müssen. Wie an der dargestellten Entwicklung der Arztdichteziffern ablesbar, fand aber eine solche Ausweitung bis in die frühen 1880er Jahre nicht statt. Die Zahl der approbierten Ärzte wuchs vielmehr sogar langsamer als die Bevölkerung, das heißt als die potentielle Nachfrage. Den approbierten Ärzten gelang es bis zu diesem Zeitpunkt nicht, die subkulturell verfestigten Begrenzungen der Marktsegmente zu überschreiten. U m das zu erreichen, mußten die Wahrnehmungsweisen von Gesundheit und Krankheit, damit die für den Konsum des von den Ärzten angebotenen Guts konstitutiven Normen generalisiert werden. Anders ausgedrückt: Es bedurfte verallgemeinerungsfähiger Begründungen und Normen, um eine subkultur-unspezifische Nachfrage nach einem besonderen Produkt (ärztliche Leistung) zu wecken und einen wesentlich erweiterten, vor allem wiederum tendenziell subkulturübergreifenden Markt für ärztliche Gesundheitsleistungen zu errichten. Derartig umfassende Veränderungen im gesamtgesellschaftlichen Maßstab, nämlich die Ablösung gruppenspezifischer durch gesamtgesellschaftliche Werte und Normen der Lebensorientierung und der praktischen 103

Lebensführung, hätten die Ärzte als einzelne Berufsgruppe gar nicht bewirken können. Doch trugen die Ärzte den funktionalen Erfordernissen dieses Prozesses dadurch Rechnung, daß sie seit den 1870er Jahren die Nachwuchsausbildung und die Berufsausübung zunehmend auf wissenschaftlich kontrollierte und legitimierbare Standards verpflichteten. Unter diesem Gesichtspunkt erhalten die oben dargestellten Bemühungen der Ärzte, eine angebliche Überfullung des Berufsstandes unter anderem dadurch abzuwenden, daß die Ausbildungszeiten verlängert und die Qualifikationsanforderungen erhöht wurden, ein neues Gesicht. Konnten sie auch offenbar langfristig nicht ein absolutes und relatives Wachstum der Medizinstudentenzahlen verhindern, waren sie also in diesem Sinne als Arbeitsmarktstrategie ziemlich unwirksam, beschleunigten sie doch andererseits die Neubegründung ärztlicher Autorität und Überlegenheit am Gesundheitsmarkt durch wissenschaftliche Forschung und wissenschaftlich angeleitete Technik. Mit Hilfe wissenschaftlicher (universalistischer) Kriterien ließ sich nun der Teilmarkt für ärztliche Leistungen und in derselben Weise auch die Produktion der Produzenten standardisieren, die über die wissenschaftlich orientierte, professionelle Kontrolle der ärztlichen Ausbildung, des Prüfungswesens und des schließlichen Berufszugangs erfolgte. Damit waren wichtige Voraussetzungen für die Ausschaltung anderer Anbieter am Gesundheitsmarkt und dessen zunehmende Kontrolle durch die approbierten Ärzte gegeben. Wie vergeblich allerdings der direkte Angriff der Ärzte auf die normative Grundlage der von ihnen nicht erreichbaren Segmente des Gesundheitsmarktes war, zeigt der sich seit den frühen 1880er Jahren zunehmend verschärfende Kampf gegen das »Kurpfuschertum«, der angesichts mangelnder staatlicher Unterstützung (Weigerung des Gesetzgebers und der Exekutive, ein erneutes, von den Ärzten vehement gefordertes »Kurpfuscherei«-Verbot zu erlassen) mit Hilfe der Ärzteverbände, ihrer Publikationsorgane sowie spezieller Kampagnen geführt wurde. Vielen Ärzten war bewußt, daß die Segmente am Gesundheitsmarkt relativ stark gegeneinander abgeschottet waren. Nennenswerte, sich zum Beispiel einkommensmäßig auswirkende Konkurrenzverhältnisse zwischen Laien-Medizinern und approbierten Ärzten bestanden kaum72. Andere Ärztegruppen jedoch, nicht zuletzt die preußische Medizinalverwaltung, die sich entsprechend in ihren jährlichen Berichten stets sehr heftig und emotional aufgeladen mit der »Kurpfuscherei« auseinandersetzte, spürten vermutlich, daß die Gefahr auf der Ebene der Normen und Wertvorstellungen bestand. Die Segmente des Gesundheitsmarktes indizierten die Existenz subkultur-spezifischer Normen und Wahrnehmungsweisen in bezug auf Gesundheit und Krankheit. Diese bedrohten den Teilmarkt der approbierten Ärzte insofern, als sie die universalistische Wertbasis desselben, besonders die Legitimation seiner Überlegenheit durch die Berufung auf Wissenschaft, in Frage stellten73. Unter diesem Aspekt gewinnt der als Arbeitsmarktstrategie rein quantitativ ziemlich 104

unwirksame »Kampf gegen das Kurpfuschertum« eine durchaus diskutable Bedeutung, wenn auch seine Effizienz schwer einzuschätzen ist. Zweifellos war es der komplexe Prozeß des sozialen Wandels als ganzer, der faktisch eine zunehmende gesellschaftliche Verbreitung des Bedürfnisses nach ärztlichen Leistungen sowie die Internalisierung der dieses Bedürfnis legitimierenden Normen bewirkte. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die Ärzte eine ganze Reihe von Aktivitäten entfalteten (vor allem im Rahmen der Infrastrukturpolitik und der, Systemcharakter annehmenden, sich dabei erheblich ausweitenden, Sozialfürsorge) bzw. regulierende soziale Positionen einnahmen (besonders im Zusammenhang mit der Etablierung der GKV als einem Instrument zur verbindlichen Definition der Gesundheits- bzw. Krankheitsrolle in bezug auf den Arbeitsmarkt)74, die den sozialen Wandel in einer für die ärztliche Profession günstigen Weise verstärkten oder sogar entscheidend formten. Will man diese Wandlungstendenzen begrifflich fassen, die seit den 1880er Jahren in Deutschland relativ rasch zum Wachstum des von den approbierten Ärzten beherrschten Teils des Gesundheitsmarkts führten, bietet es sich an, von Medikalisierung zu sprechen75. Damit sind alle diejenigen Entwicklungen gemeint, die im Sinne einer zunehmenden Verbreitung rationalistischer Wertsysteme und Verhaltensweisen, besonders im Bereich der privaten Lebensführung, eine Ablösung traditionaler, subkulturell verfestigter Verhaltensorientierungen und eine Verallgemeinerung »mittelständischer« Normen begünstigten. Wesentliche Momente dieses Prozesses wurden an anderer Stelle dargestellt und sollen hier deshalb nicht referiert werden76. Der seit den 1860er/1870er Jahren von den Ärzten auch nach außen immer stärker betonte Rekurs auf eine wissenschaftliche Begründung und Legitimation medizinischer Maßnahmen konnte den Autoritätszuwachs der approbierten Ärzte in der breiten Bevölkerung kaum beschleunigen. Da bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts handfeste und anerkannte Therapieerfolge selten blieben, dürfte die Verwissenschaftlichung der Medizin wenig zur Erweiterung und Sicherung des ärztlichen Anteils am Gesundheitsmarkt beigetragen haben. Andererseits mußten aber die Ärzte als Exekutoren einer Fülle von staatlich verordneten oder zumindest getragenen Maßnahmen, die in der Regel positiv bewertbare Einzelziele verfolgten (Erhaltung der Gesundheit, Verlängerung des Lebens, Vermeidung von Schmerz usw.) Auch im Bewußtsein der städtischen und ländlichen Unterschichten zunehmend in die Position von Experten hineinwachsen. Dem so entstehenden Experte-Laie-Verhältnis mangelte zwar weitgehend die Freiwilligkeit, was aber einer langfristigen Profilierung und Aufwertung des Status der approbierten Ärzte in bisher arztfernen Sozialgruppen keinen Abbruch tat. Die im Zuge ihres Professionalisierungsprozesses von den Ärzten entwickelten Organisations- und Arbeitsmarktstrategien förderten also teils bewußt, größtenteils aber unbeabsichtigt die Vergrößerung und Konsoli105

dierung des ärztlich okkupierten Segments des Gesundheitsmarktes. Entscheidenden Anteil daran hatten von den Ärzten nicht initiierte oder kontrollierte und teilweise auch kaum wahrgenommene übergreifende sozialstrukturelle Wandlungsprozesse.

5. Ausblick Die Legitimation für den Anspruch der approbierten Ärzte zu erringen, im Vergleich zur Laien-Medizin überlegene Leistungen zu erbringen, diesen Anspruch im gesamtgesellschaftlichen Maßstab zu verallgemeinern und durch Nivellierung beziehungsweise Zerstörung partikularistischer, subkultureller Wertsysteme normativ zu fundieren, ist der zentrale, den Absatzmarkt der Ärzte konstituierende Prozeß gewesen. Der ärztliche Arbeitsmarkt wiederum wird wesentlich durch die Existenzbedingungen dieses Absatzmarktes determiniert und durch die ärztliche Profession, die den Erhalt dieses Absatzmarktes, besonders auch seiner normativ-ideologischen Basis zu überwachen und zu garantieren versucht, strukturiert. Sarfatti-Larson meint dazu: »I have emphasized, however, that the medical market ultimately depends on ideological sources of social credit.«77 Diese Legitimationsgrundlage ist allerdings ständig bedroht. Und sie wird gerade durch die Weiterentwicklung derjenigen Prozesse zunehmend gefährdet, die zunächst, nämlich seit dem späten 19. Jahrhundert, legitimatorisch wirkten: durch die Verbindung von medizinischer Ausbildung und Therapie mit wissenschaftlichen und medizinisch-technischen Fortschritten. Dadurch werden Organisationsformen des ärztlichen Produktionsprozesses gefördert, die zunehmend die Gebrauchswertorientierung der Produzenten fraglich erscheinen lassen. Der Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwertorientierung der ärztlichen Warenproduktion kommt zum Ausdruck im Widerspruch zwischen Patienten- und Wissenschafts- beziehungsweise Technik-Orientierung. Zugleich, wenn auch weniger bedeutsam, im Widerspruch zwischen individualisierbarer Leistungskomponente und medizinischer Bürokratie. Offenbar handelt es sich um verschiedene Ausdrucksformen des in der modernen Arztrolle angelegten Widerspruchs zwischen partikularistischer und universalistischer Orientierung78. Dieser Widerspruch ist - das muß im Gegensatz zu den Implikationen einer Analyse von Schluchter hervorgehoben werden - nicht erst das Resultat neuester Entwicklungen in der Nachkriegszeit, sondern, wie in der voranstehenden Analyse gezeigt werden sollte, wichtigste Voraussetzung für die Ausdehnung des ärztlichen Absatz- und Arbeitsmarktes und seiner einkommens- wie statusmäßigen relativen Auszeichnung. Allerdings muß der Widerspruch im Bewußtsein der Patienten möglichst latent 106

gehalten werden können. Dies um so mehr, je stärker die oben thematisierten Zwangsaspekte im Arzt-Patient-Verhältnis wegfallen oder unwichtig werden und zugleich die Bedeutung der Freiwilligkeit und des Patientenvertrauens zunimmt. Mit Blick auf die deutsche Entwicklung scheint nämlich ein Vertrauensverhältnis im Rahmen der für die Beziehung des Patienten zum Arzt zwar fur die vormoderne, nicht professionalisierte Ärzteschaft und ihre bürgerliche bzw. adlige Klientel typisch gewesen zu sein, nicht jedoch für diejenigen Experte-Laie-Verhältnisse, die sich im Zuge der ärztlichen Professionalisierung und der Ausdehnung des ärztlichen Leistungsangebots faktisch durchsetzten79. Vertrauen und Freiwilligkeit sind Momente, die, zumindest in Deutschland, das Arzt-PatientVerhältnis wahrscheinlich nur während einer Zwischenphase der Professionsentwicklung (vielleicht vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre hinein) prägten. U m so bedrohlicher wird, wie Schluchter zu Recht feststellt, die neueste Entwicklung, die den latent gehaltenen Widerspruch in der Arztrolle manifest werden läßt80. Die Zunahme der Arbeitsteilung in den Großkliniken (vor dem Hintergrund des Bedeutungszuwachses, den das Krankenhaus zugleich für das alltägliche Krankheitsgeschehen in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat); die zunehmende Bürokratisierung der ärztlichen Tätigkeit auch in der freien Praxis; der bekannte überproportionale Einkommens- und Statuszuwachs, den die Ärzte insgesamt erfahren haben; die durch Verknappung des Angebots bewirkte Überfüllung der Wartezimmer und der Zeitmangel bei der Behandlung der Patienten - all diese Faktoren bzw. Wahrnehmungen steigern die Unzufriedenheit mit dem Gebrauchswert der ärztlichen Ware. Unterstützend wirken die Erfahrungen mit Dysfunktionen des Gesundheitssystems, mit bedrohlichen Nebenwirkungen der verschiedensten Pharmazeutika und mit der Kostenexplosion in allen Teilbereichen des Gesundheitswesens81. Der immer deutlicher sichtbar werdende Widerspruch zwischen Gebrauchswert- und Tauschwert-Orientierung in der Arztrolle, bei dem zunehmend die Tauschwert-Orientierung im Vordergrund zu stehen scheint, tritt also gekoppelt mit tiefgehenden Zweifeln am Sinn und Erfolgsversprechen der modernen Medizin auf. Der de-legitimatorische Prozeß, der zunehmend den ärztlichen Absatzmarkt gefährdet (Indikator: Vordringen der Laien-Medizin beziehungsweise alternativer medizinischer Diagnose- und Therapieformen) hat also zwei Ursachen, die sich wechselseitig verstärken. Die professionelle Autonomie der Ärzte, das entscheidende Strukturelement des ärztlichen Arbeitsmarktes, erscheint insofern in zunehmendem Maße gefährdet und könnte sich als transitorisch erweisen, indem die vor dem Ersten Weltkrieg mehr befürchteten als realen, vor allem aber erfolgreich zurückgewiesenen Vergesellschaftungstendenzen in bezug auf die ärztliche Berufsausübung und das Gesundheitswesen erneut und als bewußter politischer Prozeß betrieben wirksam werden könnten. In diesem Sinne sieht auch Sarfatti-Larson das (von ihr erwünschte) baldige 107

Ende professionell kontrollierter Arbeits- und Absatzmärkte kommen. Dabei könnte nach ihrer Meinung die Aufhebung der ärztlichen Privilegien, die entscheidende Einschränkung ihrer professionellen Autonomie, Modellfunktion bekommen 82 .

Anhang Tabelle

1:

Medizinstudenten an deutschen Universitäten 1871/72-1911/12

Jahr (jeweils WS)

Medizinstudenten abs. in % aller Studenten

1871/72 1872/73 1873/74 1874/75 1875/76 1876/77 1877/78 1878/79 1879/80 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1887/88 1888/89 1889/90 1890/91

3606 3692 3581 3426 3333 3370 3330 3535 3760 4179 4779 5520 6303 7011 7680 8145 8109 8452 8558 8381

23,7 23,4 22,1 20,8 20,0 19,4 18,6 18,6 18,6 19,5 20,9 22,8 25,0 26,7 28,5 29,4 28,9 29,6 29,9 29,5

Jahr (jeweils WS) 1891/92 1892/93 1893/94 1894/95 1895/96 1896/97 1897/98 1898/99 1899/1900 1900/01 1901/02 1902/03 1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12

Quelle: Preußische Statistik, H. 236, Berlin 1913, S. 79.

108

Medizinstudenten abs. in % aller Studenten 8110 7919 7620 7671 7664 7689 7738 7639 7433 6995 6710 6232 5857 5726 5903 6700 7293 8195 9274 10438 11518

29,6 29,2 28,2 27,7 26,8 26,1 25,3 24,1 22,6 20,8 19,3 17,4 15,8 14,8 14,3 15,4 16,3 17,6 18,8 20,5 21,8

Tabelle 2: Erstsemester medizinischer Fakultäten (reichsangehörige Studierende an preußischen Universitäten) Studienjahr 1887/88 1888/89 1889/90 1890/91 1891/92 1892/93 1893/94

Erstsemester in SS und WS zusammen

Studienjahr

Erstsemester in SS und WS zusammen

613 646 606 579 586 547 534

1894/95 1895/96 1899/1900 1902/03 1905/06 1908/09 1911/12

554 599 464 327 378 572 730

Quelle: Preußische Statistik, H. 204, S. 120, 122, 124; H. 236, S. 118.

Tabelle 3: Ärztliche A p p r o b a t i o n e n i m Deutschen Reich 1887/88-1913/14 Prüfungsjahr

Approbationen

Prüfungsjahr

Approbationen

davon Frauen

1887/88 1888/89 1889/90 1890/91 1891/92 1892/93 1893/94 1894/95 1895/96 1896/97 1897/98 1898/99 1899/1900 1900/01

1216 1208 1409 1571 1522 1424 1406 1357 1375 1295 1314

1901/02 1902/03 1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12 1912/13 1913/14

1429 1552 1054 726 837 545 820 930 945 1047 1232 1447 3822

23 45 32 39 54 148

1384 1344

Quelle: Veröffentlichungen des Reichsgesundheitsamtes, Bde. 13-40, Berlin 1889-1916.

109

Tabelle

4: U n t e r s t ü t z u n g e n f ü r p r e u ß i s c h e S t u d i e r e n d e

an p r e u ß i s c h e n U n i v e r s i t ä t e n v o n 1 8 8 6 / 8 7 bis 1 9 1 1 / 1 2 Es wurden unterstützt Im Durchschnitt der Semester

1887/88-1891 1899-1899/1900 1902-1902/03 1905-1905/06 1908-1908/09 1911-1911/12

S t u d i e r e n d e an s ä m t l . Fakultäten abs. % 3756 3595 3643 3854 4239 4259

Studierende an der med. Fakultät abs. %

33,85 27,56 25,13 23,41 22,86 19,97

1115 790 500 371 475 539

35,85 29,18 23,54 21,67 20,30 15,91

Quelle: Preußische Statistik, H. 223, S. 1%; H. 236, S. 151.

Tabelle

5: H e r k u n f t d e r r e i c h s a n g e h ö r i g e n

Studierenden

an p r e u ß i s c h e n U n i v e r s i t ä t e n nach a u s g e w ä h l t e n Väterberufen Im Durchschnitt der Semester

Väter aus Berufsgruppe Α an sämtl. Fak. med. Fak. abs. % abs. %

1887/88-1891 1891/92-1895/96 1899-1899/1900 1902-1902/03 1905-1905/06 1908-1908/09 1911-1911/12

3189 3085 3768 3978 4281 4561 5195

25,4 26,3 25,5 24,2 22,9 21,6 21,4

796 749 784 668 563 724 1046

23,1 24,2 25,3 27,2 28,2 26,8 27,0

Väter aus Berufsgruppe Β an sämtl. Fak. med. Fak. abs. % abs. % 2629 2449 3273 3847 4540 5394 6651

20,9 20,8 22,1 23,4 24,3 25,5 27,5

617 591 641 480 352 498 743

17,9 19,1 20,7 19,6 17,8 18,4 19,2

Quelle: Preußische Statistik, H. 223, S. 182-84; H. 236, S. 145. Erläuterungen: Da bei manchen Berufsangaben eine Verortung im sozialen Schichtungssystem der Gesellschaft nur schwer möglich ist - so kann die Bezeichnung »Kaufmann« sowohl den kleinen Ladeninhaber als auch den reichen Industriellen meinen - hat die Preußische Statistik zwei Gruppen von Väterberufen zusammengestellt, die zweifellos entweder der gesellschaftlichen Oberschicht oder der Mittel- und Unterschicht angehören. Gruppe Α umfaßt folgende Berufe: alle akademischen Berufe, außerdem Offiziere und Rittergutsbesitzer. Gruppe Β umfaßt folgende Berufe: Lehrer ohne akademische Bildung, Beamte ohne akademische Bildung, Unteroffiziere, Organisten, Küster, niedere Kirchendiener, Bedienstete und Arbeiter.

110

Tabelle 6: Ausdehnung der Krankenversicherung i m Deutschen Reich 1885-1911 Jahr

Zahl der Krankenkassen

1885 1890 1895 1900 1905 1910 1911

18942 20568 21362 22508 22695 22843 22778

Mitglieder in den Krankenkassen in Tsd. in % der Bevölkerung 4294,2 6579,5 7525,5 9520,8 11184,5 13069,4 13619,0

9,2 13,3 14,4 16,9 18,4 20,2 20,8

Kassenmitglieder in % der Bev. in: Prov. Berlin Kgr. Posen Sachsen 19,2 23,5 24,2 29,0 36,1 41,6 43,4

2,7 4,4 4,9 5,9 7,2 7,8 8,1

17,5 25,4 25,4 27,9 29,5 32,8 33,9

Rechnet man in der Spalte »Mitglieder in den Krankenkassen« noch die Mitglieder der Knappschaftskassen, die nicht unter die reichsgesetzlichen Kassen fielen, hinzu, ergeben sich folgende Zahlen: Jahr

Mitglieder der Krankenkassen in Tsd. in % der Bev.

1885 1890 1895 1900 1905

4.671,0 7.018,5 8.005,8 10.159,2 11.903,9

10,0 14,2 15,3 18,0 19,6

Quelle: Statistik des Deutschen Reichs, N. F., Jährliche Nachweisungen über die Krankenversicherung, Bde. 24, 59, 90, 140, 177, 248, 258; zur Mitgliederzahl der Knappschaftskassen: Bd. 177, S. 38*f.

Anmerkungen 1 T. Pierenkemper, Historische Arbeitsmarktforschung. Vorüberlegungen zu einem Forschungsprogramm, S. 9. 2 Vgl. ebd., S. 9f. 3 Vgl. den Überblick bei W. Sengenberger, Einfuhrung: Die Segmentation des Arbeitsmarktes als politisches und wissenschaftliches Problem, in: ders. (Hg.), Der gespaltene Arbeitsmarkt. Probleme der Arbeitsmarktsegmentation, Frankfurt/M. 1978, S. 15-42, bes. S. 16f.; sowie Pierenkemper, S. 21 ff. 4 M. J. Piore, Lernprozesse, Mobilitätsketten und Arbeitsmarktsegmente, in: Sengenberger, S. 69. 5 1898 waren knapp 2000 von insgesamt 24 725 deutschen Ärzten an Krankenhäusern beschäftigt (F. Prinzing, Handbuch der medizinischen Statistik, Jena 19312, S. 634); Funktionen als Medizinalbeamte, etwa Kreisphysici, wurden i. d. R. von niedergelassenen Ärzten nebenamtlich wahrgenommen. 111

6 Ε. Freidson, Profession of Medicine. A Study of the Sociology of Applied K n o w l e d g e , N e w Y o r k 1970 (dt. Ausgabe 1979 u. d. T . : D e r Ärztestand), bes. S. 23ff., 63ff. 7 Vgl. D . Rüschemeyer, Professions. Historisch u n d kulturell vergleichende Ü b e r l e g u n g e n , in: G. Albrecht u. a. (Hg.), Soziologie. Rene König z u m 65. Geburtstag, O p l a d e n 1973, S. 250-260; W . Schluchter, Legitimationsprobleme der Medizin, in: Z . f. S., J g . 3, 1974, S. 378 ff. 8 Vgl. M . Sarfatti-Larson, T h e Rise of Professionalism. A Sociological Analysis, Berkeley 1977, S. 17f. 9 Vgl. ebd., S. 14ff. 10 Vgl. C . v. Ferber, Soziologie f u r Mediziner. Eine E i n f u h r u n g , Berlin 1975, S. 9-48; C . Huerkamp, Ärzte u n d Professionalisierung in Deutschland. Ü b e r l e g u n g e n z u m Wandel des Arztberufs i m 19. J a h r h u n d e r t , in: G G , Jg. 6, 1980, S. 349-382; R. Spree, T h e Impact of the Professionalization of Physicians on Social C h a n g e in G e r m a n y during the late 19th and early 20th Centuries, in: H S R , H . 15, 1980, S. 24-39; A. Labisch, Ärzte u n d A r b e i t e r b e w e g u n g , in: Medizinsoziologische Mitteilungen, J g . 3, 1977, Η . 4, S. 6-19; d o r t auch - S. 13 - die unten m e h r f a c h a n g e f ü h r t e These v o n Vergesellschaftungstendenzen in bezug auf das Gesundheitswesen u m die J a h r h u n d e r t w e n d e . 11 Huerkamp, S. 350f.; vgl. auch W Roeßler u. H . Vießiues, Medizinische Soziologie, Stuttgart 1978, S. 44-70. 12 Rüschemeyer, Professions, S. 255. 13 Vgl. die zeitgenössische A b w e r t u n g der Laien-Medizin d u r c h die approbierten Ärzte u. a. in den regelmäßigen Jahresberichten der preußischen Medizinalverwaltung unter der R u b r i k »Kurpfuscherei«, bes. seit der J a h r h u n d e r t w e n d e ; ζ. B. das Sanitätswesen des P r e u ß i schen Staates w ä h r e n d der J a h r e 1898, 1899 u n d 1900. Bearbeitet v o n der Medizinalabteilung des M i n i s t e r i u m s (der geistlichen, U n t e r r i c h t s - u n d Medizinalangelegenheiten), Berlin 1903, S. 642-658. Ähnliche W e r t u n g e n in der m o d e r n e n Literatur z . B . bei R. Schenda, Das Verhalten der Patienten im Schnittpunkt professionalisierter u n d naiver Gesundheitsversorg u n g , in: M . Blohmke u . a . (Hg.), H a n d b u c h der Sozialmedizin, Bd. 3: Sozialmedizin in der Praxis, Stuttgart 1976, S. 31-45. (Schenda behandelt Laien-Medizin u n d Selbstmedikation unter d e m w e r t e n d benutzten Begriff »Subkulturales Gesundheitsverhalten«). Rüschemeyer, S. 255f., spricht i m Z u s a m m e n h a n g m i t der Laien-Medizin v o n »anomischen« Arzt-PatientBeziehungen. 14 Die T h e s e v o n der therapeutischen Inefifizienz ärztlichen Handelns u. a. bei: T . Mc Keou/n, A Sociological A p p r o a c h to the H i s t o r y of Medicine, in: ders. u. G. McLachlan (Hg.), Medical H i s t o r y and Medical Care. A S y m p o s i u m of Perspectives, L o n d o n 1971, S. 6 f . ; Μ . Ramsey, Medical P o w e r and Popular Medicine: Illegal Healers in 19th C e n t u r y France, in: J S H , Bd. 10, 1976/1977, S. 560-587; F. B. Smith, T h e People's Health 1830-1910, L o n d o n 1979. 15 Vgl. die ausfuhrliche Diskussion dieser These anhand empirischer Belege bei R. Spree, Soziale Ungleichheit v o r Krankheit u n d T o d . Z u r Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs i m Deutschen Kaiserreich, G ö t t i n g e n 1981, S. 107-115 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1471). 16 Vgl. Ε. H . Ackerknecht, Therapie von den Primitiven bis z u m 20. J a h r h u n d e r t , Stuttgart 1970, S. 125 u. 131 f.; P. vordem Esche, Die V e r s o r g u n g der B e v ö l k e r u n g mit K r a n k e n h ä u s e r n in Deutschland v o n 1876 bis zur G e g e n w a r t , in: Archiv fur Hygiene, Bd. 138, 1954, S. 387f.; M . Stürzbecher, Die medizinische V e r s o r g u n g u n d die E n t s t e h u n g der Gesundheitsfürsorge zu B e g i n n des 20. J a h r h u n d e r t s in Deutschland, in: G. Mann u. R. Winau (Hg.), Medizin, N a t u r w i s s e n s c h a f t , Technik u n d das Z w e i t e Kaiserreich, Göttingen 1977, S. 245f., 258; zur Einstellung des Mittelstands z u m Krankenhaus u. a. R. Spree, Strukturierte soziale U n g l e i c h heit i m Reproduktionsbereich. Z u r historischen Analyse ihrer E r s c h e i n u n g s f o r m e n in Deutschland v o n 1870 bis 1913, in: J. Bergmann u. a. (Hg.), Geschichte als politische Wissenschaft, Stuttgart 1979, S. 107f., A n m . 66 u. 68. Vgl. z u m G e s a m t k o m p l e x K r a n k e n haus auch A. Labisch, Krankenhauspolitik in der Krankenhausgeschichte, in: Historia H o s p i talium, H . 13, 1979/1980, S. 217-233.

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17 Huerkamp, S. 352ff. 18 Dazu A. Fischer, Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, Bd. 2, Berlin 1933, bes. S. 436-454; vgl. auch Α. E. Imhof, Einleitung, in: ders. (Hg.), Biologie des Menschen in der Geschichte. Beiträge zur Sozialgeschichte der Neuzeit aus Frankreich und Skandinavien, Stuttgart 1978, S. 63-75. 19 Detaillierte Angaben für Preußen bei C. M. F. Sponholz, Statistik der Medizinalpersonen in Preußen. Unter Benutzung amtlicher Quellen, Stralsund 1845; E. v. Massenbach, Die Verbreitung der Ärzte und Apotheker im preußischen Staate, Leipzig 1860; A. Guttstadt, Die ärztliche Gewerbefreiheit und ihr Einfluß auf das öffentliche Wohl, in: Zs. des kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, Jg. 21, 1880, S. 215-250; knappe Zusammenfassung bei F. Prinzing, Handbuch der medizinischen Statistik, Jena 19312, S. 635; Zahlen fur Baden in: Bericht des Großherzoglichen Obermedizinalraths an Großherzogliches Ministerium des Innern über den Zustand des Medizinalwesens im Großherzogthum Baden im Jahre 1869, Karlsruhe 1871, S. 148f. 20 Vgl. Zahlenangaben bei Th. Plaut, Der Gewerkschaftskampf der deutschen Ärzte, Karlsruhe 1913, S. 69ff. (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen, N . F., H. 14). 21 Vgl. P. vor dem Esche, Die Verbreitung der Ärzte im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik von 1876-1950, in: Archiv für Hygiene, Bd. 138, 1954, S. 374-383; Stürzbecher; Spree, Soziale Ungleichheit, S. 96-103. 22 D. K. Müller u. a., Modellentwicklung zur Analyse von Krisenphasen im Verhältnis von Schulsystem und staatlichem Beschäftigungssystem, in: U . Herrmann (Hg.), Historische Pädagogik (Zs. für Pädagogik, 14. Beiheft), Weinheim 1977, S. 49£T. 23 H.-G. Herrlitz u. H. Titze, Überfüllung als bildungspolitische Strategie. Zur administrativen Steuerung der Lehrerarbeitslosigkeit in Preußen, 1870-1914, in: Die deutsche Schule, Bd. 68, 1976, S. 348-370. 24 Vgl. die Tabelle bei Herrlitz u. Titze, S. 367. 25 Vgl. Huerkamp, S. 372. 26 Offizielles Protokoll des Ärztetages 1892, in: Ärztliches Vereinsblatt für Deutschland (im folgenden: Ä. V. Bl.) 1892, S. 466-469. Frappant sind die Ähnlichkeiten der »Überfullungsdiskussion« in USA; vgl. G. E. Markowitz u. D. K. Rosner, Doctors in Crisis: Α Study of the Use of Medical Education Reform to Establish Modern Professional Elitism in Medicine, in: American Quarterly, Bd. 25, 1973, Η. 1, S. 83-107. 27 Ä.V.B1. 1892, S. 469. 28 Vgl. Ä.V.B1. 1890, Nr. 216; 1891, Nr. 229. 29 Protokoll des Ärztetages, in: Ä.V.B1. 1889, Nr. 211, S. 406 u. ö. 30 Protokoll des Ärztetages, in: Ä.V.B1. 1890, N r . 220, S. 300-311. N u r ein einziger Redner, Dr. Asch aus Breslau, äußerste eine abweichende Meinung: »Die Petition um Verschärfung der Prüfungsordnung ist eine Petition u m Staatshilfe gegen die Concurrenz der jungen Collegen. Alle die schönen Redensarten, daß uns nur innere Interessen bewegen, sind für mich hinfällig .« (Ebd., S. 308.) 31 So ein Redner auf dem Ärztetag 1892, Protokoll in: Ä.V.B1. 1892, S. 469. 32 Vgl. vorläufigen Bericht über den Ärztetag, in: Ä.V.B1. 1891, Nr. 231, S. 252f. 33 Text der neuen Prüfungsordnung abgedruckt in: Ä.V.B1. 1901, Nr. 455, S. 414-419; N r . 456, S. 440-443. Vgl. auch H. G. Wenig, Medizinische Ausbildung im 19. Jh., Diss, med. Bonn 1969, S. 141-145; A. Wassermann, Die medizinische Fakultät, in: W. Lexis, Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, Bd. 1: Die Universitäten, Berlin 1904, S. 127-158. 34 Preußische Statistik, H. 236: Statistik der Landesuniversitäten fiir das Studienjahr 1911/ 1912, Berlin 1913, S. 120. 35 Ä.V.B1. 1902, N r . 468, S. 122f. 36 Ä.V.B1. 1900, Nr. 430, S. 402. 37 Ä.V.B1. 1900, Nr. 435, S. 535; 1901, N r . 441, S. 87. 38 Abgedruckt in: Ä.V.B1. 1904, Nr. 527, S. 410-414. 39 Ä.V.B1. 1892, N r . 243, S. 247.

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40 Preußische Statistik, Η . 236: Statistik der Landesuniversitäten i m Studienjahr 1911/ 1912, Berlin 1913, S. 110. 41 Errechnet nach der Tabelle ebd., S. 106f. 42 Vgl. ζ. B. C . Alexander, W a h r e u n d falsche Heilkunde, Berlin 1901; W . Baack (Hg.), Das K u r p f u s c h e r t u m u n d seine B e k ä m p f u n g , Straßburg 1904; W Ebstein, Charlatanerie u n d K u r p f u s c h e r i m Deutschen Reich, Stuttgart 1905; F. Eulenburg, Bericht an die Ä r z t e k a m m e r B r a n d e n b u r g - B e r l i n , in: Ä.V.B1. 1897, N r . 537, S. 539-543, N r . 538, S. 578-582; Referat Lent auf d e m Ärztetag 1897, in: Ä.V.B1., Beilage zu N r . 360, S. 4-8. Weitere Literatur w i r d genannt bei: F. Stier-Somlo, Die Kurpfuscherei u n d ihr Verbot, in: Annalen des Deutschen Reiches 1908, S. 401-404. 43 Dazu als Überblick: C . v. Littrow, Die Stellung des deutschen Ärztetages zur K u r p f u schereifrage in Deutschland v o n 1869-1908, in: Wiss. Zs. der H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t Berlin, Bd. 19, 1970, M a t h . - N a t . Reihe, H. 4, S. 433-446. 44 Vgl. v. a. den Bericht der K u r p f u s c h e r e i - K o m m i s s i o n auf d e m Ärztetag 1909 (in: Ä.V.B1. 1909, N r . 718b), der die »Bedeutung des Geschlechtslebens« in den A n n o n c e n der K u r p f u s c h e r , angefangen v o n Präparaten zur »Behebung vorzeitiger Geschlechtsschwäche« bis zu Mitteln zur »Beseitigung v o n Blutstockungen« (Schwangerschaftsabbruch!), nachweist. Siehe auch C . Alexander, Geschlechtskrankheiten und Heilschwindel, Leipzig 1908 3 ; H . Kantor, Freie Bahn f u r die K u r p f u s c h e r , Berlin 1917, d o r t den A n h a n g S. 40-55: G e b u r t e n r ü c k g a n g u n d Kurpfuscherei. 45 F. Tennstedt, Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung ( = Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2), B o n n 1977, S. 23-104; F. Naschold, Kassenärzte u n d Sozialversic h e r u n g s r e f o r m . Z u einer T h e o r i e der Statuspolitik, Freiburg 1967, S. 37-74; W . Thiele, Z u m Verhältnis v o n Ärzteschaft u n d Krankenkassen 1883-1913, in: Das A r g u m e n t , S o n d e r band 4, Berlin 1974, S. 19-45. 46 D e r ärztliche Stand u n d die deutsche Arbeiterversicherung. A u s Anlaß der bevorstehenden A b ä n d e r u n g des Krankenversicherungsgesetzes zusammengestellt v o m ärztlichen Lokalverein A u g s b u r g , A u g s b u r g 1901, S. 361-363. 47 In der E n q u e t e w u r d e n sogar auf ein Kassenmitglied 3 Familienangehörige gerechnet: Angesichts der Tatsache, daß meist ein recht erheblicher Teil der Kassenmitglieder ledig war, scheint diese Z a h l allerdings reichlich hoch u n d die Verhältniszahl 2,5, die nach F. T e n n s t e d t üblicherweise z u g r u n d e gelegt w u r d e , angemessener: F. Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialversicherung, in: M . Blohmke u. a. (Hg.), H a n d b u c h der Sozialmedizin, Bd. 3, Stuttgart 1976, S. 387. 48 Ergebnisse der Enquete, nach denen die Prozentsätze ausgerechnet w u r d e n , in: Ä.V.B1. 1899, N r . 411, S. 469-476; kurzgefaßt auch in: Statistik des Deutschen Reichs N . F., Bd. 140: Die K r a n k e n v e r s i c h e r u n g i m Jahre 1900, Berlin 1903, S. 23f. Eine ähnliche U n t e r s u c h u n g fur den Regierungsbezirk Köln im Jahre 1904 ergab, daß r u n d ein Viertel der Kassenmitglieder auch f u r ihre A n g e h ö r i g e n freie ärztliche B e h a n d l u n g in A n s p r u c h n e h m e n k o n n t e n . Für 1913 schätzt T e n n s t e d t (Sozialgeschichte, S. 388) den Anteil der versicherten Personen unter Einschluß der mitversicherten Familienangehörigen auf rd. 50% der Reichsbevölkerung. 49 D i e Stellung der Ärzte bei den Krankenkassen. W ü n s c h e u n d Vorschläge der deutschen Ä r z t e zur Revision des Krankenversicherungsgesetzes, beschlossen v o m X X X . Deutschen Ärztetag zu Königsberg am 4. u. 5. Juli 1902. Denkschrift, bearbeitet v o n D r . M a y e r - F ü r t h u. D r . H o e b e r - A u g s b u r g ( = Beilage z u m Ä.V.B1. 1903, N r . 490), S. 10. 50 D e n k s c h r i f t 1903, S. 3ff. zahlreiche Beispiele im Ä.V.B1., Jge. 1890ff.; Referat v o n D r . Busch auf d e m 18. Ärztetag 1890 (Ä.V.B1. 1890, S. 359ff.); vgl. auch die Fälle, in denen die ärztlichen Ehrengerichte mit »standesunwürdigem« Konkurrenzverhalten befaßt w a r e n , in: E n t s c h e i d u n g e n des preußischen Ehrengerichtshofes f ü r Ärzte, Bd. 1, Berlin 1908, S. 117-137. 51 Die Ä r z t e k a m m e r Berlin-Brandenburg, die seit 1899 einen nach V e r m ö g e n s l a g e der (zwangskorporierten) Ärzte gestaffelten Beitrag einzog, veröffentlichte in den J a h r e n 1900-1906 die E i n k o m m e n s v e r t e i l u n g der wahlberechtigten Ärzte (1900: 3376; 1906: 4179). Eine Z u s a m m e n s t e l l u n g dieser A n g a b e n findet sich bei Plaut, S. 187. Danach sank der Anteil

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der Ärzte mit einem Einkommen unter 900 Mk. von 4 auf 2,9% und der mit einem Einkommen zwischen 900 und 3000 Mk. von 26,1 auf 21,7%, während der Prozentsatz von Ärzten mit einem Einkommen über 5000 Mk. von 39,4 auf 53% stieg. 52 Die Höhe der Gesamtausgaben der Kassen in der Übersicht über die Entwicklung der Krankenversicherung in den Jahren 1885-1901, in: Statistik des Deutschen Reichs, N . F. Bd. 147, Berlin 1903, S. 23; die Ärztezahlen bei Priming, S. 634. 53 J. B. Astor, Zur Geschichte und Statistik der freien Arztwahl in Berlin, Berlin 1899; A. Gabriel, Die kassenärztliche Frage, Leipzig 1912, S. 112-114, passim. 54 Bericht über den Ärztetag, in: Ä.V.B1. 1891, Nr. 231, S. 254. 55 Dies gilt etwa für Kassel (Ä.V.B1. 1898, Nr. 386, S. 440-444), Hamburg (ebd., Nr. 387, S. 463-468), Dresden (ebd., Nr. 381, S. 325-332; Nr. 382, S. 352ff.) und die Knappschaftskassen des Ruhrgebiets (ebd., 1900, Nr. 437, S. 600f.; 1901, Nr. 439, S. 39f.). 56 Astor, S. 79. 57 Ä.V.B1. 1898, Nr. 383, 384, 385, 389. 58 Ä.V.B1. 1894, Nr. 285; 1895, Nr. 313; 1896, Nr. 330; 1899, Nr. 390; 1900, Nr. 433; zu Frankfurt: E. Graf, Ärzte und Krankenkassen, Frankfurt 1905. 59 Protokoll des Ärztetages, in: Ä.V.B1. 1895, Beilage zu Nr. 309 u. 310. 60 Bericht über den Ärztetag, in: Ä.V.B1. 1903. 61 Gabriel, S. 343-373. 62 Z u m Hartmannbund in erster Linie Plaut; außerdem: B. Puppe, Die Bestrebungen der deutschen Ärzte zur gemeinsamen Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, Wiesbaden 1911; G. Kuhns, 25 Jahre Verband der Ärzte Deutschlands, Leipzig 1925; neuere Darstellung: H. Schadewaldt, 75 Jahre Hartmannbund. Ein Kapitel deutscher Sozialpolitik, Bonn 1975. 63 Dazu v. a. Plaut, S. 35-45, 151-157. 64 Ebd. S. 41. 65 Die standespolitische Organisierung der Ärzteschaft als Reaktion auf die Einfuhrung der gesetzlichen Krankenversicherung, vornehmlich in der Provinz Hannover bis zur Reichsversicherungsordnung (1911), in: Niedersächsisches Jb. für Landesgeschichte, Bd. 52, 1980. 66 Staatsarchiv Münster, Β 120.8 Oberpräsidium. Medizinalwesen, Akte6111, Sitzung der Ärztekammer der Prov. Westfalen am 12. 1. 1906, Protokoll S. 20f.; Ä.V.B1. 1904, Beilage II zum Protokoll des Ärztetags 1904 in Rostock, S. 1-6, bes. S. 2. 67 Plaut, Gewerkschaftskampf, S. 138. 68 So ζ. B. eine Warnung des Münchner Ärztevereins, die irft Ä.V.B1. an auffälliger Stelle publiziert wurde: 1901, N r . 450, S. 299f.; ähnlich Ä.V.B1. 1904, Nr. 511, S. 226-229, w o berichtet wird, »die drückende Abhängigkeit, die ärztliche Überbürdung und die gesellschaftliche Isolierung« hätten bei 3 von 6 Ärzten, die in Solingen von der Kasse als »Streikbrecher« angestellt worden waren, bereits zur Aufgabe ihrer Stellung geführt. 69 Wie z.B. in Leipzig, w o die Kasse im Mai 1904 mit den alten Ärzten einen neuen Vertrag abschloß. Deshalb hatten von den 88 im April 1904 insgesamt angestellten »Streikbrechern« ein Jahr später bereits 38 die Stadt wieder verlassen; Geschäftsbericht Hartmann über die Tätigkeit des Leipziger Verbandes, in: Ä.V.B1. 1905, Sondernummer: Protokoll des Ärztetages 1905, S. 54. 70 Ä.V.B1. 1904, Extranummer: Protokoll des Ärztetages 1904, S. 49. 71 Puppe, Bestrebungen, S. 32-42. 72 In dieser Weise kann ζ. B. die Begründung der Berliner Medizinischen Gesellschaft für die Forderung nach Abschaffung des »Kurpfuscherei«-Verbots, 1869, interpretiert werden; vgl. dazu Huerkamp, S. 363 ff. Die unterschiedliche Einschätzung der Bedeutung der »Kurpfuscherei« für Status und Einkommen der approbierten Ärzte sei anhand zweier konträrer, zeitgenössischer Zitate verdeutlicht. Für die preußischen Medizinalbeamten urteilte Dr. Aschenborn, der zuvor den zahlenmäßigen Zuwachs der »Kurpfuscher« und die von ihnen der Volksgesundheit zugefugten Schäden beklagte: ». aber auch der ärztliche Stand als solcher hat schweren Schaden dadurch erlitten. Zunächst an seinem Ansehen! Das Publikum, urteilslos wie es in seiner großen Masse ja nun einmal ist, sah den Unterschied zwischen Arzt und Pfuscher, der früher gesetzlich so stark ausgeprägt war, nun verwischt und war nur zu

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sehr geneigt, Arzt u n d Pfuscher gleichzustellen u n d die Tätigkeit jenes nicht h ö h e r als die dieses zu b e w e r t e n . Sodann aber auch in seinen Erwerbsverhältnissen! D e n n die u n g e h e u r e n S u m m e n , die alljährlich den K u r p f u s c h e r n zufließen, gehen den Ärzten verloren, so daß eine bedeutende materielle V e r m i n d e r u n g ihres E i n k o m m e n s dadurch bedingt ist.« (Aschenbom, Aerzte, in: O . Rapmund (Hg.) Das Preußische Medizinal- u n d Gesundheitswesen in den J a h r e n 1883-1908. Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des Preußischen Medizinalbeamten-Vereins, Berlin 1908, S. 373). D a g e g e n Plaut: »Dazu k o m m t n o c h die Frage, o b d e n n die K u r p f u s c h e r e i wirklich in vollem U m f a n g e den Ärzten K o n k u r r e n z macht. Dies ist zu verneinen D e n n erstens w i r d in ärztearmen Gegenden u n d zwar in solchen, die nicht i m s t a n d e sind, einen Arzt zu ernähren, ein alter, erfahrener Schäfer zuweilen n o c h als K u r p f u s c h e r seinen U n t e r h a l t finden k ö n n e n u n d andererseits sind die B e h a n d l u n g s m e t h o d e n der rnicht approbierten Heilpersonen< o f t so wunderliche, daß m a n die Ü b e r z e u g u n g g e w i n n t , es k ö n n t e n die Ärzte d u r c h eine möglichst g r o ß e Z a h l solcher Leute n u r gewinnen« (Plaut, S. 75). 73 Vgl. Sarfatti-Larson, S. 2 0 f . , 25, 35. Vgl. auch die A r g u m e n t a t i o n in den Schriften über Wesen u n d B e d e u t u n g der Kurierfreiheit, hrsg. v. Zentralverband fir Parität der Heilmethoden, 1. Reihe, H . 1 - 6 , Berlin 1911. 74 Vgl. zur T h e s e der K o n s t i t u i e r u n g des m o d e r n e n Arbeitsmarkts u n d seiner Regulierung d u r c h die G K V , insofern nicht zuletzt d u r c h die Vertragsärzte, v o r allem G. Lenhardt u. C . Offe, Staatstheorie u n d Sozialpolitik. Politisch-soziologische Erklärungsansätze f u r F u n k t i o nen u n d Innovationsprozesse der Sozialpolitik, in: C . v. Ferber u. F . - X . Kaußnann (Hg.): Soziologie u n d Sozialpolitik, O p l a d e n 1977, S. 98-127 (KZfSS, Sonderheft 19). 75 Vgl. z u m historischen B e z u g s r a h m e n , aus d e m heraus der v o n Foucault propagierte Begriff der Medikalisierung als mentalitätsmäßiges Resultat der vielfältigen gesundheitspolizeilichen b z w . gesundheits- u n d bevölkerungspolitischen Bestrebungen seit d e m späten 18. J a h r h u n d e r t in E u r o p a entwickelt w u r d e , u. a. Imhof, Einleitung, S. 62-75. In d e m facettenreichen Begriff s c h w i n g t neben der T r a d i t i o n s - K o m p o n e n t e hoheitlichen o d e r z u m i n dest staatlich-gesellschaftlich legitimierten Z u g r i f f s auf die G e s u n d h e i t / K r a n k h e i t des Individ u u m s ( m o d e r n e s Schlagwort » E n t e i g n u n g der Gesundheit«) stets auch die andere, a m b i v a lente K o m p o n e n t e einer Rationalisierung des individuellen r e p r o d u k t i v e n Verhaltens i m Z u s a m m e n h a n g m i t der M o d e r n i s i e r u n g der Gesellschaft mit. 76 Vgl. Spree, T h e Impact, S. 33-36; ders., Sozial Ungleichheit, S. 156-162. 77 Sarfatti-Larson, S. 23. 78 Vgl. T . Parsons, T h e Social System, N e w Y o r k 1951, Paperback E d . 1964, S. 433-439, 454ff.; die Darstellung als W i d e r s p r u c h zwischen Gebrauchs- u n d T a u s c h w e r t o r i e n t i e r u n g nach Sarfatti-Larson, S. 37 ff. 79 Schluchter scheint das V o r d r i n g e n des Machtelements i m Arzt-Patient-Verhältnis, das dessen Legitimation b e d r o h t , erst m i t der N a c h k r i e g s e n t w i c k l u n g der medizinischen V e r s o r g u n g zu v e r b i n d e n (vgl. Schluchter, S. 390-393). Z u dieser Einschätzung k o m m t er a u f g r u n d seiner Gleichsetzung eines strukturell-funktional b e s t i m m t e n Modells v o n >alter Professiom u n d des daraus abgeleiteten Bedarfs an Freiwilligkeit u n d Vertrauen auf Seiten des Patienten als zentraler M o m e n t e der Innenlegitimation m i t der offenbar linear gedachten historischen Realität. D a g e g e n ist zu betonen, daß besonders Freiwilligkeit u n d bis zu einem gewissen G r a d auch V e r t r a u e n a u f s e i t e n des Patienten in der E n t w i c k l u n g des Art-Patient-Verhältnisses in Deutschland seit d e m späten 19. J a h r h u n d e r t zu keinem Z e i t p u n k t stärkere legitimatorische B e d e u t u n g erlangten (vgl. dazu Spree, Soziale Ungleichheit, S. 156-162). D i e fehlende o d e r z u m i n d e s t schwache Innenlegitimation w u r d e d u r c h Außenlegitimation ersetzt. 80 Vgl. Schluchter, S. 390-393; aus anderer Perspektive, aber mit ähnlichen Implikationen Imhof, Einleitung, S. 73-76, u n d die d o r t zitierte Literatur. 81 Vgl. besonders I. Illich, D i e E n t e i g n u n g der Gesundheit - Medical Nemesis - , Reinbek bei H a m b u r g 1975, S. 11-90. 82 Vgl. Sarfatti-Larson, S. 237-244.

