Handbuch der Verfassungsorgane im Grundgesetz [1 ed.] 9783428581627, 9783428181629

Ein Verfassungsstaat wirkt durch seine Verfassungsorgane. Das Buch untersucht die Verfassungsorgane des Grundgesetzes au

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Handbuch der Verfassungsorgane im Grundgesetz [1 ed.]
 9783428581627, 9783428181629

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Michael Kloepfer

Handbuch der Verfassungsorgane im Grundgesetz unter Mitarbeit von Rico David Neugärtner und Christoph Schmidt

Duncker & Humblot · Berlin

MICHAEL KLOEPFER

Handbuch der Verfassungsorgane im Grundgesetz

Handbuch der Verfassungsorgane im Grundgesetz Von Michael Kloepfer Unter Mitarbeit von Rico David Neugärtner und Christoph Schmidt

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-18162-9 (Print) ISBN 978-3-428-58162-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Ein Verfassungsstaat wirkt durch seine Verfassungsorgane. Das vorliegende Buch untersucht die Verfassungsorgane des Grundgesetzes aus vornehmlich rechtswissenschaftlicher Sicht: Die Bildung und das Funktionieren von Verfas­ sungsorganen werden dabei in erster Linie als Organzuständigkeiten behandelt. Das Recht der Organzuständigkeiten ermöglicht insbesondere die Verwirklichung des demokratischen Prinzips. Daneben zielt das Verfassungsorganrecht auf eine wechselseitige Kontrolle der Verfassungsorgane, verteilt Macht und sichert der­ gestalt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger. Letztlich sollen Organzustän­ digkeiten aber vor allem die Lösung von politischen und sachlichen Problemen auf der politisch sinnvollsten Ebene, durch eine möglichst sachkundige und ‚kompetente‘ Stelle ermöglichen. Zur Sicherung der Effektivität staatlicher Auf­ga­ benerfüllung müssen Zuständigkeitsnormen den Verfassungsorganen auch Raum für Kooperation lassen. Das Buch betrachtet Verfassungsorgane nicht nur als Träger von Organzustän­ digkeiten. Es nimmt sie auch als Institutionen wahr, deren Zuständigkeiten nur dann richtig verstanden werden können, wenn ihre Geschichte, ihre faktisch-in­ stitutionellen Machtstrukturen und ihr tatsächliches Mitwirken am ‚Verfassungs­ leben‘ berücksichtigt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt zudem auf den wechselseitigen Beziehungen der Verfassungsorgane untereinander, also auf der Lösung von Organzuständigkeitskonflikten einerseits und der Koordinierung der Ausübung von Organzuständigkeiten andererseits. Die Betrachtung der Wechsel­ wirkungen zwischen Verfassungsorganen und der Vergleich ihrer Zuständigkeits­ normen führen zu allgemeinen Lehren, gewissermaßen zu einem Allgemeinen Teil des Rechts der Verfassungsorgane. Der einfache Gesetzgeber ist nicht nur an die Verfassung gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), er gestaltet sie auch zunehmend in verfassungskonkretisierender und -ausfüllender Form mit. Gerade (aber nicht nur) im Staatsorganisationsrecht ist in den letzten Jahrzenten ein ‚sekundäres Verfassungsrecht‘ entstanden, und zwar in Form verfassungskonkretisierender einfacher Gesetze. Soweit in diesem Rahmen möglich stellt das vorliegende Werk auch die Grundstrukturen dieser Gesetze so­ wie natürlich auch der Geschäftsordnungen der behandelten Verfassungsorgane dar. Für ihre wertvolle inhaltliche Mitarbeit bin ich vor allem Rico David Neugärtner und Christoph Schmidt sehr dankbar. Auch Leonora Plener und Sina Jakob sowie Ben Bakalović, Rita Jordan, Mika Knör, Klara-Sophie Krause, Max Lenz, Alba Schmal und Jan-Louis Wiedmann haben Beiträge zur Fertigstellung des Buches geleistet, wofür ich ihnen ebenfalls sehr dankbar bin.

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Vorwort

Das Buch berücksichtigt den Rechtsstand bis August 2020; teilweise konnten aber auch spätere Entscheidungen und Gesetzesänderungen bei der Drucklegung noch nachgetragen werden. Anregungen, Kritik und Korrekturen sind willkommen (Prof. Dr.  Michael ­ loepfer, Juristische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin, Hausvogtei­ K platz 5–7, 10099 Berlin, [email protected]). Berlin, im September 2021

Michael Kloepfer

Inhaltsübersicht Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 § 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 § 2 Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 § 3 Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 § 4 Gemeinsamer Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 § 5 Bundespräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 § 6 Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 § 7 Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 § 8 Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. a. E. a. F. AbgG

anderer Ansicht am angegebenen Ort am Ende alte Fassung Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundes­ tages (Abgeordnetengesetz) Abs. Absatz Abschn. Abschnitt abw. abweichend(e)  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EU-Arbeits­ AEUV weise­vertrag) Alternative für Deutschland AfD Ausschuss für Produktsicherheit AfPS Acquired Immune Deficiency Syndrome AIDS Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutsch­ AK-GG land Akt. Aktuell; Akte Alt. Alternative ÄndG Änderungsgesetz Anm. Anmerkung(en) AöR Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) AR Allgemeines Register des Bundesverfassungsgerichts ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz arg. argumentum Art. Artikel Allgemeiner Teil AT AtAV Verordnung über die Verbringung radioaktiver Abfälle oder abgebrann­ ter Brennelemente (Atomrechtliche Abfallverbringungsverordnung) Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von AufenthG Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) Aufl. Auflage Ausg. Ausgabe Archiv für Völkerrecht (Zeitschrift) AVR Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen AwSV Beschluss vom B. v. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF BAnz. Bundesanzeiger Bay Bayern; bayerisch Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) BayVBl. BayVerf Verfassung des Freiheitsstaates Bayern Bayerischer Verfassungsgerichtshof BayVerfGH

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Gesetz über die Deutsche Bundesbank BBankG BBG Bundesbeamtengesetz Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Brandenburg BbgGVBl. Brandenburgisches Landeswahlgesetz BbgLWahlG Verfassung des Landes Brandenburg BbgVerf Beck-OK Beck’scher Online-Kommentar Wissenschaftlicher Beirat für Biodiversität und genetische Ressourcen Beirat-GR Bd. Band BDG Bundesdisziplinargesetz BDSG Bundesdatenschutzgesetz Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in BeamtStG den Ländern (Beamtenstatusgesetz) Begr. Begründung Bek. Bekanntmachung Beschl. Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch BGB Bundesgesetzblatt, Teil I BGBl. I Bundesgesetzblatt, Teil II BGBl. II Bundesgesetzblatt, Teil III BGBl. III Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behinder­ BGG tengleichstellungsgesetz) BHO Bundeshaushaltsordnung Bonner Kommentar (zum Grundgesetz) BK Bln. Berlin Verfassung von Berlin BlnVerf Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft BMELV Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung BMinG (Bundesministergesetz) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit BMU BND Bundesnachrichtendienst Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und BNetzAG Eisenbahnen Bundeszentrale für politische Bildung BpB BPräsRuhebezG Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversamm­ BPräsWahlG lung Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen BremStGH Bremisches Wahlgesetz BremWahlG Gesetz über den Bundesrechnungshof (Bundesrechnungshofgesetz) BRHG Gesetz zur Regelung des Schuldenwesens des Bundes (Bundesschulden­ BSchuWG wesengesetz) Entscheidungen des Bundessozialgerichts BSGE bspw. beispielsweise BT-Drs. Bundestagsdrucksache Gesetz über die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft BüWG BVerfG Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE Gesetz über das Bundesverfassungsgericht BVerfGG

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Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfG-K BVerwG Bundesverwaltungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE B-VG Bundes-Verfassungsgesetz BWahlG Bundeswahlgesetz BWO Bundeswahlordnung Verfassung des Landes Baden-Württemberg BWVerf bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise Center of Advanced European Studies and Research CAESAR Christlich Demokratische Union CDU Christlich Soziale Union CSU der; die; das; des; den; dem; durch d. durch Gesetz vom d. G. v. das heißt d. h. Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 DBA Deutsche Demokratische Republik DDR ders. derselbe Diss. Dissertation Deutsche Juristen-Zeitung DJZ Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) DÖV Deutsche Partei DP Deutsche Richterzeitung DRiZ Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) DVBl. Deutsche Wirtschaftskommission DWK ebd. ebenda ED. Edition Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR Einl. Einleitung EMRK Europäische Menschenrechtskonvention Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsge­ EnWG setz) et cetera (usw.) etc. Gesetz zur Errichtung des Deutschen Ethikrats (Ethikratgesetz) EthRG Europäische Union EU EU-DSGVO Datenschutz-Grundverordnung Europäischer Gerichtshof; Gerichtshof der Europäischen Union EuGH Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGRZ Vertrag über die Europäische Union EUV Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lis­ EUV-Lissabon sabon Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus EuWG der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz) Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem EUZBBG Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegen­ EUZBLG heiten der Europäischen Union Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG

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Europäische Volkspartei EVP folgende, folgender f. Frankfurter Allgemeine Zeitung F. A. Z. Forum Constitutionis Europae FCE Freie Demokratische Partei FDP ff. folgende, folgender Festgabe; Finanzgericht FG FGO Finanzgerichtsordnung Fn. Fußnote Frankfurt am Main Frankfurt a. M. FS Festschrift Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses G 10 (Artikel 10-Gesetz) G. Gesetz geänd. geändert gem. gemäß Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz) GenTG GeschO Geschäftsordnung GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien GGO Gemeinsames Ministerialblatt GMBl. Geschäftsordnung; Gemeindeordnung GO Geschäftsordnung des Bundesrates GOBR Geschäftsordnung der Bundesregierung GOBReg Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages GOBT Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts GOBVerfG Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss GOGA Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss GOGemA GPSG Gesetz über technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte (Geräteund Produktsicherheitsgesetz) grds. grundsätzlich Gesetz- und Verordnungsblatt GVBl. GVG Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen GWB hour (Stunde) h herrschende Meinung h. M. Handbuch des Deutschen Staatsrechts HbDStR Handbuch des Staatsrechts HbStR HChE Herrenchiemsee-Entwurf Hervorh. Hervorhebung Hessischer Staatsgerichtshof HessStGH Verfassung des Landes Hessen HessVerf Humboldt Forum Recht (elektronische Zeitschrift) HFR hinsichtl. hinsichtlich Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg HmbVerf Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz

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in der Fassung in der Regel im engeren Sinne im Sinne des / der im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit im weiteren Sinne International Criminal Court International Center for the Settlement of Investment Disputes (Interna­ tionales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten) Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Infor­ IFG mationsfreiheitsgesetz) Internationaler Gerichtshof IGH insb. insbesondere Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bun­ IntVG destages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz) Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft IPA Geschäftsordnungsvorschriften der interparlamentarischen Arbeitsge­ IPA-Regeln meinschaft Internationaler Strafgerichtshof IStGH Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) JA Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge JöR N. F. Juristische Rundschau (Zeitschrift) JR Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Jura Juristische Schulung (Zeitschrift) JuS JuSchG Jugendschutzgesetz JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel KfZ Kraftfahrzeug Kommunaljurist (Zeitschrift) KommJur Kommunistische Partei Deutschlands KPD KredAnstWiAG Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KritV Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt KVG LSA KWahlG Kommunalwahlgesetz lat. lateinisch Lfg. Lieferung littera (Buchstabe) lit. LkrO Landkreisordnung Landes- und Kommunalwahlgesetz Mecklenburg-Vorpommern LKWG M-V Ls. Leitsatz Verfassung des Freistaates Bayern LV-Bay Verfassung des Landes Brandenburg LV-Bbg Verfassung von Berlin LV-Bln Verfassung der Freien Hansestadt Bremen LV-Bre Verfassung des Landes Baden-Württemberg LV-BW i. d. F. i. d. R. i. e. S. i. S. d. i. S. v. i. Ü. i. V. m. i. w. S. ICC ICSID

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Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg LV-Hbg Verfassung des Landes Hessen LV-He Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern LV-MV Niedersächsische Verfassung LV-Nds Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen LV-NRW LV-RP Verfassung für Rheinland-Pfalz Verfassung des Saarlandes LV-Saa Verfassung des Freistaates Sachsen LV-Sac Verfassung des Landes Schleswig-Holstein LV-SH Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt LV-LSA Verfassung des Freistaats Thüringen LV-Th Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein LVerfG SH Bayerische Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau LWG m. mit mit weiteren Nachweisen m. w. N. mit Wirkung vom m. W. v. Mio. Million(en) Mrd. Milliarde(n) Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern MVVerfG neue Fassung n. F. North Atlantic Treaty Organization NATO Niedersächsischer Staatsgerichtshof NdsStGH Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NJW Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz NKomVG Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates (Normen­ NKRG kontrollratgesetz) Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland NordÖR Nationaldemokratische Partei Deutschlands NPD Nr. Nummer NRW Nordrhein-Westfalen Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen NRWVerfGH NS Nationalsozialismus National Security Agency (deutsche Nationale Sicherheitsbehörde) NSA Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP Nationalsozialistische Untergrund NSU Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht, Rechtsprechungs-Report NStZ-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen NWVerfGH oder ähnliche(s) o. ä. Ökologisch-Demokratische Partei ÖDP Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen OrdenG Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über ParlBG den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteili­ gungsgesetz) Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekre­ ParlStG täre Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) PartG

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Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung Partei des Demokratischen Sozialismus Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bun­ destages Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tä­ PKGrG tigkeit des Bundes (Kontrollgremiumgesetz) PostG Postgesetz Verordnung zur Sichersetllung des Postwesens (Postsicherstellungsver­ PSV ordnung Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deut­ PUAG schen Bundestages (Untersuchungsausschussgesetz) Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift) RdJB Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (Re­ RegG gionalisierungsgesetz) Gesetz über die religiöse Kindererziehung RelKErzG RGBl. Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RGZ Rn. Randnummer RSK Reaktor-Sicherheitskommission Gesetz zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung von Kreditin­ RStruktFG stituten, zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organ­ haftung (Restrukturierungsfondsgesetz) Recht und Politik (Zeitschrift) RuP Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 RV Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfen RWG s. siehe Seite; Satz S. siehe auch s. a. s. o. siehe oben Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäi­ S&D schen Parlament SA Sturmabteilung Verfassungsgericht Sachsen-Anhalt SachsAnhVerfG Gesetz über die Bildung einer Sachverständigenrates zur Begutachtung SachvRatG der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt SächsGVBl. Verfassung des Freistaates Sachsen SächsVerf sec. secundum Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung – SGG V SGG Sozialgerichtsgesetz Verfassung des Landes Schleswig-Holstein SHVerf sog. sogenannte(s) Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPD Sozialistische Reichspartei Deutschlands SRP Sachverständigenrat für Umweltfragen SRU SS Schutzstaffel PBnE PDS PetAG

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ständige Rechtsprechung Gesetz zur Errichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Stabilitätsratsgesetz) Ministerium für Staatssicherheit in der DDR Stasi Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft StabG (Stabilitätsgesetz) Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europä­ StabMechG ischen Stabilisierungsmechanismus (Stabilisierungsmechanismusgesetz) Stenografische Berichte Sten. Ber. StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen StUG Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz) siehe unten s. u. Verfassung des Saarlandes SVerf Süddeutsche Zeitung SZ Thüringer Verfassungsgerichtshof ThürVerfGH TierSchG Tierschutzgesetz TKG Telekommunikationsgesetz u. und unter anderem; und andere u. a. und so weiter u. s. w. unter Umständen u. U. UGB Umweltgesetzbuch unveränd. unverändert(e)  urspr. ursprünglich Urt. Urteil Vereinigte Staaten von Amerika USA von; vom v. v. a. vor allem Var. Variante Verf Verfassung Verf. Verfasser Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik Verf. DDR Gesetz über den Verfassungsgerichtshof Berlin VerfGHG Bln. Verfassung des Landes Hessen VerfHE Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern VerfMV Niedersächsische Verfassung VerfND Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen VerfNRW Verfassung des Freistaats Thüringen VerfTH Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) VerwArch VG Verwaltungsgericht vgl. vergleiche VO Verordnung vs. versus Verbraucher und Recht (Zeitschrift) VuR Verfassung von Berlin VvB Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL st. Rspr. StabiRatG

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VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WahlPrüfG Wahlprüfungsgesetz WBeauftrG Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages WGBU Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltverände­ rung WRV Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Weimarer Reichs­ verfassung) WSA Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820; Wirtschafts- und Sozialausschuss WTO World Trade Organization (Welthandelsorganisation) WÜD Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen WVK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (Wiener Vertrags­ rechtskonvention) z. B. zum Beispiel z. T. zum Teil ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZFdG Gesetz über das Zollkriminalamt und die Zollfahndungsämter (Zollfahn­ dungsdienstgesetz) ZfP Zeitschrift für Politik ZG Zeitschrift für Gesetzgebung Ziff. Ziffer zit. zitiert ZKBS Zentrale Kommission für Biologische Sicherheit ZParl Zeitschrift für Parlamentsfragen ZPO Zivilprozessordnung ZPol Zeitschrift für Politikwissenschaften ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStaatsw Zeitschrift für Staatswissenschaften zul. zuletzt zust. zustimmend ZustAnpG Gesetz zur Anpassung von Rechtsvorschriften an veränderte Zuständig­ keiten oder Behördenbezeichnungen innerhalb der Bundesregierung (Zu­ ständigkeitsanpassungsgesetz)

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen Übersicht A. Verfassungsorgane und Zuständigkeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Verfassungsorgan Volk und „besondere“ Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . 22 C. Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

I. ‚Organ‘, ‚Staatsorgan‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25



II. ‚Organwalter‘, ‚Amtswalter‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29



III. ‚Unterorgan‘, ‚Organteil‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31



IV. ‚Verfassungsorgan‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32



V. ‚Oberstes Bundesorgan‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. „Oberstes Bundesorgan“ mit Verfassungsorganqualität . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. ‚Oberstes Bundesorgan‘ ohne Verfassungsorganqualität . . . . . . . . . . . . . . . 35

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38



II. Kreation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Wahl oder Ernennung von Organwaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Wahlmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Voraussetzungen für Organwalter; insbesondere Ineligibilität und Inkompa­ tibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41



III. Amtszeit, Beendigung des Amts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43



IV. Selbstorganisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Geschäftsordnungsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Bestimmung des Sitzes der Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Stellung im Haushaltsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49



V. Mehrheiten in Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1.  Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Mehrheitsbegriffe und Mehrheitserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Abstimmendenmehrheit oder Mitgliedermehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Einfache oder qualifizierte Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 c) Kombinationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 d) Anwesendenmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 e) Meiststimmenmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54



VI. Verfassungsprozessuale Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

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§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

E. Arten von Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 F. Beziehungen der Verfassungsorgane des Bundes untereinander . . . . . . . . . . . . . 57

I. Gegenseitige Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57



II. Kreation, Kompatibilitäten, Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58



III. Zusammenwirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58



IV. Gegenseitige Rücksicht; Verfassungsorgantreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

G. Rang der Verfassungsorgane des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

I. Verfassungsrechtliche Hierarchie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61



II. Protokollarische Rangfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

H. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64



II. Verfassungsgarantien für den Bestand einzelner Verfassungsorgane . . . . . . . . 65



III. Möglichkeiten punktueller Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66



IV. Unzulänglichkeiten von Regelungen für Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Typische Schwachstellen der Regelungen zu den Verfassungsorganen . . . 67



V. Beseitigung von Unzulänglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Abhilfe bei unterschiedlichen Verfassungsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Abhilfe bei teilweise unvollständigen Verfassungsregelungen (partielle Lücken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Abhilfe bei durchgängigen Verfassungslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69



VI. Modernisierung der Regelungen zu den Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . 70

A. Verfassungsorgane und Zuständigkeitsregelungen

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A. Verfassungsorgane und Zuständigkeitsregelungen Ein Verfassungsstaat bedarf der Einrichtung von Verfassungsorganen.1 Die dabei auftretenden Rechtsfragen sind zwar nicht ausschließlich, aber ganz vor­ wiegend Zuständigkeitsfragen,2 teilweise auch verfassungsrechtlich gerahmte Legitimationsfragen3. Als politisch-institutionelle Phänomene sind Verfassungs­ organe zwar mehr als die Summe ihrer Zuständigkeiten.4 Sie sind auch durch ihre jeweilige Geschichte, durch ihre faktisch-institutionellen Machtstrukturen, durch ihr tatsächliches Mitwirken am ‚Verfassungsleben‘5 und durch Zuschreibungen (Akzeptanz, Autorität, ‚Würde‘, Charisma) geprägt. Aus verfassungsjuristischer Sicht werden die Kreation (Bildung), die Tätigkeit und das Funktionieren von Verfassungsorganen jedoch in erster Linie als Zuständigkeiten der Verfassungsorgane behandelt. Zuständigkeitsfragen bilden regelmäßig zumindest den Aus­ gangspunkt für die Beurteilung von Verfassungsrechtsfragen im Recht der Ver­ fassungsorgane. Dabei hat die Zuständigkeitsordnung in einem Verfassungsstaat verschiedene Funktionen: Sie vermeidet nicht nur konfliktreiche und ineffiziente Mehrfachzuständigkeiten einerseits, sondern auch blockierende oder lähmende negative Kompetenzkonflikte andererseits. Getrennte Zuständigkeiten dienen aber darüber hinaus auch der Gewaltenteilung und der Gewaltenkontrolle und letzt­ lich der Machtmäßigung des Staats. Die Aufteilung der Verbandszuständigkeiten ermöglicht die vertikale Gewaltenteilung. Die Aufteilung der Organzuständig­ keiten realisiert die horizontale Gewaltenteilung, geht aber darüber hinaus, da sie auch die machtmäßigende Funktion von Organzuständigkeiten innerhalb einer ‚Gewalt‘ ermöglicht. Schließlich kann eine gegliederte Kompetenzordnung auch dazu dienen, dass die Lösung von politischen und sachlichen Problemen auf der politisch sinnvollsten Ebene und durch eine möglichst sachkundige Stelle erledigt wird (Effektivität des staatlichen Handelns).

1 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994 [1928], S. 119 (198): „Organe“ gehören zu den „wesentliche[n] Stücke[n] der Verfassung“. 2 Vgl. Schnapp, JuS 1995, 286 (288); vgl. auch Lovens, Bundesverfassungsrichter zwischen freier Meinungsäußerung, Befangenheit und Verfassungsorgantreue, 2009, S. 73: „Funktio­ nal betrachtet, ist ein Organ zu beschreiben als Aufgaben-, Zuständigkeits- und Kompetenz­ komplex“. 3 Diese Legitimationsfragen lassen sich teilweise als Zuständigkeitsfragen formalisieren: s. u. Rn. 7. 4 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994 [1928], S. 119 (198), welcher das „Dasein“ der Organe neben ihrer Bildung und ihrer Tätigkeit als selbstständigen Aspekt der verfassungsrechtlichen Be­ deutung von Verfassungsorganen führt. 5 Hier bestehen Anknüpfungspunkte zur insbesondere von Smend (und Triepel) erarbeite­ ten Integrationslehre (dazu unten Rn. 156, 158). Die besondere Stellung der Verfassungsorgane kann Rückwirkungen auf das Organkompetenzrecht haben – so insbesondere im Grundsatz der Verfassungsorgantreue (dazu unten Rn. 158 ff.).

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§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

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Bei der Zuständigkeitsordnung im Bundesstaat ist die Verbandszuständigkeit von der Organzuständigkeit zu unterscheiden. Die Verbandszuständigkeit entschei­ det die Frage, ob der Gesamtstaat (Bundesrepublik Deutschland – publizistisch verkürzt: der Bund6) oder ob die Länder zuständig sind. Mit der klugen Formel des Art. 30 GG sind an sich Doppelzuständigkeiten zwischen Bund und Ländern ebenso ausgeschlossen wie (weitgehend) auch negative Kompetenzkonflikte (vo­ rausgesetzt, die Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen ist nicht streitig).

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Die in diesem Buch behandelten Verfassungsregelungen über Verfassungsorgane fragen nach der Organzuständigkeit dieser Organe. Sie setzen allerdings zwin­ gend die Verbandszuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland voraus. Wo die Verbandszuständigkeit des Bundes fehlt, kann ein Bundesorgan überhaupt nicht zuständig sein. Eine Ausnahme stellt die Organleihe dar .7

4

Die Vorschriften des Grundgesetzes trennen nicht immer konsequent zwi­ schen Verbandszuständigkeit und Organzuständigkeiten. Im III. bis VI. Abschnitt der Verfassung sind fast ausschließlich Vorschriften über Organzuständigkeiten enthalten, während in vielen anderen Abschnitten sowohl Regelungen über Ver­ bandszuständigkeiten als auch Organzuständigkeiten im Bund durcheinander ge­ regelt sind (z. B. im IX. Abschnitt über die Rechtsprechung8, im X. Abschnitt über das Finanzwesen und im Abschnitt Xa über den Verteidigungsfall).

B. Verfassungsorgan Volk und „besondere“ Verfassungsorgane 5

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dies bestimmt Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG. Danach ist das Volk die Quelle aller staatlichen Willensbildung.9 Die Umsetzung dieses staatlichen Willens, „die Ausübung“ von Staatsgewalt geschieht nach Art. 20 Abs. 2 S. 2  GG  – erstens  – durch das Volk (als allgemeines Verfassungs- und Staatsorgan) in Wahlen und Abstimmungen sowie – zweitens – „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“.10 6

Hierzu näher Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 14 ff. Bei der Organleihe wird ein Organ eines Rechtsträgers (z. B. des Bundes) ermächtigt und beauftragt, einen Aufgabenbereich eines anderen Rechtsträgers (z. B. eines Landes) wahrzu­ nehmen. Ein Beispiel stellt die Ermächtigung des Art. 99 Var. 1 GG dar, wonach dem Bun­ desorgan Bundesverfassungsgericht durch Landesgesetz die Entscheidung von Verfassungs­ streitigkeiten innerhalb eines Landes zugewiesen werden kann (s. § 8 Rn. 136 f.). 8 Innerhalb des IX. Abschnitts widmet sich Art. 92 GG in grundlegender Form den Ver­ bandszuständigkeiten von Bund und Ländern in der Rechtsprechung; Art. 93 GG sieht eine Re­ gelung der Organzuständigkeit des Bundesorgans Bundesverfassungsgericht dar; Art. 96 GG verbindet Fragen der Verbandszuständigkeit und der Organzuständigkeit. 9 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 12 ff. 10 Vergleichbares ergab sich etwa aus Art. 1 Abs. 2, Art. 5 WRV. 7

B. Verfassungsorgan Volk und „besondere“ Verfassungsorgane 

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Dieser Bestimmung kann man entnehmen, dass das Volk als allgemeines Staatsorgan existiert und zwar unabhängig von der Ausübung der Staatsgewalt durch die „besondere[n] Organe“ der Staatsgewalt. In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht das Volk ausdrücklich als „Verfassungsorgan des demo­ kratischen Staates“ qualifiziert.11

6

Die Ausübung von Staatsgewalt durch das Volk selbst ist auf Bundesebene nach den Vorschriften des Grundgesetzes allerdings auf die Wahl des Bundestags nach Art. 38 Abs. 1 GG beschränkt, sieht man einmal vom Plebiszit über eine neue Ver­ fassung nach Art. 146 GG und der plebiszitären Entscheidungsmacht über eine Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 Abs. 2 GG ab. Im Ergebnis redu­ ziert sich die Funktion des Volks als Organ weitestgehend auf die eines Legitimations- und Kreationsorgans für den Deutschen Bundestag.12 In dieser – freilich zentralen – Funktion übt das Volk Staatsgewalt als Staatsorgan aus.

7

Allerdings wird das Volk in der staatsrechtlichen Judikatur und Schrifttum nur vereinzelt als Verfassungs- oder Staatsorgan bezeichnet.13 Der Rede vom Volk als Organ haftet inso­ weit eine gewisse Lebensferne an, was ihrer verfassungstheoretischen Richtigkeit freilich nicht entgegensteht. Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass dem ‚Volk‘ neben seiner Rolle als Verfassungsorgan jedenfalls zwei weitere Bedeutungen zugeschrieben werden, die vom Organstatus zu unterscheiden sind: Das ‚Volk‘ ist weiterhin Träger aller Staatsgewalt – und zwar sowohl von pouvoir constituant (verfassungsgebender Gewalt) wie auch von pouvoir constitué 14, also auch der Träger der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG genannten „besondere[n] Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung.“ Schließ­ lich ist das ‚Volk‘ aus polito­logisch-soziologischer Sicht die (reale)  „Gemeinschaft der Staatsbürger“.15

8

Ob neben einem Bundesverfassungsorgan ‚Bundesvolk‘ auch die einzelnen ‚Landesvölker‘ als (Landes-)Verfassungsorgane anzuerkennen sind, wird unterschiedlich beurteilt:16 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat ausdrücklich vom „Landesstaatsvolk“ als Legitimationssubjekt gesprochen;17 die wohl überwiegende Auffassung im Schrifttum geht ebenfalls von der Existenz eigenständiger Landesvölker aus.18 Teilweise wird darauf hinge­ wiesen, dass die Vorstellung eines eigenständigen ‚Landesvolks‘ – ebenso wie die Vorstellung von der ‚Staatlichkeit‘ der Länder – nicht zwingend sei, da es auch Ausgestaltungen demo­

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11

BVerfGE 8, 104 (114) – Volksbefragung. Kritisch hierzu etwa Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (290 f.). 13 Vgl. neben BVerfGE 8, 104 (114) – Volksbefragung, etwa Stern, Das Staatsrecht der Bun­ desrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 10, 38 f., mit Verweis auf G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 406 ff., 546. 14 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 99 ff. 15 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 10, mit Ver­ weis auf G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 406 ff. 16 Vgl. zur Diskussion S. Augsberg, ZG 2012, 251 (257 f.). 17 BVerfGE 83, 60 (74) – Ausländerwahlrecht II. 18 Vgl. nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 669 (unter Verweis auf die „Staatlichkeit der Länder“), m. w. N. 12

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§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

kratischer Herrschaft außerhalb des Modells der Staatlichkeit mit starrem Begriff des Volkes gebe.19 Dieser Einwand ist allerdings selbst nicht zwingend.

10

Im Vordergrund der Verfassungspraxis auf Bundesebene stehen regelmäßig die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG zuletzt genannten „besondere[n] Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ als die Verfassungs- und Staatsorgane des Bundes.20 Dies liegt an der eingeschränkten Handlungsfähigkeit des Verfassungs- und Staatsorgans Bun­ desvolk: Der Staat kann in der Regel wie jeder Personenverband effektiv nur durch seine (be­ sonderen) Organe handeln.21

11

Den weit überwiegenden Teil der staatlichen Gewalt nehmen  – institutionell und funktionell durch das Prinzip der Gewaltenteilung getrennt22 – die „besondere[n] Organe“ wahr. Statt des Volks handelt regelmäßig das Repräsentationsorgan Bundestag. Der Bundestag übernimmt als ein besonderes Organ originäre Aufga­ ben des Volks: Der Wille des Parlaments gilt als der Wille des gesamten Volks.23

12

Diese Aufgabenverteilung entspricht dem Wesen der nach Art. 20 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 GG konstituierten repräsentativen Demokratie.24 Die danach grundsätzlich eigenständige Willensbildung der Organe setzt nach der demokra­ tischen Grundentscheidung in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG zwar das Bestehen einer – über den Wahlakt vermittelten – ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen25 voraus. Die Organfunktion des Volks beschränkt sich dabei allerdings auf die Rolle eines Legitimationsorgans.

13

Dem Volk als Verfassungsorgan stehen also nur diejenigen Kompetenzen zu, welche die Ver­ fassung ihm ausdrücklich zuspricht.26 Für über Art. 29 Abs. 2 und Art. 146 GG hinausgehendes direkt-demokratisches Handeln auf Bundesebene gibt es somit einen Verfassungsvorbehalt.27

14

Das Volk als Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt (s. o. Rn. 8) könnte jedoch als Schöpfer einer neuen Verfassung tätig werden. Das Volk handelt dann allerdings gerade nicht (mehr) als grundgesetzliches Verfassungsorgan. Hieran ändert auch die – verfassungs­ theoretisch und verfassungsrechtsdogmatisch eher unklare – Norm des Art. 146 GG nichts, welche auf die verfassungsgeschichtliche Besonderheit des Grundgesetzes als (permanentes) Provisorium28 zurückzuführen ist. 19

Vgl. S. Augsberg, ZG 2012, 251 (258 f.), der vom Bestehen unterschiedlicher Demokratie­ modelle in Bund und Ländern ausgeht: Das etatistische Demokratiemodell des Bundes (mit starrem Begriff des ‚Volkes‘) müsse nicht für die Ebene der Länder gelten. 20 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 572 ff.; Stein / Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 56. 21 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 572 ff. 22 Dazu umfassend Möllers, Gewaltengliederung, 2005; s. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 44 ff. 23 So schon: Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. I, 1922, S. 302; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 38 f. 24 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 85 ff. 25 BVerfGE 47, 253 (275) – Gemeindeparlamente. 26 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 39. 27 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 185 ff. 28 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 31 ff.

C. Begrifflichkeiten

25

Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland befasst sich – vornehmlich im III.–VI. Abschnitt  – ausschließlich mit den („besonderen“) Verfassungsorganen des Bundes. Die sich hierbei stellenden Fragen der Organ­ kompetenz von Verfassungsorganen des Bundes setzen wie erwähnt (s. o. Rn. 3) in jedem Fall das Bestehen der Verbandskompetenz des Bundes – im Verhältnis zu den Ländern – nach Art. 30, 70 ff., 83 ff., 92 GG voraus.

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C. Begrifflichkeiten I. ‚Organ‘, ‚Staatsorgan‘ Der Staat handelt wie jede juristische Person29 durch seine Organe. Die Bun­ desrepublik Deutschland und die Länder stellen jeweils Gebietskörperschaften, also juristische Personen des öffentlichen Rechts, dar. Diese werden durch ihre Organe tätig.

16

Staatsorgane sind rechtlich geschaffene, institutionelle Einrichtungen des Staats, deren Wirken als Handeln des Staats gilt.30 Wie das Handeln einer Hand das Handeln des Menschen selbst ist, stellt das Handeln der Staatsorgane das Han­ deln des Staats selbst dar.31

17

‚Organ‘ stammt etymologisch vom altgriechischen órganon für ‚Werkzeug‘ her.32 Wie bei der Verwendung eines (bloßen) Werkzeugs durch einen Menschen wird auch beim Organ­ handeln im juristischen Sinn das Handeln nicht etwa dem Organ selbst, sondern der dahinter

18

29 Grundlegend zum Staat als juristischer Person Albrecht, Göttingische gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff. (1495): Den Sprachgebrauch vom Staat als juristischer Person habe es, wie Albrecht selbst ausführt, um 1837 durchaus schon gegeben, allerdings sei die Vorstellung nicht konsequent auf die Darstellung des Staatsrechts angewendet worden; beachte zu Albrecht frei­ lich C. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Reprä­ sentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), 1997, S. 44 f.: Albrecht habe „in der Sache [noch] auf dem Boden der älteren Staatslehre“ gestanden, da er den Staat noch nicht als „ein völlig autonomes Willenssubjekt“ begriffen, sondern lediglich betont habe, dass der Monarch auf eine über ihm stehende Idee des höheren Gemeininteresses verpflichtet sei; Kritik an der Konzeption des Staates als juristischer Person bei Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (287 ff.), mit der Forderung, den Staat als „Organisation“ und „Veranstaltung des Volkes“ zu begreifen. 30 Vgl. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010, § 82, Rn. 132; zum „Organ im juristischen Sinne“ im Allgemeinen, vgl. auch (referierend) Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (274): Handeln des Organs „als [die juristische Person] und für [die juristische Person]“. 31 Vgl. v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, S. 29: „[W]ie, wenn das Auge sieht oder der Mund spricht oder die Hand greift, der Mensch sieht und spricht und greift, so wird, wenn das Organ innerhalb seiner Zuständigkeit gehörig funktioniert, die Lebens­ einheit des Ganzen unmittelbar wirksam.“ 32 Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 1338; vgl. auch Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 10, mit Verweis auf RGZ 3, 123 (129).

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§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

stehenden (juristischen) Person zugeordnet. Ein bloßes Werkzeug oder Organ ist  – anders als eine (juristische) Person – nicht selbstständig willens- und handlungsfähig. Aus etymo­ logischer Sicht ist bemerkenswert, dass ‚Organ‘ keineswegs auf Vorstellungen von einem le­ bendigen (menschlichen) Körper beschränkt ist, sondern auch auf technisch-mechanische – also gewissermaßen ‚anorganische‘ – Werkzeuge wie Musikinstrumente oder medizinische Instrumente verweist. Freilich ist die biolog(ist)ische33 Lesart durchaus wirkmächtig und assoziationskräftig.34

19

Rechtswissenschaftlich wurde der Organbegriff mit Blick auf die „Verfassung juristischer Personen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch v. Savigny eingeführt.35 Schon v. Savigny bezog dabei neben privatrechtlichen „Corporationen“ ausdrücklich auch ju­ ristische Personen ein, die „wohl gar (wie die Gemeinden) die Grundbestandtheile des Staates selbst bilden.“36 Insbesondere v. Gierke wendete – neben Preuß, Haenel und G. Jellinek37 – den Gedanken des Organhandelns sodann auch auf das Staatsrecht an.38 Eine komplexere begriffliche, rechtstheoretische und rechtsdogmatische Konturierung und Vertiefung erfuhr der Organbegriff im staats- sowie verwaltungsrechtswissenschaftlichen Kontext dann jedoch erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem durch die Arbeiten von H. J. Wolff.39 Dieser arbeitete insbesondere die Unterscheidung von ‚Organ‘, ‚Organwalter‘, ‚Amt‘ und han­ delndem (physischem) Menschen heraus (s. u. Rn. 32 ff.).40

20

Da das Handeln der Organe das Handeln der juristischen Person selbst darstellt, ist es folgerichtig, dass Organe keine eigene Rechtspersönlichkeit haben. Dies unterscheidet das Organ von der juristischen Person, für (bzw. als) die es handelt. Ein Organ hat zwar Wahrnehmungszuständigkeiten, jedoch – anders als eine ju­ ristische Person – keine eigenen Rechte, die ihm (über die Wahrnehmungszustän­ digkeit hinaus) nach außen „endgültig“ zustünden.41 33

Auch: „organologische“ Lesart; kritisch zur „organologischen Metaphorik“ Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (273). 34 Vgl. Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 10. 35 Vgl. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. II, 1840, S. 324: „Organe [der] allgemeinen Verfassung“ einer juristischen Person; vgl. weiterhin ders., a. a. O., S. 333. 36 v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. II, 1840, S. 325, vgl. auch S. 333 ff. zu den „Verfassungen“ „deutscher Städte“. 37 Vgl. die ausführlichen Nachweise und Einordnungen bei Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (271). 38 Vgl. v. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, in: ZStaatsW 30 (1874)  – unveränd. Neudruck der Erstveröffentlichung: ders., Die Grund­ begriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, 1915, vgl. dort insbesondere S. 123 ff.; vgl. auch ders., Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, S. 12 ff. 39 Vgl. H. J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Bd. 1, Juristische Person und Staats­ person, 1933; ders., Organschaft und Juristische Person, Bd. 2, Theorie der Vertretung, 1934; ders. Verwaltungsrecht, Bd. II, 1962; aktuelle Auflage ders. / Bachof / Stober / Kluth, Verwal­ tungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010. 40 Vgl. zu den Beiträgen H. J. Wolffs zum Organisationsrecht Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269. 41 Vgl. (die allgemeine Auffassung referierend)  Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (270, 274); Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 37, der Organ und juristische Person abgrenzt, freilich aber auch davon spricht, dass die Rechtssubjektivität der Organe „im Grundsatz nicht mehr in Frage steht“.

C. Begrifflichkeiten

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Organe weisen (nur) Teilrechtsfähigkeit, d. h. „relative Rechtsfähigkeit, be­ zogen auf den organschaftlichen (innerorganisatorischen) Rechtskreis“, auf.42 Nach außen handelt aus rechtlicher Sicht demgegenüber nicht das Organ, sondern vielmehr die entsprechende juristische Person, also beispielsweise die Bundesre­ publik Deutschland oder ein Land.

21

In diesem Sinn ist beispielsweise auch Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zu lesen, welcher von „Rechte[n] und Pflichten eines obersten Bundesorgans“ spricht. Diese „Rechte und Pflichten“ gelten innerhalb der Staatsorganisation (z. B. „Recht“ der Bundesregierung, Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten zur Gegenzeichnung vorgelegt zu bekommen, vgl. Art. 58 S. 1 GG), nicht aber im Außenverhältnis, insbesondere nicht gegenüber dem Bürger.

22

Staatsorgane bestehen sowohl auf Bundesebene wie auch auf Landesebene. Auch auf der Ebene der Europäischen Union wirken Organe.43 Diese werden freilich nicht als Staatsorgane bezeichnet; es sind Unionsorgane.

23

Der Blick auf die institutionelle Ausgestaltung von Organen auf anderen politischen Ebenen, insbesondere auf Landesebene, kann durchaus Inspiration für die Verfassungsrechtspolitik auf Bundesebene bieten: Beispielsweise kann die im Jahr 2018 in Bayern geführte verfassungsrechtspolitische Diskussion um eine Begrenzung der Amtszeit des bayerischen Ministerpräsidenten auf maximal zehn Jahre als Vorlage für Diskussionen um eine mögli­ che Grundgesetzänderung zur Einführung einer Amtszeitbegrenzung für den Bundeskanzler (s. u. Rn. 88) dienen.

24

Vor allem auch der Verfassungsvergleich bzw. der Vergleich mit dem Recht der Europäi­ schen Union kann die verfassungspolitische Phantasie befeuern. Schließlich kann der Rück­ griff in die Verfassungsgeschichte sinnvoll sein, um etwaige Verfassungsänderungen bezüglich der bisherigen Verfassungsorgane anzuregen.

25

Zu den Staatsorganen gehören die jeweiligen Verfassungsorgane (s. u. Rn. 45 ff.), also u. a. der Bundestag bzw. die Landtage und die Bundesregierung bzw. die Lan­ desregierungen, aber auch sämtliche Verwaltungsbehörden der unmittelbaren Staatsverwaltung44 und (staatliche) Gerichte.

26

Von Organen der unmittelbaren Staatsverwaltung des Bundes oder der Länder, also bei­ spielsweise den Bundes- und Landesministerien und ihrem etwaigen Unterbau, sind Akteure der mittelbaren Staatsverwaltung45 zu unterscheiden. Hierzu zählen insbesondere die Kom­ munen (Gemeinden und Gemeindeverbände) sowie die Universitäten und Rundfunkanstal­ ten öffentlichen Rechts. Diese erfüllen zwar Staatsaufgaben, weisen allerdings eine eigene Rechtspersönlichkeit auf und stehen als eigenständige juristische Personen des öffentlichen Rechts neben (und im) Staat.

27

42

So, die allgemeine Auffassung referierend, Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (270), Hervorh. d. Verf., m. Verweis auf H. J. Wolff, Verwaltungsrecht, Bd. II, 3. Aufl. 1970, § 74 I f.; vgl. nunmehr ders. / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010, § 82, Rn. 176: „jedenfalls im Innenrechtsverhältnis teilrechtsfähig“. 43 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 40, Rn. 11 ff. 44 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 30 f., 117 ff. 45 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 30 f., 131 ff.

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§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

28

Organhandeln ist von der (gesetzlichen sowie rechtsgeschäftlichen) Stellvertretung abzugrenzen.46 Anders als beim Organhandeln liegt bei der Stellvertre­ tung eine eigene (selbstständig rechtlich relevante47) Handlung (genauer: Willens­ erklärung) des Vertreters und nicht etwa eine Handlung der vertretenen Person vor (vgl. § 164 Abs. 1 S. 1 BGB48). Bei der Stellvertretung erfolgt erst in einem rechtstechnisch zweiten Schritt die Zurechnung der Handlung (genauer: der Wil­ lenserklärung) des Vertreters zum Vertretenen. Demgegenüber gilt die Handlung eines Organs nach überwiegender Auffassung unmittelbar als Handlung der dazu­ gehörigen juristischen Person (s. o. Rn. 17).49

29

Ungeachtet dieser dogmatischen Unterscheidung von Organhandeln und Stellvertretung ist zu beachten, dass das Grundgesetz insoweit (anscheinend)  undeutliche Formulierungen enthält: Beispielsweise ist es mit Blick auf die vorgestellte dogmatische Differenzierung missverständlich, wenn das Grundgesetz in Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG davon spricht, dass der Bundespräsident den Bund völkerrechtlich vertrete (s. § 5 Rn. 109 ff.). Richtigerweise handelt es sich hierbei um keine rechtsgeschäftliche Stellvertretung, sondern um Organhandeln des Verfassungsorgans Bundespräsident für die juristische Person Bundesrepublik Deutschland. Ein ähnliches Problem stellt sich im Verfassungsprozessrecht beim Bund-Länder-Streit. Hier sieht § 68 BVerfGG vor, dass die jeweilige Regierung (Bundesregierung bzw. Landesregie­ rung) als Antragsteller oder Antragsgegner für den Bund bzw. das beteiligte Land auftritt. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit von einer „Vertretungsberechtigung“ gesprochen (s. § 8 Rn. 513).50

30

Zum Teil wird im Schrifttum vorgeschlagen, diesem terminologischen Problem dadurch zu entgehen, dass – im Anschluss an H. J. Wolff51 – über den engen (zivilrechtlich geprägten) Begriff der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung im Sinne der §§ 164 ff. BGB ein weiter reichender Oberbegriff der ‚Vertretung‘ gestellt wird, der auch das Organhandeln und damit beispielsweise auch die Konstellation der „völkerrechtlichen Vertretung“ nach Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG umfasse.52

31

Selbstverständlich können grundsätzlich – vorbehaltlich (verfassungs-)rechtlicher Grenzen (vgl. z. B. Art. 33 Abs. 4 GG) – auch juristische Personen (des öffentlichen Rechts wie des Privatrechts) vom Institut der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung Gebrauch machen. Aller­ dings muss im Falle der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung einer juristischen Person die

46

Vgl. bereits v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, 28 f. Im Einzelnen ist das Verhältnis von Organhandeln und Vertretung freilich seit dem 19. Jahrhundert stark umstritten, hierzu Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 17 ff. 47 Vgl. nur § 177 Abs. 1 BGB für die Folgen einer ‚Vertretung ohne Vertretungsmacht‘. 48 § 164 Abs. 1 S. 1 BGB lautet: „Eine Willenserklärung, die jemand innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen abgibt, wirkt unmittelbar für und gegen den Vertretenen.“ 49 Vgl. Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 18, m. w. N. zur „heute herrschende[n] Lehre“. 50 BVerfGE 129, 108 (115) – Legislativstreit Schuldenbremse; vgl. auch Bethge, in: Maunz / ​ Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 38. Lfg. 2012, § 68, Rn. 4, m. w. N. 51 Zur „Organschaft als Vertretungsform“ H. J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Bd. 2, Theorie der Vertretung, 1934, S. 1 f. 52 Vgl. Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 59, Rn. 59.

C. Begrifflichkeiten

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juristische Person zunächst rechtsgeschäftlich dem Vertreter eine Vollmacht einräumen. Diese Bevollmächtigung kann die juristische Person nur durch Organhandeln bewerkstelligen.53

II. ‚Organwalter‘, ‚Amtswalter‘ Ein Staatsorgan als ‚künstliche‘, da rechtlich geschaffene, institutionelle Ein­ richtung des Staats, deren Wirken als Handeln des Staats gilt (s. o. Rn. 17), ist zu unterscheiden von den ‚natürlichen Personen‘, genauer: von den physischen Menschen, deren Handeln diesem Staatsorgan zugeordnet wird.54 Diese Menschen werden als ‚Organwalter‘ bezeichnet. Das Organ ist in seinem Bestand unabhängig von der individuellen Person und vom Wechsel dieser Organwalter.55 Im Schrift­ tum wird teilweise betont, dass verfassungsrechtliche Pflichten zwar das betref­ fende Verfassungsorgan, nicht aber den jeweiligen Organwalter (als Privatperson) verpflichten würden.56

32

Innerhalb eines Organs können unterschiedliche Ämter (im funktionellen Sinn), d. h. Aufgabenbereiche (Aufgabenkreise), bestehen. Der physische Mensch, dem ein solcher Aufgabenbereich zur Erledigung anvertraut ist, wird als ‚Amtswalter‘ bezeichnet.57 Freilich kommt die begriffliche Differenzierung zwischen ‚Amtswalter‘ und ‚Organwalter‘ eher aus dem Bereich des Verwaltungsrechts. Im Bereich des Verfassungsrechts werden die Begriffe ‚Amtswalter‘ und ‚Organ­ walter‘ dagegen häufig synonym verwendet58 – tendenziell mag in der Rede vom ‚Amt‘ und vom ‚Amtswalter‘ eine – unscharfe – materielle Komponente (Bezug zu einer bestimmten Aufgabe und Funktion59 oder Betonung einer bestimmten Stellung, Haltung, Verantwortung, Autorität60 oder ‚Würde‘61) hervorgehoben wer­

33

53

Vgl. Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007, S. 10, m. w. N. Vgl. Schnapp, JuS 1995, 286 (288), m. w. N. 55 Vgl. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010, § 82, Rn. 134. 56 So deutlich (aber fragwürdig) Schnapp, JuS 1995, 286 ff., am Beispiel der Gesetzesausfer­ tigungspflicht des Organs Bundespräsident (dazu § 5 Rn. 136 ff.), welche nicht auf den entspre­ chenden Organwalter durchschlage; wohl a. A. Lovens, Bundesverfassungsrichter zwischen freier Meinungsäußerung, Befangenheit und Verfassungsorgantreue, 2009, S. 78 f., welcher die Frage, ob die Verfassungsorgantreue (s. u. Rn. 158 ff.) auf Mitglieder des Bundesverfassungs­ gerichts als Organwalter durchschlage, bejaht – und die Verfassungsorgantreue als Grenze der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) der einzelnen Richterinnen und Richter begreift. 57 Vgl. Schnapp, JuS 1995, 286 (288), m. w. N. 58 So dann letztlich etwa auch Schnapp, JuS 1995, 286 (288 ff.). 59 Vgl. exemplarisch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 46, welcher zum Abgeordneten des Bundestags ausführt: „sein Amt ist die Wahrnehmung der […] Repräsentationsfunktion“. 60 Vgl. etwa BVerfGE 138, 102 (118) – Wahlkampfäußerungen von Regierungsmitgliedern: „Autorität des Amtes“ (eines Regierungsmitglieds); BVerfGE 148, 11 (33) – Rote Karte: „Auto­ rität des Regierungsamts“. 61 Dies ist besonderes gebräuchlich mit Blick auf den Bundespräsidenten; hier trifft man in der politisch-publizistischen Kommunikation regelmäßig auf die Wendung ‚Würde des Amts‘ (des Bundespräsidenten). 54

30

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

den. Dabei ist die Rede vom ‚Amt‘ und vom ‚Amtswalter‘ gerade – obschon nicht ausschließlich – im Bereich der gubernativen bzw. exekutiven Verfassungsorgane Bundespräsident und Bundesregierung gebräuchlich62 (z. B. ‚Amt des Bundesprä­ sidenten‘; auch das Grundgesetz selbst spricht in Art. 56 GG vom „Amtsantritt“ des Bundespräsidenten). 34

Zum Teil gibt es im Bereich der Verfassungsorgane qualifizierte Formen der Organwalterschaft: So sind beispielsweise Bundestagsabgeordnete oder Bundesminister jeweils Organwalter eines Kollegialorgans (Bundestag bzw. Bun­ desregierung), denen außerdem jeweils eigenständige Rechte (vgl. insbesondere Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG einerseits bzw. Art. 65 S. 2 GG andererseits) zustehen.63 Ob man Bundestagsabgeordnete und Bundesminister wegen dieser besonderen ver­ fassungsrechtlichen Positionen als eigenständige „Verfassungsorgane aus eigenem Recht“64 bezeichnen sollte, ist dagegen zweifelhaft, haben sie doch  – jeder für sich betrachtet – keinen ausreichenden Anteil an der Staatsleitung (hierzu unten Rn. 45 f.).