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WILLIAM ROBERT LEE

Kommentar zu Claudia Huerkamp und Reinhard Spree: Arbeitsmarktstrategien der deutschen Ärzteschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Der vorliegende, von den beiden Autoren gemeinsam erstellte Forschungsbeitrag ist uneingeschränkt zu begrüßen. Bereits Freidson hat seinerzeit richtigerweise darauf hingewiesen, daß die Entwicklung der ärztlichen Profession, insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, bislang nur unzureichend untersucht worden ist1. Diese Forschungslücke ist für das Vereinigte Königreich2 (Waddington und Parry) die USA3 (Duffy) durch einige neuere Arbeiten einigermaßen geschlossen worden, nicht jedoch in der Bundesrepublik Deutschland. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zur DDR, wo dieses bedeutsame Thema von einer Reihe von Forschern aufgegriffen wurde. So hat ζ. B. von Littrow4 die Einstellung des Deutschen Ärztetages gegenüber der Laienmedizin im Anschluß an die Verabschiedung der Gewerbeordnung im Jahre 1869 untersucht, und Luther5 analysierte den Prozeß und die Mechanismen, durch die die praktizierenden Ärzte ihren professionellen Status begründeten und ihre entstehende soziale Exklusivität stützten. Erst kürzlich haben Tutzke und Engel6 die Veränderungen in der professionellen Rolle der praktizierenden Ärzte sowie hinsichtlich ihres Einkommens im 19. Jahrhundert nachgezeichnet. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Forschungserträge, trotz des von Schadewaldt7 gegebenen Anstoßes, in diesem Bereich relativ gering geblieben. Dieser beklagenswerte Zustand wird allerdings gegenwärtig durch eine Reihe individueller Ansätze angegangen, welche die verschiedenen Aspekte des Themas aufarbeiten, wie etwa den rechtlichen Rahmen des Ärzteberufs, die politische Strategie der Profession oder die soziale Herkunft der Ärzteschaft. Der vorliegende Beitrag von Huerkamp und Spree ist in diesen Kontext einzuordnen. Er bietet eine bedeutsame Erweiterung unseres Wissens über die Professionalisierung der Medizin in Deutschland und über die Entwicklung eines Arbeitsmarktes fur Ärzte. Es verbleiben jedoch eine Reihe von Problembereichen, die von den Autoren zu verdeutlichen wären: (1) Bei der Untersuchung der Professionalisierung der Medizin in Deutschland im Rahmen eines Arbeitsmarktmodells wäre es hilfreich gewesen, explizit zwischen dem Arbeitsmarkt der Ärzte einerseits und dem Markt für medizinische Dienste andererseits zu unterscheiden. Huerkamp und Spree unterlassen diese Unterscheidung häufiger und konzentrieren sich zumeist allein auf jene Faktoren, die Einfluß auf den Trend einer zunehmenden autonomen Professionalisierung ausüben. Das Ergebnis dieser eingeschränkten Betrachtungsweise ist die Vernachlässigung einer Reihe von Faktoren, die bedeutsam für den Arbeitsmarkt für Ärzte gewe117

sen sein könnten: etwa die veränderte Produktivität der praktizierenden Ärzte, Unterschiede in der Produktivität aufgrund konfessioneller oder religiöser Einflüsse auf das Handeln der Ärzte und die zunehmende Bedeutung des Unterschiedes zwischen frei praktizierenden Ärzten und Krankenhausärzten. (2) Die beiden Autoren weisen auf zwei entscheidende Faktoren für die Professionalisierung der Medizin in Deutschland hin, die Gründung des Deutschen Ärztevereinsbundes (1873) und die Einfuhrung der gesetzlichen Krankenversicherung (1883). Die Professionalisierung im Bereich der Medizin war demnach eine Entwicklung, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erfolgte. Es wäre jedoch hilfreich, auch früher beobachtbare Entwicklung innerhalb der Profession in Richtung auf professionelle Autonomie zu untersuchen. In England ζ. B. erfolgte die Verbesserung des Status der Ärzte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und ohne die Strukturierung des ärztlichen Arbeitsmarktes durch eine Intervention des Staates. Die Analyse vorausgehender Veränderungen innerhalb der ärztlichen Profession in Deutschland wäre deshalb höchst willkommen, insbesondere dann, wenn die Autoren dabei auch solche Fragestellungen wie die Gründung und Entwicklung repräsentativer Korporationen und die Umkehrung des traditionellen Arzt-Patient-Verhältnisses des 18. Jahrhunderts mit behandeln würden. (3) Huerkamp und Spree beleuchten richtigerweise die besondere Bedeutung der Angebotsfaktoren für die Veränderung des Arbeitsmarktes für Ärzte und deren beginnende Professionalisierung. Die Verschärfung der Prüfungsbedingungen und die Einführung eines »praktischen Jahres« waren bedeutsame Elemente innerhalb dieses Prozesses und trugen wesentlich zur zunehmenden Homogenität dieser professionellen Gruppe bei. Es wäre jedoch genau so informativ, wenn die Autoren weitere Faktoren der Angebotsseite untersucht hätten - etwa anhand der Frage, ob innerhalb der Profession eine zunehmende interne Rekrutierung zu beobachten war oder welchen Einfluß die selbst entwickelten Disziplinarverfahrensregeln auf den Zusammenhalt der ärztlichen Profession hatten. Es muß ζ. B. beachtet werden, daß die besonderen Studentenverbindungen für Medizinstudenten zu einer sozialen Isolierung der Ärzte beitrugen und damit ihre steigende Exklusivität verstärkten. (4) Ein wesentlicher Teil des Beitrages von Huerkamp und Spree behandelt die Faktoren, die Einfluß auf die Strategie der ärztlichen Profession am Arbeitsmarkt hatten. Dabei wird jedoch das Beweismaterial, das von den Ärzten selbst für steigenden Wettbewerb (insbesondere gegenüber Quacksalbern und anderen Laienmedizinern) und sinkendes Realeinkommen beigebracht wird, nicht mit der nötigen Rigorosität hinterfragt. Es kann sein, daß der behauptete Rückgang des Realeinkommens innerhalb der Ärzteschaft tatsächlich stattgefunden hat, oder aber, daß im Vergleich zu anderen Professionen die Ärzte sich nur bedroht fühlten. Die Entscheidung 118

über diesen Streitpunkt erfordert jedoch weitere sorgfältige Untersuchungen sowohl der Einkommensdaten, die von verschiedenen statistischen Büros vor 1914 gesammelt wurden, wie auch der individuellen Aufzeichnungen der Ärzte. Hilfreich in diesem Zusammenhang wären auch Informationen über die Kosten der Ausstattung einer ärztlichen Praxis (insbesondere über die Kosten chirurgischer Instrumente und diagnostischer Apparate) ebenso wie Angaben über die Entwicklung der laufenden Kosten einer ärztlichen Praxis. U m die Strategie der ärztlichen Profession insgesamt einschätzen zu können, wären unbedingt auch Informationen über die tatsächliche Entwicklung des Realeinkommens und über den aktuellen Stand des Wettbewerbs gegenüber den nicht-professionalisierten Bereichen des Gesundheitswesens nötig. Das Fehlen entsprechender Belege schwächt in entscheidendem Maße die Schlüssigkeit der Argumentation dieses Beitrages. (5) Das Papier könnte ebenfalls durch eine weitergehende Berücksichtigung der Veränderungen auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes der Ärzte ergänzt werden. Obwohl es eine umfassende Diskussion der durch die zunehmende Bürokratisierung erfolgten Zwangssozialisation und des »hidden curriculum« im Bereich der Medizin gibt, wäre es nützlich, auch die relativen Veränderungen innerhalb der Nachfrage nach ärztlichen Dienstleistungen aufzuzeigen. Eine wachsende Mittelklasse, verbilligte Arzneimittel und ein wahrnehmbarer Einfluß der ärztlichen Heilkunst (auch wenn deren tatsächliche Bedeutung für die zeitgenössischen alterspezifischen Geburts- und Sterberaten begrenzt bleibt) wären solche bedeutsamen Faktoren, die eine erfolgreiche Durchsetzung der ärztlichen Strategie auf dem Arbeitsmarkt ermöglichten. (6) Ganz richtig weisen die Autoren auf die zentrale Bedeutung der Rolle des Deutschen Ärztevereinsbundes hin. Jedoch wäre es beim Versuch, die Effektivität dieser Organisation bei der Verfolgung der professionellen Ziele zu untersuchen, nützlich gewesen, genauer zu untersuchen, warum die einzelnen Ärzte, trotz freiwilliger Mitgliedschaft und einer segmentierten professionellen Struktur in diesem Arbeitsmarkt, zur Verfolgung der gemeinsamen Ziele beitrugen. Eine Reihe möglicher Gründe ließen sich dafür anfuhren: die Existenz einer gemeinsamen Bedrohung, die soziale Homogenität der Ärzteschaft, die Art und Weise ihrer Rekrutierung und die Eigenarten der ärztlichen Tätigkeit selbst. Allgemein gesagt besteht die Notwendigkeit, die Bedeutung der Variablen, die die Stärke und Wirkung repräsentativer Körperschaften in der Untersuchungsperiode wie etwa des Deutschen Ärztevereinbundes ausmachten, präziser abzuschätzen. Diese allgemeinen Bemerkungen sollten jedoch die grundsätzlichen Verdienste dieses Beitrags nicht schmälern. Er beinhaltet einen wichtigen Schritt vorwärts bezüglich unserer Kenntnisse um die Professionalisierung der Medizin und das Wirken des Arbeitsmarktes im späten 19. und frühen 119

20. Jahrhundert. Eine vergleichende Perspektive der Forschung in diesem Bereich bleibt jedoch notwendig angesichts der Tatsache, daß das »British Medical Journal« bereits 1878 den Anspruch erhob »medicine is a profession. Other forms of activity (for example dentistry) is largely a business«.

Anmerkungen 1 Ε. Freidson, Profession of Medicine. A study of the Sociology of Applied Knowledge. N e w York 1970; ders. Professional Dominance: The Social Structure of Medical Care. Chicago 1970. 2 I. Waddington, The Role of the Hospital in the Development of Modern Medicine: A Sociological Analysis, in: Sociology, Bd. 7, 1973, S. 211-224; N . Parry u. J. Parry, The Rise of the Medical Profession. A study of Collective Social Mobility, London 1976. 3 J. Duffy, The Healers. The Rise of the Medical Establishment. N e w York 1976. 4 C. von Littrow, Die Stellung des Deutschen Ärztetages zur Kurpfuscherfrage in Deutschland von 1869 bis 1908, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, Bd. 19, 1970, Math.-Nat. Reihe H. 4, S. 433-447. 5 E. Luther, Die Herausbildung und gesellschaftliche Sanktionierung der ärztlichen StandesaufFassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle, Bd. 24, 1975, Math.-Nat. Reihe H. 2, S. 5-28, ders., Ärztliches Ethos und ärztliche Ethik im Lichte der marxistisch-leninistischen Philosophie. Halle 1970. 6 D . Tutzke u. R. Engel, Tätigkeit und Einkommen eines Allgemeinpraktikers vor der Mitte des 19. Jahrhunderts - Ergebnisse einer historisch-statistischen Analyse, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene, Bd. 24, 1978, S. 460-465. 7 H. Schadewaldt, 75 Jahre Hartmannbund. Ein Kapitel deutscher Sozialpolitik, unter Mitarbeit von P. P. Grzonka und C. Lenz, hg. vom Verband der Ärzte Deutschlands Hartmannbund e. V Bonn, 1975.

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T O N I PIERENKEMPER

Der Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe im Jahre 1880

ι Etwa ab 1880 treten Angestellte und Angestelltenberufe als eine besondere Beschäftigungskategorie im Wirtschaftssystem des Deutschen Reiches in verstärktem Maße in das öffentliche Bewußtsein. Dies läßt sich einmal daran verdeutlichen, daß der Begriff »Angestellter« sich im allgemeinen Sprachgebrauch gegenüber den konkurrierenden Begriffen wie »Privatbeamter«, »Handlungsgehilfe« etc. zunehmend durchzusetzen begann'. Andererseits nahm auch etwa ab diesem Zeitpunkt die quantitative Bedeutung dieser Beschäftigtengruppe dermaßen zu, daß sie erstmals als besondere Kategorie in der Berufszählung 1882 auftaucht2. An dieser letzteren Beobachtung knüpft auch eine allgemeine These über den Strukturwandel im Beschäftigungssystem an, der für das moderne Wirtschaftswachstum als typisch angenommen wird, die Vermutung nämlich, ». daß sich das Schwergewicht der Beschäftigung kontinuierlich von der Primär- über die Sekundär- zur Tertiärproduktion verlagert . «3 und damit zu Dienstleistungsberufen. Diese Theorie über die Veränderung der Beschäftigtenstruktur im Prozeß des modernen Wirtschaftswachstums ist allgemein als »Drei-Sektoren-Hypothese« bekannt und sieht die Ursache für diesen Strukturwandel sowohl in Verschiebungen der Nachfrage zu mehr Dienstleistungen hin als auch in den geringeren Rationalisierungsmöglichkeiten im tertiären Sektor begründet*. Dabei dominiert die Vorstellung, daß zu Beginn des industriellen Wachstums der Dienstleistungssektor und damit die Anzahl der Beschäftigten darin sehr klein gewesen sei und dieser im Verlauf der Entwicklung gewaltig expandiert habe5. Diese Schlußfolgerung erscheint uns jedoch zumindest voreilig, unterschätzt sie doch u. E. den Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor vor und während der frühen Industrialisierung sehr stark. Die Unterschätzung des Umfanges von Dienstleistungsberufen beruht u . E . vor allem darauf, daß dem tertiären Sektor nur Beschäftigungsgruppen zugerechnet werden, die mit der Erstellung von marktfähigen Dienstleistungen befaßt sind, und der ganze Bereich der privaten häuslichen Dienstleistungen unberücksichtigt bleibt6. Gerade aber dieser Bereich beansprucht in der 121

frühen Phase der Industrialisierung einen recht beträchtlichen Anteil der Beschäftigten 7 Die Bedeutung der Berufe im Bereich der häuslichen Dienstleistungen ging im Verlauf der Industrialisierung jedoch deutlich zurück. Die ersten Schätzungen über die Anzahl der Angestellten im Deutschen Reich, die sich zumeist an den Zahlen der Berufs- und Gewerbezählung von 1882 orientieren, kommen auf eine Zahl zwischen 440000 und 730000 Angestellte zu diesem Zeitpunkt 8 . Die an sich schon stark differierenden Zahlen, die auf einer unterschiedlichen Abgrenzung der Angestellten gegenüber den übrigen Beschäftigtenkategorien beruhen, lassen sich mit einer weiteren Erfassung des Bereichs für Angestelltenberufe konfrontieren, j e nachdem ob man Haus- und Dienstleistungspersonal der Landwirtschaft mit erfaßt, ob man Hauspersonal allgemein zu den Angestelltenberufen zählt, ob man die c-Personen des Handelsgewerbes (eigentlich Arbeiter, hier aber Handlungsgehilfen) mit erfaßt etc. Eine solche weite Fassung der Beschäftigtenkategorie »Angestellte« ermöglicht es ζ. B. fur 1895 eine Zahl von über 3,5 Mill. Angestellte aus den Angaben der Berufs- und Gewerbezählungen zu ermitteln (Tabelle 1). Die entsprechenden Schätzungen in der einschlägigen Literatur kommen hingegen nur auf Zahlen zwischen 800000 und 1,5 Mill. Angestellte im Jahre 1895. Die enorme Diskrepanz zwischen diesen verschiedenen Schätzungen veranschaulicht, daß die Bestimmung des Umfanges der Angestelltenschaft und damit des Volumens des Arbeitsmarktes fur Angestelltenberufe ein Problem ersten Ranges darstellt. Neu an Bedeutung gewannen jedoch unzweifelhaft Berufe, die technische und kaufmännische Fähigkeiten erforderten. Diese Fähigkeiten wurden schon sehr früh in den fortgeschrittenen Industriebetrieben benötigt, und da keine entsprechend qualifizierten Arbeitskräfte existierten, dort selbst hervorgebracht 9 Diese Vorläufer der modernen Angestellten expandierten in ihrer Zahl sehr stark, wenn auch der Anteil an der Gesamtbeschäftigung zunächst noch relativ gering blieb10. In der oben erläuterten »Drei-Sektoren-Hypothese« findet dieser Wandel innerhalb der Beschäftigten des industriellen Sektors keine Berücksichtigung, denn dadurch wird die Relation der Beschäftigten zwischen den verschiedenen Sektoren nicht berührt.". Zur Analyse des Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt während der Industrialisierung scheint deshalb die »Drei-Sektoren-Hypothese« aus zwei Gründen nicht besonders geeignet: 1. Sie vernachlässigt einen Großteil der Beschäftigten, ζ. B. die, die in häuslichen Dienstleistungen engagiert waren; 2. Sie berücksichtigt nur unzureichend den Wandel des Arbeitsmarktes innerhalb der drei unterschiedenen Sektoren selbst. U. E. liegt die fehlende Möglichkeit einer zureichenden Analyse von Arbeitsmarktentwicklungen innerhalb dieses Konzeptes darin begründet, daß Produktionssektoren voneinander abgegrenzt wurden und nicht 122

Tabelle i: Angestelltenberufe 1895 nach den amtlichen Zahlen der Berufs- und Gewerbezählungen vom 14. Juni 1895 InLandwirtdustrie 7 schaft 6

1. Aufsichtspersonal 1

35.880

104.698

2. technisches Personal 2

56.931

48.295

3. kaufm. Personal 3

3.362

109.333

Summe 1-3

96.173

262.326

4. Dienstleistungspersonal 4

Handel und Verkehr 8

Dienstleistungen 9

insgesamt

5.382 293.386

658.534 1.303

293.386

6.685

658.534

1.123.034

483.317

1.606.351

5. Hauspersonal 5

449.116

383.776

340.378

229.081

1.402.351

Insgesamt

545.289

646.102

1.756.798

719.083

3.667.272

Quelle: Statistik des Deutschen Reichs, N. F. Bd. 102. Aufsichtspersonal sind alle Berufsarten unter b2 der amtlichen Systematik. technisches Personal sind alle Berufsarten unter b l . 3 kaufmännisches Personal sind alle Berufsarten unter b3. 4 Dienstleistungspersonal umfaßt einmal die Berufsarten c2 und c3, bei Handel, Versicherung, Verkehr etc. (Berufsabteilung C l - 1 0 , 13-22) und bei Dienstleistungen die Staatsbediensteten (nicht Beamte) der Berufsabteilungen E, d. h. Berufsarten Ε 3 - 5 und die Gruppen der privaten Bildung und Unterhaltung (Ε 6 - E 8). 5 Hauspersonal entstammt der Spalte 2 bei allen Berufsgruppen, sowie der Berufsabteilung D l insgesamt. 6 Die globale Angabe, der Berufsart A 4 wurde gemäß den b-Anteilen der Berufsarten A 1-3 aufgeteilt. 7 Ab Berufsart Β 161 wurden die globalen Angaben ebenfalls gemäß der vorausgehenden bAnteile zugeschlagen. 9 Das Dienstleistungspersonal besteht hier aus den Berufsgruppen c2 und c3 (Handlungsgehilfen etc.). ' Hier sind die globalen Angaben der Berufsabteilung D l den Anteilen der Hausangestellten in den Berufsabteilungen A - C in gleichen Verhältnissen zugeschlagen worden. 2

Arbeitsmarktsegmente mit relativ ähnlichen Berufskategorien. Dieser Mangel des Konzeptes für Arbeitsmarktuntersuchungen ist also durchaus erklärbar, dienten die verschiedenen Sektor-Konzepte ja ursprünglich der Analyse des Wandels in der Produktionsstruktur der Industriegesellschaften insgesamt und bedienten sich dabei der Beschäftigtenanteile allein als Indikator für den zu untersuchenden Prozeß12. Der Versuch, die Beschäftigtensegmente der drei Sektoren als unabhängige Teilbereiche des Arbeits123

marktes zu interpretieren, muß deshalb zwangsläufig bald an Grenzen stoßen. Ein anderer konzeptioneller Zugriff ist also nötig. Hier bietet sich an, den Arbeitsmarkt als einen Markt zu interpretieren, auf dem nicht ein homogenes Gut »Arbeit« getauscht wird, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitsqualitäten. Diese unterschiedlichen Arbeitsqualitäten lassen sich annäherungsweise durch »Berufe« beschreiben, die untereinander kaum oder nur in einem geringen Wettbewerb stehen13, da ein Wechsel zwischen verschiedenen Arbeitstätigkeiten (Berufen) für den Betroffenen mit Kosten und Mühen verbunden ist14. In diesem Sinne läßt sich »Angestellter« als Oberbegriffeines Arbeitsmarktsegmentes interpretieren, das sich deutlich von den Segmenten »Arbeiter«, »Beamter« oder »Selbständiger« unterscheiden läßt. Es wäre nun allerdings voreilig, die Gruppe der Angestellten als ein homogenes Arbeitsmarktsegment zu behandeln, vielmehr wurde schon weiter oben ersichtlich, daß auch hier deutliche Unterscheidungen in Funktion und Qualifikation möglich sind. Die Abgrenzung der Angestelltenschaft gegenüber anderen Beschäftigungsgruppen weist eine Reihe von Problemen auf, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden sollen15. Wir wollen uns ganz pragmatisch damit begnügen, jene Berufe, die heute als Angestelltenberufe gelten, in unserer Untersuchung des Arbeitsmarktes im Jahre 1880 einzubeziehen16. Diese Zusammenfassung einer Reihe an sich recht unterschiedlicher Berufsgruppen unter der gemeinsamen Bezeichnung »Angestellte« bleibt jedoch problematisch und entbehrt auch nicht eines gewissen Maßes an Willkür. Sicherlich war jedoch zwischen diesen Berufsgruppen, so etwa zwischen Hausangestellten und Handlungsgehilfen oder zwischen Handlungsgehilfen und Industrieangestellten, die Mobilität höher und eher möglich als die in die Arbeiterschaft oder zu den Selbständigen. Darüber hinaus galten eine Reihe von arbeitsmarktrelevanten Regelungen, etwa der Gewerbeordnung und des Handelsgesetzbuches, für die meisten dieser Berufsgruppen 17 Insbesondere aber wurde 1911 die Rentenversicherung für diese Berufsgruppe in bewußter Trennung von der Arbeiterschaft organisiert, wodurch wiederum eine wichtige arbeitsmarktbezogene Unterscheidung der Angestellten von den übrigen Beschäftigtenkategorien erfolgte. Insgesamt scheint es deshalb durchaus gerechtfertigt, trotz aller damit verbundenen Mängel in Übereinstimmung mit der Literatur von einem gesonderten Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe zu sprechen. Unser Hauptanliegen wird es dabei sein, die Differenzen innerhalb dieses Arbeitsmarktsegmentes offenzulegen und die Arbeitsmarktbedingungen in den einzelnen Teilen des Arbeitsmarktes für Angestellte, insbesondere deren Qualifikation und Entlohnung, zu verdeutlichen. Der Zeitpunkt 1880 scheint insofern dafür günstig gewählt, weil hier die beiden oben erwähnten Strukturverschiebungen innerhalb der Angestelltenschaft aneinander stoßen, der Rückgang der häuslichen Dienstleistungen und das Aufkommen der Industrieangestelltenschaft. 124

Ob allerdings Erwerbsbedingungen für die Inhaber von Angestelltenberufen bereits 1880 marktwirtschaftlich vermittelt waren, müßte zunächst geklärt sein. Abgesehen von der Tatsache, daß die Marktbedingungen für Arbeit gegenüber den Warenmärkten einige strukturelle Eigenarten aufweisen, u. a. ein systematisches Machtungleichgewicht zugunsten der Nachfrager nach Arbeit (Unternehmen)'8 und bestimmte Formen der Marktorganisation 19 , läßt sich zeigen, daß gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die zeitgenössischen Klagen über zunehmende Marktabhängigkeit in den traditionellen Angestelltenberufen, vor allem bei den Handlungsgehilfen, deutlich formuliert wurden20. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Hinweise, die die Rekrutierung von Angestellten in zunehmendem Maße iiber den anonymen Arbeitsmarkt belegen21. Einer entsprechenden Quellenkategorie wollen wir uns auch in der folgenden Untersuchung des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe im Jahre 1880 bedienen. Es handelt sich dabei um die Auswertung der Stellenanzeigen für Angestelltenberufe in zwei überregionalen Tageszeitungen. Ausgewählt wurden die bedeutendsten Zeitungen zweier sehr unterschiedlich strukturierter Wirtschaftsräume, Köln und Leipzig 2 . Wenn also die Stellenanzeigen für Angestellte aus zwei Tageszeitungen als Indikatoren für den Arbeitsmarkt der Angestelltenberufe um 1880 gewählt wurden, so ist damit die Vorstellung verbunden, daß sie tatsächlich geeignet sind, Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage auf diesem Teilmarkt zu erfassen. Auch die moderne Arbeitsmarktstatistik verfügt nur über sehr unvollkommene Maße für diese Größen, nämlich in der Zahl der Arbeitssuchenden und offenen Stellen23. Ebenso problematisch ist auch die Verwendung der Stellenanzeigen als ein solcher Indikator. Voraussetzung für dessen Gültigkeit ist einmal, daß tatsächlich in bedeutendem Umfang das Angebot und die Nachfrage von Angestelltenberufen sich in Zeitungsanzeigen aktualisierte und daß beide Marktseiten in etwa gleicher Weise von dieser Rekrutierungsmöglichkeit Gebrauch machten. Eine Vielzahl von Autoren weist darauf hin, daß die Vermittlung von Angebot und Nachfrage bei den verschiedensten Angestelltengruppen tatsächlich zunehmend durch Zeitungsanzeigen erfolgte24. Auch gibt es Hinweise, daß Unternehmen selbst häufig Inserate in Zeitungen zur Rekrutierung von Angestellten benutzten25. Ebenso findet sich auch in neueren Untersuchungen die Methode der Gegenüberstellung von Stellengesuchen und Stellenangeboten zur Charakterisierung des Arbeitsmarktes für bestimmte Angestelltengruppen26, so daß es insgesamt vertretbar erscheint, dieses Verfahren auch für die Charakterisierung des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe um 1880 zu verwenden.

125

II D i e f o l g e n d e U n t e r s u c h u n g stützt sich auf die A u s w e r t u n g v o n insgesamt 2601 Stellenanzeigen. 1143 e n t s t a m m e n der Leipziger Z e i t u n g , u n d z w a r w u r d e n sämtliche entsprechenden A n n o n c e n in der Zeit v o m 1. J a n u a r bis 31. M ä r z 1880 erfaßt. U m eine entsprechende Anzahl v o n Anzeigen aus der Kölnischen Z e i t u n g zu erhalten, w u r d e n daraus n u r die A n n o n c e n der ersten J a n u a r w o c h e v o m 1. bis 7. 1. sowie der zweiten F e b r u a r w o c h e v o m 8. bis 14. 2. u n d der dritten M ä r z w o c h e v o m 15. bis 21. 3. 1880 erhoben, insgesamt 1458 Inserate. Ein erster allgemeiner Ü b e r b l i c k über diese Stellenanzeigen f ü r A n g e stelltenberufe vermittelt einen g r o b e n Einblick v o n der S t r u k t u r dieses Arbeitsmarktes. Tabelle 2: S t r u k t u r des Arbeitsmarktes f ü r Angestellte 1880 Stellenangebote Leipzig Köln 1. landwirtschaftlich Angstellte a) männlich b) weiblich 2. technische Angestellte a) männlich b) weiblich

162 92 70

214 18

4. persönliche Dienstleistungen a) männlich b) weiblich

44 7

5. Hausangestellte a) männlich b) weiblich

14 45

232

550

51

184

59

119 16 103 874

627

416

89

155

84

150

584

821 581 240

69 14

17 133

109 109

386 30

72 17

28 127

28

271

33 25 7

37 25 12

28

224 47

133 106 27

52 52

172 12

357 193

401 269 132

16 16

insgesamt Leipzig Köln

22 16 6

57 57

516

239 177 62

12

3. kaufmännische Angestellte a) männlich b) weiblich

insgesamt

15 9 6

12

Stellengesuche Leipzig Köln

222 178 44

214 42 172 1.143

269 33 236 1.458

Es zeigt sich, daß die verschiedenen Angestelltenberufe m i t sehr u n t e r schiedlichen Anteilen a m A r b e i t s m a r k t vertreten waren. Die unterschiedlichen Anteile spiegeln den tatsächlichen U m f a n g der B e s c h ä f t i g u n g s m ö g lichkeiten an den verschiedenen Berufskategorien j e d o c h n u r sehr u n v o l l 126

kommen wider 27 Das tatsächliche Arbeitspotential für die verschiedensten Angestelltenberufe zeigt eine ganz andere Verteilung als das Angebot und die Nachfrage auf diesem Arbeitsmarkt. Diese Diskrepanz ist darauf zurückzufuhren, daß ein Großteil der Beschäftigten, insbesondere diejenigen im traditionellen Bereich der Hausangestellten, nur selten bei der Stellenvermittlung Instrumente des modernen Arbeitsmarktes in Anspruch nahmen. Diese Beschäftigungsmöglichkeiten wurden weitgehend durch persönliche, familiäre Kontakte, und nur qualifizierteres Hauspersonal durch Anzeigen vermittelt 28 Man würde auch zögern, den gesamten Bereich des häuslichen Gesindes ohne weiteres dem Arbeitsmarkt der Angestellten zuzurechnen, sondern nur die qualifizierten Berufe unter den Hausangestellten, wie etwa Lehrer, Erzieher, Gesellschafterin etc., die in der Tat häufiger durch Zeitungsannoncen vermittelt wurden als Stubenmädchen. Die einschränkenden Überlegungen bezüglich der Repräsentativität der hier vorgestellten Daten für das gesamte Arbeitsplatzangebot verdeutlichen andererseits zugleich, wodurch sich diese Daten vor allem auszeichnen. Sie geben nämlich einen Eindruck davon, inwieweit sich Marktverhältnisse auch in solchen Bereichen des Arbeitsmarktes durchzusetzen beginnen, die traditionell von einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitskraft und Dienstherrn geprägt waren, wie ζ. B. bei Dienstboten 29 oder Handlungsgehilfen 30 . Vielmehr setzen sich zunehmend auch fur diese Berufsgruppen anonyme Mechanismen zur Anpassung zwischen den verfugbaren Arbeitsplätzen und den Arbeitskräften durch 31 . Diese für die Zukunft zunehmend wichtiger werdende Entwicklung soll hier in ihren Anfangen am Beispiel des Arbeitsmarktes für Angestellte im Jahre 1880 untersucht werden. Aus den Daten der Tabelle 2 wird zunächst einmal deutlich, daß die traditionellen Angestelltenberufe in Landwirtschaft, Haus und Geschäft (kaufmännische Angestellte) u m 1880 noch den Großteil des Arbeitsmarktes für Angestellte ausmachten. Weniger bedeutsam hingegen waren Berufe, die persönliche Dienstleistungen produzierten und solche, die im industriell-technischen Sektor der Wirtschaft beschäftigt waren. Diese generelle Beobachtung muß jedoch hinsichtlich der beiden Untersuchungsregionen etwas differenziert werden. In Leipzig ist die beobachtete generelle Dominanz der Angestelltenberufe in Landwirtschaft, Handel und Haushalt überdeutlich, während die Angestelltenberufe der technischen Angestellten und solche im Bereich persönlicher Dienstleistungen relativ selten waren. In Köln zeigt sich, daß hier zwar auch kaufmännische Angestellte die weitaus häufigste Arbeitsmarktkategorie darstellen, daneben aber auch technische Angestellte und solche für persönliche Dienste relativ häufig sind, wohingegen landwirtschaftliche Angestellte nahezu ohne Bedeutung für den Arbeitsmarkt blieben. 127

Die Unterschiede in der Arbeitsmarktstruktur zwischen diesen beiden Regionen scheinen sich ohne weiteres in Vorstellungen über die U n t e r schiede der regionalen Wirtschaftsstruktur einzufügen. Leipzig wurde stark durch das agrarische Hinterland und Köln durch die Nähe zum industriellen Z e n t r u m des Ruhrgebiets geprägt. O b diese Unterschiede jedoch auch als ein Hinweis auf den unterschiedlichen Entwicklungsstand der beiden Regionen aufgefaßt werden können, ist weitaus weniger eindeutig. Z w a r hatten in Köln die im ökonomischen Entwicklungsprozeß an Bedeutung zunehmenden Berufe im Bereich von Technik und persönlichen Dienstleistungen schon eine beachtliche Stellung im Arbeitsmarkt der Angestelltenberufe erreicht, während dieser in Leipzig noch sehr stark durch eher traditionelle Berufsgruppen geprägt war. Jedoch läßt sich fragen, ob nicht auch landwirtschaftliche und Handelsangestellte in modernen Betrieben zukunftsweisende Tätigkeiten verrichteten 32 . Besonders anschaulich werden auch die unterschiedlichen Beschäftigungsbereiche von Männern und Frauen. Bildeten Frauen im zukunftsweisenden Bereich der technischen Angestellten und persönlichen MarktDienstleistungen eine Minderheit, so vergrößert sich ihr Anteil bei den kaufmännischen und landwirtschaftlichen Angestellten, u m dann bei den Hausangestellten den Anteil der Männer bei weitem zu übertreffen 33 . Hier zeigt sich, daß der Zugang zu modernen Berufen fur weibliche Angestellte besonders schwierig war, und daß diese doch noch sehr eng an ihre traditionellen Tätigkeitsbereiche im Haushalt gebunden waren. Frag man nach dem Gleichgewicht auf dem Gesamtarbeitsmarkt für Angestelltenberufe, d. h. also nach dem Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage, so ist zunächst zweierlei zu beachten. Erstens ist es problematisch, den Gleichgewichtsbegriff hier zu verwenden, weil damit impliziert ist, daß jeder einzelne Nachfrager auch tatsächlich das gesamte Arbeitsangebot wahrzunehmen vermag. Dies gilt zwischen den einzelnen Angestelltenkategorien nur in sehr begrenztem Maße, weshalb weiter unten auch für jedes der fünf hier unterschiedenen Segmente des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe eine genauere Analyse vorzunehmen sein wird. Zweitens setzt eine solche Inbeziehungsetzung von Angebot und Nachfrage voraus, daß die »Kosten« der Inanspruchnahme der Marktvermittlung durch Stellenannoncen für beide Marktparteien gleich bzw. unbedeutend sind. Dies scheint für die relativ qualifizierten und gut bezahlten Angestelltenpositionen gegeben 34 . Eine Gegenüberstellung der Stellenangebote und Stellengesuche zeigt in Leipzig einen Angebotsüberhang, während in Köln ein deutlicher Nachfrageüberschuß festzustellen ist. Für Leipzig ist damit insgesamt festzustellen, daß dort mehr Angestellte ihre Arbeitskraft anboten als Stellen von den Unternehmen bereitgestellt wurden, während die Situation in Köln genau umgekehrt war. Auch dieser Unterschied zwischen den beiden Regionen weist erneut daraufhin, daß Leipzig weitaus weniger von den expansiven 128

Kräften des industriellen Aufschwungs erfaßt war als Köln. Allerdings zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung, daß ein solcher genereller Angebots- bzw. Nachfrageüberhang durchaus nicht für alle Segmente des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe in diesen beiden Regionen galt, sondern daß sich für die einzelnen Segmente die Verhältnisse ζ. T. sogar umkehren. Auch aus diesem Grunde, wie auch zur näheren Charakterisierung der Teilbereiche des untersuchten Arbeitsmarktes, scheint eine genauere Analyse der Segmente dieses Teilarbeitsmarktes unumgänglich.

III Der Arbeitsmarkt für landwirtschaftliche Angestelltenberufe umfaßte weitaus mehr Positionen für männliche als für weibliche Personen. Das lag vermutlich daran, daß weibliche Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zumeist Tätigkeiten ausübten, die dem landwirtschaftlichen Gesinde zuzurechnen waren, das ebenso wie die häuslichen Dienstboten nur selten über den Arbeitsmarkt rekrutiert wurde. Z w a r war der U m f a n g des landwirtschaftlichen Gesindes im Rückgang begriffen, er umfaßte jedoch in den meisten deutschen Staaten u m 1880 kaum weniger Personen als die häuslichen Dienstboten 35 . Die 401 Stellenanzeigen für landwirtschaftliche Angestellte im ersten Quartal 1880 in der Leipziger Zeitung und die 37 Anzeigen aus dem gleichen Zeitraum in der Kölnischen Zeitung vermitteln folgendes Bild. Tabelle 3: Landwirtschaftliche Angestellte 1880 Stellenangebote Köln Leipzig a) männliche (1) leitende (2) Volontäre (3) qualifizierte (4) Dienstboten b) weibliche (1) leitende (2) Dienstboten insgesamt

9

92 34 33 20 5

4 3 1 1 70

43 27

177 110 37 11 19

6 5 1

162

Stellengesuche Leipzig Köln 16 10 1 4 1 62 43 19

15

insgesamt Leipzig Köln

86 46 22

25 14 4 5 2

132

6 6

239

269 144 70 31 24

12 11 1

401

37

Deutlich wird, daß die Stellengesuche in Leipzig insgesamt das Angebot an Stellen für landwirtschaftliche Angestellte überstiegen. Dies gilt insbesondere für männliche leitende Angestellte, wie Guts- und Forstverwalter, Inspektoren und Förster 36 . Bei dieser Beschäftigungsgruppe handelt es sich u m Personen, die zwischen 30 und 40 Jahre alt waren und über eine 129

qualifizierte Berufsausbildung verfugten. Berufserfahrungen (53)37 und Empfehlungen oder Zeugnisse (77) wurden bei den Stellengesuchen häufig erwähnt. Der angebotene Lohn betrug etwa 400 Mark jährlich. Die Volontäre 38 strebten eine qualifizierte Berufsausbildung für den Zugang in leitende landwirtschaftliche Angestelltenpositionen an. Sie verfugten, wenn sie sich u m eine Stelle bewarben, über eine abgeschlossene Schuloder Fachschulausbildung (17) oder eine Lehre (11) und waren zwischen 15 und 20 Jahre alt. Bei den angebotenen Stellen wurde gelegentlich Lehroder Kostgeld gefordert (3). Neben den leitenden landwirtschaftlichen Angestellten und den Volontären, die in Leipzig zusammen 53% des Arbeitsmarktsegmentes der landwirtschaftlichen Angestellten und sogar 80% desselben für männliche landwirtschaftliche Angestellte besetzt hielten, sind noch einige weitere qualifizierte Positionen in diesem Arbeitsmarktsegment zu beobachten 39 Bei diesen Positionen überstiegen die Stellenangebote deutlich die Zahl der Gesuche, wobei die Stellenangebote vorwiegend auf Empfehlungen und Zeugnissen (10) bestanden. Die kleine Gruppe der männlichen Dienstboten im Bereich der Landwirtschaft umfaßte typische Berufe, wie Gärtner, Kutscher etc. Hier überstieg die Zahl der Stellengesuche deutlich die der Stellenangebote, wobei bei den Stellengesuchen häufig auf vorhandene Empfehlungen und Zeugnisse (8) hingewiesen wurde. Auch bei den Berufspositionen des Arbeitsmarktsegmentes für weibliche landwirtschaftliche Angestellte überwogen die gehobenen, leitenden Positionen. 65% der Stellenangebote und -gesuche für Frauen in diesem Arbeitsmarktsegment bezogen sich auf solche Stellen. Es handelte sich dabei ausschließlich u m Wirtschafterinnen, die mit der selbständigen Führung des Haushaltes betraut werden konnten: 24 der angebotenen 43 Stellen befanden sich dabei auf Rittergütern. Stellenangebote und -gesuche bezogen sich auf Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren mit Berufserfahrung und guten Zeugnissen. Das angebotene bare Gehalt lag bei gut 300 Mark jährlich. Die restlichen Stellen für weibliche Beschäftigte bezogen sich auf Dienstboten, wobei auch hier die qualifizierteren Dienstbotenpositionen, wie Köchin, Erzieherin, Gouvernante etc. überwogen. Das gewünschte Alter für die angebotenen Stellen wie auch bei den Stellengesuchen lag bei ca. 20 Jahren, Berufserfahrung und Zeugnisse wurden gewünscht und geboten, das bare Gehalt einer Köchin lag bei 160-180 Mark jährlich. Hinzu kamen Sachleistungen in Form von Kost und Logis, die den meisten landwirtschaftlichen Angestellten gewährt wurden. Die wenigen Annoncen für landwirtschaftliche Angestellte in der Kölnischen Zeitung bestätigen insgesamt die Strukturmerkmale des Arbeitsmarktsegmentes, die sich aus den Anzeigen der Leipziger Zeitung herleiten ließen. Auch hier überstiegen die Stellengesuche die Zahl der Stellenangebote. Die stellungssuchenden männlichen leitenden Angestellten in der Landwirtschaft waren zumeist älter (6) und verfügten über Qualifikationen 130

oder Berufserfahrungen (9), waren verheiratet (4) und in der Lage, eine Kaution zu stellen (3). Ähnliches läßt sich für leitende weibliche Angestellte zeigen. Hier kommt der gelegentliche Verweis auf die Herkunft aus gutem Hause hinzu, ζ. B. Oberförsterstochter, Gutsbesitzerstochter. Das entsprechende Stellenangebot forderte ebenfalls Berufserfahrung und Empfehlungen und bezog sich damit auf die Besonderheiten der Stellungssuchenden, d.h. des Arbeitsangebots in diesem Segment des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe. Der Arbeitsmarkt für technische Angestelltenberufe blieb 1880 noch vollständig den Männern vorbehalten. Dieses Arbeitsmarktsegment bildete mit 28 Nennungen (2,5%) in Leipzig nur einen verschwindend geringen Teil des Gesamtarbeitsmarktes für Angestellte dieser Region im Jahre 1880. In Köln betrug dieser Anteil mit 109 Nennungen (7%) immerhin knapp als das Dreifache. Tabelle 4: Technische Angestellte 1880 Stellenangebote Leipzig Köln a) männliche (1) leitende (2) übrige b) weibliche insgesamt

12

57 27 30

7 5

12

Stellengesuche Leipzig Köln 16

57

52 35 17

13 3

16

insgesamt Leipzig Köln

52

109

28 20 8

62 47

28

109

In Leipzig überwogen wiederum Inserate, die sich auf leitende Positionen bezogen, d.h. solche für Techniker und Ingenieure etc.40. Andere technische Angestellte41 wurden wenig nachgefragt bzw. boten in geringer Zahl ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt an. Angebot und Nachfrage für technische Angestellte insgesamt entsprachen sich in etwa, was bei dem geringen Umfang dieses Arbeitsmarktsegmentes nicht weiter verwunderlich ist. Diese Übereinstimmung galt auch für Köln. Hier traten jedoch nicht nur leitende technische Angestellte an den Arbeitsmarkt, sondern auch die Angehörigen einer ganzen Reihe weiterer technischer Berufe, wie Maschinenmeister, Geometereleve, Zeichner, Chemiker etc. Bei den Stellenangeboten wurde als häufigste Eigenschaft Berufserfahrung gefordert (35), daneben des öfteren auch Empfehlungen und Zeugnisse der vorherigen Dienstherren (16), und zwar in gleicher Weise für leitende wie auch die übrigen technischen Angestellten. Die spärlichen Angaben über die gebotenen Gehälter bewegten sich zwischen 1200 und 2000 Mark jährlich und lagen im Durchschnitt bei 1500 Mark. Die Stellengesuche von technischen Angestellten in der Kölner Region korrespondierten mit den geforderten 131

Eigenschaften. D a r i n w u r d e häufig auf v o r h a n d e n e B e r u f s e r f a h r u n g (34) u n d E m p f e h l u n g e n (18) hingewiesen. Erstaunlich bleibt, daß bei den Stellengesuchen nach leitenden Positionen häufiger der Verweis auf einen »jungen« B e w e r b e r auftauchte (5), w o b e i in zwei A n n o n c e n die Altersangabe 25 u n d 26 J a h r e g e n a n n t w u r d e . D a s weitaus g r ö ß t e S e g m e n t des Arbeitsmarktes f ü r Angestelltenberufe u m 1880 w u r d e v o n den kaufinännischen Angestelltenberufen gebildet, die in Leipzig 3 6 % u n d in K ö l n 5 6 % des Arbeitsmarktes ausmachten. Die D o m i n a n z dieser Angestelltengruppe zu diesem Z e i t p u n k t deckt sich auch m i t der B e o b a c h t u n g , daß bis weit in die industrielle E x p a n s i o n hinein die M e h r z a h l der Angestelltentätigkeiten n o c h i m traditionellen Angestelltenbereich des Handels lag 42 .