35

Das Grundgesetz – mit seinem nicht immer exakten Sprachgebrauch – spricht an verschiedenen Stellen von „Mitgliedern“ von Verfassungsorganen, so beim Bundestag (vgl. etwa Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG), beim Bundesrat (vgl. etwa Art. 51 Abs. 3 S. 1 GG), bei der Bundesversammlung (vgl. etwa Art. 54 Abs. 3 GG), bei der Bundesregierung (vgl. etwa Art. 53 S. 1 GG) und beim Bundesverfassungsge­ richt (vgl. etwa Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG; dazu § 8 Rn. 149). Bundestag und Bundesrat werden zudem in Art. 59 Abs. 2 GG als „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften“ in Bezug genommen (dazu § 3 Rn. 41). Die Rede von „Mitglie­ dern“ und „Körperschaften“ darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass Verfassungsorgane (außen)rechtlich eigenständige juristische Personen seien. Die Verfassungsorgane des Bundes sind vielmehr Organe der juristischen Person (Gebietskörperschaft) Bundesrepublik Deutschland (s. o. Rn. 16, 20).

62 Vgl. etwa BVerfGE 148, 11 (33) – Rote Karte: „Amtsverständnis, wonach das Minister­ amt unparteiisch gegenüber jedermann und zum Wohle des (gesamten) deutschen Volkes wahrzunehmen ist“; beachte allerdings Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutsch­ land, Bd. II, 1980, S. 46, welcher auch Bundestagsabgeordnete als „Amtsträger“ (wie auch als „Organwalter“) bezeichnet; und auch das BVerfGG spricht verschiedentlich vom „Amt“ der Richter, so etwa in § 4 Abs. 1 BVerfGG: „Amtszeit der Richter“. 63 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 46, zur be­ sonderen Organwalterstellung der Bundestagsabgeordneten. 64 So Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 49. Lfg. 2016, § 63, Rn. 44 f.

C. Begrifflichkeiten

31

III. ‚Unterorgan‘, ‚Organteil‘ Regelmäßig weisen Organe selbst wiederum „Organisationscharakter“ auf65 und besitzen feste, ebenfalls institutionalisierte Untergliederungen oder sonstige organisatorische Binnenstrukturen. Akteure dieser Binnenstrukturen sind oftmals Träger von Zuständigkeiten und ggf. von Rechten – grundsätzlich allerdings nur im Binnenverhältnis zum Organ. Dabei gibt es eine Vielzahl organisationsrecht­ licher Gestaltungsformen. U. a. werden ‚Unterorgane‘, ‚Organteile‘ und ‚Hilfsor­ gane‘ unterschieden, wobei diese Begrifflichkeiten nicht immer trennscharf ab­ gegrenzt werden.

36

Als ‚Unterorgane‘ werden solche Untergliederungen von Organen bezeichnet, deren Aufgabe darin besteht, Handlungen und Entscheidungen des (Gesamt-) Organs vorzubereiten oder ggf. sogar zu ersetzen.66

37

Unterorgane sind insbesondere die Ausschüsse des Bundestags (§§ 54 ff. GOBT; s. § 2 Rn. 415 ff.) und des Bundesrats (§§ 11 f. GOBR, s. § 3 Rn. 130 ff.). Grundsätzlich haben diese Ausschüsse nur vorbereitende Aufgaben; vereinzelt und ausnahmsweise aber gibt es Aus­ schüsse, welche die Entscheidung des Plenums ersetzen (sog. plenarersetzende Ausschüsse, s. u. Rn. 41; vgl. etwa Art. 52 Abs. 3a GG zur Europakammer des Bundesrats; s. § 3 Rn. 299). Aber auch die Spruchkörper von Gerichten (etwa die Senate und Kammern des Bundesver­ fassungsgerichts; s. § 8 Rn. 190 ff.) lassen sich als Unterorgane verstehen.

38

Die Bezeichnung ‚Organteil‘ wird wohl überwiegend vor allem für solche Ak­ teure verwendet, die einen Ausschnitt (Segment) eines (Gesamt-)Organs bilden. Typisches Beispiel für Organteile sind die Fraktionen und die Gruppen als Organ­ teile des Bundestags (§§ 10 ff. GOBT; s. § 2 Rn. 370 ff.).67

39

Ob man Organteile trennscharf von Unterorganen unterscheiden kann, erscheint freilich zweifelhaft. Denkbar ist es, den Begriff ‚Unterorgan‘ als eine besondere Qualifizierung des Begriffs ‚Organteil‘ zu verstehen: Nur solche Organteile sind zugleich auch Unterorgane, welche für – ggf. sogar: als – das (Gesamt-)Organ insgesamt handeln. Demnach wären sowohl Fraktionen als auch Ausschüsse Organteile des Bundestags. Dabei sind Ausschüsse zugleich auch Unterorgane des Bundestags, Fraktionen dagegen grundsätzlich nicht.68

40

Freilich handelt nicht etwa jeder Ausschuss unmittelbar mit Wirkung nach außen als das Organ, von dem er gebildet wurde. Insoweit muss zwischen plenarersetzenden und plenar­ dienlichen Ausschüssen unterschieden werden. Plenarersetzende Ausschüsse wie die Europa­ kammer des Bundesrats (Art. 52 Abs. 3a GG; s. § 3 Rn. 299) handeln unmittelbar nach außen als das Organ, von dem sie gebildet wurden. Für den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union kann der Bundestag gemäß Art. 45 GG eine solche plenarersetzende Wir­ kung vorsehen (s. § 2 Rn. 430). (Lediglich) plenardienliche Ausschüsse handeln zwar nicht

41

65

Böckenförde, in: FS Wolff, 1973, S. 269 (284). Vgl. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010, § 82, Rn. 166. 67 Vgl. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010, § 82, Rn. 164. 68 Beachte freilich die Möglichkeit der Prozessstandschaft der Fraktionen für den Bundes­ tag gem. § 64 Abs. 1 BVerfGG. 66

32

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

nach außen hin als das übergeordnete Organ, bereiten jedoch das Außenhandeln des Organs im Innenverhältnis vor.

42

Daneben gibt es einen (wohl teilweise enger gefassten) spezifisch verfassungsprozessrechtlichen Begriff des ‚Organteils‘: § 63 BVerfGG spricht in Konkretisierung von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG „Teile[n] dieser Organe“ – gemeint sind (bestimmte näher aufgeführte) Ver­ fassungsorgane – die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren zu (s. § 8 Rn. 371 f.). Umstritten ist, ob der einzelne Bundestagsabgeordnete als „Teil des Organs“ Bundestag im Sinne des § 63 BVerfGG zu gelten hat.69 Jedenfalls ist der einzelne Bundestagsabgeordnete aber unmittel­ bar nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG im Organstreit als „anderer Beteiligter“ zur Durchsetzung seiner eigenen verfassungsrechtlichen Positionen (etwa Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) parteifähig.70 Demgegenüber kann ein einzelner Bundestagsabgeordneter nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht gem. § 64 Abs. 1 BVerfGG im Wege der Prozess­ standschaft Rechte des Bundestags im eigenen Namen geltend machen, da dies nur „ständig vorhandene[n] Gliederungen des Bundestags“71 wie Fraktionen und Ausschüssen zustehe (s. § 8 Rn. 371 f.).72

43

Als „Hilfsorgan“ bezeichnet das Grundgesetz in Art. 45b S. 1 GG ausdrücklich den Wehrbeauftragten des Bundestags: Dieser werde als „Hilfsorgan des Bun­ destages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle“ berufen. Soweit der Wehrbeauftragte zum „Schutz der Grundrechte“ agiert, ist er freilich kein (bloßes) Hilfsorgan des Bundestags, sondern ein eigenständiges Organ (s. u. Rn. 59). Ver­ mutlich soll die Rede vom „Hilfsorgan“ verdeutlichen, dass der Wehrbeauftragte gerade kein Organteil oder Unterorgan des Bundestags ist, sondern von außerhalb des Bundestags kommt, d. h. gerade kein Bundestagsmitglied sein darf (vgl. § 14 Abs. 3 WBeauftrG, wonach der Wehrbeauftragte u. a. nicht „einer gesetzge­ benden Körperschaft des Bundes oder eines Landes“ angehören darf).73

IV. ‚Verfassungsorgan‘ 44

Oberste Staatsorgane sind Organe, die keinem anderen Staatsorgan unterste­ hen und deren Maßnahmen durch kein anderes Organ – mit Ausnahme des Bun­ desverfassungsgerichts – aufgehoben werden können.74 Die Aufgabe der verfas­ sungsgerichtlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht bedeutet noch

69

Vgl. Walter, in: BeckOK BVerfGG, 6. Ed. 2018, § 63, Rn. 16. Vgl. BVerfGE 2, 143 (164); 4, 144 (148); 70, 324 (350); 80, 188 (208 f.); 94, 351 (365); 114, 121 (146); 124, 161 (184). 71 BVerfGE 117, 359 (367); Hervorh. d. Verf. 72 Vgl. BVerfGE 2, 143 (160); 90, 286 (343 f.); 117, 359 (367). 73 Auch in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG verwendet das Grundgesetz  – im Zusammenhang mit Kontrollmechanismen bezüglich der Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses durch verdeckte Maßnahmen – ausdrücklich den Begriff des „Hilfsorgans“; auch in diesem Zusammenhang würde die vorgeschlagene Begriffsdifferenzierung (Hilfsorgan als Akteur, der von außerhalb des unterstützten Organs, hier die „Volksvertretung“, kommt) Sinn ergeben. 74 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 42. 70

C. Begrifflichkeiten

33

keine Unterstellung der übrigen obersten Staatsorgane unter das Gericht. Vielmehr handelt es sich bei der Verfassungsgerichtsbarkeit gerade auch um ein wesentli­ ches Instrument zur Gewährleistung der Gewaltenteilung zwischen den obersten Staatsorganen. Als Verfassungsorgane75 werden nur diejenigen obersten Staatsorgane bezeich­ net, deren Existenz, Stellung und Aufgaben sich im Wesentlichen unmittelbar aus der Verfassung ergeben.76 Zu diesem formellen Merkmal muss allerdings ein wei­ teres – materielles – Merkmal, welches Verfassungsorgane von sonstigen obersten Staatsorganen (s. u. Rn. 56 ff.) unterscheidet, hinzutreten: Verfassungsorgane sind diejenigen Organe, welche durch die Verfassung mit der Staatsleitung betraut – oder zumindest mittelbar, z. B. über Kreationsbefugnisse wie bei der Bundesver­ sammlung, in die Staatsleitung eingebunden77 – sind.78

45

Der Aspekt der Teilnahme an der Staatsleitung lässt sich in den Worten des Bundesverfas­ sungsgerichts – in Anlehnung an die Integrationslehre(n) Smends und Triepels (s. u. Rn. 156, 158) – fassen als eine Stellung, die das Organ „einheitsbegründend oder […] integrierend auf den Staat wirken“ lässt.79 Es geht um eine intensive, von der Verfassung selbst vorgese­ hene Teilnahme am ‚Verfassungsleben‘. Ein engeres Verständnis von ‚Staatsleitung‘ liegt der Formel von der „Staatsleitung […] zur gesamten Hand“ (Friesenhahn80) zu Grunde: Darin geht es um das Verhältnis von Parlament (Bundestag) und Regierung (Bundesregierung) in einer parlamentarischen Demokratie mit Gewaltenverschränkung.81 Gegenüber dieser be­ grifflichen Engführung auf das Verhältnis von Parlament und Regierung ist Staatsleitung im Zusammenhang mit dem Begriff des Verfassungsorgans beispielsweise auch in der repräsen­ tativ-integrierenden Position des Staatsoberhaupts Bundespräsident (s. § 5 Rn. 26 ff.) oder in der bedeutsamen Stellung des Bundesverfassungsgerichts mit seinen Kompetenzen zur Ver­ werfung verfassungswidriger Parlamentsgesetze (‚negative Gesetzgebung‘; s. u. Rn. 166, § 8 Rn. 80 f.) und zur Fortentwicklung der Verfassungs-, insbesondere Grundrechtsordnung (s. § 8 Rn. 65 ff.), zu sehen. Der Anteil des Gemeinsamen Ausschusses an der Staatsleitung besteht grundsätzlich nur potentiell – nämlich nur im Szenario des Verteidigungsfalls (s. § 4 Rn. 2).

46

Zu den Verfassungsorganen zählen demnach die im Folgenden (vgl. Kapitel §§ 2 bis 8) zu behandelnden Organe: Bundestag (s. u. § 2), Bundesrat (s. u. § 3), Gemeinsamer Ausschuss (s. u. § 4), Bundespräsident (s. u. § 5), Bundesver-

47

75

Vgl. § 1 BVerfGG; kritisch zum Begriff des ‚Verfassungsorgans‘ für oberste Staatsorgane: Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, Rn. 281: „klangvoll[e], aber mysteriös[e] Wortver­ bindung“ (s. u. Rn. 49). 76 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 342 f. Diese Eigenschaft ist von Bedeutung für die Frage der Antragsbefugnis im Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (s. § 8 Rn. 385). 77 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 179 f. 78 Vgl. Bundesverfassungsgericht, JöR N. F. 6 (1957), 194 (198); Kloepfer / Greve, Staatsrecht kompakt, 3. Aufl. 2018, Rn. 220; vgl. auch Vogt, Zur Informationstätigkeit des Bundesrech­ nungshofes, 2013, S. 95 f. 79 Bundesverfassungsgericht, JöR N. F. 6 (1957), 194 (198), Hervorh. d. Verf. 80 Vgl. Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (37 f.). 81 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 55.

34

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

sammlung (s. u. § 6), Bundesregierung (s. u. § 7) und Bundesverfassungsgericht (s. u. § 8). 48

Die Verfassungsorgane werden überwiegend im Grundgesetz in jeweils eigenen Abschnitten behandelt; Ausnahmen bilden die Bundesversammlung, die in den V. Abschnitt über den Bundespräsidenten integriert ist, sowie das Bundesverfassungsgericht, das im IX. Abschnitt über die Rechtsprechung mitbehandelt wird82 und dessen Verfassungsorganqualität in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland – anders als heute – durchaus umstritten war83 (hierzu § 8 Rn. 61).

49

Aus terminologischer Sicht ist die Rede vom ‚Verfassungsorgan‘ als „klang­ voll[e], aber mysteriös[e] Wortverbindung“ (Schneider) auf Kritik gestoßen.84 Zutreffend sei vielmehr die Bezeichnung (oberste) „Staatsorgane“, da es sich um „Institutionen des Staates“ (und nicht der Verfassung) handele. Nach dieser Auf­ fassung geht es nicht um Organe der Verfassung als vielmehr um Organe (des Staates) in der Verfassung.

50

Diese auf den ersten Blick stimmige Kritik sieht in der Rede vom ‚Verfassungsorgan‘ ge­ wissermaßen einen Bildbruch (Katachrese)85, da sie das Bild des ‚Organs‘ auf eine biologi(sti) sche Lesart verkürzt und sich zwar den Staat, nicht aber die Verfassung, als lebenden Kör­ per vorstellt, der aus Organen aufgebaut sei. Diese Betrachtung ist freilich nicht zwingend: Wie bereits ausgeführt wurde, stammt ‚Organ‘ etymologisch vom altgriechischen órganon für – durchaus mechanisches – ‚Werkzeug‘ her (s. o. Rn. 18). Dass die Verfassungsorgane als Werkzeuge zur Verwirklichung der Verfassung agieren (sollen), kann nun aber kaum be­ stritten werden.

51

Wichtiger als dieser Hinweis auf die Etymologie ist freilich, dass mit dem Begriff ‚Verfas­ sungsorgan‘ ein Unterschied zu solchen (Staats-)Organen betont wird, die nicht durch die Verfassung selbst, sondern nur durch einfaches Gesetzesrecht geschaffen werden. Gegenbegriff zum ‚Verfassungsorgan‘ wäre dann gewissermaßen das ‚Gesetzesorgan‘ – dieser Begriff ist freilich in Wissenschaft und Praxis völlig ungebräuchlich. Als Beispiel für ein solches (bloßes) Gesetzesorgan kann etwa die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informations­ freiheit dienen, die zwar einfachgesetzlich (vgl. § 22 Abs. 4 S. 2 BDSG; s. u. Rn. 61, 63), bisher jedoch nicht im Grundgesetz Erwähnung findet.

82 Im Herrenchiemseer Verfassungsentwurf war noch ein eigenständiger Abschnitt „VIII. Das Bundesverfassungsgericht“ vorgesehen. 83 Vgl. zur Selbstbehauptung des Verfassungsorganstatus des Bundesverfassungsgerichts: Bundesverfassungsgericht, JöR N. F. 6 (1957), 194 (198 ff.). 84 Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, Rn. 281; vgl. auch die Kritik bei Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 49. Lfg. 2016, § 63, Rn. 17: „[n]icht nur rechtsästhetische Schwierigkeiten“. 85 Vgl. Peil, Art. „Katachrese“, in: Fricke u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literatur­ wissenschaft, Bd. II, 3. Aufl. 2010, S. 241, zur Katachrese in ihrer Bedeutung als „Stilblüte oder Bildbruch, bedingt durch die Kontamination von Metaphern aus verschiedenen, unver­ einbaren Bildfeldern.“

C. Begrifflichkeiten

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V. ‚Oberstes Bundesorgan‘ 1. „Oberstes Bundesorgan“ mit Verfassungsorganqualität Das Grundgesetz selbst verwendet nicht den Begriff der Verfassungsorgane, sondern, bspw. für das Organstreitverfahren in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, den Be­ griff der „obersten Bundesorgane“ (s. § 8 Rn. 362 ff.).

52

Nach der einfach-gesetzlichen Interpretation dieser Norm durch § 63 BVerfGG sind nur der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat sowie die Bundesregierung (nicht jedoch die Bundesversammlung und der Gemeinsame Ausschuss) oberste Bundesorgane. Dass das Bundesverfassungsgericht von dieser Aufzählung ausgenommen ist, erklärt sich nur aus dem grundsätzlichen Ausschluss eines Selbstbefassungsrechts des Bundesverfassungsgerichts.

53

Es ist weitgehend anerkannt, dass der verfassungsrechtliche Begriff des „obersten Bundes­ organs“ weiter gefasst ist als die nicht abschließende einfach-gesetzliche Konkretisierung in § 63 BVerfGG. Jedenfalls sind auch die Bundesversammlung und der Gemeinsame Ausschuss „oberste Bundesorgane“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und daher im Organstreitver­ fahren antragsberechtigt (s. ausführlich § 8 Rn. 363).86

54

Der Begriff der „obersten Bundesorgane“ unterscheidet sorgfältiger als der in­ sofern unscharfe Begriff der Verfassungsorgane zwischen den Staatsorganen des Bundes und denen der Länder (sowie Organen der Europäischen Union). Denn selbstverständlich gibt es auch in den Ländern Verfassungsorgane, nämlich Staatsorgane der Länder (s. o. Rn. 23), deren Existenz, Stellung und Aufgaben sich aus den jeweiligen Landesverfassungen ergeben. Zu nennen sind insbesondere das jeweilige Landesparlament und die jeweilige Landesregierung. Wenn im Folgenden gleichwohl von Verfassungsorganen gesprochen wird, bezieht sich dieser Begriff hier stets auf die Verfassungsorgane des Bundes.

55

2. ‚Oberstes Bundesorgan‘ ohne Verfassungsorganqualität Neben den Verfassungsorganen des Bundes gibt es weitere oberste Bundes­ organe, nämlich den Vermittlungsausschuss87 (Art. 77 Abs. 2 GG), die obersten Bundesgerichte (Art. 95 GG), die Bundesbank88 (Art. 88 GG) und den Bundesrechnungshof 89 (Art. 114 Abs. 2 GG). Diese sind zwar in der Verfassung genannt, haben aber nicht in umfassendem und wesensbestimmendem Maß an der Staats­ leitung (s. o. Rn. 45 f.) teil. Zudem werden ihre Kompetenzen (mit Ausnahme des Vermittlungsausschusses) im Wesentlichen nicht im Grundgesetz selbst, sondern

86

Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 9 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 229 ff. 88 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 324. 89 Ausführlich Vogt, Zur Informationstätigkeit des Bundesrechnungshofes, 2013, S. 95 ff.; s. a. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 275 ff. 87

56

36

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

in den einschlägigen Bundesgesetzen90 geregelt, so dass sie nach der hier verwen­ deten Definition (s. o. Rn. 45) nicht zu den Verfassungsorganen zählen. Dennoch genießen der Vermittlungsausschuss, die obersten Bundesgerichte, die Bundesbank und der Bundesrechnungshof durch ihre grundgesetzliche Einrichtungsgarantie eine herausgehobene Stellung. 57

Auch wenn der Vermittlungsausschuss, die obersten Bundesgerichte, die Bundesbank und der Bundesrechnungshof weisungsfrei agieren und somit als ‚oberste Staatsorgane‘ so­ wie ‚oberste Bundesorgane‘ zu qualifizieren sind, so sind sie dennoch nicht (als „oberste Bundesorgane“) nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 GG im Organstreit beteiligtenfähig. Der Rechtsbegriff des „obersten Bundesorgans“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 GG ist – anders als der wissenschaftliche Begriff des ‚obersten Staatsorgans‘ (s. o. Rn. 44) – als ver­ fassungsprozessualer terminus technicus auf Verfassungsorgane beschränkt (s. § 8 Rn. 364). Denkbar ist jedoch, dass diese Organe als „andere Beteiligte“ mit verfassungsrechtlichen Rechten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 GG) im Organstreit beteiligtenfähig sind (s. ausführ­ lich § 8 Rn. 365, 367 ff.).91

58

Einen Sonderfall unter den weisungsfreien Organen, die im Grundgesetz ge­ nannt werden, stellt der Stabilitätsrat 92 (Art. 109a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 GG) dar.93 Dieser ist ein „gemeinsames Gremium“ von Bund und Ländern (nicht etwa – wie der Vermittlungsausschuss – von Bundestag und Bundesrat) zur Überwachung der Haushaltswirtschaft. Da der Stabilitätsrat durch das Grundgesetz – d. h. durch die Bundesverfassung – konstituiert wird, ist er – insoweit dem Bundesrat vergleich­ bar – ein oberstes Bundesorgan, mangels wesentlichen Anteils an der Staatsleitung freilich kein Verfassungsorgan.

59

Ob der Wehrbeauftragte des Bundestags (Art. 45b S. 1 GG – s. § 2 Rn. 588 ff.) als oberstes Bundesorgan eingeordnet werden kann, ist nicht eindeutig. Soweit er selbständig tätig wird, ist die Qualifikation als oberstes Bundesorgan über­ zeugend. Dort aber, wo er nach Art. 45b S. 1 Var. 2 GG als „Hilfsorgan des Bun­ destages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle“ – und insoweit nur auf Weisung des Bundestags oder des Verteidigungsausschusses (vgl. § 1 Abs. 2 WBeauftrG) – tätig wird, ist er hingegen kein oberstes Bundesorgan. Allerdings nimmt der Wehrbeauftrage gemäß Art. 45b S. 1 Var. 1 GG auch Aufgaben „[z]um Schutz der Grundrechte“ wahr und kann hierzu „nach pflichtgemäßem Ermessen 90

Für die obersten Bundesgerichte sind dies §§ 12, 123 ff. GVG, §§ 2, 10 VwGO; §§ 2, 10 f. FGO; §§ 40 ff. ArbGG sowie §§ 38 ff. SGG. Vgl. ferner das Gesetz über die Deutsche Bun­ desbank v. 22.10.1992 (BGBl. I, S. 1782), zul. geänd. d. Gesetz. v. 4.7.2013 (BGBl. I S. 1981); Gesetz über den Bundesrechnungshof v. 11.7.1985 (BGBl. I, S. 445), zul. geänd. d. Gesetz. v. 5.2.2009 (BGBl. I, S. 160); Gesetz zur Errichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Stabilitätsratsgesetz – StabiRatG) v. 10.8.2009 (BGBl. I S. 2702), zul. geänd. d. Gesetz v. 14.8.2017 (BGBl. I S. 3122). 91 Vgl. Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 11, m. w. N. 92 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 230 ff. 93 Gesetz zur Errichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Stabilitätsratsgesetz – StabiRatG) v. 10.8.2009 (BGBl. I S. 2702), zul. geänd. d. 14.8.2017 (BGBl. I S. 3122).

C. Begrifflichkeiten

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auf Grund eigener Entscheidung tätig“ werden (§ 1 Abs. 3 WBeauftrG). Jedenfalls ist er mangels wesentlichen Anteils an der Staatsleitung kein Verfassungsorgan. Weiterhin gibt es eine Reihe von Bundesorganen, welche zwar nicht namentlich in der Verfassung erwähnt werden – und schon deshalb keine Verfassungs­ organe darstellen –, die aber innerhalb ihres Aufgabengebiets höchstrangig und weisungsfrei entscheiden.94 Die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit solcher insti­ tutioneller Arrangements werden unter dem Stichwort des grundsätzlichen – aber nicht ausnahmslosen  – Verbots ministerialfreier Räume diskutiert (hierzu aus­ führlich § 7 Rn. 215 ff.).

60

Eine solche (lediglich) einfach-gesetzlich angeordnete Weisungsfreiheit genießen etwa: die oder der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (vgl. §§ 8 ff. BDSG – s. § 7 Rn. 275 ff.; § 2 Rn. 598), die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (§ 19 Abs. 4 JuSchG), der Bundespersonalausschuss (§ 119 Abs. 2 BBG) und die Vergabekam­ mern beim Bundeskartellamt (§ 157 Abs. 1 GWB). Die Weisungsfreiheit der Beschlussabtei­ lungen beim Bundeskartellamt (vgl. § 51 GWB; beachte aber § 52 GWB) sowie der Bundes­ netzagentur ist weniger deutlich geregelt, wird aber jedenfalls teilweise faktisch praktiziert (dazu § 7 Rn. 218).

61

Die G10-Kommission95, welche ebenfalls weisungsfrei entscheidet (vgl. § 15 Abs. 1 S. 3 Ar­ tikel 10-Gesetz), wird zwar nicht unmittelbar namentlich durch das Grundgesetz, sondern einfach-gesetzlich in § 15 Artikel 10-Gesetz eingerichtet (s. § 2 Rn. 551 ff.). Das Grundgesetz sieht allerdings in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG die (fakultative) Möglichkeit der Einrichtung eines solchen „von der Volksvertretung bestellte[n] Organ[s] [genauer:] Hilfsorgan[s]“ durch den einfachen Bundesgesetzgeber vor.

62

Für die oder den Bundesbeauftragte(n) für den Datenschutz und die Informationsfreiheit ist die ausdrückliche Aufnahme in den Verfassungstext durch Verfassungsänderung verfassungspolitisch zu erwägen, befindet sich dieses Organ doch – vor allem auch aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben96 – möglicherweise auf dem Weg zum Verfassungsorgan. Doch selbst im Falle einer etwaigen Aufnahme der oder des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in den Verfassungstext bliebe dennoch das Merkmal des wesentlichen Anteils an der Staatsleitung das maßgebliche Kriterium dafür, ob man insoweit von einem Ver­ fassungsorgan sprechen könnte oder nicht. Im Zeitalter der Digitalisierung ist es vorstellbar, dass die oder der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit einen wesentlichen Anteil an der Staatsleitung erringen könnte.

63

94

Zudem haben auch diese Bundesorgane jeweils – wenn überhaupt – allenfalls einen sehr beschränkten Anteil an der Staatsleitung; auch deshalb sind sie nicht als Verfassungsorgane zu qualifizieren. 95 Gegen die Beteiligtenfähigkeit der G 10-Kommission im Organstreitverfahren BVerfG, Beschl. v. 20.09.2016, 2 BvE 5/15. 96 Vgl. v. Lewinski, ZG 2015, 228, dort (234) auch zur seit 2015 einfach-gesetzlich in § 22 Abs. 5 S. 1 BDSG a. F. vorgesehenen Stellung als „oberste Bundesbehörde“. Unterdessen be­ findet sich die Bezeichnung als „oberste Bundesbehörde“ ausdrücklich in § 8 Abs. 1 S. 1 BDSG n. F.

38

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen I. Allgemeines 64

Zusätzlich zu den notwendigen Definitionsmerkmalen eines Verfassungs­ organs – d. h. der Konstituierung durch das Grundgesetz selbst, der Weisungsfrei­ heit und der nicht unwesentlichen Einbindung in die Staatsleitung (s. o. Rn. 45 f.) – weisen die Verfassungsorgane des Grundgesetzes in unterschiedlichem Maße weitere charakteristische Eigenschaften auf, die sich bei einem Vergleich der Regelungen zu den einzelnen Verfassungsorganen im Grundgesetz (grundgesetzinterner Verfassungsvergleich) zeigen. Diese gemeinsamen Merkmale von Ver­ fassungsorganen können sowohl in einer deskriptiven wie auch in einer normativen Dimension bestehen:

65

Auf deskriptiver Ebene lassen sich die rechtlichen Vorgaben (grundgesetzliche und konkretisierende unterverfassungsrechtliche Normen) und die tatsächliche Staatspraxis zu jedem einzelnen Verfassungsorgan beschreiben und sodann unter den verschiedenen Orga­ nen vergleichen. Dabei ergeben sich typische gemeinsame Merkmale der grundgesetzlichen Verfassungsorgane.

66

An eine solche Beschreibung des jeweiligen Normenbestands kann sodann eine Kritik an der divergierenden Verfassungsgesetzgebungstechnik anschließen: So ist die teilweise unterschiedliche Regelungsdichte des Grundgesetzes zu kritisieren: Zum Beispiel werden Berufs- und Ämterverbote für Bundespräsident (Art. 55 Abs. 2 GG) und Bundesregierung (Art. 66 GG) ausdrücklich im Grundgesetz selbst geregelt. Für das Bundesverfassungsgericht finden sich solche Vorgaben hingegen lediglich im einfach-gesetzlichen Recht (§ 3 Abs. 4 BVerfGG; s. § 8 Rn. 159), nicht jedoch im Grundgesetz selbst.

67

Aus normativer Sicht stellt sich die Frage, ob die Qualifizierung eines Organs als Ver­ fassungsorgan die verfassungsrechtliche Konsequenz nach sich zieht, dass bestimmte Privile­ gien (zum Beispiel eigener Haushalt, Selbstbestimmung über den Sitz des Organs, etc.) – auch ohne ausdrückliche Normierung im Grundgesetztext – Verfassungsrang genießen und dem Organ auch durch den (einfachen) Gesetzgeber nicht entzogen werden können.97 Beispiels­ weise könnte aus der Qualifizierung eines bestimmten Akteurs als Verfassungsorgan gefol­ gert werden, dass dieser Akteur auch selbstständig über seinen Sitz bestimmen können muss (s. u. Rn. 106 ff.).

97 Zu normativen Folgerungen aus der Qualifizierung als Verfassungsorgan: Bundesverfas­ sungsgericht, JöR N. F. 6 (1957), 194 (196).

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

39

II. Kreation 1. Wahl oder Ernennung von Organwaltern Die grundgesetzlichen Vorgaben zu den einzelnen Organen enthalten zu­ nächst vor allem Aussagen zur Kreation bzw. personellen Besetzung der Verfassungsorgane. Es wird festgelegt, in welcher Art und Weise die Organwalter (s. o. Rn. 32 ff.) zu bestimmen sind (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 1; Art. 51 Abs. 1 S. 1; Art. 53a Abs. 1; Art. 54 Abs. 3; Art. 54 Abs. 1 S. 1; Art. 63 Abs. 1; Art. 64 Abs. 1 sowie Art. 94 Abs. 1 GG).

68

Hierbei lassen sich die Modi der Wahl und der Ernennung unterscheiden: Bei­ spielsweise schreibt Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG für die Bestimmung der individuellen Bundestagsmitglieder als Organwalter des Verfassungsorgans Bundestag die (nä­ her qualifizierte) Wahl durch das deutsche Volk vor (s. § 2 Rn. 147 ff.); für die Bun­ desminister sieht Art. 64 Abs. 1 GG die Ernennung durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers vor (s. § 7 Rn. 71 ff.).

69

2. Wahlmodalitäten Bei näherer Betrachtung der einzelnen Vorschriften zur Wahl von Verfassungs­ organwaltern lassen sich bestimmte wiederkehrende Vorgaben für die Art und Weise der Wahl von Organwaltern ausmachen: So werden für die Wahl be­ stimmter Organwalter Ausspracheverbote (Wahlen ohne Aussprache) statuiert (s. u. Rn. 71), teilweise wird die Geheimheit der Wahl angeordnet (s. u. Rn. 73). Außer­ dem bestehen regelmäßig qualifizierte Mehrheitserfordernisse (s. u. Rn. 75). Diese Vorgaben ergeben sich nur teilweise ausdrücklich aus dem Grundgesetz. Teilweise werden sie lediglich im Verfassungsvollzugsrecht, also im einfachen Recht oder im Geschäftsordnungsrecht, normiert.

70

Der Bundespräsident, diejenigen Bundesverfassungsrichter, die vom Bundes­ tag zu wählen sind,98 sowie – im ersten Wahlgang99 – der Bundeskanzler werden ohne Aussprache gewählt (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG, § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG, Art. 63 Abs. 1 GG). Primärer Sinn und Zweck dieser Ausspracheverbote ist es, das jewei­ lige Amt und die jeweilige Person des künftigen Amtsinhabers aus der (tages- und partei-)politischen Auseinandersetzung im Plenum der Bundesversammlung bzw.

71

98 Das Ausspracheverbot des § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG bezieht sich nur auf diejenigen Bun­ desverfassungsrichter, die vom Bundestag zu wählen sind. Für diejenigen Bundesverfassungs­ richter, die vom Bundesrat zu wählen sind, wird ein Ausspracheverbot im BVerfGG nicht statuiert. 99 Nach zutreffender, aber nicht unumstrittener Auffassung gilt das Ausspracheverbot bei der Bundeskanzlerwahl nur für den ersten Wahlgang; hierzu ausführlich § 7 Rn. 49, 58, 64, 129.

40

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

des Bundestags herauszuhalten.100 Dieser Schutzzweck passt nicht mehr in eine moderne demokratische Verfassungsordnung; eine Streichung der Aussprachever­ bote durch Verfassungs- bzw. Gesetzesänderung wäre wünschenswert (ausführlich § 5 Rn. 54 f.; s. auch § 7 Rn. 49, 58, 64, 129 und § 8 Rn. 169). 72

Für das Wahlverfahren derjenigen Bundesverfassungsrichter, die vom Bundestag zu wählen sind, bestehen überdies einfach-gesetzliche Verschwiegenheitsvorschriften: Die Mitglieder des Wahlausschusses, welcher den Vorschlag für die vom Bundestag zu wählenden Richter berät und beschließt, sind „zur Verschwiegenheit über die ihnen durch ihre Tätigkeit im Wahl­ ausschuss bekanntgewordenen persönlichen Verhältnisse der Bewerber sowie über die hierzu im Wahlausschuss gepflogenen Erörterungen und über die Abstimmung verpflichtet“ (§ 6 Abs. 4 BVerfGG; s. § 8 Rn. 168).

73

Für die Wahl des Bundeskanzlers sieht die Geschäftsordnung des Bundestags (nicht aber das Grundgesetz) außerdem die Geheimheit der Wahl vor. Gemäß § 4 i. V. m. § 48 GOBT erfolgt die Kanzlerwahl „mit verdeckten Stimmzetteln“, also geheim (s. § 7 Rn. 50, 59). Auch der Bundespräsident und diejenigen Bundesver­ fassungsrichter, die vom Bundestag zu wählen sind, werden – aufgrund einfachgesetzlicher Anordnung – „mit verdeckten Stimmzetteln“ gewählt (§ 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG, s. § 5 Rn. 56, bzw. § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG, s. § 8 Rn. 169). Wäh­ rend die Ausspracheverbote (s. o. Rn. 71) das Vorfeld der Wahl betreffen, geht es bei den Geheimheitsvorschriften um den Wahlakt selbst. Die genannten Vor­ schriften zur Geheimheit der Wahl ergeben sich nicht ausdrücklich aus dem Ver­ fassungsrecht. Vereinzelt werden sie daher für verfassungswidrig gehalten; sie seien mit dem Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit unvereinbar.101 Die über­ wiegende und zutreffende Auffassung betrachtet die unterverfassungsrechtlichen Geheimheitsvorschriften demgegenüber als zulässige Konkretisierung der ver­ fassungsrechtlichen Kreationsvorschriften.102 Umgekehrt ließe sich daran denken, dass ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz die Geheimheit von Wahlakten sogar erfordert. Jedenfalls gehen der einfache Gesetzgeber und die Geschäfts­ ordnungsgeber offenbar regelmäßig davon aus, dass Wahlen geheim zu erfolgen haben.103 100

Vgl. zu Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 40. 101 Vgl. Seuffert, Über geheime Abstimmungen und Wahlen in Parlamenten, 1978, S. 26 (mit Ausn. der „echten Personalentscheidungen innerhalb des Parlaments“ wie Präsidiumswahlen); Linck, DVBl. 2005, 793 (797 f.), m. w. N. 102 Vgl. nur (zu § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG) Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 41; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 42, Rn. 1a; v. Arnauld, in Münch / Kunig, GG 6. Aufl. 2012, Art. 54 Rn. 24; Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 42 Rn. 23; Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 54 Rn. 17. 103 Vgl. etwa die einfach-gesetzlichen Anordnungen der Geheimheit von Wahlakten in § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG (s. § 5 Rn. 56), § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG (s. § 8 Rn. 169). Es gibt  – außerhalb des Bereichs der Verfassungsorgane – freilich auch Gegenbeispiele: So erfolgt die Wahl der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit nicht geheim, obschon „ohne Aussprache“ (§ 11 Abs. 1 S. 1 BDSG).

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

41

Die Geheimheit der Wahl von Verfassungsorganwaltern enthält auch eine Pflicht zur Geheimhaltung der eigenen Wahlentscheidung. In der Praxis des Deutschen Bundestags werden Verstöße (z. B. durch Veröffentlichung identifizierbarer Fotos des Stimmzettels in sozialen Netzwerken) wegen „nicht nur geringfügige[r] Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages“ durch Ordnungsgelder (vgl. § 37 GOBT) sanktioniert.104

74

Für die Wahlen der Organwalter der Verfassungsorgane gelten regelmäßig be­ sondere Mehrheitserfordernisse (zu den verschiedenen Mehrheitsbegriffen unten Rn. 115 ff.). Bspw. verlangt das Grundgesetz für die Kanzlerwahl im ersten und zweiten Wahlgang eine Mitgliedermehrheit im Bundestag (sog. ‚Kanzlermehrheit‘, Art. 63 Abs. 2 bzw. Abs. 3 GG; s. § 7 Rn.33, 41; s. u. Rn. 121).

75

Bemerkenswert (und verfassungspolitisch diskussionsbedürftig) ist aus Sicht der Verfassungsgesetzgebungstechnik, dass die Vorgaben zur Kreation des Bundesverfassungsge­ richts zu erheblichen Teilen dem einfachen Recht überlassen werden. So bestimmt Art. 94 Abs.  1 GG lediglich allgemein die hälftige Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsge­ richts durch Bundestag und Bundesrat. Die Einzelheiten des Wahlverfahrens – einschließlich der qualifizierten Mehrheitserfordernisse in Bundestag und Bundesrat – werden nur einfachgesetzlich bestimmt (§§ 6, 7 BVerfGG; s. § 8 Rn. 161, 169) und stehen somit – jedenfalls for­ mell – zur Disposition des einfachen Bundesgesetzgebers. Verfassungspolitisch ist darüber nachzudenken, die qualifizierten Mehrheitserfordernisse in das Grundgesetz aufzunehmen.

76

3. Voraussetzungen für Organwalter; insbesondere Ineligibilität und Inkompatibilität Als ein weiteres gemeinsames Merkmal bestehen besondere Wählbarkeits­ voraussetzungen bzw. Ernennungsvoraussetzungen für die Organwalter der Verfassungsorgane. Insoweit wird auch von Eligibilität bzw. – beim Ausschluss derselben – von Ineligibilität gesprochen.105

77

Eligibilitätsvorgaben sind in sehr unterschiedlicher Art und Weise im Grundgesetz und im konkretisierenden Gesetzes- und Geschäftsordnungsrecht geregelt. Beispielsweise stellt Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG die Wählbarkeit des Bundespräsidenten unter die Voraussetzungen, dass die Person „Deutscher“ ist, das Wahlrecht zum Bundestage besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat. Für die passive Wahlberechtigung bei der Wahl zum Bundestag verweist Art. 38 Abs. 2 Hs. 2 GG demgegenüber auf den Begriff der Volljährigkeit (vgl. § 2 BGB: Vollendung des 18. Lebensjahres). Einfach-gesetzlich wird diese Mindestvorschrift in §§ 15, 13 BWahlG um die Voraussetzungen „Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes“ und das Nichtbestehen eines Ausschlusses vom Wahlrecht (z. B. wegen psy­ chiatrischer Unterbringung) ergänzt.

78

Unabhängig davon, ob sachliche Unterschiede – zum Beispiel hinsichtlich des Mindest­ alters (40 Jahre beim Bundespräsidenten, 18 Jahre beim Bundestag) – sich im Einzelnen u. U.

79

104 So geschehen bei der Wahl der Bundeskanzlerin am 14.03.2018; vgl. Plenarprotokoll 19/19, Stenografischer Bericht der 19. Sitzung v. 14.03.2018, S. 1596 f. 105 Zum Begriff der Ineligibilität: Sturm, Die Inkompatibilität, 1967, S. 4.

42

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

überzeugend begründen lassen, leuchtet jedenfalls die unterschiedliche Regelungsdichte des Grundgesetzes hinsichtlich der Wählbarkeitsvoraussetzungen bzw. Ernennungsvoraus­ setzungen nicht ein. Dies wird besonders augenfällig mit Blick auf die Regelungen zur Bun­ desregierung und zum Bundesverfassungsgericht: Insoweit trifft das Grundgesetz gar keine ausdrücklichen Bestimmungsvoraussetzungen und überlässt dies dem ungeschriebenen Recht und dem Gesetzesrecht (vgl. etwa § 3 Abs. 1 und 2 BVerfGG).

80

Von der Ineligibilität zu trennen ist die staatsorganisationsrechtliche Inkompatibilität (Unvereinbarkeit) von Verfassungsorganmitgliedschaften zur Vermeidung von Interessen- oder Pflichtenkollisionen. Anders als bei der Ineligibilität lässt die Inkompatibilität die Gültigkeit des Wahl- oder Ernennungsakts unberührt, führt aber dazu, dass der Gewählte nach der Wahl auf eines der inkompatiblen Ämter bzw. Positionen verzichten muss.106

81

Auch hinsichtlich der Regelung der Inkompatibilitäten von Mitgliedschaften in verschie­ denen Verfassungsorganen ergibt der Grundgesetztext kein konsistentes Gesamtbild. Das Grundgesetz enthält kein einheitliches Konzept. Ausdrückliche Inkompatibilitätsvorschriften enthält der Grundgesetztext für den Gemeinsamen Ausschuss (Art. 53a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG; s. § 4 Rn. 9 f.), den Bundespräsidenten (Art. 55 Abs. 1 GG; s. § 5 Rn. 75) und das Bundesver­ fassungsgericht (Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG; s. § 8 Rn. 156 ff.). Für die Bundesregierung und den Bundestag fehlen Regelungen zu den staatsorganisationsrechtlichen Inkompatibilitäten im Grundgesetz107, finden sich jedoch zum Teil im einfachen Recht (z. B. § 4 BMinG: Mitglieder der Bundesregierung dürfen nicht zugleich Landesregierungsmitglieder sein; s. § 7 Rn. 93). Einige Inkompatibilitäten ergeben sich (nur) aus dem Geschäftsordnungsrecht, so etwa die Inkompatibilität zwischen der Mitgliedschaft im Bundesrat und im Bundestag (§ 2 GOBR), wobei insoweit das Vorliegen ungeschriebenen Verfassungsrechts diskutiert wird (dazu § 3 Rn. 87). Verfassungspolitisch ist die Schaffung einer neuen Inkompatibilitätsvorschrift zur Unvereinbarkeit von Mitgliedschaft im Bundestag und Bundesministeramt zu fordern (dazu § 2 Rn. 230, 613; § 7 Rn. 94, 356).

82

Von staatsorganisationsrechtlichen Inkompatibilitätsvorschriften i. e. S. sind Berufsausübungsbeschränkungen und -bedingungen der Mitglieder von Verfas­ sungsorganen zu trennen. Solche Berufsausübungsbeschränkungen und -bedingun­ gen können zwar auch als Inkompatibilitätsvorschriften i. w. S. bezeichnet werden. Hier geht es jedoch nicht um das Verbot der gleichzeitigen Mitgliedschaft in mehr als einem Verfassungsorgan, sondern um Einschränkungen beruflicher Nebenund Paralleltätigkeiten. Entsprechende Regelungen enthält das Grundgesetz (nur) für den Bundespräsidenten (Art. 55 Abs. 2 GG; s. § 5 Rn. 78 ff.) und für die Mit­ glieder der Bundesregierung (Art. 66 GG; s. § 7 Rn. 92). Für den Bundestag sieht das Grundgesetz in Art. 137 Abs. 1 GG einen besonderen Gesetzesvorbehalt für die Beschränkung der Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeit sowie von Richtern vor 106 Vgl. zu dieser Problematik Sturm, Die Inkompatibilität, 1967, S. 4 f., der auch auf weitere rechtliche und praktische Unterschiede (z. B. Ausscheiden oder bloßes Ruhenlassen des in­ kompatiblen Amts) hinweist. 107 Zu der Frage, ob Art. 66 GG neben Berufsausübungsbeschränkungen auch staatsorgani­ sationsrechtliche Inkompatibilitäten umfasst, vgl. § 7 Rn. 93.

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

43

(s. § 2 Rn. 227 ff.). Einfach-gesetzliche Regelungen gibt es für Bundestagsabge­ ordnete (§§ 5 ff. AbgG108 und §§ 44a f. AbgG109) und für Bundesverfassungsrichter (§ 3 Abs. 4 BVerfGG110). Für den Bundespräsidenten und für die Mitglieder der Bundesregierung sieht das Grundgesetz (Art. 56, Art. 64 Abs. 2 GG), für die Mitglieder des Bundes­ verfassungsgerichts sieht das einfache Recht (§ 11 BVerfGG) das Ableisten eines Amtseids vor. Auch hier fehlt dem Grundgesetz ein einheitliches Konzept. Es ist schwer einzusehen, weshalb nicht auch Bundestagsabgeordnete auf das Grundge­ setz vereidigt werden111 oder aber umgekehrt auf das überkommene Instrument des Amtseids im Staatsorganisationsrecht überhaupt verzichtet wird.112

83

III. Amtszeit, Beendigung des Amts Demokratie als Herrschaft auf Zeit113 wird im Staatsorganisationsrecht da­ durch gewährleistet, dass die Amtszeit und teilweise auch die Wiederwählbarkeit der Organwalter der Verfassungsorgane begrenzt wird. Ziele dieser Vorgaben sind Machtbegrenzung und die Erneuerung der demokratischen Legitimation.

84

Die Erneuerung der demokratischen Legitimation wird allen voran durch die Begrenzung der Legislaturperiode des Bundestags auf vier Jahre gem. Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG erreicht. Die Setzung von vier Jahren ist dabei freilich dezisionistisch; verfassungspolitisch wäre auch eine behutsame Verkürzung oder – was wahrscheinlicher und wohl auch sinnvoller wäre – eine Verlängerung dieser Periode denkbar (s. § 2 Rn. 198 ff.).

85

Während Amtszeitbegrenzungen für alle Verfassungsorgane vorgesehen sind114, ergeben sich Unterschiede bei der Begrenzung der Wiederwählbarkeit von Organ­ waltern; eine solche ist nur für den Bundespräsidenten – nur einmalige unmittelbare Wiederwählbarkeit (vgl. Art. 54 Abs. 2 GG) – und für die Mitglieder des Bundes­ verfassungsgerichts – keine Wiederwählbarkeit (§ 4 Abs. 2 BVerfGG) – vorgesehen.

86

108

Zur Rechtsstellung der in den Bundestag gewählten Angehörigen des öffentlichen ­ ienstes (unter Gebrauch des Gesetzgebungsvorbehalts aus Art. 137 Abs. 1 GG), s. dazu § 2 D Rn. 228, 230. 109 Zu anzeigepflichtigen Nebentätigkeiten, s. dazu § 2 Rn. 233, 327. 110 Berufsausübungsverbot mit ausdrücklicher Ausnahme für die Tätigkeit als „Lehre[r] des Rechts an einer deutschen Hochschule“; s. dazu § 8 Rn. 159. 111 Denkbare – aber nicht abschließend überzeugende – Gründe sind die direkte demokra­ tische Legitimation der Mitglieder des Bundestags und das freie Mandat gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Zu den Besonderheiten des „Abgeordneteneids“: Friesenhahn, Der politische Eid, 1928, S. 64 ff. 112 Das „gänzliche Verschwinden“ des politischen Eides ist sogar schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein Thema, hat sich aber noch immer nicht verwirklicht: vgl. Friesenhahn, Der politische Eid, 1928, S. 1, mit Verweis auf Georg Jellineks Allgemeine Staatslehre von 1900. 113 Vgl. Kloepfer, FAZ v. 18.02.2016, S. 6. 114 Vgl. Art. 39 Abs. 1 S. 1; Art. 51 Abs. 1 S. 1 (i. V. m. Landesverfassungsrecht); Art. 53a Abs. 1; Art. 54 Abs. 3; Art. 54 Abs. 2; Art. 67 f.; Art. 69 Abs. 2 GG sowie § 4 Abs. 1 und 2 BVerfGG.

44

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

87

Auch insoweit weist das Grundgesetz einen unausgewogenen Regelungsbefund auf; wie­ derum fehlt ein einheitliches Konzept. Für den Bundespräsidenten trifft das Grundgesetz auch hier eine ausdrückliche Regelung: Gemäß Art. 54 Abs. 2 GG beträgt die Amtszeit fünf Jahre. (Unmittelbar) anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig. Für die Mitglieder des Bun­ desverfassungsgerichts ist die Amtszeit hingegen wiederum nur einfach-gesetzlich geregelt: § 4 Abs. 1 BVerfGG beschränkt sie auf maximal zwölf Jahre; § 4 Abs. 2 BVerfGG schließt die anschließende oder spätere Wiederwahl aus.

88

Verfassungsrechtspolitisch ist im Übrigen über eine – bislang weder in der Verfassung noch an anderer Stelle vorgesehene  – Begrenzung der Wiederwählbarkeit des Bundeskanzlers nachzudenken: Stärker als die bestehende Begrenzung des Art. 54 Abs. 2 GG für die höchstens einmalige anschließende Wiederwahl des Bundespräsidenten könnte eine Begren­ zung der Wiederwahl des Bundeskanzlers angesichts dessen faktisch bedeutsamer politischer Stellung sinnvoll sein (s. § 7 Rn. 352; s. a. § 5 Rn. 16).115

89

Das Ende des Amts der Organwalter der Verfassungsorgane kann unterschied­ liche Gründe haben. Neben dem Ablauf der regulären Amtszeit (s. o. Rn. 84) kommen insbesondere der Tod des Organwalters, der (nachträgliche) Verlust be­ stimmter Wählbarkeits- bzw. Ernennbarkeitsvoraussetzungen (etwa dauerhafte Geschäftsunfähigkeit) oder der Rücktritt (s. u. Rn. 91 ff.) als Beendigungsgründe in Betracht. Diese Beendigungsgründe sind überwiegend ungeschrieben (beachte aber bspw. § 105 BVerfGG).

90

Für einige Verfassungsorgane sieht das Grundgesetz organspezifische Beendigungsgründe vor: Für den Bundespräsidenten besteht mit der Präsidentenanklage (Art. 61 GG; s. § 5 Rn. 194 ff.) ein (u. U.) auf Amtsenthebung (vgl. Art. 61 Abs. 2 S. 1 GG) gerichtetes verfas­ sungsprozessuales Verfahren. Das Amt eines Bundeskanzlers kann in Folge einer gescheiterten Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 GG; s. § 7 Rn. 136 ff.) oder eines erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG; s. § 7 Rn. 120 ff.) vorzeitig enden.

91

Ganz überwiegend im geschriebenen Recht unerwähnt sind Voraussetzungen und Folgen des Rücktritts des Organwalters eines Verfassungsorgans. Dennoch gehören Rücktritte insbesondere von Bundesministern – aber auch von Bundes­ tagsmitgliedern und sogar von Bundespräsidenten, wie die Fälle Köhler (2010) und Wulff (2012) zeigten – durchaus zur Staatspraxis. Dass es im Grundsatz rechtlich zulässig sein muss, dass Organwalter ihr Amt freiwillig niederlegen, ergibt sich – wenn nicht schon staatsorganisationsrechtsintern – jedenfalls aus dem Allgemei­ nen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) der von ihren Ämtern zurücktretenden Menschen.

92

Die Gründe für Rücktritte der Organwalter von Verfassungsorganen können freilich viel­ fältig sein und gleichermaßen persönlich wie politisch (oder gar amtlich), vergangenheits- wie zukunftsbezogen, positiv (neue Chancen) wie negativ (Protest, Fehlverhalten, Scheitern) sein.116

115

Vgl. Kloepfer, FAZ v. 18.02.2016, S. 6. Vgl. Philipp, Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen. Politische Rücktritte in Deutschland von 1950 bis heute, 2007, welcher insgesamt acht Gruppen von Rücktrittsgrün­ den unterscheidet: „biographische Entwicklung“, „politische Entwicklung“, „Protest“, „Ver­

116

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

45

(Verklärtes117) Idealbild eines Rücktritts ist dabei wohl der Rücktritt zur ‚Übernahme politischer Verantwortung‘, insbesondere von Organwaltern der exekutiven Organe, nach (auch fremden) Verfehlungen. Dies kann das Einstehen für nicht persönlich Vorwerfbares umfassen. Jeden­ falls sind Rücktrittsfragen oftmals Fragen des Anstands oder der (politischen) Klugheit und als solche der Steuerung durch das Recht schwer zugänglich. Die Rechtsnatur des Rücktritts ist nicht einheitlich: Er kann, aber muss nicht eine einsei­ tige gestaltende Willenserklärung sein (wie etwa bei einer Kündigung im Arbeitsrecht). Die ‚Mandatsniederlegung‘ von Abgeordneten des Bundestags ist ein Beispiel für eine einseitige ‚Rücktrittserklärung‘: Gemäß § 46 Abs. 3 BWahlG ist der „Verzicht“ auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag zur Niederschrift des Präsidenten des Deutschen Bundestages, eines deutschen Notars oder einer Auslandsvertretung zu erklären. Demgegenüber begründet der ‚Rücktritt‘ des Bundeskanzlers oder der Bundesminister nicht die gleichzeitige Aufhebung ihres Regierungsamtes. Der ‚Rücktritt‘ der Mitglieder der Bundesregierung beendet nicht das spezifische Rechtsverhältnis zum Staat, sondern enthält das Ersuchen an den Bundespräsiden­ ten, das betreffende Regierungsmitglied zu entlassen (Art. 64 Abs. 1 GG).

93

IV. Selbstorganisationsrecht Alle Verfassungsorgane genießen grundsätzlich das Recht, ihre Binnengliederung und ihr inneres Verfahren eigenverantwortlich zu bestimmen. Diese Or­ ganisations- und Verfahrenshoheit besteht freilich nicht schrankenlos, sondern wird durch vereinzelte zwingende Vorgaben des Grundgesetzes und ggf. auch des einfachen Gesetzesrechts begrenzt (s. u. Rn. 103). Ausprägungen des beschränkten Selbstorganisationsrechts der Verfassungsorgane sind die Geschäftsordnungsauto­ nomie (s. u. Rn. 95 ff.), die Selbstbestimmung über den Sitz (s. u. Rn. 106 ff.) und die besondere Stellung im Haushalt (s. u. Rn. 111 ff.).

94

1. Geschäftsordnungsautonomie Zentraler Ausfluss dieser inneren Organisations- und Verfahrenshoheit ist die Geschäftsordnungsautonomie der Verfassungsorgane.

95

Für den Bundestag (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG; s. § 2 Rn. 330 ff.), den Bundesrat (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GG; s. § 3 Rn. 103 ff., 135) und die Bundesregierung (Art. 65 S. 4 GG; s. § 7 Rn. 178) ist die Geschäftsordnungsautonomie ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen. Für das Bundes­ verfassungsgericht und für die Bundesversammlung ergibt sich dieses Privileg ausdrücklich nur aus dem einfachen Gesetzesrecht (§ 1 Abs. 3 BVerfGG; s. § 8 Rn. 60, 227, bzw. § 8 S. 2 BPräsWahlG), aber auch bereits ungeschrieben aus ihrer jeweiligen Stellung als Verfassungs­ organ. Nach § 8 S. 2 BPräsWahlG gilt für den Geschäftsgang der Bundesversammlung sub­

96

antwortung“, „politisches Vorleben“, „persönliche Verfehlung“, „politische Verfehlung“ sowie „Geldgeschichten“. 117 Hier könnte eine Lektüre von Kleists Drama „Prinz Friedrich von Homburg“ einsetzen.

46

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

sidiär die Geschäftsordnung des Bundestags, sofern sich nicht die Bundesversammlung eine eigene Geschäftsordnung gibt (s. § 6 Rn. 6).

97

Bemerkenswert ist, dass die Geschäftsordnungsautonomie der Bundesregierung nicht ab­ solut gilt: Nach Art. 65 S. 4 GG unterliegt sie einem Genehmigungserfordernis durch den Bundespräsidenten.

98

Einen Sonderfall stellt der Gemeinsame Ausschuss dar, welchem keine Geschäftsordnungsautonomie zukommt: Nach Art. 53a Abs. 1 S. 4 GG wird die Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschusses vielmehr durch den Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats beschlossen.

99

Das Bedürfnis nach einer Geschäftsordnung zur internen Koordinierung ergibt sich vor al­ lem für Kollegialorgane (s. u. Rn. 142). Hingegen gibt sich der Bundespräsident als einziges monistisches Organ (s. u. Rn. 142) unter den Verfassungsorganen keine Geschäftsordnung, arbeitet jedoch binnenrechtlich – seiner Verwaltung gegenüber – mit Erlassen und Anordnungen (s. § 5 Rn. 100) und verwirklicht auf diesem Weg seine Organisationshoheit.

100

Das Geschäftsordnungsrecht der Verfassungsorgane steht in der Normenhierarchie formell unterhalb der Verfassung sowie unterhalb des einfachen Gesetzes­ rechts. Denkbar ist allerdings, dass Geschäftsordnungsrecht Verfassungsrecht konkretisiert und daher (mittelbar) gegenüber verfassungswidrigem einfachen Gesetzesrecht bestehen kann.

101

Die Rechtsnatur der Geschäftsordnungen wird unterschiedlich charakteri­ siert118: So ist etwa die Rede von einer „Verfassungssatzung“119, einer „besondere[n] Gruppe von öffentlich-rechtlichen Satzungen“120 oder von „autonome[m] Recht von einer eigenständigen, z. B. mit autonomem Gemeindesatzungsrecht schwer vergleichbaren Qualität“121.

102

Zu den typischen Regelungsinhalten von Geschäftsordnungen zählen unter anderem: – Wahl und Arbeitsweise des Präsidiums oder vergleichbarer leitender Organteile (vgl. z. B. §§ 5 ff. GOBT, §§ 5 ff. GOBR), – Rechte und Pflichten der „Mitglieder“, d. h. der Organwalter (s. o. Rn. 32, 35), (vgl. z. B. §§ 13 ff. GOBT, §§ 4, 19 ff. GOBR), – Konstituierung und Arbeitsweise von Organteilen (s. o. Rn. 36 ff.) wie Fraktionen (vgl. z. B. §§ 10 ff. GOBT) und Unterorganen (s. o. Rn. 36 ff.) wie Ausschüssen (vgl. z. B. §§ 54 ff. GOBT, §§ 36 ff. GOBR) sowie – Regelungen zur Abstimmung (insbesondere Beschlussfähigkeit und Abstim­ mungsregeln; vgl. z. B. §§ 45 ff. GOBT, §§ 28 ff. GOBR). 118

Ausführlich dazu Th. J. Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (610 ff.). Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 122 f. 120 Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, Rn. 281. 121 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 53. Lfg. 2008, Art. 65, Rn. 108. 119

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

47

Selbstorganisationsrecht und Geschäftsordnungsautonomie der Verfassungs­ organe bestehen nur in begrenzter Form: Erstens ergeben sich vereinzelte verfas­ sungsstarke Begrenzungen durch das Grundgesetz, etwa hinsichtlich bestimmter Ausschüsse, deren Existenz vom Grundgesetz verlangt wird (vgl. Art. 45, Art. 45a, Art. 45c, Art. 52 Abs. 3a GG) oder durch die Vorgabe von Mehrheitserfordernis­ sen (vgl. Art. 42 Abs. 2, Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG). Komplizierter ist – zweitens – die Begrenzung der Geschäftsordnungsautonomie durch einfaches Gesetzesrecht. Grundsätzlich kann der parlamentarische Gesetzgeber Vorgaben zur Binnenor­ ganisation und zum Verfahren der Verfassungsorgane machen, wobei er etwaig bestehende Vorgaben des Grundgesetzes zu beachten und zu konkretisieren hat. Dabei darf das Selbstorganisationsrecht der Verfassungsorgane jedoch nicht über Gebühr einfach-gesetzlich determiniert werden.

103

Für das Bundesverfassungsgericht sieht Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG ausdrücklich vor, dass der einfache Bundesgesetzgeber „Verfassung“ und „Verfahren“ des Gerichts zu bestimmen hat; auf dieser Grundlage wurden die detaillierten Vorgaben des BVerfGG erlassen. Aber auch ohne ausdrücklichen grundgesetzlichen Regelungsauftrag können durch einfaches Bundes­ gesetz Vorgaben zur Organisation und Arbeitsweise von Verfassungsorganen gemacht werden (vgl. u. a. AbgG, BMinG, BPräsWahlG, etc.).

104

Hinsichtlich bestimmter Fragen der Organisation von Verfassungsorganen ist die Regelung durch formelles Gesetz aus Gründen des Demokratieprinzips sogar geboten. Beispiels­ weise ist mit Blick auf die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu kritisieren, dass die Art und Weise der Ermittlung der Einwohnerzahlen zur Bestimmung der Stimmverteilung im Bundesrat (vgl. Art. 51 Abs. 2 GG; s. § 3 Rn. 77 ff.) lediglich im Geschäfts­ ordnungsrecht (vgl. § 27 GOBR), nicht aber durch formelles Gesetz geregelt wird (dazu § 3 Rn. 79).122 Schließlich geht es bei der Ausgestaltung der Kreation (s. o. Rn. 68) und der Zusam­ mensetzung des Bundesrats um mehr als die bloße Binnenorganisation. Auch Inkompatibilitä­ ten zwischen Verfassungsorganen (s. o. Rn. 80) sollten sich nicht lediglich aus dem Geschäfts­ ordnungsrecht ergeben, wie dies etwa bei der Inkompatibilität zwischen der Mitgliedschaft im Bundesrat und im Bundestag der Fall ist (§ 2 GOBR; dazu § 3 Rn. 87). Umgekehrt wird vereinzelt diskutiert, ob es eine Pflicht von Verfassungsorganen gibt, die Rechtsform der Ge­ schäftsordnung statt des einfachen Gesetzes zur Regelung bestimmter Materien zu nutzen (so etwa hinsichtlich des Untersuchungsausschussrechts des Bundestags; dazu § 2 Rn. 459 ff.).

105

2. Bestimmung des Sitzes der Verfassungsorgane Im sachlichen Zusammenhang mit der Geschäftsordnungsautonomie und dem (begrenzten) Selbstorganisationsrecht der Verfassungsorgane steht die Frage nach der Bestimmung des Sitzes der Verfassungsorgane. Nach herrschender Auffassung kann der „Hauptstadt“-Klausel des Grundgesetzes (Art. 22 Abs. 1 GG) „keine ausdrückliche (verfassungsunmittelbare) Entscheidung zum Sitz der Verfassungs­ 122 Vgl. Deecke, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Stimmenverteilung im Bun­ desrat, 1998, S. 141; Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 21.

106

48

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

organe“ in Berlin entnommen werden123, wobei das teilweise für den Bundesprä­ sidenten als „Staatsoberhaupt“124, teilweise weitergehend zusätzlich auch für „das Parlament und die Regierung“125 anders gesehen wird. Tatsächlich haben, abge­ sehen vom Bundesverfassungsgericht126, heute alle Verfassungsorgane des Bun­ des – jedenfalls teilweise – ihren Sitz in der Bundeshauptstadt Berlin. Die Ver­ fassungsorgane verfügen dabei über kein (absolutes) Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich ihres Sitzes. 107

Besonders anschaulich wird dies an der Regelung des Sitzes des Bundesverfassungs­ gerichts (s. § 8 Rn. 19 ff.): Auf der Grundlage des Regelungsauftrags in Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt § 1 Abs. 2 BVerfGG einfach-gesetzlich Karlsruhe als Sitz. Nach wohl überwiegender Auffassung durfte der einfache Gesetzgeber über den Sitz entscheiden und könnte diesen – auch ohne Zustimmung des Gerichts  – durch einfache Gesetzesänderung verlegen, wobei ihn der Grundsatz der Verfassungsorgantreue (s. u. Rn. 158 ff.) zur Rücksichtnahme, also vor allem zu einer verfahrensmäßigen Beteiligung des Gerichts, verpflichten würde.127 Politisch wäre dies aber auf absehbare Zeit sehr unwahrscheinlich. Zudem haben die beteiligten Län­ der politisch  – wenn auch nicht rechtlich  – Einfluss. Die einfach-gesetzliche Bestimmung des Sitzes hat das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit jedenfalls nicht davon ab­ gehalten, im Plenum über einen möglichen Umzug (nach Potsdam) abzustimmen (und diesen Vorschlag abzulehnen).128

108

Im Berlin / Bonn-Gesetz vom 26. April 1994 hat der Bundesgesetzgeber zudem einfachgesetzlich den Sitz des Bundestags sowie der Bundesregierung jeweils auf „die Bundes­ hauptstadt Berlin“ festgelegt (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Berlin / BonnG). Gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Berlin / BonnG kann der Bundeskanzler jedoch entscheiden, welche Bundesministerien ihren (Haupt-)Sitz in Bonn behalten. Zudem behalten alle Bundesministerien mit Hauptsitz in Ber­ lin zumindest auch einen zweiten Dienstsitz in Bonn (§ 4 Abs. 3 Berlin / BonnG). Reziprok haben die Bundesministerien mit Hauptsitz in Bonn noch einen zweiten Dienstsitz in Berlin (§ 4 Abs. 2 Berlin / BonnG). Am heutigen Sinn dieser Regelung kann man allerdings zweifeln. Die Bundesstadt Bonn ist durch die Stärkung dort ansässiger Unternehmen (z. B. Telekom) und durch die Ansiedelung von Stellen der Vereinten Nationen und internationalen Sekretariaten für den Verlust ihrer früheren Hauptstadtfunktion längst überkompensiert worden.

123

So Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, 71. Lfg. 2014, Art. 65, Rn. 31, m. w. N. pro u. contra; Scholz leitet aus Art. 22 Abs. 1 GG aber ab, dass der Sitz des „Staatsoberhaupts“ Bundespräsi­ dent in Berlin sein müsse; referierend zu den unterschiedlichen Auffassungen Meinel, AöR 138 (2013), 585 (592 f.). 124 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, 71. Lfg. 2014, Art. 65, Rn. 31. 125 H. Meyer, Föderalismusreform 2006, 2008, S. 305. 126 Laut Meinel, AöR 138 (2013), 585 (593), wäre „[d]er Umzug des Bundesverfassungsge­ richts nach Berlin […] in der heutigen Verfassungslage [faktisch] undenkbar“. 127 Vgl. Burkiczak, in: ders. / Dollinger / Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, § 1 Rn. 97; Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 55. Lfg. 2018, § 1 Rn. 57; Walter, in: BeckOK, BVerfGG, 6. Ed. 2018, § 1 Rn. 12. 128 Vgl. die Berichte in der FAZ v. 05.12.2000 („Das letzte Wort hat der Gesetzgeber“) und im Tagesspiegel v. 06.12.2000 („Bundesverfassungsgericht: Karlsruhe bleibt ‚Residenz des Rechts‘“); Näheres bei Umbach, in: ders. / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 1 Rn. 40; Burkiczak, in: ders. / Dollinger / Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 1, Rn. 95.

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

49

Hat der Bundesgesetzgeber also für die Verfassungsorgane Bundestag, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht die Entscheidung über den Sitz in Gesetzesform getroffen, so haben der Bundespräsident129 und der Bundesrat130 und ihre Sitzverlegung nach Berlin während der 1990er Jahre durch Anordnung bzw. Beschluss jeweils selbstbestimmt getroffen (s. § 5 Rn. 22 bzw. § 3 Rn. 22).

109

Eine flexible gesetzliche Regelung enthält § 1 BPräsWahlG für den Sitz der Bundesversammlung: Der Bundestagspräsident, der auch Leiter der Bundesversammlung ist (vgl. Art. 54 Abs. 4 GG; § 8 S. 1 BPräsWahlG), bestimmt demnach „Ort und Zeit des Zusammentrittes der Bundesversammlung“.

110

3. Stellung im Haushaltsplan Mit Ausnahme des Gemeinsamen Ausschusses und der Bundesversammlung verfügen alle Verfassungsorgane über einen eigenen Einzelplan im Haushalt; die Bundesregierung verfügt über mehrere Einzelpläne. Eigene Einzelpläne im Haushalt gewährleisten die starke Eigenständigkeit der Verfassungsorgane, die gleichwohl an den Gesamthaushalt gebunden sind.

111

V. Mehrheiten in Verfassungsorganen 1.  Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip Eine Gemeinsamkeit aller Kollegialorgane (s. sogleich Rn. 142) unter den Ver­ fassungsorganen des Bundes ist die regelmäßige (nicht ausnahmslose) Entschei­ dungsfindung nach dem Mehrheitsprinzip (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG131; Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG132; § 13 Abs. 1 GOGemA133; Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG134; Art. 65 S. 3 GG i. V. m. § 24 Abs. 2 GOBReg135; § 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG136). Damit ver­ wirklicht sich ein Element des Demokratieprinzips137 auch innerhalb der Staatsor­

129

Vgl. dazu Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, 71. Lfg. 2014, Art. 65, Rn. 33: „Der Bundesprä­ sident hat am 18.3.1993 mitgeteilt, ab Winter 1993/94 den Schwerpunkt seiner Tätigkeit nach Berlin zu verlegen.“ 130 Beschl. des Bundesrats v. 27.9.1996, vgl. Plenarprotokoll d. 702. Sitzung, 27.09.1996, S. 435: „Damit hat der Bundesrat beschlossen, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen.“ 131 Ausführlich § 2 Rn. 140 ff. 132 Ausführlich § 3 Rn. 145. 133 Ausführlich § 4 Rn. 22. 134 Ausführlich § 5 Rn. 56. 135 S. § 7 Rn. 186. 136 Ausführlich § 8 Rn. 280 ff. 137 Umfassend Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 47; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, S. 104; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 24.

112

50

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

ganisation. Zugleich liegt im Mehrheitsprinzip ein allgemeines Prinzip rationaler Entscheidungsfindung in Organisationen überhaupt.138 113

Gegenstück des Mehrheitsprinzips ist das Einstimmigkeitsprinzip. Einstim­ migkeit der Mitglieder von Verfassungsorganen wird vom Grundgesetz und dem konkretisierenden Verfassungsvollzugsrecht jedoch nur in Ausnahmefällen ver­ langt. Einen solchen Ausnahmefall stellt beispielsweise die a-limine-Abweisung von unzulässigen oder offensichtlich unbegründeten Anträgen durch das Bundes­ verfassungsgericht dar; diese muss einstimmig ergehen (§ 24 S. 1 BVerfGG; s. § 8 Rn. 257). Auch die Entscheidungen der Kammern des Bundesverfassungsgerichts über die Annahme von Verfassungsbeschwerden ergehen einstimmig (§ 93d Abs. 3 S. 1 BVerfGG; s. § 8 Rn. 543). Hier soll das Einstimmigkeitserfordernis absichern, dass die Entscheidungen inhaltlich evident sind.

114

Obwohl das Einstimmigkeitsprinzip juristisch nur ausnahmsweise vorgeschrie­ ben ist, soll nicht verkannt werden, dass viele Entscheidungen von Verfassungs­ organen faktisch einstimmig erfolgen, weil sie im konkreten Fall unumstritten sind. Das gilt insbesondere für die Bundesregierung139, aber auch für den Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht, in geringerem Maße auch für den Bundestag. 2. Mehrheitsbegriffe und Mehrheitserfordernisse

115

Der Begriff der Mehrheit ist verschiedenen Interpretationen und Qualifikationen zugänglich.140 Für die nach dem Grundgesetz erforderlichen Mehrheiten ist zwischen zwei Begriffspaaren zu unterscheiden: einserseits Abstimmenden­ mehrheit und Mitgliedermehrheit (s. u. Rn. 116 ff.) sowie andererseits einfache und qualifizierte Mehrheit (s. u. Rn. 125 ff.). Diese Mehrheitserfordernisse treten in unterschiedlichen Kombinationen auf (s. u. Rn. 128 ff.). Ausnahmefälle stel­ len die Anwesendenmehrheit (s. u. Rn. 134 ff.) und die Meiststimmenmehrheit (s. u. Rn. 137 f.) dar.

138

Referierend m. w. N. zum Gedanken der vernünftigen und richtigen Entscheidungsfindung durch die Mehrheit: Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, S. 84 – dort freilich spezifisch zum Bereich der politischen Entscheidungsfindung. 139 Vgl. Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 2. Aufl. 2014, § 24 Rn. 2: faktisch komme es selten zu kontroversen Abstimmungen im Kabinett, da Meinungsverschiedenheiten in der Regel im Vorfeld ausgeräumt würden (s. § 7 Rn. 186; dort in einer Fußn.). 140 S. dazu auch Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7, Rn. 59 ff.; Kloepfer, Verfassungs­ recht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 33 ff.

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

51

a) Abstimmendenmehrheit oder Mitgliedermehrheit Zum einen kann beim Begriff der Mehrheit nach der Bezugsgröße der jeweils erforderlichen Mehrheit differenziert werden. Hierdurch wird zugleich auch die Qualität der Stimmenthaltungen bestimmt.

116

Der Abstimmendenmehrheit (auch sog. relative Mehrheit141) liegt als Bezugs­ größe die Zahl der tatsächlich abgegebenen Stimmen zugrunde. Bei diesem Ab­ stimmungsmodus werden alle Ja- und Nein-Stimmen gezählt. Enthaltungen fal­ len hier nicht ins Gewicht und drücken somit die ihnen grundsätzlich zugedachte Neutralität aus. Die Zahl der abgegebenen Stimmen kann daher durchaus kleiner sein als die Zahl der anwesenden Stimmberechtigten.

117

Die Abstimmendenmehrheit ist der Normalfall für das Mehrheitserfordernis im Bundestag (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG; s. § 2 Rn. 140) und im Gemeinsamen Ausschuss (§ 13 Abs. 1 GOGemA; s. § 4 Rn. 22). Auch das Bundesverfassungsgericht kann regelmäßig mit Abstimmendenmehr­ heit entscheiden (§ 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG; s. § 8 Rn. 280). Allerdings ist es nur beschlussfähig, wenn mindestens sechs der acht Richter eines Senats anwesend sind (§ 15 Abs. 2 S. 1 BVerfGG).

118

Unklar ist, ob auch für Kollegialentscheidungen der Bundesregierung die Abstimmen­ denmehrheit gilt (s. § 7 Rn. 186). Gem. § 24 Abs. 2 GOBReg entscheidet das Kollegium mit „Stimmenmehrheit.“ Der Wortlaut lässt eine Auslegung als Abstimmendenmehrheit zu. Teil­ weise wird allerdings eine Anwesendenmehrheit (s. u. Rn. 135) verlangt.142

119

Demgegenüber ist Bezugspunkt der Mitgliedermehrheit (auch sog. absolute Mehrheit143) die Zahl der gesetzlich festgelegten stimmberechtigten Mitglieder des jeweiligen Organs. Enthaltungen oder auch fehlende Stimmen wirken sich hier wie ablehnende Stimmen aus.

120

Zwar entscheidet der Bundestag gemäß Art. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich mit Ab­ stimmendenmehrheit (s. o. Rn. 118); wo das Grundgesetz es ausdrücklich anordnet, ist gemäß Art. 121 GG jedoch die Mitgliedermehrheit erforderlich. Wichtigstes Beispiel ist die Kanzler­ wahl im ersten und zweiten Wahlgang gem. Art. 63 Abs. 2 bzw. Abs. 3 GG; s. § 7 Rn. 41). Die hier vorausgesetzte Mehrheit wird auch ‚Kanzlermehrheit‘ genannt.144 Sie soll das besondere

121

141

Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 121 Rn. 6.; Leisner, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 42 Rn. 6; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7, Rn. 60.] Die Verwendung des Begriffs der relativen Mehrheit für ein privilegiertes Quorum ist demgegenüber zumindest missverständlich, vgl. aber bspw. Sachs, in: ders., GG, 8. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 24. 142 Vgl. Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 2. Aufl. 2014, § 24 Rn. 2. 143 Brocker, in: BeckOK GG, 40. Ed. 2019, Art. 121 vor Rn. 1; Kluth, in: Schmidt-Bleib­ treu / Hofmann / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 121 Rn. 6; Leisner, in: Sodan, Grundgesetz, 4. Aufl. 2018, Art. 42 Rn. 6; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7, Rn. 60. 144 Auch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers im Falle eines konstruktiven Misstrauensvo­ tums nach Art. 67 Abs. 1 GG erfordert die Mitgliedermehrheit des Bundestags (s. § 7 Rn. 130). Entsprechendes gilt für die Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG; s. § 7 Rn. 144). Auch be­ darf es der Mitgliedermehrheit, wenn ein Gesetz gegen den Einspruch des Bundesrats zustande kommen soll (Art. 77 Abs. 4 S. 1 GG). Einen weiteren Fall stellt Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG dar, der für eine Überschreitung der Kreditaufnahme in Notsituationen die Mehrheit der Mitglie­ der des Bundestages verlangt.

52

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

Vertrauen in den Bundeskanzler (und mittelbar in seine Bundesregierung) und die besondere Unterstützung des Parlaments zum Ausdruck bringen.

122

Der Bundesrat kann Beschlüsse gemäß Art. 52 Abs. 3 S.1 GG ausschließlich mit Mitglie­ dermehrheit (dort regelmäßig ‚Stimmenmehrheit‘ genannt) fassen (s. § 3 Rn. 150 ff.).

123

Die Bundesversammlung entscheidet im ersten und zweiten Wahlgang der Wahl des Bundespräsidenten mit Mitgliedermehrheit (Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG; s. § 5 Rn. 56). Im dritten Wahlgang gilt die Meiststimmenmehrheit (Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG; s. § 5 Rn. 56; s. u. Rn. 138).

124

Zwar kann das Bundesverfassungsgericht regelmäßig mit Abstimmendenmehrheit ent­ scheiden (s. o. Rn. 118). In einigen Verfahren, namentlich über die Verwirkung von Grund­ rechten, das Verbot einer politischen Partei, die Anklage des Bundespräsidenten oder eines Richters, ist allerdings die Mitgliedermehrheit erforderlich, die zusätzlich noch durch ein Zwei-Drittel-Erfordernis qualifiziert ist (§ 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG; s. § 8 Rn. 281).

b) Einfache oder qualifizierte Mehrheit 125

Die Begriffe der einfachen bzw. der qualifizierten Mehrheit beschreiben den Anteil an der Bezugsgröße, der für die jeweilige Entscheidung erforderlich ist. Eine einfache Mehrheit bedeutet dabei, dass die „Ja-Stimmen“ die anderen rele­ vanten Stimmen (dazu oben Rn. 116 f. u. Rn. 120) überwiegen müssen. Der Begriff der Mehrheit ist insofern wörtlich zu nehmen, so dass Stimmengleichheit gerade nicht zu einem positiven Beschluss führt.

126

Die einfache (‚normale‘) Mehrheit kann sowohl nach oben qualifiziert als auch nach unten privilegiert sein. So kann eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sein (Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG, Art. 79 Abs. 2 GG), aber auch eine Anzahl von einem Drittel (Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG), einem Viertel (Art. 23 Abs. 1 a S. 2 GG, Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG, Art. 61 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) oder auch nur einem Zehntel (Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG) ausreichen.

127

Gerade in diesen letztgenannten Fällen, in denen ein Stimmenanteil von weniger als der Hälfte für eine Entscheidungsfindung ausreichend ist, erscheint der Begriff der „Mehrheit“ irreführend, er wird deshalb auch von der Verfassung selbst nicht gebraucht. Es wird vielmehr deutlich, dass sich hinter den qualifizierten Mehr­ heiten nur rechnerische Bezugsgrößen verbergen.145 c) Kombinationen

128

Die genannten Begriffspaare (Abstimmende / Mitglieder sowie einfach / qualifi­ ziert) werden von der Verfassung in sämtlichen Kombinationsmöglichkeiten ver­ wendet. Daraus ergeben sich vier Gruppen von Mehrheitserfordernissen, wobei 145

Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7, Rn. 68.

D. Eigenschaften von Verfassungsorganen

53

die Notwendigkeit und systematische Konsequenz der Vielzahl der Mehrheits­ erfordernisse nicht immer deutlich wird. Die erste Gruppe bilden Fälle der einfachen Abstimmendenmehrheit; sie ist der Regel­ fall im Bundestag (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG; s. § 2 Rn. 140, im Gemeinsamen Ausschuss (§ 13 Abs. 1 GOGemA; s. § 4 Rn. 22) und im Bundesverfassungsgericht (§ 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG; s. § 8 Rn. 280).

129

Als zweite Kombination ergibt sich die Kategorie der einfachen Mitgliedermehrheit: Sie ist der Normalfall im Bundesrat146 (Art. 52 Abs. 3 S.1 GG; s. § 3 Rn. 150 ff.), gilt aber aus­ nahmsweise bspw. auch im Bundestag, falls die sog. ‚Kanzlermehrheit‘ erforderlich ist (dazu oben Rn. 121).

130

Eine qualifizierte Mitgliedermehrheit – so die dritte Gruppe – ist nach Art. 79 Abs. 2 GG für Verfassungsänderungen notwendig, das wohl bekannteste Beispiel der Zweidrittelmehr­ heit. Das Erfordernis gilt dann für den Bundestag (s. § 2 Rn. 141) und für den Bundesrat (s. § 3 Rn. 192).147 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über eine Präsidentenanklage (s. § 5 Rn. 194 ff.), eine Richteranklage148, eine Grundrechtsverwirkung149 oder ein Parteiverbot150 setzen gem. § 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG ausnahmsweise eine Zwei­drittelmehrheit der Mitglieder im Senat voraus, falls für den Antragsgegner (Bundespräsident, Richter, Grundrechtsträger bzw. Partei) nachteilig entschieden werden soll (s. § 8 Rn. 281).

131

Das Zwei-Drittel-Erfordernis kann sich aber auch auf die Bezugsgröße der abgegebenen Stimmen beziehen, wie Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG zeigt (qualifizierte Abstimmendenmehrheit als vierte Kombination). Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG mag zugleich als Beispiel dafür dienen, wie verschiedene Qualifizierungen bzw. Privilegierungen in Kombination mit den beiden denk­ baren Bezugsgrößen von ein und derselben Norm verwendet werden: Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG verlangt eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen (qualifizierte Abstimmenden­ mehrheit), um auf Antrag eines Zehntels der Mitglieder des Bundestags (privilegierte Mit­ gliedermehrheit) die Öffentlichkeit von den Sitzungen des Bundestages auszuschließen (s. § 2 Rn. 131).

132

Auch doppelte Qualifizierungen eines Mehrheitserfordernisses sind denk­ bar: Es müssen dann zwei verschiedene Qualifizierungen kumulativ bei ein und demselben Abstimmungsvorgang erfüllt sein. Ein Beispiel für ein solches doppelt qualifiziertes Mehrheitserfordernis stellt Art. 77 Abs. 4 S. 2 GG dar: Sofern der Bundesrat mit einer Zweidrittelmehrheit einen Einspruch gegen ein Gesetz erho­ ben hat, sind für die Zurückweisung dieses Einspruchs durch den Bundestag zwei Drittel der abgegebenen Stimmen (erste Qualifizierung in Gestalt einer qualifi­

133

146 Nur ausnahmsweise ist im Bundesrat eine qualifizierte Mitgliedermehrheit erforderlich; bspw. im Fall der Anklage des Bundespräsidenten (Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG) sowie für Grund­ gesetzänderungen (Art. 79 Abs. 2 GG). Darüber hinaus bewirkt der mit zwei Dritteln gefasste Einspruch des Bundesrates gegen Einspruchsgesetze, dass der Bundestag ebenfalls mit einer qualifizierten Mehrheit, darüber hinaus aber auch mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Mit­ gliederzahl beschließen muss, um den Einspruch zu überwinden (Art. 77 Abs. 4 S. 2 GG). 147 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 242. 148 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 23, Rn. 66 ff. 149 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 28, Rn. 87 ff. 150 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 277 ff.

54

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

zierten Abstimmendenmehrheit), mindestens aber die einfache Mehrheit der Mit­ glieder des Bundestags erforderlich (zweite Qualifizierung in Gestalt einer ein­ fachen Mitgliedermehrheit).151 d) Anwesendenmehrheit 134

Der Ausnahmefall der Anwesendenmehrheit bezieht sich auf die Zahl der zum Abstimmungszeitpunkt Anwesenden. Wie bei der Abstimmendenmehrheit (s. o. Rn. 117 ff.) und der Mitgliedermehrheit (s. o. Rn. 120 ff.) geht es also um die Bezugsgröße der erforderlichen Mehrheit. Im Unterschied zur Abstimmenden­ mehrheit wirken sich Enthaltungen bei der Anwesendenmehrheit wie ablehnende Stimmen aus.

135

Ein Beispiel für das Erfordernis einer (einfachen) Anwesendenmehrheit ist Art. 115g S. 4 GG, wonach das Bundesverfassungsgericht im Verteidigungsfall Beschlüsse nach Art. 115g S. 2 und S. 3 GG über die Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetz durch den Gemeinsamen Ausschuss sowie Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit des Gerichts nur mit der Mehrheit der anwesenden Mitglieder fassen kann (s. § 4 Rn. 41). Vereinzelt wird vertreten, dass auch das Mehrheitserfordernis des § 24 Abs. 2 GOBReg („Stimmenmehr­ heit“) für Entscheidungen der Bundesregierung eine Anwesendenmehrheit darstelle.152 Der Wortlaut lässt allerdings auch eine Auslegung als Abstimmendenmehrheit zu (s. o. Rn. 119).

136

Auch die Anwesendenmehrheit kann besonders qualifiziert sein. Dieses Mehrheitserfor­ dernis findet insbesondere in der Geschäftsordnung des Bundestags Niederschlag. So kann der Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit der Anwesenden beschließen, ohne Ausschussüber­ weisung in die zweite Beratung über einen Gesetzentwurf einzutreten (§ 80 Abs. 2 GOBT).

e) Meiststimmenmehrheit 137

Als weiterer Ausnahmefall ist neben den zuvor genannten Mehrheitserforder­ nissen noch die Meiststimmenmehrheit zu nennen, die sich nicht in das erläuterte System der Mehrheitsstrukturen einpasst. Stehen nur zwei Wahlvorschläge zur Wahl, entspricht die Meiststimmenmehrheit der einfachen Abstimmungsmehrheit. Dies ändert sich jedoch, sobald mehr als zwei Vorschläge vorliegen. In diesem Fall ist der Vorschlag erfolgreich, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt, selbst wenn dies weniger als die Hälfte der abgegebenen Stimmen sein sollten.

138

Die prominentesten Beispiele für die Meiststimmenmehrheit sind die Wahl des Bundespräsidenten ab dem dritten Wahlgang in der Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG; s. § 5 Rn. 56) und die Wahl des Bundeskanzlers in der dritten Wahlphase im Bundestag (Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG; s. § 7 Rn. 41).

151 152

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 277. Vgl. Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 2. Aufl. 2014, § 24 Rn. 2.

E. Arten von Verfassungsorganen

55

VI. Verfassungsprozessuale Stellung Mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts, welches nicht selbst Beteiligter eines verfassungsprozessualen Verfahrens, d. h. nicht Richter in eigener Sache sein kann und überdies kein Selbstbefassungsrecht besitzt (s. § 8 Rn. 45, 58, 252, 288, 362, 389), sind alle Verfassungsorgane – in unterschiedlichem Maße – berechtigt, vor dem Bundesverfassungsgericht an Verfahren beteiligt zu sein.

139

Im Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG können alle Verfassungsorgane als „oberste Bundesorgane“ (mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts) An­ tragsteller oder Antragsgegner sein (s.o Rn. 52 ff. und § 8 Rn. 363). Das gilt – wie gesagt  – auch für die Bundesversammlung und den Gemeinsamen Ausschuss, die nicht im – zu eng gefassten – § 63 BVerfGG aufgezählt werden (s.o Rn. 54). Das Organstreitverfahren dient vor allem auch der prozessualen Absicherung der funktionalen (horizontalen) Gewaltenteilung153 (s. § 8 Rn. 358); die gegenseitige Kontrolle der Verfassungsorgane wird verfassungsprozessual abgesichert (s. u. Rn. 149). Die Parteifähigkeit im Organstreit ist freilich kein Alleinstellungsmerk­ mal von Verfassungsorganen: Auch andere, in der Verfassung oder im Geschäf­ tordnungsrecht mit eigenen Rechten ausgestatte Beteiligte sind parteifähig (s. Rn. 57 und § 8 Rn. 367).

140

Über den Organstreit hinaus haben manche Bundesverfassungsorgane die Antragsberech­ tigung in weiteren Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht, so etwa die Bundes­ regierung und ein Viertel der Bundestagsabgeordneten hinsichtlich der abstrakten Normen­ kontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Auch der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, die Verfahren nach Art. 93 Abs. 2a und Art. 93 Abs. 2 GG, die Präsidentenanklage (Art. 61 Abs. 1 S. 1 GG) und das Parteiverbotsverfahren (vgl. Art. 21 Abs. 2, 3 GG i. V. m. § 43 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) können nur von bestimmten Verfassungsorganen angestrengt werden.

141

E. Arten von Verfassungsorganen Verfassungsorgane lassen sich verschiedentlich gruppieren: Zunächst ergibt sich eine Differenzierung nach der Anzahl der Mitglieder des Organs: Es gibt einerseits – dies ist der Regelfall – Kollegialorgane mit mehr als einem Mitglied und andererseits das monistische Organ (Einpersonenorgan) Bundespräsident (s. § 5). Unzutreffenderweise wird vereinzelt auch der Bundeskanzler als eigenständiges monistisches Verfassungsorgan eingeordnet (s. a. unten Rn. 169 f.).154

142

Eine weitere Unterscheidung könnte den demokratischen Legitimationsgrad der Verfassungsorgane betreffen: Einziges vollständig unmittelbar durch Volks­ wahl legitimiertes Verfassungsorgan des Bundes ist der Bundestag (s. § 2 Rn. 34,

143

153 154

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 10, Rn. 44 ff. Vgl. Hartmann, Staatszeremoniell, 4. Aufl. 2007, S. 100, 103, m. w. N.

56

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

147 ff.). Die anderen Verfassungsorgane sind (jedenfalls teilweise155) nur indirekt demokratisch legitimiert, wobei die Vermittlung zum Teil – wie z. B. bei den Bun­ desministern – sogar mehrfach vermittelt ist (Ernennung der Bundesminister durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers; weder Bundespräsident noch Bundeskanzler sind direkt demokratisch legitimiert, sondern werden durch die Bundesversammlung bzw. den Bundestag gewählt). 144

In der politischen Praxis sieht dies allerdings anders aus. Längst sind z. B. die Bundestags­ wahlen im Bewusstsein der Bevölkerung auch zur Abstimmung über verschiedene Bundes­ kanzlerkandidaten geworden. Dies kann zu einer ‚gefühlt‘ direkt-demokratischen Legitimation des Bundeskanzlers führen, sollte der Spitzenkandidat der stärksten Partei tatsächlich von einer Mehrheit des Bundestags gewählt werden.

145

Der Gemeinsame Ausschuss und die Bundesversammlung lassen sich als (teil­ weise) abgeleitete Organe bezeichnen und unterscheiden sich insoweit von den anderen, nicht-abgeleiteten Verfassungsorganen des Bundes: Sie speisen sich (teil­ weise) aus Mitgliedern anderer Verfassungsorgane – ein Fall der Kompatibilität von Mitgliedschaften in verschiedenen Verfassungsorganen (s. u. Rn. 151): Der Gemeinsame Ausschuss wird aus 32 Mitgliedern des Bundestags und 16 Mitglie­ dern des Bundesrats gebildet (Art. 53a Abs. 1 S. 1 GG; s. § 4 Rn. 5 ff.). Die Bun­ desversammlung hat einen partiell-abgeleiteten Charakter, soweit sie zur Hälfte aus (allen) Mitgliedern des Bundestags besteht (Art. 54 Abs. 3 GG; s. § 6 Rn. 9 ff.). Hinsichtlich der von den Volksvertretungen der Länder gewählten Mitglieder der Bundesversammlung besteht ein solches Ableitungsverhältnis nicht.

146

Nach der Dauerhaftigkeit und Durchgängigkeit bzw. Unterbrechung des Be­ stehens der Verfassungsorgane können ständige (permanente)156 Organe von nicht-ständigen Organen unterschieden werden. Die nicht-ständigen Organe, wozu insbesondere der Bundestag gehört, unterliegen dem Grundsatz der Diskon­ tinuität (s. § 2 Rn. 205 ff.) – anders als permanente Organe wie beispielsweise der Bundesrat (s. § 3 Rn. 42). Daher kann der Bundesrat – anders als der Bundestag – auch nach Ablauf einer Legislaturperiode des Bundestags noch mit Gesetzesvor­ lagen aus der vergangenen Legislaturperiode befasst werden.157 Der Bundestag muss sich als nicht-ständiges Organ – anders als der Bundesrat – jeweils eine neue Geschäftsordnung geben. In der Regel beschließt er freilich, die Geschäftsordnung des „vergangenen“ Bundestags zu übernehmen (s. § 2 Rn. 210).

155

Die Bundesversammlung ist ‚immerhin‘ hälftig mit unmittelbar demokratisch legitimier­ ten Mitgliedern, den Abgeordneten des Bundestags, besetzt; die andere Hälfte der Mitglieder der Bundesversammlung wird von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt, ist also nur mittelbar demokratisch legitimiert (Art. 54 Abs. 3 GG; s. § 6 Rn. 9 ff.). 156 Für den Bundesrat Eschenburg, in: Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungs­ organ und politische Kraft – Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates der Bundes­ republik Deutschland, 1974, S. 35 (38). 157 Kloepfer, Jura 1991, 169 (175).

F. Beziehungen der Verfassungsorgane des Bundes untereinander 

57

Das Bundesverfassungsgericht hat – hiermit im Zusammenhang – als weitere Differenzie­ rung sich selbst konstituierende Organe wie den Bundestag von sich nicht selbst konstitu­ ierenden Organen wie der Bundesregierung unterschieden.158 Für sich nicht selbst konstituie­ renden Organe gelte der Grundsatz der Diskontinuität nicht. Dies habe etwa die Folge, dass die Geschäftsordnung der Bundesregierung nicht von jeder neuen Bundesregierung erneut beschlossen werden müsse (s. § 7 Rn. 182).

147

F. Beziehungen der Verfassungsorgane des Bundes untereinander In Folge der horizontalen Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung auf Bundesebene treten die Bundesverfassungsorgane in konfrontative Beziehungen (gegenseitige Kontrolle und Machtbegrenzung; s. u. Rn. 149), aber auch kooperative Beziehungen (gemeinsame Wahrnehmung der Staatsfunktionen; s. u. Rn. 154 ff.) zueinander. Die Tendenz der Kooperation von Verfassungsorganen steht teilweise in der Nähe der Figur der Verfassungsorgantreue (s. u. Rn. 158 ff.). Gewissermaßen zwischen den Polen der Konfrontation und Kooperation von Verfassungsorganen liegen solche Aspekte wie gegenseitige Kreation, Kompatibilitäten oder Stellver­ tretung von Verfassungsorganen (s. u. Rn. 150 ff.).

148

I. Gegenseitige Kontrolle Primär der Kontrolle und Machtbegrenzung einzelner Organe dienen Vor­ schriften wie das Erfordernis der Gegenzeichnung für „Anordnungen und Ver­ fügungen“ des Bundespräsidenten durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister (Art. 58 S. 1 GG; ausführlich § 5 Rn. 177 ff.), das Untersuchungsausschussrecht des Bundestags (Art. 44 GG; s. § 2 Rn. 443 ff.) sowie die Abhängigkeit des Bundeskanzlers (und der Bundesregierung) vom „Vertrauen“ der Mehrheit des Bundestags, dessen Fehlen beispielsweise über Art. 67 Abs. 1 GG in einem konstruktiven Misstrauensvotum ausgedrückt werden kann (ausführlich § 7 Rn. 120 ff.). Verfassungsprozessual ist für die gegenseitige Kontrolle der Ver­ fassungsorgane das Organstreitverfahren von hervorgehobener Bedeutung (s. o. Rn. 140; § 8 Rn. 358).

158

BVerfGE 91, 148 (167) – Umlaufverfahren; kritisch hierzu Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 53. Lfg. 2008, Art. 65, Rn. 111.

149

58

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

II. Kreation, Kompatibilitäten, Stellvertretung 150

Verfassungsorgane sind zum Teil auch an der Kreation anderer Verfassungsorgane (s. o. Rn. 68 ff.) beteiligt. Das Verfassungsorgan Bundesversammlung hat gar den ausschließlichen Zweck der Wahl des Bundespräsidenten (Art. 54 GG; ausführlich § 6 Rn. 14). Politisch am bedeutsamsten ist freilich die Bundeskanzler­ wahl durch den Bundestag (Art. 63 GG; ausführlich § 7 Rn. 32 ff.). Schließlich ist die hälftige Wahl der Bundesverfassungsrichter durch Bundestag und Bundesrat zu nennen (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG; ausführlich § 8 Rn. 154 ff.).

151

Die (teilweise)  abgeleiteten Organe (s. o. Rn. 145) Gemeinsamer Ausschuss und Bundesversammlung bilden sich sogar (im Falle der Bundesversammlung: teilweise) aus Mitgliedern anderer Verfassungsorgane. Es lässt sich insoweit – in Umkehrung der Rede von der Inkompatibilität (dazu oben Rn. 80) – von (partiel­ len) Kompatibilitäten zwischen Verfassungsorganen bzw. den Mitgliedern der Organe („Amphibienstellung“159) sprechen.

152

Während die Kompatibilität in den Fällen des Gemeinsamen Ausschusses (gegenüber Bun­ destags- und Bundesratsmitgliedern) und der Bundesversammlung (gegenüber Bundestags­ mitgliedern) notwendige, also zwingende Kompatibilitäten sind, so gibt es auch lediglich mögliche, also nicht-zwingende Kompatibilitäten zwischen Verfassungsorganen bzw. den Mitgliedern der Organe. Praktisch am relevantesten dürfte hier die – zu kritisierende (s. o. Rn. 81 a. E.) – Kompatibilität von Bundestagsmandat und Mitgliedschaft in der Bundesregie­ rung sein (sog. „Minister-Abgeordneter“; hierzu § 2 Rn. 230, 613; § 7 Rn. 94, 356).

153

Mit der ‚Vertretung‘ des Bundespräsidenten durch den Bundesratspräsidenten kennt das Grundgesetz schließlich auch einen Fall der Stellvertretung eines Verfas­ sungsorgans durch den Präsidenten eines anderen Verfassungsorgans (Art. 57 GG; hierzu § 5 Rn. 88 ff.). Dies stellt freilich einen Ausnahmefall dar. Im Übrigen wer­ den die Verfassungsorgane bzw. ihre Mitglieder und Funktionenträger grundsätz­ lich organintern vertreten.160 Beispielsweise wird der Bundeskanzler durch einen von ihm zu seinem Stellvertreter ernannten Bundesminister (sog. ‚Vizekanzler‘) vertreten (vgl. Art. 69 Abs. 1 GG; hierzu § 7 Rn. 79, 161, 200).

III. Zusammenwirken 154

Die grundgesetzliche Gewaltenverschränkung sieht zur Wahrnehmung der Staatsfunktionen teilweise das Zusammenwirken mehrerer Bundesverfassungs­ organe vor. 159 So die Bezeichnung von Partsch / Genzer, AöR 76 (1950/51), 186 (187), für das um 1950 noch vereinzelt gegebene Zusammenfallen von Mandat im Bundestag und Mitgliedschaft in einer Landesregierung. 160 Zur Stellvertretung im Verfassungsrecht ausführlich Wahl, Stellvertretung im Verfas­ sungsrecht, 1971.