Tabelle 5: K a u f m ä n n i s c h e Angestellte 1880 Stellenangebote Köln Leipzig a) männliche (1) leitende (2) Buchhalter (3) Korrespondent (4) Handlungshilfe (5) Verkäufer (6) Reisender (7) Lehrling (8) sonstige b) weibliche (1) Verkäuferin (2) Modistin (3) sonstige insgesamt

214

357 3 18 16 43 18 135 74 50

9 7 49 10 36 96 7 18 13 4 1

172

12

193 5 4 3 550

386

30

47 18 8 4 271

581 5 31 17 85 22 243 86 92

17 9 115 19 54 123 49

21 19 7 184

insgesamt Leipzig Köln

224 2 13 1 42 4 108 12 42

8 2 66 9 18 27 42

105 58 30 232

Stellengesuche Leipzig Köln

240 126 77 37

416

821

I m Bereich der männlichen k a u f m ä n n i s c h e n Angestellten u m f a s s e n in Leipzig die Stellen f ü r qualifiziertere Tätigkeiten (Buchhalter, K o r r e s p o n dent) n u r einen geringen Teil dieses A r b e i t s m a r k t s e g m e n t e s . Hier b e w a r ben sich zumeist ältere Personen, die über B e r u f s e r f a h r u n g sowie Z e u g n i s se u n d E m p f e h l u n g e n v e r f ü g t e n , u n d f ü r ebensolche Personen w u r d e n auch entsprechende Berufspositionen angeboten. Offensichtlich w u r d e n die A u f g a b e n v o n Buchhaltern u n d K o r r e s p o n d e n t e n häufig auch g e m e i n s a m ausgeübt, d e n n bei zahlreichen A n n o n c e n f ü r Buchhalter w u r d e n zugleich auch als weitere Qualifikation Kenntnisse der K o r r e s p o n d e n z (8) u n d u m g e k e h r t bei K o r r e s p o n d e n t e n Kenntnisse der B u c h h a l t u n g (3) g e f o r d e r t u n d angeboten. D a r ü b e r hinaus w u r d e n bei 7 Stellenangeboten v o n insge132

samt 16 fur diese beiden Berufe ausdrücklich Fremdsprachenkenntnisse gefordert. Einen großen Anteil am Arbeitsmarktsegment der kaufmännischen Angestellten hatten in Leipzig jedoch die Handlungsgehilfen. Hier zeigt sich auch ein deutliches Überwiegen der Stellengesuche dieser zumeist als »jung« bezeichneten Männer (69). Es deutete sich damit schon in dieser frühen Phase der Entstehung des Arbeitsmarktes fur Angestellte für diese Berufsgruppe 43 eine Tendenz zu einem Arbeitsmarktungleichgewicht an, das im folgenden zu Unterbeschäftigung und schwierigen sozialen Problemen für diese Beschäftigungskategorie führte44. Aus den untersuchten Stellengesuchen geht hervor, daß nahezu alle Stellenbewerber eine Lehre oder Berufserfahrung oder gar beides vorweisen konnten, was darauf hinweist, daß eine Arbeitsvermittlung über Zeitung nur von den qualifizierteren Handlungsgehilfen in Anspruch genommen wurde. Für den größten Teil der Handlungsgehilfen wurde nämlich immer wieder auf die für ihren Beruf unzureichende Ausbildung hingewiesen45. Die Stellensucher in der Leipziger Zeitung hingegen hatten über die Lehre hinaus häufiger noch eine Reihe zusätzlicher Qualifikationen anzubieten, z.B. Buchführung (6), Sprachen (5) und Korrespondenz (7). Auch die Stellenangebote zeigen eine deutliche Tendenz, qualitativ besser vorgebildete Handlungsgehilfen nachzufragen46. Ähnliche Arbeitsmarktmerkmale wie für die Handlungsgehilfen lassen sich auch für die deutlich kleinere Gruppe der Verkäufer und Reisenden finden. Auch hier wird fast von allen Bewerbern auf Berufserfahrung und Lehre hingewiesen (Reisende 16, Verkäufer 6). Die größte Gruppe im Bereich der kaufmännischen Angestellten bildeten in Leipzig jedoch die der Lehrlinge. Hier überwiegen ganz deutlich die Angebote an Lehrstellen gegenüber den Lehrstellensuchern. Dieses starke Angebot an Lehrstellen deutet auf einen Mißstand hin, der von vielen Zeitgenossen scharf kritisiert wurde, die sogenannte »Lehrlingszüchterei«47. Damit war gemeint, daß häufig zu viele Lehrlinge eingestellt wurden, die dann als billige Arbeitskräfte mißbraucht werden konnten. Nach Abschluß der Lehre wurden die ehemaligen Lehrlinge dann häufig stellungslos und drückten die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt für Handlungsgehilfen. Der Angebotsüberhang für Lehrstellen und dadurch insgesamt auch der im Stellenmarkt für kaufmännische Angestellte darf also nicht ohne weiteres als Zeichen der Arbeitskräfteknappheit in diesem Arbeitsmarktsegment interpretiert werden. Bei den weiblichen kaufmännischen Angestellten dominieren ganz eindeutig die Stellenanzeigen für Verkäuferinnen. Diese Tätigkeit im Laden wurde für Frauen als noch am ehesten akzeptabel empfunden, zumal eine entsprechende Berufstätigkeit zumeist nur als Durchgangsstadium bis zur Heirat ausgeübt wurde48. Die später stark zunehmende Tätigkeit der Frauen auch in den Kontoren der Handelsgeschäfte etc.49 wurde zu dieser 133

Zeit noch als unredliche Konkurrenz gegenüber den männlichen Handlungsgehilfen als »Lohndrückerei« empfunden, wenn nicht gar Frauerarbeit als »Zeichen sozialer Krankheit« schlechthin diffamiert wurde50. Bei den Verkäuferinnen handelte es sich zumeist um sehr junge Mädchen ohne besondere berufliche Qualifikation. Häufig wurden diese auch zunächst als sogenannte »Lehrmädchen« eingestellt, was jedoch nicht bedeutete, daß diese auch eine angemessene Ausbildung erfuhren, sondern nur, daß sie gegen ein geringeres Entgeld beschäftigt werden konnten51. Auch die geringe Vorbildung der weiblichen Verkäuferinnen wurde häufig beklagt52. Entsprechend schlecht waren die Einkommens- und Lebensverhältnisse dieser Mädchen. Die vorausgehenden allgemeinen Bemerkungen über die Arbeitsmarktverhältnisse der Lehrlinge und der weiblichen kaufmännischen Angestellten gelten nicht nur fur Leipzig, sondern wahrscheinlich für alle deutschen Großstädte, so auch für Köln. Hier sind die Akzente im Arbeitsmarktsegment der kaufmännischen Angestellten um 1880 allerdings etwas anders zu setzen. Die Diskrepanz zwischen Lehrstellenbewerbern und Lehrstellenangebot war auch hier enorm, wenn auch die Anzahl der Lehrlinge insgesamt nicht so bedeutsam für das gesamte Arbeitsmarktsegment waren. Der Anteil der weiblichen kaufmännischen Angestellten, die ebenfalls wiederum vorwiegend als Verkäuferinnen oder Modistinnen53 tätig waren, war bedeutender als in Leipzig. Es überwogen dabei deutlich die Stellenangebote, so daß der Schluß erlaubt ist, daß hier offensichtlich alternative Beschäftigungsmöglichkeiten fur Frauen bestanden haben müssen. Diese boten sich wohl vorwiegend als Arbeiterinnen in der Industrie54. Im Bereich der männlichen kaufmännischen Angestellten stellten die Reisenden die weitaus größte Beschäftigungsgruppe. Offensichtlich erfolgte also der Absatz der in der Kölner Region erzeugten Ware nicht am Orte wie etwa in Leipzig, worauf dort die große Zahl der Handlungsgehilfen in diesem Arbeitsmarktsegment hinweist, sondern in einem weiten Absatzgebiet, das nur durch Reisende zu betreuen war. Der Vergleich zwischen Stellenangeboten und Stellengesuchen zeigt insgesamt einen deutlichen Überhang an Stellenangeboten, d.h. einen Nachfrageübergang am Arbeitsmarktsegment der kaufmännischen Angestellten in Köln. Diese Beobachtung gilt für alle entsprechenden Berufsgruppen gleichermaßen. Die Stellenangebote für männliche kaufmännische Angestellte bezogen sich zumeist auf jüngere Bewerber (41) und seltener auf ältere (14). Sehr häufig wurde darin auch eine gewisse Berufserfahrung oder -qualifikation gefordert (189), weniger häufig Empfehlungen (98). Angaben über das angebotene Gehalt finden sich nur sehr spärlich, sie schwanken zwischen 1000 und 2000 Mark bei einem Mittelwert von 1372 Mark (n = 7). Manchmal wurde auch eine Gewinnbeteiligung oder Provision geboten, oder, vor allem für Lehrlinge, Kost und Logis. Als 134

weibliche k a u f m ä n n i s c h e Angestellte w u r d e n v o r w i e g e n d Stellungen f u r j u n g e Verkäuferinnen oder M o d i s t i n n e n angeboten, die ebenfalls über B e r u f s e r f a h r u n g v e r f u g t e n (66), E m p f e h l u n g e n vorweisen sollten (40) u n d ζ. T . K o s t u n d Logis neben einem geringen baren Gehalt geboten b e kamen. A u f der Angebotsseite suchten v o r allem sehr j u n g e Leute eine Stellung als k a u f m ä n n i s c h e Angestellte. V o n den 224 männlichen Stellenbewerbern bezeichneten sich 90 m i t »jung« oder gaben eine Altersangabe unter 20 Jahren an, 18 w a r e n zwischen 20 u n d 30 J a h r e alt, u n d n u r 11 bezeichneten sich als »älter«. A u c h der H i n w e i s auf B e r u f s e r f a h r u n g u n d Berufsqualifikation w a r sehr häufig (183 = 82%), ebenso wie der auf E m p f e h l u n g e n oder Z e u g n i s s e (122 = 54%). A n g a b e n über das geforderte Gehalt fehlen gänzlich. Ganz ähnlich sieht es auch bei den Stellengesuchen der weiblichen k a u f m ä n n i s c h e n Angestellten aus. Hier bieten ebenfalls j u n g e M ä d c h e n , die schon ü b e r einige B e r u f s e r f a h r u n g (33) u n d ζ. T . entsprechende E m p fehlungen v e r f u g t e n (9), ihre Arbeitskraft an. Eine weitere A n g e s t e l l t e n g r u p p e auf d e m A r b e i t s m a r k t f u r Angestelltenberufe i m Jahre 1880, die in sich sehr heterogen ist u n d etwas u n g e n a u als Angestelltenberufe im Bereich persönlicher Dienstleistungen z u s a m m e n g e f a ß t w u r d e , w ä r e zu untersuchen. V o n den später noch zu untersuchenden Hausangestellten, die ebenfalls persönliche Dienstleistungen produzierten, unterschied sich diese G r u p p e v o r allem dadurch, daß ihre A r b e i t s p r o d u k t e nicht i m privaten Haushalt, sondern über einen M a r k t f ü r Dienstleistungen angeboten und nachgefragt wurden. Tabelle 6: Angestellte i m Bereich persönlicher Dienstleistungen 1880 Stellenangebote Leipzig Köln a) männliche (1) freie akademische Professionen (2) Lehrer (3) Gastronomie (4) sonstige b) weibliche (1) freie akademische Professionen (2) Lehrerin (3) Gastronomie (4) sonstige insgesamt

45

Stellengesuche Leipzig Köln 29

106

insgesamt Leipzig Köln

72

74

178

18

8

7

10

25

18

16 4 7

42 37 19

2 5 15

22 32 8

18 9 22

64 69 27

7

4 3

27

10 17 52

3

2 1 133

17

11 6 32

10

6 4 89

44

21 23 84

222 135

In diesem Arbeitsmarktsegment fällt im Vergleich zwischen Leipzig und Köln auf, daß das Segment in Köln viel stärker besetzt war. Insgesamt überwogen an beiden Orten die Stellenangebote die Stellengesuche, so daß auf eine relativ günstige Arbeitsmarktsituation der Angestellten in diesem Segment des Arbeitsmarktes geschlossen werden kann. Diese günstige Situation galt in Leipzig insbesondere für die freien akademischen Professionen [Prediger/Pfarrer (5), Arzt (5), Rechtskandidat (9), Apotheker (6)] und die Lehrberufe und spiegelte sich auch in den entsprechenden Gehaltsangeboten wider. Das in Leipzig gebotene Gehalt lag bei den freien akademischen Professionen bei durchschnittlich 2412 Mark jährlich (n = 6) und für Lehrer an Schulen zwischen 1500 Mark und 2400 Mark sowie für Lehrerinnen bei über 1000 Mark jährlich. Für die Hauslehrer (6) und Hauslehrerinnen (5) fehlen Angaben über das Einkommen. Man darf vermuten, daß sie den qualifizierten Hausangestellten ähnlich gestellt waren. Die Qualifikationsanforderungen an diese Beschäftigtengruppe waren durch Berufsbezeichnungen und entsprechenden formalisierten Ausbildungsgänge häufig eindeutig bestimmt. Manchmal galt als Eingangsvoraussetzung ein Hochschulstudium oder eine entsprechende Ausbildung 55 . Ganz anders waren die Qualifikationsanforderungen an die Angestellten im Bereich der Gastronomie. Hier handelte es sich bei den Stellenanzeigen der Leipziger Zeitung u m traditionelle Handwerkertätigkeiten (Koch, Kellner, Konditor), so daß diese Gruppen eher mit den Hausangestellten vergleichbar wären. Die »Sonstigen« umfassen eine sehr uneinheitliche Gruppe verschiedener Dienstleistungstätigkeiten [Schreiber (5), Kopist (3), Zeitungsangestellter (2), Postillon/Schutzmann (4) u. ä.], über teeren Q u a lifikations- und Einkommensverhältnisse keine genauen Informationen zu mobilisieren waren. In Köln wurden Tätigkeiten im Bereich der persönlichen Dienstleistungen häufiger als in Leipzig angeboten und noch häufiger gesucht. Die Stellenangebote überwogen auch hier die Stellengesuche. Insbesondere von Lehrern, die eine neue Stelle suchten, wurden häufig detaillierte Berufsqualifikationen (16 von 22) und Empfehlungen (14 von 22) gefordert. Diese wurden auf der Angebotsseite selten definitiv erwähnt (Qualifikationen 8 und Empfehlungen 2mal). Als Gehalt wurde den Lehrern 1857 Mark im Durchschnitt geboten (n = 25), während die Lehrerinnen im Durchschnitt nur 1142 Mark angeboten bekamen (n = 7). Diese Gehaltsangaben entsprechen denen in Leipzig, so daß insgesamt zwischen diesen beiden Regionen keine gravierenden Unterschiede im Arbeitsmarktsegment für die Angestelltenberufe des persönlichen Dienstleistungsbereichs festzustellen sind. Die letzte zu untersuchende Beschäftigungskategorie, die Hausangestellten, sind in ihrem Beschäftigungsbereich häufig mit Tätigkeiten k o n f r o n tiert, die den häuslichen Dienstboten sehr nahe liegen. Tatsächlich entspringen eine Reihe von Tätigkeiten, die wir heute zu den Angestelltenbe136

rufen rechnen, Funktionen des häuslichen Gesindes. Wie schon anfänglich dargelegt wurde, befand sich der Arbeitsmarkt für Angestellte um 1880 erst in der Entstehung begriffen, so daß eine Einordnung von »Hausangestellten« im Hinblick auf deren enge Verbundenheit mit Dienstboten in den Arbeitsmarkt für Angestellte durchaus kritisch gesehen werden kann56. Hier soll dieses Arbeitsmarktsegment jedoch aus zwei Gründen dem Angestelltenarbeitsmarkt zugehörig betrachtet werden. Einmal, weil eine Hinwendung zu Stellenanzeigen in Tageszeitungen auch für diesen Arbeitskräftebereich eine qualitative Entwicklung weg vom traditionellen Dienstbotenverhältnis hin zu anonymen Marktdienstleistungen reflektiert. Z u m anderen gilt auch für den Bereich der Hausangestellten, wie schon mehrfach für andere Segmente des Arbeitsmarktes für Angestellte gesehen, daß gerade auf dem Annoncenmarkt Stellen oberhalb der üblichen Qualitätsstufe in den jeweiligen Arbeitsmarktsegmenten vermittelt wurden, so daß auch für Dienstbotenberufe dabei die Tendenz zu Angestelltenberufen deutlich wird 57 Tabelle 7: Hausangestellte 1880 Stellenangebote Leipzig Köln a) männliche a) weiblich (1) Haushälterin/ Hausgehilfin 26 (2) Kindermädchen 11 (3) Stubenmädchen 3 (4) Köchin 5 (5) Gesellschafterin (6) sonstige

14 45

insgesamt

59

Stellengesuche Leipzig Köln

16 103 43 36 2 19 2 1

28 127 82 15 7 2 13 8

119

42 172

17 133 81 16 2 6 24 4

155

insgesamt Leipzig Köln

108 26 10 7 13 8 150

33 236 124 52 4 25 26 5

214

269

Aus der Tabelle geht hervor, daß dieser Teil des Arbeitsmarktes weitgehend den weiblichen Arbeitskräften vorbehalten war58. In Leipzig waren die männlichen Hausangestellten vorwiegend mit einfachen Tätigkeiten betraut, als Gärtner (25), Diener (9) und Kutscher (8). Die weiblichen Hausangestellten müssen demgegenüber in die Gruppe des unqualifizierten Personals (Hausagehilfin, Kinder- und Stubenmädchen) und in eine andere Gruppe des qualifizierten Hauspersonals (Köchin, Gesellschafterin) unterschieden werden 59 . Die Qualifikationsanforderungen an die männlichen Hausangestellten waren entsprechend den einfachen Arbeitsverrichtungen nur gering. Zumeist waren nur die Fähigkeit des Lesens und Schreibens vorausgesetzt, obwohl ζ. T. auch ehemalige Schneider, Schreiber, Offiziersburschen etc. 137

hier Beschäftigung 60 , manchmal sogar Aufstiegsmöglichkeiten fanden61. Sowohl das Angebot an als auch die Nachfrage nach Positionen fur männliche Hausangestellte nannte in Leipzig allenfalls die Berufserfahrung als Qualifikationsmerkmal. Dies galt analog auch fur den Kölner Raum. Hier wurden allerdings neben Qualifikationen (17) häufiger auch noch Empfehlungen oder Zeugnisse (21) gefordert und geboten. Eine eindeutige altersmäßige Charakterisierung der stellensuchenden männlichen Hausangestellten ist nicht möglich. Die Angaben streuen sehr breit von unter 20 bis über 40 Jahre. Die Gruppe der weiblichen Hausangestellten für einfache Tätigkeiten unterscheidet sich bezüglich der Qualifikation an beiden Orten kaum von den männlichen Hausangestellten. In den Stellenanzeigen der Leipziger Zeitung werden im wesentlichen nur Berufserfahrung sowie gute Zeugnisse und Empfehlungen gefordert und offeriert. Gleiches gilt für die Annoncen der Kölnischen Zeitung. Eine förmliche und geregelte Ausbildung für diese Tätigkeiten gab es nicht, vielmehr diente die Beschäftigung im privaten Haushalt häufig als Ersatz für eine Ausbildung und als Vorbereitung für die späteren Aufgaben im eigenen Haushalt nach Eingehen einer Ehe62. Diese Ersatz- und Vorbereitungsfunktion der Beschäftigung als Hausangestellte wird noch dadurch unterstrichen, daß eine entsprechende Tätigkeit zumeist von sehr jungen Mädchen und auch nur vorübergehend ausgeübt wurde63. Diese Mädchen entstammten meist den unteren Schichten64, zogen vom Lande in die Stadt65 und fristeten dort ein bemitleidenswertes Dasein, geprägt durch überlange Arbeitszeiten, schlechte Wohnverhältnisse und Ernährung und geringen Lohn66. Diese allgemeinen Erkenntnisse über die Arbeitsmarktsituation der unqualifizierten weiblichen Hausangestellten werden durch die Angaben in den Stellenangeboten für die entsprechenden Berufspositionen gestützt. Die Nachfrage nach unqualifizierten Hausangestellten bezog sich zumeist auf junge Mädchen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, ebenso wie auch die Stellengesuche selbst auf das geringe Alter der Bewerberinnen hinweisen. Außer bei den Kindermädchen, bei denen in Leipzig fünf eine Fachschule besucht hatten, wurden keine besonderen Qualifikationen angeboten oder nachgefragt. Auf eine Lohnzahlung wurde häufig ausdrücklich verzichtet, ζ. B. bei 13 Stellengesuchen von Hausgehilfinnen in Leipzig und 8 Stellengesuchen in Köln, statt dessen jedoch Familienanschluß gewünscht. Qualifizierte Beschäftigung für weibliche Hausangestellte wurden nur in geringem Maße angeboten und nachgefragt, nämlich 15 von 127 Stellenanzeigen in Leipzig und 30 von 133 in Köln. Hier wurden eher ältere Personen gewünscht, die zusätzlich zum Familienanschluß ein Gehalt erhielten (180 Mark) und von denen z.T. sogar Fremdsprachenkenntnisse für eine Tätigkeit als Gesellschafterin (3) gefordert wurden. Insgesamt zeichnete sich also der Arbeitsmarkt für Hausangestellte 138

sowohl bei den männlichen als auch bei den weiblichen Arbeitskräften in beiden untersuchten Städten durch ein deutliches Überwiegen der Nachfrage nach Stellen über die Stellenangebote aus. Dies gilt auch fur die meisten Untergruppen bis auf die Köchinnen und die Kindermädchen in Köln. Es zeigt sich daran, daß dieses Arbeitsmarktsegment von einem deutlichen Überschuß an Arbeitskräften geprägt war, was sich in entsprechend schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen niederschlug. IV Die Ergebnisse der Strukturuntersuchung zweier ausgewählter regionaler Arbeitsmärkte für Angestelltenberufe um 1880, verbunden mit einigen Informationen über die Bestimmungsgründe der wirtschaftlichen Entwicklung in den Regionen zu dieser Zeit, lassen einige vorläufige Schlußfolgerungen über den Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe zu. Die Bestimmung dessen, was dabei unter einem »Angestellten« zu verstehen ist, erscheint als ein ausgesprochen kontroverses sozialwissenschaftliches Problem, das so alt ist wie die Angestelltenschaft selbst67. Eine pragmatische Definition, die auch an frühe Überlegungen anknüpft68, kann sich neben einer Reihe arbeitsrechtlicher Merkmale69 darauf beziehen, daß Angestellte gewöhnlich nicht unmittelbar in der materiellen Produktion beschäftigt sind, sondern nur mittelbar durch die Bereitstellung von Dienstleistungen. Wenn also Angestelltentätigkeiten so eng mit Dienstleistungen verbunden sind, dann muß die Expansion und interne Differenzierung der Angestelltenschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in engem Zusammenhang mit der gleichzeitig stattfindenden »Dienstleistungsrevolution« zu interpretieren sein70. Daß es sich bei der Expansion der Angestelltenschaft um eine säkulare Erscheinung handelte, ist durch verschiedene Studien hinreichend belegt71. Die Eigenarten und Entwicklungen des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe müssen deshalb im Zusammenhang mit den Ursachen der Dienstleistungsrevolution gesehen werden. Darunter wird verstanden, daß die Industrialisierung niemals in dem stattgefundenen Umfang möglich gewesen wäre, wenn nicht zugleich das Angebot an Infrastrukturdiensten, wie Verkehr und Erziehung, und an vermittelnden Dienstleistungen, wie Groß- und Einzelhandel, gestiegen wäre72. Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang deshalb neben der »Industriellen Revolution« auch von der »Transportrevolution« und der »kommerziellen Revolution« 73 . Mit der Ausweitung des Produktionsapparates, der Anwendung neuer Technologien und wachsendem Wohlstand wuchs zugleich die Nachfrage nach einer Reihe neuartiger Dienstleistungen, die auf der Angebotsseite zu einer wachsenden Arbeitsteilung und Spezialisierung führte. Diese Ausweitung nicht manueller Tätigkeiten blieb jedoch nicht ausschließlich auf den Dienstleistungssektor beschränkt, sondern 139

griff später auch auf den gewerblichen Sektor über, mit einem entsprechenden Wachstum des Büro- und technischen Personals. Der Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe um 1880 läßt sich genau durch diese kurz umrissenen These interpretieren. Er befand sich 1880 gerade im Umbruch, indem (1) die vorindustriellen Dienstleistungsformen, vor allem landwirtschaftliche Angestellte und häusliche Dienste oder auch akademische Professionen, noch ein beachtliches Segment des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe behaupten; (2) die Folgen der »Dienstleistungsrevolution« jedoch schon voll auf den Arbeitsmarkt durchschlagen, was sich in einem entsprechenden Wachstum der kaufmännischen Angestellten niederschlägt; (3) die Ausweitung nicht-manueller Arbeit im gewerblichen Sektor erst in den Anfängen steht, was deutlich am geringen Anteil der technischen Angestellten am Arbeitsmarkt abzulesen ist. Wesentliches Merkmal für alle Bereiche des Arbeitsmarktes für Angestelltenberufe um 1880 bleibt jedoch, daß sich in allen seinen Segmenten Marktbeziehungen gegenüber traditionellen Formen der Organisation gesellschaftlicher Arbeit zunehmend durchsetzten.

Anmerkungen 1 Vgl. J. Kocka, Art. Angestellter, in: O . Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 110-128, insbes. S. 121. 2 Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 59, Heft 5-8, 1883. 3 Zitiert nach R. M. Hartwell, Die Dienstleistungsrevolution: Die Expansion des Dienstleistungssektors in der modernen Volkswirtschaft, in: C. M. Cipolla u. K. Borchardt, Die industrielle Revolution, Stuttgart 1976, S. 233. 4 Diese Theorie wurde formuliert bei C. Clark, The Conditions of Economic Progress, London 1940, sowie von J. Fourastie, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1969. 5 Auf die Probleme der Abgrenzung zwischen den verschiedenen Sektoren weist hin: H.-J. Pohl, Kritik der Drei-Sektoren-Theorie, in: MittAB, 4/1970, S. 313-325, insbes. S. 314f. 6 Vgl. J. Fourastie, S. 75. 7 J. Kocka, Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie, Göttingen 1977, S. 40, Tab. 1-1, zeigt für die USA seit 1850 einen deutlich sinkenden Trend für diese Beschäftigungsgruppe. In Preußen umfaßten die Dienstboten 1855 immerhin 1,2% der Bevölkerung und damit bei einer Erwerbsquote von ca. 50% knapp 2,5% aller Beschäftigten. Vgl. W. Kahler, Gesindewesen und Gesinderecht in Deutschland, Jena 1896, S. 10, und in anderen deutschen Staaten noch weitaus mehr; vgl. dazu: P. Kollmann, Geschichte und Statistik des Gesindewesens in Deutschland, in: JNS, Bd. 10, Jena 1868, S. 237-301, insbes. S. 264ff. 8 E. Lederer, Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung, Tübingen 1912, S. 32; M. Dittrich, Die Entstehung der Angestelltenschaft in Deutschland, Stuttgart 1939, S. 57. 9 E. Lederer, Die Privatangestellten, a.a.O., S. 32 u. M. Dittrich, Die Entstehung der Angestelltenschaft, S. 57. Vgl. daran anknüpfend: H. Steiner, Soziale Strukturveränderungen

140

im Kapitalismus, Berlin (Ost) 1967, S. 31 u. G. Hartfiel, Angestellte und Angestelltengewerkschaften in Deutschland, Berlin 1961, S. 29. Als Beispiel dafür: J. Kocka, Industrielle Angestelltenschaft in frühindustrieller Zeit - Status, Funktion, B e g r i f f - , in: O . Büsch, (Hg.), Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, Berlin 1971, S. 315-367. Vgl. dazu auch: T. Pierenkemper, Interne Arbeitsmärkte in frühen Industrieunternehmen, ins: SW 1981/1 S. 1-18. 10 1882 befinden sich lt. Berufszählung etwa 100000 Angestellte im gewerblichen Sektor. Vgl. E. Lederer, S. 28. 11 Wenn auch Fourastie ursprünglich den Versuch unternimmt, primäre, sekundäre und tertiäre Berufe zu analysieren, wird er durch die vorhandenen Statistiken gezwungen, sich auf eine nach Wirtschaftssektoren gegliederte Untersuchung der Beschäftigtenstruktur zu beschränken. Vgl. dazu auch R. Hagele, Wandlungen der industriellen Beschäftigten- und Berufsstruktur im wirtschaftlichen Wachstum, Bad Honnef 1978, S. 3ff. u. H.-J. Pohl, S. 315. 12 Dies gilt zumindest für C. Clark, aber auch für A. G. B. Fisher, Production, Primary, Secondary, Tertiary, in: ER, 1939. 13 Ein klassischer Vorläufer der Konzeption der »non competing groups« ist J. Ε. Caimess, Some Principles of Political Economy Newly Expounded, London 1874. Umfassend zur sog. »Theorie der Nichtwettbewerbsgruppen« vgl. D. Ahner, Arbeitsmarkt und Lohnstruktur, Tübingen 1978, S. 51 ff. 14 Z u r »Segmentierung« von Arbeitsmärkten vgl. W. Sengenberger, Arbeitsmarktstruktur, Frankfurt/M. 1978, insbes. S. 22 ff. 15 Vgl. dazu: E. Fehrmann u. U . Metzner, Angestellte in der sozialwissenschaftlichen Diskussion, Ein Literaturbericht, Köln 1977. 16 Daß Berufe jedoch nicht ein für allemal fixiert sind, daß sie einem Wandel unterliegen, der nicht nur von technischen und ökonomischen Entwicklungen bestimmt ist, sondern wesentlich durch die Interessen von Unternehmern, Beschäftigten und Staat gestaltet wird, ist inzwischen hinlänglich belegt. Vgl. Η. A. Hesse, Berufe im Wandel, Stuttgart 1968 u. U . Beck u. M. Brater, Berufliche Arbeitsteilung und soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1978. 17 G. Baum, Das Recht der Angestellten, Berlin 1927, S. 9ff. 18 C. Offe u. a., Opfer des Arbeitsmarktes, Neuwied 1967, insbes. S. 15ff. 19 E. Lederer u. J. Marschak, Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen, in: Grundriß der Sozialökonomie IX Abt., II. Teil, S. 106-258, Tübingen 1926. 20 Vgl. ζ. Β. K. Oldenburg, Die heutige Lage der Commis nach neuerer Literatur, in: Schmollers Jahrbuch, N . F. Leipzig 1892 mit einer kommentierten Übersicht über die zeitgenössische Literatur. 21 Etwa 30% aller 1908 in Beschäftigung befindlichen Handlungsgehilfen hatte die Stellung durch ein Zeitungsinserat gefunden. Vgl. die wirtschaftliche und soziale Lage der deutschen Handlungsgehilfen im Jahre 1908, Hamburg 1910, S. 105. Bei den Technikern in Berlin betrug dieser Anteil etwa 20%. Vgl. R.Jaeckel, Die Lage der technischen Privatbeamten in Groß-Berlin, Jena 1908, S. 46. 22 Der Wirtschaftsraum Köln wurde ebenso wie Leipzig durch eine lange Handelstradition geprägt. Hinzu kam jedoch seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine enge Verflechtung mit den aufstrebenden schwerindustriellen Zentren an Rhein und Ruhr. Leipzig hatte neben der Bedeutung als Messeplatz vor allem auch zentralörtliche Funktionen für die ostelbischen Agrargebiete. Die Kölnische Zeitung besaß eine lange Tradition und verschaffte sich nach wechselvollem Schicksal um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Norddeutschland eine große Resonanz, die dort von keiner anderen Zeitung erreicht wurde. Die Leipziger Zeitung hatte es weitaus schwerer, sich gegen die örtliche Konkurrenz und Zenzur zu behaupten, expandierte aber, nachdem sie 1831 in fiskalische Verwaltung übernommen worden war, ebenfalls zu dem bedeutendsten Blatt der Region. Vgl. K. Kosyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, Teil II, Berlin 1966, S. 17f. 23 Z u den Unzulänglichkeiten vgl. U . Engelen-Kefer, Beschäftigungspolitik. Eine problemorientierte Einführung, Köln 1976, S. 71 ff.

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24 Z . B . R. Engelsing, D e r A r b e i t s m a r k t der Dienstboten i m 17./18. J a h r h u n d e r t , in: H . Kellenbenz (Hg.), Wirtschaftspolitik u n d A r b e i t s m a r k t , M ü n c h e n 1974, S. 159-237, insbes. S. 166f. u. S. 174; I. Kisker, D i e Frauenarbeit in den K o n t o r e n einer Großstadt, T ü b i n g e n 1911, S. 47. 25 G. Schulz, Die Arbeiter u n d Angestellten bei Feiten & Guilleaume, Wiesbaden 1979, S. 133. 26 R. Werle, A r b e i t s m a r k t e n t w i c k l u n g , Personalbedarf u n d Betrieblicher Einsatz neuer Techniken, in: SW 1979/4, S. 469-487. 27 Vgl. etwa die Ergebnisse der Berufszählung v o n 1882, dargestellt bei G. Hohorst u . a . , Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870-1914, M ü n c h e n 1978, S. 66/67. 28 Vgl. R. Engelsing, S. 166/167. O . Stillich, Die Lage der weiblichen D i e n s t b o t e n in Berlin, Berlin 1902, S. 295 zeigt, daß n u r 2 % aller v o n i h m befragten D i e n s t m ä d c h e n ihre Stellung d u r c h eine Z e i t u n g s a n n o n c e g e f u n d e n hatten. 29 W . Kahler, S. 1. 30 E p o c h e n der Angestelltenbewegung 1774-1930, hg. v o m G e w e r k s c h a f t s b u n d der Angestellten, Berlin 1930, insbes. S. 57ff. 31 Vgl. A r t . »Arbeitsmarkt« in: H D S W , Bd. 1, Stuttgart 1956, S. 321-332. 32 So m u ß auch bedacht w e r d e n , daß sich in Sachsen schon u m 1870 eine Reihe h o c h e n t wickelter kapitalistischer Betriebe in der Landwirtschaft finden lassen, v o r allem im Bereich des Z u c k e r r ü b e n a n b a u s u m M e r s e b u r g . 33 Vgl. dazu die Trendaussagen bei J. Handl u. a., Prozesse sozialstrukturellen Wandels a m Beispiel der E n t w i c k l u n g v o n Qualifikations- u n d E r w e r b s s t r u k t u r der Frauen im Deutschen Reich u n d der Bundesrepublik Deutschland. Arbeitspapier N r . 6, Universität M a n n h e i m , Projekt: Vergleichende Analyse der Sozialstruktur m i t Massendaten (VASMA), 1979, S. 27ff. 34 Diesen Schluß lassen auch die H i n w e i s e auf die I n a n s p r u c h n a h m e der Z e i t u n g s a n n o n c e n d u r c h die Angestellten zu. Vgl. die in F u ß n o t e 21 zitierte Literatur. 35 1880/1882 in Preußen i m m e r h i n über 3 % der Bevölkerung. Vgl. W. Kahler, S. 34/35. 36 Es m u ß b e m e r k t w e r d e n , daß die Kategorie »landwirtschaftliche Angestellte« m ö g l i cherweise die Systematik der hier unterschiedenen Teilarbeitsmärkte in Frage stellt, da gerade die männlichen qualifizierten Angestellten dieses Wirtschaftszweiges z . T . den technischen b z w . den leitenden Angestellten zugerechnet w e r d e n k ö n n e n . 37 Die in K l a m m e r n gesetzten Zahlen geben die Häufigkeiten an, mit denen die angezeigten M e r k m a l e genannt w u r d e n . 38 D a z u zählen 31 Volontäre, 32 Scholare u n d 17 Lehrlinge. 39 Dabei handelt es ich u m Schweizer (12), V ö g t e (4), H o f m e i s t e r (7) etc. 40 Tatsächlich w a r der Anteil der leitenden technischen Angestellten sicherlich geringer, w e n n auch schon in f r ü h e r Zeit eine genaue B e s t i m m u n g dieser Berufskategorie schwierig w a r . Vgl. J. Kocka, Industrielle Angestelltenschaft, S. 334ff. Genauere A n g a b e n lassen sich erst f ü r spätere Z e i t p u n k t e u n d einzelne Branchen finden, ζ. B.: Die Technischen Angestellten im deutschen B e r g - u n d H ü t t e n w e s e n , unter Berücksichtigung der E r h e b u n g im Deutschen Werkmeister V e r b a n d v o m J a h r e 1913, H e f t 13 der Schriften des Deutschen Werkmeister Verbandes. 41 D r u c k e r , Maschinenzeichner, Geometergehilfe etc. 42 E p o c h e n der A n g e s t e l l t e n - B e w e g u n g 1774-1930, hg. v o m G e w e r k s c h a f t s b u n d der Angestellten, Berlin 1930, S. 57fT. 43 Z u r E n t w i c k l u n g der entsprechenden B e r u f s g r u p p e vgl. W . Stiller, D e r Verein der H a n d l u n g s - C o m m i s v o n 1858, Jena 1910 u n d H . Schuon, D e r Deutschnationale H a n d l u n g s gehilfenverband zu H a m b u r g , Jena 1914. Λ 44 Vgl. G. Hiller, Die Lage der Handlungsgehilfen, Leipzig 1890, S. 64ff. u. F. Goldschmidt, Die soziale Lage u n d Bildung der Handlungsgehilfen, Berlin 1914, S. 8ff. 45 F. Goldschmidt, S. 22, weist ζ. B. darauf hin, daß die meisten Handlungsgehilfen nicht ü b e r eine abgeschlossene Lehre verfugten. Vgl. auch H . Schuon, S. 38 ff.

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46 Das jährliche Gehalt betrug für einen neu vermittelten Handlungsgehilfen 1880 ca. 1150 Mark. Vgl. W. Stiller, S. 56. 47 F. Goldschmidt, S. 22, G. Hitler, S. 11, W. Si/Her, S. 142 u. H. Schuon, S. 40. 48 M . Baum, Drei Klassen von Lohnarbeiterinnen in Industrie und Handel der Stadt Karlsruhe, Karlsruhe 1906, S. 135. 49 1907 stellten Kontoristinnen in Leipzig 7/8 aller in der Reichsstatistik erfaßten weiblichen Angestellten. Vgl. I. Kisker, Die Frauenarbeit in den Kontoren einer Großstadt, Tübingen 1911, S. 4ff. 50 H. Schuon, S. 71 ff.; W. Stiller, S. 175iT. 51 Μ. Baum, S. 141 ff. 52 K. Mende, Münchener jugendliche Ladnerinnen zu Hause und im Beruf, Stuttgart 1912, S. X C I V f f . 53 Was wohl nichts anderes als Verkäuferin in einem Modegeschäft bedeutete. 54 Vgl. M. Baum. 55 Die hier angesprochenen gehobenen Berufsgruppen werden in einer umfangreichen Literatur zumeist unter dem Stichwort »Professionen« behandelt. Vgl. ζ. B. fur England A. M. Carr-Saunders und P. A. Wilson, The Professions, Oxford 1933 u. W. J . Reader, Professional Men. T h e Rise o f the Professional Classes in Nineteenth-Century England, London 1966 u. auch R. M. Hartwell, S. 250 ff. Zur Anwendung des Professions-Modells auf die deutschen Verhältnisse vgl. Η. A. Hesse. 56 Obwohl auch in anderen Untersuchungen die häuslichen Dienstleistungen nicht den familiären Bereich des Arbeitsmarktes - wie ζ. B. die mithelfenden Familienangehörigen zugerechnet werden, sondern als marktvermittelte Arbeitsform behandelt werden. Vgl. J . Handl u. a. S. 12. 57 Diese Beobachtung gilt insbesondere fur Dienstboten in größeren Städten. Vgl. J . J . Hecht, The Domestic Servants Class in Eighteenth-Century England, London 1956, S. 12. 58 Dies stimmt auch mit den amtlichen Daten überein. Vgl. W. Kahler, S. 39. 59 Zu der Differenzierung innerhalb der Gruppe der Hausangestellten. Vgl. R. Engelsing, S. 159-237. 60 R. Engelsing, S. 184, 187. 61 Dieser Aufstiegskanal existierte zumindest vor der Industrialisierung. Vgl. dazu E. Consentius, Die Dienstbotenfrage im alten Berlin, in: PJ 1906, Bd. 126, S. 111-127, insbes. S. 123ff. Vgl. a u c h j . J . Hecht, S. 23. 62 R. Engelsing, S. 183 u. 230. 63 O . Stillich, Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin, Berlin 1902, S. 101 u. R. Engelsing, S. 210ff. Die Altersangabe bei den 53 Stellengesuchen der Kölnischen Zeitung fur Hausgehilfinnen lautete 20mal »jung« und die 9 genaueren Altersangaben lagen bis auf eine alle unter 20 Jahren. Die Haushälterinnen hingegen bezeichneten sich l l m a l als »älter« bzw. die 6 Altersangaben lagen bis auf eine alle über 30 Jahre. 64 Kahler, S. 41 ff. 65 R. Kuczynski, Der Zug nach der Stadt. Statistische Studie über Vorgänge der Bevölkerungsbewegung im Deutschen Reich, Stuttgart 1897, S. 36ff. O. Stillich, S. 98ff. u. R. Engelsing, S. 205 ff. 66 Dazu die umfangreiche zeitgenössische Erhebung von O. Stillich. 67 F. Croner, Soziologie der Angestellten, Köln 1962, S. 78. Eine Diskussion der verschiedenen Definitionsansätze der Literatur bei G. Hartfiel, S. 52-82. 68 Z . B . bei E. Lederer, S. 23ff. 69 Vgl. dazu: G. Braun, Das Recht der Angestellten, Berlin 1927, S. 9ff. 70 R. M. Hartwell, S. 233-260. 71 Vgl. z . B . J . Kocka, Angestellte. H. Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus, Göttingen 1977 und G. Hartfiel. 72 R. M . Hartwell, S. 239. 73 Ph. Deane, The First Industrial Revolution, Cambridge 1965, S. 51 ff.