F. Beziehungen der Verfassungsorgane des Bundes untereinander 

59

Besonders anschaulich wird das Zusammenwirken von Verfassungsorganen am Beispiel der Staatsfunktion der formellen Bundesgesetzgebung161: Die Art. 76 ff. GG regeln die Organzuständigkeiten der Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung bei der Gesetzesinitiative (Art. 76 GG), die Beschlussverfahren in Bundestag und Bundesrat (Art. 77 GG) und den Abschluss des formellen Gesetzgebungsverfahrens unter Beteiligung von Bundesregierung und Bundespräsident (Art. 82 GG).

155

Das Zusammenwirken der Verfassungsorgane des Bundes lässt sich auch als Ausdruck der gemeinsamen Integrationsfunktion aller Verfassungsorgane be­ greifen. „Integration“ kann in diesem Zusammenhang mit Triepel als die Bündelung von Auffassungen und Handlungen in Verbindung „mit den höchsten, obersten, entscheidendsten Staatszwecken“ zur Verwirklichung des „Staat[s] als schöpferi­ sche[r] Macht“ verstanden werden (s. a. § 2 Rn. 59; § 8 Rn. 47).162 Innerhalb ihrer je­ weiligen Zuständigkeiten sind alle Verfassungsorgane an diesem Prozess beteiligt.

156

Eine hervorgehobene Rolle mag dabei der Bundespräsident einnehmen, da er dieses auf Integration gerichtete Zusammenwirken der Verfassungsorgane in besonderem Maße inspi­ rieren, moderieren und vermitteln soll (s. § 5 Rn. 29 ff.). Konkret kann diese integrierende Rolle des Bundespräsidenten beispielsweise dann werden, wenn er auf die Bildung einer Re­ gierungskoalition im Vorfeld der Kanzlerwahl hinwirkt. Diese Rolle nahm Bundespräsident Steinmeier bei der schwierigen Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl 2017 wahr. Nor­ mativer Anknüpfungspunkt hierfür ist das Vorschlagsrecht der Bundespräsidenten für einen Kandidaten zur Kanzlerwahl (Art. 63 Abs. 1 GG; s. § 7 Rn. 43 ff.).

157

IV. Gegenseitige Rücksicht; Verfassungsorgantreue Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird das Verhältnis zwischen den Verfas­ sungsorganen maßgeblich durch den ‚ungeschriebenen‘ Grundsatz der Verfas­ sungsorgantreue geprägt. Der vom Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage der Integrationslehre von Smend 163 und der Staatslehre von Heller164 (gewisser­ maßen parallel zum Prinzip der Bundestreue165)166 entwickelte Grundsatz167 ist im 161

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 167 ff. Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (7); ähnlich Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994 [1928], S. 119 (136 ff.). 163 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994 [1928], S. 119 (136 ff.), zur „Integration als grundlegende[m] Lebensvorgang des Staats“. 164 Vgl. Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff.; vgl. zu diesen Einflüssen Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2217); Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 36. 165 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 197 ff. 166 Zu den Zusammenhängen von Verfassungsorgantreue und Bundestreue Lorz, Interorgan­ respekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 34 ff. Bundestreue und Verfassungsorgantreue können jeweils als „Einzelaspekt[e] einer umfassenden Idee loyaler Zuständigkeitswahrnehmung“ begriffen werden, vgl. Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 52. 167 Vgl. BVerfGE 35, 193 (199); 36, 1 (15) – Grundlagenvertrag; 45, 1 (39) – Haushaltsüber­ schreitung; 89, 155 (191) – Maastricht; 90, 286 (337) – Bundeswehreinsatz; 97, 350 (374 f.) – Euro; 119, 96 (125) – Nachtragshaushalt. 162

158

60

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

Schrifttum weitgehend anerkannt,168 aber bisher sehr wenig konkretisiert worden (s. aber unten Rn. 161). 159

Ähnlich wie der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens („Bundestreue“169) begründet der Grundsatz der Verfassungsorgantreue vor allem eine verfassungsrechtliche Rücksichtnahme- und Loyalitätspflicht170, die bei der Verfassungs­ organtreue freilich zwischen den Verfassungsorganen (des Bundes)171 und nicht zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen Bundesländern ihre Wirkung entfaltet. Die verfassungsrechtliche Rücksichtnahme- und Loyalitätspflicht der Verfassungs­ organe beruht auf der eingangs skizzierten Vorstellung, dass die Verfassungsorgane als institutionelle Kräfte des Verfassungslebens (s. o. Rn. 1) ihre (gemeinsame) In­ tegrationsfunktion (s. o. Rn. 156) teilweise nur durch gegenseitige Rücksichtnahme verwirklichen können.

160

Mit Lorz lässt sich hinsichtlich dieser wechselseitigen Rücksichtnahme- und Loyalitäts­ pflichten der Verfassungsorgane auch von „Interorganrespekt“ sprechen.172 Allerdings kon­ zipiert Lorz den „Interorganrespekt“ weitergehend als „übergreifendes Strukturprinzip“ des Verhältnisses von Verfassungsorganen untereinander, welches neben einem negativen Rück­ sichtnahmegebot auch positive Elemente des konstruktiven Zusammenwirkens der Verfas­ sungsorgane (hierzu oben Rn. 154 ff.) enthalte.173

161

Die Verfassungsorgantreuepflicht kommt in unterschiedlichsten Konstellationen zur An­ wendung.174 Einige Anwendungsfälle seien hier genannt: Nach Ansicht des Bundesverfas­ sungsgerichts haben die Verfassungsorgane bspw. alles zu unterlassen, „was dem Bundes­ verfassungsgericht eine rechtzeitige und wirksame Ausübung seiner Kompetenz erschweren oder unmöglich machen könnte“.175 Dementsprechend hat z. B. der Bundespräsident die Ent­ scheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon abgewartet, bevor er durch die Unterzeichnung und Hinterlegung der Ratifikationsurkunde eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt hat.176 Die verfassungsrechtlichen Rücksichtnahme- und Loyalitätspflichten können etwa auch eine gewisse Zustimmungspflicht 168

Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 19 m. w. N.; Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001; Detterbeck, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 13; Meyer, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 93, Rn. 5; Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2217). 169 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 197 ff. 170 Vgl. Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 52 ff. („Vorstellung […] des einbinden­ den, kooperativen Verfassungssinns aller Staatsgliederungen und -organe untereinander“ mit einem „Verpflichtetsein aller Staatsgliederungen und -organe auf ein gemeinsames Ganzes und hieraus folgend eine umfassende Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Koope­ ration“); Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 34, 36. 171 Nach Lovens, Bundesverfassungsrichter zwischen freier Meinungsäußerung, Befangen­ heit und Verfassungsorgantreue, 2009, S. 78 f., gilt die Verfassungsorgantreue auch für Mit­ glieder des Bundesverfassungsgerichts als Organwalter – und kann als Grenze der Meinungs­ äußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) der einzelnen Richterinnen und Richter wirken. 172 Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001; zum Respekt im Recht Kloepfer, VerwArch 2019, 419 ff. 173 Vgl. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 85 f., 97 f. 174 S. a. Voßkuhle, NJW 1997, 2216 (2217 ff.). 175 BVerfGE 36, 1 (15) – Grundlagenvertrag. 176 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 39, Rn. 58.

G. Rang der Verfassungsorgane des Bundes

61

von Bundestag und Bundesrat zu von der Exekutive ausgehandelten völkerrechtlichen Verträ­ gen begründen.177 Ferner kann für den Gesetzgeber ein Normwiederholungsverbot bestehen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Norm für nichtig erklärt hat (s. § 8 Rn. 318). Der vom Bundesverfassungsgericht geübte judicial self-restraint gegenüber bestimmten Formen des Regierungshandelns und gegenüber dem Gesetzgeber (Schonung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums) lässt sich auch vor dem Hintergrund der Verfassungsorgantreue be­ trachten (s. § 8 Rn. 89 ff.). Weiterhin wird diskutiert, ob der Bundesratspräsident im Falle der „Wahrnehmung der Befugnisse“ des Bundespräsidenten (Art. 57 GG) durch die Verfassungs­ organtreuepflicht gehalten ist, die Amtsgeschäfte im Sinne des Bundespräsidenten zu führen (s. § 5 Rn. 98).178 Auch bei etwaigen Verwerfungen zwischen der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, der Ressortkompetenz der einzelnen Bundesminister und dem Kabinettsprin­ zip der Bundesregierung als Kollegialorgan (vgl. Art. 65 GG) mag man zur Konfliktdämpfung auf die gegenseitig wirkende Verfassungsorgantreue verweisen (s. § 7 Rn. 324), wenngleich Bundeskanzler und Bundesminister nicht als eigenständige Verfassungsorgane neben der Bun­ desregierung verstanden werden können (s. Rn. 34, 142, 169 f.).

Neben solchen ‚ungeschriebenen‘ Anwendungsfällen der Verfassungsorgantreue lassen sich bestimmte Befugnisse und Pflichten, die das Grundgesetz einzelnen Verfassungsorganen ausdrücklich zuordnet, als Formalisierungen der Verfassungsorgantreuepflicht begreifen. Als Beispiele können der Informationsan­ spruch des Bundesrats gegenüber der Bundesregierung aus Art. 53 S. 3 GG oder das Rederecht der Bundesratsmitglieder im Bundestag gem. Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG dienen (s. § 3 Rn. 257).

162

G. Rang der Verfassungsorgane des Bundes I. Verfassungsrechtliche Hierarchie? Das Grundgesetz enthält keine ausdrücklichen Regelungen zu einer Rangfolge der Verfassungsorgane untereinander. Das heißt freilich nicht, dass es nicht in ­bestimmten Konstellationen rechtliche Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Verfassungsorganen geben kann, beispielsweise des Bundespräsidenten gegenüber der Bundesregierung hinsichtlich des Gegenzeichnungserfordernisses (vgl. Art. 58 S. 1 GG; s. § 5 Rn. 177 ff.).

163

Dem Grundgesetz lassen sich Indizien für ein besonderes Gewicht bestimmter Organe entnehmen. So spricht die systematische Stellung des Abschnitts zum Bun­ destag (Art. 38 ff. GG) an der Spitze der Abschnitte zu den Verfassungsorganen, aber auch die Funktion des Bundestags als legitimationsvermittelndes Kreations­ organ der Bundesregierung für seine besondere Bedeutung. Wichtiger noch ist der Zusammenhang von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, wonach

164

177

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 35, Rn. 58. Kritisch hierzu Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 60. 178

62

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

die Bundestagsabgeordneten das „ganze Volk“, also den Ausgangspunkt „alle[r] Staatsgewalt“ unmittelbar vertreten (s. a. § 2 Rn. 34, 240 ff.). 165

Wie beispielweise Friesenhahn in seiner Formel von der „Staatsleitung zur gesamten Hand“179 prägnant zusammengefasst hat, ist in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes allerdings von keinem absoluten Primat des Parlaments auszugehen. Vielmehr wirken insbesondere die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesregierung (aber auch der Bundesrat) gemeinsam bei der Staatsleitung zusammen.

166

Auch für die ebenfalls wichtige Stellung anderer Verfassungsorgane als Bundestag und Bundesregierung sprechen im Übrigen eigene verfassungsrechtli­ che Argumente: Für den Bundespräsidenten ist auf die grammatische Auslegung der Bezeichnung „Bundespräsident“ sowie auf seine – in der Praxis freilich re­ lativierte  – Aufgabe, die Bundesrepublik Deutschland nach außen zu vertreten (s. Art. 57 Abs. 1 GG; § 5 Rn. 109 ff.), zu verweisen. Das Bundesverfassungsgericht wiederum besitzt unter anderem die weitreichende Befugnis zur Normenkontrolle mit Verwerfungskompetenz – selbst hinsichtlich verfassungswidriger Parlamentsgesetze (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, Art. 100 Abs. 1 GG – sog. ‚negative Gesetz­ gebung‘; s. Rn. 46, § 8 Rn. 80 f.). Der Bundesrat ist – vor allem bei Zustimmungs­ gesetzen durch sein absolutes Vetorecht (vgl. Art. 77 Abs. 2a GG; § 3 Rn. 191) – ein wichtiger Faktor der Bundesgesetzgebung.

II. Protokollarische Rangfolge 167

Die protokollarische Rangfolge unter den Verfassungsorganen bzw. ihren Prä­ sidenten wird durch das Verfassungsrecht nicht ausdrücklich geregelt. Ohne geschriebene Grundlage hat sich durch eine insgesamt regelmäßige – wenngleich nicht immer zwischen den Organen unumstrittene180  – Staatspraxis in den ver­ gangenen Jahrzehnten seit Bestehen der Bundesrepublik ein „Staatsprotokoll“181 entwickelt, dessen Festlegungen sich jedoch teilweise durchaus auf verfassungs­ rechtliche Wurzeln zurückführen lassen, ohne freilich schon den Charakter von Verfassungsgewohnheitsrecht182 angenommen zu haben.

168

Danach gilt für die Begrüßungs-, Sitz- und Redeordnung bei staatsinternen Spitzenanlässen (z. B. Staats- und Festakten, Staatsbegräbnissen, Neujahrsempfang des Bundespräsidenten etc.) Folgendes: Die oberste Stellung nimmt (als Staatsober­ 179

Vgl. Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (37 f.). Vgl. Hartmann, Der Staat 52 (2013), 662 (664 ff., 670), mit Kritik an der Vorauflage ­(Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 14, Rn. 15). 181 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 16 Fn. 1, spricht von einem Großen Protokoll; kritisch zu diesem Begriff Hartmann, Der Staat 52 (2013), 662 (669): „was immer das sein mag“. 182 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 136 f. 180

G. Rang der Verfassungsorgane des Bundes

63

haupt) der Bundespräsident ein.183 Ihm folgt der Bundestagspräsident als Vertreter des unmittelbar demokratisch legitimierten Bundestags.184 Den dritten Rang nimmt der Bundeskanzler vor dem – viertplazierten – Bundesratspräsidenten185 ein, ob­ gleich der Bundesratspräsident nach Art. 57 GG der Vertreter des Bundespräsi­ denten ist. Dem Bundesratspräsidenten folgt an fünfter Stelle der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Diese in der Staatspraxis seit den 1970er Jahren etablierte Rangfolge wird im Schrifttum zum Teil kritisiert und abweichend die Platzierung des Bundeskanzlers vor dem Bundestagspräsidenten gefordert.186 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass bei Kollegial­ organen (s. o. Rn. 142) zwischen dem Rang des Kollegialorgans einerseits und demjenigen des Präsidenten des Organs andererseits zu unterscheiden sei, woraus sich folgende Gesamt­ hierarchie ergebe: Kollegialorgan Bundestag, Kollegialorgan Bundesversammlung, Kollegial­ organ Bundesrat, monistisches Organ Bundespräsident, monistisches Organ Bundeskanzler, Kollegialorgan Bundesverfassungsgericht, Kollegialorgan Bundesregierung, Bundestagsprä­ sident, Bundesratspräsident, Präsident des Bundesverfassungsgerichts.187 Da die Kollegial­ organe in der Wirklichkeit praktisch nie als solche auftreten würden, ergebe sich daraus für die praktische Wirklichkeit die Rangfolge: monistisches Organ Bundespräsident, mo­ nistisches Organ Bundeskanzler, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident, Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

169

Die dargestellte Ansicht setzt voraus, dass der Bundeskanzler als eigenständiges (monisti­ sches) Verfassungsorgan (neben dem Kollegialorgan Bundesregierung) anzusehen ist (s. schon oben Rn. 142, 161).188 Dafür mögen zwar noch seine im Vergleich zu den Bundesministern hö­ here demokratische Legitimation (vgl. Art. 63 Abs. 1 GG) und sein Recht zum Vorschlag der Ernennung der Bundesminister (Art. 64 Abs. 1 GG) sprechen. Allerdings erscheint es wirklichkeitsfern und künstlich, den Bundeskanzler in Protokollfragen nicht als Repräsentanten

170

183

Jekewitz, in: Denninger, AK-GG, 3. Aufl. 2001, vor Art. 54, Rn. 13. Diese Reihenfolge hatte sich (unter dem Bundeskanzler Adenauer und dem Bundestags­ präsidenten Gerstenmaier) zunächst umgekehrt eingespielt (Bundeskanzler auf Platz 2 vor Bundestagspräsident auf Platz 3). Infolge des „Protokollstreits“ von 1976 wurde dann der Bundestagspräsident (die damalige Bundestagspräsidentin Renger) vor dem Bundeskanzler (Schmidt) platziert; hierzu (kritisch) Hartmann, Der Staat 52 (2013), 662 (664 ff., 670), auch mit Kritik an der Formulierung in Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 14, Rn. 15. Dort war die Rede davon, dass die Initiative für den Wechsel von Bundeskanzler Schmidt ausging; Ausgangspunkt war wohl aber ein Schreiben der Bundestagspräsidentin Renger vom 8.1.1976; so Hartmann, Der Staat 52 (2013), 662 (664). Zudem sei fraglich, inwieweit Schmidt bei der internen Willensbildung in Bundeskanzleramt und Bundesregierung hinsichtlich der zuge­ stehenden Antwort auf diese Initiative überhaupt effektiv beteiligt war. 185 Dies geschieht nach Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, 25. Lfg. 1986, Art. 54, Rn. 16 (dort in Fn. 9), unter Duldung, aber ohne verbindliche Anerkennung durch den Bundesrat. In der Neuauflage der Kommentierung findet sich dieser Hinweis auf die bloße Duldung durch den Bundesrat nicht mehr, vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. V, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 16 (dort in Fn. 1). Im Übrigen spricht viel für einen Vorrang der politisch mächtigen Bun­ des-Exekutive vor dem Mitwirkungsorgan der Länder. 186 Vgl. Hartmann, Staatszeremoniell, 4. Aufl. 2007, S. 104 f.; Hartmann, Der Staat 52 (2013), 662 (671). 187 Vgl. Hartmann, Staatszeremoniell, 4. Aufl. 2007, S. 104. 188 So Hartmann, Staatszeremoniell, 4. Aufl. 2007, S. 100, 103, m. w. N. 184

64

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

der Bundesregierung aufzufassen, ein solches Repräsentationsverhältnis jedoch zwischen Bundestagspräsident und Bundestag anzunehmen. Vielmehr ist die Platzierung des Bundes­ tagspräsidenten, der das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament repräsentiert, auf Platz 2 und damit vor dem Bundeskanzler als Repräsentanten der (politischen) Gubernative auf Platz 3 aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

171

Die protokollarische Rangfolge hat erkennbar nichts mit dem faktischen politischen Gewicht von Verfassungsorganen zu tun. Dann käme nämlich in der ‚Kanzlerdemokratie‘ des Grundgesetzes (s. § 7 Rn. 197) dem Bundeskanzler ein­ deutig der erste Rang zu, während sich der Bundespräsident wohl auf einem der hinteren Plätze wiederfinden dürfte. Diese Betrachtung des faktischen politischen Gewichts ändert allerdings nichts an der in der Staatspraxis geübten protokolla­ rischen Rangfolge, die erkennbar davon ausgeht, dass dem Bundespräsidenten als ‚Staatsoberhaupt‘ (dazu § 5 Rn. 1) der erste Rang zuzustehen sei.

H. Ausblick I. Allgemeines 172

Trotz mancher redaktioneller und konzeptioneller Schwächen (s. o. Rn. 66, 76, 78 f., 81, 83, 87 f., 96, 128; s. u. Rn. 187 ff.) wird man die praktische Brauchbarkeit der Regelungen des Grundgesetzes zu den Verfassungsorganen insgesamt nicht bestreiten können.

173

Die in den Darlegungen zu den einzelnen Verfassungsorganen noch zu beschrei­ benden Mängel der Regelungen des Grundgesetzes zu den Verfassungsorganen haben das Verfassungsleben in der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls nicht nachhaltig beeinträchtigt. Dies liegt aber weniger am normativen Konzept des Grundgesetzes, sondern eher an der Bereitschaft der politischen Akteure, mit den mangelhaften Regelungen des Grundgesetzes leben zu können. Bemerkenswert ist insbesondere auch die Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, mit pragmati­ schen Mitteln über Schwach- und Fehlstellen des Grundgesetzes hinwegzuhelfen (z. B. fehlendes Selbstauflösungsrecht des Parlaments; s. § 2 Rn. 214 ff.), wobei auch die Verfassungsrechtswissenschaft manche gedankliche Unterstützung geliefert hat (hierzu allgemein § 8 Rn. 145).

174

Die Widersprüche, Inkonsistenzen und Lücken der grundgesetzlichen Regelun­ gen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass diesen Regelungen kein einheitliches übergreifendes Konzept der Regelungen zu den Verfassungsorganen zugrunde liegt (besonders deutlich bei den Regelungen zum Bundesverfassungsge­ richt). Vielmehr ist im damaligen Termindruck bei der Schaffung des Grundgeset­ zes in den Jahren 1948/1949 gleichzeitig und nicht hinreichend inhaltlich verzahnt an den Reglungen zu den einzelnen Verfassungsorganen gearbeitet worden. So ist es bisweilen zu einem bunten Sammelsurium, wenn nicht Wirrwarr von Einzel­

H. Ausblick

65

regelungen gekommen, wobei an manchen Stellen so etwas wie eine Collage an verfassungshistorischen Lösungen herausgekommen ist. Für die Herausbildung eines Gesamtkonzepts mit etwaigen Variationen für die einzelnen Verfassungs­ organe bzw. für eine hinreichende Harmonisierung fehlte 1949 schlicht die Zeit. Die Entwicklung und Durchsetzung eines neuen Gesamtkonzepts etwa mit einem Allgemeinen Teil zu den Verfassungsorganen würde seinerseits wieder viel Zeit benötigen. Politische Mehrheiten hierfür werden in absehbarer Zeit al­ lerdings nur schwer zu organisieren sein. Die Politik hat sich eben mit den unvoll­ kommenen Regelungen des Grundgesetzes arrangiert.

175

Trotzdem bleibt es sinnvoll, über Reparaturen und Verbesserungen der inhalt­ lichen Regelungen, aber auch der Regelungstechnik (z. B. durch verstärkten Einsatz von Verweisungstatbeständen) nachzudenken.

176

Solche Reparaturen und Verbesserungen der Regelungen zu den Verfassungs­ organen stehen unter Verfassungsvorbehalt, d. h. die bedürfen insbesondere der Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat (Art. 79 Abs. 2 GG; s. § 2 Rn. 141 sowie § 3 Rn. 192). Sie müssen insbesondere auch die sog. Ewigkeitsga­ rantie des Art. 79 Abs. 3 GG189 achten.

177

II. Verfassungsgarantien für den Bestand einzelner Verfassungsorgane Art. 79 Abs. 3 GG enthält allerdings keine absolute Garantie der bestehenden Verfassungsorgane des Grundgesetzes. Die Ewigkeitsklausel bezieht sich nicht unmittelbar auf die einzelnen bestehenden Verfassungsorgane in ihrer bisherigen konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung. Allerdings lassen sich Art. 79 Abs. 3 GG durchaus einige (mittelbare) Grenzen für die Veränderung der grund­ gesetzlichen Verfassungsorganlandschaft durch Verfassungsänderung entnehmen.

178

Art. 79 Abs. 3 Var. 2 GG garantiert „die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung.“ Hierdurch wird nicht etwa der Bundesrat in seiner konkre­ ten Ausgestaltung nach Art. 50 ff. GG verfassungsänderungsfest garantiert: Durch Verfassungsänderung könnte beispielsweise ein Senat als Ersatz eingeführt werden (s. § 3 Rn. 19 f.). Es müsste aber jedenfalls zwingend eine Stelle oder ein Verfahren auf Bundesebene geben, um die Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung zu gewährleisten.

179

Art. 79 Abs. 3 Var. 3 GG verweist u. a. auf das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG und macht dieses verfassungsänderungsfest. Für das Verfas­ sungsorgangefüge bedeutet das zwar keine absolute Garantie des Bundestags in

180

189

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 126 ff.

66

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

seiner bisherigen konkreten Ausgestaltung nach Art. 38 ff. GG, wohl aber ist der Bestand eines Parlaments auf Bundesebene garantiert. 181

Auch eine Garantie eines selbstständigen Regierungsorgans auf Bundesebene wird man Art. 79 Abs. 3 Var. 3 GG entnehmen können. Eine eigenständige Gubernative ist wesentlicher Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes, der von Art. 20 Abs. 3 GG geschützt wird.

182

Weniger klar ist, ob auch der Bestand eines Verfassungsgerichts von Art. 79 Abs. 3 Var. 3 GG umfasst ist. Es ließe sich argumentieren, dass die Verfassungs­ gerichtsbarkeit des Bundes als solche konstitutiver Bestandteil des Rechtsstaats ist und daher über Art. 79 Abs. 3 Var. 3 GG i. V. m. Art. 20 (Abs. 3) GG geschützt ist (ausführlich § 8 Rn. 53). Zwingend ist diese Argumentation freilich nicht.190

183

Mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar wäre also vor allem der ersatzlose Fortfall des Parlaments, der Stelle zur Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung, des eigenständigen Regierungsorgans und ggf. auch des Bundesverfassungsge­ richts. Diese Organe bzw. Organtypen kann man als staatsidentitätsbegründende Verfassungsorgane bezeichnen. Sie prägen die politische Identität der Bundesre­ publik Deutschland und werden durch die Ewigkeitsgarantie vor ihrer Abschaffung geschützt. Ohne Parlament, ohne ein Organ zur Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung, ohne Regierung und ohne Verfassungsgericht wäre es um die politische Identität der Bundesrepublik Deutschland geschehen.

184

Der Gemeinsame Ausschuss, die Bundesversammlung und der Bundespräsident zählen nicht zu den identitätsbegründenden Verfassungsorganen. Sie könnten durch Verfassungsänderungen abgeschafft werden, wenn sichergestellt wäre, dass ihre Zuständigkeiten durch andere Verfassungsorgane wahrgenommen wer­ den könnten. Allerdings sind derzeit solche verfassungspolitischen Abschaffungs­ bemühungen bezüglich einzelner Verfassungsorgane nicht erkennbar und wären wahrscheinlich  – jedenfalls derzeit  – ohnehin politisch nicht durchsetzbar. Für den Bundespräsidenten ist aber jedenfalls eine grundlegende Reform wünschens­ wert (§ 5 Rn. 208).

III. Möglichkeiten punktueller Veränderungen 185

Etwas wahrscheinlicher als die politisch sehr schwer durchsetzbare Abschaf­ fung oder grundlegende Umgestaltung von Verfassungsorganen ist die punktuelle Veränderung von Regelungen zu den bestehenden Verfassungsorganen. Zu denken ist insbesondere an Änderungen der Zuständigkeiten und Befugnisse einzelner Organe. Beispielsweise hat die Föderalismusreform I im Jahr 2006 gezeigt, dass die Befugnisse von Verfassungsorganen – in diesem Fall die Zustimmungsrechte des Bundesrats bei der Bundesgesetzgebung – in nicht unerheblichem Maß umge­ 190

Vgl. Kloepfer, DVBl. 2004, 676 (680).

H. Ausblick

67

staltet werden können (s. § 3 Rn. 20, 66, 320). Auch die Befugnisse des Bundesver­ fassungsgerichts wurden erheblich durch Verfassungsänderungen weiterentwickelt, wobei hier z. T. wenig zufriedenstellende Ergebnisse in Gestalt überflüssiger neuer Verfahrensarten hervorgebracht wurden (s. § 8 Rn. 455). Es besteht weiterhin Potential für punktuelle inhaltliche Verbesserungen durch die Veränderung oder Abschaffung bestimmer Zuständigkeiten und Befug­ nisse einzelner Organe durch Verfassungsänderung. Zu denken ist z. B. an eine weitere Reduktion der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen, an die Abschaffung der Gegenzeichnungsbedürftigkeit von Anordnungen und Verfügun­ gen des Bundespräsidenten (Art. 58 GG; s. § 5 Rn. 209), an die Abschaffung des Mängelrügeverfahrens nach Art. 84 Abs. 4 GG (s. § 3 Rn. 230) oder an die Besei­ tigung überflüssiger Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgerichts, bspw. des Kompetenzkontrollverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG (s. § 8 Rn. 455). Letztere Vorschriften sind nicht erforderlich für das Funktionieren des politischen Gemeinwesens. Sie sind überflüssig.

186

IV. Unzulänglichkeiten von Regelungen für Verfassungsorgane 1. Allgemeines Neben diesen punktuellen Unzulänglichkeiten sind Widersprüche, Inkonsistenzen und Lücken in den Regelungen des Grundgesetzes zu den Verfassungs­ organen unverkennbar. Der entscheidende Grund hierfür ist wahrscheinlich der, dass den grundgesetzlichen Regelungen über die Verfassungsorgane kein einheit­ liches, übergreifendes Konzept zugrunde liegt (s. o. Rn. 172).

187

2. Typische Schwachstellen der Regelungen zu den Verfassungsorganen Dadurch sind verfassungsrechtliche Mängellagen bzw. Schwachstellen entstan­ den. Im Wesentlichen handelt es sich um drei unterschiedliche Konstellationen: Erstens bestehen zum Teil bei vergleichbaren Sachproblemen für Verfassungs­ organe unterschiedliche Regelungen. Zu denken ist insbesondere an die Regelun­ gen des Grundgesetzes über Verbote von Berufstätigkeiten der Amtsträger der unterschiedlichen Verfassungsorgane (s. o. Rn. 82). Für solche unterschiedlichen Regelungen gleicher Sachprobleme bei verschiedenen Verfassungsorganen bedarf es einer sachlichen Rechtfertigung. Zweitens kann eine Konstellation von Verfassungsmängeln darin bestehen, dass die Verfassung nur für einzelne Verfassungsorgane Regelungen bestimmter Sachfragen enthält, für andere dagegen nicht. Auch insoweit liegt eine ungleiche

188

68

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

Behandlung ähnlicher Sachprobleme vor. Die nur partielle Regelung kann sach­ lich gerechtfertigt sein, wenn und weil sich das Problem nur bei diesem (oder wenigen) Verfassungsorgan(en) stellt. Es kann aber auch sein, dass eine absichts­ lose Lücke vorliegt, weil der Verfassungsgeber das Problem für ein Einzelorgan schlicht übersehen hat. Drittens ist der Fall vorstellbar, dass das Grundgesetz für alle Verfassungsorgane ein bestimmtes Sachproblem nicht geregelt hat (z. B. ‚Rücktritt‘ von Organwaltern; s. o. Rn. 191). Hier liegt dann keine Inkonsistenz, sondern eine durchgängige und nicht nur partielle Verfassungslücke vor.

V. Beseitigung von Unzulänglichkeiten 189

Abhilfe zur Beseitigung der genannten Unzulänglichkeiten, insbesondere zur Schaffung von Harmonie und Konsistenz der Regelungen zu den Verfassungs­ organen des Bundes ist nicht leicht. Sie käme ohne umfangreiche Verfassungs­ änderungen nicht aus. Mit einer bloßen vereinheitlichenden Interpretation oder Analogieschlüssen wird nur begrenzte Abhilfe zu schaffen sein. 1. Abhilfe bei unterschiedlichen Verfassungsregelungen

190

Wenn zwei (oder mehr) unterschiedliche Regelungen zu einem verfassungs­ organbezogenem Sachthema vorhanden sind und dies nicht sachlich gerechtfer­ tigt werden kann, sollte eine Auflösung der Widersprüchlichkeit durch Verfassungsänderung(en) angestrebt werden.

191

Konkrete inhaltliche Vorgaben für eine harmonisierende, widerspruchslösende Vereinheitlichung können der Verfassung nur schwer entnommen werden. Sol­ len zwei unterschiedliche Regelungen vereinheitlicht werden, kann dies durch die Anpassung der ersten Lösung an die zweite Lösung oder umgekehrt der zweiten Lösung an die erste Lösung erfolgen. Vorgaben für eine Auflösung der Wider­ sprüchlichkeit sind aus der Verfassung nicht ableitbar, weil diese ja beide Lösungen enthält. Lösungsmöglichkeiten können aber u. U. dem Verfassungsvergleich (s. o. Rn. 25) entnommen werden. Unter Umständen kann statt wechselseitig anpassen­ der Lösungen auch die Erarbeitung einer völlig neuen Lösung helfen. 2. Abhilfe bei teilweise unvollständigen Verfassungsregelungen (partielle Lücken)

192

Wenn die Verfassung nur für einzelne Organe Regelungen enthält, für andere dagegen nicht (z. B. bei der Vereidigung, Altersgrenzen von Organwaltern), liegt es nahe, die Konsistenz der Verfassung dadurch herzustellen, dass die Geltung

H. Ausblick

69

der partiell vorhandenen verfassungsrechtlichen Regelungen auf die insoweit de­ fizitär geregelten Organe ausgeweitet wird. Denkbar (aber unwahrscheinlich) wäre es auch, umgekehrt die nur partiell vorhandenen Regelungen zu beseitigen, um so quasi eine Konsistenz der Lückenhaftigkeit herzustellen. Freilich kann eine par­ tielle Lücke, also das Fehlen einer bestimmten Regelung zu einem Verfassungs­ organ, im Einzelfall auch sachlich gerechtfertigt sein. Zum Teil könnten unvollständige Verfassungsregelungen zu den Verfassungsorganen im Grundgesetz auch bereits dadurch beseitigt werden, dass schon vorhandene einfach-gesetzliche Regelungen in das Grundgesetz aufgenommen werden. Dies gilt vor allem für Rege­ lungen zum Bundesverfassungsgericht, welche sich weitgehend nur im Bundesverfassungs­ gerichtsgesetz befinden (etwa Regelungen zur Wahl, zur Amtszeit oder zum Amtseid, s. o. Rn. 71, 76, 79, 87, 83). Auch das Verhältnis von Geschäftsordnungsrecht und Verfassungsund Gesetzesrechts ist in Einzelfällen verbesserungsfähig (s. o. Rn. 105).

193

Das Vorgehen in dieser Fallgruppe ist letztlich geprägt von einer systematischen Interpretation der Verfassung. Diese Interpretationsmethode setzt voraus, dass die Verfassung systematisch konzipiert und aufgebaut ist oder doch sein sollte. Die teilweise unvollständigen Verfassungsorganregelungen werden Regelungstei­ len der Verfassung, d. h. Regelungen zu den einzelnen Verfassungsorganen syste­ matisch gegenübergestellt, wobei Regelungslücken in einzelnen Bereichen deut­ lich werden können. Wenn die systemwidrigen Lücken gefüllt werden, handelt es sich im weiteren Sinn um eine Verfassungsvervollkommnung191, die hier aber im Wesentlichen nicht durch Interpretation, sondern durch Verfassungsänderungen herbeizuführen wäre.

194

3. Abhilfe bei durchgängigen Verfassungslücken Enthält die Verfassung durchgängige Regelungslücken für alle Verfassungs­ organe (wie z. B. bezüglich des Rücktritts von Organwaltern), ist dies keine Frage der Inkonsistenz der Verfassung, sondern eine Frage ihrer Unvollständigkeit. Es geht um die Offenlegung einer Lücke, die nicht durch systematischen Vergleich von vorhandenen Teilen der Verfassung ermittelt wird, sondern durch die sach­ liche Unvollständigkeit der vorhandenen Verfassung, d. h. durch das Fehlen von Regelungen bei bestehender Regelungsbedürftigkeit gekennzeichnet ist.

195

Denkbar ist aber auch der Vergleich mit ausländischen Verfassungen (s. o. Rn. 25). Das ausländische Verfassungsrecht wird so zur Ideenquelle für das deutsche Ver­ fassungsrecht. Vergleichsobjekte können auch Regelungen des europäischen Pri­ märrechts und des Landesverfassungsrechts (s. o. Rn. 24), jedoch auch verfassungs­ historische Regelungen sein.

196

191 Zur Verfassungsvervollkommnung (freilich im Bereich der Grundrechte)  Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, S. 28 ff.

70 197

§ 1 Allgemeine Lehren zu den Verfassungsorganen

Bei durchgängigen Verfassungslücken ist regelmäßig noch nicht ausgemacht, dass diese Lücken durch Verfassungsänderungen auszufüllen sind oder ob nicht eher eine einfachgesetzliche Regelung ausreichen würde.

VI. Modernisierung der Regelungen zu den Verfassungsorganen 198

Nach über 70 Jahren Verfassungspraxis erscheinen die Regelungen über die Verfassungsorgane teilweise überarbeitungsbedürftig. Dabei geht es weniger um die eben angesprochenen strukturellen Widersprüchlichkeiten und Lücken (s. o. Rn. 188 ff.), sondern um die Anpassung an seit 1949 veränderte rechtliche und tatsächliche Umstände.192

199

Dies betrifft zunächst Anpassungen an die Verfassungspraxis und Verfassungsrechtsprechung. Beispielsweise sollte der (negative) Textbefund des Grund­ gesetzes zum (fehlenden) Selbstauflösungsrecht des Bundestags mit der Rechtspre­ chung des Bundesverfassungsgerichts zur auflösungsgerichteten Vertrauensfrage193 (s.  § 2 Rn. 214 ff.) abgestimmt werden. Ein weiteres Beispiel betrifft die Praxis der Organzuständigkeiten bei der Aushandlung und beim Abschluss völkerrecht­ licher Verträge, welche von Art. 59 GG nur sehr unzureichend abgebildet bzw. angeleitet wird.

200

Es ist darüber nachzudenken, ob durch gezielte Verfassungsänderungen der Um­ gang mit informellen Strukturen des Verfassungslebens (s. schon Rn. 1) besser bewältigt werden könnte. Beispielsweise könnte das (Konkurrenz-)Verhältnis von Bundesrat und Ministerpräsidentenkonferenz (s. § 3 Rn. 28) zumindest ansatz­ weise formalisiert werden. Freilich bergen Formalisierungen des Informalen im­ mer auch die Gefahr der Vernichtung von Vorteilen, die mit informalen Strukturen verbunden sind (Vertraulichkeit, Flexibilität, etc.), sowie der Etablierung neuer informaler Strukturen.

201

Die Regelungen des Grundgesetzes zu den Verfassungsorganen befinden sich heute in einem anderen politischen Kontext als 1949. Dies betrifft u. a. die fortge­ schrittene europäische Integration, die tendenzielle Zentralisierung im Bundesstaat, die Privatisierung von Staatsaufgaben und die Verbreiterung des parteipolitischen Spektrums (Wandel vom Dreiparteienstaat zum Sechsparteienstaat). Diese Veränderungen der politischen Grundlagen lassen die Arbeit der Verfas­ sungsorgane nicht unberührt. Punktuell hat der verfassungsändernde Gesetzgeber auf einige dieser Entwicklungen reagiert, bspw. dadurch, dass der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Bundestags (Art. 45 GG; s. § 2 Rn. 426 ff.) und die Europakammer des Bundesrats (Art. 52 Abs. 3a GG; s.  § 3 192

Zur Anpassung im Recht (v. a. am Beispiel des Klimawandelanpassungsrechts) Kloepfer, EurUP 2018, 34 (37 ff.). 193 BVerfGE 62, 1 – Bundestagsauflösung I; BVerfGE 114, 107 – Bundestagsauflösung II; BVerfGE 114, 121 – Bundestagsauflösung III.

Schrifttum

71

Rn. 298 ff.) mit Verfassungsrang ausgestattet wurden. Andere Spannungslagen bleiben ungelöst, so etwa die Frage, wie das bisherige Prinzip der ‚Parteiquote‘ bei der Wahl von Richtern des Bundesverfassungsgerichts im Sechsparteienstaat funktionieren sollte (s. § 8 Rn. 178 f.). Schrifttum: Albrecht, Rezension zu Maurenbrecher, Göttingische gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff.; S. Augsberg, Wer ist das Volk?, ZG 2012, 251 ff.; Böckenförde, Die Organisations­ gewalt im Bereich der Regierung, 1964; ders., Organ, Organschaft, Juristische Person, in: FS Wolff, 1973, S. 269 ff.; Bundesverfassungsgericht, Bemerkungen des Bundesverfassungs­ gerichts zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma, JöR N. F. 6 (1957), 194 ff.; Deecke, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Stimmenverteilung im Bundesrat, 1998; Friesenhahn, Der politische Eid, 1928; ders., Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), 9 ff.; v. Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, ZStaatsW 30 (1874)  – unveränd. Neudruck der Erstveröffentlichung: ders., Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, 1915; ders., Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902; Hartmann, Staatszeremoniell, 4. Aufl. 2007; ders., Rang und Verfassung – Wer ist die Nummer Zwei im Staate?, Der Staat 52 (2013), 662 ff.; Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. I, 1922; Heller, Staatslehre, 1934; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914; Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970; ders., Vor­ wirkung von Gesetzen, 1974; ders., Ist die Verfassungsbeschwerde unentbehrlich?, DVBl. 2004, 676 ff.; ders., Die Angemessenheit und die Anpassung im Recht, EurUP 2018, 34 ff.; ders., Respekt im Gemeinwesen und im Recht, VerwArch 2019, 419 ff.; v. ­L ewinski, Unabhän­ gigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, ZG 2015, 228; Linck, Geheime Wahlen der Ministerpräsidenten – eine Sünde wider den Geist des Par­ lamentarismus, DVBl. 2005, 793 ff.; Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001; Lovens, Bundesverfassungsrichter zwischen freier Meinungsäußerung, Befangenheit und Ver­ fassungsorgantreue, 2009; Meinel, Berlin ist nicht Bonn: Zur Kritik des Art. 22 Abs. 1 GG, AöR 138 (2013), S. 585 ff.; H. Meyer, Föderalismusreform 2006, 2008; Möllers, Gewaltenglie­ derung, 2005; Partsch / Genzer, Inkompatibilität der Mitgliedschaft in Bundestag und Bundes­ rat, AöR 76 (1950/51), 186 ff.; Philipp, Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen. Politische Rücktritte in Deutschland von 1950 bis heute, 2007; v. Savigny, System des heutigen Römi­ schen Rechts, Bd. II, 1840; Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977; Scheuner, Das Mehr­ heitsprinzip in der Demokratie, 1973; Th. J. Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfas­ sungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, AöR 128 (2003), 608 ff.; Schnapp, Ist der Bundespräsident verpflichtet, verfassungsmäßige Gesetze auszufertigen?, JuS 1995, 286 ff.; Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002; C. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kai­ serreichs (1871–1918), 1997; Schürnbrand, Organschaft im Recht der privaten Verbände, 2007; Seuffert, Über geheime Abstimmungen und Wahlen in Parlamenten, 1978; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. 1994 [1928], S. 119 ff.; Sturm, Die Inkompatibilität, 1967; Vogt, Zur Informationstätigkeit des Bun­ desrechnungshofes, 2013; Voßkuhle, Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue und die Kritik am BVerfG, NJW 1997, 2216 ff.; Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971; H. J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Bd. 1, Juristische Person und Staatsperson, 1933; ders., Organschaft und Juristische Person, Bd. 2, Theorie der Vertretung, 1934; ders. Verwaltungs­ recht, Bd. II, 1962; ders. / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht, Bd. II, 7. Aufl. 2010.

§ 2 Bundestag Übersicht A. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

I. Frühe (Vor-)Formen des Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77



II. Parlamente im Konstitutionalismus der deutschen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . 78



III. Frankfurter Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80



IV. Deutsches Reich von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81



V. Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82



VI. Reichstag ab 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83



VII. Entwicklung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

B. Bundestag im Verfassungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

I. Sonderstellung, aber keine generelle Vorrangstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86



II. Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Bundestag und Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Bundestag und Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Bundestag und Bundespräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Bundestag und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

C. Funktionen des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

I. Pluralismus der Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91



II. (Anteil an der) Staatsleitungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92



III. Integrationsfunktion(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93



IV. Gesetzgebungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Formelle Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Begriff und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Formell-materielle Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Nur-formelle Gesetze, insbesondere Haushaltsgesetze . . . . . . . . . . . . . 96 2. Mitwirkung an nur-materieller Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97



V. Kreationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Kreation von Parlamentsorganen und Organen mit Parlamentsbeteiligung 97 2. Kreation anderer Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99



VI. Kontrollfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

§ 2 Bundestag

73

2. Untersuchungs-, Frage- und Informationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Kontrolle der Nachrichtendienste und der Streitkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Kontrolle in Haushaltsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

VII. Öffentlichkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

D. Handlungsformen des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 E. Verfahrensgrundsätze des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108



II. Selbstversammlungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109



III. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109



IV. Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3. Beschlussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4. Pairing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

I. Wahl und Wahlprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Aktive Wahlberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Passive Wahlberechtigung und Einreichung von Wahlvorschlägen . . . 114 c) Personalisierte Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 d) Überhang- und Ausgleichsmandate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 e) Fünf-Prozent-Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 f) Grundmandatsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Wahlprüfung und Nichtanerkennungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Allgemeines und verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Gesetzliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) Gerichtlicher Rechtsschutz, insbesondere Wahlprüfungsbeschwerde . . 126 d) Nichtanerkennungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127



II. Periodizität der Wahl und Diskontinuität des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Periodizität der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Grundsatz der Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Personelle und sachliche Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Organschaftliche Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133



III. Vorzeitige Auflösung des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

G. Stellung der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

I. Mitgliedschaft im Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Ausgangsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

74

§ 2 Bundestag 2. Erwerb der Mitgliedschaft im Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Inkompatibilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4. Verlust der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140



II. Abgeordnetenstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Freiheit des Mandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Keine absolute Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 c) Freies Mandat und Parteizugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Gleichheit der Mandate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Mitwirkungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Mitwirkungsrechte als Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 c) Rederecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 d) Frage- und Informationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 e) Stimmrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153



III. Besondere Rechte der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Immunität und Indemnität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Schutzrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) Indemnität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Zeugnisverweigerungsrecht, Beschlagnahmeverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Entschädigung und Versorgung der Abgeordneten („Diäten“) . . . . . . . . . . 157 4. Sonstige persönliche Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159



IV. Prozessuale Rechte der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160



V. Pflichten von Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

H. Organisation des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

I. Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163



II. Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Rechtsnatur und Rang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164



III. Leitungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Bundestagspräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Ausgestaltung in der Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Gesetzlich übertragene Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Präsidium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

§ 2 Bundestag

75

3. Ältestenrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 4. Alterspräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

IV. Fraktionen und Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Begriff der Fraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Aufgaben der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 d) Rechtsnatur der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 e) Befugnisse der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 f) Prozessuale Stellung der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Rechte der Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Prozessuale Stellung von Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Fraktions- und gruppenlose Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181



V. Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182



VI. Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Verfassungsgeforderte Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Petitionsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Europaausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 c) Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Ausschuss für Verteidi­ gung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Untersuchungsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Allgemeine Bedeutung und verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . 192 b) Konkretisierung durch das PUAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Einsetzung eines Untersuchungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 d) Untersuchungsgegenstand, Untersuchungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 e) Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 f) Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 g) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 h) Berichts- und Abschlussphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4. Sonderausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5. Besonderheiten im Bereich Technikfolgenabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung . . . 210 b) Büro für Technikfolgenabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211



VII. Besondere Kommissionen, Gremien und Beiräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

76

§ 2 Bundestag 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Enquête-Kommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Gremien aus Geheimschutzgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Arten der Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 c) Gremien parlamentarischer politischer Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 d) Gremien parlamentarischer rechtsstaatlicher Kontrolle . . . . . . . . . . . . 218 e) Errichtung und Besetzung von Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 f) Verfassungspolitische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4. Beiräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Parlamentarische Beiräte i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Sonstige parlamentarische Beiräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 d) Beiräte unter Parlamentsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5. Kuratorien und Verwaltungsräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227



VIII. Parlamentsbeauftragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Begriff, Funktionen und Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Wehrbeauftragter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Gesetzlich eingesetzte Beauftragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231



IX. Bundestagsverwaltung und Wissenschaftliche Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

I. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

A. Historische Entwicklung

77

A. Historische Entwicklung Das grundgesetzliche Konzept des Deutschen Bundestags baut auf der parlamentarischen Tradition in Deutschland auf. Diese umfasst die historische Ent­ wicklung parlamentarischer Versammlungen auf nationaler Ebene ebenso wie in den einzelnen deutschen Territorien.

1

Das führt zunächst zur historischen Hinterfragung des Begriffs ‚Parlament‘. Dabei ist von vorneherein in Rechnung zu stellen, dass Parlamente zeitlich wie auch regional in sehr viel­ fältigen Formen aufgetreten sind.1 Eine umfassende Begriffsbestimmung muss daher einen gewissen Abstraktionsgrad aufweisen: Insoweit kann ein ‚Parlament‘ verstanden werden als eine Institution, in welcher Vertreter bestimmter Gruppen zusammenkommen, um politische Angelegenheiten zu erörtern (sowie ggf. diesbezüglich Entscheidungen und u. U. Verbind­ lichkeit herbeizuführen). Hiervon zeugen heute untechnische Bezeichnungen im Bereich der Selbstverwaltung (‚Gemeindeparlament‘, ‚Studierendenparlament‘) oder im Bereich der (pri­ vatrechtlich organisierten) Verbände (Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds als „Parlament der Arbeit“), wobei der Austausch mit anderen Interessengruppen hier gerade fehlt. Im (konkreteren) Kontext der modernen rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungs­ staatlichkeit ist das Parlament dann eine institutionalisierte, unmittelbar demokratisch legiti­ mierte Vertretung des Volkes, welche insbesondere (freilich nicht ausschließlich) als zentrales Organ der Legislative mit der Setzung verbindlichen Rechts befasst ist.

2

Die Entwicklung des Parlamentarismus kann im historischen Detail sinnvoll nur als gesamteuropäischer Prozess begriffen werden: Insbesondere das englische und das französische Parlament haben wichtige Impulse gesetzt, welche freilich nur mittelbar auf den deutschen Parlamentarismus einwirkten.2 Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die parlamen­ tarische Tradition in Deutschland.

3

I. Frühe (Vor-)Formen des Parlamentarismus Erste quasi- oder proto-parlamentarische Versammlungen entwickelten sich während des 13. Jahrhunderts im spätmittelalterlichen Heiligen Römischen Reich deut­scher Nation in Gestalt von Ständeversammlungen (ständische Vertretungen).3 Auf Reichsebene war dies der „Reichstag“ in den einzelnen Territorien wurden diese Einrichtungen zumeist „Landtage“ genannt.4

4

Die Landtage dienten zuvörderst als Beratungsorgane des jeweiligen Herrschers.5 Erst im Laufe der Zeit konnten sie weitere Kompetenzen an sich ziehen.

5

1

Vgl. Brenner, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 44, Rn. 7. Vgl. Brenner, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 44, Rn. 7. 3 Vgl. C. Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 10 ff.; Brenner, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 44, Rn. 7. 4 Vgl. C.  Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 11. 5 Vgl. C.  Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 14. 2

78

§ 2 Bundestag

Hierunter sind insbesondere Mitwirkungsbefugnisse im Zuge von Steuerbewilligungen zu nennen.6

II. Parlamente im Konstitutionalismus der deutschen Länder 6

Im Frühkonstitutionalismus in den süddeutschen Territorien, also in der Zeit zwischen 1814 bis 1824,7 wurden stärkere parlamentarische Kompetenzen (etwa Mitwirkung bei der Gesetzgebung, Steuerbewilligung, Kontrollinstrumente gegenüber der Verwaltung)8 sowie das Zweikammersystem9 in den ersten Ver­ fassungstexten einiger Länder (Baden, Bayern, Württemberg, Großherzogtum Hessen) verankert.10 Dabei genossen die damaligen Parlamente nun Rechte zur Wahrung ihrer inneren Autonomie (Geschäftsordnungsautonomie, Wahlprüfungs­ recht, Hausrecht).11

7

Von demokratischer Legitimation in einem heute in liberalen, demokratischen Verfas­ sungsstaaten üblichen Maß konnte grundsätzlich bei keiner der beiden Kammern die Rede sein: In der Regel war die erste Kammer des Parlaments kaum bis gar nicht demokratisch legitimiert, sondern vom Adel dominiert, während die zweite Kammer eher den Charakter einer Quasi-Volksvertretung hatte – freilich nicht nach heutigen demokratischen Standards: Insbesondere wurde beim aktiven Wahlrecht, welches als Zensuswahlrecht ausgestaltet war, kein egalitär-demokratischer Maßstab eingehalten.12

8

Auf übergreifender, ‚nationaler‘ Ebene bestand demgegenüber im Deutschen Bund (1815 bis 1866) keine Volksvertretung, sondern lediglich die Bundesver­ sammlung13 als ein Vorläufer einer Länderkammer (hierzu § 3 Rn. 5).14 Das mo­ 6 Vgl. C.  Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 14, 19; dazu, dass (Proto-)Parlamente zunächst vor allem als „Steuerbewilligungs- und Beschwerdeinstanz“ daherkamen, vgl. auch Brenner, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 44, Rn. 7. 7 Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 281. 8 Vgl. zum Beispiel Württemberg: Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 290. 9 Vgl. Essmann-Bode, Das Ein- und Zweikammersystem im deutschen Konstitutionalis­ mus. Eine Studie über die Vor- und Frühformen des heutigen Parlamentarismus, 2016, S. 54; Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 290; Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 38, Rn. 16, (Lfg. 60, Oktober 2010). 10 So z. B. in § 124 der Verfassung für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819 sowie §§ 15 ff. Edict über die Landständische Verfassung des Großherzogtums Hessen vom 18. März 1820. 11 Vgl. Butzer, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 38, Rn. 2. 12 Vgl. zum Beispiel Württemberg: Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 290. 13 Geläufig ist auch die Bezeichnung der Bundesversammlung als „Bundestag“, so auch C. Schönberger, in Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 25, gleich­ wohl handelt es sich hierbei um ein föderatives Bundesorgan (und damit – freilich sehr vage – um einen Vorläufer des Bundesrats des Grundgesetzes; hierzu § 3 Rn. 5). 14 Vgl. C. Schönberger, in Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 25.

A. Historische Entwicklung

79

narchische Prinzip (s. dazu § 5 Rn. 9) war weiterhin durch Art. 57 der Wiener Schlussakte15 fest verankert. Den süddeutschen Ländern folgten auch die Länder, die sich erst im Zuge des späteren Konstitutionalismus in Mitteldeutschland (ab 1830) Verfassungen ga­ ben (insbesondere Kurhessen, Sachsen, Hannover).16 Zum Teil wurden auch in den mittel- und norddeutschen Gebieten Zweikammerparlamente eingesetzt (etwa in Hannover und Sachsen); insgesamt überwog aber das Einkammersystem.17 Im Ver­ gleich mit der ‚nationalen‘ Ebene und mit den großen Einzelstaaten Preußen und Österreich gingen die mitteldeutschen Länder bzw. Territorien mit der Stärkung ihrer Parlamente wesentlich weiter, u. a. indem sie den Parlamenten ein Gesetzes­ initiativrecht einräumten.18

9

Auch die Preußische Verfassung von 1850 folgt dem Modell des Zweikammer­ systems, gegliedert in Herrenhaus und Abgeordnetenhaus. Das Wahlrecht zur ers­ ten Kammer, dem Herrenhaus, wurde von einem derart hohen Zensus abhängig gemacht, dass es im Wesentlichen nur durch die besitzende Oberschicht gewählt werden konnte.19 Das Abgeordnetenhaus hingegen wurde im Wege des DreiKlassen-Wahlsystems, geknüpft an die Höhe der geleisteten Steuern, gewählt.20 Das führte zu einer Bevorzugung der wohlhabenden, bürgerlichen Bevölkerungs­ schichten. Die Preußische Verfassung von 1850 formulierte in ihrem Art. 82  – ähnlich wie später das Grundgesetz in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG (s. u. Rn. 240) – die Stellung des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, der nach seiner freien Überzeugung abstimmt und an Aufträge nicht gebunden ist.21

10

Das unklare Verhältnis zwischen dem monarchischem Prinzip (s. dazu auch § 5 Rn. 9) und selbstbewusster werdenden demokratischen Volksvertretungen of­ fenbarte sich in aller Deutlichkeit im Verfassungskonflikt um die preußische Heeresreform 1859–1866. Die Uneinigkeit zwischen dem preußischen König Wilhelm I., der nach Gründung des Deutschen Reichs 1871 auch Kaiser wurde, (bzw. dessen Kriegsminister Albrecht von Roon) und dem preußischen Abgeord­ netenhaus führte dazu, dass man sich nicht auf ein Haushaltsgesetz, d. h. letzt­ lich nicht auf die Finanzierung einer angestrebten Truppenvergrößerung, einigen konnte. Gestützt auf die vom Preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck

11

15

Die Wiener Schlussakte (WSA) vom 15. Mai 1820 ist eine Ergänzung und Fortentwick­ lung der Deutschen Bundesakte (DBA) vom 8. Juni 1815, durch die der Deutsche Bund ge­ gründet wurde. 16 Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 283: „mitteldeut­ sche[r] Konstitutionalismus“. 17 Überblick bei Essmann-Bode, Das Ein- und Zweikammersystem im deutschen Konstitu­ tionalismus. Eine Studie über die Vor- und Frühformen des heutigen Parlamentarismus, 2016, S. 53 f. 18 Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 283, 358. 19 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 3, S. 80 ff. 20 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38, Rn. 5. 21 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38, Rn. 5.

80

§ 2 Bundestag

vorgebrachte „Lückentheorie“ setzte sich letztlich der König durch. Nach der auf den Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl zurückgehenden Lückentheorie22 sind ‚Lücken‘ in der Verfassung – eine solche trat Bismarck zufolge im preußischen Verfassungskonflikt zu Tage – vom Monarchen als Souverän nach eigenem Gut­ dünken zu füllen. Damals setzte sich im konkreten Fall also das monarchische Prinzip gegen den Willen des Parlaments durch.

III. Frankfurter Nationalversammlung 12

Im Jahr 1848 bildete sich als Folge der Märzrevolution die in der Frankfurter Paulskirche residierende Nationalversammlung als erstes gesamtdeutsches Parlament.23 Sie setzte sich aus frei und gleich durch die männliche volljährige Be­ völkerung gewählten Abgeordneten zusammen.24

13

Unter den Abgeordneten bildeten sich erste Ansätze fraktioneller (d. h. partei­ enorientierter) Zusammenschlüsse heraus, die nach den Versammlungslokalen ihrer Anhänger in Frankfurt am Main benannt wurden:25 So stand beispielsweise der „Donnersberg“ für die revolutionäre Linke, der „Deutsche Hof“ für die par­ lamentarische Linke, die „Westend Hall“ für einen Teil des linken Zentrums, das „Casino“ für einen großen Teil des rechten Zentrums und das „Café Milani“ für die monarchistische Rechte,26 um einige Gruppierungen zu nennen. Diese Zusam­ menschlüsse waren keinesfalls so starr wie später die Fraktionen im Reichstag des Kaiserreichs seit 1871 (s. u. Rn. 19) oder gar im Deutschen Bundestag seit 1949 (s. u. Rn. 370 ff.). Vielmehr kam es regelmäßig zu weiteren Spaltungen, neuen Ver­ einigungen oder Übergängen von der einen zur anderen Fraktion.27

14

In dem von der Nationalversammlung erarbeiteten Verfassungsentwurf war ein Reichstag mit zwei Kammern, einem Volkshaus und einem Staatenhaus, vor­ gesehen (vgl. §§ 85 ff. Paulskirchenverfassung).

15

Mit dem Scheitern der von der Frankfurter Nationalversammlung erarbeiteten Verfassung war für die nächsten zwei Jahrzehnte auch die Idee eines gesamtdeut­ schen Parlaments begraben. Die Frankfurter Nationalversammlung selbst tagte

22

Zur Rolle Stahls vgl. Kraus, Der Staat 29 (1990), 209 (218 f.), mit Hinweis auf eine Rede Stahls, welche in Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. II/2, 3. Aufl. 1856, S. 710 ff., abge­ druckt ist. 23 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 5; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 24 ff. 24 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 5. 25 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 2, S. 613; C. Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 28. 26 Vgl. Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 319. 27 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 2, S. 613; Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, 17. Aufl. 2018, Rn. 320.

A. Historische Entwicklung

81

nach zahlreichen Mandatsniederlegungen noch eine Zeit lang als bloßes ‚Rumpfparlament‘ in Stuttgart, wurde aber schließlich am 18. Juni 1849 von Truppen der württembergischen Regierung auseinandergetrieben.28

IV. Deutsches Reich von 1871 Erst die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 187129 brachte dann mit dem Reichstag ein dauerhaftes gesamtdeutsches Parlament. Dieses bestand – wie sein Vorläufer: der Reichstag des Norddeutschen Bundes – nur aus einer (‚ech­ ten‘30) Kammer. Der Bundesrat trat neben den Reichstag; im Bundesrat waren die Einzelstaaten, v. a. über Gesandte, vertreten (s. § 3 Rn. 7).

16

Die von Kaiser Wilhelm I. angeordnete Wahl zum ersten Reichstag fand am 3. März 1871 statt.31 Gewählt wurde im Wege des allgemeinen Männerwahlrechts (Art. 20 RV).32 Die Wahlberechtigten wählten die Abgeordneten in unmittelbarer und geheimer Wahl, §§ 12, 10 RWG. Gewählt war, wer die absolute Mehrheit der Stimmen in seinem Wahlkreis auf sich vereinigte. Konnte dies im ersten Wahlgang keiner der Bewerber erreichen, waren Stichwahlen durchzuführen.33

17

Verglichen mit dem Bundestag des Grundgesetzes waren die Kompetenzen des Reichstags der Verfassung von 1871 schwächer: Dem Reichstag stand zwar wie auch schon den Landesparlamenten (s. o. Rn. 3) die Bewilligung des Staatshaus­ haltes zu (Art. 96 Abs. 2 RV). Zudem übte er – zusammen mit dem Bundesrat – die Gesetzgebung aus (Art. 5 RV).34 Auf die Regierungsbildung hatte der Reichstag – anders als später der Bundestag des Grundgesetzes (s. u. Rn. 86)  – aber keinen Einfluss und konnte auch nicht den Rücktritt des Reichskanzlers oder einzelner Minister erzwingen.

18

Den Reichstagsabgeordneten wurde in Art. 29 RV das freie Mandat („Die Mit­ glieder des Reichstages sind Vertreter des gesammten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.“ – s. auch unten Rn. 240) und in Art. 30 RV ihre Im­ munität verbürgt. Sie schlossen sich im Reichstag zu Fraktionen zusammen, die im Vergleich zu denen der Frankfurter Nationalversammlung (s. o. Rn. 13) wesentlich stabiler und strukturierter waren.35 Trotz ihrer faktischen Bedeutung – bestimm­ ten sie doch den Gang der parlamentarischen Arbeit und übernahmen wesentliche

19

28

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 30 f. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 37. 30 Zum – freilich unscharfen – Begriff der ‚echten‘ (zweiten) Kammer s. § 3 Rn. 51 ff. 31 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 3, S. 755. 32 Vgl. C.  Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 1 Rn. 30. 33 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 3, S. 863. 34 Vgl. Butzer, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 38, Rn. 3. 35 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 3, S. 885, 889 ff. 29

82

§ 2 Bundestag

organisatorische Funktionen – fanden die Fraktionen in der Geschäftsordnung des Reichstages keine Erwähnung.36

V. Weimarer Republik 20

Mit der Novemberrevolution wurde 1918 der Weg zur Weimarer Reichsverfas­ sung vom 11. August 1919 geebnet. Sie setzte in einundzwanzig Artikeln (Art. 20 WRV bis Art. 40 WRV) den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Ausgestal­ tung der parlamentarischen Demokratie in einer Republik. Der Reichstag wurde im Vier-Jahres-Turnus in freier, geheimer und gleicher Wahl gewählt (Art. 22 S. 1 WRV).37 Erstmalig wurde auf Reichsebene auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht und damit demokratische Teilhabe zugesprochen, sodass die Wahlen nunmehr auch allgemein waren.38 Die Weimarer Reichsverfassung entschied sich in Art. 22 S. 1 WRV zudem für ein Verhältniswahlrecht.

21

Im Vergleich zu vorherigen Verfassungen beruhte die Weimarer Reichsver­ fassung auf zwei demokratischen Legitimationssträngen. Sowohl der Reichs­ tag (Art. 22 S. 1 WRV), als auch der Reichspräsident (Art. 41 WRV; s. § 5 Rn. 12) wurden direkt durch das Wahlvolk gewählt.

22

Der Reichstag nahm die Aufgaben der Gesetzgebung, das Haushaltsrecht so­ wie die Kontrolle der Regierung wahr. Der Reichstag verfügte über weitreichende Kontrollbefugnisse gegenüber der Reichsregierung. Er konnte dem Reichskanzler sowie jedem Reichsminister mit der Folge einer Rücktrittspflicht das Misstrauen aussprechen (Art. 54 WRV). Das parlamentarische System der Weimarer Reichs­ verfassung war also durch eine starke Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Reichstags geprägt.39

23

Es ist als besondere Kompetenz des Reichstags zu qualifizieren, dass dieser gem. Art. 76 WRV zwar zur Verfassungs(text)änderung besonderer Quoren im Reichs­ tag bedurfte, die Verfassung materiell jedoch nicht über der Legislative stand, sondern im Gegenteil zu ihrer Disposition.40 Diese Regelung steht in einem star­ ken Kontrast zur grundgesetzlichen Konzeption, die mit der in Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten ‚Ewigkeitsgarantie‘ auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber ma­ terielle Schranken auferlegt.

24

Daneben ergänzte die Weimarer Reichsverfassung die Gesetzgebungskompe­ tenz des Reichstags allerdings durch ein sehr weitreichendes Notverordnungs 36

Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 3. Aufl. 1988, Bd. 3, S. 885. Vgl. Butzer, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 38, Rn. 4. 38 Vgl. Butzer, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 38, Rn. 4. 39 Vgl. Wittreck, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 2 Rn. 40. 40 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Auflage 1933, Art. 76, S. 401 ff. 37

A. Historische Entwicklung

83

recht41 des Reichspräsidenten (Art. 48 Abs. 2 WRV) und manifestierte so die hervorgehobene Bedeutung des Reichspräsidenten (s. § 5 Rn. 12 f.) – gerade auch in funktioneller Konkurrenz zum Reichstag. Der Abgeordnetenstatus wurde in den Art. 20 ff. WRV näher ausgestaltet. Die Abgeordneten des Reichstags waren gem. Art. 21 S. 1 WRV Vertreter des ganzen Volkes. Zudem verankert Art. 21 S. 2 WRV mit einer dem späteren Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ähnlichen Formulierung die Gewissensbindung der Abgeordneten.42 Der Abgeordnetenstatus wurde zudem durch die in Art. 37 WRV verbürgte Immuni­ tät geschützt.43

25

Die Weimarer Republik hatte in mehrerlei Hinsicht mit besonderen Schwierigkeiten, insbesondere im innenpolitischen Bereich und in der politischen Kultur überhaupt, zu kämpfen. Hervorzuheben ist u. a. die Ablehnung der Republik sowie monarchistische Tendenzen in weiten Teilen der gesellschaftlichen „Elite“. Einen demokratischen Neuanfang erschwerten zudem die als Schmach empfundenen Re­ gelungen des Versailler Vertrags sowie die damit verbundenen erheblichen Repara­ tionsforderungen der Alliierten. Das bereits bestehende Klima politischer Instabili­ tät wurde zudem durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 noch erheblich verstärkt.

26

VI. Reichstag ab 1933 Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30.01.1933 (sog. „Machtergrei­ fung“ oder „Machtübergabe“) und das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 leiteten die Verabschiedung des demokratischen Deutschen Reiches vom parlamentarischen System ein.44 Der offizielle Titel des Ermächtigungsgesetzes lautete „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“.45 Es ermächtigte die Exekutive zum Erlass von gesetzesvertretenden Verordnungen und erstmals auch zum Erlass formeller Gesetze (Art. 1 Ermächtigungsgesetz), sodass insoweit die Unterscheidung zwischen formellen Parlamentsgesetzen und materiellem Gesetz und gleichzeitig auch das Gewaltenteilungsprinzip aufgehoben war.46 Die Exeku­ tive war durch Art. 2 S. 1 Ermächtigungsgesetz auch zur Verfassungsänderung befugt.47 Eine Ermächtigung durch den Reichstag zu umfassenden Rechtsetzungs­ 41

Vgl. Wittreck, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 2 Rn. 40. Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 5. 43 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Auflage 1933, Art. 36, S. 227 ff. 44 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 72. 45 RGBl. I 1933, S. 141; das zunächst auf vier Jahre befristete Gesetz wurde zwei Mal um jeweils vier weitere Jahre verlängert, bevor der Führererlass vom 10. Mai 1937 die Befristung gänzlich aufhob (Gesetz vom 30.01.1937, RGBl. I 1937, S. 105; Gesetz vom 30.01.1939, RGBl. I 1939, S. 95; Gesetz vom 10.05.1943, RGBl. I 1943, S. 295). Erst der Kontrollrat der Alliierten setzte das Ermächtigungsgesetz durch Kontrollratsgesetz Nr. 1 außer Kraft. 46 Vgl. Bickenbach, JuS 2008, S. 199 (200). 47 RGBl. I 1933, S. 141. 42

27

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§ 2 Bundestag

befugnissen der Exekutive war zwar insbesondere zu Beginn der Weimarer Repu­ blik ein gebräuchliches Mittel, allerdings keinesfalls vom selben Umfang wie das Ermächtigungsgesetz von 1933.48 Durch den Beschluss des Gesetzes entmachtete sich der Reichstag als eigentliches Legislativorgan selbst nahezu vollständig.49 28

Die Einräumung uneingeschränkter exekutiver Befugnisse wirft die Frage der dama­ ligen materiellen Verfassungsgemäßheit des Gesetzes auf. Nach den Maßstäben der Weima­ rer Reichsverfassung war das Ermächtigungsgesetz jedenfalls formell verfassungswidrig: Die Stimmen Preußens hätten im Reichsrat durch Vertreter des Landes Preußen, nicht durch Reichsbeauftragte abgegeben werden müssen; die vorangegangene Änderung der Geschäfts­ ordnung des Reichstags war mit Art. 76 WRV nicht vereinbar; es fehlte an der Rechtsgrund­ lage für den Ausschluss der KPD-Abgeordneten50; zudem war die Abstimmung im Reichstag wegen der einschüchternden Präsenz von SA und SS51 nicht frei.52

29

Im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Erlass des Ermächtigungsgesetzes wurden mit der sog. „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 193353 wichtige Grundrechte – for­ mal lediglich vorübergehend, faktisch aber unbegrenzt – außer Kraft gesetzt. Zu den betroffe­ nen Grundrechten zählten die Freiheit der Person, die Meinungs-, die Presse-, die Vereins- und die Versammlungsfreiheit sowie das Post- und das Fernmeldegeheimnis, die Unverletzlich­ keit der Wohnung, das Eigentumsrecht (§ 1 ReichstagsbrandVO).54 Ermächtigungsgesetz und Reichstagsbrandverordnung hoben faktisch den materiellen Kerngehalt der Weimarer Verfassung auf – das parlamentarische System sowie die Grundrechte des Einzelnen – und markieren damit das Ende der Weimarer Demokratie.

30

Im Zuge dieser Entwicklungen blieb der Reichstag zwar während der NS-Zeit als eines der wenigen Verfassungsorgane formal bestehen. Demgegenüber wurde beispielsweise der Reichsrat durch Gesetz der Reichsregierung vom 14. Februar 1934 aufgehoben (s. § 3 Rn. 9).55 Wegen der Zerschlagung aller anderen politischen Parteien war jedoch nunmehr nur noch die NSDAP unter Vorsitz von Göring im Reichstag vertreten.56 In Ermangelung (der effektiven Wahrnehmbarkeit) von Zu­ ständigkeiten und Kompetenzen wie der Regierungskontrolle oder des Rechts zum Misstrauensvotum wurde der Reichstag bloßes Akklamationsorgan.57 Das Parla­ ment wurde zur Staffage.

48

Vgl. Wadle, JuS 1983, S. 170 (172 f.). Vgl. Grawert, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. I, 3. Auflage 2003, § 4, Rn. 9. 50 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, § 130, S. 781. 51 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl., § 39, Rn. 6. 52 Vgl. Grawert, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 4, Rn. 5; Wadle, JuS 1983, S. 170 (175 f.). 53 Der offizielle Titel der Verordnung lautete „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, s. RGBl. vom 28.02.1933, S. 83 ff. 54 RGBl. vom 28.02.1933, S. 83. 55 RGBl. 1934 I, S. 89. 56 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, § 130, S. 791. 57 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl., § 39, Rn. 9. 49

A. Historische Entwicklung

85

VII. Entwicklung nach 1945 Schon im Potsdamer Abkommen vom 5. Juni 1945 verlautbarte die Intention der Siegermächte, in Deutschland einen demokratischen Staat errichten zu wollen. In den Jahren 1945 und 1946 wurden in den Ländern in der amerikanischen, der bri­ tischen und der französischen Besatzungszone verfassungsgebende Landesversammlungen gebildet, deren Verfassungsentwürfe durch das jeweilige Wahlvolk bestätigt wurden. In der sowjetischen Besatzungszone verabschiedeten hingegen die Landtage die Verfassungen.58

31

Auf die Entwicklung in den Westzonen aufbauend mündete die Sechs-MächteKonferenz von 1948 in London unter Beteiligung der drei Westalliierten sowie von Belgien, Luxemburg und den Niederlanden in den Beschluss, die Ausarbei­ tung einer übergreifenden Verfassung durch die Länder in den westlichen Besatzungszonen zu initiieren.59 Die infolgedessen zur Ausarbeitung einer Verfassung bevollmächtigten Länder beriefen den Parlamentarischen Rat, bestehend aus von den Landtagen zu bestimmenden Landesparlamentariern, ein.60 Der Parlamentari­ sche Rat beriet im Wesentlichen die Vorschläge des Herrenchiemseer Entwurfs.61 Dieser enthielt bereits die Grundlagen des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik Deutschland und damit auch die wesentlichen Strukturen des Deut­ schen Bundestags. Nach der gem. Art. 144 Abs. 1 GG notwendigen Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Landtage zum Grundgesetzentwurf wurde das Grundgesetz am 23. Mai 1949 verkündet.62 Kurze Zeit später, am 17. September 1949, konnten daraufhin die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag stattfinden.

32

Auch in der sowjetischen Besatzungszone begannen die Bemühungen um den Entwurf einer Verfassung, die der „Deutsche Volksrat“ am 19. März 1949 verab­ schiedete. Die Verfassung der DDR von 1949 benannte in Art. 50 ff. unter dem Abschnitt „Volksvertretung der Republik“ die Volkskammer als höchstes Organ, das gem. Art. 51 Abs. 2 DDR-Verfassung jedenfalls theoretisch in „allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältnis­ wahlrechtes auf die Dauer von vier Jahren gewählt“ werden sollte.63 War die Aus­ gestaltung der Volkskammer in der ersten Verfassung der DDR zumindest formal an den demokratischen Werten der Weimarer Reichsverfassung orientiert,64 wurde hiervon in der Verfassung von 196865 abgerückt und die Führungsrolle der SED in

33

58

Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl., § 41, Rn. 16 ff., 23. Vgl. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, Einleitung, Rn. 18. 60 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl., § 42, Rn. 6. 61 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, § 133, S. 1246 ff.; hierzu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 91 f. 62 BGBl. I 1949, S. 1. 63 Gesetzblatt der DDR 1, 1949, S. 9 f. 64 Vgl. Brunner, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 11, Rn. 6. 65 Gesetzblatt der DDR 1, 1968, S. 199 ff. 59

86

§ 2 Bundestag

der nunmehr „sozialistischen“66 Verfassung verankert.67 Die Volkskammer blieb bis unmittelbar vor dem Ende der DDR als SED-gesteuertes Scheinparlament bestehen. Ihr gelang es erst wenige Monate vor dem Beitritt der DDR zur Bundes­ republik Deutschland,68 mit den letzten und einzigen freien Wahlen in der DDR69 die Rolle eines echten demokratischen Organs zu erreichen.

B. Bundestag im Verfassungsgefüge I. Sonderstellung, aber keine generelle Vorrangstellung 34

Im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes ist der Deutsche Bundestag unter den Verfassungsorganen des Bundes das einzige (vollständig70) unmittelbar demokratisch legitimierte Organ (s. a. § 1 Rn. 143); er ist innerhalb der repräsentativen parlamentarischen Demokratie71 die Vertretung des Volkes und damit – jedenfalls nach dem Konzept des Grundgesetztexts – das primäre Forum politischer Wil­ lensbildung.72 Diese besondere Legitimation73 und die aus ihr resultierende74 bedeutende Funktion75 des Parlaments werden teilweise zum Anlass genommen, von einer Vorrangstellung des Bundestags gegenüber den sonstigen Verfassungs­ organen zu sprechen (s. a. § 1 Rn. 164).76 Der Bundestag sei „zentrales“77 bzw. 66

So die Selbstbezeichnung in der Präambel der DDR-Verfassung v. 1968. Vgl. Brunner, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 11, Rn. 9 f. 68 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 155 ff. 69 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2 Rn. 137. 70 Die Bundesversammlung ist ‚immerhin‘ hälftig mit unmittelbar demokratisch legitimier­ ten Mitgliedern, den Abgeordneten des Bundestags, besetzt; die andere Hälfte der Mitglieder der Bundesversammlung wird von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt, ist also nur mittelbar demokratisch legitimiert (Art. 54 Abs. 3 GG; s. § 6 Rn. 9 ff.). 71 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7 Rn. 85 ff. 72 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 576. 73 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7 Rn. 199 ff. 74 Eine einprägsame Ausnahme von der grundsätzlichen Entsprechung zwischen Legitima­ tion und Kompetenz findet sich in dem Status des Europäischen Parlaments, dessen unmit­ telbarer Legitimation trotz der Aufwertung durch Zusammenarbeits- und Mitentscheidungs­ rechte nach der Einheitlichen Europäischen Akte bzw. dem Unionsvertrag ein eindeutiges Kompetenzdefizit gegenübersteht, insbesondere ist das Europäische Parlament bisher nicht zur wirklich selbständigen Rechtsetzung in der Lage; vgl. zum Ganzen Kloepfer, Verfassungs­ recht, Bd. 1, 2011, § 40 Rn. 37 ff. 75 Zum Parlamentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie s. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7 Rn. 211 ff. 76 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 40; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 99; a. A. H. H. Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 2. 77 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 38, Rn. 1, unter Verweis auf BVerfGE 80, 188 (217 f.). 67

B. Bundestag im Verfassungsgefüge

87

„höchstes“78 Verfassungsorgan. Das Grundgesetz selbst trägt dem insofern Rech­ nung, als es ihn textlich als erstes aller Verfassungs­organe behandelt (Art. 38 ff. GG). Andererseits spricht das Grundgesetz eine generelle Vorrangstellung des Bundestags nicht ausdrücklich aus (s. a. § 1 Rn. 163). Überwiegend verzichten das Bundesverfassungsgericht und das Schrifttum darauf, unter den Verfassungsorganen eine (starre) Hierarchie zu entwerfen (s. a. § 1 Rn. 163 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr eine Warnung vor der Annahme eines Gewaltenmonismus des Parlaments ausgesprochen.79 H. H. Klein mahnt an, der Bundestag sei in ein Beziehungsgefüge aus allen staatlichen Insti­ tutionen eingebunden und seine Rolle sei in diesem Kräfteparallelogramm nicht durch die Verfassung festgeschrieben, sondern dynamisch.80

35

Eine gewisse funktionelle Vorrangstellung des Bundestags nicht nur im poli­ tischen, sondern auch im rechtlichen Sinne, die nach den Vorschriften des Grund­ gesetzes zu begründen ist, lässt sich jedoch insbesondere aus Art. 20 Abs. 3 GG ableiten. Dieser bindet die Legislativgewalt ausschließlich an die verfassungs­ mäßige Ordnung. Demgegenüber sind Exekutive und Judikative auch an die Entscheidungen des Gesetzgebers gebunden.81 Das Grundgesetz weist dem Par­ lament darüber hinaus die Befugnis zu, Regelungen über die Aufgaben, Kom­ petenzen und Verfahrensweisen anderer Verfassungsorgane in Gesetzesform zu treffen.82 Freilich kann es insoweit zu Spannungen zu der Geschäftsordnungsauto­ nomie der anderen Verfassungsorgane kommen (§ 1 Rn. 103).

36

78

v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 224. Vgl. BVerfGE 49, 89 (125) – Kalkar: „Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Aus­ gleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allum­ fassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden.“ 80 Vgl. H. H. Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 5. Einen interessanten, wenngleich systembedingten Gegensatz hierzu formulierte die Verfassung der DDR: „Das höchste Organ der Republik“ bzw. das oberste staatliche Machtorgan war nach Art. 48 n. F. und Art. 50 a. F. die Volkskammer. 81 Bereits John Locke formulierte, „dass in einem verfassten Gemeinwesen die Legislative die höchste Staatsgewalt sei und demgemäß jede andere Gewalt im Staate von ihr abgeleitet, ihr untergeordnet sein müsse“, um durch standing laws insbesondere die Regierungsgewalt zu binden; in: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Buch II, Kap. 11 (Die Reichweite der legislativen Gewalt, S. 289 ff.), Kap. 13 (Die Rangordnung der Gewalten im Staat, S. 301 f.), § 150; zit. nach der Ausg. von Euchner, 1967. 82 S. dazu etwa das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Art. 93 Abs. 2; Art. 94 Abs. 2 GG i. d. F. v. 11.8.1993 (BGBl. I, S. 1473), zul. geänd. d. G. v. 1.12.2009 (BGBl. I, S. 3822); Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten aufgrund des Art. 54 Abs. 7  GG v. 25.4.1959 (BGBl. I, S. 230), zul. geänd. d. G. v. 12.7.2007 (BGBl. I, S. 1326); Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung i. d. F. v. 27.7.1971 (BGBl. I, S. 1166), zul. geänd. d. G. v. 23.10.2008 (BGBl. I, S. 2018); Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Par­ lamentarischen Staatssekretäre v. 24.7.1974 (BGBl. I, S. 1538), zul. geänd. d. G. v. 5.2.2009 (BGBl. I, S. 160). 79

88

§ 2 Bundestag

37

Demnach lässt sich aus dem Grundgesetz zwar durchaus eine Sonderstellung des Bundestags unter den obersten Staatsorganen ableiten. Daraus erwächst aller­ dings – auch und gerade bei Zweifeln hinsichtlich der Organkompetenz – keine parlamentarische Allzuständigkeit im Sinne eines umfassenden Entscheidungs­ vorbehalts und auch kein grenzenloser Parlamentsvorrang.83

38

Bundesstaatsprinzip und Gewaltenteilungsgrundsatz bilden sowohl vertikale als auch horizontale Grenzen für die Befugnisse des Bundestags. Auch die Grund­ rechte begrenzen die Befugnisse des Parlaments.

II. Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen 1. Bundestag und Bundesrat 39

Der Bundestag bildet neben dem Bundesrat eine der beiden „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften“ (vgl. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG). Bun­ destag und Bundesrat bilden dabei jedoch kein wirkliches Zweikammersystem: Der Bundesrat ist keine vollwertige (‚echte‘) Zweite Kammer, u. a. da er nur bei bestimmten Gesetzen ein Zustimmungsrecht, im Übrigen aber nur ein  – vom Bundestag überstimmbares – Einspruchsrecht hat (ausführlich § 3 Rn. 52, 41 ff.). Andererseits gehen die Zuständigkeiten des Bundesrats über die Mitwirkung an der Bundes­gesetzgebung hinaus; er ist kein reines Legislativorgan (ausführlich § 3 Rn. 165 ff.). 

40

Faktisch-politisch kann bei entsprechenden Mehrheitskonstellationen die par­ teipolitische Opposition auf Bundesebene über den Bundesrat wirksam werden, wenn sie in einer ausreichenden Zahl von Landesregierungen vertreten ist (sog. „Parteienbundesstaat“ – hierzu ausführlich § 3 Rn. 56 ff.). 2. Bundestag und Bundesregierung

41

Das Verhältnis des Bundestags zur Bundesregierung kommt – im parlamentarischen Regierungssystem mit Gewaltenverschränkung – vielgestaltig zum Ausdruck: Zum einen ‚trägt‘ die Bundestagsmehrheit – über die Wahl des Bun­ deskanzlers (Art. 63 GG; s. u. Rn. 86; s. ausführlich § 7 Rn. 32 ff.) und die Mög­ lichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG; s.  § 7 Rn. 120 ff.) – die Bundesregierung; zum anderen hat der Bundestag die Bundes­ regierung zu kontrollieren (s. u. Rn. 89 ff.). Hinsichtlich dieser Kontrollfunktion des Bundestags gegenüber der Bundesregierung tritt vor allem die Bedeutung der Oppositionsfraktionen hervor (s. u. Rn. 404 ff.). 83 „Gegen einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus“, BVerfGE 49, 89 (125) – Kalkar.

B. Bundestag im Verfassungsgefüge

89

Insgesamt wird der verzahnte Machtblock aus Bundestag(smehrheit) und Bun­ desregierung herkömmlich als Zentrum der politischen Staatsleitung unter dem Grundgesetz betrachtet (s. u. Rn. 54 ff.; s. a. § 1 Rn. 46). Die wesentlichen politischen Gestaltungsentscheidungen – in der formellen Bundesgesetzgebung und darüber hinaus – werden durch das Zusammenwirken von Bundestag und Bundes­ regierung geprägt. Beispielhaft zeigt sich das am praktisch so wichtigen Gesetzes­ initiativrecht der Bundesregierung (Art. 76 Abs. 1 Var. 1 GG). 

42

3. Bundestag und Bundespräsident Anders als die Bundesregierung (s. eben Rn. 41) ist der Bundespräsident nicht vom Vertrauen der Bundestagsmehrheit abhängig; er wird vielmehr von der Bun­ desversammlung gewählt (ausführlich § 6). Allerdings wird über das Gegenzeich­ nungserfordernis gem. Art. 58 S. 1 GG eine stark vermittelte Rückbindung der Verantwortung für „Anordnungen und Verfügungen“ des Bundespräsidenten gegenüber dem Bundestag erreicht: „Anordnungen und Verfügungen“ des Bundes­ präsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundes­ kanzler oder den zuständigen Bundesminister (hierzu ausführlich § 5 Rn. 177 ff.), diese wiederum sind dem Bundestag gegenüber parlamentarisch verantwortlich und werden von ihm kontrolliert (s. eben Rn. 41 f.).

43

Zudem ist der Bundespräsident neben dem zentralen Legislativakteur Bundes­ tag  – peripher  – in das formelle Gesetzgebungsverfahren eingebunden: Gem. Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG fertigt der Bundespräsident die vom Bundestag beschlos­ senen Bundesgesetze aus – dabei hat er nach überwiegender Auffassung ein be­ grenztes Ausfertigungsverweigerungsrecht aus Gründen formeller und evidenter materieller Verfassungsmäßigkeit (ausführlich § 5 Rn. 137 ff.). 

44

4. Bundestag und Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht ist zwar imstande, Gesetze des Bundestags gem. Art. 94 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG für nichtig zu erklären (sog. negative Gesetzgebung; s. § 8 Rn. 80, 448). Doch verdankt das Gericht diese Er­ mächtigung nicht der Verfassung, jedenfalls nicht ausdrücklich dem geschriebe­ nen Verfassungsrecht, sondern der Entscheidung des Bundesgesetzgebers selbst in § 31 Abs. 2 BVerfGG.84

84 Freilich lässt sich vertreten, dass aus der grundgesetzlichen Einrichtung der Normenkon­ trollen in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Art. 100 Abs. 1 GG folgt, dass diese Normenkontrollen zu ihrer Effektivität der Nichtigerklärungsmöglichkeit bedürfen, diese also Verfassungsrang hat. Im Übrigen ist der Gesetzgeber auch im Fall der Nichtigkeitserklärung durch das Verfassungs­ gericht – nach umstrittener Auffassung – nicht an dessen Rechtsauffassung gebunden (kein

45

90

§ 2 Bundestag

46

Es besteht dabei durchaus die Möglichkeit, dass ein Senat des Bundesverfassungsgerichts, unter Umständen also gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG die knappe Mehrheit von vier Rich­ tern (bei nur sechs anwesenden Richtern; vgl. § 15 Abs. 2 S. 1 BVerfGG; s. § 8 Rn. 280), ein vom einzig unmittelbar demokratisch gewählten Organ mehrheitlich beschlossenes Gesetz außer Kraft setzt.

47

Gleichwohl ist die Rolle des Bundesverfassungsgerichts auf die eines Verfassungshüters (s. § 8 Rn. 41, 314) begrenzt. Denn wenn seinen Entscheidungen auch nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft zukommen kann, so ist diese Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen ‚Gesetzgebung‘ doch in zweifacher Hinsicht beschränkt: Zum einen kann das Bundesverfas­ sungsgericht nur auf Antrag tätig werden (s. § 8 Rn. 45, 58, 252, 288, 362). Zum anderen steht ihm (eigentlich) nur das destruktive Mittel der Verwerfung zur Verfügung. Es verfügt gerade nicht über ein Gesetzesinitiativrecht.

48

Bei sog. Appellentscheidungen gibt das Gericht aber dem Gesetzgeber mehr oder weni­ ger bestimmte Regelungsaufträge. Bisweilen regt es auch nur den Erlass von Gesetzen an. Nutzt das Gericht seine Verwerfungskompetenz, um dem Gesetzgeber konstruktive Vorga­ ben für künftige Gesetze aufzuerlegen, bewegt es sich an der Grenze des Zulässigen (s. dazu § 8 Rn. 309, 450 ff.).

49

Insgesamt ist das Verhältnis von Bundestag und Bundesverfassungsgericht von wechselseitigen Einflussmöglichkeiten geprägt. Das Bundesverfassungsgericht kann einerseits vom Bundestag beschlossene Gesetze verwerfen, andererseits be­ stimmt der Bundestag nicht nur die Hälfte der Richter des Bundesverfassungs­ gerichts (s. dazu § 8 Rn. 160 ff.), vielmehr kann der Bundesgesetzgeber – in den Grenzen verfassungsrechtlicher Vorgaben – auch das Verfahren vor dem Bundes­ verfassungsgericht ausgestalten (s. hierzu § 8 Rn. 247 ff.) und vor allem auch neue Zuständigkeiten begründen (Art. 93 Abs. 3 GG).

50

Umgekehrt hat das Bundesverfassungsgericht auch einen gewissen Einfluss auf die (rechtlichen Rahmenbedingungen der) Kreation des Bundestags: Der verfassungsrechtliche Rahmen des Bundestagswahlrechts (insbesondere Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) hat eine intensive verfassungsgerichtliche Komponente (ausführlich unten Rn. 158, 162). Verfassungsrechtliche Gründe und Grenzen von Wahlrechtsreformen  – etwa das Problem von Überhang- und Ausgleichsmandaten (s. u. Rn. 157 ff.) – werden häufig in einem ‚Dialog‘ von Bundesverfas­ sungsgericht und einfachem Bundesgesetzgeber (vgl. Art. 38 Abs. 3 GG) ‚verhandelt‘ (s. auch § 8 Rn. 75).

absolutes Normwiederholungsverbot), BVerfGE 77, 84 (103 f.); s. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 42. Aus dem Grundsatz der Verfassungs­ organtreue (§ 1 Rn. 158) mag man freilich im Einzelfall Rücksichtnahmepflichten des Gesetz­ gebers ableiten. Für ein eng begrenztes Normwiederholungsverbot Kischel, AöR 131 (2006), 219 ff.

C. Funktionen des Bundestags

91

C. Funktionen des Bundestags I. Pluralismus der Funktionen Das Grundgesetz enthält  – anders als beispielsweise für den Bundesrat (Art. 50 GG; s. § 3 Rn. 35)  – keine ausdrückliche Bestimmung zur (zentralen) Aufgabe des Bundestags. Diese ergibt sich jedoch – in einer Zusammensicht – vor allem aus seinen geregelten Einzelkompetenzen. Die Gesamtaufgabe85 des Bun­ destags mit den Elementen der politischen Willensbildung, der Staatsleitung (s. a. § 1 Rn. 46), der Repräsentation, der Kontrolle, der Kreation und der Integration (s. a. § 1 Rn. 156) ist in den Vorschriften des Grundgesetzes bzw. der Geschäfts­ ordnung des Bundestags (GOBT) nur ausnahmsweise explizit und jedenfalls nicht abschließend geregelt. So erfassen diese Normen nicht sämtliche Tätigkeiten (wie z. B. bestimmte innen- und außenpolitische Aktivitäten) und Handlungsformen (wie etwa den sog. schlichten Parlamentsbeschluss86) des Bundestags. Der Status und Einfluss des Parlaments wird jedoch auch durch ungeschriebenes Verfassungsrecht konkretisiert.

51

Daneben können sich einzelne Rechte und Pflichten des Bundestags bzw. seiner Unterorgane auch aus einfachen Gesetzen ergeben. Das Parlamentsbeteiligungs­ gesetz (ParlBG)87 beispielsweise regelt die Befassung des Parlaments mit Auslands­ einsätzen der Bundeswehr, wie sie das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.88 Ähnlich ordnet das Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG)89 beispielsweise die Pflicht von Bundestag und Bundesrat zur zeitnahen Beratung über Vorlagen in Angelegenheiten der Europäischen Union an, die Gegenstand der inzwischen durch das Bundesverfassungsgericht gestärkten90 parlamentarischen Mitbefassung sind.91 Insbesondere das Unionsrecht kann aufgrund seines Anwendungsvorrangs die Aufgaben und Befugnisse des Bundestags – meist begrenzend – beeinflussen.

52

Eine Gesamtschau dieser Regelungen lässt insgesamt  – nicht abschließend  – mindestens sechs Funktionen erkennen, die mit der Zuweisung von Aufgaben, Rechten und Pflichten an den Bundestag ermöglicht werden sollen: Unterschie­ den werden können eine Staatsleitungsfunktion (s. u. Rn. 54 ff.), eine Integrationsfunktion (s. u. Rn. 57 ff.), eine Gesetzgebungsfunktion (s. u. Rn. 63 ff.), eine

53

85

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 572, 573, 588. 86 Butzer, AöR 119 (1994), 61 ff. 87 Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 18.3.2005 (BGBl. I, S. 775). 88 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 29 Rn. 79 f. 89 Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz) 22.9.2009 (BGBl. I, S. 3022) zul. geänd. d. G. v. 1.12.2009 (BGBl. I, S. 3822). 90 BVerfGE 123, 267 (351 f.). 91 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 43 Rn. 4.

92

§ 2 Bundestag

Kreations­funktion (s. u. Rn. 79 ff.), eine Kontrollfunktion92 (s. u. Rn. 89 ff.) und eine Öffentlichkeitsfunktion (s. u. Rn. 113 ff.). Hinzu kommen spezifische Auf­ gaben der Ausgabenermächtigungsfunktion (Art. 110 Abs. 2 GG)93 und der Wahl­ prüfung (s. u. Rn. 177 ff.).

II. (Anteil an der) Staatsleitungsfunktion 54

Auch wenn der Bundestag als Bundesparlament (s. o. Rn. 4) v. a. mit der Auf­ gabe der Gesetzgebung (s. u. Rn. 63 ff.) in Verbindung steht, ist hervorzuheben, dass er nicht nur Funktionen der Gesetzgebung ausübt.94 Als Volksvertretung ist der Bundestag Repräsentant des Volkes und gemeinsam v. a. mit der Bundesre­ gierung und (in geringerem Maße auch) dem Bundesrat Träger der politischen Staatsleitung (s. a. § 1 Rn. 46).95

55

Nach Hesse kommt dem Bundestag ein maßgeblicher Anteil an der „demokratische[n] Gesamtleitung“ zu.96 Diese Rolle ist aber nicht mit einer Kompetenz zur politischen Führung, Regierung oder Verwaltung zu verwechseln, die dem Parlament mit Rücksicht auf den Kompetenzbereich der Bundesregierung gerade nicht zusteht.97

56

Hesse verweist im Zusammenhang mit der Funktion der „demokratischen Gesamtleitung“ durch den Bundestag auf grundlegendere Überlegungen zur Funktion des Parlaments und des Parlamentarismus (s. o. Rn. 4):98 In einem Parlament würden nicht nur Gesetze ‚gemacht‘ und beschlossen, sondern weitergehend Grundfragen des politischen Zusammenlebens in das ‚öffentliche Bewusstsein‘ gebracht. Politische Initiativen, Entwürfe und Grundsatzdebatten hätten im Parlament ihren originären Ort und wirkten von dort – vermittelt über Medien und politische Parteien – in das nicht institutionalisierte politische Leben hinein.

92 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 1 Rn. 192 f.; vgl. auch Maurer, Staats­ recht I, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 125 ff. 93 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 26 Rn. 247. 94 Dies betont nachdrücklich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 572. 95 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1957), 9 (37); Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 8; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 47. Laband formulierte: „Materiell reicht die Zuständigkeit des Reichstages genau ebenso weit wie die Zuständigkeit des Reiches.“, zitiert nach Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepu­ blik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 45. 96 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 572. 97 BVerfGE 1, 372 (394) – Deutsch-Französisches Wirtschaftsabkommen. 98 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 573, mit Verweis auf Bagehot.

C. Funktionen des Bundestags

93

III. Integrationsfunktion(en) Die Staatsleitungsfunktion in Gestalt der Funktion der „demokratische[n] Ge­ samtleitung“, die vom Bundestag als Bundesparlament wahrgenommen wird, überschneidet sich erheblich mit dem, was zum Teil als ‚Integrationsfunktion‘ des Bundestags bezeichnet wird. Beim unscharfen Begriff der ‚Integrationsfunktion‘ des Bundestages ist freilich zwischen der Integrationslehre im Sinne von Smend (s. u. Rn. 58 f.) und der „Integrationsverantwortung“ des Bundestags bei der Ent­ wicklung der Europäischen Union (s. u. Rn. 60 ff.) zu differenzieren.

57

Nach Smends Integrationslehre führen Abstimmungen und Wahlen, die den Bundestag erst hervorbringen, zu einer geistigen Integration der politischen Ge­ meinschaft.99 Die Zusammensetzung des Bundestags spiegelt die diversen politi­ schen Positionen des Wahlvolks in einem Organ wider, mit der Folge der integra­ tiven Wirkung des Organs.100

58

Mit Triepel lässt sich hier von einer Bündelung von Auffassungen und Handlungen in Ver­ bindung „mit den höchsten, obersten, entscheidendsten Staatszwecken“, sprechen.101 ‚Integ­ ration‘ bedeutet hier politische ‚Einigung‘ (bzw. Einheitswerdung) des Volks.102 ‚Integration‘ in diesem Sinn ist als Gemeinschaftsaufgabe aller Verfassungsorgane zu verstehen (s. § 1 Rn. 156). Gewichtig sind neben den Integrationsbeiträgen des Bundestags vor allem diejeni­ gen des Bundespräsidenten (s. § 5 Rn. 29) und des Bundesverfassungsgerichts (s. § 8 Rn. 47).

59

Daneben ist die – sachgegenständlich konkretere – Integrationsfunktion des Bundestags bei der Entwicklung der Europäischen Union zu nennen. ‚Integ­ ration‘ lehnt sich hier an den Begriff der ‚europäischen Integration‘, also an den Vorgang des politischen Zusammenwachsens der europäischen Staaten, an.

60

Mit Art. 23 Abs. 1 GG überträgt das Grundgesetz v. a. dem Bundestag (und dem Bundes­ rat) als Verfassungsorgan die Wahrnehmung der bereits in der Präambel des Grundgesetzes angedeutete Integrationsverantwortung der Bundesrepublik Deutschland, „als gleichbe­ rechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ Das Grundgesetz stattet den Bundestag hierfür mit unterschiedlichen Rechten aus: Zum einen ermächtigt es den Bundestag (und den Bundesrat) in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich zur Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union. Das Grundgesetz stellt diese Ermächtigung aller­ dings gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3, Art. 79 Abs. 2, 3 GG unter den Vorbehalt der Beachtung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Zum anderen gewähren Art. 23 Abs. 2 und 3 GG dem Bundestag Informations- und Mitwirkungsrechte gegenüber der Bundesregierung.

61

Bei der Konturierung der EU-bezogenen Integrationsfunktion hat das Bundesverfassungsgericht eine wichtige Rolle gespielt; insbesondere im Urteil zum Vertrag von Lissabon betonte das Gericht die Integrationsfunktion des Bundestags.103

62

99

Vgl. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 148 ff. Vgl. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 154 ff. 101 Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (7). 102 Vgl. – kritisch – Roellecke, NJW 2001, 2924 (2929). 103 Vgl. BVerfGE 123, 267 (391 f., 433 ff.) –Lissabon. 100

94

§ 2 Bundestag

IV. Gesetzgebungsfunktion 1. Formelle Gesetzgebung a) Begriff und Funktion 63

Wenngleich Gesetzgebung zwar keineswegs die einzige Aufgabe des Bundes­ tags ist (s. o. Rn. 53), so zählt sie doch zum Kern der Funktionen des Bundestags. Bereits im ersten Band seiner Entscheidungssammlung qualifizierte das Bundes­ verfassungsgericht (in Ausführungen zu Art. 59 Abs. 2 GG104) die formelle Gesetz­ gebung als „Sondervorbehalt der Legislative“, also von Bundestag und Bundesrat: „Die Zustimmung oder Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes ist ein zwingender und nicht verzichtbarer Sondervorbehalt der Legislative. Diese dem Bundestag vorbehaltene Kompetenz könnte nur im Wege der Verfassungsände­ rung auf die Bundesregierung übertragen werden.“105

64

In diesem Zitat stellt das Bundesverfassungsgericht auf die „Form“ des Bun­ desgesetzes ab. Es nimmt damit eine besondere Art der Gesetzgebung, nämlich die Gesetzgebung in einem förmlichen Verfahren, also die Gesetzgebung durch ­formelle Gesetze in Bezug. Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Bezeich­ nung „Sondervorbehalt“ verdeutlicht dabei, dass die Gesetzgebung durch formelle Gesetze zu den wichtigsten Aufgaben des Bundestags (und des Bundesrats – hierzu § 3 Rn. 172 ff.) gehört.