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ROBERT Α . DICKLER

Kommentar zu Toni Pierenkemper: Der Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe im Jahre 1880 Pierenkempers Beitrag zur historischen Arbeitsmarktforschung ist auf drei Ebenen zu beurteilen. Erstens ist er ein lehrreicher Versuch, die Brauchbarkeit der neueren wirtschaftssoziologischen Arbeitsmarkttheorie für wirtschaftshistorische Untersuchungen exemplarisch darzustellen. Zweitens ist die Arbeit eine wertvolle Mitteilung über die erste Erfahrung mit der Erschließung neuer Quellen, nämlich der Stellenanzeigen der regionalen Presse. Drittens sind die Ausführungen gut geeignet, wichtige Anhaltspunkte aufzuzeigen, die für eine Kritik an herrschenden Mustern zur Interpretation der historischen Strukturwandlungen der Wirtschaft Deutschlands unbedingt zu beachten sind. Trotz des vorwiegend methodologischen Charakters des Beitrags - er ist eine Art Pilot-Studie - liegen empirische Ergebnisse vor, die wichtige Themenbereiche tangieren wie: das Verhältnis zwischen Bildungssystem und Beschäftigungssystem während der Industrialisierung Deutschlands und das Verhältnis zwischen Wirtschaftswachstum und Berufsstruktur im Kaiserreich. Die Daten für 1880 deuten daraufhin, daß die Beschäftigungsstruktur im Angestelltenbereich durch vorindustrielle Berufe stark geprägt war, sowohl im Ruhrgebiet als auch in Mitteldeutschland, wo die moderne Landwirtschaft vorherrschte. Ferner war zu diesem Zeitpunkt das Gewicht der kaufmännischen Angestellten quantitativ betrachtet viel stärker als das der technischen. Solche illustrativen Resultate verdeutlichen, daß Stellenanzeigen trotz einer Vielfalt von Detailproblemen unsere Erkenntnis über den Stand und die Entwicklung der Beschäftigungsstruktur erheblich erweitern können. Von der quantitativen Erforschung des Wandels der Beschäftigungsstruktur zur Untersuchung des Umfangs von Arbeitsmarktsegmenten ist es ein großer Schritt, der mit Hilfe der wirtschaftssoziologischen Arbeitsmarkttheorie geleistet werden soll. Wer die große Transformation 1 des menschlichen produktiven Vermögens in die eigentümliche Ware Arbeitskraft, den langwierigen, immer noch anhaltenden Prozeß der Konstitution des Arbeitsmarktes als Warenmarkt für die wesentliche Frage der historischen Arbeitsmarktforschung hält, der muß jedoch davor warnen, Theorien anzuwenden, die implizit oder explizit von der Historizität von Marktgesetzmäßigkeiten abstrahieren. In der vorliegenden Studie werden aus pragmatischen Gründen die Kategorien der Berufsstatistik als Segmente eines real existierenden Arbeitsmarktes interpretiert. Es ist jedoch keineswegs selbstverständlich, daß im Jahre 1880 für viele der genannten Berufe wirklich Teilarbeitsmärkte existierten. Die Segmente werden als 144

»Non-Competing-Groups« verstanden: Nicht alle Berufe stehen allen Erwerbstätigen offen, da es Barrieren zur Ausübung bestimmter Berufe gibt, die in der Regel nur von Personen bestimmter sozialer Herkunft oder Geschlecht überwunden werden können 2 . Zweifellos wäre es ein großes Verdienst von Herrn Pierenkemper, wenn er mit der Hinwendung zu dieser Theorie die Grundgedanken von Mill und Cairnes aufgreifen könnte und die Entwicklungstendenzen der »Monopolisierungsgrade« der Nachkommen bestimmter Klassen (ζ. B. Grundeigentümersöhne fur Militärberufe u. ä.) und Schichten für bestimmte Berufe untersuchen würde. Wo Stellenangebote »Empfehlungen« anfordern, spielen persönliche Beziehungen indirekt eine große Rolle. Solche Beziehungen sind nicht bloß zu erwerben, sondern sie werden zum Teil mit der Geburt in eine bestimmte Familie vorprogrammiert. Es dürfte klar sein, daß selbst innerhalb eines »Berufs« im statistischen Sinne mehrere »Non-Competing-Groups« existieren können. Weniger klar, aber m. E. viel bedeutender ist die Überlegung, daß innerhalb einer solchen Berufskategorie vor-, früh- und entfaltete kapitalistische Arbeitsverhältnisse gleichzeitig herrschen können, sogar heute, ζ. B. Schwester oder Krankenschwester im Gesundheitswesen. Der historische Gehalt von Begriffen wie »Arbeit«, »Beruf«, »Markt» und »Verwaltung«, wo die Angestellten ihre »Stellen« - nicht »Arbeitsplätze« hatten, darf nicht durch eine allgemein abstrakte Gleichsetzung von Beruf und Funktion verlorengehen 3 . Sonst sind Unterschiede im Besitzstand innerhalb eines Berufs, ζ. B. Beschäftigungssicherheit, Risiko der Unversorgtheit, nicht feststellbar und Entwicklungstendenzen zur Nivellierung oder Polarisierung bzw. zur Deklassierung innerhalb eines Berufsstandes gar nicht zu ermitteln 4 . Dieser Einwand richtet sich nicht gegen Herrn Pierenkemper, sondern gegen Segmentierungstheorien im allgemeinen. Die Entfaltung des Arbeitsmarktes ist ein zentraler Aspekt der Entwicklung des modernen Kapitalismus 5 . Welche produktiven Tätigkeiten werden als Lohnarbeit organisiert, und in welchem Zeitraum ist der Übergang von vor- und frühkapitalistischer standesgemäßer Ausübung von Berufen zur kapitalistisch fremdbestimmter Verrichtung von Lohnarbeit innerhalb einer bestimmten Beschäftigungsart erfolgt? Ist eine »berufsspezifische« Reservearmee (Mombert nannte es »Berufsüberfullung«) eine Voraussetzung für den Übergang zur modernen Zirkulation von qualifizierten Arbeitskräften, d. h. für die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses als herrschende Form der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit? Diese Probleme sind in dem Titel von Herrn Pierenkempers Referat indirekt angesprochen worden. Abstrahiert er von diesen historischen Problemen, indem er von einem »Arbeitsmarkt für Angestelltenberufe« spricht oder impliziert dieser Titel eine These über die zunehmende Marktabhängigkeit der Distribution von Personal im Dienstleistungsbereich? Gilt eine solche Hypothese innerhalb jeder statistischen Berufskategorie wie leitender technischer oder kaufmännischer Angestellter oder ist hauptsächlich der Wandel der statistischen 145

Berufsstruktur, ζ. Β. der relative Rückgang von häuslichen Dienstleistungen, gemeint? Der Eindruck von begrifflicher Unklarheit in dem Titel wird im ersten Satz durch die differenzierte Betrachtung von »Angestellten« und »Angestelltenberufen« sogar verstärkt. Er wird nicht beseitigt in der Darstellung des Hauptanliegens des Referats. Ein Hauptziel ζ. B. ist die Ermittlung von Strukturverschiebungen innerhalb der »Angestelltensc/ια/ί«, wobei »der Rückgang der häuslichen Dienstleistungen und das Aufkommen der Industrieangestelltenschaft« im Vordergrund stehen (S. 124). Kurz vor der Erläuterung der Tabellen wird Bezug auf neuere Arbeitsmarktforschung genommen, wo allerdings nur von »Angestelltengruppen« die Rede ist, die aber für die vorliegende Untersuchung von »Angestelltenberufen« als Maßstab gelten sollen. Bei Erläuterung der Tabelle 2 wird in dem Text auf die Stellenanzeigen fur »Angestelltenberufe« hingewiesen, aber in dem Tabellenkopf steht »Arbeitsmarkt für Angestellte«. Bei Tabelle 3 handelt es sich weder im Text noch im Tabellenkopf um Angestelltenberufe, sondern um »landwirtschaftliche Angestellte«. Dieses Verfahren ist konsequent, da es sich in der Mehrzahl der Fälle wirklich nicht um Berufe im historisch gehaltvollen Sinne des Wortes handelt. Für die Tabelle 4 gilt wiederum, daß im Text die »technischen Angestelltenberufe« in Frage kommen, der Leser aber im Tabellenkopf die Bezeichnung »technische Angestellte« findet. Bei den sehr heterogenen kaufmännischen Angestellten (Tabelle 5) wird die Gesamtheit als »Angestelltengruppe« bezeichnet, die einzelnen Differenzierungen als »Berufsgruppe« (S. 133) und nicht zuletzt, wenn es sich um die minderqualifizierten Reisenden handelt, gelten diese als »Beschäftigungsgruppe«. Gewiß sind diese terminologischen Variationen als Synonyme zu betrachten, wenn nur auf deskriptiv statistische Klassifikationen Bezug genommen wird. Andererseits verweist der differenzierte Sprachgebrauch Herrn Pierenkempers auf sein historisches Feingefühl hin, das ihm ermöglicht, wesentliche soziale Differenzierungen und hierarchische Beziehungen zwischen Angestellten aufzuzeigen. Es scheint mir so zu sein, daß er Abstand von dem Begriff »Beruf« nimmt, wenn die Kategorie der »Berufsklassifikation« den Charakter von abstrakter Lohnarbeit hat. Aber erst mit der Lohnarbeit gibt es einen Arbeitsmarkt. Gibt es wirklich Teilarbeitsmärkte für Berufe wie es uns die heutige Arbeitsmarkttheorie lehrt? Oder regelt jeder organisierte Berufsstand die Verteilung von Stellen weitgehend jenseits von Nachfrage und Angebot? Die Frage ist nicht so unsinnig wie es auf den ersten Blick erscheint. Für manche Angestelltenberufe, ζ. B. Militärberufe, Berufe in der Kirche und im Hoheitsbereich der öffentlichen Verwaltung sowie in der Politik und Wissenschaft ist es klar, daß es sich nicht um Marktverhältnisse handelt. Normalerweise gibt es auch keine Stellenanzeigen, und wenn es solche geben soll, heißt es m. E. keineswegs, daß sich damit Marktverhältnisse durchgesetzt haben. Selbstverständlich gibt es in den regionalen Zeitungen keine Stellenangebote für 146

Generale, Bischöfe, Polizeipräsidenten und Parlamentarier. Aber w o hört die Liste auf? Ändert sich die Liste im Laufe der modernen Geschichte? Mit der Segementierungstheorie besteht die Gefahr der Hypostasierung eines universalen Wirtschaftsprozesses und der Liquidierung der geschichtlichen Betrachtung des Produktionsprozesses. (Heute ist es mit den Tendenzen zur gegenseitigen, unmittelbaren Durchdringung von Politik und Ö k o n o m i e vielleicht in vielen Fällen angemessener, interne und externe Arbeitsverwaltungen statt interner und externer Arbeitsmärkte zu untersuchen.) »Traditionelle«, d . h . halbfeudalistische berufsständische Organisationen haben erreicht, daß die Penetration des Marktes weitgehend abgewehrt wurde. Solche Abwehrkämpfe sind Schlüsselereignisse der Gesellschaftsgeschichte 6 . »Moderne« berufsständische Organisationen versuchen, die Einflüsse von Konkurrenzverhältnissen durch den Numerus clausus (ζ. B. Veränderung der Erfolgsquote bei fachlichen Prüfungen) zurückzudrängen. Loyalität zum Berufsstand heißt zugleich weder bedingungslose Anpassung an die Anforderungen des Verwertungsprozesses des Kapitals noch Identifikation mit den Zielen der nicht berufsständisch organisierten kollektiven Interessenvertretungen der Lohnabhängigen. Die Belohnung für solche Treue ist soweit wie objektiv möglich ein Schutz vor den Wechselfällen des Marktes 7 oder, anders ausgedrückt, nicht bloß ein v o m Markt vermittelter Arbeitsplatz, sondern eine v o m Berufsstand zugewiesene Stelle. Dieser Unterschied ist für einen Historiker genau so wichtig wie die Unterscheidung zwischen Klassenbewußtsein und Standesbewußtsein. Der historische Prozeß der Rekrutierung des Nachwuchses eines Berufsstandes ist jedoch allein mit klassenloser statischer Theorie von Nachfrage und Angebot nach Arbeitskräften in Teilmärkten nicht in den Griff zu bekommen. Wenn berufsständische Interessen sehr verkürzt als »Interessen an Humankapitalverwertung in einem Teilarbeitsmarkt« verstanden werden, dann sind die neuen Erkenntnisse dieser Art historischer Arbeitsmarktforschung, die man erschließen kann, im wesentlichen schon feststellbar: Wie das Schicksal der Institution der Sklaverei, sind das A u f k o m m e n , das Überleben und Aussterben verschiedener Berufe (sprich »Beschäftigungsarten«) davon abhängig, wie rentabel (im Sinne des Ertrags des Humankapitals) sie im Verhältnis zu anderen »Berufen« sind oder gemacht werden können 8 . Die Analyse der konkreten Funktion und ihrer Verwertbarkeit verdrängt die historische Analyse der konkreten Klassen Verhältnisse und der Dynamik des gesamtökonomischen Prozesses. Das Drei-Sektoren-Modell des französischen Produktivitätsforschers Fourastie läßt sich mit der funktionalistischen Arbeitsmarkttheorie durchaus verbinden, so etwa wie Schumpeter' die Statik im Rahmen der Wirtschaftsdynamik betrachtet. (Für die Analyse des im internationalen Vergleich hohen Anteils der Beschäftigten in der Landwirtschaft in Fourasties Heimatland Frankreich, m u ß m. E. doch wiederum eine Analyse der besonderen Klassenverhältnisse dieses Landes, vor allem der relativen 147

Stärke der Grundeigentümer, herangezogen werden.) Der Autor erhebt mit Recht Einwände gegen dieses Schema, aber er sagt nicht, wie er die Veränderungen der Branchenstruktur systematisch umgehen will, um zur Erklärung des Wandels der Berufsstruktur zu gelangen. Greift man einen Grundgedanken Schumpeters zur Analyse des kapitalistischen Prozesses auf 0 , dann ist die Form des Arbeitsprozesses, nicht nur der Inhalt der Arbeitsresultate, ein Ausgangspunkt für die Erfassung von Entwicklungstendenzen. Eine Dreiteilung von Funktionen im rationalisierten Arbeitsprozeß könnte zu Gruppierungen von statistischen Berufskategorien fuhren. Die drei Hauptgruppen sind: erstens die institutionalisierte Unternehmerfunktion der Planung und Koordinierung von Veränderungen des Produktionsprozesses und der Veränderung von Absatz- und Anschaffungsbedingungen (Innovation); zweitens die routinemäßige vor- und nachbereitende Arbeit der Verwaltung; drittens die ausfuhrende routinemäßige Arbeit im unmittelbaren Produktionsprozeß. In diesem Sinne entwickelte Hans-Joachim Bodenhöfer die Kategorien tertiäre, sekundäre und primäre Arbeit und versucht, Veränderungen der Berufsstruktur zu erklären, ebenfalls ohne sich einerseits auf die unterschiedlichen Einkommenselastizitäten der Endnachfrage zu beziehen und ohne sich andererseits auf die Differenzen in der Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität in den Sektoren für bestimmte Arbeitsprodukte der Endnachfrage zu berufen". Die zunehmende Bedeutung von qualitativer Erneuerung der Investitionsgüter einerseits, und das steigende Ausmaß der industriellen Vorleistungen (Auseinanderklaffen von Brutto- und Nettosozialprodukt) andererseits, rechtfertigen eine solche Vernachlässigung der Einkommenselastizitäten. Es wäre zu überlegen, ob eine Klassifizierung der Anzeigen nach diesem Schema brauchbarer sein könnte. Stellt man die Wirtschaftsdynamik in den Vordergrund, wie Herr Pierenkemper dies tut, dann sind Schlußfolgerungen, die sich auf ein Jahr beschränken, mit großer Vorsicht zu genießen. Das weiß Herr Pierenkemper auch, aber er versucht trotzdem und nicht ohne Berechtigung, Strukturwandlungen mit Hilfe der Analyse von regionalen Unterschieden festzustellen. Die Querschnittsanalyse kann stellvertretend fur die Analyse langer Zeitreihen dienen, wenn man davon ausgehen kann, daß die Unterschiede zwischen Regionen mit verschiedenen Entwicklungsstufen stark korreliert sind. Immerhin muß der Zeitpunkt des interregionalen Vergleichs erörtert werden; sonst kann nicht festgestellt werden, ob aus den Daten regionale Unterschiede der säkularen Entwicklungsgrade oder der saisonalen bzw. konjunkturellen Schwankungen hervorgehen. Gerade für Stellengesuche können unterschiedliche saisonbedingte Schulentlassungen eine wichtige Fehlerquelle sein, wenn man die Daten als Ausdruck eines säkularen Entwicklungsgrades interpretiert. Ähnliches gilt für Branchenkonjunkturen. Die zeitliche Repräsentativst der Daten zwecks Analyse der »Dienstleistungsrevolution« ist m. E. nicht befriedigend erörtert worden. 148

Ferner wird der Nachweis der Repräsentativität von dem präzisen Inhalt des Begriffs »Dienstleistungsrevolution« abhängen. Mir scheint es in Anlehnung an Hicks, der von der »Administrative Revolution in Government« spricht12, sinnvoll zu sein, die »Administrative Revolution in Business«, zu Deutsch: den Aufbau der Industriebürokratie, hervorzuheben. Diese Entwicklungstendenz kann theoretisch begründet werden! Der Begriff »Dienstleistungsrevolution« ist zu oberflächlich und behindert die historische Arbeit. Je nach der Fragestellung können monatliche, vierteljährliche, jährliche usw. Statistiken über die Differenzen von Stellenangeboten und Stellengesuchen von Bedeutung sein. In der vorliegenden Arbeit ist dieses Problem der zeitlichen Repräsentativität im Zusammenhang mit der Behandlung der landwirtschaftlichen Berufe m. E. nicht befriedigend gelöst worden. Im Jahre 1880 befand sich die Agrarkonjunktur, auch der Zuckerrübenanbau, immer noch in einer Depression13. Angesichts der säkularen Industrialisierung der Landwirtschaft wäre zu vermuten, daß ein bestimmter Bestandteil der landwirtschaftlichen Berufe mit technischen Angestellten zu vergleichen wäre. Wenn in der Statistik eine solche »tertiäre Arbeit« festzustellen wäre, dann müßte m. E. ein langfristiger Überschuß der Stellenangebote in Erscheinung treten. Der ständige Ausbau der Kapazitäten an den landwirtschaftlichen Hochschulen ab 1880 wäre sonst kaum zu erklären. Je mehr die »primäre Arbeit« die Form der Lohnarbeit annahm, desto größer wurde der Bedarf an »tertiärer Arbeit« in den größeren landwirtschaftlichen Betrieben. Die Interpretation von Leipzig als relativ rückständig wegen des niedrigeren »Industrialisierungsgrades« ist nicht vollkommen einleuchtend. Als Transportknotenpunkt und Handelszentrum mitten in Sachsen, das damals eines der modernsten Landwirtschaftsgebiete der Welt war14, ist es nicht überraschend, daß die Nachfrage nach »tertiärer Arbeit« offenbar das Angebot überstieg. Laut Tabelle 5 gab es unter den männlichen Lehrern 16 Anzeigen für offene Stellen und nur zwei Anzeigen für Stellengesuche. Die vergleichbaren Zahlen für Köln zeigen ein weniger günstiges Verhältnis für die Stellensuchenden: 42:22. Bei den freien akademischen Professionen hat Leipzig sogar einen absolut höheren Nachfrageüberschuß gegenüber Köln! Von Sättigungserscheinungen in Köln dürfte im Jahre 1880 keine Rede sein. Diese Stadt hat erst ab 1919 eine moderne Universität errichtet. Die alte Universitätsstadt Leipzig stellt fast einen Prototyp dar für die Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlicher Forschung und industrieller Technologie. Dies zeigt sich exemplarisch in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereichen der Physik und Chemie und in den wirtschaftlichen Bereichen der Zuckerrübenverarbeitung, der Brennereien, der Düngemittelherstellung und des Landmaschinenbaus. Dieser Vergleich zeigt m. E., wie problematisch der Begriff »Dienstleistungsrevolution« ist. Eine für die Privatunternehmen geltende »administrative« Revolution trifft den Sachverhalt viel näher. Für die Analyse von Entwicklungstendenzen auf dem 149

Arbeitsmarkt ist es gewiß angemessener, die Aufmerksamkeit auf den relativen Umfang der planenden, koordinierenden und verwaltenden Berufe - oder gegebenenfalls Arbeit - zu konzentrieren, denn solche Beschäftigungsmöglichkeiten sind die historischen Komplementaritäten zur Durchsetzung der Lohnarbeit und der damit unlösbar verknüpften Trennung von geistigen und körperlichen, planenden und ausfuhrenden Arbeiten. Die Differenzierung der Angaben nach Geschlecht ist sehr aufschlußreich. Auf diese Art und Weise gewinnt man wertvolle historische Erkenntnisse über die Durchsetzung des Lohnarbeiterverhältnisses im »Dienstleistungsbereich«. Der Überschuß an Stellenangeboten für Verkäuferinnen (Tabelle 5) deutet an, wie der Autor scharfsinnig bemerkt, daß die Frauen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten als Arbeiterinnen hatten. Hier zeigt sich, wie historisch unangemessen der Begriff »Angestellte« ist, wenn es sich um ausfuhrende Büro- oder Ladenarbeit handelt.

Anmerkungen 1 Karl Polanyi, The Great Transformation: The Political and Economic Orgins of O u r Time, N e w York, 1944, S. 68-76. Edward J. Neil, »Population, the Price Revolution and Primitive Accumulation«, in: Peasant Studies, Bd. 6, Nr. 1. (Januar 1977), S. 32—40. 2 Maurice Dobb, Wages, London und Cambridge, 1946, S. 157-160. 3 Emil Lederer, »Die Umschichtung des Proletariats und die kapitalistischen Zwischenschichten vor der Krise«, in: Lederer, Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910-1940, hg. v. J. Kocka, Göttingen 1979, S. 181-182. 4 Lederer spricht ausdrücklich von »Stellenlosigkeit« als Erscheinung der Deklassierung der Angestellten. Siehe E. Lederer, »Die Angestellten im Wilhelminischen Reich«, in: Ders., Kapitalismus, S. 77-78 und Fußnote 42, S. 279. Z u r sozialen Differenzierung innerhalb von Berufen, siehe W. Köllmann, Art. »Bevölkerungsgeschichte« in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2, Stuttgart 1976, S. 19, Abb. 2. 5 »As to the price system, the first question refers to its existence or non-existence.« Eli F. Heckscher, »The Aspects of Economic History«, in: Economic Essays in Honour of Gustav Cassel, London 1933, p. 708if. Der Begriff »Price System« ist neoklassisch. Was ist neoklassische Theorie? Siehe vor allem Martin Hollis u. Edward J. Neil, Rational Economic Man: A Philosophical Critique of Neo-Classical Economics, Cambridge 1975, S. 205-218, insbesondere Tabelle 1, S. 214 und die Hervorhebung des »Production System« als Gegenstand des Classical-Marxian Paradigmas, S. 253-260. 6 EricJ. Hobsbawm, »Customs, Wages and Workload«, in: Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1968. 7 Lederer, Umschichtungen, S. 182. 8 John Hicks, A Theory of Economic History, Oxford 1969, S. 122-140. 9 Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen» Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, 1. Bd., Göttingen 1961, S. 106-110. 10 Schumpeter, Kapitel 3, Teile B. u. C., S. 93-117 u. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung: Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 19646, viertes Kapitel, »Der Unternehmergewinn oder Mehrwert«, insbesondere S. 212-213. Und »Der dynamische Unternehmer, der meue K o m -

150

binationen der Produktionsfaktoren< durchsetzt, tut genau das, was wir Metaproduktion nennen«: Carl Christian von Weizsäcker, »Vorläufige Gedanken zur Theorie der ManpowerBedarfsschätzung«, in: K. Hüßier u. J . Naumann, (Hg.), Bildungsökonomie - Eine Zwischenbilanz, Stuttgart 1969, S. 160. 11 Im Anschluß an Schumpeter und v. Weizsäcker, Hans-Joachim Bodenhöfer, »Zum Wandel der Beschäftigungsstruktur im wirtschaftlichen Wachstum«, Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 27/1976 Heft 1, S. 109-131. 12 Hicks, S. 162-163. 13 W. G. Hoffinann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, Tabelle 126, Spalte 2, S. 522, Tabelle 50, Spalte 9, Linien 31-36, S. 285, Tabelle 51, Spalte 9, Linien 31-36, S. 292. 14 August Meitzen, Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staates. Atlas zu den Bänden I - I V . Berlin 1871, Tafel V (Zuckerrüben-Fabrik) und Tafel X X (Steuerertrag). G. B. Hageberg/H.-H. Müller, »Kapitalgesellschaften für Anbau und Verarbeitung von Zuckerrüben in Deutschland im 19. Jahrhundert. Eine Materialsammlung zu einer Geschichte der Kapital-, Sozial- und ökonomischen Struktur der Rübenzuckerindustrie«, in: J b W 1974, Teil IV, S. 113-148.

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H E R M A N N V O N LAER

Der Arbeitsmarkt für Techniker in Deutschland Von der Industriellen Revolution bis zum I. Weltkrieg

Ohne im Einzelnen auf theoretische Funktionsmodelle für den Arbeitsmarkt eingehen zu wollen bzw. ohne zu diskutieren, ob der Begriff »Arbeitsmarkt« für den zu behandelnden Bereich legitimerweise als universelle Kategorie zu verwenden ist1, soll für die folgenden Ausführungen »Arbeitsmarkt« in allgemeiner Weise definiert sein als ein Ort des Austausches zwischen Angebot und Nachfrage von Arbeitskraft. Da im 19. Jahrhundert Untersuchungen über diesen Markt so gut wie gar nicht angestellt wurden, besteht hier allerdings das methodische Problem, im nachhinein den Markt für »Produzenten« von dem für »Produkte« zu trennen und dafür geeignete Indikatoren zu finden. Beim »Arbeitsmarkt für Techniker« entstehen naturgemäß zusätzliche Abgrenzungsprobleme, da die Personengruppe der Techniker nicht eindeutig definierbar ist. Das erste Problem besteht darin, daß sinnvollerweise von einem Arbeitsmarkt nur im Zusammenhang mit abhängig Beschäftigten gesprochen werden kann, bei Technikern aber zumindest lange Zeit der Übergang von der Selbständigkeit in eine abhängige Beschäftigung et vice versa möglich war (s. u.). Aber auch eine Unterscheidung von Technikern und Arbeitern ist vielfach kaum möglich, da sowohl bei der Entlohnungsform als auch bei der Funktion als auch bei der Dienststellung die Übergänge häufig fließend waren, und selbst zwischen technischen und kaufmännischen Angestellten läßt sich nicht immer ein klarer Trennstrich ziehen. Da für die folgenden Betrachtungen jedoch diese Abgrenzungsprobleme keine allzu große Bedeutung haben und eher sogar im Gegenteil zur Illustrierung der behandelten Kernprobleme herangezogen werden können, soll diese Frage hier nicht weiter vertieft werden. Wenn im Folgenden von Technikern bzw. Ingenieuren die Rede ist, dann handelt es sich dabei um fachlich gebildete, abhängige Beschäftigte, die hauptsächlich in der Produktion, Konstruktion oder Entwicklung tätig waren.

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Die Entstehung des neuen Berufsstandes Der Berufsstand des so definierten Technikers entstand wesentlich im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution, d. h. der starken Expansion des sekundären Sektors und den damit verbundenen Beschäftigungswirkungen, wobei sich vier Entwicklungslinien feststellen lassen, die natürlich nicht alternativ, sondern als sich ergänzend zu sehen sind: Erstens die Beziehung Naturwissenschaft - Technik, wobei die Technik als »angewandte Naturwissenschaft« die ständig wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Befriedigung materieller Lebensbedürfnisse in die Praxis umsetzte 2 ; zweitens die Entwicklung der industriellen Produktion, die den Ingenieur-Unternehmer zwang, einen technischen Experten zu seiner Entlastung einzustellen 3 ; drittens führte die »Doppelfunktion des kapitalistischen Unternehmens - einerseits Güter arbeitsteilig herzustellen und andererseits als Ware auf dem Markt zu verwerten« 4 - zur N o t w e n d i g keit, sowohl bei der Technik als auch im kaufmännischen Bereich betriebliche Funktionsträger heranzubilden und einzustellen, und viertens schließlich brachten es vor allem die militärischen Interessen des Staates mit sich, daß qualifizierte Techniker ausgebildet und entsprechende Forschungen unterstützt wurden. Diese gezielten staatlichen Aktivitäten begannen recht früh, in Frankreich schon Mitte des 18. Jahrhunderts 5 und sie haben vor allem das technische Hochschulwesen entscheidend beeinflußt 6 . Welche Bedeutung sie darüber hinaus direkt durch die Bereitstellung von Ingenieuren für die beginnende Industrialisierung hatten, läßt sich hingegen weniger klar belegen 7 Dabei muß jedoch daraufhingewiesen werden, daß unter dem Sammelbegriff »Ingenieur« in zeitgenössischen Quellen und auch meist in der Literatur sowohl Berufsgruppen verstanden werden, die es auch vor der industriellen Revolution gab und deren Aufgabenbereich sich durch diese Revolution relativ wenig änderte (ζ. B. Architekt und Bautechniker) als auch solche, die erst durch sie entstanden (ζ. B. Maschinenbauer). Im Folgenden wird vor allem die Situation der zweiten Gruppe und ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt betrachtet. Da eine Arbeitslosenstatistik o. Ä. nicht existiert, müssen Indikatoren gefunden werden, die dann eine Beurteilung der Arbeitsmarktlage gestatten. Dazu wird im folgenden eingegangen auf die berufliche Qualifikation (als Indikatoren werden hierbei betrachtet der Kontakt mit dem Ausland, die Qualifizierung am Arbeitsplatz, sowie die Verwissenschaftlichung der Ausbildung durch die Technischen Hochschulen), die Entstehung und die Stellung des Ingenieurs im Betrieb. Anhand von Stellenanzeigen, die jedoch nur für die Jahre 1888/89 in hinreichender Zahl gefunden werden konnten, wird eine Momentaufnahme des Arbeitsmarktes für diesen Zeitpunkt versucht. Dabei ist es hier leider nicht möglich, systematisch nach Branchen und damit nach Teilarbeitsmärkten zu unterscheiden oder den staatlichen und privaten Sektor immer getrennt zu behandeln. 153

1. Die berufliche Qualifikation Ausländische Arbeitskräfte und Auslandsreisen Die Industrialisierung brachte neue Anforderungen an die Qualifikation des technischen Personals mit sich, die bei den vorhandenen Arbeitskräften nicht ausreichend vorhanden war. Zwar wurden etwa Unternehmen des Maschinenbaus noch bis 1870 weit überwiegend von Handwerkern gegründet8, allein handwerkliche Fertigkeiten reichten jedoch immer weniger aus. Da es zumindest bis Mitte des Jahrhunderts technische Schulen oder Hochschulen kaum gab, existierten prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder man holte die entsprechenden Kräfte aus dem Ausland oder wählte den Weg der Qualifizierung am Arbeitsplatz. Die Tatsache, daß viele Ingenieure aus dem Ausland angeworben wurden, zeigt, wie knapp entsprechende Fachkräfte gewesen sein müssen, bzw. wie gut die Arbeitsmarktsituation für sie war. So erhielt etwa der Lokomotivführer der Eisenbahn Nürnberg-Fürth, ein Engländer, ein doppelt so hohes Gehalt wie der deutsche Direktor der Bahn9. Bei der GuteHoffnungs-Hütte wurde im Jahre 1839 die erste Lokomotive von dem Engländer Ponton gebaut, den 1829 aufgenommenen Schiffsbau leitete der Engländer Harvy10. Die ersten Ingenieure der Maschinen-Fabrik von Egestorff in Hannover (gegründet 1835) waren fast ausschließlich Ausländer, meist Engländer", die erste Schnellweberei in Nordhorn, die 1839 mit 20 Webstühlen eröffnet wurde, arbeitete ausschließlich mit holländischen Fachkräften12 und noch 1864 übernahm beim Hörder Bergwerks- und Hüttenverein ein Engländer den Betrieb der Bessemeranlage, die er im Auftrag von Bessemer & Co. aus Sheffield errichtet hatte13. Zu diesem Zeitpunkt war die Beschäftigung von Ausländern jedoch schon nicht mehr die Regel, da offensichtlich inzwischen genügend deutsche Fachkräfte hatten ausgebildet werden können. Bis etwa Mitte des Jahrhunderts waren entsprechend qualifizierte Kräfte jedoch so rar, daß die Unternehmen auf Ausländer vielfach geradezu angewiesen waren. So berichtete Harkort (über die 20/30er Jahre), daß er bei der Auswahl von Technikern für seine Fabrik nicht wählerisch habe sein können. Manchen »Engländer habe er sich gleichsam vom Galgen schneiden müssen, um überhaupt welche zu bekommen« 14 . Neben der Möglichkeit, Ausländer als Arbeitskräfte anzuwerben, gab es auch den Weg, sich das benötigte Fachwissen im Ausland anzueignen, um so den immer wieder beklagten, die industrielle Expansion hemmenden Engpaßfaktor »Technisches Wissen« zu verringern. Nicht nur die Unternehmer, auch Angestellte fuhren vielfach zu Studienzwecken ins Ausland. Schwartzkopf unternahm mit Borsig und anderen mehrere Studienreisen nach England15. Nich nur Krupp selber war oft in England, er schickte auch mehrere Ingenieure zu Studienzwecken dorthin16. Ingenieure der Gute154

Hoffnungs-Hütte unternahmen mehrfach ausgedehnte Auslandsreisen 17 und auch der Hörder Bergwerks- und Hüttenverein finanzierte großzügig Auslandsreisen leitender Ingenieure18; entsprechende Angaben für andere große Unternehmen lassen sich wahrscheinlich unschwer finden, so daß auch hier ein Indikator zu sehen ist für die sehr gute Arbeitsmarktsituation qualifizierter Techniker 19 . Die Auslandsreisen scheinen länger von Bedeutung gewesen zu sein als die Beschäftigung ausländischer Techniker - bis in die 70er Jahre - , so daß dies ein Indiz dafür sein könnte, daß etwa von diesem Zeitpunkt an von einem generellen Nachhinken der deutschen Industrie nicht mehr gesprochen werden kann.

Qualifizierung am Arbeitsplatz So bedeutungsvoll ausländische Fachkräfte bzw. Studienreisen ins Ausland zu gewissen Zeiten und für einzelne Unternehmen auch gewesen sein mögen, auf Dauer war so natürlich nicht der Arbeitskräftemangel einer expandierenden Industrie zu befriedigen. Es mußten vielmehr in den einzelnen Unternehmen selbst qualifizierte Kräfte »aufgezogen« werden. Dies konnte zum einen dadurch geschehen, daß man voneinander zu lernen versuchte, ähnlich wie im Handwerk. Für die Frühphase der Industrialisierung lassen sich diesbezüglich vor allem für den Maschinenbau ganze »Ingenieur-Generalogien« bilden: So lernten z.B. Borsig, Hoppe und Wöhlert bei Engels; bei Borsig wiederum lernte Gruson, bei Hoppe lernte Kuhn und bei Wöhlert lernte Wolf20. Wichtiger war jedoch ein anderer Weg: Die Qualifizierung am Arbeitsplatz, das learning by doing. Bei fast allen größeren Unternehmen läßt sich dies durch die vielfachen Möglichkeiten des innerbetrieblichen Aufstiegs nachweisen: So hatten im Carlswerk bis in die 80er Jahre hinein auch einfache Arbeiter die Chance, zu Meistern aufzusteigen 21 , bei Siemans hatten lange Zeit alle leitenden Angestellten auf der unteren Ingenieur-Ebene oder sogar als Arbeiter »klein angefangen« 22 , und auch bei Krupp 23 und den Eisenhütten 24 konnte man vom einfachen Arbeiter bis in Leitungspositionen aufsteigen. Dieser interne Arbeitsmarkt mit den entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten war für die Unternehmen häufig die einzige Möglichkeit, entsprechende Fachkräfte zu bekommen, da ein externer Arbeitsmarkt gar nicht existierte25. Natürlich gab es hierbei branchenspezifische Unterschiedene »jünger« eine Branche war, desto weniger etabliert war ein externer Arbeitsmarkt. Insgesamt lief es aber immer nach dem gleichen Muster ab: Die ersten 20-30 Jahre nach »Branchenbeginn« kamen die qualifizierten Kräfte aus dem eigenen Unternehmen und hatten ihre Kenntnisse und Fähigkeiten am Arbeitsplatz erworben. In diesem Zeitraum kamen die leitenden Techniker i. d. R. noch aus dem Unternehmen selbst, waren also ohne eine höhere technische Ausbil155

dung. In ihrem Selbstverständnis hatten sie sich jedoch schon meist recht weit von ihrem ursprünglich erlernten Beruf entfernt. Tabelle 1 kann dafür als Anschauung dienen. Sie zeigt für die Jahre 1856, 1876 und 1896, welche Angaben die neu aufgenommenen Mitglieder des VDI über ihren Beruf machten. Da diese Berufsangaben ζ. T. vage waren und eine nachträgliche Zuordnung zu einzelnen Berufsgruppen oft kaum möglich ist, jedoch auch um die Breite des Mitgliederspektrums aufzuzeigen, wurden die ursprünglichen Angaben weitgehend in den Anmerkungen zur Tabelle wiedergegeben. Tabelle 1: Berufsangabe der neuen Mitglieder im Verein deutscher Ingenieure (VDI) in den Jahren 1856, 1876 und 1896 Beruf

Jahr abs.

A) Techn. Angestellte Ingenieur Techniker Chemiker Architekt Konstrukteur

78 36 13 8

1856' in % 24,8 11,4 4,1 2,5

abs.

1876 in %

abs.

1896 in %

70 1 1 3 1

43,5 0,6 0,6 1,9 0,6

672 19 11 7 4

72,0 2,0 1,2 0,8 0,4

42,8 B) Leitende Angest. Tech. Leiter Fabrikdirektor

4 34"

1,3 10,8

47,2

1 19'

12,1 C) Selbstständige Fabrikant Fabrikbesitzer Kaufmann

22e 25"

7,0 8,0

16 16k 4

6,3

36' 23 f

11,4 7,3

21« 15h

6,7 4,8

151

100,0

49 27" 1"

9,3 2,5

3" 7°

1,9 4,3

14' 43s

100,0

1,5 4,6 6,1

15· 12"

1,6 1,3 2,9

6,2 161

5,3 2,9 0,1 8,3

11,8

11,5 315

9,9 9,9 2,5 22,3

18,7

156

0,3 6,0

Unternehmer

D) Handwerker u. Arbeiter Handwerksmeister Gesellen, Arb., Ang.

Summe

3 56

12,4

15,0

E) öffentl. Dienst Techn. Lehrer Sonstige

0,6 11,8

76,4

933

100,0

1 b

d

3

'

8 h

k

m

" ° * ι

"

Gründungsjahr des VDI. Darunter: Generaldirektor (5), Ingenieurdirektor (1), Bergwerksdirektor (4), Direktor einer Eisenhütte (2), Hüttenverwalter (1), Spinnereidirigent (1), Direktor einer Kokerei (1), Technischer Direktor (5), Geschäftsführer (5), Werkfiihrer (1). Darunter 11 Maschinenfabrikanten. Darunter: Besitzer einer Maschinenbauanstalt (11), einer Glashütte (3), einer Hütte (3), einer Scheidemühle (1), einer Gummifabrik (1), einer Spinnerei (3). Mauerermeister (6), Maschinenmeister (11), Mühlenbaumeister (1), Hüttenmeister (5), Zimmermeister (3), Bohrmeister (1), Werkmeister (1), Schichtmeister (1), Bergmeister (1), Juwelier (1), Bahnmeister (5). Mechanikus (1), Mechaniker (6), Hüttenmann (1), Bauführer (3), Obereinfahrer (1), Obersteiger (2), Maschinenbauer (2), Grubensteiger (1), Gewerke (1), Eleve (1), Markscheider (1), Gießereiarbeiter (1), Buchhalter (1), Geometer (1). Darunter: 1 Assistent am Gewerbeinstitut. Medicinalrat (1), Hauptmann (1), Oberbergamtsreferendar (1), Bergwerks-Expekt (1), Berggeschworener (1), Rentbemater (1), Inspektor (5), Bürgermeister (2), EisenbahnSektionsvorsteher (1), Telegraphenbeamter (1). Darunter: Hüttenverwalter (1), Direktor einer Maschinenbau-Anstalt (2), Maschinenfabrik (3), Spinnerei (3), Gas-Anstalt (2), Chamotte-Fabrik (1), Bau-Firma (1). Darunter: Gießereibesitzer (2), Bauunternehmer (3). Baumeister (3), Maschinenmeister (6), Bermeister (1), Brunnenbaumeister (1), Mühlenbaumeister (1), Mauerermeister (1), Bergmeister (1), Apotheker (1). Gewerke (1), Mechanikus (1), Prokurist (1), Betriebsassistent (1). Lehrer (1), Dozent (1), TH-Assistent (1). Bauamtmann (1), Regierungsrat (1), Commerzienrat (1), Fabrikinspektor (1), Major (1), Berginspektor (1), Bauinspektor (1). Darunter: Druckereibesitzer (1), Gießereibesitzer (1), Teilhaber (1), Gewerkbesitzer (1), Aufsichtsrat (1), Bauunternehmer (3). Patentanwalt. Baumeister (10), Mühlenbaumeister (1), Marinebaumeister (2), Brunnenbaumeister (1). Bauführer (30), Elektrotechniker (3), Vertreter (1), Betriebsassistent (9). TH-Professor (8), TH-Assistent (7). Inspektor (1), Baurat (1), Kommerzienrat (1), General (1), Betriebsinspektor (1), Stadtbaurat (1). Quelle: Zeitschrift der Vereins Deutscher Ingenieure, Jg. 1, J g . 20, Jg. 40; Berlin 1856, 1876 und 1896.

1856, im Gründungsjahr des VDI, bezeichnete sich immerhin rund ein Viertel der Mitglieder als »Ingenieur«, obgleich es zu diesem Zeitpunkt kaum hochschulmäßig ausgebildete Fachkräfte gegeben hat. Die entsprechende berufliche Selbsteinschätzung demonstriert das Selbstbewußtsein eines neuen Berufsstandes, das ja auch durch den Vereinsnamen zum Ausdruck kommt. Andererseits bringt dies natürlich auch einige Schwierigkeiten mit sich, da - übrigens bis heute - der Titel bzw. die Berufsbezeichnung Ingenieur nicht geschützt war und von daher kaum Aussagen über Aufgaben und Funktion des so Bezeichneten möglich sind26. Im Zeitablauf nahm dann die Zahl derjenigen, die sich als Ingenieur bezeichneten, stark zu: 1876 waren es 4 3 , 5 % und 1896 schließlich sogar 7 2 % . Umgekehrt war die Entwicklung bei allen anderen Berufsgruppen, was 157

schließlich als Indiz fur die Professionalisierungstendenzen bzw. die Selbsteinschätzung und das Selbstbewußtsein des »neuen technischen Mittelstandes« interpretiert werden kann: So ging der Anteil der Handwerksmeister von 11,4% auf 1,5% zurück und der Anteil der Selbständigen Unternehmer sank von 15% auf 8,3%. Unter einem anderen Blickwinkel kann man jedoch diesen Anteil von 8,3% im Jahre 1896 auch als recht hoch bezeichnen. Er zeigt, daß selbst zu diesem Zeitpunkt Ingenieure sich in ihrem wichtigsten Verband eher von ihrer Tätigkeit her definierten, als von ihrer Position, positionale oder gar Klassenunterschiede also im Selbstverständnis wenig verankert waren. (Darauf wird weiter unten noch eingegangen.) Er läßt sich darüber hinaus aber auch so interpretieren, daß Arbeitsmarktprobleme selbst 1896 noch keine überragende Bedeutung gehabt haben können, was den Verein dann sicherlich zu einer stärker berufsständischen Politik gezwungen hätte.