65

Unter dem Begriff des formellen Gesetzes werden – unabhängig von ihrem Inhalt – alle Hoheitsakte zusammengefasst, die im dafür von der Verfassung vorgesehenen Verfahren von den zuständigen Stellen (den gesetzgebenden Körper­ schaften) als Gesetz erlassen werden: Was auch immer die gesetzgebenden Körper­ schaften des Bundes – der Bundestag und der Bundesrat – in dem Verfahren nach Art. 76 ff. GG als Gesetz beschließen, stets handelt es sich dabei um ein Gesetz im formellen Sinne. Weil der Inhalt solcher Regelungen ohne Einfluss auf die Qualifi­ zierung als formelles Gesetz bleibt, werden neben abstrakt-generellen Regelungen mit Außenwirkung bspw. auch das Haushaltsgesetz (s. sogleich Rn. 75 f.), bloße Organisationsgesetze oder Einzelfallgesetze erfasst. Auch Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen und zur Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union sind formelle Gesetze (s. a. § 8 Rn. 419, 437 zu verfassungs­ prozessualen Fragen).

66

Der Begriff des formellen Gesetzes geht von einem dualistischen Gesetzesbegriff aus, der sich zur Zeit des Frühkonstitutionalismus entwickelt hat.106 Danach lassen sich formelle und materielle Gesetze unterscheiden (zum materiellen Gesetz sogleich Rn. 72).107 104

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 35 Rn. 43 ff. BVerfGE 1, 372 (395) – Deutsch-Französisches Wirtschaftsabkommen. 106 Vgl. die Kurzdarstellung bei Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 17, Rn. 7 ff. 107 Kritisch zur Annahme eines dualistischen Gesetzesbegriffs im demokratischen Verfas­ sungsstaat: Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, F, Rn. 3; kritisch vor allem auch Hesse, Grund­ 105

C. Funktionen des Bundestags

95

Das Grundgesetz weist dem Bundestag in Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG die Kompetenz zum Beschluss formeller Gesetze zu. Dabei ist dieser gleichwohl auf die Mitwirkung von Bundesrat, Bundesregierung und Bundespräsident im Gesetzge­ bungsverfahren angewiesen (Art. 76 ff. GG).108 Insbesondere die Bedeutung des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren ist nicht zu unterschätzen (s. dazu § 3 Rn. 172 ff.).

67

Steht die Beschlussfassung über formelle Gesetze gem. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG also ausschließlich dem Bundestag zu, teilt dieser sich das vorgelagerte Recht zur Gesetzesinitiative mit dem Bundesrat und der Bundesregierung (Art. 76 Abs. 1 GG) – wobei die drei Akteure jeweils für sich initiativbefugt sind. Die von Art. 76 Abs. 1 GG gewählte Formulierung „aus der Mitte des Bundestags“ be­ darf der Konkretisierung, die durch die Geschäftsordnung des Bundestags (s. u. Rn. 332 ff.) vorgenommen wird. Die Geschäftsordnung behandelt Gesetzesent­ würfe als eigenständige Vorlagen (§ 75 Abs. 1 lit. a GOBT), die dementsprechend regelmäßig von einer Fraktion oder von einer Gruppe in Fraktionsstärke getragen werden und mit einer Begründung versehen sein müssen (§ 76 Abs. 2 GOBT). Ein­ zelnen Abgeordneten ist es dadurch – bei insofern offenem Verfassungswortlaut – verwehrt, den Bundestag mit einer Gesetzesinitiative zu befassen.

68

Verfolgten (formelle) Gesetze früher noch die überwiegende Zielsetzung, Le­ bensbereiche durch Gesetz dauerhaft regeln zu wollen, sind sie heute zunehmend ein Instrument der flexiblen politischen Gestaltung.109

69

Die herausragende Stellung der Parlamentsgesetze spiegelt sich auch in ihrem besonderen Schutz wieder. Im Gegensatz zu anderen Rechtsnormen, unterliegen sie einzig dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (s. dazu § 8 Rn. 468 f., 473 f.).110

70

b) Formell-materielle Gesetze Die formelle Gesetzgebung ist die wichtigste Form der abstrakt-generellen Rechtsetzung. Setzen die gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundes­ rat abstrakt generelle Regelungen in der Form von Parlamentsgesetzen, so handelt es sich um Gesetze im formell-materiellen Sinn.

71

Materielle Gesetze werden nach ihrem Inhalt definiert. Nur außenverbind­liche Hoheitsakte abstrakt-genereller Natur fallen unter den Begriff des materiellen

72

züge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 502 ff., der den für das Grundgesetz geltenden Ge­setzesbegriff aus der Verfassung selbst entwickelt, in­ dem er auf die Aufgaben und Funktion der Gesetze rekurriert. 108 Zum Gesetzgebungsverfahren Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 21 Rn. 167 ff. 109 Vgl. H. H. Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 20; vgl. bereits Kloepfer, VVDStRL 40 (1982), 63 (71 f.). 110 Morlok / Hientzsch, JuS 2011, 1 (6).

96

§ 2 Bundestag

Gesetzes. Als abstrakt gilt eine Regelung dann, wenn sie unbestimmt viele Ein­ zelfälle erfasst, als generell dann, wenn sie unbestimmt viele Personen erfasst. 73

Materielle Gesetzgebung erfolgt jedoch nicht ausschließlich in Gestalt von for­ meller Gesetzgebung. Daneben gibt es außerhalb der formellen Gesetzgebung die Setzung von sog. nur-materiellen Gesetzen wie Rechtsverordnungen (s. sogleich Rn. 77 f.) oder Satzungen. Bei solchen nur-materiellen Gesetzen handelt es sich ebenfalls um abstrakt-generelle Regelungen, die aber nicht im förmlichen Gesetz­ gebungsverfahren nach Art. 76 ff. GG zu Stande kommen.

74

Materielle Rechtsetzung ist in der parlamentarischen Demokratie nicht aus­ schließlich, aber doch vorrangig die Aufgabe des Parlaments.111 Rechtsetzung durch formell-materielle Gesetze stellt in freiheitlich-demokratischen Verfassungs­ ordnungen das Leitbild dar. c) Nur-formelle Gesetze, insbesondere Haushaltsgesetze

75

Es gibt formelle Gesetze, die keine Außenwirkung dem Bürger gegenüber haben und daher als ‚nur-formelle Gesetze‘ bezeichnet werden. Hierzu zählen das Haushaltsgesetz (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG)112 und das Friedensschlussgesetz (Art. 115l Abs. 3 GG).

76

Durch das dem Bundestag in Art. 110 Abs. 2 S. 1 und Art. 115 Abs. 1 GG ver­ liehene parlamentarische Budgetrecht bestimmt er mit der Feststellung des Haushaltsplans im Haushaltsgesetz insbesondere, wie viel staatliche Gelder für wel­ che Aufgaben und von welchem Träger staatlicher Aufgaben eingesetzt werden dürfen.113 Außerdem ist nach Art. 115 Abs. 1 GG für die Aufnahme von Krediten und die Begründung finanzieller Einstandspflichten des Bundes (etwa durch Bürg­ schaften) oberhalb einer jährlich festzulegenden Summe eine Ermächtigung durch Bundesgesetz einzuholen.

111

Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 60 ff.; dazu Klein, in: Isen­ see / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 17 („Rechtsetz­ungsprärogative“); Nach Art. 68 Abs. 2 WRV war dies der Reichstag; die Paulskirchenverfassung sah das Gesetz­ gebungsrecht ebenfalls beim Reichstag (bestehend aus Volkshaus und Staatenhaus); die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 bestimmte Reichstag und Bundesrat zum Ge­ setzgeber. 112 A. A. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 506, der es für eine abstrakte und wirklichkeitsfremde Betrachtung hält, der Fest­ stellung des Haushaltsplans materielle Bedeutung abzusprechen. 113 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 26 Rn. 243 ff.

C. Funktionen des Bundestags

97

2. Mitwirkung an nur-materieller Gesetzgebung Die Gesetzgebungsfunktion des Bundestags erschöpft sich nicht allein in dem Erlass formeller Gesetze. Zusätzlich wirkt der Bundestag auch beim Erlass von Rechtsverordnungen der Exekutive, also im Bereich der nur-materiellen Gesetz­ gebung (s. o. Rn. 73), mit. Dabei entscheidet der Bundestag (in einem formellen Gesetz) zunächst darüber, ob die Exekutive überhaupt zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt wird oder nicht.

77

Die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG verlangt zu­ dem, dass der Bundestag entscheidend auf die Rechtsverordnung Einfluss nimmt, indem er mit der Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung die Grenzen der Normsetzungsbefugnis determiniert.114 Unabhängig von diesen indirekten, nämlich über die Ermächtigung erfolgenden Vorgaben kann der Bun­ destag auch direkt die Inhalte der Rechtsverordnung bestimmen. So hat er es auf­ grund des Vorrangs des Gesetzes in der Hand, Regelungen in Rechtsverordnungen durch eine gegenteilige Regelung aufzuheben.115 Stets aber muss der Bundestag durch Gesetz handeln, die Entscheidung durch Rechtsverordnung ist ihm versagt.116

78

V. Kreationsfunktion Die Kreationsfunktion des Bundestags zeigt sich in zweifacher Form: Sie ma­ nifestiert sich zum einen in der Wahl seiner eigenen (Unter-)Organe (s. allgemein § 1 Rn. 36 ff.), zum anderen ist der Bundestag aber auch an der Besetzung anderer Verfassungs- und Verwaltungsorgane beteiligt.

79

1. Kreation von Parlamentsorganen und Organen mit Parlamentsbeteiligung Der Bundestag wählt seine eigenen (Unter-)Organe: Neben dem Bundestagspräsidenten (s. u. Rn. 338 ff.) sind dessen Vertreter und die Schriftführer durch Wahl zu bestimmen. Weiterhin wählt der Bundestag die Mitglieder verschiede­ ner Ausschüsse (ausführlich unten Rn. 415 ff.) und Gremien (ausführlich unten Rn. 517 ff.): Der Bundestag ist von Verfassung wegen verpflichtet, einen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten (Art. 45  a Abs. 1 Var.  1 GG  – s. u. Rn. 434 ff.), einen Verteidigungsausschuss (Art. 45 a Abs. 1 Var. 2 GG – s. u. Rn. 434 ff.), einen Petitionsausschuss (Art. 45 c GG – s. u. Rn. 423 ff.) und ein Gremium zur Kon­ trolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes (Art. 45 d Abs. 1 GG – s. u. 114

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 21 Rn. 316 ff.; zur Mitwirkung des Bun­ desrats vgl. § 3 Rn. 204 ff. 115 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 55. 116 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 21 Rn. 301; § 10 Rn. 66.

80

98

§ 2 Bundestag

Rn. 531 ff.) einzusetzen (verfassungsgeforderte Ausschüsse und Gremien). Da­ rüber hinaus setzt der Bundestag nach seiner freien Entscheidung weitere Fach­ ausschüsse, Untersuchungsausschüsse (Art. 44 GG – s. u. Rn. 443 ff.) und ggf. En­ quête-Kommissionen (§ 56 GOBT – s. u. Rn. 518 ff.) ein. 81

Als (partielles) „Hilfsorgan“ des Bundestags ist ein Wehrbeauftragter zu wäh­ len (Art. 45 b GG – hierzu unten Rn. 588 ff.).

82

Von den (Unter-)Organen des Bundestags müssen die Organe (Gremien und Beiräte) unterschieden werden, an denen der Bundestag nur beteiligt ist (Organe mit Parlamentsbeteiligung – s. u. Rn. 574 ff.). Für Organe, deren Bildung nicht der Entscheidung des Bundestags anheim gestellt ist, sondern die kraft Verfassung bestehen (müssen) wie etwa der Gemeinsame Ausschuss, verankert in Art. 53a GG (s. u. § 4), der Vermittlungsausschuss nach Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG oder der Rich­ terwahlausschuss nach Art. 95 Abs. 2 GG i. V. m. dem Richterwahlgesetz,117 ent­ sendet (wählt) der Bundestag die erforderliche Zahl an Vertretern aus den Reihen seiner Mitglieder.118

83

Bei den Unterorganen und den Organen mit Parlamentsbeteiligung ist grund­ sätzlich das Prinzip der Spiegelbildlichkeit von Plenum und Gremium zu be­ achten. Das Prinzip kommt verfassungsrechtlich in Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG (zum Gemeinsamen Ausschuss  – s. § 4) zum Ausdruck und verlangt eine Besetzung „entsprechend“ dem Stärkeverhältnis der Fraktionen.119 Eine (völlige)  ma­ thematische Gleichheit oder Entsprechung ist aber selbst bei Anwendung dieses Grundsatzes nicht immer zu erreichen, weil die Rechnung auf Personen und somit auf ganze Zahlen beschränkt ist.

84

Von entscheidendem Einfluss kann bei einer solchen Besetzung aber das zu Grunde gelegte Berechnungsverfahren sein. So entschied sich der Bundestag in der 13. Wahlperiode bei­ spielsweise, bei der Berechnung der Stellenanteile das Verfahren nach Ste. Laguë / Schepers120 anzuwenden.121 Dieses Verfahren ist der Regelfall für die Ausschussbesetzung. Nur die Besetzung des Vermittlungsausschusses und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sollte nach dem Willen des Bundestags in der 13. Wahlperiode gemäß dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt 122 erfolgen, was in einem vom Bundesverfassungsgericht 117 Richterwahlgesetz v. 25.8.1950 (BGBl. I, S. 368), zul. geänd. d. G. v. 22.9.2009 (BGBl. I, S. 3022), nach § 5 wählt der Bundestag die Mitglieder kraft Wahl des Richterwahlausschusses und deren Vertreter. 118 Vgl. §§ 1, 4 GOGemA. 119 Dabei ist festzuhalten, dass der Gemeinsame Ausschuss kein Bundestags- bzw. Bundes­ ratsausschuss im parlamentsrechtlichen Sinne ist, sondern ein eigenständiges Verfassungs­ organ; ausführlich § 4 Rn. 1 ff. 120 Da die Ergebnisse des Rangmaßzahlverfahrens nach Hans Schepers (* 1928) identisch mit denen des 1910 von dem französischen Mathematiker André Ste.  Laguë (1882–1950) vorgeschlagenen Verfahrens sind, ist es geläufig als das Proportionalverfahren nach Ste. ­L aguë / Schepers. 121 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7 Rn. 165 f. 122 Victor d’Hondt (1841–1901) war ein belgischer Jurist.

C. Funktionen des Bundestags

99

zu entscheidenden Fall123 dazu führte, dass die Gruppe der PDS-Abgeordneten im Bundestag in diesen Ausschüssen zunächst nicht berücksichtigt wurde. Gleichwohl sei – so das Bundes­ verfassungsgericht – die Entscheidung für das eine oder andere Berechnungsverfahren noch von der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags umfasst und nicht etwa missbräuch­ lich. Ein Wechsel des Zählsystems mit dem Ziel, die Mehrheitsverhältnisse des Plenums in der „Bundestagsbank“ des Vermittlungsausschusses wiederzugeben, sei verfassungsrechtlich unbedenklich.124 Im Hinblick auf die Besetzung des Vermittlungsausschusses ist aber die spiegelbildliche Abbildung der Sitzverteilung im Parlament wichtiger als die Abbildung der Mehrheit der Regierungsfraktionen.125

2. Kreation anderer Verfassungsorgane Der Bundestag ist an der Kreation anderer Verfassungsorgane beteiligt. Kreation bedeutet v. a. Legitimationsvermittlung. Hierdurch erhalten die entsprechenden Organe erst ihre demokratische Legitimation.126

85

Politisch bedeutsam und Initialmoment der Regierungsbildungsfunktion des Bundestags ist die Wahl des Bundeskanzlers (s. dazu § 7 Rn. 32 ff.), der entgegen des im Wahlkampf regelmäßig vermittelten Eindrucks nicht von den wahlberech­ tigten Bürgern, sondern erst durch den neukonstituierten Bundestag auf Vorschlag des Bundespräsidenten gewählt wird (Art. 63 Abs. 1 GG, § 4 GOBT – s. dazu § 7 Rn. 32 ff.). Die Abhängigkeit des Bundeskanzlers vom Bundestag und nicht etwa vom Wahlvolk zeigt sich auch in der Möglichkeit des Bundestags, dem Bundes­ kanzler das Misstrauen auszusprechen (s. dazu § 7 Rn. 120 ff.). Sofern dieses Miss­ trauen „konstruktiv“, nämlich durch die Wahl eines anderen Bundeskanzlers, zum Ausdruck kommt, hat der Bundespräsident den amtierenden Bundeskanzler zu entlassen (Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG).

86

An der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung ist der Bundestag mittelbar beteiligt (Art. 54 Abs. 3 GG): Die Bundesversammlung be­ steht aus den Abgeordneten des Bundestags und einer gleichen Zahl von Vertretern der Länder (s. dazu § 6 Rn. 9 ff.).

87

Neben der Wahl der Exekutivspitze durch das Parlament beeinflusst der Bun­ destag auch die Besetzung der höchsten rechtsprechenden Organe. So werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG je zur Hälfte vom Bundestag und Bundesrat gewählt, wobei die vom Bundestag zu beru­ fenden Richter auf Vorschlag eines zwölfköpfigen Wahlausschusses (§ 6 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) mit Zwei-Dittel-Mehrheit (§ 6 Abs. 1 S. 1 BVerGG) bestimmt werden (s. dazu § 8 Rn. 160 ff.). Auf die Besetzung der obersten Gerichtshöfe des Bundes, also des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesarbeits­

88

123

BVerfGE 96, 264 (278 f.) – Fraktions- und Gruppenstatus. BVerfGE 96, 264 (283) – Fraktions- und Gruppenstatus. 125 BVerfGE 112, 118 (140 ff.). 126 Morlok / Hientzsch, JuS 2011, 1 (7). 124

100

§ 2 Bundestag

gerichts, des Bundessozialgerichts und des Bundesfinanzhofs, nimmt der Bundes­ tag dadurch Einfluss, dass er gemäß Art. 95 Abs. 2 GG die Hälfte der Mitglieder des Richterwahlausschusses bestimmt, der gemeinsam mit dem für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Bundesminister die Richter dieser Gerichte „beruft“.127

VI. Kontrollfunktion 1. Allgemeines 89

In Gestalt des bereits angesprochenen Misstrauensvotums nach Art. 67 GG (s. o. Rn. 86) offenbart sich beispielhaft zugleich eine der wichtigsten Einfluss­ möglichkeiten des Parlaments gegenüber der Exekutive.128 Es gilt das in der kons­ titutionellen Monarchie entwickelte System von der machtausübenden Exekutive auf der einen und dem machtkontrollierenden Parlament auf der anderen Seite, bei dem die parlamentarische Verantwortung der Regierung eine ausschlag­ gebende Bedeutung hat.

90

Dieses Modell beschreibt allerdings nur noch in sehr ungefährer Weise das tatsächliche politische System der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere der bedeutende parteipolitische Einfluss hat hier zu erheblichen Systemverän­ derungen geführt. Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags – die Regierungs­ fraktion(en) – gehört regelmäßig zur gleichen parteipolitischen Richtung wie die Regierung.129 Es kommt zum – schwer von außen zu beeinflussenden – Macht­ block von Regierung und Regierungsfraktion(en). Die dem Parlament eingeräum­ ten Kontrollbefugnisse130 entfalten so regelmäßig faktisch ihre Wirkung zu einem überwiegenden Anteil nur in der Hand der parlamentarischen Opposition – also der Parlamentsminderheit (s. u. Rn. 404 ff.). 2. Untersuchungs-, Frage- und Informationsrechte

91

Zur Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion stellt das Grundgesetz dem Bundes­ tag verschiedene Rechte zur Verfügung. Einige der Kontrollinstrumente stehen dem Bundestag als Organ zu, hängen also vom Willen der Bundestagsmehrheit 127

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 23 Rn. 58 f. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 775 ­(„ultima ratio parlamentarischer Kontrolle“); vgl. dazu auch Schmidt, Die demokratische Le­ gitimationsfunktion der parlamentarischen Kontrolle, 2007, S. 63 f. 129 Stern (Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 774) spricht von „Fleisch vom gleichen Fleisch“; dies suggeriert aber zu Unrecht, dass die Regie­ rungsmitglieder dem Bundestag angehören müssen, was nach Art. 63 Abs. 1 und Art. 64 GG gerade nicht vorausgesetzt ist. 130 Wörtlich ist davon nur in Art. 45 b GG die Rede; s. im Einzelnen Thaysen, Parlamenta­ risches Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1976, S. 54 ff. 128

C. Funktionen des Bundestags

101

ab (s. sogleich Rn. 96). Andere Kontrollinstrumente stehen Abgeordneten in Frak­ tionsstärke (s. sogleich Rn. 98) oder aber ‚sogar‘ einzelnen Abgeordneten (s. so­ gleich Rn. 99; sowie ausführlich unten Rn. 282 ff.) zu. Zu den wichtigsten Kontrollinstrumenten des Bundestags zählt das – von einer qualifizierten Ein-Viertel-Minderheit erzwingbare – Recht, einen Untersuchungsausschuss (Art. 44 GG) einzusetzen, der das sog. Enquête-Recht für den Bundes­ tag wahrnimmt (s. hierzu im Detail unten Rn. 443 ff.).131

92

Untersuchungsausschüsse zur Wahrnehmung des parlamentarischen Enquête-Rechts sind zu unterscheiden von den Enquête-Kommissionen, die der Bundestag zur Erörterung be­ stimmter – meist übergreifender, gesamtgesellschaftlich relevanter – Themen einsetzen kann (vgl. § 56 GOBT: „[z]ur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“; s. u. Rn. 518 ff.); dabei handelt es sich nicht um Untersuchungsausschüsse gem. Art. 44 GG.

93

Thematisch ist die Befugnis zur Einrichtung von Untersuchungsausschüssen nicht begrenzt, vielmehr kann der Bundestag entsprechend seiner weit über Ge­ setzgebung und Regierungskontrolle hinausgehenden Funktion zu allen Bereichen seiner Zuständigkeit Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 Abs. 1 GG einsetzen (ausführlich unten Rn. 474).132 Grenzen finden sich aber in der Verfassung selbst, insbesondere in Form der Grundrechte. Der tatsächliche Schwerpunkt der Unter­ suchungsgegenstände bestand in der Vergangenheit in der durch die Opposition initiierten Aufdeckung von Missständen auf Regierungsseite.133

94

Der Zweck des Untersuchungsausschusses geht in der politischen Praxis häufig weit über den förmlich festgelegten Untersuchungszweck hinaus. Er wird in der Praxis auch gerne dazu benutzt, die politische Stellung einzelner Regierungsmitglieder oder der Regierung insgesamt politisch zu schwächen. Kommt es darüber hinaus in Untersuchungsausschüssen zu Falsch­ aussagen von Angehörigen der Regierung, sind diese politisch häufig nicht mehr zu halten. Allerdings vermochte sich der damalige Bundeskanzler Kohl mit dem Hinweis auf „Erinne­ rungslücken“ im Amt zu behaupten, obwohl er im Untersuchungsausschuss zur Flick-Partei­ spendenaffäre im Jahre 1984 der Sache nach eine Falschaussage gemacht haben soll.

95

Wichtiges Kontrollinstrument des Bundestags gegenüber der Bundesregierung ist ferner das (Herbei-)Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 GG. Danach können das Parlament bzw. seine Ausschüsse die Anwesenheit von Regierungsmitgliedern und deren Rechenschaft zu bestimmten Themen fordern. Über den Wortlaut des Art. 43 Abs. 1 GG hinaus erschöpft sich die Pflicht der Bundesregierung nicht nur in einer bloßen Anwesenheit, sondern erstreckt sich vor allem auch auf die Pflicht, auf Anforderung Rechenschaft abzulegen, also sich an der parlamentarischen Verhandlung zu beteiligen und gegebenenfalls Rede und Antwort zu stehen.134

96

131 Vgl. zu Inhalt und Grenzen BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss; 77, 1 (44) – Neue Heimat; BayVerfGH, DVBl. 1986, 233. 132 Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 44, Rn. 20. 133 Vgl. im Einzelnen die Ausführungen zu Untersuchungsausschüssen unten Rn. 443. 134 NRWVerfGH, DVBl. 1994, 48 f.; s. auch Versteyl, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 43, Rn. 26.

102

§ 2 Bundestag

Mit diesen Pflichten korrespondieren entsprechende Rechte des Bundestags als Organ. Individualansprüche einzelner Abgeordneter und auch Rechte der Oppo­ sition lassen sich Art. 43 Abs. 1 GG hingegen nicht entnehmen.135 Insofern bleiben diese Kontrollinstrumente in den Händen der Bundestagsmehrheit, welche auf Antrag einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages die Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung beschließen „kann“ (§ 42 GOBT). Hierdurch kann das (Herbei-)Zitierrecht in der Realität der Parteiendemokratie durchaus an Schärfe verlieren. 97

Immerhin gewährt die Geschäftsordnung des Bundestags den Fraktionen bzw. den Abgeordneten in den §§ 100 ff. GOBT die Befugnis, öffentliche Anfragen an die Bundesregierung zu richten, um Auskunft zu erhalten. Dabei sind Große Anfragen (§ 75 Abs. 1 lit. f, §§ 100 ff. GOBT), Kleine Anfragen (§ 75 Abs. 3, § 104 GOBT) und „kurze Einzelfragen“ (§ 105 GOBT) zu unterscheiden:

98

Der Unterschied zwischen Kleinen Anfragen und Großen Anfragen ergibt sich aus § 75 Abs. 1 lit f. u. Abs. 3 GOBT, wonach nur Große Anfragen als Verhand­ lungsgegenstände auf die Tagesordnung des Bundestags gesetzt werden können. Kleine und Große Anfragen können nur von Fraktionen oder von Mitgliedern in Fraktionsstärke gestellt werden (§ 76 Abs. 1 GOBT).

99

Einzelne Mitglieder des Bundestags haben aber die Möglichkeit, „kurze Einzelfragen“ sowohl mündlich als auch schriftlich an die Bundesregierung zu richten (§ 105 GOBT). Dieses Fragerecht ist jedoch quantitativ eng begrenzt.

100

In den Sitzungswochen des Bundestags finden regelmäßige Befragungen der Bundesregierung zu Fragen von aktuellem Interesse statt (vgl. § 106 Abs. 2 GOBT in Verbindung mit Anlage 7 zur GOBT). Die Terminierung (mittwochs um 13 Uhr in Sitzungswochen), die Beteiligten und das Verfahren (einschließlich der zeit­lichen Frage- und Antwortkontingente) sind in den „Richtlinien für die Befra­ gung der Bundesregierung“ (Anlage 7 zur GOBT) geregelt.

101

Die „Richtlinien für die Befragung der Bundesregierung“ wurden im Jahr 2019 geändert136: Insbesondere ist nun vorgesehen, dass dreimal jährlich eine Befragung des Bundeskanzlers stattfindet (Anlage 7 zur GOBT Nr. 7).

102

Streitig wird die Frage der Beantwortungspflicht der Bundesregierung be­ urteilt, d. h., ob und inwieweit die Bundesregierung zur Beantwortung der ihr derart gestellten Fragen verpflichtet ist.137 In Anbetracht der traditionellen Be­ deutung138 und des innerhalb der parlamentarischen Demokratie ausgebildeten 135

Vgl. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. IV, Art. 43, Rn. 43 ff., (Lfg. 71, März 2014). Änderungen m. W. v. 01.03.2019 durch GeschO v. 01.03.2019, BGBl. I S. 197. 137 Für eine Pflicht der Bundesregierung etwa Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. IV, Art. 43, Rn. 69 ff. (Lfg. 71, März 2014); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 55; a. A.: Achterberg, Parlamentsrecht, S. 462 f. 138 Vgl. schon Abschn. IV, Art. IX, § 122 der Paulskirchenverfassung, wonach die Reichs­ minister eine Pflicht zur Auskunftserteilung traf. 136

C. Funktionen des Bundestags

103

Minder­heitenschutzes ist es nicht vorstellbar, dass für die befragten Mitglieder der Bundesregierung keine Rechtspflicht zur Beantwortung besteht. Eine wirksame Ausübung parlamentarischer Kontrolle setzt ein Befassungsrecht des Bundestags voraus, das Debatte und schlichte Beschlussfassung139 einschließt. Insofern lassen sich die Befugnisse der Abgeordneten aus den §§ 100 ff. GOBT in ihren Kerngehalten durch­ aus auf den verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG so­ wie des Bundestags in seiner Gesamtheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG zurückführen.140 Hiermit korrespondiert die Pflicht der Bundesregierung, auf Fragen der Ab­ geordneten umfassend und rechtzeitig zu antworten.141

103

Materielle Grenzen der Auskunftspflicht finden sich insbesondere im not­ wendigen Schutz des Kernbereichs exekutiver Tätigkeit (s. § 7 Rn. 327 ff.), bei Geheimhaltungsbedürftigkeit und im Schutz des Staatswohls. Sie können sich auch zugunsten betroffener Grundrechtsträger ergeben.

104

Vom Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung umfasst ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere die aktuelle, laufende interne Willensbildung der Regierung selbst, während bereits abgeschlossene Willensbildungsprozesse einen nur abgesenkten Schutz genießen (s. Rn. 476 f. zu entsprechenden Grenzen im Untersuchungsaus­ schussrecht).142 Um die Funktionsfähigkeit der Regierung zu erhalten, sollen Auskünfte nur in dem Maße zu geben sein, als die angefragten Informationen der Regierung ohnehin vorliegen oder in zumutbarem Aufwand zu beschaffen sind (zumutbare Rekonstruktionspflichten).143 Beruft sich die Bundesregierung auf einen dieser Gründe, um ein Informationsverlangen ab­ zulehnen, hat sie ihre Entscheidung zu begründen.144 Die Berufung auf den Schutz des Kern­ bereichs exekutiver Tätigkeit ist der Bundesregierung jedoch insofern durch das Bundesver­ fassungsgericht erschwert worden, als das Regel-/Ausnahmeverhältnis des Informationsrechts in diesem Bereich zugunsten des Parlaments umgekehrt wurde.145 Infolgedessen besteht nun­ mehr ein erhöhter Begründungsaufwand der Bundesregierung, will sie dem Parlament den Informationszugriff verweigern.146

105

Nach bisheriger Staatspraxis ist das Befassungsrecht des Bundestags und folglich auch das Recht zur Stellung von Anfragen nicht streng auf die Verbandskompetenz des Bundes beschränkt. Das ist nicht unbedenklich. Dafür spricht, dass die Verfassungsorgane des Bundes

106

139 Für nicht in Gesetzesform, aber verbindlich gefasste Beschlüsse bedarf es hingegen einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage, vgl. statt vieler Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 48. 140 Sinner, ZParl 2012, 313 (314). 141 Zur entsprechenden Lage im Landesverfassungsrecht NWVerfGH, DVBl. 1994, 48; vgl. auch SachsAnhVerfG, NVwZ 2000, 671 ff.; NWVerfGH, NVwZ-RR 2009, 41 (43); Harks, JuS 2014, S. 979 (979 f.); BVerfG, Urt. V. 7.11.17, 2 BvE 2/11, 3. Leitsatz. 142 BVerfGE 137, 185 (234) – Rüstungsexport. 143 BVerfGE  124, 161 (197)  – Überwachung von Bundestagsabgeordneten; BayVerfGH, NVwZ 2007, 204 ff.; Harks, JuS 2014, 979 (981); Wolf, Informationsansprüche des Parlaments gegenüber der Regierung, 2017, S. 43 f., mit Hinweis auf die Verfassungsorgantreue (hierzu § 1, Rn. 158 ff.). 144 BVerfG, Urt. V. 7.11.17, 2 BvE 2/11, 9. Leitsatz. 145 BVerfGE 124, 78 (122) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse. 146 BVerfGE 124, 78 (128 f.) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse.

104

§ 2 Bundestag

sich zu Vorgängen in Bundesländern ein Bild machen können müssen. Dieser Gedanke recht­ fertigt aber nicht die Relativierung der bundesstaatlichen Kompetenzzuordnung, sodass Ver­ suche des Bundestags, durch Information Landespolitik zu steuern, verfassungswidrig wären. Freilich sind im „unitarischen Bundesstaat“ (Hesse) des Grundgesetzes die Grenzen zwischen den Sphären des Bundes und der Länder, etwa im Bereich des Vollzugs von Bundesrecht durch die Landesverwaltungen (vgl. Art. 83 GG), nicht scharf.

107

Die parlamentarische Kontrolle der Exekutive ist in verfassungsprozessualer Weise abgesichert. Das Parlament kann im Rahmen des Organstreitverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (i. V. m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG) seine Rechte gegenüber der Bundesregierung geltend machen. Hiervon werden im Regelfall Fraktionen der parlamentarischen Opposition in Prozessstandschaft des gesamten Parlaments (s. § 8 Rn. 388 ff.) Gebrauch machen.147 3. Kontrolle der Nachrichtendienste und der Streitkräfte

108

Im Bereich der Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes (Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst) gibt es Besonderheiten aus Geheimschutzgründen: Insbesondere das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags zur Kontrolle der nachrichtendienst­ lichen Tätigkeit des Bundes (Art. 45d GG) verwirklicht in seinem Zuständig­ keitsbereich ebenfalls die Kontrollfunktion des Bundestags. Das Parlamentarische Kontrollgremium ist kein Ausschuss des Bundestags, sondern vielmehr ein mit besonderen Kontrollrechten ausgestattetes ständiges Hilfsorgan des Bundestags (s. dazu Rn. 531 ff.).148 Daneben bestehen weitere Sondergremien des Bundestags aus Geheimschutzgründen (hierzu ausführlich unten Rn. 530 ff.).

109

Eine spezifische Kontrolle der Bundeswehr erfolgt insbesondere nach Maßgabe der Art. 87a Abs. 1 u. Abs. 2 GG.149 Insbesondere im Bereich der Auslandseinsätze der Bundeswehr ist zudem durch umfassende parlamentarische Zustimmungsrechte eine wirksame Kontrolle des ‚Parlamentsheers‘ durch das Parlament ermöglicht worden.150 Zudem ist der Bundestag von Verfassung wegen verpflichtet, einen Verteidigungsausschuss einzurichten (Art. 45a Abs. 1 Var. 2 GG; s. u. Rn. 439 ff.). 4. Kontrolle in Haushaltsfragen

110

Neben den ausdrücklich geregelten Fragerechten (s. o. Rn. 96 ff.) hat sich in der Praxis ein als parlamentarische Konventionalregel seit Langem anerkanntes haushaltsausschussspezifisches Fragerecht herausgebildet. Es handelt sich dabei um 147

Sinner, ZParl 2012, 313. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 45d, Rn. 24 f., (Lfg. 87, März 2019). 149 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 29. 150 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 29, Rn. 79 ff. 148

C. Funktionen des Bundestags

105

so genannte Berichtsanforderungen, die Mitglieder des Haushaltsausschusses über die Ausschussverwaltung an das Bundesministerium der Finanzen zu allen politischen Themen mit Bezug zum Bundeshaushalt – dies sind letztlich nahezu alle Fragen in Bundeszuständigkeit151 – stellen können. Diese – im Schrifttum bislang kaum zur Kenntnis genommenen – Berichtsanforderungen haben in der Praxis eine herausragende Bedeutung. Im Gegensatz zu dem eng begrenzten Recht, schriftliche Fragen zu stellen, können Berichtsanforderungen beliebig häufig und be­ liebig umfangreich gestellt werden; sie werden erfahrungsgemäß zudem ausführlicher und weitaus rascher beantwortet. Für die Bundesregierung ist das Instrument ebenfalls vorteil­ haft, da die Berichtsanforderungen – wie alle Ausschussdrucksachen – nicht-öffentlich sind. Das zusätzliche Fragerecht befördert damit zwar die Information eines Teils des Parlaments, mindert aber die Zugänglichkeit der Informationen für die Öffentlichkeit und ist daher nicht ohne Ambivalenz.

111

Der Ermöglichung der Haushaltskontrolle durch den Bundestag (und den Bun­ desrat) dienen außerdem die Rechnungslegung durch den Bundesminister der Finanzen (Art. 114 Abs. 1 GG) sowie die Berichte des Bundesrechnungshofs (Art. 114 Abs. 2 S. 3 GG).152 Über die „Entlastung“ der Bundesregierung gemäß Art. 114 Abs. 1 GG entscheiden Bundestag und Bundesrat gleichberechtigt und un­ abhängig von einander; zuvor beraten der Rechnungsprüfungsausschuss als Unter­ ausschuss des Haushaltsausschusses des Bundestags sowie der Finanzausschuss des Bundesrats über die Entlastung.153

112

VII. Öffentlichkeitsfunktion Im Gegensatz zu den (überwiegend) nicht-öffentlichen Ausschusssitzungen154 sind die Sitzungen des Plenums des Deutschen Bundestags öffentlich (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG). So kommt etwa Debatten und Entschließungen zu Themen und Problemen, die aufgrund ihrer aktuellen oder auch ‚überzeitlichen‘ Bedeutung für das Gemeinwesen einer öffentlichen Erörterung bedürfen, eine erhebliche Hör- und Sichtbarkeit im (auch außerparlamentarischen) politischen Prozess zu. 151 Beachte in diesem Zusammenhang zudem den Einfluss des Bundes auf Länderangele­ genheiten über Bundesfinanzhilfen und korrespondierende Prüfungsrechte, s. Art. 114 Abs. 2 S. 2 GG. 152 Einzelheiten hierzu bei Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 15; ders., Verfassungs­ recht, Bd. 1, 2011, § 26, Rn. 273 ff. 153 Vgl. Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 15, Rn. 58; ders., Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 26, Rn. 282. 154 Für Untersuchungsausschüsse sieht Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG jedoch die öffentliche Verhand­ lung als Normalfall an; freilich kann die Öffentlichkeit gem. Art. 44 Abs. 1 S. 2 GG auch hier ausgeschlossen werden. Ansonsten gilt nach § 69 Abs. 1 S. 1 GOBT der Grundsatz der Nicht­ öffentlichkeit von (Fach)Ausschusssitzungen – beachte aber § 69 Abs. 1 S. 2 GOBT (Zulassen der Öffentlichkeit für bestimmte Verhandlungsgegenstände)  sowie § 70 GOBT (öffentliche Anhörungen).

113

106

§ 2 Bundestag

114

Das Parlament ist hierbei ein Forum der öffentlichen Information und Diskussion, das den Prozess politischer Willensbildung in der Bevölkerung widerspiegeln soll.155 Es ist Aufgabe der Debatte, die Ergebnisse und den Verlauf der parlamentarischen Entscheidungsprozesse, die sich überwiegend in den fachlich zuständigen Ausschüssen abspielen, publik zu machen. Hierin erfüllt sich die parlamentarische „Öffentlichkeitsfunktion“156 des Bundestags, die auch der Herausbildung der politischen Einheit der Bundesrepublik Deutschland und damit ihrer Integration als juristischer Einheit dient. Insoweit verknüpft sich die Öffentlichkeitsfunktion mit der bereits beschriebenen Integrationsfunktion (s. o. Rn. 57 ff.).

115

Dem Bürger vermittelt sich so – für einige wenige unmittelbar, für die Mehr­ zahl dagegen mittelbar über die Medienberichterstattung – zumindest ein Teil der zur Meinungsbildung einschließlich der Wahlentscheidung notwendigen In­ formationen. Dies kann zu einer effektiven Verantwortlichkeit der Abgeordneten gegenüber ihren Wählern führen.

116

Verkannt werden darf freilich nicht, dass die öffentlichen Debatten des Bundes­ tags heute eher der Darstellung als der Herstellung politischer Lösungen dienen mit den üblichen und berechenbaren Rollenverteilungen zwischen Regierungslager und Opposition. Regelmäßig geht es bei den Parlamentsdebatten nicht mehr um das Ringen um Entscheidungen, da diese längst insbesondere auf Parteitagen, in Ko­ alitionsrunden (s. § 7 Rn. 104 f.) oder in den nicht öffentlichen Parlamentsausschüs­ sen gefunden worden sind. Es geht insoweit um die bloße Begründungsillustration bereits getroffener Entscheidungen. Dies ist einerseits Folge einer unglücklichen Informalisierung der politischen Entscheidungsvorgänge in häufig ungeregelten Paragremien, ist aber andererseits auch als Konsequenz der komplex ausdifferen­ ziert arbeitsteiligen Struktur eines modernen Parlamentarismus hinzunehmen. Interessanter und überzeugender werden dadurch die Parlamentsdebatten aber gewiss nicht.

117

In problematischer157 Weise wird die parlamentarische Debatte jedoch durch eine Überfrachtung der Bundestagssitzungen mit viel zu vielen Tagesordnungspunkten verkürzt. Oft­ mals sind die Sitzungen so angelegt, dass mehr als fünfzig Beratungsgegenstände zu beraten sind, und zwar bis tief in die Nacht oder gar zum frühen Morgen. Ende 2019 hat der Bundestag zur Schonung von Mitgliedern und Mitarbeitern des Bundestags die über lange Zeit üblichen Nachtsitzungen an Donnerstagen in Sitzungswochen abgeschafft. Die Praxis behilft sich im Übrigen damit, die Tagesordnungspunkte nach Wichtigkeit von früh nach spät anzuordnen. Bei den vorderen Beratungsgegenständen verläuft die Debatte ganz „normal“. Für die späteren Tagesordnungspunkte jedoch wird festgelegt, dass die Reden lediglich „zu Protokoll gegeben“ 155

Thedieck, JA 1988, S. 423 (426). Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 573; Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 15, in Anlehnung an Bagehot, The English Constitution, 1867, S. 151 f., der neben der „elective function“, „expressive function“, „teaching function“ und „legislation function“ von einer „informing function“ des Parlaments spricht (Bagehots Lehre wurde freilich an der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert entwickelt). Stern zählt Öffentlichkeitsfunktion und Leitungsverantwortung zur Repräsentationsaufgabe (Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, II, 1980, S. 47). 157 Kritisch auch Kornmeier, DÖV 2010, 676. 156

C. Funktionen des Bundestags

107

werden. Sofern nicht eine Fraktion – entgegen den parlamentarischen Usancen – widerspricht, wird der Tagesordnungspunkt damit mündlich nicht behandelt; eine parlamentarische Debatte findet überhaupt nicht statt. Die schriftlichen Fassungen der ungehaltenen Reden sind allein im Plenarprotokoll nachzulesen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 78 Abs. 6 GOBT.

Gerade wegen seiner herausragenden Position in der Demokratie, ist der vom Bundestag selbst nur begrenzt gewährte Informationszugang über seine eigenen Angelegenheiten (z. B. über die immer wieder umstrittenen Informationsreisen von Abgeordneten) problematisch. Der Bundestag sollte stärker als bisher beherzi­ gen, dass nicht nur er Informationen von der Regierung fordern kann, sondern dass er als unmittelbar demokratisch legitimierte Institution selbst größtmögliche demo­ kratische Transparenz gegenüber seinen Bürgern und der Presse praktizieren sollte.

118

Das Parlament ist längst nicht mehr das Forum der Nation, sondern nur noch ein Forum unter vielen, selbst wenn es noch immer besonders wichtig sein mag. Das parlamentarische Verfahren stellt nur noch eine Spielart des demokratischen Kommunikationsprozesses dar: Zunehmend wichtiger wird die Darlegung der einschlägigen politischen Argumente in den Massenmedien, Talk-Runden, Fern­ sehduellen etc. Aber auch Interviews sind für die öffentliche Meinungsbildung (z. B. „Sommerinterviews“) häufig faktisch wichtiger als Parlamentsdebatten (selbst wenn diese im Fernsehen und Internet übertragen werden).

119

Im 21. Jahrhundert ist der Bundestag  – zunehmend, obschon bislang keines­ falls in einem die technischen Möglichkeiten voll ausschöpfendem Maß – auch ein digitales Parlament: Parlamentsöffentlichkeit ist zunehmend digitale Öffentlichkeit, vor allem über den Internetauftritt des Bundestags selbst (u. a. mit digitalem Parlamentsfernsehen, Dokumente-Datenbanken und multimedialen Informations­ angeboten). Daneben tritt die Beteiligung des Bundestags, der Fraktionen und der Abgeordneten in sozialen Netzwerken. Letzteres ist aus demokratietheoretischen Erwägungen unter Umständen nicht unproblematisch, da sich die parlamentari­ sche Öffentlichkeitsarbeit insoweit in ein Forum begibt, welches von (häufig aus­ ländischen) privaten (Wirtschafts-)Unternehmen (Plattformen) abhängig ist. Ein digitales Parlament trifft zunehmend auf eine digitale Regierung und konkurriert mit dieser um Aufmerksamkeit.

120

Parlamentsdebatten bilden den Einfluss der gesellschaftlichen Gruppen, Verbände und „gesellschaftliche[n] Gebilde aller Art“158 auf den Prozess der politi­ schen Willensbildung regelmäßig nicht bzw. nicht hinreichend ab: Der Lobbyeinfluss auf die Entscheidungsvorgänge in der Gesetzgebung und in der Regierung bleibt verborgen.159 Einen gewissen Ausgleich können hier öffentliche Anhörungen (Hearings) u. a. von Verbandsvertretern, Lobbyregister und Informationspflichten über Lobbykontakte bieten. In Ausnahmefällen können massive Lobbyeinflüsse auch Gegenstand von Untersuchungsausschüssen sein.

121

158

BVerfGE 20, 56 (99, 100) – Parteienfinanzierung I. Vgl. zu diesem Themenkomplex die Beiträge in Lejeune (Hrsg.), Interessengeleitete Ge­ setzgebung. Lobbyismus in der Demokratie, 2015. 159

108

§ 2 Bundestag

D. Handlungsformen des Bundestags 122

Mit der geschilderten Funktionenvielfalt (s. o. Rn. 51 ff.) korrespondiert eine Vielzahl von Handlungsformen, deren sich der Bundestag bedienen kann. Einige Handlungsformen haben funktionenübergreifende Bedeutung (z. B. rechtsverbind­ liche Beschlüsse), andere sind spezifisch auf eine bestimmte Funktion bezogen (z. B. Kreationsakte zur Wahrnehmung der Kreationsfunktion).

123

Der Bundestag handelt zunächst durch unterschiedlich qualifizierte Beschlüsse: Er fällt – erstens – rechtsverbindliche Beschlüsse (z. B. Beschlüsse von Gesetzen, Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG, oder Herbeizitieren von Mitgliedern der Bundes­ regierung, Art. 43 Abs. 1 GG – s. o. Rn. 96), – zweitens – staatsleitende Beschlüsse (z. B. Feststellung des Verteidigungsfalls, Art. 115 a Abs. 1 S. 1 GG), welche frei­ lich auch verbindliche Rechtsfolgen nach sich ziehen können, wie gerade das Bei­ spiel des Verteidigungsfalls zeigt,  – drittens  – organisationsinterne Beschlüsse (z. B. Ausschluss der Öffentlichkeit), – viertens – schlichte Parlamentsbeschlüsse (z. B. politische Entschließungen) sowie – fünftens – Kreationsakte (z. B. Wahl des Bundeskanzlers, Art. 63 Abs. 1 GG).

124

Hinzu kommt die Befugnis, Verwaltungsakte, Rechtsgeschäfte und Realakte vorzunehmen (z. B. Einstellung von Bediensteten, Zahlung von Dienstreisekosten, Rückforderungsbescheide nach § 31a PartG). Der Bundestag ist schließlich zu Prozesshandlungen (z. B. im Organstreitverfahren, § 63 BVerfGG) befugt.

E. Verfahrensgrundsätze des Bundestags I. Allgemeines 125

Die Regelung des Verfahrens im Bundestag gehört grundsätzlich zur Geschäfts­ ordnungsautonomie des Bundestags (s. Rn. 330 ff.). Das bedeutet, dass wesentliche Verfahrensvorschriften in der GOBT enthalten sind.

126

Allerdings sind verschiedene verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten, so in allgemeiner Hinsicht insbesondere Art. 42 GG zur Öffentlichkeit der Par­ lamentssitzungen (s. bereits Rn. 113 ff.) und zum Mehrheitserfordernis. Darüber hinaus lassen sich für das Gesetzgebungsverfahren den Art. 76 bis 82 GG weitere Regelungen entnehmen.160 Schließlich enthalten spezielle Vorschriften zum Teil konkretisierende, zum Teil abweichende Verfahrensvorgaben (bspw. Art. 23 Abs. 1 S. 3, Art. 79 Abs. 2 GG).

127

Autonom in der Ordnung seiner Geschäfte, ist der Bundestag bei seiner Ausge­ staltung des parlamentarischen Entscheidungsprozesses gleichwohl an die grund 160

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 21, Rn. 167 ff.

E. Verfahrensgrundsätze des Bundestags

109

gesetzlichen Vorgaben der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie ge­ bunden. Er hat bei der Ausgestaltung und Anwendung seiner Geschäftsordnung insbesondere die Mitgliedschaftsrechte einzelner Abgeordneter (s. Rn. 275 ff.) so­ wie die Teilhabe parlamentarischer Zusammenschlüsse (Fraktionen, Gruppen; s. Rn. 370 ff.) zu wahren und Minderheiten zu schützen (s. Rn. 277 f.).161

II. Selbstversammlungsrecht Wann und wie oft der Bundestag zusammenkommt, bestimmt er selbst. Im Unterschied zum Reichstag in der Reichsverfassung von 1871 verfügt der Bundes­ tag somit über ein Selbstversammlungsrecht (Art. 39 Abs. 3 S. 1 GG). Der Bun­ destag bestimmt i. d. R. den Schluss und die Wiederaufnahme seiner Sitzungen.

128

Allerdings haben sowohl der Bundespräsident als auch der Bundeskanzler (wie auch ein Drittel der Abgeordneten) gemäß Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG das – heute eher ‚theoretische‘ – Recht, den früheren Wiederbeginn der Sitzungen des Bundestags zu verlangen. Prozedural ist dies so ausgestaltet, dass ein solches Verlangen dem Bundestagspräsidenten gegenüber erklärt wird und dieser dann den Bundestag ein­ zuberufen hat (s. dazu § 5 Rn. 38). Der Bundestagspräsident kann den Bundestag auch ohne ein solches Verlangen nach Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG einberufen (Art. 39 Abs. 3 S. 2 GG).

129

III. Öffentlichkeit Gemäß Art. 42 Abs. 1 GG verhandelt der Bundestag (als Plenum) grundsätzlich öffentlich (s. bereits Rn. 113 ff.). Durch diesen Grundsatz ermöglicht das Grund­ gesetz die Verantwortlichkeit der Repräsentanten vor dem Wahlvolk.

130

Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auch  – dies ist besonders interessant – auf Antrag der Bundesregierung kann der Bundestag beschließen, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Wegen der besonderen Bedeutung der Öffentlichkeit für die repräsentative Demokratie ist für den ausnahmsweisen Ausschluss der Öffentlichkeit eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, allerdings nur der anwesenden, nicht der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags (Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG).

131

In der Praxis hat der Bundestag – soweit ersichtlich – die Öffentlichkeit noch nie von Ple­ nardebatten ausgeschlossen.162

132

161

BVerfGE 70, 324 (325, 354) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste; die Bedeutung der Geschäftsordnung für die verfassungsrechtliche Stellung von Abgeordneten verdeutlicht auch Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG; hierzu § 8 Rn. 367 ff. 162 Zeh, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 53, Rn. 28.

110

§ 2 Bundestag

133

Problematisch im Hinblick auf die Öffentlichkeit der Sitzungen kann freilich nicht nur der förmliche Ausschluss der Öffentlichkeit sein. Der Öffentlichkeitsgrundsatz kann auch ­faktisch ausgehöhlt werden, etwa wenn Reden zu vorgerückter Stunde nur noch zu Protokoll gegeben werden (hierzu näher  o. Rn. 117).

134

Demgegenüber gilt das Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Beratungen in den Ausschüssen umgekehrt: Sie finden nach § 69 Abs. 1 S. 1 GOBT grundsätzlich nicht öffentlich statt (s. auch Rn. 113), es sei denn, für einzelne Verhandlungs­ gegenstände wird die Öffentlichkeit ausdrücklich zugelassen.

135

Diese Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zu einem Grundsatz der Nichtöffentlichkeit von Ausschusssitzungen ist problematisch, weil die wesentlichen inhaltlichen Beratungsgänge im parlamentarischen Alltag in den Ausschüssen stattfinden, wohingegen die Plenardebatte die sachpolitische Argumentation oftmals stark verkürzt. Es ist durchaus zwei­ felhaft, ob dem Öffentlichkeitsgebot des Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG genügend Rechnung getragen wird, wenn der weit überwiegende Teil der faktischen Parlamentsarbeit, nämlich die Arbeit der Ausschüsse, hinter verschlossenen Türen stattfindet. Zwar können für die Nichtöffentlich­ keit die Funktionsfähigkeit der Parlamentsausschüsse, die Erleichterung von Kompromissen zwischen den Fraktionen, und auch die Vermeidung von Schaufensterdebatten sprechen. Das Beispiel der Landtage, in denen die Ausschüsse überwiegend öffentlich tagen, lehrt jedoch, dass eine behutsame Herstellung von Öffentlichkeit der Ausschüsse durchaus politisch prak­ tikabel sein kann.

IV. Abstimmungen 1. Allgemeines 136

Der auf dem Transparenzprinzip begründeten Öffentlichkeit der Plenarsitzung (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG; s. o. Rn. 113, 130 ff.) entspricht die – für den Betr­achter gleich­ falls nachvollziehbare (sichtbare) – Abstimmung der anwesenden Abgeord­neten durch Handzeichen bzw. Aufstehen oder Sitzenbleiben nach § 48 Abs. 1 GOBT.

137

Nur wenn dies durch Bundesgesetz oder in der GOBT – so z. B. in § 4 GOBT für die Wahl des Bundeskanzlers – bestimmt wird, erfolgt die Abstimmung geheim, d. h. mit verdeckten Stimmzetteln (§ 49 Abs. 1 GOBT; s. a. § 1 Rn. 73).

138

Besteht innerhalb des Sitzungsvorstandes, den nach § 8 GOBT der Präsident und zwei Schriftführer bilden, Uneinigkeit über ein gezähltes Stimmergebnis, erfolgt eine Gegenprobe (§ 51 Abs. 1 S. 1 GOBT). Auf besondere Anordnung des Sit­ zungsvorstandes hin erfolgt diese durch den sog. „Hammelsprung“: Dabei haben alle anwesenden Abgeordneten den Plenarsaal zu verlassen und die erneute Ab­ stimmung erfolgt dann durch das zu zählende Wiederbetreten desselben durch die mit „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“ gekennzeichneten Türen (§ 51 Abs. 2 GOBT).

139

Auf Antrag einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bun­ destags ist eine namentliche Abstimmung durchzuführen, bei der jeder Abstim­

E. Verfahrensgrundsätze des Bundestags

111

mende eine Stimmkarte mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“ einschließlich seines Namens abzugeben hat (§ 52 GOBT). Eine namentliche Abstimmung kann nicht in denjenigen Fällen beantragt werden, in denen Gesetzes- oder Geschäfts­ ordnungsrecht eine geheime Wahl mit verdeckten Stimmzetteln verlangen (s. o. Rn. 137). Außerdem schließt § 53 GOBT eine namentliche Abstimmung in folgen­ den Fällen aus: Abstimmungen über die Stärke eines Ausschusses, die Abkürzung von Fristen, die Sitzungszeit und die Tagesordnung, die Vertagung der Sitzung, die Vertagung der Beratung oder den Schluss der Aussprache, die Teilung von Fragen und die Überweisung an einen Ausschuss. Einem Abgeordneten, der an einer na­ mentlichen Abstimmung (oder an einer Wahl mit Namensaufruf) nicht teilnimmt, ohne ordnungsgemäß beurlaubt zu sein, werden 100 Euro von der monatlichen Kostenpauschale abgezogen (§ 13 Abs. 2 S. 3 GOBT i. V. m. § 14 Abs. 2 S. 1 AbgG). 2. Mehrheit Für eine Beschlussfassung im Bundestag ist regelmäßig die Abstimmendenmehrheit erforderlich, also die Mehrheit der im Plenum abgegebenen Stimmen (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Soweit das Grundgesetz aber die „Mehrheit der Mitglie­ der“ des Bundestags vorschreibt, ist für eine Entscheidung nach der Legaldefinition des Art. 121 GG die Mitgliedermehrheit (sog. absolute Mehrheit) notwendig, also die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl (s. dazu § 1 Rn. 120 ff.).

140

Dies gilt insbesondere für die Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG (s. dazu § 7 Rn. 51 ff.).163 Hier soll die erforderliche Mitgliedermehrheit im Bundestag das Ver­ trauen des Bundestags in den Bundeskanzler und die Bundesregierung zum Ausdruck bringen und damit eine erfolgreiche Amtsführung der Bundesregierung insbesondere im Bereich der Haushaltsbewilligung und der materiellen Gesetzgebung ermöglichen. Wegen einer ebenfalls großen Vertrauensstellung werden auch der Wehrbeauftragte des Bundestags (s. u. Rn. 589) sowie der Beauftragte für die Opfer der SED-Diktatur (s. u. Rn. 589 f.) mit Mitgliedermehr­ heit gewählt. Eine qualifizierte Mitgliedermehrheit (s. § 1 Rn. 131) ist nach Art. 79 Abs. 2 GG für Verfassungsänderungen notwendig („Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages“).

141

3. Beschlussfähigkeit Vom Erfordernis einer Mitgliedermehrheit (s. Rn. 140 f.) abgesehen, ist der Bun­ destag grundsätzlich kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie frei, die Voraus­ setzungen seiner Beschlussfähigkeit in der Geschäftsordnung zu regeln.164 Im Grundgesetz selbst ist die Beschlussfähigkeit des Bundestags nicht ausdrücklich 163 Deswegen wird die Mitgliedermehrheit im Bundestag auch „Kanzlermehrheit“ genannt; s. § 7 Rn. 52. 164 BVerfGE 44, 308 (314).

142

112

§ 2 Bundestag

geregelt; teilweise anders geregelt ist dies auf Landesebene für Landespar­lamente (vgl. etwa Art. 43 Abs. 1 VvB165). Nach § 45 GOBT gilt insofern Folgendes: Grund­ sätzlich ist der Bundestag beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind (§ 45 Abs. 1 GOBT). Das ist häufig – ins­ besondere abends – nicht der Fall. Deshalb gilt darüber hinaus der Bundestag so lange als beschlussfähig, wie seine Beschlussunfähigkeit nicht ausdrücklich festgestellt ist (vgl. § 45 Abs. 2 GOBT). 143

Trotz mancher Bedenken mit Blick auf das grundgesetzliche Prinzip der reprä­ sentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 S. 1, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) hat diese Rege­ lung einer verfassungsgerichtlichen Prüfung bisher standgehalten.166 Insbesondere ist bei einer Gesamtschau der parlamentarischen Arbeitsweise mit Blick auf die arbeitsteilige Funktionsweise des Bundestags (Ausschuss- und Fraktionsarbeit) die Bedeutung von Schlussabstimmungen als weniger gewichtig einzuordnen. Der ge­ botene Schutz parlamentarischer Minderheiten realisiert sich zudem in der Mög­ lichkeit, die Feststellung der Beschlussunfähigkeit zu beantragen, auch wenn für einen solchen Antrag mindestens anwesende fünf Prozent der Mitglieder des Bun­ destags (oder mindestens eine Fraktion) erforderlich sind (§ 45 Abs. 2 GOBT).167

144

Aus diesem 5 %-Quorum für den Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit ergibt sich zugleich die Möglichkeit des Auftretens der sog. absoluten Beschlussunfähigkeit des Bundestags: Sind weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestags anwesend, so kann der Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit gemäß § 45 Abs. 2 GOBT (jedenfalls von Einzelabgeordneten) nicht ordnungsgemäß gestellt werden.168

145

Eine verfassungsrechtlich (indirekt) normierte Anwesenheitspflicht von Abgeordneten be­ steht nur beim Eid des Bundespräsidenten vor den „versammelten Mitgliedern“ des Bundestags und Bundesrats (Art. 56 S. 1 GG).169 Das wirkt heute wie aus der Zeit gefallen (s. allgemein zum Amtseid auch § 1 Rn. 83). Außerdem beschließen die Fraktionen häufig rechtlich unver­ bindliche Anwesenheitspflichten für ihre Mitglieder.

165

Art. 43 Abs. 1 VvB lautet: „Das Abgeordnetenhaus ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte der gewählten Abgeordneten anwesend ist.“ Verfassungspolitisch wird die Streichung oder Einschränkung dieser Norm diskutiert, da sie sich etwa in Katastrophenlagen (z. B. bei Pandemien) als zu starr erweisen könnte. Während der Corona-Pandemie 2020 schlug der Präsident des Abgeordnetenhauses die Streichung von Art. 43 Abs. 1 VvB durch Verfassungs­ änderung vor. 166 BVerfGE 44, 308 (314); für eine strengere Prüfung hingegen Pracht / Ehmer, JuS 2019, 531 (535), welche mit – nicht zwingenden – systematischen Argumenten (Art. 44 Abs. 1 S. 1, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) die Anwesenheit von mindestens einem Viertel der Abgeordneten fordern. 167 Vgl. im Einzelnen die Regelungen des § 45 Abs. 2–4 GOBT. 168 Pracht / Ehmer, JuS 2019, 531 (535). 169 Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, 7. Auflage 2018, Art. 56, Rn. 17.

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

113

4. Pairing Im Bundestag können nur die im Plenum anwesenden Abgeordneten abstimmen. Im englischen Unterhaus entwickelt und in die deutsche Parlamentspraxis ohne Grundlage in der Geschäftsordnung übernommen wurde das sog. „Pairing“. Bei diesem Verfahren vereinbaren die in Konkurrenz abstimmenden Fraktionen, dass etwa durch Reise oder Krankheit an der Stimmabgabe verhinderte Abgeordnete der einen Fraktion durch das Fernbleiben eines Mitgliedes der Gegenseite aus­ geglichen werden, um die grundsätzlich bestehenden Mehrheitsverhältnisse auch bei Abwesenden zu wahren, ohne dass einzelne Abgeordnete „auf der Tragbahre in das Plenum gebracht werden müssen“.170

146

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags I. Wahl und Wahlprüfung Der Bundestag besteht grundsätzlich, vorbehaltlich gesetzlich zugelassener Abweichungen, insbesondere etwaiger Überhang- und Ausgleichsmandate, aus mindestens 598 Abgeordneten. Diese Zahl ist nicht grundgesetzlich vorgegeben, sondern wird von § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG171 normiert. Sie stellt sich als politischer Kompromiss zwischen den z. T. widerstreitenden Zielen einer möglichst unmit­ telbaren demokratischen Legitimation einerseits und der Funktionsfähigkeit des Parlaments andererseits dar.

147

1. Wahl a) Aktive Wahlberechtigung Aktiv wahlberechtigt ist nach Art. 38 Abs. 2 Hs.  1 GG, wer mindestens 18 Jahre alt172 ist. Die Übereinstimmung dieser Altersgrenze für die aktive Wahl­ berechtigung mit der bürgerlich-rechtlichen Regelung der Volljährigkeit in § 2 BGB ist – anders als bei der passiven Wahlberechtigung (Art. 38 Abs. 2 Hs. 2 GG; s. u. Rn. 150) – nicht verfassungsgeboten. Da die Ausübung der Staatsgewalt vom „Volk“ ausgeht (s. Art. 20 Abs. 2 GG)173 und „Volk“ nach überwiegender Auf­ 170

S. hierzu: Butzer / Henkenötter, ZG 1995, 328 ff.; zum „pairing“ in der russischen Duma vgl. Rossi / Syssoeva, AVR 38 (2000), 63 ff. 171 Bundeswahlgesetz vom 23.7.1993 (BGBl. I, S. 1288, 1594), zul. geänd. durch Gesetz v. 18.6.2019 (BGBl. I, S. 834). 172 Bis 1970 war die Altersgrenze für die Wahlberechtigung 21 Jahre, was der damals gel­ tenden Regelung über den Beginn der vollen Geschäftsfähigkeit ab 21 Jahren entsprach. 173 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 77 ff.

148

114

§ 2 Bundestag

fassung als ‚deutsches Volk‘ gelesen wird,174 sind nur Deutsche im Sinne des Art. 116 GG175 wahlberechtigt (vgl. § 12 Abs. 1 BWahlG). Bei Wahlen auf Kommu­ nalebene ist dies gem. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG anders: Hier sind auch Staatsangehö­ rige anderer EU-Staaten mit Wohnsitz in der jeweiligen Kommune wahlberechtigt. 149

Einige Bundesländer haben das Mindestalter der Wahlberechtigung bei Land­ tagswahlen auf 16 Jahre abgesenkt,176 was von einigen Stimmen inzwischen auch für die Bundestagswahl gefordert wird. Es erscheint aber nicht konsequent, Jugend­ lichen erst ab 18 Jahren, also mit der Volljährigkeit, die volle Geschäftsfähigkeit zuzuerkennen, das politisch bedeutsame Wahlrecht aber schon mit 16 Jahren zu gewähren. Die typisierende Einstufung der Reife und Entscheidungsfähigkeit von Menschen sollte nur zu einer einheitlichen Beurteilung für Wahlberechtigung und Geschäftsfähigkeit führen. Die mit der Öffnung des Wahlalters für 16-Jährige (im Geheimen) verbundenen Erwartungen einer Verbesserung der Wahlchancen be­ stimmter einzelner Parteien haben sich ohnehin nicht realisiert. b) Passive Wahlberechtigung und Einreichung von Wahlvorschlägen

150

Wählbar, also passiv wahlberechtigt, bei Wahlen zum Deutschen Bundestag ist gemäß Art. 38 Abs. 2 Hs. 2 GG, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. Derzeit besteht das passive Wahlrecht zum Deutschen Bun­ destag also mit Vollendung des 18. Lebensjahrs (vgl. § 2 BGB). Somit knüpft im Ergebnis derzeit sowohl das aktive Wahlrecht (s. o. Rn. 148) wie auch das passive Wahlrecht an die Vollendung des 18. Lebensjahrs an. Zudem ist nur wählbar, wer „Deutscher“ im Sinne des Art. 116 GG ist (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 BWahlG). Unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 BWahlG kann die Wählbarkeit ausgeschlos­ sen sein bzw. ausgeschlossen werden.

151

Mit der verfassungs- und einfachrechtlichen Regelung der passiven Wahlberech­ tigung ist freilich noch nichts darüber gesagt, in welchem Verfahren die konkreten (personellen) Wahlvorschläge für eine Bundestagswahl festgelegt werden. Das Verfahren der Einreichung von Wahlvorschlägen wird in den §§ 18 ff. BWahlG und – konkretisierend – in den §§ 32 ff. BWO geregelt. Dabei kommt den politi-

174 Vgl. nur BVerfGE 83, 37 – Ausländerwahlrecht I; deutliche Kritik bei H. Meyer, JZ 2016, 121.  175 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 1, Rn. 21 ff. 176 In den Ländern: Brandenburg (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BbgLWahlG), Freie Hansestadt Bre­ men (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 BremWahlG), Freie und Hansestadt Hamburg (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 BüWG), Schleswig-Holstein (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 LWahlG); für Kommunalwahlen in den Ländern: BadenWürttemberg (§§ 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 LWG, § 10 Abs. 1 LKrO), Berlin (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 LWG), Mecklenburg-Vorpommern (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 LKWG M-V), Niedersachsen (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 NKomVG), Nordrhein-Westfahlen (§ 7 KWahlG), Sachsen-Anhalt (§§ 23 Abs. 1, 21 Abs. 2 KVG LSA), Thüringen (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 ThürKWG).

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

115

schen Parteien eine gewichtige – obschon nicht gänzlich exklusive177 – Rolle zu (vgl. § 18 Abs. 1 Var. 1, § 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG).178 Diese herausgehobene Stellung der politischen Parteien bei der Aufstellung von Wahlvorschlägen kann – unter dem Gesichtspunkt von Wiederwahlchancen einzelner Abgeordneter – zu gewis­ sen Spannungen mit dem freien Mandat der Abgeordneten führen (ausführlich unten Rn. 254 ff.). Das Grundgesetz bindet die politischen Parteien in Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG in ihrer „innere[n] Ordnung“ an „demokratisch[e] Grundsätz[e]“; das gilt (ge­ rade) auch für das Verfahren der Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für Wahlen zu Volksvertretungen wie dem Bundestag.179 Zudem wirken das ak­ tive und passive Wahlrecht zum Bundestag sowie die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in diese „notwendige“ Phase der „Wahlvorbereitung“180 hi­ nein: „Zum Bürgerrecht auf Teilnahme an der Wahl (vgl. Art. 38 GG) gehört auch die Möglichkeit, Wahlvorschläge zu machen“.181 Diese Rechtsposition erfordert Sicherungen durch den Wahlrechtsgesetzgeber:

152

Das rechtsstaatlich-demokratische Verfahren der Aufstellung von Wahlvor­ schlägen durch politische Parteien wird insbesondere durch Mitglieder- oder Vertreterversammlungen der politischen Parteien gewährleistet (§ 21 Abs. 1 bis Abs. 3, § 27 Abs. 5 BWahlG). Daneben haben „mindestens 200 Wahlberechtigt[e]“ die Möglichkeit, gem. § 20 Abs. 3 S. 1 BWahlG – außerhalb des Einflussbereichs politischer Parteien  – Vorschläge für Kreiswahlvorschläge (für Direktkandi­ daten) einzureichen und auf diese Weise ihr Wahlvorschlagsrecht kollektiv zu verwirklichen.

153

In den Bereich der rechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Einreichung von Wahlvorschlägen durch politische Parteien gehört auch die verfassungs- und rechtspolitische Diskussion über die Einführung einer paritätischen Frauenquote bei Wahlen zum Bundestag. Hier ist zunächst danach zu unterscheiden, ob eine solche Quote durch eine politische Partei in ihrer Satzung ‚freiwillig‘ selbst gegeben oder aber durch den Bundesgesetzgeber (grundsätzlich allen) Par­ teien verbindlich vorgeschrieben wird. Die ‚freiwillige‘ Selbstbindung einer politischen Partei an eine paritätische Frauenquote ist nach zutreffender Auffassung verfassungsgemäß, u. a. mit Blick auf die verfassungsrechtliche Position der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 u. S. 2 GG („Parteienfreiheit“).182 Besonders kontrovers diskutiert wird hingegen die Ver­ fassungsmäßigkeit einer gesetzlich verpflichtenden paritätischen Frauenquote, wie sie auf

154

177 Lediglich bei den Kreiswahlvorschlägen (Erststimme), nicht aber bei den Landeslisten (Zweitstimme) kommen auch Vorschläge von außerhalb des Einflussbereichs der politischen Parteien in Betracht (nämlich Vorschläge „von mindestens 200 Wahlberechtigten“, § 20 Abs. 3 S. 1 BWahlG). Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung dieser ‚Ausnahme‘: BVerfGE 41, 399 (417) – Wahlkampfkostenpauschale. 178 Vgl. BVerfGE 89, 243 (251 ff.) – Kandidatenaufstellung. 179 Vgl. BVerfGE 89, 243 (251 ff.) – Kandidatenaufstellung. 180 BVerfGE 89, 243 (251) – Kandidatenaufstellung. 181 BVerfGE 89, 243 (251) – Kandidatenaufstellung. 182 Vgl. H. H.  Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 21, Rn. 353, (Lfg. 73, Dezember 2014), m. w. N. auch zur Gegenauffassung.

116

§ 2 Bundestag

Landesebene in Brandenburg und Thüringen eingeführt und unterdessen landesverfassungs­ gerichtlich jeweils aufgehoben183 wurde. Hier widerstreiten sich – vermittelt über Art. 28 Abs. 1 S. 1 u. S. 2 GG – insbesondere Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG einerseits und Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG andererseits.184

c) Personalisierte Verhältniswahl 155

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags werden nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl nach dem Prinzip der personalisierten Verhältniswahl185 gewählt, das in den Grenzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ausgestaltet ist.

156

Jede wahlberechtigte Person hat nach § 4 BWahlG zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl der Wahlkreisabgeordneten (Direktmandate, § 5 BWahlG) und eine Zweitstimme für die Landesliste (Listenmandate, § 6 BWahlG). Maßgeb­ lich für die (parteipolitische) Zusammensetzung des Bundestags ist nach diesem gemischten Wahlverfahren186 die Zweitstimme, auf die es politisch ankommt, weil sie letztlich über die Zahl der Abgeordneten für die einzelnen Parteien entscheidet. d) Überhang- und Ausgleichsmandate

157

Erreicht eine Partei in einem Land mehr Direktmandate (§ 5 BWahlG), als ihr nach dem Listenergebnis zustünden, werden ihr diese Direktmandate zusätzlich zu den nach dem Verhältnis der Landeslisten errungenen Sitzen als sog. Überhangmandate zugeteilt (§ 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG).187 Sie darf also alle errungenen Direktmandate „behalten“. 183

ThürVerfGH, Urt. v. 15.07.2020, 2/20; BbgVerfG, Urt. v. 23.10.2020, 9/19; vgl. ferner BVerfG, Beschl. v. 15.12.2020, zu einer erfolglosen Wahlprüfungsbeschwerde, mit welcher das Fehlen gesetzlicher Regelungen zur Ausgestaltung des Bundestagswahlrechts gerügt wurde. 184 Die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des Parité-Gesetzes für Landtagswahlen in Brandenburg mündete in eine verfassungsrechtspolitische Diskussion über die Verfassungs­ mäßigkeit eines etwaigen entsprechenden Gesetzes auf Bundesebene: einen Überblick über die Argumentationen bietet die Debatte zwischen Hans Meyer und Martin Morlok / Alexander Hobusch: H. Meyer, NVwZ 2019, 1245 (für die Verfassungsmäßigkeit); Morlok / Hobusch, DÖV 2019, 14; ders. / ders., NVwZ 2019, 1734 (für die Verfassungswidrigkeit); vgl. auch Burmeister / Greve, ZG 2019, 154. 185 § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG: „Grundsätz[e] einer mit der Personenwahl verbundenen Verhält­ niswahl“. 186 Zu Einzelheiten vgl. die Ausführungen zu den Wahlrechtsgrundsätzen und Wahlsystemen im Rahmen des Demokratieprinzips Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7 Rn. 94 ff. 187 Bei der 18. Bundestagswahl (2013) wurden insgesamt 4 Überhangmandate sowie 29 Aus­ gleichsmandate vergeben, dadurch hat sich die Zahl der Abgeordneten von 598 auf 631 er­ höht. Bei der 19. Bundestagswahl (2017) entstanden 46 Überhangmandate und 65 Ausgleichs­ mandate (insgesamt 709 Mandate).

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

117

Diese Überhangmandate werden – seit einer Änderung des BWahlG im Jahr 2013188 – gem. § 6 Abs. 5, Abs. 6 BWahlG189 grundsätzlich (beachte Rn. 166) ent­ sprechend dem Verhältnis der Zweitstimmen der Parteien u. a. durch Ausgleichsmandate der anderen Parteien ausgeglichen (s.u Rn. 164 ff.), um eine Beein­ trächtigung der Erfolgswertgleichheit unter den abgegebenen Stimmen durch die Überhangmandate zu vermeiden.190 Durch die Überhangmandate und die Aus­ gleichsmandate erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze des Parlaments (§ 6 Abs. 5 S. 2, Abs. 7 S. 3 BWahlG).

158

Die Gewährung von Überhangmandaten wird in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und im überwiegenden Teil des Schrifttums als notwendige und systemgerechte Folge der personalisierten Verhältniswahl hingenommen, soweit die daraus folgende verzerrende Wirkung bestimmte Grenzen nicht überschreitet.191 Diese verfassungs­ mäßigen Grenzen bei der Gewährung von Überhangmandaten sah das Bundesverfassungs­ gericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 – d. h. vor Einführung der Vorschriften zu den Ausgleichsmandaten (s. o. Rn. 158) – jedenfalls dann als überschritten an, soweit die Zahl ausgleichslos zugesprochener Überhangmandate über mehr als eine halbe Fraktionsstärke bzw. 15 Mandate hinausgeht.192 Diese dezisionistische Grenzziehung durch das Verfassungs­ gericht ist jedoch nicht zwingend. Dahingehend lässt sich auch die Feststellung des Gerichtes selbst verstehen, diese Anzahl an Überhangmandaten könne nicht gänzlich begründet wer­ den.193 Jedenfalls hat der Bundesgesetzgeber durch die Einführung der Ausgleichsmandate im Jahr 2013 und die seitdem ergangenen Änderungen des BWahlG auf diese Rechtsprechung reagiert.

159

Bei den bisherigen Bundestagswahlen begünstigten Überhangmandate in aller Regel die (nach Zweitstimmen) ohnehin stärkste Partei. Bislang ist es aber auf Bundesebene noch nicht vorgekommen, dass die Regierungsmehrheit von Überhangmandaten abhängig war.194 Ein anderes galt nach der Landtagswahl vom 27. September 2009 für die Landesregierung von Schleswig-Holstein, die ohne die Beschränkungen des Mandatsausgleichs bei Überhangman­ daten über keine parlamentarische Mehrheit im Landtag verfügt hätte.

160

Soweit Überhangmandate aus einem Verhältnis zwischen Erst- und Zweitstimmen her­ rühren, welches auf einem starken Stimmen-Splitting durch die einzelnen Wähler beruht, ist dies nicht regulierbar. Nicht mehr zulässig und durch den Bundesgesetzgeber zu korrigieren

161

188

G. v. 3.5.2013, BGBl. I S. 1082. Bundeswahlgesetz vom 23.7.1993, zul. geänd. durch Gesetz v. 14.11.2020 (BGBl.  I, S. 2395). 190 Vgl. zur Gleichheit der Wahl Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7 Rn. 111 ff. 191 BVerfGE 95, 335 (365) – Überhangmandate II; 79, 169 (172) – Überhangmandate I; 7, 63 (74 f.) – Listenwahl; 16, 130 (139). 192 BVerfGE 131, 316 (368 f.) – negatives Stimmgewicht. 193 BVerfGE 131, 316 (370) – negatives Stimmgewicht: „Der Senat ist sich bewusst, dass die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann.“ 194 Bei der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag erhielten SPD und CDU je ein Überhang­ mandat, die Mehrheit der Koalition aus CDU / CSU, FDP und DP betrug eine Stimme. 189

118

§ 2 Bundestag

wäre hingegen eine verzerrte Wahlkreiseinteilung („Wahlkreisgeometrie“195) mit dem Ziel, Direkt- und Überhangmandate für eine bestimmte Partei zu generieren.196

162

Zudem bestätigte das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung aus dem Jahr 2012 seine bisherige Rechtsprechung zum wahlrechtlichen Paradox des sog. „negativen Stimmgewichts“ und erklärte § 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 2a BWahlG a. F. für nichtig.197 Der Begriff des negativen Stimmgewichts fasst einige Konstruktionsfeh­ ler des Wahlrechts zusammen,198 die bewirken, dass in seltenen Fällen ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten dieser Partei oder – umgekehrt – ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann. Dies verstößt nach Auffassung des Bundes­ verfassungsgerichts sowohl gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleich­ heit der Parteien als auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl.199

163

Auch hinsichtlich des „negativen Stimmgewichts“ ergab sich aus der Entschei­ dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 ein (erneuter) Neurege­ lungsauftrag an den Bundesgesetzgeber. Zuvor war ein Versuch des Gesetzgebers, das negative Stimmgewicht durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2011 zu besei­ tigen, nicht erfolgreich gewesen.200 Im Jahr 2013 entschied sich der Gesetzgeber für ein zweistufiges Berechnungsmodell der Sitzverteilung, infolge dessen das Phänomen des negativen Stimmgewichts vollständig vermieden wird und an­ fallende Überhangmandate insbesondere durch Ausgleichsmandate kompensiert werden (s. Rn. 158, 164 ff.).201 Dabei versäumte es der Bundesgesetzgeber aller­ dings (erneut), die Regelung auf eine „normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“,202 wie dies bereits in einer früheren Entscheidung vom Bundesverfas­ sungsgericht im Jahr 2008 gefordert worden war.

164

Dem im Jahr 2013 eingeführten Ausgleichsmodell wurde im Schrifttum viel­ fach mit der Sorge begegnet, es würde zu einer weiteren Vergrößerung des Parlaments führen. Tatsächlich entstanden bei der Bundestagswahl 2017 durch das neue Ausgleichsmodel 46 Überhangmandate und 65 Ausgleichmandate, sodass sich die 195

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 146 a. E. In den USA spricht man bei einer parteipolitisch motivierten Wahlkreiseinteilung vom gerrymandering; der Begriff entstand durch Verschmelzung des Nachnamens von Elbridge Gerry, welcher als Gouverneur von Massachusetts für die Neuaufteilung von Wahlkreisen für Wahlen zum Senat von Massachusetts zuständig war, mit ‚salamander‘. Hintergrund ist die äußerliche Ähnlichkeit der Form dieses Tieres mit langgezogenen Wahlkreisen. 196 BVerfGE 16, 130 (136 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 146 a. E.; Unterpaul, NJW 1994, 3267 (3269). 197 BVerfGE 131, 316 (346 ff.) – negatives Stimmgewicht; zuvor bereits BVerfGE 121, 266 – Lan­ deslisten; vgl. dazu auch Isensee, DVBl. 2010, 269 (271 f.); Lenski, AöR 134 (2009), 473 (490 f.). 198 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 9. Aufl. 2013, § 6, Rn. 34b. 199 BVerfGE 131, 316 (339 ff.) – negatives Stimmgewicht. 200 Vgl. Holste, NVwZ 2012, 8 (10 f.); ders., NVwZ 2013, 529. 201 Strelen, in: Schreiber (Hrsg.), BWahlG, 9. Aufl. 2013, § 6 Rn. 1a f.; Holste, NVwZ 2013, 529 (531). 202 BVerfGE 121, 266 (316).

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

119

Zahl der Bundestagsabgeordneten insgesamt um 111 Abgeordnete auf insgesamt 709 Abgeordnete erhöhte. Bei der Wahl 1994 hätte das Ausgleichsmodell sogar zu einer Gesamtzahl von 891 Abgeordneten führen können.203 Diese Entwicklung der Parlamentsvergrößerung ist verfassungspolitisch nicht wünschenswert und kann in Extremfällen sogar der Handlungsfähigkeit des Parlaments entgegenstehen. Den Bedenken einer übermäßigen Vergrößerung des Parlaments durch Aus­ gleichsmandate wurde in der Konzeption des BWahlG 2013 insoweit Rechnung getragen, als der Ausgleich von Überhangmandaten nur teils durch Zuerkennung von Ausgleichsmandaten an andere Parteien erfolgt, gleichzeitig jedoch teil­ weise auch eine parteiinterne Verrechnung der Überhangmandate zwischen verschiedenen Landeslisten ein und derselben Partei vorgenommen wird: Eine einzelne Landesgruppe einer Partei kann gegenüber anderen Landesgruppen der­ selben Partei dadurch einen – an den Zweitstimmenanteilen der Landesgruppen gemessen – überproportionalen Anteil erlangen, dass sie besonders viele Über­ hangmandate erreicht204 (so etwa die CDU-Landesgruppe Baden-Württemberg bei der Bundestagswahl 2017).

165

Mit Gesetz vom 14.11.2020 hat der Bundestag erneut auf die – nach wie vor bestehende – Gefahr der ausufernden Parlamentsvergrößerung reagiert. Der Me­ chanismus der parteiinternen Verrechnung (Rn. 165) wurde ausgebaut. Zudem bleiben bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen. Zudem wurde – allerdings erst mit Wirkung zum 01.01.2024 – eine Reduzierung der Wahlkreise von 199 auf 180 beschlossen. Ob diese minimalinvasive Änderung des Wahlrechts der Gefahr der Parlamentsvergrößerung gerecht wird, ist zweifelhaft. Das Problem wird die nunmehr gem. § 55 BWahlG einzusetzende Reformkommission weiterhin beschäf­ tigen. Verfassungspolitisch stehen Reformvorschläge im Raum, welche die Ver­ ankerung einer Höchstsitzzahl des Bundestags im Grundgesetz vorsehen.205 Eine solche Reform würde allerdings erfordern, dass der bisherige Mechanismus der Überhang- und Ausgleichsmandate gedeckelt würde, indem Listenmandate, Über­ hangmandate oder Ausgleichsmandate (teilweise) nicht vollständig berücksichtigt würden, oder dass in grundlegender Weise vom Prinzip der personalisierten Ver­ hältniswahl (s. o. Rn. 155 f.) Abschied genommen würde.206

166

203 So eine Äußerung der Bundesregierung, zitiert in BVerfGE 95, 335 (344) – Überhang­ mandate II. 204 Holste, NVwZ 2013, 529 (531). 205 Der damalige Bundestagspräsident Lammert legte im Jahr 2016 einen Vorschlag zur Überarbeitung des Bundeswahlrechts vor: Um eine erhebliche Vergrößerung des Bundestags zu verhindern, schlug er eine verfassungsrechtlich verankerte Höchstsitzzahl des Bundestags vor. Im Zuge einer solchen Verfassungsänderung sollten auch das Wahlsystem (als „Wahl nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“) und die Sperr­ klausel verfassungsrechtlich unmittelbar in Art. 38 GG abgesichert werden; vgl. https://www. bundestag.de/bundestagswahl2017/wahlrechtsreform-lammert/487942, zuletzt aufgerufen am 22.07.2020. Der Vorstoß von Lammert blieb bisher ohne Erfolg. Zur verfassungspolitischen Lage auch Boehl, ZRP 2017, 197. 206 Hierzu und zu alternativen Reformmöglichkeiten Boehl, ZRP 2017, 197 (198 ff.).

120

§ 2 Bundestag

e) Fünf-Prozent-Klausel 167

Eine weitere Einschränkung des durch die Verhältniswahl an sich gewähr­ ten Erfolgswertes liegt in der „5-Prozent-Hürde“ nach § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG. Danach bleiben Parteien, auf die nicht zumindest 5 Prozent der im gesamten Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen entfallen und die nicht mindestens drei der 299 Direktmandate errungen haben (Grundmandatsklausel; s. u. Rn. 173 ff.), unberücksichtigt.207

168

Die Fünf-Prozent-Klausel findet gem. § 6 Abs. 3 S. 2 BWahlG auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung. Der Sinn und Zweck dieser Aus­ nahmevorschrift hat teilweise Überschneidungen mit dem Ziel der sog. Grundmandatsklausel (s. sogleich Rn. 173 ff.), setzt aber bereits unterhalb von deren Schutzwirkung an.

169

Auch insoweit bleibt freilich die sog. ‚natürliche‘ (faktische) Sperrklausel wirksam, wel­ che von der (zusätzlichen) Sperrklausel des § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG zu unterscheiden ist. Die natürliche Sperrklausel ergibt sich aus der Logik von parlamentarischen Sitzverteilungsver­ fahren: Da die Zahl der Mitglieder in einem Parlament (deutlich) geringer ist als die Zahl der abgegebenen Stimmen, ist stets eine Umrechnung von Stimmen in Mandate erforderlich. Da­ bei ist ein gewisser Mindestanteil von Stimmen für einen Wahlvorschlag erforderlich, um ein entsprechendes Mandat zu stützen. Wahlvorschlägen unterhalb dieses Mindestanteils können keine Mandate zugeteilt werden.

170

Mit der Sperrklausel des § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG geht ein – begrenzter – Verlust an demokratischer Vielfalt und parlamentarischer Offenheit einher. Dies wird aus Gründen der Sicherung politischer Stabilität in Kauf genommen, um eine politische Kräftezersplitterung des Parlaments zu vermeiden, in der die Bildung und Aufrechterhaltung einer parlamentarisch getragenen Regierung – auch nach der historischen Erfahrung aus der Weimarer Zeit208 – nur schwerlich, bisweilen gar nicht möglich ist.209

171

Das Argument der stabilen Regierungsbildung soll nach Auffassung des Bun­ desverfassungsgerichts aber nicht für die Wahlen zum Europäischen Parlament gelten, da dieses im Vergleich zum Bundestag eine andere Funktion habe (keine fortdauernde Stützung einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung i. e. S.210) 207

Kritisch hierzu: Schmidt-Jortzig, DVBl. 1983, 773 (778, 779); Böckenförde, in: Isen­ see / K irchhof, HbStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24, Rn. 43 befürchtet einen Verlust an politischer Innovationskraft und die Verkrustung der Parteienlandschaft. 208 Relativierend zur Bedeutung der Splitterparteien in der Weimarer Republik v. Lewinski, JuS 2009, S. 505 (506). 209 BVerfGE 1, 208 (248) – 7,5 % Sperrklausel, st. Rspr.; vgl. noch: BVerfGE 51, 222 (236 f.) – 5 % Sperrklausel; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, S. 244; Erichsen, Jura 1984, 31; a. A.: Hamann / L enz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1970, Art. 38, Anm. B 5 d, die die 5 %-Hürde mangels gesonderter Ermächtigung im GG für verfassungswidrig erachten. 210 BVerfGE 129, 300 (336 f.) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG: „Der Kommissionspräsi­ dent wird zwar auf Vorschlag des Europäischen Rates durch das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 2 EUV-Lissabon). Auch

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

121

und durch eine andere Arbeitsweise geprägt sei: Insbesondere – so das Bundes­ verfassungsgericht in seinen einschlägigen Entscheidungen in den Jahren 2011 und 2014 – sei das Europäische Parlament ohnehin in seiner „parlamentarische Praxis […] geprägt durch eine [stabile ‚lager‘-übergreifende] Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen“ (gemeint sind die christdemokratisch-konservative EVP und die sozialdemokratische S&D).211 Jedwede Einschränkung der Wahlrechtsgleich­ heit und Chancengleichheit durch eine Sperrklausel auch von 3 % sei deshalb un­ gerechtfertigt.212 Allerdings ist schon das Bundesverfassungsgericht selbst in der Beurteilung dieser Frage uneins.213 Die insgesamt problematische Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überzeugt nicht und ist von bemerkenswerter In­ konsistenz geprägt. Sie schwächt das Europäische Parlament, das doch dringend einer politischen Aufwertung bedürfte. Die diagnostizierten Schwächen des Euro­ päischen Parlaments werden vertieft, nicht aber abgemildert. Das Argument der politischen Stabilisierung trägt nach zustimmungswürdiger Auffassung der Landesverfassungsgerichte214 allerdings nicht im Falle von Kommunalvertretungen (Stadt- und Gemeinderäte). Dort ergeben sich tatsächlich keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Zersplitterung der Gremien durch den Einzug von Wählergemeinschaften, die weni­ ger als 5 % der Stimmen erreicht haben. Vielmehr würde eine Sperrklausel insoweit prohibitiv gegenüber politischem Engagement wirken, das sich kommunaltypisch auch außerhalb der politischen Parteien anlässlich spezifischer, rein kommunalpolitischer Sachverhalte ergeben kann. Im Kommunalrecht sind daher sowohl eine prozentuale als auch eine mandatsbezogene Sperrklausel verfassungswidrig.215 Allerdings sind Kommunalvertretungen nicht Legislativ­ organe i. e. S., sondern gehören der Exekutive an. Sie sind auch nicht Organe des Staates, sondern lediglich Organe einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft. Die Argumen­ tation der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Kommunalvertretungen ist daher nicht unmittelbar auf Bundestag und Landtage übertragbar.

muss sich das Gesamtkollegium der Kommission einem Zustimmungsvotum des Parlaments stellen, bevor es vom Europäischen Rat ernannt wird (vgl. Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissa­ bon). Allerdings sind die Kommission und ihr Präsident, solange das Parlament ihnen nicht mit der erforderlichen hohen Stimmenzahl nach Art. 234 Abs. 2 AEUV das Vertrauen entzieht, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht auf seine weitere Zustimmung angewiesen. Dies betrifft insbesondere die Rechtsetzung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren.“ 211 BVerfGE 129, 300 (330) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG; hieran anknüpfend – trotz des sich anbahnenden ‚Spitzenkandidatenmodells‘ – BVerfGE 135, 259 (296): etwaige Ände­ rungen dieser parlamentarischen Praxis der breiten Kooperation durch das ‚Spitzenkandida­ tenmodell‘ seien nicht klar absehbar. 212 BVerfGE 129, 300 (330 ff.) – Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG; E 135, 259 (295 ff.). 213 Die Entscheidung erging mit 5: 3 Stimmen; der Richter Müller verfasste ein abweichendes Sondervotum (s. § 8 Rn. 32, 283 ff.), vgl. BVerfGE 135, 259 (299 ff.). 214 Vgl. NWVerfGH NVwZ 2000, 666 ff.; ebenso (mit landesspezifischen Abweichungen) LVerfG SH, DÖV 2008, 416 ff., ThürVerfGH, NVwZ-RR 2009, 1, sowie BremStGH, NordÖR 2009, 251 ff. S. auch Greve / Schärdel, JuS 2009, 531 (535). 215 Zu Letzterem NVVerfGH, KommJur 2009, 338 ff.

172

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§ 2 Bundestag

f) Grundmandatsklausel 173

Die Erringung von drei Direktmandaten führt nach der Grundmandatsklausel in § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG ebenfalls zur Verteilung von Listenmandaten auf die Wahlvorschläge einer politischen Partei und zwar auch dann, wenn die 5-ProzentHürde nicht überschritten wurde. Diese vor allem – aber nicht ausschließlich216 – der Integration von Regionalparteien dienende Regelung hat das Bundesverfas­ sungsgericht für zulässig gehalten.217 Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Rechtfertigung der Grundmandatsklausel auch ohne Rücksicht auf eine besondere „regionale Nähe[beziehung]“ der Wahlkreiserfolge der politischen Par­ tei zu bejahen sei; es sei unschädlich, dass § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG auch politische Parteien begünstige, deren Direktmandate nicht regional konzentriert, sondern über das Bundesgebiet „verstreut“ errungen wurden.218 Der Gesetzgeber dürfe un­ abhängig von einer regionalen Konzentration der Direktmandate bei der Zahl von drei Direktmandaten auf eine besondere (auch überregionale)  „Integrationskraft“219 der betreffenden politischen Partei schließen und diese trotz Unterschrei­ tens der 5-Prozent-Hürde bei der Sitzverteilung berücksichtigen.

174

Demgegenüber halten einige Stimmen im Schrifttum diese Grundmandatsregelung für verfassungswidrig, da zum einen die lokalen Schwerpunkte einer Partei nicht bedeuten, dass diese auch ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm vertritt.220 Lokale Schwer­ punkte rechtfertigten zum anderen auch nicht, dass durch die Teilnahme an dem Verhältnis­ ausgleich der Partei aufgrund gebietsübergreifender Zweitstimmen weitere Listenmandate zugeteilt würden, die keinem lokalen Schwerpunkt entsprächen.221 Dem ist zunächst zu entgegnen, dass der Gesetzgeber nicht gehindert ist, durch die Grund­ mandatsklausel die personale Komponente im gemischten Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl (s. o. Rn. 155 f.) mit besonderer Bedeutung auszustatten. Zudem erscheint der Nachweis lokaler Schwerpunkte als ein sachlich zulässiges Unterscheidungskriterium für die Zugkraft („Integrationskraft“) einer Partei.

176

Besonderer Rechtfertigung bedarf allerdings, wieso es der Gesetzgeber im Ergebnis nicht bei der Zuweisung von mindestens drei Mandaten belassen hat, sondern bei Erreichen dieser Zahl die dahinterstehende Gruppierung auch an dem bundesweiten Verhältnisausgleich teil­ haben lassen will, ihr also (zusätzliche) Listenmandate zuteilen will. Dies mag zum einen der Vermeidung von Kleingruppierungen im Parlament dienlich sein – was sich allerdings auch durch die „Vorenthaltung“ des Fraktionsstatus nach Geschäftsordnungsregeln (s. u. Rn. 378 ff.) erreichen ließe. Besteht tatsächlich der lokale Bezug der Partei, werden sich aus

216

Vgl. BVerfGE 95, 408 (424 f.) – Grundmandatsklausel. BVerfGE 6, 82 (96); 95, 408 (420 ff.) – Grundmandatsklausel. Sie kam 1994 der PDS zu­ gute. 218 BVerfGE 95, 408 (424 f.) – Grundmandatsklausel. 219 BVerfGE 95, 408 (422) – Grundmandatsklausel. 220 Vgl. dazu Hoppe, DVBl. 1995, 265 (269); ebenso Roth, NJW 1994, 3269 (3271). 221 Frowein, AöR Bd. 99 (1974), 72 (92 f.); Erichsen, Jura 1984, 31; Roth, NJW 1994, 3269 (3272). 217

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

123

dem Verhältnisausgleich kaum weitere Mandate ergeben.222 Zum anderen – so wie erwähnt die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (s. o. Rn. 173) – könnten drei Wahlkreis­ erfolge für eine besondere (auch überregionale) „Integrationskraft“ der Partei herangezogen werden, welche die Zuteilung zusätzlicher Listenmandate rechtfertigt. Zwingend ist diese Argumentation freilich nicht.

2. Wahlprüfung und Nichtanerkennungsbeschwerde a) Allgemeines und verfassungsrechtliche Vorgaben Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Wahlen zum Bundestag gehört die Möglichkeit der Wahlprüfung (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG). Sie ist ein unentbehrliches demokratisches Instrument zur Kontrolle der Gültigkeit von Bundestagswahlen und der korrekten Zusammensetzung des Bundestags. Die einmal gewählte Volksvertretung genießt einen besonderen, aber nicht absoluten Bestandsschutz.223

177

Gegenstand der Wahlprüfung ist nicht die Verletzung subjektiver Rechte von Wahlbewerbern oder Wahlberechtigten, sondern die Gültigkeit der Wahl als solche.224 Denn das Wahlprüfungsverfahren dient nur dem Schutz des objektiven Wahlrechts, soll also die gesetzesmäßige Zusammensetzung des Bundestags ge­ währleisten.225 Dabei kann eine Vielzahl von Wahlfehlern (Wahlverfahren, Stimm­ abgabe, rechtswidriger Wahlkampf 226) gerügt werden. Entscheidend ist jedoch immer die mögliche Ergebnisrelevanz der behaupteten Wahlfehler (s. a. Rn. 186). Trotz des objektiven Charakters der Wahlprüfung können auch die Wahlbeteilig­ ten Antragsteller im Wahlprüfungsverfahren sein (s. u. Rn. 184).

178

Zu kritisieren ist die lange Dauer des Verfahrens, das sich häufig bis zur Hälfte der Legislaturperiode oder darüber hinaus hinzieht.227

179

Die Wahlprüfung ist auf Bundesebene gemäß Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG primär Sache des Bundestags. Allenfalls sekundär kann das Bundesverfassungsgericht ins Spiel kommen: Gemäß Art. 41 Abs. 2 GG kann die Wahlprüfungsentschei­ dung des Bundestags der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen werden (dazu Rn. 189 ff.).

180

In den einzelnen Bundesländern ist die Wahlprüfung verfahrensmäßig dagegen z. T. ab­ weichend ausgestaltet, wobei der materielle Maßstab auch für die Länder wegen Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG stets die fünf Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (also Allgemeinheit,

181

222

Dies räumen auch die Vertreter der Gegenmeinung ein, z. B. Erichsen, Jura 1984, 31. Morlok, NVwZ 2012, 913. 224 BVerfGE 1, 208 (238) – Sperrklausel; 40, 11 (29); 66, 369 (378); 89, 291 (299). 225 BVerfGE 1, 430 (433). 226 BVerfGE 103, 111 (124 f.) – Wahlprüfung Hessen. 227 So auch Ipsen, in: GS Grabitz, 1995, S. 226 f. 223

124

§ 2 Bundestag

Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimheit der Wahl228) sind.229 In Berlin entscheidet beispielsweise nur der Verfassungsgerichtshof über die Wahlprüfung (§ 14 Nr. 2, 3, §§ 40 ff. VerfGHG Bln). Häufig werden in den Ländern allerdings die Landtage und die Landesver­ fassungsgerichte mit der Wahlprüfung befasst.230

182

Auf einen Normenkontrollantrag der hessischen Landesregierung hatte sich das Bundes­ verfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit des hessischen Wahlprüfungsgesetzes, namentlich über die dort geregelte Zusammensetzung des mit der Wahlprüfung beauftragten Gremiums, zu befassen. Die Landesregierung rügte, dass das mit zwei Berufsrichtern und drei Abgeordneten besetzte Gremium eine gemäß Art. 78 LV-He endgültige Entscheidung treffe, die nicht mehr gerichtlich angefochten werden könne, obwohl dem Gremium die Eigenschaften eines echten Gerichts fehlten. Außerdem sei das von Art. 78 Abs. 2 LV-He verwendete Tat­ bestandsmerkmal der „gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen“ zu unbestimmt, um darauf die Ungültigkeitserklärung einer Landtagswahl zu stützen. Zum ersten Einwand stellte der Hessische Staatsgerichtshof in der von Abgeordneten des Hessischen Landtags eingelegten Grundrechtsklage fest, dass das Wahlprüfungsgericht ein parlamentarisches Wahlprüfungs­ organ sei und kein Gericht im Sinne von Art. 126 LV-He.231 Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das Tatbestandsmerkmal der „gegen die guten Sitten verstoßenden Handlun­ gen“ mit dem Grundgesetz vereinbar sei.232

b) Gesetzliche Ausgestaltung 183

Von den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 41 GG abgesehen, finden sich Einzelheiten über die Wahlprüfung des Bundestags im Wahlprüfungsgesetz (WahlPrüfG)233 des Bundes geregelt, mit dem insofern von der Ermächtigung in Art. 41 Abs. 3 GG Gebrauch gemacht wurde.