Ausbildung an Technischen

Hochschulen

Während noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das technische Wissen in den meisten Industriezweigen fast ausschließlich auf Überlieferung und praktischer Erfahrung beruhte27, änderte sich dies ab 1850. Übereinstimmend wird für fast alle Branchen und großen Unternehmen berichtet, daß mit der Verwissenschaftlichung der Produktion auch der Bedarf an wissenschaftlich gebildeten Ingenieuren wuchs und innerbetriebliche Qualifikationen bzw. Erfahrung tendenziell an Bedeutung verloren28. Aber nicht nur der Bedarf bzw. die Nachfrage wuchsen, sondern auch die Möglichkeiten, sie zu befriedigen. Denn während zunächst ganz neue Qualifikationen benötigt wurden, die zwangsläufig weder außerbetrieblich noch auf klassischen Ausbildungswegen erworben werden konnten29, war eine entwickelte Industrie in der Lage, entsprechende Anforderungen zu definieren. Erste Anfänge eines technischen Schul- und Hochschulwesens sind in Deutschland in den zwanziger Jahren zu finden, allerdings noch auf einem recht niedrigen Niveau. Zwar wurden in diesem und dem folgenden Jahrzehnt eine ganze Anzahl von Polytechnischen Schulen gegründet, Einstellungsvoraussetzungen und Qualität der Ausbildung stiegen jedoch so langsam30, daß erst Mitte des Jahrhunderts von einer hochschulmäßigen Ausbildung gesprochen werden kann - und auch dies nur bei ganz wenigen Schulen (vor allem Karlsruhe). Gezielte staatliche Förderung und steigende Einstellungsvoraussetzungen31, vor allem jedoch der intensive Kontakt zur Industrie, der sich auch darin zeigte, daß fast alle Lehrer an technischen Hochschulen bzw. ihren Vorgängerinnen zeitweise praktisch gearbeitet hatten32, ließen dann aber das Niveau stetig anwachsen, so daß spätestens ab 1870 von einem ausgebauten Technischen Hochschulwesen gesprochen 158

Anzahl der Studenten

Schaubild t: Studierende an Technischen Hochschulen 1843-1913 (WS)

Aufschwung Stockung

Schaubild 2: Veränderung der Studentenzahlen gegenüber dem Vorjahr in Prozent in Gegenüberstellung zur konjunkturellen Entwicklung Konjunkturphasen nach: Spiethoff, A: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Tübingen u. Zürich 1955 S. 146 f. (Im Schaubild erscheinen die Phasen mit einem timelag von 2 Jahren). 159

werden kann. Der Einfluß der Industrie auf diesen Ausbau war ganz erheblich. So entstand z.B. im Jahre 1870 die Technische Hochschule Aachen - die erste in Deutschland, die von vornherein als Hochschule gegründet wurde und sich nicht aus einer polytechnischen Schule o. ä. entwickelte - praktisch ausschließlich aufgrund privater Bemühungen. Der preußische Staat gab im wesentlichen nur die Genehmigung zum Bau und setzte den rechtlichen Rahmen, während die Mittel zur Errichtung der Hochschule gänzlich und für ihren Betrieb weitgehend von privater Seite aufgebracht wurden33. Wenn um Profitmaximierung bemühte Unternehmer Spenden in Millionenhöhe für eine solche Ausbildungsstätte aufbrachten, dann muß der Mangel an akademisch ausbildenden Ingenieuren als drückend empfunden worden sein bzw. müssen entsprechend ausgebildete Ingenieure einen für sie sehr günstigen Arbeitsmarkt vorgefunden haben. Erst durch die fortschreitende Ausbildung von Ingenieuren an Technischen Hochschulen konnte sich jedoch ein größerer Arbeitsmarkt mit klar definierten und abfragbaren Standardqualifikationen entwickeln, und umgekehrt ist es sehr wahrscheinlich, daß die Lage auf dem Arbeitsmarkt Rückwirkungen auf die Technischen Hochschulen hatte. Betrachtet man die Entwicklung der Studentenzahlen an THs im Schaubild 1 und 234, so findet man diese Vermutung weitgehend bestätigt. Zwar sind für die Jahre 1850-1870 nur die Studenten aus Berlin, Hannover und Karlsruhe verzeichnet, weil es für die anderen Polytechnika u. ä. dieser Zeit mehr als fragwürdig ist, ob es sich bei ihnen um »Hochschulen« handelt, aber auch so zeigt sich das starke Wachsen der Studentenzahlen: von 1850-1870 nahmen die Studentenzahlen um rund das Doppelte, von 1872 (von diesem Zeitpunkt an sind alle THs erfaßt) bis zur Jahrhundertwende nochmals um das Dreifache zu. Im Wintersemester 1902/03 war mit 16826 die größte Zahl an Studierenden erreicht, die dann bis 1913/14 wieder um rund ein Drittel auf 10742 zurückging (vgl. Schaubild 1). Da die Absolventen der Technischen Hochschulen weit überwiegend einen Arbeitsplatz in der Industrie suchten, dürften diese bis zur Jahrhundertwende steigenden Studentenzahlen ein Indiz für den stark wachsenden Bedarf an akademisch gebildeten Ingenieuren sein. Unterstützt wird diese Vermutung bei einer Betrachtung der jährlichen Änderungsraten, wie sie im Schaubild 2 zu finden sind: In konjunkturell schlechten Zeiten (nach Spiethoff, mit einem time lag von 2 Jahren) und damit auch schlechten Berufsaussichten vor allem für Berufsanfänger, ging die Zahl der Studenten zurück, in Zeiten guter Konjunktur nahm sie hingegen zu35. Ein Vergleich mit den Studentenzahlen an Universitäten macht dies noch deutlicher: Im Zeitraum 1871-1895 gab es nur 4 Jahre, in denen die Wachstumsrichtung bei den Studentenzahlen von Universitäten und THs gleich waren, im Zeitraum 1896-1913 nur δ36. Anders ausgedrückt: Die Wachstumsbewegungen bei den Studentenzahlen von Universitäten und Technischer Hochschule waren fast exakt gegenläufig. In Jahren guter Konjunktur wurde - so 160

könnte man interpretieren - vermehrt ein TH-Studium gewählt, da die Industrie mit relativ hohen Gehältern lockte, in konjunkturell schlechteren Zeiten wählte man eher ein Universitätsstudium und hoffte auf eine sichere Beschäftigung beim Staat. Erleichtert wurde diese relativ schnelle Anpassung dadurch, daß damals an den THs nicht in gleicher Weise wie heut auf ein Examen hin studiert wurde. Kurzzeitige bzw. nur wenige Semester währende Aufenthalte zur Vertiefung des theoretischen Wissens bzw. zum Erwerb spezieller Kenntnisse waren relativ häufig. In bezug auf den Arbeitsmarkt für Techniker läßt sich hier also festhalten, daß er anscheinend bis Ende des Jahrhunderts sehr stark von der Konjunktur abhing - allerdings nur bis zu diesem Zeitpunkt. Der starke Rückgang der Studentenzahlen in den folgenden 10 Jahren läßt sich konjunkturell nicht mehr erklären. Es muß zu einem strukturellen Einbruch gekommen sein, etwa der Art, daß man aufgrund großindustrieller Massenproduktion auf größere Mengen qualifizierter Techniker zunehmend verzichten konnte. Sicherlich nicht zufallig beginnt ja dann auch erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die intensive Beschäftigung mit der Situation der qualifizierten Techniker37, und auch die Verbände, die sich bisher überwiegend nur als Standesorganisationen und Zentren des fachlichen Gedankenaustausches begriffen hatten, kümmerten sich zunehmend auch um die berufliche Situation ihrer Mitglieder38.

2. Die Entlohnung Der beschriebene Mangel an qualifizierten Technikern während des größten Teils des 19. Jahrhunderts mußte bei einer expandierenden Industrieproduktion und einer Bezahlung, die sich am Grenzprodukt orientierte, zu hohen Einkommen, u. U. sogar zu Knappheitsrenten führen - allerdings nur dann, wenn es für die spezifische Qualifikation des jeweiligen Technikers auch eine entsprechende Nachfrage gab. So erklärt sich nicht nur das teilweise recht hohe Gehalt von Ingenieuren, sondern auch die hohen Lohndifferenzen, die es als unsinnig erscheinen lassen, zumindest für die ersten Jahrzehnte einen Durchschnittslohn zu berechnen. So schwankte etwa das Einkommen der von Lundgreen untersuchten Absolventen des Berliner Gewerbeinstituts zwischen 450 und 4800 Mark39, beim Carlswerk lag die Gehaltsspanne 1885 bei den Betriebsbeamten zwischen 1500 und 4200 Mark, 15 Jahre später sogar zwischen 1080 und 15000 Mark40, bei Krupp in den Jahren 1850-1873 zwischen 900 und 12000 Mark4', bei der Gute-Hoffnungs-Hütte in den Jahren 1850-1867 zwischen 1080 und 6000 Mark42 und beim Bochumer Verein 1855-1875 zwischen 900 und 3500 Mark43. Ein Hinweis darauf, daß es sich bei der Entlohnung um eine solche nach 161

d e m G r e n z p r o d u k t handelte, ist auch darin zu sehen, daß die sehr h o h e n L ö h n e v o r allem dann gezahlt w u r d e n , w e n n m a n einen Ingenieur v o n der K o n k u r r e n z abwerben 4 4 b z w . ihn u n b e d i n g t i m U n t e r n e h m e n halten oder z u m i n d e s t seine Kenntnisse nicht der K o n k u r r e n z z u g u t e k o m m e n lassen wollte 45 . H i n z u k a m , daß f ü r hochqualifizierte Ingenieure zumindest lange Zeit in vielen Branchen die Möglichkeit bestand, sich auch mit w e n i g Kapital selbständig zu m a c h e n . So geht aus den Biographien »großer Ingenieure«, die C . Matschoss zusammenstellte, hervor, daß der g r ö ß t e Teil v o n ihnen zumindest zeitweise ein eigenes U n t e r n e h m e n leitete 46 , u n d gleiches berichtete Aschenbrenner v o n der H a n n o v e r s c h e n M a s c h i n e n i n dustrie 47 A u c h die »Männer der Technik« w a r e n i m 19. J a h r h u n d e r t zu e i n e m g r o ß e n Teil zeitweise selbständig 48 . Erst gegen E n d e des J a h r h u n derts w a r die relativ einfache Möglichkeit, sich ohne viel Kapital selbständig zu m a c h e n , w e i t g e h e n d verbaut 4 9 Z u s a m m e n f a s s e n d läßt sich über die E n t l o h n u n g v o n Ingenieuren bis etwa 1880 festhalten: 1. die Gehälter w a r e n häufig sehr hoch, i. d. R. h ö h e r als bei den k a u f m ä n n i s c h e n Angestellten 5 0 . H ä u f i g w u r d e n zu den eigentlichen Gehältern G e w i n n b e t e i l i g u n g e n , T a n t i e m e n etc. gezahlt. 2. Die Gehaltsdifferenzen w a r e n s o w o h l innerhalb eines U n t e r n e h m e n s als auch zwischen U n t e r n e h m e n erheblich 51 . 3. Meist w u c h s das E i n k o m m e n deutlich mit Alter u n d Erfahrung 5 2 . N a c h 1880 änderte sich in dieser Hinsicht mit d e m sich entwickelnden A r b e i t s m a r k t u n d d e m g r ö ß e r e n A n g e b o t akademisch gebildeter Ingenieure einiges, auch die B e r e c h n u n g v o n D u r c h s c h n i t t s e i n k o m m e n ist eher m ö g l i c h u n d sinnvoll. Tabelle 2 zeigt - w e n n auch auf relativ schwacher Datenbasis - einen solchen Versuch. In ihr sind die J a h r e s e i n k o m m e n v o n M a s c h i n e n b a u a r beitern (die zu den a m höchsten bezahlten Arbeitern gehörten) u n d Ingenieuren einander gegenübergestellt. Die E i n k o m m e n der Ingenieure sind berechnet nach A n g a b e n v o n »technischen Privatbeamten«, die i m J a h r e 1907 in Berlin b e f r a g t w u r d e n . D a das E i n k o m m e n mit d e m Lebensalter i. d. R. stieg, d ü r f t e n j e d o c h vor allem f ü r die ersten J a h r e die hier g e n a n n t e n D u r c h s c h n i t t s e i n k o m m e n ( = Median) erheblich unter den tatsächlichen D u r c h s c h n i t t s e i n k o m m e n gelegen haben. A b e r sogar anhand dieser Zahlen zeigt sich eine eindeutige T e n d e n z : W ä h r e n d in den achtziger J a h r e n das E i n k o m m e n der technischen P r i v a t b e a m t e n das der Maschinenbauarbeiter u m über 50% u n d E n d e des J a h r h u n d e r t s u m über 4 0 % übertraf, w a r e n es 1906 n u r n o c h k n a p p 4 0 % . Berücksichtigt m a n die gestiegenen Lebenshaltungskosten 5 3 , so k a n n m a n f ü r die letzten lOJahre bestenfalls v o n einer Stagnation der R e a l e i n k o m m e n sprechen 5 4 - u n d das bei einem in diesem Z e i t r a u m starken W a c h s t u m des Sozialprodukts. A u c h bei den Gehältern zeigt sich also der strukturelle E i n b r u c h auf d e m A r b e i t s m a r k t zu B e g i n n des 20. J a h r h u n d e r t s . 162

Tabelle 2: Durchschnittseinkommen von Maschinenbauarbeitern und technischen Privatbeamten 1885-1906 in Mark Jahr

Jahreseinkommen

MaschinenbauArbeiter

technische Privatbeamte

1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906

999 1011 1030 1062 1087 1147 1160 1155 1158 1147 1204 1231 1256 1291 1319 1307 1239 1254 1277 1328 1324 1392

1550 1650 1650 1850 1850 1850 1750 1650 1750 1650 1650 1650 1650 1650 1890 1850 1850 1850 1850 1850 1850 1950

Quelle: für den Maschinenbau: Laer a.a.O. S. 240. Für die technischen Privatbeamten: Berechnet nach Jäkel, a.a.O. S. 72f.

3. Stellung im Unternehmen Technische Fachkräfte erhielten nicht nur lange Zeit ein vergleichsweise hohes Einkommen, auch ansonsten unterschied sich ihre Stellung meist stark von der der anderen Beschäftigten. In ihrer Selbsteinschätzung sahen sie sich meist als zwischen Unternehmer und Arbeitern bzw. zwischen Unternehmern und Meistern angesiedelt 55 - schon aufgrund der zumindest theoretischen Möglichkeit, sich selbständig zu machen, konnte sich ein proletarisches Bewußtsein kaum entwickeln. U m die Fachkräfte zu halten, wurde zumindest in den großen Unternehmen faktisch Arbeitsplatzsicherheit garantiert. Dabei mag vielfach ein patriarchalisches Verhältnis zum Firmenchef mit eine Rolle gespielt haben56, wichtig war jedoch wohl zumindest auf Dauer die Arbeitsmarktsituation und der Konkurrenzkampf in der Industrie. Eine Fachkraft, die die Stelle wechselte, schwächte nicht nur das eigene Unternehmen, sondern stärkte auch die Konkurrenz. U m dies zu verhindern, reagierten die 163

Unternehmen bei ihren Führungskräften i. d. R. mit Zuckerbrot und Peitsche: D e m Zuckerbrot der hohen Löhne, Tantiemen, Gewinnbeteiligungen, der Arbeitsplatzsicherheit sowie der teilweise günstigen Arbeitszeit und der Peitsche rigider Arbeitsverträge, die es dem Ingenieur bei hoher Strafe verboten, während einer Reihe von Jahren nach der Kündigung bei einer Konkurrenzfirma zu arbeiten bzw. sich selbständig zu machen 57 Aus solchen Verträgen geht dann auch indirekt hervor, daß die Unternehmen den Kapital wert entsprechenden Wissens u. U . mit mehreren 10000 Mark bewerteten 58 . Die Ingenieure selbst waren sich ihrer Bedeutung für die Unternehmen meist sehr wohl bewußt und versuchten, ihre Stellung systematisch auszubauen. Z u diesem Zweck bemühten sie sich häufig, ihr Wissen weitgehend für sich zu behalten und auch denjenigen, die sie ausbilden sollten, m ö g lichst wenig beizubringen 59 Diese Monopolisierung von Wissen stärkte sicherlich ihre eigene Stellung, führte insgesamt jedoch eher zu einer Behinderung des technischen Fortschritts. Nach etwa 1850 gelang diese Monopolisierung jedoch immer weniger und das Problem verschob sich: Jetzt bildete die Frage, wem die entsprechenden Erfindungen bzw. Patente »gehörten« - dem Unternehmen oder dem Ingenieur - eine Quelle steten Streits. N u r wenige Unternehmen, wie ζ. B. Siemens, gelang es offenbar, durch hohe Honorierung von Erfindungen, solche Auseinandersetzungen zu vermeiden 60 . Eine andere Möglichkeit, entsprechende Schwierigkeiten zu vermeiden, bestand darin, Spitzenpositionen mit Verwandten zu besetzen. Scholl beschreibt dies für die Gute-Hoffnung-Hütte und Krupp 61 . Nach etwa 1850, mit den steigenden Anforderungen an Anzahl und Qualifikation der Ingenieure, bestand auch diese Möglichkeit kaum noch, und man mußte sich mehr und mehr auf Reglementierung und Bürokratisierung des Arbeitsablaufes verlassen. Bis Ende des Jahrhunderts blieb jedoch zumindest den leitenden Ingenieuren und Werkmeistern ein erhebliches Maß an Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit, das bis zu einem sogenannten »Zwischenmeistersystem« führen konnte: Dabei stellte das Unternehmen dem technischen Leiter einer Abteilung, Rohstoffe, Arbeitsräume und Maschinen und übertrug ihm bestimmte Aufgaben, die er weitgehend selbständig und auf eigene Rechnung erledigen konnte. Die Einstellung der Arbeitskräfte, die Arbeitsorganisation sowie die Entlohnung wurden voll dem Subunternehmer überlassen, selbst über die Preise der Produktion konnte er häufig mit der Unternehmensleitung verhandeln. A u f diese Weise hatte der Subunternehmer meist ein sehr hohes Einkommen und eine erhebliche Macht, was der Unternehmensleitung zwar meist nicht behagte, wogegen sie jedoch wegen des Mangels an entsprechend qualifizierten Fachkräften lange Zeit praktisch machtlos war. Bis in die neunziger Jahre hat es dieses Zwischenmeistersystem in den meisten großen Maschinenfabriken gegeben 62 . 164

Die hohe Arbeitsplatzsicherheit und die gute Entlohnung für Fachkräfte fand ihre Ergänzung in den guten Aufstiegsmöglichkeiten im Unternehmen63. Dies führte zu einer relativ geringen Fluktuation der Arbeitskräfte, allerdings handelte es sich i. d. R. allein um vertikale Mobilität, denn selbst bei großen Unternehmen gab es kaum einen internen Arbeitsmarkt auf horizontaler Ebene64. Bei einem solchen Aufstieg - ebenso wie bei der Bezahlung - spielten dann, soweit man dies rekonstruieren kann, nicht formale (Zusatz-)Qualifikationen die entscheidende Rolle, sondern Kenntnis der Produktionsverfahren, Betriebstreue und Loyalität65. Gegen Ende des Jahrhunderts nahm dann jedoch - wie gezeigt wurde die Bedeutung formaler Qualifikation ständig zu66, und auch die Mobilität der Ingenieure wuchs, allerdings hauptsächlich bei den studierten Ingenieuren, die sich aufgrund einer breiteren und zunächst wenig spezialisierten Ausbildung schneller als die Empiriker-Ingenieure an einem neuen Arbeitsplatz einarbeiten konnten und die Möglichkeit des Stellenwechsels zur Verbesserung ihrer beruflichen Situation gezielt nutzten 67 . Trotz der hohen Konjunkturanfälligkeit des Arbeitsmarktes für Techniker (s. o.) war diese Gruppe ihrer größeren Flexibilität wegen weniger von Arbeitslosigkeit bedroht 68 . Versucht man einmal in groben Zügen die Entwicklung des Arbeitsmarktes zusammenfassend nachzuzeichnen, so lassen sich zwei Einschnitte feststellen: Zunächst einmal kann man erst ab etwa 1850 von einem eigentlichen Arbeitsmarkt - wenn auch zunächst eher in Ansätzen sprechen. Dies hing zusammen einmal mit der expandierenden Produktion, die nicht mehr einzelne »Bastler« und »Tüftler«, sondern eine größere Anzahl einheitlich qualifizierter Ingenieure zur Voraussetzung hatte, zum anderen auch mit dem sich dazu parallel entwickelnden technischen Hochschulsystem. Der Einschnitt von 1850 war jedoch wenig kraß und markierte eher eine allmähliche Wende. Ganz anders der Einschnitt zur Jahrhundertwende: Sowohl an der Bezahlung, als auch an den Studentenzahlen an Technischen Hochschulen, der Zahl der beschäftigten Ingenieure, den Möglichkeiten des innerbetrieblichen Aufstiegs und der allgemeinen betrieblichen Bürokratisierung ist die plötzliche, aber dennoch dauerhafte Verschlechterung der Arbeitsmarktlage für Techniker ablesbar.

4. Der Arbeitsmarkt 1888/89 Leider war es nicht möglich, die oben gemachten Aussagen systematisch anhand von Stellenanzeigen aus technischen Zeitschriften über einen längeren Zeitraum hin zu überprüfen bzw. besser zu belegen. Ganz abgesehen von der sicherlich schwer zu beantwortenden Frage, welche Zeitschrift(en) in diesem Zusammenhang als »typisch« anzusehen sind, stellte sich ein 165

solches Vorhaben als undurchführbar heraus, da technische Zeitschriften aus dieser Zeit zwar noch Vorhanden sind, man jedoch - zumindest in den besuchten Bibliotheken - die Seiten mit »Reklame« aus Platzgründen daraus entfernt und vernichtet hat. So war nur eine »Momentaufnahme« des Arbeitsmarktes für ein halbes Jahr möglich, wobei natürlich konjunkturelle und saisonale Besonderheiten eine Rolle spielen können. Ermöglicht wurde diese Momentaufnahme dadurch, daß die Zeitschrift »Polytechnikum«, diejedoch nur von September 1888 bis März 1889 erschien, die Stellenanzeigen in ihrem redaktionellen Teil untergebracht hatte. Da sie zudem nicht nur eigene Anzeigen veröffentlichte, sondern auch auf alle entsprechende Anzeigen in anderen Zeitungen und Zeitschriften hinwies, dürfte es sich im folgenden - wenn auch nur für einen relativ kurzen Zeitraum - um eine Totalerhebung handeln. In Tabelle 3a bis 3d sind die Ergebnisse der Auswertung dieser insgesamt 1333 Stellenanzeigen wiedergegeben. Unterschieden wurde in den Tabellen zunächst einmal zwischen Branchen bzw. Berufen, wobei die jeweilige Zuordnung wenig Probleme bereitete69 Diese vertikale Gliederung wurde bei allen Tabellen beibehalten. In Tabelle 3a, in der jede Anzeige (und nur einmal!) verzeichnet ist, geht es um die geforderte Vorbildung der gesuchten Fachkräfte. Hier tauchten jedoch einige Zuordnungsprobleme auf: Fünfmal wurde eindeutig Promotion bzw. universitäre Vorbildung gefordert. Häufig war jedoch nur von »akademischer Bildung« die Rede. In diesen Fällen wurde unterstellt, daß damit eine Technische Hochschule gemeint war, was im überwiegenden Teil der Fälle auch richtig sein dürfte. Bei der Chemie ζ. B. (3 Fälle) könnte jedoch auch die Universität gemeint sein. Die größte Zuordnungsschwierigkeit war jedoch bei Fachschule etc. (hier wurde auch Handwerkslehre vermerkt) gegeben. War in den Ausschreibungen von Technikern, (Regierungs-)Baumeistern oder Bauführern die Rede, so wurden sie hier gezählt, was sicherlich nicht immer richtig ist, da »Techniker« j a keine geschützte Berufsbezeichnung war. Diese Spalte dürfte daher relativ viele Falschzählungen enthalten und muß entsprechend vorsichtig interpretiert werden. War in der Ausschreibung nur von »praktischer Erfahrung« o. ä. die Rede (ζ. B. »Ingenieur mit praktischer Erfahrung im Eisenbahnbau«), so wurde sie als »Vorbildung« in Spalte 4 vermerkt. Die relativ häufige stereotype Forderung »theoretisch und praktisch gebildet« wurde als geforderte Vorbildung in Spalte 5 verzeichnet (ζ. B. »Betriebsführer, theoret. und prakt. gebildet, gesetzten Alters, mit prakt. Kenntn. im Lokomotivbau f. mittl. Masch. Fabr. mit Lebensl. und Gehaltsanspr. an .«). Spalte 5 schließlich gibt alle die Fälle an, in denen eine besondere Vorbildung nicht gefordert ist bzw. unklare Angaben gemacht wurden (z.B. »Betriebsingenieur, erf. und schneidig, J . M. Voit Maschinenfabrik«). 166

Auch unter Berücksichtigung der genannten Schwierigkeiten und Unsicherheiten läßt sich aus Tabelle 3a einiges ablesen: Zunächst einmal fällt auf, daß es sich bei rund 40% der gesuchten Techniker um solche des Bausektors handelt, also um einen Sektor, der durch die industrielle Revolution vergleichsweise wenig berührt wurde und daher in entsprechenden Untersuchungen über das 19. Jahrhundert - auch in den obigen Ausführungen! meist nur wenig beachtet wird. Dies mag unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen und technischen Wandels berechtigt sein, allerdings nur dann, wenn man sich diesen Einschränkungen bewußt ist. Der Sektor, für den ansonsten die meisten Techniker gesucht wurden, war mit 440 der Maschinenbau. Im Maschinenbau wurden - mit Ausnahme des Sonderfalls Schule/Hochschule - auch relativ die meisten Hochschulabsolventen (= 12%) gesucht und »Praktische Erfahrung« (= 44%) Tabelle 3: Arbeitsmarkt für Techniker 1888/89 a) geforderte Branche/ Beruf/ Fach

Vorbildung Univer- Techn. Hochsität schule

Straßen Brücken Wasserbau

Fachschule etc.

Praktische Erfahr.

Theoretisch u. praktisch gebildet

Ohne Angabe unklar 33

8

21

14

5

Hochbau

17

276

9

12

Architekt

17

2

15

4

1

Eisenbahn

4

15

3

Gasanstalt

3

3

2

Schule/ Hochschule

1

Vermessung

1

Maschinenbau Stahl/ Gießerei Walzwerk

4

20

334

124

143

11

35

13

35

2

15

17

37

5

6

56

192

37

102

440

3

5

4

5

11

28

5

2

9

4

20

3

2

72

1

51

133

6

3

17

26

415

303

410

1333

Sonstige 5

81

53

Elektrotechnik

Summe

5

20

Bergbau

Chemie

3

Summe

123

77

Quelle: Polytechnikum. Volkswirtschaftliche Wochenschrift für die deutschen Techniker im Staatsdienst und Gewerbe. Nr. 1-26, Sept. 1988 bis März 1889.

167

war eine nirgends sonst so häufig geforderte Vorbildung. Gesucht wurden hier eindeutig sowohl theoretisch ausgebildete als auch praktisch erfahrene Fachkräfte. Die Anzeigentexte sind ausfuhrlich, nur in weniger als einem Viertel der Fälle wurden keine klaren Angaben gemacht. Von den übrigen Sektoren soll nur noch besonders auf die Chemie als einem relativ jungen Sektor verwiesen werden mit seinem großen Anteil von Akademikern bzw. praktisch erfahrenen Fachkräften. In Tabelle 3b wurde vermerkt, wenn - zur Vorbildung - zusätzliche Qualifikationen gefordert wurden. Dies war in 854, also 64% der Anzeigen der Fall70, wobei sich in einem Fall Überschneidungen mit Tabelle 3a ergaben: Waren dort »Praktische Erfahrungen« als Vorbildung gefordert, so erscheinen diese meist auch unter »Spezieller Berufserfahrung« in Tabelle 3b (z.B.: »Konstrukteur, in Abrechnungsarbeiten geübt«). Einige geforderte Qualifikationen wurde in der Tabelle nicht berücksichtigt (ζ. B.: »repräsentables Äußeres; soll Kundschaft bereisen«). b) geforderte

Qualifikation

Qualifi- Leitung \ kation eines Branchc/ UnterBeruf/ \ nehmens Fach N.

allgemeine Berufserfahrung

spezielle »flotter FremdBerufserfahrung Zeichner«/ sprache Summe oder FachZeichner kenntnisse

Straßen/ Brücken/ Wasserbau

3

3

19

10

4

39

Hochbau

6

8

80

70

1

165

Architekt

5

25

77

1

108

Schule/ Hochschule

3

3

1

1

8

1

6

5

13

1

3

1

5

7

1

8

Eisenbahn

1

Gasanstalt Vermessung Bergbau Maschinenbau

43

Stahl/Gießerei Walzwerk

3

Elektrotechnik Chemie

24

Sonstige

3

Summe

84

168

1

1 11

232

42

9

2

1

3

17

345 14

5

7

1

13

3

90

4

121

6

3

12

33

854

40

488

209

Ein Vergleich der Summenspalten in Tabelle 3a und 3b zeigt zunächst einmal starke sektorale Unterschiede: Während beim Hochbau nur in knapp der Hälfte der Anzeigen besondere Qualifikationen gefordert wurden, waren es beim Maschinenbau 78% und bei der Chemie sogar 91%. In den letzten beiden Sektoren wurden also sehr spezifische Fähigkeiten und Kenntnisse nachgefragt. In dieses Bild fugt sich auch die Tatsache, daß der Posten eines Unternehmens-Leiters fast nur hier ausgeschrieben wurde. Offensichtlich war es beim Maschinenbau und bei der Chemie nicht ohne weiteres möglich, dazu geeignete Personen aus dem Unternehmen selbst oder aus der überschaubaren Umgebung zu gewinnen. Man mußte auf den Arbeitsmarkt gehen. Bei der Qualifikation »flotter Zeichner« (Originalformulierung) fällt auf, daß sie keineswegs nur für den Bausektor verlangt wird. Fremdsprachenkenntnisse werden immerhin in 33 Fällen gefordert (davon neunmal

Hochbau

1

3

17

16

9

5

3000-3500

2

2500-3000

2

2250-2500

1

2000-2250

1

1750-2000

1

1500-1750

1

1250-1500

Straßen Brücken Wasserbau

1000-1250

Gehalt: von - bis \unten Branche N. Beruf Fach N^

750-100«

c) Gehalt

| 8

iT>

i in f>

Summe

3

Architekt Schule/ Hochschule

1

Eisenbahn

3

Gasanstalt

1

2

3

2

3

4

4

1

1

1

1

2

4

1

6 1

2

10 7

1

2

1

3

2

9

Bergbau

0

Maschinenbau

2

2

2

1

2

2

2

Stahl/Gießerei Walzwerk

13 0

Elektrotechnik Chemie

3

2

2

1

1

2

9

Sonstige Summe

15 63

2

1 4

Vermessung

1

0 2

12

27

27

14

14

10

10

10

7

3

136

169

für einen Arbeitsplatz i m Ausland), darunter 17mal allein i m Maschinenbau, was als ein Indiz für die zu dieser Zeit schon internationale Orientier u n g dieses Sektors angesehen werden könnte. In Tabelle 3c sind 136 Fälle angegeben, in denen i m Ausschreibungstext Aussagen über das Gehalt gemacht wurden. Diese Aussagen finden sich weit überwiegend nur dann, w e n n der Staat Arbeitgeber ist (vor allem im Hochbau) u n d daher dürfen die in dieser Tabelle genannten Gehälter keineswegs als typisch angesehen werden. Vor allem bei Spitzenpositionen w u r d e n zunächst v o m Bewerber Gehaltsvorschläge erwartet, und auch die relativ häufige E r w ä h n u n g von Gewinnbeteiligung ist eher als ein allgemeines Indiz für hohen Lohn anzusehen (ζ. B.: »Betriebs-Ingenieur, tücht. energ. f ü r Masch. Fabr. in Berlin, Gehalt und Gewinnanteil. Mit Zeugn., Anspr. u. Photogr.«, diese Anzeige w u r d e nur in Tab. 3a, Spalte 6 vermerkt). Z u r B e s t i m m u n g von Gehältern bzw. E i n k o m m e n scheinen also Stellenanzeigen wenig günstig zu sein. Tabelle 3d zeigt schließlich, daß 63 Techniker für das Ausland gesucht wurden, vor allem für Österreich, die Schweiz und England. Die in dieser Hinsicht mit Abstand am stärksten auslandsorientierten Sektoren waren wieder der Maschinenbau und die Chemie. Gesucht wurden meist h o c h qualifizierte Kräfte (ζ. B. »Direktor, erf. u. in allgem. Maschinenbau durchaus tücht. für Masch. Fabr. in Russisch-Polen.« Diese Anzeige w u r d e folgendermaßen aufgeführt: Tabelle 3a, vierte Spalte; 3b, erste Spalte; 3d Polen). A u f g r u n d der nur kurzen Interpretation der Tabellen scheint eine zusammenfassende Darstellung wenig sinnvoll. Allgemein kann nur gesagt w e r den, daß es 1888/89 schon einen recht großen u n d ausdifferenzierten Arbeitsmarkt für Techniker gab. Formale Qualifikationen wurden häufig verlangt, praktische Erfahrungen waren jedoch selbst für Führungspositionen i. d. R. wichtiger. V o r allem die Maschinenbauindustrie und die Chemie beschränkten ihre Tätigkeiten keineswegs nur auf Deutschland. Allerdings m u ß m a n sich bei heutigen Untersuchungen darüber i m Klaren sein, daß im Selbstverständnis der damaligen Zeit Techniker und Ingenieure nicht nur in den »neuen« Industrien arbeiteten, sondern zu ihnen auch Fachkräfte des - quantitativ sehr bedeutenden - Bausektors gehörten.

Zusammenfassung Abgesehen von diesem »Sonderfall« des Bausektors entwickelte sich erst mit der Industriellen Revolution ein Bedürfnis nach einer wachsenden Zahl technischer Fachkräfte, das sich auch in entsprechender Nachfrage äußerte. Natürlich handelt es sich bei den »Technikern« u m eine G r u p p e mit branchenspezifischen Besonderheiten, insgesamt läßt sich jedoch ein gro170

1

2

Summe

Sumatra

Mexiko

Chile

Argentinien

Rußland

Bolivien

Deutsch-Österr.

Bulgarien

Polen

Böhmen

Griechenland

1

Ungarn

Schweiz

Italien

Dänemark

Niederlande

Straßen Brücken Wasserbau

Belgien

Frankreich

\L,ind Branchc\ Beruf/ \ Fach \

England

d) Stellenangebote for das Ausland

4

Hochbau

2

1

3

Architekt

3

3

6

Schule/ Hochschule

1

1

Eisenbahn

2

2

3

5

Gasanstalt Vermessung

3

3

Bergbau Maschinenbau

3 3

1

1

1

2

2

1

3

1 1

2

2

4

1

20

Stahl/Gießerei Walzwerk Elektrotechnik Chemie

1 2

1

Sonstige Summe

2

3

1 6

1

1

2

1

8

4

3

3

1

7

1

1

2

8

3

11 1

5

1

3

1

4

2

4 1

63

ßer Mangel entsprechender Fachkräfte feststellen, vor allem zu Beginn der Industrialisierung. Dies läßt sich ablesen an den vielen ausländischen Technikern und den sehr hohen Einkommen. Während in dieser Phase der Industrialisierung die Qualifizierung am Arbeitsplatz die weitaus größere Rolle spielte, nahm ab etwa 1870 die Zahl der akademisch Ausgebildeten stark zu. Da diese auch über wesentlich breitere theoretische Kenntnisse verfugten und sich von daher schneller in neue Aufgabenbereiche einarbeiten könnten, nahm auch von dieser Zeit an die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt stark zu. Zu einem Struktureinbruch kam es um die Jahrhundertwende: Trotz Wirtschaftswachstum und fortschreitender Industrialisierung ging die Nachfrage nach technischen Fachkräften tendenziell stark zurück, wahrscheinlich wegen der zunehmenden großindustriellen Produktionsweise. 171

Anmerkungen

1 Vgl. hierzu den einleitenden Beitrag v o n T . Pierenkemper. 2 Vgl. K. Hansen, R. Rürup, N a t u r w i s s e n s c h a f t u n d Technik. In: dies. (Hg.): M o d e r n e Technikgeschichte. K ö l n 1975, S. 68. A u c h : R. M . Hartwell, Technik u n d industrielle Revolution, ebenda S. 125 ff. 3 Vgl. z . B . L. V Scholl, Ingenieure in der Frühindustriealisierung. Göttingen 1978, S. 401. 4 J. Koka, U n t e r n e h m e n s v e r w a l t u n g u n d Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Stuttgart 1968, S. 95. Die in diesem Z u s a m m e n h a n g häufig vorgebrachte These, daß das Wachsen der Zahl der Angestellten seinen G r u n d h a b e in der sektoralen Verschiebung der P r o d u k t i o n s s t r u k t u r (hin z u m tertiären Sektor) ist j e d o c h f u r die technischen Angestellten nicht aufrechtzuerhalten, da sie definitionsgemäß direkt in der P r o d u k t i o n tätig waren. Z u r »Drei-Sektoren-Hypothese« allgemein: T . Pierenkemper: D e r Arbeitsmarkt f ü r Angestellte i m Jahre 1880 in diesem Band 5 Vgl. z . B . : J. Becker, V o n der Bauakademie zur Technischen Universität. 150 Jahre Technisches U n t e r r i c h t s w e s e n in Berlin. B e r l i n - C h a r l o t t e n b u r g 1949, S. 7. 6 Dies gilt nicht n u r f ü r Frankreich, s o n d e r n auch für Deutschland. So w u r d e die polytechnische Schule in Karlsruhe, die bis weit in die zweite Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s hinein die bedeutendste Technische Hochschule Deutschlands war, v o m O b e r s t Tulla g e g r ü n d e t , der seinerseits selbst die ecole polytechnique besucht hatte. Vgl. W . Lexis (Hg.), D a s U n t e r r i c h t s w e s e n im D e u t s c h e n Reich, IV Band. Das technische Unterrichtswesen. 1. Teil, Die Technischen Hochschulen. Berlin 1904, S. 10. 7 Vgl. J . Kocka, S. 180f.; Scholl, S. 52ff. 8 Vgl. H . v. Laer, Industrialisierung u n d Qualität der Arbeit. Eine b i l d u n g s ö k o n o m i s c h e U n t e r s u c h u n g f ü r das 19. J a h r h u n d e r t . N e w Y o r k 1977, S. 154ff. 9 Vgl. F. Büchner, H u n d e r t J a h r e Geschichte der M A N . F r a n k f u r t a. M . , 1940, S. 61. 10 Scholl, S. 320 u. 322. 11 W . Däbritz u. E . Metzeltin, H u n d e r t J a h r e H a n o m a g . Geschichte der H a n n o v e r s c h e n Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft, vormals G e o r g Egestorff in H a n n o v e r . 1835-1935. D ü s seldorf 1935. S. 15. 12 C . Wischermann, V o m H e i m g e w e r b e zur Fabrik. Industrialisierung u n d Aufstieg der N o r d h o r n e r Textilindustrie im 19. J a h r h u n d e r t u n d 20. J a h r h u n d e r t . In: C . v. L o o z - C o r s w a r e m (Hg.); N o r d h o r n . Beiträge zur 600jährigen Stadtgeschichte. N o r d h o r n 1979, S. 195 u. 197. 13 Scholl, S. 377. 14 C . Matschoss, Preußens G e w e r b e f ö r d e r u n g u n d ihre g r o ß e n M ä n n e r . Dargestellt i m R a h m e n der Geschichte des Vereins zur B e f ö r d e r u n g des Gewerbeflusses 1821-1921. Berlin 1921, S. 29. Die Zahl der Beispiele ließe sich auch noch erweitern. Vgl. z . B . O . Satorius: 75 J a h r e Bielefelder Aktiengesellschaft für mechanische Weberei. 1864-1939. Bielefeld 1939, S. 4 4 f f . u. a. 15 C . Matschoss, G r o ß e Ingenieure. Lebensbeschreibungen aus der Geschichte der T e c h n i k . 16 Scholl, S. 338; 364f. 17 E b d . , S. 321 f., 3 2 7 f „ 331ff. 18 E b d . , S. 375f., 394. 19 Allerdings gilt dies natürlich nicht ausnahmslos, es gab natürlich Branchen, in denen auch qualifizierte Fachkräfte n u r schwer eine Stelle erhielten, weil in ihnen weniger technisches Wissen als vielmehr investierbares Kapital der E n g p a ß f a k t o r war. Dies gilt v o r allem f ü r die Textilindustrie, bei der M i t t e des J a h r h u n d e r t s »Kenntnisse o h n e Kapital« w e n i g w e r t w a r e n . Vgl. hierzu: P. Lundgreen, Techniker in Preußen w ä h r e n d der f r ü h e n Industrialisier u n g . Berlin 1975, S. 230 ff. 20 Vgl. A. Schröter, Die E n t s t e h u n g der deutschen Maschinenbauindustrie in der ersten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s . In: A. Schrötern. W . Becker. Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution. Berlin 1962, S. 69.

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21 G. Schulz, Die Arbeiter u n d Angestellten bei Feiten & Guilleaume. Wiesbaden 1979, S. 212. 22 J. Kocka, S. 265. 23 G. Scholl, S. 338 f. 24 W . Mühlfiiedel, Die Geschichte des Eisenhüttenwesens in Westdeutschland v o n 1870 bis 1900. Leipzig 1970, S. 35f. 25 J. Kocka, S. 274. 26 So taucht ζ. B. zumindest f u r das J a h r 1856 auch das P r o b l e m auf, ob es sich bei den Ingenieuren u n d C h e m i k e r n i m m e r u m Technische Angestellte handelt, wie in der Tabelle unterstellt w u r d e - d. h. ob »Ingenieure« i m m e r eine Beschreibung für die Position in der Betriebshierarchie w a r - oder ob es sich vielleicht eher u m eine Tätigkeitsbeschreibung handelte, so daß u. U . ein Teil derjenigen, die sich als »Ingenieur« bezeichneten, leitende Angestellte o d e r auch selbständige U n t e r n e h m e r waren. Allerdings kann dieser Fehler in der Tabelle nicht allzu g r o ß sein, da in den meisten Fällen (und im Zeitablauf z u n e h m e n d ) die Position in der Betriebshierarchie mit angegeben w u r d e . 27 Vgl. ζ. B. G. Hardach, Technik u n d Industriearbeit. In: K. Hansen u. R. Rürup (Hrsg.) M o d e r n e Technikgeschichte. Köln 1975. S. 254. 28 Vgl. z . B . G. Schulz, S. 213; L. U . Scholl, S. 329, S. 374; S. 395; S. 338fr.; S. 363. V o n K r u p p w i r d sogar berichtet, daß er auf eigene Kosten Ingenieure theoretisch ausbilden ließ, vgl. L. U . Scholl, S. 334; 362. J e später die jeweilige Industrie sich entwickelte, desto später k a m es natürlich auch zu diesem Einschnitt, den Kocka ζ. B. für die Elektroindustrie erst in den 90er J a h r e n beschreibt. Vgl. J. Kocka, S. 343. Die verstärkte H i n w e n d u n g zu wissenschaftlicher B i l d u n g bedeutet aber keineswegs, daß praktische E r f a h r u n g überflüssig w u r d e . Im ganzen U n t e r s u c h u n g s z e i t r a u m bleibt sie v o n hoher Wichtigkeit, wie noch gezeigt w i r d . Ein A k a d e m i k e r - M o n o p o l gab es nicht. 29 Vgl. auch W . Mühlfiiedel, S. 29. 30 D e m e n t s p r e c h e n d m u ß t e ein »studierter« Ingenieur dieser Zeit w e n n er in die Praxis k a m , in der Regel auch ganz unten in der Betriebshierarchie anfangen u n d hatte gegenüber seinen Praktiker-Kollegen k a u m bessere Aufstiegschancen. Vgl. C . Malschoss, G r o ß e Ingenieure, S. 282. D e n n o c h arbeitet der g r ö ß t e Teil der Ingenieure nach ihrem S t u d i u m praktisch. Als Beleg d a f ü r kann die Technische Hochschule D a r m s t a d t dienen. Es sind hier seinerzeit die Berufe der 218 Schüler aufgezeichnet w o r d e n , die diese nach i h r e m E x a m e n in den J a h r e n 1836-1843 ergriffen: 11% gingen zur Universität, 3 4 % ins G e w e r b e , 2 0 % in H a n d e l u n d Landwirtschaft u n d 10% ins Bauwesen. Vgl. W . Schlinck, Technische H o c h schule D a r m s t a d t . In: O . Blum u. a.: Die Deutschen Technischen Hochschulen. Ihre G r ü n d u n g u n d geschichtliche E n t w i c k l u n g , M ü n c h e n 1941, S. 126. 31 Für die spätere Zeit vgl. ausführlich: W . Lange, Die Laufbahnen der Techniker im D e u t s c h e n Reich, in den Bundesstaaten, in der Schweiz u n d in Österreich. Band 1, B r e m e n 1899. 32 Vgl. ζ. B. f ü r die Technische Hochschule H a n n o v e r , f ü r die die beruflichen W e r d e g ä n g e aller Hochschullehrer 1831-1931 verzeichnet sind: P. Trommsdorf, D e r Lehrkörper der T e c h n i schen H o c h s c h u l e H a n n o v e r 1831-1931. Herausgegeben mit U n t e r s t ü t z u n g der H a n n o v e r schen Hochschulgemeinschaft: H a n n o v e r 1931. 33 Vgl. ausführlich: P. Gast (Hg.), Die Technische Hochschule zu Aachen 1870-1920. Eine Gedenkschrift. Im A u f t r a g e v o n R e k t o r u n d Senat herausgegeben. S. 5 4 f f . ' Technische H o c h s c h u l e zu Aachen. Denkschrift aus Anlaß der Industrie- u n d GeWerbeausstellung für Rheinland, Westfalen u n d benachbarte Bezirke. Aachen 1902, S. 11 ff. 34 Quellen: Laer, S. 319fT. 35 Dies gilt nicht ganz f ü r die Stockungsphasen 1885-1890 u n d 1893-1897, aber nach Spiethoff handelt es sich hierbei zumindest bei den ersten Stockungsphasen u m die schwächste Stockung ü b e r h a u p t , nach H o f f m a n n w a r es eher eine Expansionsphase. Vgl.: W . G. Hoffmann, D a s W a c h s t u m der Deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s Berlin 1965. N e u e r e U n t e r s u c h u n g e n z u m T h e m a » K o n j u n k t u r i m 19. J a h r h u n d e r t « erlauben es leider nicht, der Frage nach den Ursachen f ü r die S c h w a n k u n g e n v o n Studentenzahlen in

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dieser Hinsicht weiter nachzugehen. So untersucht etwa Spree m i t Hilfe v o n 18 Indikatoren W a c h s t u m s z y k l e n in den wichtigsten Bereichen der deutschen Wirtschaft, o h n e sich j e d o c h auf den A b l a u f der G e s a m t k o n j u n k t u r festzulegen. Vgl.: R. Spree: W a c h s t u m s t r e n d s u n d K o n j u n k t u r z y k l e n in der deutschen Wirtschaft v o n 1820 bis 1913. Quantitativer R a h m e n f ü r eine K o n j u n k t u r g e s c h i c h t e des 19. J a h r h u n d e r t s . Göttingen 1978, vor allem S. 104ff. D a b e i m u ß natürlich zugestanden w e r d e n , daß i m 19. J a h r h u n d e r t die Marktintegration u . U . so gering war, daß m a n legitimer Weise gar nicht v o n gesamtwirtschaftlichen K o n j u n k t u r e n sprechen darf. Borchardt z . B . behauptet dies zumindest f u r die Zeit v o r 1870. Vgl. K. Bernhardt: Wirtschaftliches W a c h s t u m u n d Wechsellagen 1800-1914. In: W . Z o r n (Hg.): H a n d b u c h der deutschen Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 259f. 36 Quelle: Laer, S. 336. 37 Vgl. etwa: R. Jacket, Statistik über die Lage der technischen Privatbeamten in G r o ß Berlin. Berlin 1908. A. Günther, Die deutschen Techniker. Ihre Lebens-, A u s b i l d u n g s - u n d Arbeitsverhältnisse. Leipzig 1912. Einen H i n w e i s f u r den H i n t e r g r u n d dieser Beschäftigung gibt Schulz (S. 122; S. 272). N a c h seinen A n g a b e n n a h m im Carlswerk v o n 1901-1914 die Z a h l der Arbeiter u n d B ü r o b e a m t e n noch rel. stark zu, die Z a h l der Betriebsbeamten hingegen stagnierte. 38 So heißt es z . B . im G r ü n d u n g s a u f r u f der Technikergewerkschaft 1904: »Die Uberfiillung des Standes ist geradezu kraß g e w o r d e n ; das Verhältnis zwischen A n g e b o t u n d N a c h frage ist so e n o r m ungünstig, die Stellenlosigkeit so groß g e w o r d e n daß der Arbeitswert der Techniker schon tief gesunken ist u n d noch weiter sinkt.« Vgl.: B u n d technischer Angestellter u n d B e a m t e r (Hg.): 25 J a h r e Technikergewerkschaft. 10 J a h r e B u n d technischer Angestellter u n d Beamter. Berlin 1929, S. 24. Vgl. auch J. Kocka, S. 271; S. 473; R. Günther, S. 74f.; C . Matschoss, Verein deutscher Ingenieure 1856-1926. Berlin 1926. 39 P. Lundgreen, S. 260f. Allerdings ist das Gehalt v o n 450 M a r k ein negatives E x t r e m , ansonsten w u r d e n mindestens 600 M a r k gezahlt. 40 G. Schulz, S. 142. Vgl. auch S. 144f. S. 302, S. 158f. 41 Vgl. L. U . Scholl, S. 359f. 42 E b d . , S. 334. 43 E b d . S. 395. 44 E b d . S. 348. 45 J. Kocka beschreibt in diesem Z u s a m m e n h a n g den Fall eines leitenden Ingenieurs bei Siemens, dessen Antrag, Teilhaber zu werden, v o n der Firmenleitung z w a r abgelehnt w u r d e , der sich j e d o c h mit vollen Bezügen zur R u h e setzen konnte, ehe er Jahre später dann doch zu einer K o n k u r r e n z f i r m a ging. Vgl. J. Kocka, S. 242f. 46 C . Matschoss, G r o ß e Ingenieure. 44 K. Aschenbrenner, Die H a n n o v e r s c h e Maschinen-Industrie seit ihrer E n t s t e h u n g i m A n f a n g der dreißiger Jahre bis z u m Jahre 1874. Diss. Göttingen 1924. 48 So z . B . : Fritz A s t h ö w e r , Andreas Bauer, T h e o d o r Beck, Reinhold Becker, A u g u s t Borsig, Karl B r o n d a u , Gottlieb Daimler, Ferdinand Decker u. v. a. Vgl. C . Matschoss (Hg.), M ä n n e r der Technik. Ein Biographisches H a n d b u c h . Herausgegeben i m A u f t r a g e des Vereins D e u t s c h e r Ingenieure. Berlin 1925. 49 Vgl. z . B . A. Günther, S. 12. 50 Vgl. z . B . Kocka, S. 265, S. 287. 51 Vgl. L. U . Scholl, S. 359f., S. 395, S. 334. 52 Vgl. allgemein: Günther, S. 115, G. Schulz, S. 146. D e m widerspricht j e d o c h f u r Siemens: J. Kocka, S. 100. 53 Vgl. G. Bry, Wages in G e r m a n y 1871-1945. Princeton 1960, S. 464f.; A. Desai, Real Wages in G e r m a n y 1871-1913. O x f o r t 1968, S. 117. J. Kuczynski, L ö h n e u n d K o n j u n k t u r in Deutschland 1877-1932. Berlin 1933, S. 272. 54 Ähnliches ermittelt auch Kocka fur Siemens: N a c h seinen U n t e r s u c h u n g e n stiegen in den J a h r e n 1903-1912 die L ö h n e der Arbeiter u m 3 5 % , die Gehälter der B e a m t e n j e d o c h n u r u m k n a p p 5 % . J. Kocka, S. 492. U n d in d e m o b e n (Fußnote 36, ebenda) schon e r w ä h n t e n

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G r ü n d u n g s a u f r u f der Technikergewerschaft heißt es im Jahre 1904: »Schon hat der D u r c h schnittsverdienst besserer Arbeiter den der Techniker erreicht u n d übertrifft ihn vielfach.« 55 Vgl. ζ. Β. Κ. H . Manegold, Universität, Technische Hochschule u n d Industrie: Berlin 1970, S. 75ff.; L. U . Scholl, S. 317; R. Krohn, Ü b e r die Berufstätigkeit des Ingenieurs. Danzig 1907, S. 11. 56 So e t w a J . Kocka, S. 102. 57 Vgl. ζ. B. L. U . Scholl, S. 349fT. Solche Verträge hatten natürlich auch eine Disziplinier u n g s f u n k t i o n u n d banden den Ingenieur n o c h enger an seinen Arbeitgeber. 58 M e h r e r e Beispiele hierfür bei L. U . Scholl, N e b e n solchen Arbeitsverträgen kann m a n auch V e r e i n b a r u n g e n ü b e r U n t e r n e h m e n s g r ü n d u n g e n als Beleg fur die h o h e B e w e r t u n g v o n H u m a n k a p i t a l (bzw. technischem Wissen) betrachten: So gründeten z . B . im Jahre 1864 August O t t o (der spätere Erfinder des O t t o - M o t o r s ) u n d E u g e n Langen in Köln eine Fabrik. Langen stellte 10000 Taler Kapital zur V e r f ü g u n g , O t t o dagegen brachte seine Kenntnisse u n d seine Patente in das U n t e r n e h m e n ein. D e r G e w i n n sollte dann in den ersten f ü n f Jahren zu 3 / 5 O t t o u n d zu 2/5 Langen zufallen, nach f ü n f Jahren sollten beide jeweils die Hälfte erhalten. N a c h diesem Vertrag w u r d e also das H u m a n k a p i t a l O t t o s mit 15000 Talern bewertet. Vgl. C . Matschoss: Geschichte der G a s m o t o r e n - T e c h n i k Deutz. Berlin 1921. S. 10ff.; S. 20. 59 Vgl. z . B . L. U . Scholl, S. 326f. Als ein krasses Beispiel aus früherer Zeit vgl. F. L. Hinz. Die Geschichte der W o c k l u m e r Eisenhütte 1758-1867. Balve 1977, S. 41 f. 60 Vgl. J. Kocka, S. 238f. ein Beispiel fur entsprechende Auseinandersetzungen bringt Lundgreen, S. 268. 61 L. U . Scholl, S. 329, S. 337. 62 Vgl. Η Reichelt: Die Arbeitsverhältnisse in einem Berliner Großbetrieb der Maschinenindustrie. Berlin 1906, S. 43ff.; E. Günther, Die E n t l ö h n u n g s m e t h o d e n in der bayrischen Eisen- u n d Maschinenindustrie. Berlin 1908, S. 42ff. 63 Z . B . G. Schulz, S. 213. 64 E b d . , S. 164f.; S. 274. 65 E b d . S. 213; J. Kocka, S. 109. 66 Dies galt natürlich nicht gleichermaßen u n d zu gleicher Zeit f ü r alle Industriezweige. So w i r d n o c h A n f a n g des 20. J a h r h u n d e r t s v o n der Zuckerindustrie (vgl. T . Schuchart, Die volkswirtschaftliche B e d e u t u n g der technischen E n t w i c k l u n g der deutschen Zuckerindustrie. Leipzig 1908, S. 167) berichtet, daß zumindest die U n t e r b e a m t e n d u r c h w e g v o m Facharbeiter aufstiegen. 67 Vgl.: C . Matschoss, Ein J a h r h u n d e r t Deutscher Maschinenbau. V o n der mechanischen Werkstätte bis zur Deutschen Maschinenfabrik 1819-1919. Berlin 1919, S. 103 f. Auch: L. U . Scholl, S. 390, S. 3 1 8 f f . ; J . Kocka, S. 274fT. 68 Vgl. z . B . G. Schulz, S. 122, S. 166; J. Kocka, S. 271 fT. 69 Bei den »Sonstigen«, die nicht zugeordnet w e r d e n k o n n t e n , handelt es sich u m : Fabrik f ü r Knochenpräparate; Ziegelei, Brauerei, Patentamt, T o n w a r e n f a b r i k ; Seidenweberei; T e c h nische V e r w a l t u n g ; Kupfertechniker. 70 A u c h hier w u r d e n keine Doppelzählungen v o r g e n o m m e n , jede Anzeige erscheint also in Tabelle 3b höchstens einmal.

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A L F LÜDTKE

Kommentar zu Hermann von Laer: Der Arbeitsmarkt für Techniker in Deutschland. Von der industriellen Refolution bis zum 1. Weltkrieg Das Papier wirft eine Reihe von Fragen auf. Ich möchte sie in sechs Punkten diskutieren. 1. Unterstellt wird ein Zusammenhang von »Beruf«, »Berufsstand« und »Arbeitsmarkt«; dabei vernachlässigt v. Laer ihre Unterschiede. Dies tritt hervor bei der Argumentation mit den Berufsangaben im VDI (Tab. 1). Der Verfasser zeigt, daß sich die Mitglieder seit den späten 1860er bzw. frühen 1870er Jahren zunehmend, schließlich überwiegend als »Ingenieur« und nicht mehr mit der konkreten Tätigkeitsbeziehung eintragen ließen. Diese Veränderung signalisiert freilich zunächst nur einen Wandel der Selbsteinschätzung bei den Betroffenen. Laer nimmt diese Angabe jedoch darüber hinaus als »Indiz für die Professionalisierungstendenzen« (S. 158). Professionalisierung ist zu diskutieren im Zusammenhang von Berufsentstehung und -entwicklung. Beruf meint dabei ein gesellschaftlich zugeschriebenes Tätigkeitsmuster, das Identifikation gleichermaßen erfordert wie erlaubt. Es leistet zweierlei: die Zeitperspektive der Berufsausübenden langfristig zu regulieren und die »Sinnhaftigkeit« ihrer momentanen Tätigkeit zu vermitteln 1 . Als Besonderheit von Beruf kann somit gelten, daß er die Hinnahme von Zumutungen aus der Produktions- und Arbeitsorganisation unmittelbar verschränkt mit subjektiven Sinngebungen. In dem zitierten Zusammenhang bleiben jedoch die in dieser Perspektive eigentlich immer enthaltenen Entwicklungen in den Produktionsverhältnissen — sofern sie sich »hinter dem Rücken der Akteure« vollziehen — ganz aus dem Blick. Gleichfalls problematisch ist es, von der beruflichen Selbsteinschätzung auf Veränderungen der Angebots- und Nachfragerelationen auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. Hier gilt dasselbe Argument: Berufsbezeichnung in einem Verband können den subjektiv gemeinten Sinn der Beteiligten signalisieren; in diesem Zusammenhang mögen sie auf Versuche verweisen, die eigene Position am Arbeitsmarkt zu verbessern. Marktverhältnisse unterliegen sicherlich, wie alle sozialen Phänomene, der »doppelten Konstitution von Wirklichkeit« (Lothar Hack)2. Gleichwohl sind subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung, ist »Konstitution« weder mit der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse noch mit der Dimension marktförmiger Angebots- bzw. Nachfragerelationen identisch. Die Selbsteinschätzungen sind ein notwendiges, wenngleich kein ausreichendes Element, um Arbeitsmarktbeziehungen zu analysieren. Immerhin eröffnen sie den Blick auf die subjektiv-bedeutsame Seite von sozialer 176

Ungleichheit und Hierarchie. Die Verknüpfung von Arbeitsmarktentwicklungen und Statussicherung oder -Verbesserung läßt sich an einem Beispiel vertiefen. Gemeint ist die Auseinandersetzung um die RheinischWestfälische Hüttenschule (in Bochum, ab 1892 Duisburg), wie sie seit den späten 1880er Jahren in und zwischen schwerindustriellen Großbetrieben sowie der Hüttenschule zu beobachten ist3. Hier geht es vor allem darum, daß eine ausgelagerte und staatlich tolerierte bzw. begünstigte Facharbeiter· und Meisterausbildung die Absolventen offenbar motivierte, innerbetrieblichen Aufstieg anzustreben. An der Hüttenschule ausgebildete Facharbeiter und Meister versuchten Zumindestens in der Gute-HoffnungsHütte (Oberhausen), Obermeister- bzw. Technikerposten zu erlangen. Hier intervenierte insbesondere der Vorstandsvorsitzende, der Hütteningenieur Carl Lueg. Dieser akademisch ausgebildete Manager sah - durchaus in Übereinstimmung mit Kollegen in anderen Unternehmen - das selbstverständliche Funktionieren der betrieblichen Hierarchie gefährdet. Zu beachten bleibt, daß dieser Fall in der Schwerindustrie zu beobachten ist. Die hier erkennbare soziale Verhaltensorientierung ist vermutlich nicht deckungsgleich mit der von (leitenden) Technikern und Managern in den verarbeitenden Industrien bzw. den stärker exportorientierten Gewerben. Dennoch verweist gerade dieses Beispiel auf eine zweite Dimension der Selbsteinschätzung: Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang des Kaiserreichs sind Statusbegrenzung und soziale Abschließung des Bildungs-, Verwaltungs-, vor allem auch des Wirtschaftsbürgertums charakteristische Grundzüge. Mit dem Stichwort von der »Feudalisierung« des Bürgertums wird nur eine Zielrichtung dieses Prozesses erfaßt\ Denn es ging keineswegs um unmittelbare Angleichung an den junkerlichen Adel. Wichtiger waren interne Konkurrenz, weithin letztlich Angleichung innerhalb der Gruppen des höheren Bürgertums - verbunden mit Absicherung und Abgrenzung nach außen bzw. »unten«. Es muß hier offen bleiben, inwieweit die Selbsteinschätzung von Ingenieuren (und flankierende Abwehrund Präventivmaßnahmen, wie gegenüber den Hüttenschul-Absolventen) in erster Linie unter diesem Aspekt zu sehen sind. In jedem Fall ist die Frage nach der Durchschlagskraft von positionalen oder Klassenunterschieden mit dem Verweis auf einen gewissen Anteil von VDI-Mitgliedern, die sich weiterhin nach ihren Tätigkeiten definieren, nicht abschließend geklärt (so aber von Laer). Denn die Tendenz zu einem spezifischen Techniker-Standesbewußtsein ist unverkennbar. Im eben erörterten Zusammenhang läßt es sich sehr wohl als Indiz für ein neuformiertes bürgerliches Klassenbewußtsein begreifen; ungekläft muß hier bleiben, ob es eher defensiv oder offensiv orientiert war 5 . 2. Der zweite Punkt bezieht sich auf die unterstellte Einheit »des« Techniker-Arbeitsmarktes. Laer argumentiert mit der Herausbildung eines einheitlichen Arbeitsmarktes für akademisch gebildete Techniker. Es fragt sich jedoch, ob nicht von vornherein mit mehreren relativ scharf und 177

deutlich voneinander getrennten Arbeitsmarktsegmenten zu operieren wäre. Ein Indikator dafür könnte die Fluktuation bzw. Nichtfluktuation zwischen verschiedenen Branchen sein. So wäre zu klären, ob z.B. vom Landmaschinen- oder Lokomotivenbau auch Wechsel zur Feinmechanik und Optik bzw. umgekehrt zu beobachten sind. In jedem Fall ist eine Sonderung zu erkennen: Der erhebliche Anteil des Bausektors (S. 167 ff. Tabellen 3a-3d). Freilich spiegelt diese Brancheneigentümlichkeit offenbar die Differenz von staatlichem und nichtstaatlichem Sektor. Laer gibt selbst an, daß ein großer Teil der Bautechniker in den Staatsdienst trat. Im übrigen wäre auch bei anderen Branchen, wie dem Schiffs- und Maschinenbau, der Anteil der Militär-Ingenieure genauer auszuweisen. Hier gab es offenbar einen einheitlichen Arbeitsmarkt bestenfalls bei der Wahl der Studienrichtung. Wendet man sich vor diesem Hintergrund noch einmal zu den Daten über die Berufsbezeichnungen, so könnte die These überlegt werden, ob ein vereinheitlichtes Berufs Verständnis, oder besser eine in relativ hohem Maße vergesellschaftete Selbsteinschätzung mit einem Arbeitsmarkt parallel ging, der den gesamtgesellschaftlichen Prozeß der Vergesellschaftung in eigentümlicher Weise spiegelte: als Inhomogenität und Segmentierung. 3. Mit dem Hinweis auf die Besonderung des Bausektors ist bereits der 3. Punkt angeführt worden: Diese Angabe stammt aus den Tabellen 3a-3c, in denen die Stellenanzeigen von 1888/89 ausgewertet werden. Ungeklärt bleibt zunächst die Frage ihrer Repräsentanz, besonders für mittlere Positionen (hier gilt ein ähnlicher Vorbehalt wie er zu dem Beitrag von T. Pierenkemper erhoben worden ist). In jedem Fall bleibt ein zentrales Defizit: Die Anzeigen erfassen nicht die möglicherweise überaus flexible Grenzziehung zwischen marktfähigen und nicht-marktfähigen Technikerpositionen. Selbst wenn man durch Vergleich der Anzeigen über mehrere Jahre hinweg eventuell eine Ausweitung der Nachfrage feststellen könnte, bliebe immer noch unklar, in welchem Verhältnis dazu nicht-öffentliche wie öffentliche innerbetriebliche Arbeitsmärkte entstanden oder verändert wurden. N u r betriebsmonographische Untersuchungen könnten zeigen, in welcher Weise jeweils die Grenze zwischen nicht-marktformiger und marktförmiger Nachfrage nach Arbeitskräften wahrgenommen, definiert und verändert worden ist. Z u m einen wäre auf dieser Ebene das Problem von »ökonomischer Rationalität« versus Herrschaftsinteressen 6 anzugehen; zugleich ließe sich hier etwas genauer zeigen, ob und vielleicht ab wann die Marktförmigkeit gegenüber anderen Formen des sozialen Austausches dominierend wurde (oder ob nicht gerade innerhalb großer Unternehmen andauernde nicht-marktförmige Austauschbeziehungen 7 vorherrschend oder jedenfalls wichtiger blieben). 4. Dieser Punkt betrifft die Frage des »strukturellen« Einbruchs der späten 1880er und der folgenden Jahre. Der Verweis auf den Übergang zu 178

»großindustrieller Massenproduktion«, ließe sich zunächst in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht mit der Frage ergänzen: Ist hier nicht eine direkte Parallelität zu der mehrfach beobachteten und diskutierten Organisierung und Monopolisierung des Kapialismus zu beobachten8? Damit wird die Frage nach dem Bewußtsein der Betroffenen erheblich kompliziert. Denn wenn es im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eine Vielzahl von Organisierungs- und Monopolisierungsphänomenen zu erkennen gäbe, dann wären alle Spekulationen über die Besonderheit bei einer Berufsgruppe, über spezifische Erwartungen von Schulabgängern bzw. Studienanfängern und Studenten neu zu diskutieren. In jedem Fall wäre erforderlich ein Vergleich mit den anderen Spezialisten- und Akademikerarbeitsmärkten, auch über die von v. Laer genannte Zäsur von 1900 hinaus. Im Detail bleibt zu klären, inwieweit die einzelnen Branchen bzw. Arbeitsmarktsektoren tatsächlich gleichmäßig von monopolistischer Organisierung betroffen waren. Zumindest ist der Übergang zu »großindustrieller Massenproduktion« im strengen Wortsinn im Maschinenbau ζ. B. erst kurz vor dem Weltkrieg 1914-1918 zu beobachten. Es fragt sich also, ob hier ein Argument nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene haltbar oder plausibel ist - die Ebene einzelner Gruppen, ihrer Situationen, Perspektiven und Erwartungshorizonte aber verfehlen muß. 5. Das Argument, die Ausbildung eines spezifischen Techniker-Arbeitsmarktes lasse sich anhand der Studentenzahlen der einschlägigen Fächer zeigen, ist zunächst plausibel. Der für die Phase vor der strukturell vermehrten Organisierung und Monopolisierung behauptete sehr direkte Zusammenhang von Studienwahl und konjunktureller Entwicklung bleibt jedoch problematisch. Zum einen wären wohl nicht die Gesamtstudentenzahlen, sondern die der Studienanfänger zu erheben. Zum anderen bleibt in der Tat das auch vom Verfasser eingeräumte Problem, ob und inwieweit in der behandelten Periode bereits von einer gesamtwirtschaftlichen Konjunktur gesprochen werden könne, bzw. ob und inwieweit die potentiellen Studenten und ihre Bezugsgruppen eine solche überhaupt wahrnahmen. Die Gegenüberstellung von Wechselspannen (Konjunkturzyklen von Juglar-Länge) und Studentenzahlen ist in dieser Hinsicht jedenfalls nur begrenzt aussagekräftig. Neben der selbsteingeräumten Problematik der Wechsellage 1885 ff. und 1893 ff. zeigen auch die Verläufe in den 1850er und 60er Jahren keine sehr direkte Parallelität (S. 159). Bei der Frage der Studienwahl wäre auch der Einfluß anderer Faktoren einzubeziehen, wie ζ. B. die Bereitstellung neuer Labor- bzw. Lehr- und Studieneinrichtungen (Borscheid für die Chemiker in den 1880er und 1890er Jahren9). 6. Der Beitrag zeigt nicht nur die Ausbildung von Arbeitsmärkten für Techniker (wobei Fragen der Verknüpfung dieser Märkte, ihrer Periodisierung und der Konsequenzen für die Selbsteinschätzung der Betroffenen z.T. noch weiter zu klären sind). Vor allem macht er auch auf einen Strukturbruch um die Jahrhundertwende aufmerksam. Die subjektiven 179

Be- und Verarbeitungsweisen sind für die politische Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts wesentlich. Festzuhalten ist, daß es sich offenbar nicht um eine Zäsur handelt, die alle wesentlichen Dimensionen des Arbeits- und Produktionszusammenhanges zur selben Zeit erfaßte. Jedenfalls zeigen die Daten zur Lohnentwicklung, daß bereits ab ca. 1890 eine deutliche Stagnation bzw. sogar eine absolute wie relative Verschlechterung der Techniker (gegenüber den Maschinenbauarbeitern) unverkennbar sein mußte. Die veränderte Arbeitsorganisation, die Abschaffung des »Zwischenmeister«-Systems, die stärkere Betongung von formaler Qualifikation, insgesamt auch ein erheblicher Rückgang der Nachfrage nach qualifizierten Technikern im Zuge von sektoral beginnender Massenproduktion - diese Veränderungen erstreckten sich über einen Zeitraum von mindestens 15—20 Jahren. Daß der Rückgang der Studentenzahlen erst ab 1900 zu beobachten ist, zeigt, daß Verminderung, Stagnation sowie Rückgang der Einkommensmöglichkeiten nicht sofort abschreckend wirkten. Die längerfristigen Berufschancen wurden offenbar mehrdimensional kalkuliert. In jedem Fall kann man davon ausgehen, daß für einen vermutlich erheblichen Teil der Alterskohorte derer, die zwischen 1890-1900 ihr Studium begannen, die tatsächliche Lohnentwicklung und die Situation am späteren Arbeitsplatz längerfristig nicht mir ihren Erwartungen übereinstimmten (Erwartungen, die an der Situation von vor 1890 entwickelt worden waren). Die »hypothetische Karrierekurve« gerade dieser Alterskohorte dürfte einen Erwartungshorizont bestimmt haben, der im Regelfall von dem tatsächlichen Karriereverlauf in den folgenden Jahrzehnten kaum eingeholt worden ist. Die vergleichsweise bescheidenen Salärs, die eingeschränkte Autonomie am Arbeitsplatz - dies sind fraglos Motivationen für die zu beobachtende standespolitische Betriebsamkeit nach 1900. Zugleich reflektiert diese organisierte Aktivität, daß soziale Abschließung von defensiver Statussicherung überlagert wurden - nicht mehr nur in einzelnen Branchen, sondern nun offenbar bei der Mehrzahl der (akademisch ausgebildeten) Techniker. In diesem Zusammenhang dürften sich aber auch Dispositionen für eine allgemein-politische Einstellung verfestigt oder, ausgebildet haben - welche die Bewahrung vorhandener und Rückgewinnung verlorener Chancen vordringlich machte. Formuliert und wahrgenommen wurde dieses Interesse offenbar als Privilegiensicherung. Auf eine Kurzformel gebracht: Standespolitische Zuspitzung von klassenbewußter Re-Aktion mochte sehr wohl die politische Maxime dieser (Alters-)Gruppe von Technikern geworden sein.

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Anmerkungen 1 Vgl. dazu Th. Luckmann, W. M. Sprondel, Einleitung, in: dies. (Hg.), Berufssoziologie. Köln 1972, S. 11-21, S. 17. 2 L. Hack u. a., Klassenlage und Interessenorientierung, in: ZfS 1, 1972, S. 15-30, S. 24f. 3 Historisches Archiv der Gute-Hoffnungs-Hütte, Aktienverein, Oberhausen = Η. A. G H H 3001030/ Oa, Ob, 1. Vgl. auch W. Bongartz: Großindustrie und Berufsqualifikation des mittleren technischen Personals. Das Beispiel G H H (1882-1914), in: Z f U 24, 1979, S. 29-63. Daß die rigorose, zugleich ängstliche Abschließung »nach unten« und Angleichung »nach oben« bei den Technikern im Bereich von »Stahl und Eisen« ein drängendes Problem gerade auch in und seit den späten 1880er Jahren war, zeigen zunftinterne Ermunterungen zu gelassenerer Selbstsicherheit; vgl. den Direktor der Fr.-W.-Hütte, Mühlheim/Ruhr, J. Schlink: Die Zukunft der deutschen Techniker, in: Stahl und Eisen 9, 1889, S. 343-346: eine anonyme Rezension, ebd. S. 170f. - Zu den scharfen Trennlinien innerhalb der Unternehmerschaft (die hier als - wahrscheinlich positiv wahrgenommene - Bezugsgruppe zu gelten hat), vgl. H. Henning: Soziale Verflechtung der Unternehmer in Westfalen, 1860-1914, in: Z f U 23, 1978, S. 1-30. 4 Vgl. H. Henning: Das westdeutsche Bürgertum in der Epoche der Hochindustrialisierung, Bd. I, Wiesbaden 1972, S. 263, 388. 5 Knappe Hinweise (VDI als »Dienstleistungsorgan der Industrie«, anti-gewerkschaftliche Haltung etc.) gibt G. Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Frankfurt 1970, S. 58ff., 72ff. Diese Perspektive wird grundsätzlich bestätigt bei G. Zweckbronner, Je besser der Techniker, desto einseitiger sein Blick?, in: U. Troitzsch, G. Wohlauf, (Hg.), Technikgeschichte. Frankfurt 1980, S. 328-356. 6 Vgl. S. A. Marglin, Was tun die Vorgesetzten?, in: Technologie und Politik, 8, Reinbek 1977, S. 149-203. 7 Vgl. die grundlegenden Hinweise von K. Polanyi: Handelsplätze in frühen Gesellschaften, in: ders. Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt 1979, S. 284-299. 8 Zusammenfassend, freilich auch mit apologetischen Verkürzungen (ζ. B. zur Frage der gesellschaftlichen »Kosten« und der politischen Rahmenbedingungen bzw. Folgen) J. Kocka, Organisierter Kapitalismus im Kaiserreich?, in: HZ, 230, 1980, S. 613-631. 9 P. Borscheid: Naturwissenschaft, Staat und Industrie in Baden (1848-1914), Stuttgart 1976, S. 168ff. (dabei bestätigt Borscheid grundsätzlich durchaus Laers Argumentation von der langfristigen Durchsetzung einer Orientierung an - späteren - Berufschancen, also einer Arbeitsmarktorientierung). 10 Vgl. dazu den Band von M. Kohli (Hg.), Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt 1978, bes. die Beiträge von W. Müller, S. 54ff. und die grundsätzliche Kritik und weiterfuhrende Konzeptualisierung v o n j . Friedrichs/K. Kamp, S. 173ff.

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KLAUS J . B A D E

Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich: Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis

Das Wanderungsgeschehen auf dem Arbeitsmarkt im kaiserlichen Deutschland wurde bestimmt durch den Wandel vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis. Zu den Begleiterscheinungen dieses Wandels gehörte der Umbruch vom Auswanderungsland mit noch in den 1880er Jahren über der Millionengrenze liegenden Auswandererzahlen zum >unechten< Einwanderungsland mit einer im Vorkriegsjahrzehnt zügig der Millionengrenze zustrebenden ausländischen Reservearmee landwirtschaftlicher und industrieller Arbeitswanderer1. Sie wurden nicht Einwanderer, sondern blieben »ausländische Wanderarbeiter«; denn Deutschland wandelte sich in diesem Umbruch nicht zum echten Einwanderungsland im Sinne jener Tradition klassischer Einwanderungsländer, daß Arbeit für das Einwanderungsland nach angemessener Frist Staatsbürgerrechte verleihen kann, sondern nur zu dem, was in der zeitgenössischen Diskussion »Arbeitseinfuhrland«2 hieß. Der Wandel vom Agrarstaat zum Industriestaat und vom Auswanderungsland zum »Arbeitseinfuhrland« war bestimmt von Interdependenzen im Spannungsfeld von Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung und im Wanderungsgeschehen selbst von Wechselwirkungen zwischen überseeischer Auswanderung, interner Abwanderung aus der Landwirtschaft (»Landflucht«) und kontinentaler Zuwanderung. Wirtschafts- und sozialgeschichtlich hatten die transnationalen und internen Massenwanderungen der Hochindustrialisierungsperiode als »proletarian mass migrations«3 vor allem den Charakter von Arbeitswanderungen. Sozialhistorische Migrationsforschung muß deswegen für diese Epoche in besonderem Maße als historische Arbeitsmarktforschung betrieben werden. Der Zusammenhang von Arbeitsmarkt und Wanderung aber hat in der neueren wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung wenig Beachtung gefunden: 1. weil die Wanderungsforschung lange weitgehend der Bevölkerungslehre zugeordnet blieb, deren Ansätze und Ergebnisse für sozialhistorische Migrationsforschung und historische Arbeitsmarktforschung zwar unverzichtbar sind, 182

sie aber nicht ersetzen können; 2. weil in der Wanderungsforschung selbst eine wissenschaftsgeschichtlich eingeschliffene Isolierung der Forschungsfelder überseeische Auswanderung, Binnenwanderung und kontinentale Z u w a n d e r u n g bzw. Ausländerbeschäftigung vorherrschte: Sie ermöglichte zwar synoptische Darstellungen, erschwerte aber eine integrale Interpretation von Wanderungs- und Arbeitsmarktgeschehen. Der folgende Beitrag geht statt dessen nicht v o m Epiphänomen, von der Beschreibung des Wanderungsgeschehens in seinen Erscheinungsformen aus, sondern v o m Versuch einer integralen Interpretation seiner wirtschafts- und sozialhistorischen Antriebskräfte auf dem Arbeitsmarkt. Ausgegangen wird hier von Interdependenzen im Wanderungsgeschehen auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt im preußischen Osten 4 , der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in besonderem Maße von transnationalen und internen Massenwanderungen betroffen wurde: als Hauptausgangsraum der überseeischen Auswanderung, der internen Abwanderung in die Städte und die industriellen Ballungsräume Mittelund Westdeutschlands und als Hauptzielraum der über die Ostgrenzen nachrückenden kontinentalen Zuwanderung. Der erste Teil der Untersuchung fragt nach Kohärenz und Interdependenz im Wanderungsgeschehen auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt im preußischen Osten: nach Bestimmungsfaktoren und Entwicklungsbedingungen, Begleitumständen und Folgeerscheinungen überseeischer Auswanderung, interner Abwanderung und kontinentaler Zuwanderung sowie nach jenen in Preußen entwickelten Kontroll- und Steuerungsmechanismen fur die Bewegung der kontinentalen Zuwanderung, die wesentlich dazu beitrugen, daß das Reich nicht Einwanderungsland wurde, sondern »Arbeitseinfuhrland« blieb. Der zweite Teil fragt nach der wirtschafts- und sozialhistorischen Bedeutung und nach der zeitgenössischen Diskussion der Ausländerbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt in dem von struktureller Agrarkrise und langer Agrarkonjunktur, industrieller Stokkungsspanne und Hochkonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg gekennzeichneten Wechsel von Krise und Aufschwung, der im kaiserlichen Deutschland den Wandel zum modernen Industriestaat begleitete.

I Wirtschaftsgeschichtlich findet der Wandel v o m Agrar- zum Industriestaat im Kaiserreich u m die Jahrhundertwende Ausdruck in der in den Schaubildern 1 und 2? wiedergegebenen Gewichtsverlagerung zwischen sektoralen Wertschöpfungs- und Beschäftigtenanteilen. Der sekundäre überholt den primären Sektor Ende der 1880er Jahre in der Wertschöpfung und im ersten Jahrfünft des 20. Jahrhunderts auch in der Beschäftigtenzahl: Die 183

1. 2. 3.

Primärbereich Sekundärbereich Tertiärbereich

Schaubild 1: Der Wandel vom Agrar- zum Industriestaat im Spiegel der sektoralen Wertschöpfungsanteile 1871-1913

1. 2 3.

Primärbereich Sekundärbereich Tertiärbereich

Schaubild 2: Der Wandel vom Agrar- zum Industriestaat im Spiegel der sektoralen Beschäftigtenanteile 1871-1913 184

Kurven der primären und sekundären Beschäftigtenanteile überschneiden sich und streben der Tendenz nach umgekehrt proportional auseinander. Das für den von J. Fourastie 6 beschriebenen Übergang zur »civilisation tertiaire« charakteristische Aufrücken der tertiären Beschäftigtenanteile zeichnet sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erst ansatzweise ab: Wertschöpfungs- und Beschäftigtenanteil sinken im primären Sektor von 36% und 49% im Jahr 1879 auf 23,2% und 34,6% im Jahr 1913, steigen im sekundären Sektor von 32,6% und 21,7% (1879) auf 45% und 37,8% (1913) und im tertiären Sektor von 31,4% und 21,7% (1879) auf 31,8% und 27,6% (1913)7. Für die Entwicklung von Arbeitsmarkt und Wanderung ist hier besonders die Gewichtsverlagerung zwischen primären und sekundären Beschäftigtenanteilen von Belang. In der natürlichen Bevölkerungsentwicklung gehört der Untersuchungszeitraum in den dramatischen Kernbereich der demographischen Transition mit seiner phasenverschobenen Angleichung der Bevölkerungsweise an die Wirtschaftsweise im Übergang zu den generativen Strukturen der modernen Industriegesellschaft. Das Zusammenwirken von sinkenden Sterbeziffern und zunächst noch unvermindert hohen Geburtenziffern hatte zu jener Bevölkerungsexplosion geführt, die die Reichsbevölkerung während der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts u m fast 25%, von rund 45 Millionen (1880) auf rund 56 Millionen (um 1900) anwachsen ließ. Erst in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in denen die Sterbeziffern von 22,1% (1900) weiter auf 15,1% (1920) sinken, folgt mit dem Absturz der bis dahin nur leicht zurückgegangenen Geburtenziffern von 35,6% (1900) auf 25,9% (1920) der entscheidende U m b r u c h im Wandel der generativen Strukturen zur industriellen Bevölkerungsweise 8 . Das Wanderungsgeschehen auf dem Arbeitsmarkt stand im Untersuchungszeitraum im Zeichen transnationaler und interner Massenbewegungen: Die Überseeauswanderung des 19. Jahrhunderts, die zu 90% Amerikaeinwanderung war, erreichte ihr säkulares M a x i m u m mit der in Schaubild 3 erfaßten dritten Auswanderungswelle, in der 1880-1893 fast 1,8 Millionen Deutsche auswanderten 9 . Die Binnenwanderung über größere Distanzen, in der neben den vielgestaltigen Formen der Land-Stadt- und der Stadt-Stadt-Wanderung 1 0 die interne Ost-West-Wanderung aus dem Landproletariat der Nordostgebiete ins Industrieproletariat Mittel- und Westdeutschlands als internes Pendant der Überseeauswanderung hervortrat", entwickelte sich im hektisch beschleunigten Urbanisierungsprozeß der Hochindustrialisierungsperiode zur »größten Massenbewegung der deutschen Geschichte«' 2 . Nach der Ablösung der Trendperiode wirtschaftlicher Wachstumsstörungen durch die industrielle Hochkonjunktur und der strukturellen Agrarkrise durch die lange Agrarkonjunktur stieg seit den 1890er Jahren, in denen die überseeische Massenauswanderung auslief, die kontinentale Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte zur Massenbewegung auf. 185

Schaubild

3: Die dritte deutsche Auswanderungswelle des 19. Jahrhunderts 1880-1893

Die preußischen Ostprovinzen wurden von überseeischer Auswanderung und interner Abwanderung aus der Landwirtschaft unterschiedlich und doch i m Ergebnis gleich getroffen: Hohe Wanderungsverluste hatten die Ostprovinzen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg allesamt zu verzeichnen. Wo die Überseeauswanderung kaum ausgeprägt war, lagen w i e in Ostpreußen - die Verluste durch interne Abwanderung u m so höher. Die Wanderungsverluste hielten über das Ende der dritten A u s w a n derungswelle hinweg unvermindert an. Dies zeigt, daß Aus- und A b w a n derung hier vor allem von Schubkräften i m Ausgangsraum angetrieben wurden, daß die konkurrierenden Antriebskräfte der U S A und der internen städtisch-industriellen Arbeitsmärkte mehr richtungsbestimmend als ursächlich wanderungsbestimmend wirkten. Als wanderungsbestimmende Schubkräfte in der Landwirtschaft im preußischen Osten wirkten - regional und gruppenspezifisch unterschiedlich ausgeprägt - verschiedene Bestimmungsfaktoren und Entwicklungsbedingungen zusammen 13 . Dazu gehörte 1. die immobile Grundbesitzverteilung: Sie wurde einerseits bestärkt durch die Geschlossenheit des Großgrundbesitzes (Fideikommiß), andererseits durch das Anerbenrecht, aber 186

auch durch das Hypothekenrecht (Gesamthaftung des Grundvermögens für jede einzelne Hypothek) und die dadurch mitbedingte, einzigartige Verschuldung vor allem großbetrieblicher Marktproduzenten der Körnerwirtschaft. Ähnlich wirkten die in den beiden goldenen Jahrzehnten der Agrarkonjunktur bis Mitte der 1870er Jahre überhöhten und nach dem Einbruch der strukturellen Agrarkrise unter dem Zollschutz künstlich hochgehaltenen Grundwerte und Pachtzinsen. Deswegen konnten die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1860er Jahren, die in den 1880er Jahren ins erwerbsfähige Alter eintraten, nur begrenzt durch eine Expansion kleinbäuerlicher Subsistenzproduktion integriert werden. Das erhöhte bei beschränkter Arbeitskapazität den Bevölkerungsdruck. Der extrem unterschiedlichen Bevölkerungsdichte zwischen vergleichsweise menschenleeren, vorwiegend oder rein großbetrieblichen Wirtschaftsräumen und dichtbesiedelten mittel- bis kleinbetrieblichen Gemeindedistrikten wegen lastete dieser Bevölkerungsdruck einseitig auf den Landgemeinden. Aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren resultierte eine fortschreitende Proletarisierung des Bevölkerungszuwachses. Sie verschärfte bei stetem Zuwachs an landloser Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter die von der Grundbesitzverteilung vorgegebene Polarisierung der sozialen Schichtung, zumal der Geburtenrückgang im Prozeß der demographischen Transition in Räumen mit agrarischer Monostruktur am spätesten einsetzte14. Wanderungsbestimmende Schubkraft entfaltete 2. die von struktureller Agrarkrise und agrarkapitalistischer Rationalisierung der Betriebsorganisation beschleunigte, zuerst von M. Weber15 beschriebene Deformation der sozial gestuften gutswirtschaftlichen Arbeitsverfassung, die noch bis in die 1860er Jahre nachgeborene Bauernsöhne und den Nachwuchs unterbäuerlicher Schichten durch das vermehrte Angebot von Insten-, Eigenkätnerund Tagelöhnerstellen aufgenommen hatte. Hinzu kam 3. die von der Intensivierung der Bodenkultur (intensiver Fruchtwechsel mit starkem Hackfruchtbau) forcierte Saisonalisierung von Arbeitsmarkt und Erwerbsangebot, die zwei Erscheinungsformen hatte: positive Saisonalisierung durch das Ausgreifen des Hackfrucht- und insbesondere des Zuckerrübenbaus (Anstieg des saisonalen Zusatzbedarfs an Arbeitskraft) und negative Saisonalisierung durch das Vorrücken der Dreschmaschine (Abflachen des Arbeitskräftebedarfs außerhalb der Saison). Gemeinsames Ergebnis all dieser Faktoren war a. eine bis dahin nicht erlebte Mobilisierung der freien landwirtschaftlichen Arbeitskraft, b. eine Abnahme der wanderungshemmenden mentalen Schollengebundenheit proletaroider - auf abhängigen Nebenerwerb in nahegelegenen Großbetrieben angewiesener - Subsistenzproduzenten (Kleinstellenbesitzer) an den im Ertrag unzureichenden Boden und c. eine fortschreitende, aus der sprunghaften Zunahme des Kontraktbruchs bei Aus- und Abwanderung und anderer Formen des stummen Sozialprotests sprechende Emanzipation der Kontraktarbeiter aus dem gutswirtschaftlichen Subordinationsgefuge. 187

Seine Axiomatik wurde im gleichen Maße ausgehöhlt, in dem der gestufte paternalistische Sozialverband der >Gutsfamilie< als Produktions- und Verbrauchsgemeinschaft zurücktrat hinter den agrarkapitalistischen Großbetrieb mit seinem gebrochenen Sozialbezug zwischen einerseits Arbeitgebern bzw. Gutsverwaltern mit Interesse an Roh- und Reinertragssteigerung, an niedrigen Lohnkosten und hohen Erzeugerpreisen und andererseits landwirtschaftlichem Lohnproletariat mit Gleichgültigkeit gegenüber gutswirtschaftlichem Roh- und Reinertrag, aber existenziellem Interesse an hohen Geldlöhnen und niedrigen Marktpreisen. Das je nach Wirtschaftsweise, Soziallage, ökonomischem Selbstverständnis und mentalem Statusanspruch unterschiedlich ausgeprägte Zusammenwirken dieser materiellen und immateriellen wanderungsbestimmenden Schubkräfte stimulierte die in der zeitgenössischen Diskussion mit »Wanderungsdrang« und »Wanderungsfieber« umschriebene Wanderungsbereitschaft als sozialpsychologisches Massenphänomen. Sie war die Voraussetzung dafür, daß die konkurrierenden sozialökonomischen Chancenangebote des überseeischen Haupteinwanderungslandes USA und der städtisch-industriellen Arbeitsmärkte im Auswanderungsland jene transatlantischen und internen Massenbewegungen auslösen konnten, die als »Auswanderungsepidemien« und »Zugvogelwut« diagnostiziert wurden. Je nach Wanderungsabsicht (Landnahme/Arbeitnahme), den materiellen Möglichkeiten, sie zu realisieren (AusWanderungskosten), nach gruppenspezifischen Kollektivmentalitäten (Tagelöhner mit Arbeiterbewußtsein/ proletaroide Subsistenzproduzenten mit kleinbäuerlichem Selbstverständnis) und regionalen Entwicklungsbedingungen (transatlantische oder interregioale Wanderungstradition und Kommunikation) setzte sich diese Wanderungsbereitschaft sozial und regional ganz unterschiedlich um: in überseeische Auswanderung und definitive intersektorale Abwanderung (»Landflucht«), in temporäre intersektorale Arbeits Wanderung (Zeitwanderung der »Ruhrmasuren«), in Berufswechsel ohne Ortswechsel im Nahbereich nichtlandwirtschaftlicher Erwerbsangebote (»berufliche Landflucht«) und in die intersektorale Etappenwanderung in Ost-West-Richtung, die im Einzugsbereich städtisch-industrieller Ballungsräume aus dem Primärsektor austreten konnte. Hinzu kamen die sprunghaft ansteigenden, alle herkömmlichen Dimensionen von »Sachsengängerei« und »Schnitterzügen« bei weitem übersteigenden intrasektoralen Saisonwanderungen aus noch extensiv produzierenden Niedriglohngebieten in saisonale Spitzenlöhne bietende Distrikte und Großbetriebe mit intensivem Fruchtwechsel und starkem Hackfruchtbau. Im ersten Jahrfünft der 1890er Jahre trat das sozialökonomische Chancenangebot der USA endgültig hinter das der expandierenden Industriezentren Mittel- und Westdeutschlands zurück: Der Traum von der freien Farmgründung im Familienverband auf Regierungsland der USA hatte bei wachsender Realitätsferne schon zur Zeit der dritten Auswanderungswelle 188

weithin Züge einer anachronistischen, agrarromantischen Sozialutopie. So sehr der Gedanke an Siedlungswanderung, an Landnahme und Farmgründung im Familienverband als Wanderungsabsicht in der besonders von den ländlichen Nordostgebieten ausgehenden dritten Auswanderungswelle noch richtungsbestimmend mitwirken mochte, so sehr zeigt doch ein Blick auf das Wanderungsergebnis, d . h . auf die Erwerbsstruktur der »German born population« in den U S A im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts, daß der überwiegende Teil der deutschen Amerikaeinwanderer schon in den 1880er Jahren seinen O r t im sekundären und tertiären »urban employment« des amerikanischen Arbeitsmarkts fand. Von dem Kriseneinbruch im ersten Jahrfünft der 1890er Jahre aber, der für Deutschland die dritte und letzte Phase der seit 1873 anhaltenden Wachstumsstörungen brachte, wurde die amerikanische Wirtschaft erheblich härter getroffen (»panic of 1893«) als die deutsche 16 . Fortan waren auch die Wanderungsverluste im preußischen Osten fast ausschließlich Ergebnis der internen Abwanderung, innerhalb derer, wie Schaubild 417 zeigt, die intersektorale Ost-West-Fernwanderung in den 1890er Jahren zur Massenbewegung aufstieg. Gemeinsame Folge überseeischer Auswanderung und vor allem interner Abwanderung war auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt des Aus-

1. Ostpreußen 2. Westpreußen 3. Posen

Schaubild 4: Interne Ost-West-Wanderung aus Ostpreußen, Westpreußen und Posen nach Rheinland-Westfalen 1880-1910 189

gangsraums jene »Leutenot«, die besonders von Großproduzenten der Körnerwirtschaft beklagt, einseitig auf den perhorreszierten Sog »der Stadt«, »der Industrie« oder »des Westens« zurückgeführt und als absoluter Arbeitskräftemangel vorgestellt wurde. In Wirklichkeit hatte die landwirtschaftliche »Leutenot« im preußischen Osten drei durchaus verschiedene Erscheinungsformen: 1. absolute »Leutenot« in noch extensiv wirtschaftenden Niedriglohngebieten, die von definitiven Wanderungsverlusten getroffen wurden und zusätzlich durch temporäre Verluste an Arbeitskraft als Folge saisonaler »RübenWanderungen« in schon intensiv wirtschaftende Spitzenlohngebiete; 2. relative »Leutenot« dort, wo definitive und saisonale Wanderungsverluste nur zum Schrumpfen des herkömmlichen Überangebots an billiger Arbeitskraft führten; 3. relative »Leutenot« schließlich auch dort, wo dieser Abbau des Überangebots im Nahbereich zusammentraf mit dem abrupten Anstieg des saisonalen Zusatzbedarfs beim Übergang zu intensiver Bodenkultur. Tastende Vorstöße agrarischer Interessenvertreter, die »Landflucht« auf dem Verordnungswege einzuschränken, hatten schon deswegen keine Chance, weil sich hier agrarische und industrielle Interessenpositionen gegenseitig blockierten: Anträge auf eine über die Möglichkeit der Zwangsrückführung hinausgehende Kriminalisierung des Kontraktbruchs blieben ebenso erfolglos wie die Kritik an der uneingeschränkten Abwerbung von Landarbeitern durch Industrieagenten und an den verbilligten Arbeiterfahrkarten auf den Ost-West-Strecken18. Pläne zur Förderung der Rückwanderung gescheiterter Amerikaeinwanderer blieben Chimäre. Gedanken an eine Förderung von internen Rückwanderungsbewegungen in die Landwirtschaft erwiesen sich selbst bei krisenbedingten Störungen auf dem industriellen Arbeitsmarkt als illusionär. Bei den schon in der ersten und härtesten Depressionsphase der Trendperiode wirtschaftlicher Wachstumsstörungen Mitte der 1870er Jahre zu beobachtenden StadtLand-Bewegungen handelte es sich weniger um echte Rückwanderungen als um ein kurzfristiges, krisenbedingtes Ausweichen von neu Zugewanderten in die Herkunftsgebiete, das freilich stark genug war, um die im preußischen Osten Anfang der 1870er Jahre angestiegenen Landarbeiterlöhne gebietsweise noch einmal absinken zu lassen19. Solche Vorstellungen kollidierten außerdem mit den politischen Sicherheitserwägungen landwirtschaftlicher Arbeitgeber, obgleich die gefurchtete »sozialistische Agitation« in der Landwirtschaft des preußischen Ostens kaum über einige Brückenköpfe im ländlichen Umfeld industrieller Beschäftigungsbereiche hinauskam20: In der dritten Phase der Trendperiode wirtschaftlicher Wachstumsstörungen Anfang der 1890er Jahre, in der die dritte Auswanderungswelle noch abströmte, die interne Ost-West-Fernwanderung immer stärker in Gang kam, im Bergbau aber die Lohnkurve kurzfristig durchsackte21 und städtische industrielle Ballungszentren steigende Arbeitslosenzahlen meldeten, wurden die Alarmrufe nicht nur wegen relativer, sondern auch 190

wegen absoluter »Leutenot« in den Nordostgebieten so nachdrücklich, daß sich der preußische Minister für Handel und Gewerbe, v. Berlepsch, 1892 zu der Anregung veranlaßt sah, städtische Arbeitslose in der Landwirtschaft zu beschäftigen. Bei großbetrieblichen landwirtschaftlichen Arbeitgebern in den Nordostgebieten indes stieß dieser Gedanke, trotz aller Klagen über die wachsende »Leutenot«, auf Skepsis und Ablehnung: Eine staatlich geförderte partielle Umkehr der »Landflucht« wurde mit dem Import von »sozialdemokratischen Tendenzen und Lehren« aufs Land gleichgesetzt und als gefährlicher Versuch verstanden, auf den Gütern »künstlich eine sozialdemokratische Arbeiterbevölkerung« zu schaffen22. Auch dem in der zeitgenössichen Diskussion wie in der Forschung23 angesichts des Nominallohngefälles zwischen Ost und West, Land und Stadt, Primär- und Sekundärbereich immer wieder erwogenen Gedanken, Lohnerhöhungen in der Getreidewirtschaft des preußischen Ostens hätten als Strombrecher gegen die intersektorale Ost-West-Wanderung wirken können, darf aus zwei Gründen nicht zuviel Gewicht beigemessen werden: 1. war der betriebswirtschaftliche Spielraum für Lohnerhöhungen gerade in den zum Teil hochverschuldeten und selbst unter dem Schutzdach des Agrarprotektionismus an der Rentabilitätsgrenze liegenden gutswirtschaftlichen Großbetrieben der Getreidewirtschaft im Nordosten in der Tat begrenzt; 2. war die »Landflucht« ursächlich weniger bestimmt durch den reinen Lohnsog der internen Zielgebiete als durch strukturelle, materielle und immaterielle Schubkräfte im Ausgangsraum. Deswegen vermochten die Lohnerhöhungen, mit denen seit Ende der 1880er Jahre auch die in der Lohnentwicklung am weitesten zurückgebliebenen ostpreußischen Großbetriebe nachrückten, die »Landflucht« nicht zu bremsen, sofern solche Nominallohnerhöhungen nicht ohnehin nur Folge der allgemein zunehmenden Umstellung vom herkömmlichen Naturallohn auf den betriebswirtschaftlich billigeren Geldlohn waren. Es sei darum »nach Lage der Landwirtschaft die Herbeiführung von Arbeitern unbedingt notwendig [. .], nicht gerade von billigen Arbeitern, aber von solchen Leuten, die überhaupt gewillt sind, auf den Gütern zu arbeiten«, beharrte deswegen 1890 K. Kaerger, der die Arbeitsmarktlage im »ostelbischen Deutschland« auf Grund eigener Recherchen zeitgleich und ebenso gründlich untersucht hatte wie M. Weber anhand der Materialien aus der Landarbeiterenquete des Vereins für Socialpolitik: »Das ist jetzt nicht der Fall. Selbst in Gegenden, wo die Arbeiter hohe Löhne bekommen, ebenso hohe Löhne wie in den Zuwanderungsgebieten, wandern sie doch aus. «24 Den betriebswirtschaftlich billigsten Ausweg aus absoluter und relativer »Leutenot« bot die Rekrutierung von absolut (Niedriglöhne) oder relativ (Saisonverträge) »billiger« Arbeitskraft im östlichen Ausland. Anfang der 1870er Jahre noch waren saisonale Wanderzüge preußischer Landarbeiter aus den östlichen Grenzprovinzen bis tief nach Russisch-Polen und Galizien hinein zu beobachten25. Mit zunehmender Dorfarmut bei rapidem 191

Zuwachs an landloser Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Kongreßpolen und Galizien kehrte sich die transnationale Bewegung im deutschen Nordosten seit den 1880er Jahren um. Ersatz- und Zusatzbedarf wurden, zunächst vor allem in den Grenzdistrikten, abgedeckt durch das auf dem »Menschenmarkt« jenseits der preußischen Ostgrenzen abrufbare Überangebot an landwirtschaftlicher Arbeitskraft. 1885 wurde dieser Weg im Zusammenhang von Polenausweisung und Einwanderungsverbot fur ein Jahrfünft blockiert. Auf das massive Drängen landwirtschaftlicher Arbeitgebervertretungen seit 1890 schrittweise wieder zugelassen, wuchs der kontinentale Zustrom rasch an. Die betriebswirtschaftlichen Vorteile der saisonalen Ausländerbeschäftigung26 ließen das Interesse landwirtschaftlicher Arbeitgeber im preußischen Osten an den »billigen« und »willigen« ausländischen Arbeiterkolonnen zusehends über die Grenze des Ersatzbedarfs hinaus ansteigen27 In der industriellen Hochkonjunkturphase vor dem Ersten Weltkrieg indes war auch der wachsende industrielle Arbeitskräftebedarf trotz des massenhaften internen Zustroms an Arbeitskraft aus großen Spurt< zum arbeitssparenden, roh- und reinertragssteigernden Maschineneinsatz verzögerten, war hinreichend ausländische Arbeitskraft verfugbar, deren Saisoneinsatz eine indirekte Reinertragssteigerung auf dem Umweg über relative Lohnkostensenkung ermöglichte. Das aber minderte von der Arbeitsmarktseite her den Rationalisierungsdruck und konnte den Übergang zum kapitalintensiven Einsatz arbeitssparender Einrichtungen gerade deswegen verzögern, weil ausländische Arbeitskraft mittelfristig billiger war als ein Maschinenpark: Beim Maschineneinsatz fielen hohe Startinvestitionen an, Wartungskosten außerhalb der Saison und Reparaturkosten während der Saison. Beim Einsatz ausländischer Arbeiterkolonnen lagen die vom Arbeitgeber zu übernehmenden Anreise- und Vermittlungskosten unvergleichbar niedriger, entfielen nicht nur außerhalb, sondern sogar während der Saison unproduktive Lohnkosten, denn auf unfall- oder krankheitsbedingte anhaltende Arbeitsunfähigkeit folgte Rücktransport zur Grenze. Disponibilität und Kalkulierbarkeit des Kostenfaktors Arbeitskraft erreichten damit ein bis dahin nicht bekanntes Ausmaß. Darum auch war, wie zuerst M. Weber erkannte, im >Saisongewerbe< Landwirtschaft ausländische grundsätzlich »immer billiger« als einheimische Arbeitskraft. Das war der ökonomische Hintergrund der von M. Weber ausgehenden zeitgenössischen >Verdrängungstheorie< in den Kontroversen über die »Polonisierung des Ostens« durch kontinentale Zuwanderung. Die in dieser Diskussion mit dem Hinweis auf unterschiedliche Lohnansprüche und Bedürfnisstrukturen von einheimischen und ausländischen Arbeitskräften vorgestellte unmittelbar-direkte internationale Verdrängungskonkurrenz in einzelnen Bereichen des landwirtschaftlichen Arbeitsmarkts war freilich nur von untergeordneter Bedeutung. Betroffen 198

wurden davon unter den einheimischen Arbeitskräften nur zwei Gruppen: 1. ortlose Wanderarbeiter, die in ihrer Bewegung auf dem Arbeitsmarkt dem reinen Lohnsog folgten und deswegen Anfang der 1890er Jahre bereichsweise von der Lohnkonkurrenz ausländischer Arbeitskräfte abgedrängt wurden; 2. einheimische saisonale »Sachsengänger« (»Rübenwanderer«, »Schnitter«), die nicht in ihren Lohnansprüchen, aber in ihren Ansprüchen an Arbeitsbedingungen und Verpflegungssätze von ausländischen Arbeiterkolonnen unterboten wurden. Die Spuren intrasektoraler ortloser Wanderarbeiter und saisonaler Arbeitswanderer verloren sich im Strom der intersektoralen Ost-West-Wanderung39. Die Lohnlage ausländischer aber glich sich im preußischen Osten schon in den 1890er Jahren weitgehend deqenigen einheimischer Arbeitskräfte an. Dies freilich hatte wesentlich damit zu tun, daß ausländische, auf Lohngeldtransfer ausgehende Arbeiter gerade Tätigkeitsbereiche und Arbeitsbedingungen bevorzugten, die deswegen vergleichsweise lohnintensiv waren, weil sie - wie der Ernteakkord - von einheimischen häufig gemieden wurden. Der dialektische Wirkungszusammenhang zwischen der Abwanderung einheimischer und der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte indes lag tiefer. Wichtiger war hier die Tatsache, daß der zunehmende Einsatz ausländischer Saisonarbeiter bei nur ausnahmsweise zugestandener Dauerbeschäftigung 1. den Verfall der gutswirtschaftlichen Arbeitsverfassung und 2. die im Gefolge von Rationalisierung der Produktionsorganisation und Übergang zu intensiver Bodenkultur fortschreitende Saisonalisierung von Arbeitsmarkt und Erwerbsangebot forcierte. Die kontinentale Zuwanderung verschärfte mithin wesentliche strukturelle Bestimmungsfaktoren der Wanderungsbereitschaft einheimischer, auf Dauerbeschäftigung angewiesener Arbeitskräfte: Weniger unmittelbar und direkt, über die Lohnkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, als mittelbar und indirekt, auf dem U m w e g über die Arbeitsverfassung, verstärkte die kontinentale Zuwanderung bei ihrem Aufstieg zur Massenbewegung schließlich im preußischen Osten die wanderungsbestimmenden Ursachen, deren Folge sie war. Der unterschiedlich eingeschätzte Wirkungszusammenhang zwischen interner Abwanderung und kontinentaler Zuwanderung blieb in der zeitgenössischen Diskussion bis zum Weltkrieg und in der Forschungsdiskussion weit darüber hinaus ein Brennpunkt in den Kontroversen um das Für und Wider der Ausländerbeschäftigung auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt 40 . Weniger bedeutend, aber nicht minder umstritten als die Ersatzfunktion ausländischer Arbeitskräfte auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt war ihre Rolle in nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigungsbereichen, vor allem im Bauwesen, in denen der Ausländereinsatz besonders den Freien Gewerkschaften Anlaß war für die verstärkte Agitation gegen die »Ausbeutung« ausländischer Arbeitskräfte aber auch der preußisch-polnischen Minderheit als »Lohndrücker«, »Schmutzkonkurrenten« und »Streikbre199

eher«41. Auf der internationalisierten unteren Ebene des doppelten Arbeitsmarkts freilich gab es solche Verdrängungskonkurrenz auch hier nur bedingt: Selbst O. Becker, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, mußte in einer 1918 als Auftrags arbeit dieser Gesellschaft vorgelegten und stark auf eine Restriktion der Ausländerbeschäftigung abstellenden Studie zugestehen: »Die Tatsache, daß inländische Arbeitslose vorhanden sind, darf keineswegs von vornherein die Einfuhrung von Ausländern in allen Fällen ausschließen. Es gibt gewisse schwere und schmutzige Arbeiten, ζ. B. im Tiefbau, denen im allgemeinen inländische Arbeitskräfte auf die Dauer nicht gewachsen sind, und die auch von ihnen überhaupt nicht oder doch nur vorübergehend angenommen werden. «42 Das gleiche bestätigte polemisch Sartorius v. Waltershausen schon in seinem gegen Ende der kurzen Depressionsphase 1900/02 geschriebenen Beitrag über die italienischen Arbeitskräfte im deutschen Tiefbau: »Die genannten Arbeiten sind anstrengend, vielfach die Gesundheit aufreibend, oft schmutzig und widerlich und werden daher in denjenigen Gebieten, wo die Arbeiterschaft verweichlicht oder bequem geworden ist und vermöge ihrer politischen Selbstherrlichkeit einen Anspruch auf leichtere Arbeit zu haben glaubt, gern abgelehnt, wenn sich nur irgendeine angenehmere Tätigkeit finden läßt. «43 Ein dritter, schon angedeuteter Problembereich im zeitgenössischen Konflikt um die Ausländerbeschäftigung war der Zusammenhang von Arbeitswanderung, Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung: Überseeische Auswanderung und interne Abwanderung waren - von den vielfältigen immateriellen Bestimmungsfaktoren des Wanderungsverhaltens abgeseh e n - wesentlich Ausdruck des regional unterschiedlich ausgeprägten Mißverhältnisses von Arbeits- und Erwerbsangebot. Sie bauten indes nicht nur Spannungen ab, sondern führten ihrerseits zu Störungen in der AngebotNachfrage-Relation auf dem Arbeitsmarkt in den Ausgangsräumen, die wiederum durch wachsende Ausländerbeschäftigung ausgeglichen wurden. Das galt seit dem Rückgang der überseeischen Massenauswanderung Mitte der 1890er Jahre besonders für die intersektorale Ost-West-Wanderung: Die Verschiebung der Arbeitsmarktanteile zwischen ländlichem Primärbereich und vorwiegend städtischen Sekundärbereichen war gleichbedeutend mit einer massenweisen Umschichtung vom Land- ins Industrieproletariat. Jenseits der ländlichen Einzugsbereiche industrieller Ballungsräume aber bedeutete intersektorale berufliche Mobilität in aller Regel Arbeitswanderung über mittlere oder weitere Distanz. In den Vorkriegsjahrzehnten, in denen die öffentliche Arbeitsvermittlung neben den herkömmlichen Formen der privaten gewerbsmäßigen Stellenvermittlung zwar ständig expandierte, aber noch nicht über ein vielgestaltiges Mosaik von zahlreichen einzelnen und häufig konkurrierenden Einrichtungen hinausgekommen war44, stand der Spannungsausgleich auf dem Arbeitsmarkt noch weithin im Zeichen von internem und transnationalem Wanderungs200

ausgleich mit volkswirtschaftlich teuren Reibungsverlusten: Auffällig und in der öffentlichen Diskussion wie im preußischen Staatsministerium vielbeklagt war die Tatsache, daß bei der nachgerade ruckartigen Gewichtsverlagerung zwischen primären und sekundären Beschäftigtenanteilen im Wandel vom Agrar- zum Industriestaat Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bei stagnierendem Lohnniveau zusammentrafen mit akutem Arbeitskräftemangel bei verschärftem Lohndruck in anderen Bereichen des Arbeitsmarkts. Das galt allgemeinhin 1. für die intrasektorale Gleichzeitigkeit von Überangebot und Mangel an Arbeitskraft und fur die intersektorale Spannung zwischen einerseits ländlichen Ausgangsräumen, in denen sich das Überangebot bei steigender »Landflucht« in »Leutenot« verkehrte und andererseits städtisch-industriellen Zuwanderungsgebieten, in denen bei anhaltendem Arbeitskräftezustrom Erscheinungen von Lohnkonkurrenz, Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit begegneten. Es galt 2. in ländlichen Aus- und Abwanderungsgebieten mit steigender Ausländerbeschäftigung, in denen der Einsatz ausländischer Saisonarbeiter vereinzelt zu Erscheinungen internationaler Verdrängungskonkurrenz führte und zugleich jene Saisonalisierung von Arbeitsmarkt und Erwerbsangebot forcierte, die auf Dauerbeschäftigung angewiesene einheimische Landarbeiter zur »Landflucht« bestimmte. Es galt 3. für die Verschärfung von Spannungen in der Angebot-Nachfrage-Relation in städtisch-industriellen Zuwanderungsgebieten, in denen entweder ausländische Arbeitskräfte über die >Sättigungsgrenzen< hinweg weiter zuströmten oder aber arbeitslose einheimische Arbeitskräfte nicht mehr bereit waren, auf der internationalisierten unteren Ebene des doppelten Arbeitsmarkts in Konkurrenz zu den ausländischen zu treten, so daß hier kommunale Versorgungslasten fur erwerbslose einheimische Arbeitskräfte anfielen, während zugleich Lohngelder aus dem lokalen Markt ins Ausland transferiert wurden45. Das war der Hintergrund auch für anhaltende Spannungen zwischen den kommunalen Arbeitsnachweisen und der Feldarbeiterzentrale, zwischen interner Arbeitsvermittlung und transnationaler Arbeiterrekrutierung: »Während nun so in Deutschland alljährlich viele Hunderttausende von Arbeitern arbeits- und brotlos sind, ist man unablässig bemüht, große Arbeitermassen aus dem Auslande heranzuziehen«, polemisierte A. Knoke 1911, »während eine Organisation des inländischen Arbeitsmarktes noch so gut wie gar nicht existiert«46. »Es erscheint auf die Dauer unerträglich, daß unbegrenzte Massen ausländischer Arbeiter ins Land gezogen werden, während in den Städten über Beschäftigungslosigkeit zahlreicher Arbeiter geklagt wird«, protestierte der Oberpräsident in Magdeburg zur Zeit der anhebenden Vorkriegskrise, in der die lange Industriekonjunktur auslief, im Februar 1914 in einer Eingabe an das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe47. Deswegen war es nach Knoke »die Aufgabe der nächsten Zukunft, das Arbeitsnachweiswesen in Deutschland einheitlich zu 201

regeln und zu organisieren.« Dann werde nicht nur »die Verwirrung und Unordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkte verschwinden«, sondern in vielen Bereichen auch die »Überflüssigkeit der ausländischen Arbeiter offenbar« werden 48 . Wege zur Überwindung des volkswirtschaftlich teuren indirekten Arbeitsmarktausgleichs durch Wanderung wies der Ausbau von Arbeitsmarktbeobachtung und Arbeitsvermittlung im Kontext der öffentlichen Arbeitsverwaltung, der durch den Krieg forciert wurde, aber erst mit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1927 seinen Abschluß fand. In der Kriegswirtschaft noch hatte die nunmehr auf dem deutschen Arbeitsmarkt zurückgehaltene ausländische Reservearmee, vor allem in der Landwirtschaft, ihre Ersatzfunktion weiter zu erfüllen. 1921 begann, zuerst in sekundären und tertiären Erwerbsbereichen, durch die Verbindung des Legitimationsverfahrens mit dem im Arbeitsnachweisgesetz von 1922 verankerten Genehmigungsverfahren die Kontingentierung der Ausländerzulassung bei jährlicher Festlegung der Beschäftigtenzahlen. Die Genehmigungspflicht zielte darauf ab, die Ausländerbeschäftigung zur Balance der schwankenden Angebot-Nachfrage-Relation auf dem Arbeitsmarkt in den Grenzen von Ersatz- und Zusatzbedarf zu halten: Für ausländische Arbeitskräfte wurden Visa nurmehr erteilt, wenn die Arbeitsnachweise bestätigt hatten, daß entsprechende einheimische Arbeitskräfte nicht zur Verfugung standen49 Deswegen auch gleicht die in Schaubild 5 wiedergegebene Kurve der Ausländerbeschäftigung in der Weimarer Republik einer Art Krisenbarometer für die Entwicklung der AngebotNachfrage-Spannung auf dem Arbeitsmarkt. Die zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise noch in Deutschland erfaßten ausländischen Arbeitskräfte waren 1932 in der Landwirtschaft zu etwa einem Drittel, in der Industrie fast durchweg deutschstämmig, seit Jahren im Reich ansässig, deshalb zumeist durch den begehrten »Befreiungsschein« der jährlichen Genehmigungspflicht enthoben und deutschen Arbeitern gleichgestellt50. Ein vierter, eng mit der Frage nach der umstrittenen, weil je nach Interessenstandpunkt verschieden angesetzten >Sättigungsgrenze< auf dem Arbeitsmarkt verbundener Streitpunkt in der zeitgenössischen Diskussion war die Pufferfunktion der Ausländerbeschäftigung in konjunkturellen Wechsellagen. Zwar tendierte erst das in Weimar entwickelte Institutionengefuge von Arbeitsmarktbeobachtung und Arbeitsvermittlung 51 dahin, neben den volkswirtschaftlich »überflüssigen Wanderungen« einheimischer Arbeitskräfte auch den indirekten Spannungsausgleich durch Ausländerbeschäftigung einzuschränken. Die mit der Verschränkung von Legitimationszwang und Genehmigungspflicht verordneten Pufferfunktionen der ausländischen Reservearmee als disponibler Konjunkturreserve in Krise und Aufschwung aber waren auch schon in den beiden Vorkriegsjahrzehnten deutlich zu fassen: »Endlich verlange die Industrie bei dem Wechsel 202

zwischen Hoch- und Tiefkonjunktur eine gewisse Ausdehnungsmöglichkeit in bezug auf die Arbeiterzahl«, gab der Vertreter des Handelsministeriums in den Beratungen des preußischen Staatsministeriums über Arbeitsmarkt und Wanderung schon 1895 zu Protokoll. »Beschränke man die Industrie auf inländische Arbeiter, so würde bei einem Rückgang der Industrie eine größere Anzahl von Arbeitern brotlos und vermehrten sie dadurch die unzufriedenen Elemente. Dagegen könne man ausländische Arbeiter in solchem Falle ohne weiteres abstoßen.« Ganz entsprechend konnte das Königliche Oberbergamt in Breslau 1911 bestätigen: »Insoweit eine Reduktion der Belegschaft zu gewissen Zeiten oder in gewissen Industriezweigen sich als notwendig herausstellte, erfolgte zunächst ausschließlich die Abstoßung der Ausländer.«52 Der Spannungsabbau durch »Abstoßung der Ausländer« indes funktionierte nur bei jenen Arbeitskräften aus dem östlichen Ausland, die im Geltungsbereich von »Legitimations«- und »Rückkehrzwang« mit dem Arbeitsvertrag auch die Aufenthaltsgenehmigung verloren. Zu ganz anderen Ergebnissen konnte die »Abstoßung« ausländischer Arbeitskräfte fuhren, wenn - wie in den beiden kurzen harten Depressionsphasen (März 1900 - März 1902, Juli 1907 - Dezember 1908) in der langen Industriekonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg - Kriseneinbrüche auf den industriellen Arbeitsmarkt durchschlugen und entlassene ausländische Arbeitskräfte, die der »Karenzzeit« nicht unterlagen, in anderen Beschäftigungsbereichen in direkte Verdrängungskonkurrenz mit einheimischen Kräften traten. Einen solchen konjunkturbedingten Umbruch hat Sartorius v. Waltershausen für die kurzfristige Ausfallbewegung von in der Krise 1900/1902 entlassenen italienischen Industriearbeitern in den ohnehin stark von Italienern frequentierten Tiefbau beschrieben: »Von 1895-1900 war der Nachfrage nach Arbeit durch einheimische Kräfte nicht zu genügen und die Italiener waren zu steigenden Löhnen gesucht, konnten also den heimischen Arbeitsmarkt nicht wohl schädigen. Anders wurde es mit dem Eintritt der Geschäftsstockung. Die gesamte Industrie fing an, Arbeiter zu entlassen, von denen sich nicht wenige als Tagelöhner zu den genannten Erdarbeiten, soweit sie fortgesetzt wurden, herandrängten. Jetzt, sobald das Unterbieten begann, wurde der Mitbewerb der Italiener empfunden.«53 Auch dies änderte sich erst durch die Verbindung von Arbeitsvermittlung und Ausländerzulassung in der Weimarer Republik, wobei die Frage nach der nur in der >reinen ökonomie< definierbaren, fließenden >Sättigungsgrenze< auf dem Arbeitsmarkt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen ähnlich umstritten blieb, wie sie dies in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg war. Ein fünftes Problemfeld der zeitgenössischen Diskussion um die Ausländerzulassung auf dem Arbeitsmarkt in Preußen-Deutschland bildeten neben der schon erwähnten Diskrepanz zwischen der sprunghaft wachsenden räumlichen Mobilität einheimischer und der Immobilisierung auslän203

discher Arbeitskräfte - Schranken, die den beruflichen und sozialen Aufstieg ausländischer Arbeitskräfte und fremdsprachiger Minderheiten erschwerten und denjenigen einheimischer Arbeitskräfte indirekt erleichterten. Das galt besonders für dem »Rückkehrzwang« unterliegende ausländische Arbeiterkolonnen, bei denen beruflicher und sozialer Aufstieg ohnehin ausgeschlossen waren, weil die Kolonnen geschlossen kamen und gingen und es unter dem ausländischen Kolonnenführer (»Vorschnitter«) nur Gleiche unter Gleichen gab, obgleich selbst hier noch einschneidende arbeits- und sozialrechtliche Benachteiligungen »der Fremden« die Grenze auch zwischen preußisch-polnischen und ausländisch-polnischen Arbeitskräften markierten 54 . Es galt aber auch für jene Arbeitskräfte aus dem östlichen Ausland, die mit jährlich zu erneuernden Ausnahmegenehmigungen in sekundären, vor allem montanindustriellen Tätigkeitsbereichen in Dauerbeschäftigung zugelassen waren. Wichtig war hier vor allem die sogenannte Sprachklausel, die Ende der 1890er Jahre ins Bergrecht aufgenommen wurde: Sie diente einerseits der Betriebssicherheit und erschwerte andererseits den Aufstieg ausländischer Arbeitskräfte, aber auch der fremdsprachigen preußisch-polnischen Minderheit, denn sie band eine Übernahme von qualifizierten Arbeiten an die Kenntnis des Deutschen in Wort und Schrift. Die Einschätzung dieser Kenntnis aber oblag dem jeweiligen montanindustriellen Betrieb. Das wiederum erhöhte noch die Abhängigkeit der Betroffenen vom jeweiligen Vorgesetzten und die von einheimischen Arbeitskräften vielgeschmähte »kriecherische« Dienstbereitschaft und »Unterwürfigkeit« der »dummen Polacken«55. Die Sprachklausel verschärfte deswegen die Ungleichheit der Chancen auf der internationalisierten unteren Ebene des doppelten Arbeitsmarkts, auf der der deutschsprachige >Ungelernte< als eine Art >gelernter Deutschen ohnehin einen beträchtlichen Startvorsprung vor dem fremdsprachigen >Ungelernten< hatte. Aber auch unabhängig von der Sprachklausel forderte die Benachteiligung ausländischer Arbeitskräfte nicht selten den beruflichen und sozialen Aufstieg von einheimischen: Wenn man sich, berichtete 1911 das Breslauer Oberbergamt, bei der Ausländerbeschäftigung bislang »streng« an gewisse »Grundsätze« gehalten habe, so daran, »die ausländischen Arbeiter, da sie ungeübt und wenig intelligent sind, ausschließlich zu den schlechter bezahlten, nur geringe oder gar keine Geschicklichkeit erfordernden Arbeiten zu verwenden, den einheimischen Leuten dagegen die lohnenderen, aber auch mehr Überlegung und Gewandtheit erfordernden Arbeiten zu übertragen.« Beiläufig wurde angemerkt, »daß infolge der Heranziehung der Ausländer zu ausschließlich einfacheren und daher schlechter bezahlten Arbeiten die einheimischen Arbeiter in einem verhältnismäßig jungen Lebensalter bei besser bezahlten Arbeiten beschäftigt werden, demzufolge größere Verdienste erzielen und in eine günstigere materielle Lage kommen«56. Dies war der Zusammenhang, den Sartorius v. Waltershausen mit 204

dem Hinweis aufjene subproletarische ausländische »Arbeiterschicht zweiten Grades« ansprach, deren Zugehörige Funktionen erfüllten, wie sie »der Neger in den nordamerikanischen Oststaaten, der Chinese in Kalifornien, der ostindische Kuli in Britisch-Westindien, der Japaner in Hawaii, der Polynesier in Australien« übernehmen 57 Der Konflikt um die Ausländerbeschäftigung spaltete auf nationaler Ebene die organisierten Interessen auf dem Arbeitsmarkt, trennte in Betrieben und Distrikten mit starker Ausländerbeschäftigung in Zeiten angespannter Arbeitsmarktlage einheimische Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch einheimische und ausländische Arbeitskräfte und reichte von Kommunalverwaltung und Landratsamt bis hinauf ins preußische Staatsministerium, in dem wiederum Landwirtschafts- und Handelsministerium um die beste Position in der Zulassungsfrage konkurrierten, während Kultus- und Kriegs ministerium auf eine möglichst restriktive Ausländerzulassung drängten. Auf der internationalen Ebene standen neben Regierungsvertretern auch die Vertreter von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen des »Arbeitseinfuhrlandes« gegen diejenigen der Herkunftsländer der »ausländischen Wanderarbeiter« im Konflikt um Aus- und Einreisegenehmigungen und um arbeits- und sozialrechtliche Fragen in den Verhandlungen um bilaterale »Arbeits- und Wanderungsverträge« 58 . Die Freien Gewerkschaften im »Arbeitseinfuhrland« aber waren und blieben angesichts der in einzelnen Beschäftigungsbereichen stark fortschreitenden Internationalisierung des Arbeitsmarktes in ihrem Kampf um die Gleichstellung ausländischer und einheimischer Arbeitskräfte einerseits und gegen die unumschränkte Ausländerzulassung andererseits eingespannt in den Zielkonflikt zwischen proletarischem Internationalismus und nationaler Arbeitnehmervertretung. Das galt bis hin zu den Differenzen zwischen den nationalen Arbeitnehmervertretungen in der Beurteilung der internationalen Konferenzen über Aus- und Einwanderungsfragen zur Zeit der Weimarer Republik 59 In seiner Kipplage zwischen Aus- und Einwanderungsland war Deutschland doppelt betroffen von der Interessenspannung zwischen »Exportstaaten« und »Importstaaten« 60 um die Regelung des transnationalen Wanderungsgeschehens auf den Arbeitsmärkten. Als Auswanderungsland stand Deutschland in den Weimarer Jahren schließlich gegen die protektionistischen Einwanderungsrestriktionen, vor allem im überseeischen Haupteinwanderungsland USA, während es zugleich als »Arbeitseinfuhrland« eine restriktive Kontingentierung der Ausländerzulassung zu verteidigen hatte, die in ihren protektionistischen Intentionen erheblich weiterging als die neue amerikanische Einwanderungspolitik. »Die Wanderungswirtschaft der Welt befindet sich heute auf dem Weg vom Liberalismus zur staatlichen Planwirtschaft«, konstatierte K. C. Thalheim 193061. Diese Tendenz hatte seit dem Weltkrieg stark zugenommen. »Die Mehrzahl der Länder regelt seit dem Weltkrieg rücksichtslos nach eigenem Gutdünken das Recht der 205

Auswanderung der Staatsbürger und die Einwanderung der Fremden«, kritisierte I. Ferenczi 1927 die einseitigen Reglementierungen zum Schutz der Arbeitsmärkte, »und ihre Forderungen gegenüber anderen Staaten stehen vielleicht in noch krasserem Widerspruch zu dem eigenen Vorgehen als auf dem Gebiete der Zollpolitik«62. Das galt vor allem für Deutschland in der Spannung zwischen Aus- und Einwanderungsland. Das >unechte< Einwanderungsland selbst aber erlebte als »Arbeitseinfuhrland« seit den 1890er Jahren und über den Weltkrieg hinweg bis in die Anfangsjahre der Weimarer Republik hinein in der öffentlichen Diskussion Interessenkonflikte um die Ausländerbeschäftigung wie sie nach Reichweite und Intensität ansonsten nur in den Auseinandersetzungen um Fragen der Einwanderungspolitik in echten Einwanderungsländern begegneten63. Eine Einordnung der Untersuchungsergebnisse in den übergreifenden Zusammenhang der Entwicklung von Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung im Industrialisierungsprozeß fuhrt zu folgendem Ergebnis: Die Industrialisierung hatte das aus dem Strukturwandel der Agrarverfassung, aus der Krise von Altem Handwerk und vorindustriellem Gewerbe geborene Heer der besitzlosen und landlosen, der unterbeschäftigten und zunehmend auch erwerbslosen unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten nicht erzeugt. Sie hatte vielmehr eine von der vorindustriellen Hungerschaukel der Agrar- und Gewerbekrisen vom »type ancien« (Labrousse) an die Grenze der Massenverelendung gedrängte industrielle Reservearmee aus dem außerständischen Wartestand abgerufen und damit eine der wesentlichen Voraussetzungen ihres eigenen fortschreitenden Wachstums geschaffen64. Und doch waren fabrikindustrielle Arbeitsmärkte ebenso wie der entscheidend wichtige >BausektorEinwanderungsland< bewirkte (hierzu oben S. 193ff.) wird hier anstelle des mißverständlichen Begriffs der kontinentalen >Einwanderung< von kontinentaler Zuwanderung gesprochen. 3 Ders. Proletarian Mass Migrations, 19th and 20th Centuries, in: F. W. Willcox (Hg.), International Migrations, Bd. 1: Statistics, N e w York 1929 (Repr. 1969), S. 81 ff. 4 Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und Brandenburg; vergleichend mit einbezogen werden die Provinzen Schlesien und Sachsen. Für eine regional differenzierende Analyse: Bade, Massenwanderung, S. 305 ff; ders. Land oder Arbeit. 5 Ausgangsdaten fur die Berechnung der sektoralen Wertschöpfungs- und Beschäftigtenanteile bei: W G. Hoffmann, u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 205, 454f. 6 J. Fourastie, Le Grand Espoir du XX C Siecle, Paris 19584, hier bes. S. 86ff. 7 S. Anm. 5. 8 Bevölkerung und Wirtschaft 1872-1972, hg. v. Statist. Bundesamt, Wiesbaden 1972, S. 101 f. 9 Datenquelle: Reichsstatistik bei F. Burgdörfer, Die Wanderungen über die Deutschen Reichsgrenzen im letzten Jahrhundert, in: Allg. Statist. Archiv, 20. 1930, S. 161-196, 383-419, 536-551, hier S. 192. Zur Auswanderungsdiskussion in Deutschland zur Zeit der dritten Auswanderungswelle s. K. J. Bade, Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit: Revolution - Depression - Expansion, Freiburg i. Br. 1975, S. 80-120, 354-368. 10 Hierzu zuletzt: D. Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880-1914, in: VSWG 64. 1977, Η. 1, S. 1-40. 11 Hierzu: Bade, Massenwanderung, S. 275ff. 12 W. Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1880-1970, in: H. Aubin, W. Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte (HbWS), Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 20. 13 Hierzu und zum Folgenden: Bade, Massenwanderung, S. 275 ff. 14 J. Knodei, The Decline of Fertility in Germany, 1871-1939, Princeton N.J. 1974, S. 88 ff. 15 M. Weber, Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Dargestellt auf Grund der v o m Verein für Sozialpolitik veranstalteten Erhebungen, Schriften des Vereins für Socialpolitik (VfS), Bd. 55, Leipzig 1892; ders., Die ländliche Arbeitsverfassung, in: Verhandlungen der am 20. u. 21. 3. 1913 in Berlin abgeh. Generalvers, des VfS, Schriften VfS, 58. 1893, S. 62-86. 16 Hierzu Bade, Massenwanderung, S. 281 ff. 17 Datenquelle (kumulative Daten): Chr. Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 260. 18 J. Nichtweiss, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik von 1890 bis 1914, Berlin (Ost) 1959, S. 130ff.; vgl. Bade, Massenwanderung, S. 31 I f f .

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19 P. Schütze, Studien über die Entwicklung der Lohn Verhältnisse ländlicher Arbeiter in Nordostdeutschland seit 1870, Diss. Königsberg 1914, S. 16-18. 20 Vgl. hierzu: Bade, Massenwanderung, S. 302 ff. 21 K. Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 296. 22 J. Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 3: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1871 bis 1900, Berlin (Ost) 1962, S. 262. 23 Vgl. z.B. A. Knoke, Ausländische Wanderarbeiter in Deutschland, Diss. Leipzig 1911, S. 62; Nichtweiss, S. 36. 24 K. Kaerger, Die Sachsengängerei. Auf Grund persönlicher Ermittlungen und statistischer Erhebungen, in: Landwirtschaftl. Jahrb. 19. 1890, S. 239-522, hier s. 298; für Weber S. Anm. 15. 25 Weber in: Schriften VfS 55. 1892, S. 497, 581; 58. 1893, S. 71. 26 Hierzu oben S. 191. 27 Weber in: Schriften VfS, 55. 1892, S. 491 f., 793, 802f.; 58. 1893, S. 70ff. 28 Verband Deutscher Leinenindustrieller an Handelsmin. Brefeld, 23. 4. 1898, Zentrales Staatsarchiv II, Merseburg (ZSTA II), Rep. 120, VIII, 1, Nr. 106, Bd. 2, S. 311-314. 29 Datenquellen: Reichsstatistik bei Burgdörfer, S. 542; Statist. Jahrb., 50. 1931, S. 305; 51. 1932, S. 295; 52. 1933, S. 294. 30 Wanderungsbilanz nach der Reichsstatistik bei Burgdörfer, S. 539. 31 Hierzu und zum Folgenden: Bade, Politik und Ökonomie. 32 Weber in: Schriften VfS 55. 1892, S. 793. 33 Denkschrift über die Ein- und Auswanderung nach bzw. aus Deutschland in den Jahren 1910 bis 1920, in: Sten. Berr., 1920/1, Bd. 372, S. 4382ff. 34 Vgl. die Zusammenstellung bei O. Becker, Die Regelung des ausländischen Arbeiterwesens in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung der Anwerbung und Vermittlung. Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Berlin 1918, S. 114-119. 35 Frhr. v. d. Bussche-Kessel (Direktor der Feldarbeiterzentrale) in: Verhandlungen der Budapester Konferenz betr. Organisation des Arbeitsmarkts, 7., 8. 10. 1910 (Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins in Deutschland, H. 11), Leipzig 1911, S. 81; s. Anm. 2. 36 Z S T A II, Rep. 120, VIII, 1, Nr. 106, Bd. 6, S. 123f„ 131. 37 Nachweisungen über Zugang, Abgang und Bestand der ausländischen Arbeiter, ZSTA II, Rep. 87 B, Nr. 261; lange Reihen und Neuberechnung der Ausländerbeschäftigung im Kaiserreich in: Bade, Land oder Arbeit; Edition der amtlichen Daten der Ausländerbeschäftigung in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg i. Vorb. Der abrupte Anstieg der Kurve »Bestand ausländischer Landarbeiter« im Jahr 1914 war Ergebnis der Rückwanderungsverbote nach Kriegsausbruch. 38 Hierzu und zum Folgenden: Bade, Massenwanderung, S. 311 ff. 39 Weber in: Schriften VfS 55. 1892, S. 793; 58. 1893, S. 71; zur Rezeptionsgeschichte der >Verdrängungstheorie< sowie zum Folgenden s. Bade, Massenwanderung, S. 317ff. 40 Vgl. hierzu im Anschluß an Weber: G. F. Knapp, Die ländliche Arbeiterfrage, in: Schriften VfS, 58. 1893, S. 6-23, hier S. 15f., 18; Th. Frhr. v. d. Goltz, Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, Jena 1893, S. 281 ff; H. Frankenstein, Die Arbeiterfrage in der deutschen Landwirtschaft, Berlin 1893, S. 294f.; M. Sering, Die Verteilung des Grundbesitzes und die Abwanderung vom Lande, Berlin 1910, S. 29; W. Stieda, Beschäftigung ausländischer Arbeiter (Schriften des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise, H . 8), Berlin 1911; ders., Ausländische Arbeiter in Deutschland, in: Ztschr. fur Agrarpolitik, 9. 1911, S. 358-370, hier S. 360ff.· Knoke (1911), S. 59ff.; W. Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, Jena 1912, S. 114, 187; A. Skalweit, Agrarpolitik, 2. Aufl. Berlin 1924, S. 219, 261; F. Aereboe, Agrarpolitik, Berlin 1928, S. 163 ff. ·, Burgdörfer (1930), S. 395, 538, 541; A. u. E. Kulischer, Kriegs- und Wanderzüge. Weltgeschichte als Völkerbewe-

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gung, Berlin 1932, S. 159ff.; H. Rogmann, Die Bevölkerungsentwicklung im preußischen Osten in den letzten hundert Jahren, Berlin 1937, S. 85-88; F.-W. Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2, Paderborn 1978, S. 140; M. Rolfes, Landwirtschaft 1850-1914, in HbWS, Bd. 2, S. 509. 41 Vgl. hierzu: Heranziehung und Ausbeutung russischer Arbeiter als Schmutzkonkurrenten durch deutsche Industrielle, in: Vorwärts, 7. 2. 1906 (Beil.); M. Schippel, Die Konkurrenz der fremden Arbeitskräfte. Z u r Tagesordnung des Stuttgarter Internationalen Kongresses, in: Sozialist. Monatsh., 1906/11, S. 736-744; ders., Die fremden Arbeitskräfte und die Gesetzgebung der verschiedenen Länder. Materialien fiir den Stuttgarter Internationalen Kongreß, in: Neue Zeit, 1907/H (Beil. zu Nr. 41, 63 S.); Die Lohndrücker des Auslandes und die Internationale, ebenda, S. 511 ff.; Ausländische Arbeiter als Lohnsklaven, in: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 18. 1908, S. 17-19; Ausländische Arbeiter bei öffentlichen Arbeiten, ebenda, S. 486f.; Die Konkurrenz ausländischer Arbeitskraft beim Erweiterungsbau des Nord-Ostsee-Kanals, in: Deutscher Maschinist und Heizer, 18. 1913, S. 229f. 42 Becker, S. 112. 43 Sartorius v. Waltershausen, Die italienischen Wanderarbeiter, in: Festschr. fiir A. S. Schultze, Leipzig 1903, S. 80. 44 E. Graak, Die Arbeitsvermittlung in Deutschland. Entstehung, Formen, Wirksamkeit, Berlin 1926, S. 38-64; F. Syrup u. O. Neuloh, Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839-1939, Stuttgart 1957, S. 218ff. 45 Ζ STA II, Rep. 120, VIII, 1, Nr. 106, Bd. 2, S. 112fr.; E. Franke, Die polnische Volksgruppe im Ruhrgebiet 1870-1940, in: Jahrbuch des Arbeits wissenschaftlichen Instituts der D A F Berlin, 2. 1940/41, S. 319-404, hier S. 347; Knoke, S. 59-62; Kulischer, S. 195f.; Becker, S. 53f., 110; Syrup/Neuloh, S. 224f. 46 Knoke, S. 89. 47 ZSTA II, Rep. 120, VIII, 1, Nr. 106, Bd. 11, S. 384. 48 Knoke, S. 90, 92. 49 l. Ferenczi, Die internationale Regelung der kontinentalen Arbeiterwanderungen in Europa, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 20. 1924, S. 427-460, hier S. 436ff. Deutsche Sozialpolitik 1918-1928. Erinnerungsschrift des Reichsarbeitsministeriums, Berlin 1929, S. 130; Syrup/Neuloh, S. 309, 324; J. Tessarz, Die Rolle der ausländischen landwirtschaftlichen Arbeiter in der Agrar- und Ostexpansionspolitik des deutschen Imperialismus in der Periode der Weimarer Republik 1919-1932, Diss. Halle 1962 (Ms.), S. 47ff. 50 Stat. Jb. 52. 1933, S. 294. 51 Hierzu: Bade, Weimarer Republik. 52 ZSTA II, Rep. 120, VIII, 1, Nr. 106, Bd. 10, S. l l l f . 53 Sartorius v. Waltershausen, S. 80. 54 Uber die arbeits- und sozialrfechtliche Lage ausländischer Arbeitskräfte: Nichtweiss, S. 216ff. sowie Bade, Land oder Arbeit. 55 Franke, Poln. Volksgruppe, S. 347f.; Weber in: Schriften VfS, 55. 1892, pass.; vgl. Nichtweiss, S. 231 ff.; H.-U. Wehler, Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918, in: ders. (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1968, S. 437-455, hier S. 452f.; Kleßmann, S. 44, 68 ff. 56 S. Anm. 52. 57 Sartorius v. Waltershausen, Wanderarbeiter, S. 80. 58 Zu den bilateralen Verhandlungen über Arbeits- und Wanderungsverträge mit Polen: ZSTA I (Potsdam), Auswärtiges Amt (AA) 30007, 35226-35229; Reichsministerium des Innern (RMdl) 1673, 13729; mit Italien: ZSTA I, AA 34780-34783; RMdl, 1674, 1678; mit Jugoslawien: Z S T A I, AA 35198f.; R M d l 1682; mit Österreich: ZSTA I, AA 34784, 35221; mit Rumänien: ZSTA I, AA 35232; mit der Tschechoslowakei: ZSTA I, AA 35255; RMdl 1681; mit Ungarn: Z S T A I, AA 35259; vgl. Deutsche Sozialpolitik, S. 130f.; Tessarz, S. 6 9 f f , 1 3 3 f f , 184ff. 59 Vgl. hierzu neben Anm. 41 noch: Nichtweiss, S. 154ff; M. Grisebach, Die Wanderungs-

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frage auf internationalen Tagungen 1927/28, in: Der Auslandsdeutsche, 11. 1928, S. 726ff.; W Maas, Europäische Arbeiterwanderungen, in: Archiv fur Wanderungswesen, 5. 1932, S. 21-25, 45-50, 105f.;H. W. Tetzlaff, Das deutsche Auswanderungswesen unter besonderer Berücksichtigung der Überbevölkerung Deutschlands in staats- und völkerrechtlicher Sicht, Diss. 1953 (Ms.), S. 136ff. 60 Verhandlungen der Budapester Konferenz (s. Anm. 35), S. 94. 61 K. C. Thalheim, Gegenwärtige und zukünftige Strukturwandlungen in der Wanderungswirtschaft der Welt, in: Archiv fur Wanderungswesen, 3. 1930, S. 41-47, hier S. 47. 62 I. Ferenczi, Weltwanderungen und Wirtschaftsnot, in: Soziale Praxis, 36. 1927, S. 890-894, hier S. 890. 63 Vgl. hierzu neben den in Anm. 1 genannten Arbeiten: Nichtweiss, S. 143fF., 154fF. 175ff.; L. Eisner, Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des deutschen Reiches während des 1. Weltkrieges. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik, Diss. Rostock 1961 (Ms.), S. 251 ff.; ders. Sicherung und Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte. Ein Kriegsziel im 1. Weltkrieg, in: ZfG 24. 1976, S. 530-546; ders. (Hg.): Fremdarbeiterpolitik des Imperialismus, H. 1-5, Rostock 1974-1979; vgl. F. Zuttkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik des 1. Weltkriegs, in: G. A. Ritter (Hg.), Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschr. fur Η. Rosenberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1970, S. 280-311; dagegen: L. Eisner, Liberale Arbeiterpolitik oder Modifizierung der Zwangsarbeitspolitik? Zur Diskussion und zu den Erlassen über die Behandlung polnischer Landarbeiter in Deutschland 1916/17, in: Jahrb. für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, 22/II, Berlin (Ost) 1978, S. 85-105; Tessarz, S. llOff. 64 Vgl. hierzu am Beispiel der Krise des Handwerks seit dem späten 18. Jahrhundert: K. J . Bade, Altes Handwerk, Wanderzwang und Gute Policey: Gesellenwanderung zwischen Zunftökonomie und Gewerbereform, in: VSWG (1982).

WALTER KAMPHOEFNER

Kommentar zu Klaus J. Bade: Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich. Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis Ein populäres amerikanisches Lied aus der Zeit des ersten Weltkrieges stellte die schwerwiegende Frage, »How you gonna keep 'em down on the farm / After they've seen Parie?« Andererseits läuft ein roter Faden durch das ganze Genre der »country music«, die das Städteleben in Zeilen wie den folgenden beklagt: »Why did I leave from plowing the fields / and look for a job in the town?« Wie im Bereich der »popular culture«, so kommt man auch unter Wissenschaftlern zu sehr unterschiedlichen Bewertungen und Erklärungen der Zuwanderung in die Städte. Umstritten ist vor allem die relative Bedeutung von »push« und »pull«. Bade geht in dieser Untersuchung einen Schritt weiter als die meisten Migrationsforscher, indem er versucht, die verschiedenen Ströme von überseeischer Auswanderung, Binnenwan211

derung (meist Land-Stadt-Wanderung) und saisonaler kontinentaler Zuwanderung von einem integralen Interpretationsansatz aus miteinander in Beziehung zu setzen. Wichtig ist auch, daß er versucht, Wanderungsvorgänge und Wanderungspolitik nicht nur >von obenTeilmarktVereins der Nichtorganisiertem würden, unter keinen Umständen ausgesperrt würden« 27 , und fand in der Propagierung des »gelben« Werkvereins den Hebel, um sich aus der Aussperrungspflicht herauszuhalten. Damit wurde erstmals auf der Ebene des GDM der Werkverein als Mittel, die Unternehmensautonomie gegenüber dem Verband bei Arbeitskämpfen zu behaupten, ins Spiel gebracht. Jene Ankündigung der M A N ließ die anderen Augsburger Metallindustriellen, aus Sorge, an den potenten Konkurrenten, MAN, Aufträge und Marktanteile zu verlieren, auch von einer Beteiligung an der Aussperrung Abstand nehmen28. Wenn auch diese Spannungen im metallindustriellen Arbeitgeberlager nicht eine solche Schärfe annahmen, daß sie eine Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen unmöglich machten, sondern diese nur verzögerten, so war die schließliche Einigung wohl eher auf das Auftreten der Gegenseite, auf die Eskalation des Arbeitskampfes mit dem Reden von dem Generalstreik, auf die Stärke des DMV und die entwickelte Arbeitskampftaktik der organisierten Former zurückzufuhren, als auf die Tatsache, daß die Spannungen im Arbeitgeberlager bereits völlig beigelegt worden wären 29 In diese Richtung verweist auch die durch den Formerstreik ausgelöste, sich über ein halbes Jahr hinziehende kontroverse Diskussion um die satzungsgemäße Regelung der Gesamtaussperrung im GDM30. Während grundsätzlich eine weitere Zentralisation und eine Ausweitung der Kompetenzen des Spitzenverbandes und in diesem Zusammenhang auch die Gesamtaussperrung als Kampfmittel des Gesamtverbandes befürwortet wurden und mit Rücksicht auf den starken Gegner und die Kampftaktik des DMV als unverzichtbar erschienen, um die »Herr im Hause«-Position abzusichern, brachen heftige Meinungsverschiedenheiten an den Punkten auf, wo die ökonomischen Kosten solidarischen Handelns anstanden: in der Frage der Definition von Gesamtaussperrung und vor allem in der Frage, unter welchen Bedingungen Ausnahmen von der generellen Aussperrungspflicht bewilligt werden sollten. In der ersten Frage wurde 221

anstelle der Vollaussperrung, die der stellvertretende Gesamtverbandsvorsitzende Menck befürwortet hatte, schließlich das Ausmaß der Aussperrung im Rahmen der vom Gesamtverband anzuordnenden Gesamtaussperrungen auf 60% der Arbeiterbelegschaft eines Werkes heruntergedrückt31. In der zweiten Frage, Ausnahmen von der Aussperrungspflicht, ging der erste Vorschlag Mencks im August 1906 von der Überlegung aus: »[es] müsse eine Einrichtung getroffen werden, die den einzelnen Betrieben so große Opfer auferlege, daß sie an der Gestattung von Ausnahmen in der Regel kein Interesse hätten«32. Er empfahl, einen Geldbeitrag von mindestens 1,25 Mk. pro Tag für jeden nicht ausgesperrten Arbeiter ohne Rücksicht auf seine Organisationszugehörigkeit festzusetzen, wobei diese Beiträge in einen Solidaritätsfonds für die aussperrenden Firmen fließen sollten33. Weit weniger egalitär, weit weniger radikal in der Verpflichtung auf ein solidarisches Verhalten nahmen sich die schließlich im Dezember 1906 verabschiedeten Satzungsbestimmungen aus. Sie bestimmten: »Arbeiterverbände, welche sich durch ihre Vergangenheit bereits als zuverlässige Stütze der Arbeitgeber erwiesen haben, werden, falls der Bezirksverband, dem sie angehören, damit einverstanden ist, von der Aussperrung ausgenommen« und zwar auch über die eh bei einer Gesamtaussperrung weiter beschäftigten 40% der Arbeiterbelegschaft hinaus34. Allerdings wurden noch verschiedene Kautelen hinzugefügt, die dieses Ausnahmerecht, die Befreiung von der Aussperrungspflicht, schärfer eingrenzten und es nicht dem Belieben einzelner Bezirksverbände oder Unternehmen überließen, vielleicht aus taktischen Überlegungen einmal diesen, einmal jenen Arbeiterverein als solchen wirtschaftsfriedlichen Verein anzuerkennen und sich der Aussperrungspflicht zu entziehen. Es hieß weiter, daß »Arbeitgeber von Mitgliedern solcher Arbeiterverbände, für welche dieses Vorrecht in Anspruch genommen wird, (. .) den Beweis dafür führen (müssen), daß dieselben als Stütze des Arbeitgebers anzusehen sind«35, der Ausschuß des GDM mit 2/3 Stimmenmehrheit den Ausnahmeantrag zu bewilligen habe und mindestens 40% der Arbeiterbelegschaft eines Werkes einem solchen Arbeiterverbande angehören müßten, bevor ein entsprechender Antrag gestellt werden könne36.

II. Die »gelben« Werkvereine: Eine Institution zwischen den Arbeitsmarktparteien Die geplante Gesamtaussperrung als unmittelbare Reaktion und ihre satzungsgemäße Fest- bzw. Fortschreibung als Kampfmittel des GDM wie die damit einhergehende Zentralisation lassen den Formerstreik vom Frühjahr 1906 als Katalysator der weiteren Machtentfaltung und erhöhten 222

Kampfesstärke der organisierten metallindustriellen Arbeitgeber erscheinen. Allerdings war die diesen Machtzugewinn des GDM kodifizierende Satzungsänderung in ihrer Wirkung äußerst ambivalent, soweit diese Machtentfaltung die Konsolidierung der Solidarität im Arbeitgeberlager voraussetzte oder herstellen sollte. Einerseits erforderte und regelte die Satzungsneufassung vom Dezember 1906 die Einschränkung der einzelunternehmerischen Entscheidungs- und Handlungsautonomie zugunsten der verbandlichen Machtentfaltung und Kampfesstärke bis hin zur Gesamtaussperrung. Andererseits definierte sie zugleich die Ausstiegsmöglichkeiten und -bedingungen aus der Solidaritätsaktion bzw. aus der Aussperrungspflicht. Diese Ausstiegsmöglichkeiten kamen einer verbandsoffiziellen Anerkennung gegengewerkschaftlicher Organisationspläne nahe, die seit der Jahrhundertwende, verstärkt seit 1903/1904 von Wirtschafts- und auch nationalliberalen und konservativen politischen Kreisen, zuletzt noch vom 1904 gegründeten »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie« propagiert wurden37 Sie enthielten indirekt die Aufforderung, arbeitgeberfreundliche Arbeitervereine, also sogenannte wirtschaftsfriedliche »gelbe Gewerkschaften« zu fordern, indem sie auf den Nachweis entsprechender erfolgreicher Bemühungen die Prämie aussetzten, trotz Verbandsmitgliedschaft und der mit ihr einhergehenden Verpflichtung auf Arbeitgebersolidarität, ungestört von Aussperrungsbeschlüssen weiterhin produzieren zu können. Damit wurde vom Verband der Weg der funktionalen Erweiterung der antigewerkschaftlichen Arbeitgeberpolitik beschritten und zugleich den Mitgliedsfirmen eröffnet: Einerseits wurde die Aussperrung als offener (Vernichtungs) Kampf gegen die Gewerkschaften ergänzt durch ein indirektes Kampfmittel, die Gründung von gewerkschaftlichen Gegenorganisationen mit dem Ziel, die freigewerkschaftliche Organisationsmacht und -attraktivität auszuhöhlen. Gegenüber den weiteren >friedlichen< Kampfmitteln wie dem unparitätischen Arbeitgeber-Arbeitsnachweis, war dieses Kampfmittel andererseits - und hier lag seine weitreichende Bedeutung im Sinne einer funktionalen Ausdifferenzierung der Arbeitgeberverbandspolitik und für die Gestaltung der Betriebsverfassung - nicht ein direkt von verbandlichen Organisationen oder Aktivitäten abhängiges, arbeitsmarktöffentliches Kampfmittel, sondern ein vom Verband mitinitiiertes und gefordertes Kampfmittel, das das einzelne Unternehmen und »seine« Arbeiterschaft als autonome Organisations- und Aktionseinheit antigewerkschaftlicher Politik aufs neue konstituierte. Der in der Satzung vom Dezember 1906 eröffnete Rückzugs weg aus der Solidaritätspflicht kam dem einzelunternehmerischen Autonomieanspruch, der gewünschten Unternehmensbindung der Arbeiter an »das Haus« bei gleichzeitiger zusätzlicher Rückversicherung über die Mitgliedschaft in einer machtvollen Arbeitgeberorganisation und damit der Interessenlage von Großunternehmen besonders entgegen, da er mit deren finanziellen, organisatorischen und personellen Möglichkeiten am ehesten ver223

einbar war38. Diese Entwicklung im G D M begünstigte bereits bestehende Pläne, gegengewerkschaftliche Arbeiterorganisationen zu gründen, beschleunigte deren Realisierung und weitere Verbreitung. Solche Überlegungen waren seit der Jahrhundertwende als Reaktion auf die freigewerkschaftlichen Organisationserfolge, die großen Arbeitskämpfe im Wirtschaftsaufschwung der Jahre 1903/1905, unter dem Eindruck der sozialdemokratischen Wahlerfolge und auch der Februarrevolution in Rußland nicht nur in Arbeitgeberkreisen aufgekommen. Sie verfolgten eine dreifache Stoßrichtung: die Arbeiter politisch gegen die Sozialdemokratie und organisatorisch gegen die »Streikegewerkschaften zu immunisieren sowie schließlich die Arbeitskampfkosten fiir den Arbeitgeber zu minimieren bzw. Streik und Aussperrung als Produktionsunterbrechung auszuschließen39. Sie hatten sich bereits in verschiedenen konkreten Maßnahmen verdichtet und ihren institutionellen Niederschlag gefunden: in Revers vorlagen40, der unterschriftlichen Erklärung des Arbeiters, keiner Organisation anzugehören, als (Wieder)Einstellungsvoraussetzung (nach Arbeitskämpfen); im Institut der »eingeschriebenen Arbeiter«41, das 1904 im Anschluß an den Streik der Gürtler und Drücker die Vereinigung der Berliner Metallwarenfabrikanten eingeführt hatte und das gegen unterschriftliche Verzichterklärung der Arbeiter auf das Koalitions- und Streikrecht als arbeitgeberlich-verbandliche Gegenleistung die Beschäftigungssicherheit und - allerdings ohne Rechtsanspruch - eine Arbeitslosenunterstützung vorsah und schließlich in verschiedenen Formen von Arbeiterunterstützungs- und Werkvereinsgründungen42. Diese Vereine sollten als Auffangund Sammelbecken der nicht-organisierten, mit der freigewerkschaftlichen Kampftaktik unzufriedenen und gegenüber sozialistischem Gedankengut nicht aufgeschlossenen Arbeitern dienen und diese Arbeitergruppen unter von den Kampfgewerkschaften radikal verschiedenen Organisationsprinzipien und -zielen organisieren. Diese Vereine setzten dem überbetrieblichen und primär beruflichen Organisationsprinzip der freien Gewerkschaften ein einzelbetriebliches, berufsübergreifendes und alle Qualifikationsgrade umfassendes entgegen. Sie zielten auf den Zusammenschluß von Arbeitern aller Berufe und Qualifikations grade innerhalb eines Unternehmens. Damit wurde ein Verzicht auf eine kämpferische »öffentliche« Wahrnehmung der Arbeiterinteressen über die Organisation des Arbeitsmarktes gefordert, wie sie den Organisationsprinzipien und der Politik der freien Gewerkschaften zugrunde lag. An ihre Stelle sollte in den Werkvereinen eine friedliche, quasi »private« Wahrnehmung der Arbeiterinteressen innerhalb des Unternehmens treten, im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber und seinen Interessen und dies vorwiegend in sozial fursorgerischer Funktion43. Auch die Siemens-Unternehmensleitung, der Firmenchef Wilhelm von Siemens hat in Verein mit dem »Betriebsausschuß«, (der kurz nach dem Beitritt des Unternehmens in den V B M I im Dezember 1904 als zentrale 224

Koordinationsinstanz der Arbeiter- und Arbeitgeberverbandspolitik der beiden Siemensfirmen Siemens & Halske (S & H) und Siemens-Schuckertwerke (SSW) gegründet worden war und die Doppelfunktion einer Stab(Politikberatung, Beschlußvorlagen für den Vorstand) und einer Linienstelle (Anweisungsfunktion gegenüber den einzelnen Betrieben) innehatte44) in Anschluß an den Arbeitskampf in der Berliner Elektrizitätsindustrie (September 1905) und in Kenntnis bereits erfolgter und - wie im Augsburger Werk der MAN - anscheinend auch erfolgreicher Versuche, Arbeiter für den Eintritt in einen »wirtschaftsfriedlichen« Unterstützungsverein zu gewinnen45, seit dem Herbst 1905 die Erfolgschancen, die Vorund Nachteile der Gründung sowie mögliche Formen einer solchen Organisation in den Siemensfirmen und ihre Funktionen für das Unternehmen diskutiert46. Bis zum Mai/Juni 1906 waren diese Überlegungen soweit gediehen, daß anstelle individuell gestreuter materieller Vergünstigungen, Zusicherung von Beschäftigungssicherheit und Sozialleistungen bei Arbeiterwohlverhalten grundsätzlich befürwortet wurde, eine »antisozialdemokratische Organisation« mit finanzieller Unterstützung und weiterer Förderung seitens der Unternehmensleitung aufzubauen47 Während einzelne Mitglieder des Betriebsausschusses wie sein Sekretär Dr. Richard Fellinger bereits im Februar 1906 für die sofortige Gründung einer solchen Organisation eingetreten waren - da die Erinnerung an den Streik und die Aussperrungen im August/September des Vorjahres noch frisch und »die jetzt herrschende Stimmung der Arbeiterschaft für eine solche Organisation ausgenutzt werden (muß), bevor ein Abflauen eintritt ,«48 - , bestimmte der taktische Vorbehalt Wilhelm von Siemens, daß eine solche Gründung erst dann ernstlich in Frage kommen könne, wenn die Voraussetzungen für ihren Erfolg, eine zureichend große Zahl von Beitrittswilligen, gesichert sei, sowohl den ersten Beschluß, bis 1907 hiermit zu warten49 wie auch die schließlich vorgezogene Gründung des »Unterstützungsvereins von Arbeitern und Arbeiterinnen der SSW GmbH und der S&H AG (Versicherungs verein auf Gegenseitigkeit)« in den Berliner Siemens werken im Juli 190650. Dieses vorsichtige Taktieren der Siemens-Unternehmensleitung - erst nach einem vorgeschalteten erfolgreichen Modellversuch in den Nürnberger SSW (28. 6. 1906)51 entschloß sie sich auch in Berlin zur Initiierung und Finanzierung »einer Organisation der Anti-Sozialdemokraten« bzw. einer »Organisation der Nicht-Organisierten« mit offen antigewerkschaftlicher und damit letztlich, wenn auch verdeckt, antisozialdemokratischer Stoßrichtung52 - blieb nicht ohne den gewünschten Erfolg. Der Verein zählte im Oktober 1906 1650, im Dezember 1906 4500, im Mai 1907 bereits rd. 6200 Mitglieder und umfaßte 42% der Gesamtarbeiterschaft der Siemensfirmen53. Damit erfüllte der »Unterstützungsverein« bereits nach knapp einjährigem Bestehen 1907 die 40%-Klausel, von der die GDM-Satzung die Antragstellung abhängig machte, die Mitglieder solcher »als Stütze des Arbeitgebers« anzusehender Vereine von Aussper225

rungen auszunehmen 54 . »Unter aktiver Hilfe der Unternehmensleitung« 55 , die von laufenden finanziellen Zuwendungen, Arbeitsfreistellung der »gelben« Funktionäre, Hilfestellung bei der Organisations- und Öffentlichkeitsarbeit, werbewirksam fur den Werkverein lancierten Verbesserungen der Sozialleistungen und der materiellen - oft gewerkschaftlicherseits lange umsonst geforderten - Arbeitsbedingungen bis zur gezielten, auch massenhaften Entlassung »roter« Arbeiter reichte56, wuchsen die Mitgliederzahlen des Werkvereins weiter an, so daß trotz der Expansion der Arbeiterbelegschaft in den Siemensfirmen der Organisationsanteil des »Vereins« noch weiter bis auf rd. 80% der Arbeiterbelegschaft vor Kriegsausbruch anstieg und damit ununterbrochen bis 1916 über dem G D M - Q u o r u m lag57 Gleichzeitig als sich die Pläne, in Berlin einen Werkverein zu gründen, konkretisierten, versuchte die Siemens-Unternehmensleitung, diese auch im Arbeitgeberlager für sich vorteilhaft abzusichern: Die Attraktivität eines solchen Vereins lag fur die potentiellen Arbeitermitglieder vorrangig in der unternehmensseitig zugesicherten Beschäftigungskontinuität auch bei Aussperrungen. Diese durch eine verbandsseitige Garantie zu erhöhen und damit einhergehend zugleich für das Unternehmen, gewissermaßen satzungsgemäß verbrieft, die Garantie einzuhandeln, von verbandlichen Aussperrungsbeschlüssen ausgenommen und, von Verbandsaussperrungen nicht erfaßt, ungestört weiter produzieren zu können, wurde Gegenstand und Ziel der Siemens'schen Arbeitgeberverbandspolitik. In den Satzungsverhandlungen des G D M im Sommer 1906 trat insbesondere der Siemens-Direktor Dihlmann, Mitglied des Vorstandes und des Betriebsausschusses, zusammen mit dem MAN-Direktor Guggenheimer, einem der ersten Förderer »gelber« Werkvereine, vehement für eine entsprechende Regelung ein58. Wenn auch schließlich die neue Satzung des G D M vom Dezember 1906 diesen Forderungen nur unter Kautelen entsprach, die einerseits die Befreiung des einzelnen Unternehmens von der Aussperrungspflicht an die mehrheitliche Zustimmung des Arbeitgeberkollektivs zurückbanden und andererseits die Werkvereine zu wenig attraktiven, auch von einigen Unternehmern lieber verschleierten Arbeitswilligen- bzw. Streikbrechervereinen abstempelten 59 , so war mit den getroffenen Ausnahmebestimmungen doch gesichert, daß die Investitionen in einen Werkverein - wenn seine Gründung Erfolg hatte - sich für das Unternehmen auch rentieren würden. Diese zweigleisige und umsichtige Vorgehensweise der Siemens-Unternehmensleitung, die Berücksichtigung der möglichen Reaktionen der Arbeiter und die Rückversicherung gegenüber dem Arbeitgeberkollektiv, unterstreicht die angestrebte doppelte Instrumentalisierung des Werkvereins im Hinblick auf die Organisation des Arbeitsmarktes und die besonderen Organisationsverhältnisse in Berlin. Es galt einerseits die Angriffe der vor allem freigewerkschaftlich - organisierten Arbeiter gegen den Arbeitgeber als »Herrn« und gegen die Einschließung »seiner« Arbeiter in »sein 226

Haus«, und andererseits die Übergriffe der organisierten Arbeitgeber auf die Entscheidungs- und Handlungsautonomie des Unternehmens und auf die Selbstregelungskompetenz »im Haus« abzuwehren. Das Quasi-Organisationsmonopol des D M V unter der Arbeiterschaft der Siemensfirmen zu brechen und die Einflußnahme des D M V auf die Arbeiter und die Arbeiterpolitik des Unternehmens zurückzudrängen, war das besondere, partikulare Interesse der Siemensfirmen, das sie, insoweit als durch eine starke Gegenorganisation die Spaltung der Arbeiterbewegung vertieft 60 , ihre Kampfkraft und ihr Gesamtvertretungsanspruch geschwächt wurden, zum allgemeinen Interesse der Arbeitgeber in der Auseinandersetzung mit den Streikgewerkschaften aufwerteten. Das Primat des Betriebsinteresses trotz der mitgetragenen Verbandsinteressen abzusichern, war das besondere Ziel der Unternehmensleitung gegenüber dem Arbeitgeberkollektiv. Der Vorrang des Betriebsinteresses, im Werk verein neu definiert als gemeinsames Anliegen des Arbeitgebers und seiner Arbeiter, wurde, die partikularen Interessen von Siemens vor Augen - zugleich zum gemeinsamen und damit allgemeinen Ziel der organisierten Arbeitgeber erklärt. Trotz dieses im Siemensunternehmen erfolgreichen und von der Unternehmensleitung als generalisierbar propagierten Zusammenfalls von partikularem Betriebsinteresse und allgemeinem Arbeitgeberinteresse in der Institution des Werkvereins wurde diese Lösung einer unternehmenszentrierten, auf die relative Autonomie vom Arbeitsmarkt zielende Verwaltung und Beschaffung von Arbeitskräften nicht von allen Arbeitgebern weder in Berlin, noch im Deutschen Reich insgesamt übernommen oder auch nur befürwortet 61 . Die Gründung eines Werkvereins blieb auf einzelne, insbesondere Großunternehmen vor allem in der Schwer- und metallverarbeitenden Industrie beschränkt. Deren Werkvereinsgründungen und ihre oft rapide Mitgliederentwicklung nach 1905/190662 veranlaßte zwar zeitgenössische Befürworter der wirtschaftsfriedlich-nationalen Arbeiterorganisationen die herannahende Abenddämmerung der »Streikgewerkschaften« zu beschwören 63 , wobei sie die Werkvereine weit überbewerteten. Andererseits riefen diese Erfolge auch die Kritiker der Werkvereine aus den Reihen der bürgerlichen Sozialreformer auf den Plan, die bei vielen Vorbehalten gegen die Arbeitskampfpolitik und die Werbe- und Organisationsarbeit der »Kampfgewerkschaften« deren Legitimität und fortbestehende Bedeutung trotz ihres scheinbaren »Wertloswerdens« mit dem Aufkommen »kapitalhörig« organisierter Arbeitervereine unterstrichen64. Nach 1905/1906 kam es nicht nur, aber auch in Berlin zu zahlreichen, auch erfolgreichen Werkvereinsgründungen. Nahezu gleichzeitig, häufiger jedoch in der zeitlichen Nachfolge der Siemensfirmen und von ihnen beraten, förderten auch andere Berliner metallindustrielle Unternehmen die Einrichtung von Werkvereinen. Die Optische Anstalt C. P. Goerz gründete im Juni 1906, die Maschinenfabrik H. F. Eckert im März 1907, 227

die Elektrowerke Ludwig Loewe & Co. im Oktober 1907, die Maschinenfabrik Carl Flohr, die Berliner Motorenfabrik, die Stahl- und Eisengießerei Härtung, die Akkumulatorenfabrik AG Oberschöneweide im Verlauf des Jahres 1908 einen entsprechenden Werkverein65. Emil Rathenau hingegen, und mit ihm andere Direktoren der AEG, des größten Konkurrenzunternehmens von Siemens, zählten zu den schärfsten Kritikern der wirtschaftsfriedlichen Werkvereine. Sie würden die »anständigen Arbeiter« schlechterdings abstoßen, »gemeinste Kerle« anziehen und »schlimmste Heuchler« hervorbringen66; aus diesen Gründen und weil sie den sozialen Emanzipations- und Selbstorganisationsprozeß der Arbeiter zu unterlaufen versuchten, würden sie kaum »eine größere Zukunft« erwarten lassen67 Wenn auch Emil Rathenau im März 1911 und mit ihm Ernst von Borsig, Generaldirektor der Borsigwerke und seit 1906 Vorsitzender des VBMI, erstmals gegenüber Siemens die Erfolge der Werkvereinspolitik des Unternehmens anerkannten68 und bereits zuvor die AEG seit 1908 im Kabelwerk Oberspree69 und erneut nach 1910 die Gründung einzelbetrieblich begrenzter Werkvereine zuließ, ohne diese allerdings sonderlich zu fordern oder ihre Ausweitung auf das Gesamtunternehmen anzustreben70, änderte das wenig an der grundsätzlichen, weiterhin skeptischen Haltung gegenüber den »gelben« Werk vereinen71. Das von aktiver Förderung und Öffentlichkeitsarbeit bis zu heftiger, auch öffentlicher Kritik reichende Meinungsspektrum unter den V B M I Mitgliedsfirmen spiegelte sich wider in der lange Zeit abwartenden, bestenfalls einer wohlwollenden Neutralität gleichkommenden Haltung des V B M I . Erst im Dezember 1913, nachdem eine im gleichen Jahr eingesetzte »Kommission zum Studium der wirtschaftsfriedlichen Arbeiterbewegung« die Werkvereine in ihrer Funktion als arbeitgeberabhängige, dadurch dauerhaft auf Arbeitgeberinteressen hin zähmbare Organisation der Arbeiter und als »Bollwerk« gegen die »Streikgewerkschaften«, gegen betriebliche und überbetriebliche Streikbewegungen positiv bewertet hatte, entschloß sich der V B M I zu einer verbandsoffiziellen Stellungnahme für die Werkvereinsbewegung, die den Mitgliederfirmen deren Unterstützung empfahl72. Dennoch blieb die Einrichtung solcher Werkvereine in den Berliner Industrieunternehmen, auch in den metallindustriellen Unternehmen, der Sonderfall, obwohl Berlin nach der Anzahl der Werkvereine und deren Mitgliederstärke, besonders in der Metallindustrie, regional und branchenmäßig eines der bedeutendsten Organisationszentren der »gelben« Werkvereine war. Darin schlugen sich, die Bedeutung der anderen Werkvereine und ihre vergleichsweise Mitgliederstärke verzerrend, vor allem die Mitgliederzahlen des Siemens-Unterstützungsvereins nieder. 1912 waren in Berlin rund 30000 Arbeiter, vor allem Metallarbeiter, in Werk vereinen organisiert; von ihnen entfielen gut 70% auf den Siemens-Unterstützungsverein73. Im gleichen Jahr zählte der V B M I 112 Mitgliederfirmen mit rund 228

92000 beschäftigten Arbeitern74. Wenn die Mehrzahl dieser »gelb« organisierten Arbeiter durch Werkvereine von Verbandsfirmen erfaßt waren, waren damit nur knapp ein Drittel der von Verbandsfirmen beschäftigten Arbeiter »Gelbe«. Von den insgesamt 1912 bei den Verbandsfirmen des GDM beschäftigten 465947 Arbeitern waren 72772, d. s. 15,4% Mitglieder in wirtschaftsfriedlichen Vereinen; von diesen »Gelben« stellte der Siemens-Unterstützungsverein mit rund 21000 Mitgliedern ein knappes Drittel (29,0%)75. 1913, auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung, zählten alle wirtschaftsfriedlich-nationalen Vereinigungen in Berlin 58710 Mitglieder76. Die überwiegende Mehrzahl (68,1% oder 40000 Arbeiter) waren in Werkvereinen organisiert77 Mit seinen jetzt rund 24000 Mitgliedern umfaßte davon der Siemens-Werkverein als einer unter dreißig Werkvereinen knapp zwei Drittel der Berliner Werkvereinler78. Trotz der schnellen Organisationsentwicklung der »Gelben« blieben die freien Gewerkschaften jedoch die mit Abstand größte Arbeiterorganisation. Der Mitgliederstand aller wirtschaftsfriedlich-nationalen Vereinigungen Berlins belief sich 1913 nur auf '/s der freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter (305991). Die Mitgliederzahlen in den vorwiegend Metallarbeiter umfassenden Werkvereinen erreichten knapp die Hälfte (45%) der 88729 im Berliner DMV organisierten Metallarbeiter79

III. Die Funktion des Werkvereins als betriebliche Arbeitsmarktstrategie Trotz der Entfaltung der Werkvereine und ihrer unbestreitbaren Organisationserfolge blieb die Einrichtung eines Werkvereins auch in Berlin, »der Hochburg der Bewegung«80 und selbst unter den Mitgliederfirmen des VBMI ein Sonderfall. Er war darüber hinaus eine spezifische Variante der allgemeinen, auf die »quantitative äußere Beherrschung des Arbeitermaterials, der Zahl der Menschen, die man in den Betrieb hereinziehen und eventuell auch wieder aus ihm abstoßen möchte«,81 gerichteten Politik der Arbeitgeber als Mittel, um die freie Disposition über die Arbeiter und die Lohn- und Arbeitsbedingungen im Betrieb abzusichern. Der Arbeitsmarktprozeß wurde zum Gegenstand von Arbeitgeberpolitik. Die arbeitgeberseitige Organisation des Arbeitsmarktes war Anlaß und Ziel des kollektiven Zusammenschlusses der Arbeitgeber. Ihre Arbeitsmarktpolitik war eine Reaktion auf die Organisation des Arbeitsmarktes von der Arbeiterangebotsseite her, auf die Gewerkschaften, und zielte auf die Zurückdrängung von deren Einfluß. Mit verstärkter Dringlichkeit schien eine solche Reaktion auf die überbetrieblichen und überlokalen Streiks der Jahre 1904 bis 1906 in der Metallindustrie nötig. In diesen Streiks der Gelbmetallarbeiter, Former und der Arbeiter in der elektrotechnischen 229

Industrie Berlins hatten sich zum erstenmal die Organisationsfortschritte der freien Gewerkschaften und besonders des DMV in den Formen und Zielen der Streiks niedergeschlagen. Ihre seit 1900 stark expandierenden Mitglieder, die Zentralisation und vielseitige funktionale Ausdifferenzierung ihrer Organisation (Unterstützungsleistungen) hatten die Durchsetzungschancen der Gewerkschaften wesentlich verbessert und sie ihrem Ziel nähergebracht, durch die Organisation des Angebots auf dem Arbeitsmarkt auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen im Betrieb Einfluß zu gewinnen und diesen in der »konstitutionellen Fabrik« zu verankern. Im groben lassen sich drei Varianten der Arbeitsmarktpolitik der Arbeitgeber unterscheiden, deren gemeinsamen Rahmen die zunehmende gesellschaftliche Organisation (»Vermachtung«) des Arbeitsmarktes unter Bedingungen von weitgehender Abstinenz einer staatlich-politischen Regulierung dieser Organisation und einer staatlich-politischen Intervention in den Arbeitsmarktprozeß bis 1914/1916 abgab. Ihre Besonderheit war bei gleicher anti(kampf)gewerkschaftlicher Zielrichtung die je unterschiedliche Mittelwahl und damit die Gewichtung von allgemeinem Staats-, allgemeinem Arbeitgeber- und partikularem Unternehmensinteresse, um das Ziel zu erreichen. Die eine Variante, die bereits unmittelbar nach Auslaufen des Sozialistengesetzes, besonders in der Zuchthausvorlage von 1899 und auch nach deren Scheitern sowie angesichts des Erstarkens der freien Gewerkschaften immer wieder verfolgt wurde, zielte, indem sie Arbeitgeberinteressen zum allgemeinen Interesse erklärte, auf die »gesetzliche Beherrschung« des Arbeitsmarktes durch den Arbeitswilligenschutz und beinhaltete »das Postulat der gesetzlichen Zurverfügungstellung eines außerhalb der Organisationen stehenden dispositiven [Arbeiter-JMaterials«82. In diese Richtung der gesetzlich-staatlichen Regulierung des Arbeiterangebots verweisen auch die Wunschbilder Wilhelm von Siemens, der um 1906 sich fur eine staatlich administrierte Arbeiterbewirtschaftung unter Aufhebung der Freizügigkeit und damit auch des Marktmechanismus aussprach, wobei er als Gegenleistung mehrjährige oder lebenslängliche Arbeitsverträge und Sozialleistungen des Unternehmers vorsah83. Neben den Appell an die Staatshilfe trat als zweite Variante die kollektive Selbsthilfe der Arbeitgeber. Sie zielte auf die »technische Beherrschung des Arbeitsmarktes durch die Zwangsarbeitsnachweise«84, den Arbeitgeberarbeitsnachweis85. Als Institution des Arbeitsmarktes mit dem Anspruch der Monopolisierung des Stellenangebots, der politischen-disziplinarischen Zugangsrestriktionen zum Arbeitsplatz (Kontrolle der Organisationszugehörigkeit und der Arbeitsdisziplin) und dadurch auch der Sicherstellung von Streikbrechern setzte diese Politikvariante bereits den örtlich-regionalen und/oder branchenmäßigen Zusammenschluß der Arbeitgeber ebenso voraus wie ihre Effizienz von dem Zusammenhalt im Arbeitgeberlager abhing. Sie war somit weit stärker als die erste Variante von der Organisa230

tion und der Solidarität der Arbeitgeber abhängig und beeinträchtigte über diese Rückbindung an das Kollektiv die Dispositionsfreiheit des einzelnen Arbeitgebers, obwohl diese abzusichern allgemeiner Anlaß und auch Ziel der Arbeitgeberkoalition wie auch die Legitimation des Koalitionszwanges waren. Die dritte Variante schließlich, der Werkverein als »unternehmerseits vorgenommene Organisation von Arbeitswilligen« zielte darauf ab, dem einzelnen Unternehmen dauerhaft ein zureichendes Arbeiterpotential zu sichern, wobei diese Arbeitswilligen sowohl »aus dem Komplex der sonstigen, in Kampfstellung organisierten Arbeit« definitiv herausgelöst als auch »aus der großen breiten Flut der Gesamtarbeiterschaft, in der sie bisher gestanden hatte[n]«, ausgegrenzt werden sollten86. Dem entsprach gleichsam spiegelbildlich, daß sich das einzelne Unternehmen über seinen Werkverein aus der gemeinsamen Kampffront der organisierten Arbeitgeber zurückzog. An die Stelle der Beherrschung des äußeren Arbeitsmarktes als primäres Ziel solidarischer Arbeitgeberpolitik trat mit dem Werkverein als betriebsbezogener und -bindender Gegenorganisation der im Unternehmen beschäftigten Arbeiter die Beherrschung der Arbeiter im Unternehmen. Die Beherrschung des äußeren Arbeitsmarktes blieb zwar nach wie vor als Ziel erhalten, jetzt aber als Effekt der erfolgreichen Durchsetzung einzelbetrieblicher Interessen. Über die Institution des Werkvereins nämlich internalisierte das Unternehmen Arbeitsmarktfunktionen. Der Werkverein konstituierte das Unternehmen gleichsam als >Teilmarkt< mit besonderen verfestigten Regelungen der Allokation, Gratifizierung und Qualifizierung der Arbeitskräfte und grenzte es gewissermaßen vom äußeren Arbeitsmarkt ab, ohne es allerdings von diesem völlig abzukoppeln. Vielmehr bestimmten und förderten Struktur und Organisation des externen Arbeitsmarktes die weitere Ausbildung und Gestaltung des »internen Arbeitsmarktes«. Die Vorleistungen der Arbeiter für die Aufnahme in den SiemensWerkverein waren der offene oder implizite, auf jeden Fall aber effektive Verzicht auf den Streik als Mittel der Interessenartikulation und -durchsetzung87, ergänzt durch die Versicherung der »Unorganisiertheit« in betriebsübergreifenden »Streikegewerkschaften und die Zustimmung zur Vereinsprogrammatik, der Interessengemeinschaft von Arbeitgeber und Arbeitnehmern88. Diesen Vorleistungen der Arbeiter stand als untemehmensseitig zugesicherter Ertrag einer Werkvereinsmitgliedschaft die Beschäftigungssicherheit bei Lohnkämpfen auf dem externen Arbeitsmarkt89 und weitere, von einer mehrjährigen ununterbrochenen Beschäftigungsdauer abhängig gemachte betriebliche Sozialleistungen gegenüber90. Die Struktur der Arbeitskräftenachfrage, die Konkurrenz zwischen den Beschäftigern um qualifizierte und spezialisierte Metallarbeiter auf dem Berliner Arbeitsmarkt, die strukturelle Möglichkeit aufgrund der Vielzahl technisch ähnlich entwickelter und ökonomisch vergleichbar potenter 231

Metallunternehmen in Berlin und die Bereitschaft der Metallarbeiter zum Arbeitsplatzwechsel 91 machten allerdings weitere Gegenleistungen des Unternehmens erforderlich, wie sie andererseits Ausmaß und Form dieser Gegenleistungen bestimmten. U m die Arbeiter an den Betrieb zu binden und sie für das Betriebsinteresse zu vereinnahmen, reichte das Versprechen der Beschäftigungssicherheit nicht aus; zugleich mußten die Löhne, die Arbeitsbedingungen, aber auch die weiteren Sozialleistungen als nicht frei verfugbare (gebundene) Lohnbestandteile zumindest Schritt halten mit dem Niveau der Konkurrenzfirmen. So blieb Siemens an den externen Arbeitsmarkt, auch an seine Organisationen rückgekoppelt. An den nach wie vor mitgliederstarken und expandierenden DMV 92 blieb Siemens gleichsam negativ gebunden, insofern als - wie die Unternehmensleitung erkannte - den Arbeitern ein der Gewerkschaft vergleichbares Maß an Unterstützungsleistungen geboten werden mußte93. Positiv blieb das Unternehmen an den Arbeitgeberverband gebunden, der die Einhaltung der Verbandsgrundsätze forderte94. Die Herauslösung der Arbeiter aus der gewerkschaftlichen Organisation bzw. ihre dauerhafte gegengewerkschaftliche Organisierung entsprach nicht nur dem Unternehmensinteresse von Siemens, sondern war auch die verbandlich vorgegebene Auflage und Voraussetzung dafür, daß der VBMI die Sonderstellung der Siemensfirmen als Verbandsmitglied ohne Aussperrungspflicht tolerierte95. Diese Rückkoppelungen intensivierten wiederum die mit der Werkvereinsgründung angelegte Abgrenzung des Siemensunternehmens als >TeilarbeitsmarktMenschenmärktenMenschenbörsen ίΤ> D < QΌ τΝ -η C M On N OC COON CO C O ON C 0M 0 O M .3εΒis, rΌ a\ C Mm NO in CO Ο ο Ο COC COΟ m βS Ν N C ooN C MCO O r- CO C M 00 \o O •Φ a O Ο N 1β3 JÜ 3 < c r—i 1m C M N C M •Φ in CO m· ONNO TH CO •artc 2 3 ο Ο < C σν ε s-6 co o n < o in C M Ή 00 T H - ο C M oOoN « IcX Ν co in m ι> C < 0V0) sμ £ -C £ δ υ rt ΰQ β J ε oοo C O Ο CO οon in C M (