184

Nach § 2 Abs. 1 WahlPrüfG erfolgt die Wahlprüfung nur auf Einspruch, nicht dagegen von Amts wegen. Einspruchsberechtigt sind in erster Linie die Wahl­ berechtigten, und zwar sowohl jeder für sich als auch in einer Gruppe, daneben aber auch in amtlicher Eigenschaft jeder Landeswahlleiter, der Bundeswahllei­ ter sowie der Präsident des Bundestags (§ 2 Abs. 2 WahlPrüfG). Der Einspruch 228

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 107 ff. Instruktiv BVerfGE 99, 1 (11 f.) – Bayerische Kommunalwahlen. 230 So z. B. in: Baden-Württemberg (Art. 31 Abs. 1 und Abs. 2 LV-BW), Bayern (Art. 33 BayVerf), Brandenburg (Art. 63 BbgVerf), Bremen (§§ 37, 39 BremWahlG), Hamburg (Art. 9 HmbVerf), Hessen (Art. 78 VerfHE, § 17 WahlPrG), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 21 VerfMV), Niedersachsen (Art. 11 Abs. 2 und Abs. 4 VerfND), Nordrheinwestfahlen (Art. 33 VerfNRW), Saarland (Art- 75 SVerf), Sachsen (Art. 45 SächsVerf), Sachsen-Anhalt (Art. 44 LSAVerf), Thüringen (Art. 49 Abs. 3 VerfTH, § 64 ThürLWG), Rheinland-Pfalz (Art. 82 VerfRP) und Schleswig-Holstein (§ 43 LWahlG). 231 HessStGH, NJW 2000, 2891; vgl. dazu BVerfGE 103, 111 (125 ff.) – Hessisches Wahl­ prüfungsgericht; Kersten, DVBl. 2001, 768 ff. 232 BVerfGE 103, 111 (125). 233 Wahlprüfungsgesetz v. 12.5.1951 (BGBl. I, S. 166), zul. geänd. d. G. v. 6.6.2008 (BGBl. I, S. 994). 229

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

125

muss nach § 2 Abs. 3 WahlPrüfG begründet werden, was nach der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht als ein Substantiierungsgebot zu verstehen ist, das sicherstellen soll, „daß die sich auf der Grundlage der Feststellung des endgültigen Wahl­ergebnisses ergebende Zusammensetzung des Parlaments nicht vorschnell in Frage gestellt wird und dadurch Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit geweckt werden.“234 Über den Einspruch befindet das Parlament, dessen Entscheidung vom Wahlprüfungsausschuss des Bundestags vorbereitet wird (§§ 3 ff. WahlPrüfG). Die Zusammensetzung dieses Ausschusses richtet sich grundsätzlich nach den allge­ meinen Regeln der GOBT; insbesondere ist dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit (s. dazu Rn. 83, 419) durch eine proportionale Berücksichtigung der Fraktionen Rechnung zu tragen. Dass ein Ausschluss von Abgeordneten aus Gründen der Befangenheit im Wahlprüfungsverfahren nicht vorgesehen ist, ist vom Bundes­ verfassungsgericht gebilligt worden.235

185

Wird bei der Wahlprüfung durch den Bundestag ein Mangel des Wahlverfahrens festgestellt, so führt dieser Mangel nur bei Ergebnis- bzw. Mandatsrelevanz 236, d. h. nur dann und nur insoweit zu einer Ungültigkeitserklärung der Wahl, als er auf das Wahlergebnis, d. h. auf die Sitzverteilung im Bundestag, von Einfluss ge­ wesen sein konnte:

186

Denn „ein Wahlfehler kann den in einer Wahl zum Ausdruck gebrachten Volkswillen nur dann ver­letzen, wenn sich ohne ihn eine andere, über die Mandatsverteilung entscheidende Mehrheit ergeben würde. Erst die Möglichkeit der Auswirkung eines Wahlfehlers auf die Sitzverteilung kann daher relevant sein.“237 An dem Kriterium der Ergebnisrelevanz scheitern viele Wahlprüfungsverfahren.

In den meisten Fällen solcher ergebnisrelevanter Wahlfehler wird eine Nachwahl im jeweiligen Wahlkreis genügen, um den eben in diesem Wahlkreis fest­ gestellten Fehler zu beheben (vgl. § 43 BWahlG). Eine Wiederholungswahl (d. h. Wiederholung der gesamten Wahl) ist dagegen nur erforderlich, wenn die (ge­ samte) Wahl im Wahlprüfungsverfahren ganz oder teilweise für ungültig erklärt wird (vgl. § 44 BWahlG).238

187

Zu einer Nachwahl kam es auch bei der Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Dresden I, weil eine Kandidatin wenige Tage vor der Wahl verstorben war. Da das Wahlergebnis im sonstigen Bundesgebiet bereits vor der Nachwahl bekannt war, ermöglichte dies den Wählern eine taktische Stimmabgabe und führte insbesondere zu dem Problem des negativen Stimm­ gewichts (s. o. Rn. 163).

188

234

BVerfGE 85, 148 (159 ff.). BVerfGE 37, 84 (90). 236 Morlok, NVwZ 2012, 913. 237 BVerfGE 29, 154 (165). 238 Nach h. M. bleiben bereits erlassene Gesetze oder sonstige Maßnahmen des Bundestags in diesen Fällen bestehen; vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 47 m. w. N. 235

126

§ 2 Bundestag

c) Gerichtlicher Rechtsschutz, insbesondere Wahlprüfungsbeschwerde 189

Allein gegen die wahlprüfende Entscheidung des Bundestags besteht anschlie­ ßend gemäß Art. 41 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG die Möglichkeit, sich mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zu wenden. Gegenstand ist dabei die Gültigkeit der Bundestagswahl. In diesem Verfahren kann auch geprüft werden, ob ein Abgeordneter sein Mandat verloren hat. Unmittelbar, also ohne vorherige Durchführung des Wahlprüfungsverfahrens, kann das Bundesver­ fassungsgericht dagegen nicht angerufen werden.239

190

Beschwerdeberechtigt ist nach § 48 Abs. 1 BVerfGG zum einen der vom um­ strittenen Mandatsverlust betroffene Abgeordnete, eine Fraktion oder eine „Min­ derheit des Bundestags“ von mindestens einem Zehntel der gesetzlichen Mitglie­ der, zum anderen jede wahlberechtigte Person oder Gruppe von wahlberechtigten Personen, deren Einspruch zuvor vom Bundestag verworfen wurde. Die Frist be­ trägt zwei Monate seit der Beschlussfassung des Bundestags.

191

Das Bundesverfassungsgericht überprüft im Rahmen dieses Beschwerdeverfah­ rens den angegriffenen Beschluss des Bundestags in formeller Hinsicht sowie da­ rauf, ob Vorschriften des materiellen Rechts zutreffend angewandt worden sind.240 Dabei entscheidet es nicht nur am Maßstab des einfachen Rechts, sondern auch und gerade am Maßstab der Verfassung.241 Maßstab sind die verfassungsrecht­ lichen Wahlrechtsgrundsätze und gesetzlichen Wahlbestimmungen sowie auch deren Verfassungsmäßigkeit.242

192

Es gibt – abgesehen von der Wahlprüfungsbeschwerde durch das Bundesverfas­ sungsgericht gemäß Art. 41 Abs. 2 GG – grundsätzlich keine weitere Möglichkeit, die Wahl gerichtlich überprüfen zu lassen, denn die Wahl soll als einheitlicher Gesamtakt nicht durch unterschiedliche Rechtsmittel in Frage gestellt werden. Fasst man die Wahlen unter den Begriff der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG, stellt sich Art. 41 Abs. 2 GG insofern als eine diese allgemeine Rechtsweggarantie verdrängende Spezialvorschrift dar.243 Nach § 49 BWahlG können Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den im Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahl­ ordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie im Wahlprüfverfahren angegriffen werden.

193

Allerdings beschränkt sich diese Ausschlusswirkung der Wahlprüfung durch den Bundestag entsprechend ihrer Funktion auf die Wahl als solche, so dass et­ waige Verfahrensfehler im zeitlichen Vorfeld der Wahlen auch vor den Verwal 239

BVerfGE 14, 154 (155). BVerfGE 97, 317 (321 f.) – Überhang-Nachrücker. 241 Vgl. bspw. BVerfGE 16, 130 (135 f.); 89, 243 (249). 242 Leisner, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 41, Rn. 8. 243 Vgl. BVerfGE 22, 277 (281). 240

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

127

tungsgerichten geltend gemacht werden können,244 so z. B. die verzögerte Eintra­ gung im Wählerverzeichnis. Außerdem kann das Wahlgesetz wie jedes andere formelle und materielle Ge­ setz auch mittels einer Verfassungsbeschwerde (s. § 8 Rn. 529 ff.), in einem Normenkontrollverfahren (s. § 8 Rn. 401 ff.) oder in einem Organstreitverfahren (s. § 8 Rn. 356 ff.) auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden.245

194

d) Nichtanerkennungsbeschwerde Die Ausschlusswirkung der Wahlprüfung durch den Bundestag galt nach ständi­ ger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts246 auch für die Versagung der Anerkennung einer Vereinigung als Partei schlechthin durch den Bundeswahl­ ausschuss oder die Nichtzulassung zur Wahl aus formellen Gründen. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 ist beispielsweise in drei Fällen Parteien die Zulassung zur Wahl versagt worden, ohne dass sie zulässige Anträge zum Bundesverfas­ sungsgericht ex ante hätten erheben können.247 In solchen Fällen ist der Ausschluss des präventiven Rechtsschutzes demokratietheoretisch schwer zu rechtfertigen, da es den kleinen Parteien kaum gelingen wird, nach erfolgter Bundestagswahl die Wahlerheblichkeit ihrer Nichtzulassung darzutun. Für das kollektiv wahrge­ nommene passive Wahlrecht stellt die Nichtzulassung einen besonders intensiven Eingriff dar.

195

Im Jahr 2012 wurde daher in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG das Instrument der Nicht­ anerkennungsbeschwerde in das Grundgesetz aufgenommen (s. auch § 8 Rn. 28, 255, 378).248 Die Nichtanerkennungsbeschwerde gewährt Rechtsschutz vor der Wahl für solche Vereinigungen, die zur Wahl nicht zugelassenen wurden.

196

Nunmehr sind Negativentscheidungen des Bundeswahlausschusses noch vor der Wahl gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG sowie § 13 Nr. 3a BVerfGG i. V. m. §§ 96a ff. BVerfGG einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zu­ gänglich. Voraussetzung ist, dass die Vereinigung nicht nach § 18 Abs. 4 BWahlG anerkannt und somit nicht berechtigt ist, einen Wahlvorschlag einzureichen. Da der Bundeswahlausschuss die (Nicht-)Anerkennung der Vereinigung als Partei spätestens bis zum neunundsiebzigsten Tag vor der Wahl feststellen muss (§ 18

197

244

Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 48, unter Verweis auf BVerwGE 51, 69. BVerfGE 82, 322 (335 f.) – Gesamtdeutsche Wahl. 246 Vgl. BVerfGE 11, 329 (329); 14, 154 (155); 16, 128 (130); 29, 18 (19); 74, 96 (101); Be­ schluss v. 1.9.2009, 2 BvR 1928/09. 247 Hinsichtlich der Nichtanerkennung der Parteieigenschaft BVerfG 2 BvQ 45/09 vom 31.7.2009 („Die Grauen“) und NVwZ 2009, 1367 („Die Partei“) sowie hinsichtlich formeller Zulassungsgründe 2 BvR 1898/09 vom 25.8.2009 (Partei „Freie Union“). 248 Eingeführt durch das Gesetz vom 11.07.2012, BGBl. 1, S. 1478 und das Gesetz vom 12.07.2012, BGBl. 1, S. 1501. 245

128

§ 2 Bundestag

Abs. 2 BWahlG), verbleibt dem Bundesverfassungsgericht ein geringer zeitlicher Rahmen249 zur Entscheidungsfindung.250

II. Periodizität der Wahl und Diskontinuität des Parlaments 1. Periodizität der Wahl 198

Der Bundestag wird jeweils nur für eine Periode von vier Jahren gewählt, damit die Abgeordneten dem Volk gegenüber verantwortlich handeln und auch die parlamentarische Minderheit die Chance erhält, aus Neuwahlen als Mehrheit hervorzugehen.251

199

In dieser konkreten Regelung kommt der abstrakt-theoretische Grundsatz zum Ausdruck, dass eine Demokratie stets Herrschaft nur auf Zeit vermittelt.252 Das Volk erhält so die Möglichkeit, die bisherigen Mehrheitsverhältnisse zu bestätigen oder aber der Opposition zur Regierungsmehrheit zu verhelfen. Insofern ist der Grundsatz zeitlich begrenzter, periodischer Wahlen (Grundsatz der Periodizität der Wahl) ein verfassungsimmanenter Grundsatz der Demokratie. Er ist auch in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (Ausübung von Staatsgewalt in Wahlen) niedergelegt und somit durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG auch gegenüber Verfas­ sungsänderungen abgesichert. Ohne den Grundsatz der Periodizität der Wahl wäre die Möglichkeit eines demokratischen Wechsels, d. h. die Chance der Opposition, die Mehrheit zu erreichen, von vornherein weitgehend unrealistisch. Die demo­ kratische Kontrolle durch die Möglichkeit fehlender Wiederwahl liefe leer. Der Vorrang des späteren Gesetzes (lex posterior derogat legi priori) gewinnt durch den Grundsatz der periodischen Wahl erst seinen demokratieverwirklichenden Ef­ fekt. Die (Über-) Verfassungsgarantie der Periodizität der Wahl erfasst aber nicht zwingend eine vierjährige Wahlperiode (s. sogleich Rn. 201).

200

Trotz der Periodizität der Wahlen und der damit einhergehenden zeitlichen Be­ grenzung endet die Amtszeit eines Bundestags nicht automatisch nach Ablauf der vier Jahre, sondern nach dem insofern sehr deutlichen Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG erst mit der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags. Eine – nach der

249

Bei der Bundestagswahl 2017 prüfte der Bundeswahlausschuss am 6. und 7. Juli 2017, also wenige Tage vor Ablauf der 79-tägigen Frist, die Zulassung von 64 Vereinigungen und ließ 40 Parteien zur Bundestagswahl zu. Innerhalb der folgenden drei Wochen hatte das Bundes­ verfassungsgericht über sieben Nichtanerkennungsbeschwerden nichtwahlvorschlagsberech­ tigter Parteien zu befinden. Es wies am 25. Juli 2017 sechs Beschwerden als unzulässig und eine als unbegründet zurück. BVerfG, Beschluss v. 25. Juli 2017, 2 BvC 1/17, 2/17, 3/17, 4/17, 5/17, 6/17, 7/17. 250 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 345 f. 251 Vgl. BVerfGE 44, 125 (139) – Öffentlichkeitsarbeit; 77, 1 (40) – Neue Heimat. 252 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 62 ff.

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

129

ursprünglichen Fassung des Art. 39 Abs. 1 GG noch zulässige253 – Interimsphase ohne Parlament (parlamentslose Zeit) wurde durch den 1976 geänderten Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG ausgeschlossen.254 Die übermäßige Erstreckung einer Legislatur­ periode zum Nachteil der nächsten wird dabei durch die konkretisierenden Vor­ gaben des Art. 39 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 GG vermieden. Sie ordnen an, dass die Neuwahl frühestens 46 Monate und spätestens 48 Monate nach Beginn der Wahl­ periode stattfinden muss und der neue Bundestag spätestens am dreißigsten Tag nach der Wahl zusammentritt. Einzelheiten zur konstituierenden Zusammenkunft des Bundestags ergeben sich aus der Geschäftsordnung des jeweils vorherigen Bundestags.255 Danach beginnt die Konstituierung des Bundestags regelmäßig mit der Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten und endet, wenn der Bundestag seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer gewählt hat (§ 1 Abs. 2, 4 GOBT). Der Grundsatz der Periodizität der Wahl schließt Änderungen des Zeitraums der derzeit verfassungsrechtlich normierten Legislaturperiode von vier Jahren in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG nicht aus. Entscheidender Maßstab für rechtspolitische Vorschläge zur Verlängerung oder Verkürzung der Wahlperioden ist das Demokratieprinzip. In diesem Zusammenhang sind auch Vor­ schläge zu sehen, zum Ausgleich für die Verlängerung der Legislatur plebiszitäre Elemente zu stärken, um die Verwirklichung des Demokratieprinzips insgesamt sicherzustellen.256

201

Für eine Verlängerung der bisherigen vierjährigen Wahlperiode des Bundestags werden vor allem praktische politische Argumente angeführt. Wenn man etwa ein Jahr für das „Einlaufen“ der Arbeit des Bundestags (und der von der Bundes­ tagsmehrheit gestützten Bundesregierung) veranschlagt und etwa ein Jahr für den „Wahlkampf“, bleiben für die eigentliche parlamentarische Arbeit des Bundestags nur ca. zwei Jahre.

202

Zwei Grenzen sind allerdings für die mögliche Verlängerung von Legislatur­ perioden zu beachten: Zum einen kann die laufende Legislaturperiode nicht ver­ längert werden, weil die Abgeordneten hierzu nicht vom Volk entsprechend man­ datiert wurden. Und zum anderen muss Demokratie Herrschaft auf Zeit bleiben, so dass eine übermäßig lange oder gar unbefristete Legislatur auch für künftige Legislaturperioden nicht festgeschrieben werden darf. Rechtsvergleiche mit ande­ ren demokratischen Staaten257 oder auch nur der Blick auf die Legislaturperioden

203

253

Art. 39 Abs. 1 GG a. F. lautete: „Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt. Seine Wahl­ periode endet vier Jahre nach dem ersten Zusammentritt oder mit seiner Auflösung. Die Neu­ wahl findet im letzten Vierteljahr der Wahlperiode statt, im Falle einer Auflösung spätestens nach sechzig Tagen.“ 254 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 2, Rn. 205. 255 Zur Praxis des Bundestags, die alte Geschäftsordnung zu übernehmen, s. u. Rn. 210. 256 Vgl. Wieland / Albin, ZRP 2006, 76 ff. 257 Die Legislaturperiode des Europäischen Parlaments beträgt fünf Jahre (Art. 14 Abs. 3 EUV), ebenso wie in Frankreich (Art. 25 Abs. 1 S. 1 Verf Frankreichs i. V. m. Art. 121 Code

130

§ 2 Bundestag

in den Bundesländern258 lassen eine Wahlperiode jedenfalls bis zu sechs Jahren als zulässig erscheinen. 204

Eine Verkürzung künftiger Legislaturperioden darf die Funktion des Parlaments nicht gefährden. Eine Verkürzung auch der laufenden Legislaturperiode durch Verfassungsänderung begegnet dagegen keinen grundlegenden Bedenken wie die Verlängerung der laufenden Legislaturperiode, würde jedoch den be­ wussten  – und durch die verfassungspraktische Anerkennung des Instruments einer „unechten“ Vertrauensfrage (s. u. Rn. 219 u. § 7 Rn. 138 ff.) ohnedies kon­ terkarierten – Verzicht des Verfassungsgebers auf ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags ignorieren.259 Ob unter besonderen Umständen ausnahmsweise auch die Verkürzung einer laufenden Legislaturperiode durch Änderung des (einfachélectoral), Italien (Art. 60 S. 1 Verf Italien), Luxemburg (Art. 56 Verf Luxemburg), Österreich (Art. 27 Abs. 1 Bundes-Verfassungs­gesetz Österreich), Belgien (für die Abgeordnetenkammer Art. 65 Verf Belgien, für den Senat Art. 70 Verf Belgien). In Irland wird die direkt gewählte Kammer des Parlaments, der Dáil Éireann (und somit gem. Art. 18 Verf Irland auch der in­ direkt gewählte Seanad Éireann) für sieben Jahre gewählt, wobei eine kürzere Amtszeit von fünf durch Gesetz festgelegt wurde (Art. 16 Abs. 5 Verf Irland, section 7 Electoral (Amend­ ment) Act 1927, section 33 Electoral Act 1992,). In den übrigen EU-Mitgliedsstaaten beträgt die Legislaturperiode vier Jahre, so in Dänemark (§ 32 Abs. 1 Verf Dänemark), Deutschland (Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG), Finnland (Sektion 24 Abs. 1 S. 2 Verf Finnland), Griechenland (Art. 53 Abs. 1 Verf Griechenland), Niederlande (Art. 52 Abs. 1 Verf Niederlande), Portugal (Art. 171 Abs. 1 i. V. m. Art. 174 Abs. 1 Verf Portugal), Schweden (Kapitel 3 § 3 Gesetz über die Regie­ rungsform Schwedens), Spanien (Art. 68 Abs. 4 Verf Spanien), Polen (Art. 98 1 Verf Polen), Slowakei (Art. 73 Abs. 1 Verf Slowakei), Slowenien (Art. 81 Abs. 1 Verf Slowenien), Ungarn (Art. 2 Abs. 1 Verf Ungarn), Kroatien (Art. 73 Verf Kroatien), Rumänien (Art. 60 Abs. 1 Verf Rumänien), Bulgarien (Art. 64 Abs. 1 Verf Bulgarien), Estland (§ 60 Abs. 3 Verf Estland), Li­ tauen (Art. 55 Abs. 3 Verf Litauen), Lettland (Art. 10 Verf Lettland) und Tschechien (Art. 16 Abs. 1 Verf Tschechien), wobei dort die Senatoren auf sechs Jahre gewählt werden (Art. 16 Abs. 2 Verf Tschechien). Im Vereinigten Königreich beträgt die Legislaturperiode beider Parlamentskammern fünf Jahre (Nr. 7 des Parlamentsgesetzes von 1911). Gemäß Art. 4 der Loi constitutionelle von 1982 beträgt Kanadas Legislaturperiode fünf Jahre. Das U. S.-amerikanische House of Representatives wird auf zwei Jahre (Art. 1 Sektion 2 S. 1 Const. USA), die Senatoren werden auf sechs Jahre (Art. 1 Sektion 3 S. 1 Const. USA) gewählt. In Japan wird das Unterhaus auf vier Jahre (Art. 45 Verf Japan), die Abgeordneten des Ober­ hauses auf sechs Jahre (Art. 46 Verf Japan) gewählt. 258 Die Legislaturperiode der Landtage der Bundesländer beträgt vier Jahre in Bremen (Art. 75 Abs. 1 S. 1 BremVerf) sowie fünf Jahre in Bayern (Art. 16 Abs. 1 S. 1 BayVerf), Ba­ den-Württemberg (Art. 30 Abs. 1 S. 1 BWVerf), Berlin (Art. 54 Abs. 1 S. 1 BlnVerf), Branden­ burg (Art. 62 Abs. 1 S. 1 BbgVerf), Hessen (Art. 79 S. 1 LVerfHe), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 27 Abs. 1 S. 1 VerfMV), Niedersachsen (Art. 9 Abs. 1 S. 1 VerfND), Nordrhein-Westfalen (Art. 34 S. 1 VerfNRW), Rheinland-Pfalz (Art. 83 Abs. 1 S. 1 RhPfVerf), Saarland (Art. 67 Abs. 1 S. 1 SVerf), Sachsen (Art. 44 Abs. 1 S. 1 SächsVerf), Sachsen-Anhalt (Art. 43 S. 1 LSA­ Verf), Schleswig-Holstein (Art. 19 Abs. 1 S. 1 SHVerf), Thüringen (Art. 50 Abs. 1 S. 1 VerfTH) und seit 2013 auch in Hamburg (Art. 10 Abs. 1 S. 1 HmbVerf). 259 Freilich wäre an einer Verkürzung der laufenden Legislatur durch Verfassungsänderung auch der Bundesrat beteiligt (Art. 79 Abs. 2 GG), sodass keine reine Situation der Selbstauf­ lösung des Bundestags vorläge.

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

131

gesetzlichen) Wahlgesetzes erfolgen kann, musste auch im Zuge der Deutschen Einheit nicht geklärt werden, da die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 mehr als 46 Monate nach den vorherigen Wahlen und damit innerhalb des von Art. 39 Abs. 1 S. 3 GG vorgesehenen Zeitraums (s. o. Rn. 200) stattfand. 2. Grundsatz der Diskontinuität Selbst wenn sich der neu gewählte Bundestag (theoretischerweise)  aus exakt denselben Abgeordneten zusammensetzen sollte wie der alte, so besteht zwischen dem alten und dem neuen Bundestag doch in personeller und sachlicher Hinsicht – juristisch gesehen – keine Kontinuität. Insofern ist es konsequent, wenn vom 19. oder 20. etc. Bundestag gesprochen wird.

205

Das Beispiel der U. S.-amerikanischen Verfassung zeigt, dass bei der Besetzung von Ver­ fassungsorganen Elemente der Kontinuität durchaus mit Elementen der Diskontinuität verbun­ den werden können: Der Senat wird alle zwei Jahre nur zu einem Drittel neu gewählt.260 Er un­ terfällt dabei nicht dem Grundsatz der Diskontinuität, sondern ist ein kontinuierliches Organ.261 In anderer Form verwirklicht das Grundgesetz das Modell des kontinuierlichen (permanenten) Organs in Gestalt des ‚immerwährenden Bundesrats‘ (s. § 3 Rn. 42; s. a. § 1 Rn. 146). Auch der deutsche Bundesrat sorgt als kontinuierliches Organ für dauerhaften Wandel dadurch, dass in dessen Zusammensetzung mit jeder Landtagswahl Veränderungspotentiale einfließen können.

206

a) Personelle und sachliche Diskontinuität Für die Amtszeit der Mitglieder des Bundestags gilt der Grundsatz der personellen Diskontinuität.262 Die Mandate können durch Neuwahl erneuert, aber nicht automatisch übernommen werden. Dies zieht die Auflösung der bestehen­ den Fraktionen und Ausschüsse nach sich, die ebenfalls durch Abgeordnete des neuen Parlaments zu besetzen sind. Auch Untersuchungsausschüsse sind von der personellen Diskontinuität betroffen, sodass ein in einer Legislaturperiode nicht

260 Gemäß Art. 1 Sektion 3 S. 2 der Verfassung der USA werden die Mitglieder des ersten (ursprünglichen) Senates so gleichmäßig wie möglich in drei Klassen aufgeteilt, deren eine den Senat nach zwei Jahren, deren zweite nach vier und deren dritte nach sechs Jahren ver­ lässt, so dass zweijährlich ein Drittel der Mitglieder des Senates gewählt wird. 261 So der U. S. Supreme Court in der Entscheidung McGrain v. Daugherty, 273 U. S. 135, S. 181–182 (1927): „The senate is a ‚continuing body‘.“ Umstritten ist, ob die Kontinuität des Senates dazu führt, dass in jedem neuen Kongress eine Mehrheit der Senatoren an die Regeln des vorherigen Senates gebunden ist, insb. an die Regel, dass mehr als die einfache Mehrheit der Stimmen zur Beendigung einer Debatte erforderlich ist (Corwin / Peltason, Understanding the Constitution, 10. Aufl. 1985, S. 43). 262 Eine andere Terminologie verwendet anstelle der ‚personellen‘ und ‚sachlichen‘ Diskon­ tinuität die Begriffe der „organisatorischen“ und „materiellen“ Diskontinuität  – vgl. bspw. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 54.

207

132

§ 2 Bundestag

abgeschlossenes Untersuchungsverfahren nicht automatisch nach der neuen Zu­ sammensetzung des Parlaments fortgeführt werden kann. 208

Aus der personellen Diskontinuität leitet sich zugleich die sachliche Diskontinuität ab, nach der gemäß § 125 GOBT mit dem Ende der Wahlperiode des Bun­ destags alle Vorlagen mit Ausnahme von Petitionen und nicht beschlussbedürf­ tigen Vorhaben als erledigt gelten. Etwaige Gesetzesvorlagen verfallen also mit dem Beginn der neuen Legislaturperiode und müssen gegebenenfalls erneut unter Wahrung aller Förmlichkeiten (Art. 76 GG) erneut in das Gesetzgebungsverfah­ ren eingebracht werden.263 Hierdurch soll den neu gewählten Repräsentanten die (sachliche) Unabhängigkeit von ihren Vorgängern gewährleistet werden. Dieses Argument ist freilich nicht zwingend: Die Unabhängigkeit der neuen Abgeord­ neten könnte schließlich – umgekehrt – auch gerade dafür sprechen, sie Vorlagen des ‚alten‘ Bundestags nach eigener Entscheidung aufnehmen und weiterführen zu lassen.264

209

In der politischen Praxis ist es nicht ganz selten, eingebrachte Gesetzesvorlagen bei be­ vorstehendem Ende der Legislaturperiode so langsam zu behandeln, dass sie nicht mehr bis zum Ende der Legislaturperiode abgeschlossen werden können. Dieses „sanfte Erwürgen“ von Gesetzen durch Beratungsverzögerung erspart in der konkreten Situation die vielleicht politisch inopportune ausdrückliche Ablehnung. Umgekehrt kann das Einbringen eines Ge­ setzesentwurfs durch den Zeitdruck vor dem Ende einer Legislaturperiode auch entscheidungsbeschleunigend wirken.

210

Die Diskontinuität des Bundestags bezieht sich auch auf den internen Bereich des Bundestags. So müssen der Bundestagspräsident, die stellvertretenden Präsi­ denten, die Schriftführer und die Zusammensetzung der Ausschüsse neu bestimmt werden, was aber nicht für die Bundestagsverwaltung gilt. Der neue Bundestag gibt sich eine neue Geschäftsordnung, wobei in der Praxis zulässiger- und prakti­ scherweise die Geschäftsordnung des alten Bundestags meist übernommen wird.265

211

Der Grundsatz der Diskontinuität ist heute weitestgehend als Verfassungsgewohnheitsrecht anerkannt.266 Er steht somit nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers.

263

Vgl. zum Ganzen Jekewitz, Der Grundsatz der Diskontinuität der Parlamentsarbeit im Staatsrecht der Neuzeit und seine Bedeutung unter der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes, 1977. 264 Vgl. zu diesem Argument (referierend)  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 26 III 4, S. 76. 265 Vgl. die Bekanntmachung über die GO des 16. Deutschen Bundestags v. 6.7.2009 (BGBl. I, 2128). 266 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 26 III 4, S. 76.

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

133

b) Organschaftliche Kontinuität Trotz der Diskontinuität wird die Identität der gesetzgebenden Körperschaft (Organidentität) als solcher durch die Neuwahl seiner Mitglieder nicht berührt.267 Rechtsakte des Bundestags, die Rechtswirkungen nach außen entfalten, bleiben über die jeweilige Legislaturperiode hinaus wirksam. Hierzu zählen bspw. auch Prozesshandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht oder Verträge mit Ange­ stellten des Bundestags.268 Deutlich hat das Bundesverfassungsgericht zum Fort­ bestand eines Normenkontrollantrags ausgeführt:

212

„Die Diskontinuität des Deutschen Bundestags hat als solche keinen Einfluss auf das Fort­ bestehen wirksam vorgenommener Rechtshandlungen des Deutschen Bundestags selbst oder eines Teils seiner Mitglieder. Die einmal gegebene Zulässigkeit eines Normenkon­ trollantrags eines Drittels seiner Mitglieder besteht [deshalb] auch unabhängig davon, daß Antragsteller ihre Stellung als Mitglieder des Deutschen Bundestags verlieren.“269

Gleichwohl ist der Bundestag in seinen Kernkompetenzen rechtlich – anders als der Bun­desrat (s. dazu § 3 Rn. 42) – jedoch kein permanentes Organ, sondern eine permanente Kette von „Bundestagen“. Als faktische Organisation (Bundes­ tagsverwaltung, Gebäude, Sachmittel) besteht der Bundestag mit seinem beträcht­ lichen Verwaltungsunterbau aber sehr wohl dauerhaft, d. h. über die Legislatur­ periode hinaus.

213

III. Vorzeitige Auflösung des Bundestags Neben dem regelmäßigen Ende der Wahlperiode durch Zeitablauf (s. o. Rn. 198 ff.) ist eine vorzeitige Selbstauflösung des Bundestags im Grundgesetz nicht ausdrücklich vorgesehen. Zwar sehen Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG (für den Fall der Kanz­ lerwahl ohne Kanzlermehrheit; s. § 7 Rn. 61 ff.) und Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG (für den Fall der erfolglosen Vertrauensfrage; s. § 7 Rn. 147 ff.) die Auflösung des Bun­ destags durch den Bundespräsidenten vor. Es gibt im Grundgesetz – anders als in allen Landesverfassungen270 – aber kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments und damit kein Recht zur Anordnung von Neuwahlen. 267

BVerfGE 4, 144 (152). Ein anderes gilt für die privatrechtlich angestellten Mitarbeiter der Abgeordneten selbst, deren streng akzessorische Verträge stets mit dem – ggf. vorzeitigen – Ende der Legislatur­ periode und ggf. bei einem vorzeitigen Ausscheiden des Abgeordneten aus dem Bundestag während der Legislaturperiode enden. 269 BVerfGE 79, 311 (327). 270 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 3, Rn. 13 ff.; ein Selbstauflösungsrecht des Landtages sehen die Verfassungen aller Bundesländer vor: Art. 43 Abs. 1 LV-BW, Art. 18 Abs. 1 LV-Bay, Art. 54 Abs. 2 LV-Bln, Art. 62 Abs. 2 LV-Bbg, Art. 76 Abs. 1 lit.  a LV-Bre, Art. 11 LV-Hbg, Art. 80 LV-He, Art. 27 Abs. 2 LV-MV, Art. 10 LV-Nds, Art. 35 Abs. 1 LVNRW, Art. 84 LV-RP, Art. 69 LV-Saarl., Art. 58 LV-Sac (dazu Heinig, Das Selbstauflösungs­ recht des Sächsischen Landtages, 2008), Art. 60 LV-LSA, Art. 19 Abs. 2 LV-SH, Art. 50 Abs. 2 268

214

134

§ 2 Bundestag

215

Basierend auf den Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung hatte man sich bei Schaffung des Grundgesetzes mit Möglichkeiten zur Bundestagsauflösung zurück­ gehalten und diese auf die Fälle des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG und des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG beschränkt. Entgegen einer landläufigen Vorstellung hat es im Kaiserreich und in der Weimarer Republik kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments gegeben. Sowohl Art. 24 S. 2 RV als auch Art. 25 Abs. 1 WRV kannten nur die Möglichkeit der Fremdauflösung durch das Staatsoberhaupt. Allerdings war Art. 25 Abs. 1 WRV sehr weit formuliert („Der Reichspräsident kann den Reichs­ tag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß.“) und führte 1924, 1930, zweimal 1932 und 1933 zu Reichstagsauflösungen.

216

Bei der Schaffung des Grundgesetzes wurde vor diesem historischen Hinter­ grund größere parlamentarische Stabilität angestrebt. Die einzelnen Abgeord­ neten wie die Fraktionen sollten sich in politischen Krisenzeiten nicht vorschnell aus der Verantwortung ziehen können, sondern sollen sich zunächst im Wege des Dialogs und der Diskussion um eine Verständigung und sachliche Lösung be­ mühen. Dieser Zwang wurde als wünschenswertes stabilisierendes Element der Verfassungsordnung empfunden (s. dazu § 7 Rn. 123, 198). Außerdem sollte der Zeitpunkt von Neuwahlen nicht zur Disposition von etwaigen Mehrheiten stehen und nicht zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung und taktischen Kalküls werden.271

217

Nach dem Grundgesetz liegt das Recht zur Auflösung des Parlaments nicht beim Bundestag, sondern beim Bundespräsidenten (Art. 63 Abs. 4 S. 3, Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG). Damit verfolgt das Grundgesetz hinsichtlich der Zuständigkeit zur Auf­ lösungsentscheidung eine ähnliche Linie wie die Vorgängerverfassungen: Art. 24 S. 2 RV sah die Auflösung des Reichstags durch „Beschluß des Bundesrathes unter Zustimmung des Kaisers“ vor; Art. 25 Abs. 1 WRV berechtigte den Reichspräsi­ denten zur Reichstagsauflösung. Allerdings fasst das Grundgesetz die Vorausset­ zungen für die Auflösung enger als die Vorgängerverfassungen.

218

Die Möglichkeit zur Auflösung durch den Bundespräsidenten wird im Grundge­ setz auf zwei genau definierte Fälle beschränkt: Erstens kann der Bundespräsident gem. Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG den Bundestag nach einer ‚gescheiterten‘ Kanzlerwahl auflösen (dazu näher § 7 Rn. 66 ff.). Eine ‚gescheiterte‘ Kanzlerwahl liegt vor, wenn auch in der dritten Wahlphase kein Kandidat die Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“) erreicht hat. Der Bundespräsident kann sich dann zwischen Bundestagsauflösung und Ernennung des Kandidaten mit den meisten Stimmen entscheiden. Zweitens kann gem. Art. 68 Abs. 1 GG nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage der Bundestag aufgelöst werden (dazu näher § 7 Rn. 147 ff.). Satz 1 Nr. 1 LV-Th. In einigen Bundesländern besteht zudem die Möglichkeit einer vorzeitigen Landtagsauflösung durch Volksabstimmung: Art. 43 Abs. 2 LV-BW, Art. 18 Abs. 3 LV-Bay, Art. 54 Abs. 3 LV-Bln, Art. 76 Abs. 1 lit. b LV-Bre. 271 Vgl. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 24, unter Verweis auf die Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 86 ff.

F. Bildung, Zusammensetzung und Auflösung des Bundestags

135

Dazu muss der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellen, der Bundestag diese negativ beantworten, der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Bundestags­ auflösung vorschlagen und der Bundespräsident diesem Vorschlag entsprechen. Sowohl bei der gescheiterten Kanzlerwahl, als auch bei der Vertrauensfrage hat der Bundespräsident ein echtes politisches Ermessen hinsichtlich der Bundestagsauf­ lösung, es handelt sich um sogenannte Reservebefugnisse des Bundespräsidenten (s. dazu § 5 Rn. 35 ff.). Faktisch hat sich allerdings inzwischen – per Verfassungswandel oder genauer: an der Verfassung vorbei – die sogenannte auflösungsgerichtete oder „unechte“ Vertrauensfrage als Mechanismus zur Bundestagsauflösung entwickelt. Dabei stellt der Bundeskanzler die Vertrauensfrage mit der vorher kommunizierten Ab­ sicht, sie zu verlieren. Dann kann er die Bundestagsauflösung vorschlagen und hoffen, dass der Bundespräsident seinem Vorschlag nachkommen wird. Weil diese Form der „inszenierten“ Vertrauensfrage nicht der ursprünglichen Idee des Art. 68 GG entspricht, hat das Bundesverfassungsgericht  – allerdings nur halb­ herzig – versucht, die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage durch ein ungeschrie­ benes Tatbestandsmerkmal der politischen Instabilität einzuschränken (näher § 7 Rn. 150 ff.).

219

Rechtsfolge der vorzeitigen Auflösung ist nur das Vorziehen der nächsten Bundestagswahl (Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG). Auf den Bestand des Bundestags hat die Auf­ lösungsanordnung des Bundespräsidenten keine unmittelbare Wirkung. Der aufge­ löste Bundestag besteht zunächst normal fort und ist in seiner Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt.272 Er endet aber nach der allgemeinen Regelung des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG mit Zusammentritt des neuen, vorzeitig gewählten Bundestags.

220

Die grundgesetzliche Regelung, d. h. die fehlende Existenz eines Selbstauf­ lösungsrechts des Bundestags, hat sich in der politischen Praxis im Wesentlichen nicht bewährt. Sie lässt unberücksichtigt, dass zwar nicht die rechtliche, wohl aber die politische Legitimation eines Bundeskanzlers, der nicht durch Wahlen „ins Amt getragen“ wird (d. h., der nicht als Spitzenkandidat einer politischen Partei im Bundestagswahlkampf aufgetreten ist und unmittelbar danach durch den neu ge­ wählten Bundestag zum Kanzler gewählt wurde), sondern in einem konstruktiven Misstrauensvotum (s. § 7 Rn. 120 ff.) zum Kanzler gewählt wird, in der Öffentlich­ keit als geringer angesehen wird.273 Sie berücksichtigt auch nicht, dass der Bundes­ rat – bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen – die von der Bundesregierung und der Bundestagsmehrheit verfolgte Politik blockieren kann (s. § 3 Rn. 65 ff.) und als politischer Ausweg ggf. eine „quasi-plebiszitäre“ Entscheidung des Wahlvolks

221

272

Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 68, Rn. 39. Kohl wurde am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum Bundeskanz­ ler, nachdem die FDP aus der Koalition mit der SPD unter Kanzler Schmidt ausgetreten war. Nach einer (unechten) Vertrauensfrage durch Kohl wurde der Bundestag aufgelöst und Kohl in der Bundestagswahl vom 6. März 1983 als Bundeskanzler (mittelbar durch den Wahlerfolg der CDU / CSU und FDP) bestätigt. 273

136

§ 2 Bundestag

die blockierende Politik des Bundesrats aushebeln könnte. Die Aufnahme eines Selbstauflösungsrechts in das Grundgesetz erscheint derzeit politisch gleichwohl eher unwahrscheinlich.274 222

Bereits 1976 sprach sich jedoch die Enquête-Kommission Verfassungsreform verfas­ sungspolitisch für die Aufnahme eines Auflösungsrechts des Bundestags mit Zweidrittelmehr­ heit aus. Der Bundestag nahm diesen Vorschlag zwar nicht auf, diskutierte ihn aber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestagsauflösung 1982 erneut kontro­ vers, ohne allerdings zu einem Ergebnis zu gelangen. Auch die Gemeinsame Verfassungskommission nach der Wiedervereinigung sprach sich intern zunächst für ein Selbstauflösungs­ recht des Bundestags aus; gleichwohl fand dieser Vorschlag in der Abstimmungssitzung nicht die erforderliche Mehrheit.275 Die Frage wurde nach der Vertrauensfrage durch den damaligen Bundeskanzler Schröder im Jahre 2005 erneut aktuell. Das Bundesverfassungsgericht hat – mit problematischer Begründung – im Sinne der politischen Praxis entschieden.276

G. Stellung der Abgeordneten I. Mitgliedschaft im Bundestag 1. Ausgangsposition 223

Das Parlament als Versammlung der Volksvertreter ist das zentrale demokra­ tische Organ auf Bundesebene. Es ist auf Bundesebene als einziges Organ direkt durch das Volk gewählt und genießt deshalb eine besondere demokratische Legi­ timation.277 Funktionsfähigkeit, Arbeitsweise und Struktur des Bundestags hängen maßgeblich vom Status der in ihm arbeitenden Abgeordneten ab. Gerade deshalb wird auch der personelle Bestand des Bundestags durch restriktive Regelungen zum Verlust des Abgeordnetenstatus geschützt (s. u. Rn. 234 ff.).278 Das Parlament ist ein Organ, dessen Zweck es auch (aber nicht nur) ist, den vielen einzelnen Ab­ geordneten die Wahrnehmung ihrer Befugnisse zu ermöglichen (Parlamentsfunktion der Ermöglichung der Wahrnehmung von Abgeordnetenmandaten). Das Wesen des Parlaments wird entscheidend durch den Abgeordnetenstatus geprägt.

274 Für ein Selbstauflösungsrecht: Busse, ZRP 2005, 257 (258 f.); Hahn, DVBl. 2008, 154 (154 f.); Bosbach, RuP 2006, 142 (142 f.); Struck, RuP 2006, 140 (140 f.); Thierse, RuP 2006, 145 (145); Wassermann, RuP 2005, 186 (186); Mahrenholz, ZRP 2005, 245 (246); Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 2. (unveränd.) Aufl. 1996, S. 90; dagegen Ströbele, RuP 2006, 144 (144); Dickow, ZRP 2006, 132; Oldiges, ZRP 2005, 207; zur gesamten Problematik vgl. Holzner, Die normative Kraft des Faktischen: Die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG – stiller Verfassungswandel hin zu einem Selbstauflösungsrecht, 2009, S. 62 f. 275 Vgl. dazu Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform, 2. (unveränd.) Aufl. 1996, S. 90. 276 BVerfGE 114, 121. 277 Morlok / Hientzsch, JuS 2011, 1.  278 Morlok / Hientzsch, JuS 2011, 1 (2).

G. Stellung der Abgeordneten

137

Aufgrund der von ihnen wahrzunehmenden Aufgaben genießen Abgeord­ nete besondere Rechte, die zum Teil grundgesetzlich (insb. durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), darüber hinausgehend aber vor allem im Abgeordnetengesetz (AbgG)279 sowie im Bundeswahlgesetz (BWahlG)280 verankert sind.

224

2. Erwerb der Mitgliedschaft im Bundestag Die Mitgliedschaft von Abgeordneten im Bundestag bestimmt sich nach dem Grundgesetz sowie den konkretisierenden Vorschriften des BWahlG. Nach § 45 Abs. 1 S. 1 BWahlG erwirbt ein gewählter Bewerber die Mitgliedschaft nach abschließender Feststellung des Wahlergebnisses mit der Eröffnung der ersten Sitzung des Bundestags nach der Wahl. Dies gilt nicht, wenn der Ge­ wählte zuvor gegenüber dem Landeswahlleiter die Ablehnung des Mandats erklärt (§ 45 Abs. 1 S. 2 BWahlG). Äußert sich der Gewählte nicht frist- oder nicht form­ gerecht, wird seine Annahme fingiert. Eine Erklärung unter Vorbehalt wird als Ablehnung gewertet (§ 45 Abs. 1 S. 3 BWahlG). Die Erklärung selbst ist unwider­ ruflich (§ 45 Abs. 1 S. 4 BWahlG).

225

3. Inkompatibilitäten Das parlamentarische Mandat des Bundestagsabgeordneten ist – aus dem Gedanken der horizontalen Gewaltenteilung heraus – mit verschiedenen sonstigen öffentlichen Ämtern inkompatibel (s. allgemein § 1 Rn. 80 f.). Dies gilt vor allem für das Amt des Bundespräsidenten (Art. 55 Abs. 1 GG – s. dazu § 5 Rn. 75 ff.) so­ wie für die Mitgliedschaft im Bundesverfassungsgericht (Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG – s. dazu § 8 Rn. 156 ff.).

226

Darüber hinaus enthält Art. 137 Abs. 1 GG einen besonderen Gesetzesvorbehalt für die Beschränkung der Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des öffent­ lichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeit sowie von Richtern. Im Ergebnis besteht nach Art. 137 Abs. 1 GG zwischen Legislative und Exekutive keine prinzipielle Inkompatibilität im Sinne eines verfassungsrechtlichen Gebots der strikten Trennung von Amt und Mandat, sondern es wird der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen, inwieweit die Träger staatlicher Ämter (Beamte, Richter usw.) zum Bundestag (und zu den Landtagen) wählbar sein sollen.281

227

279

Abgeordnetengesetz i. d. F. d. Bek. v. 21.2.1996 (BGBl.  I, S. 326), zul. geänd. d. G. v. 27.5.2020 (BGBl. I, S. 1161). 280 Bundeswahlgesetz vom 23.7.1993 (BGBl. I, S. 1288, 1594), zul. geänd. durch Gesetz v. 18.6.2019 (BGBl. I, S. 834). 281 BVerfGE 18, 172 (180) – Oberstadtdirektor; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 246 f.; a. A. HessStGH, DÖV 1970, 243 ff. Die ursprüngliche For­ derung der Alliierten nach einer wählbarkeitsausschließenden Regelung (Ineligibilität), die

138

§ 2 Bundestag

228

Auf den Gesetzesvorbehalt des Art. 137 Abs. 1 GG gehen die ausführlichen Regelungen in den §§ 5–10 AbgG zurück, die sich mit der Rechtstellung der in den Bundestag gewählten Angehörigen des öffentlichen Dienstes befassen. Sie schränken allerdings abweichend vom Wortlaut des Art. 137 Abs. 1 GG nicht die Wählbarkeit der dort genannten Personen ein, sondern ordnen zugunsten des parla­mentarischen Mandats das Ruhen der Rechte und Pflichten aus dem jeweiligen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis für die Zeit der Mitgliedschaft im Bundestag an.

229

Damit geht ein grundsätzlicher Anspruch einher, nach Beendigung der Mit­ gliedschaft des Bundestags wieder in das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis zurückzukehren. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Art. 137 GG läßt es zwar zu, daß gleiche passive Wahlrecht insoweit einzuschränken, als es zu ver­hindern gilt, daß Mandatsträger einem Parlament angehören, die in ihrer beruf­ lichen Funktion der Kontrolle des Parlaments unterliegen. Nicht mehr gerechtfertigt ist es aber, diese Personen von der Wählbarkeit auszuschließen. Dem Betroffenen muß jeden­ falls die Wahl zwischen Mandat und Bei­be­haltung seiner beruflichen Tätigkeit verbleiben. Faktisch liegt ein Ausschluß der Wählbarkeit auch vor, wenn der Gewählte sich wegen der Folgen der Inkompatibilitätsregelung außerstande sieht, sich für das Mandat zu entschei­ den. Der Gesetzgeber muß daher – jedenfalls außerhalb des kom­munalen Be­reichs – Fol­ geregelungen treffen, die die Nachteile der Unvereinbarkeitsregelung für den Betrof­fenen auffangen und ihm eine Wahlmöglichkeit belassen. Teil einer solchen Folgeregelung ist die Anord­nung, daß das inkompatible Beschäftigungsverhältnis nicht endgültig beendet, sondern dem Ge­wähl­ten ein Wiederverwendungsanspruch gewährt wird, der ihm die Ent­ scheidung für das Mandat er­leich­tert.“282

230

Im Einzelnen sehen die Regelungen der §§ 5 ff. AbgG für die Wahrnehmung von Exekutivämtern unterhalb der Regierungsebene 283 eine durchgängige Trennung vom Abgeordnetenmandat und Amt des öffentlichen Diensts vor. Die Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis von Soldaten, Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes ruhen, solange diese Mitglied des Bundestags sind (§§ 5, 8 AbgG). Nach herrschender Auffassung dient die beschränkte Vereinbarkeit von Amt und Mandat nicht nur der Verwirklichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes in personeller Hinsicht, sondern zugleich der Vermeidung von Interessenkollisionen. Die konfligierenden Interessen werden regelmäßig auf den gegenläufigen Aufga­ benstellungen von Amt und Mandat beruhen. Die Stärke des möglichen Interessen­ offenkundig zur politischen Neutralisierung des Beamtentums gedacht war, wurde insofern eingeschränkt. Hierzu und zur historischen Entwicklung von der Kompatibilität zur Inkom­ patibilität im deutschen Staatsrecht ausführlich: Stober / L ackner, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Bd. I, (111. Ergänzungslieferung, Mai 2004), Art. 137 Abs. 1, Rn. 40 ff. 282 BVerfGE 98, 145 (156 f.), unter Verweis auf BVerfGE 18, 172 (181) – Oberstadtdirektor; 48, 64 (88); 58, 177 (192). 283 Unverständlich ist allerdings, warum dieser Gedanke nicht gerade auch für Bundesmi­ nister-Abgeordnete gelten soll. Die Bevorzugung von Regierungsmitgliedern ist schädlich für das politische System und als Ungleichbehandlung gegenüber öffentlich Bediensteten schwer zu rechtfertigen (s. auch unten Rn. 613).

G. Stellung der Abgeordneten

139

konfliktes variiert je nach Art und Aufgabe des öffentlichen Amtes und ist daher richtigerweise zugleich der Maßstab für die durch den Gesetzgeber zu beachtende Schärfe der Trennung von Mandat und sonstigen Tätigkeiten.284 In diesem Sinn ist die Sonderregelung des § 9 Abs. 2 S. 1 AbgG zu lesen, wonach Hochschullehrer „eine Tätigkeit in Forschung und Lehre sowie die Betreuung von Doktoranden und Habilitanden während der Mitgliedschaft im Bundestag wahrnehmen“ dürfen. Nach der ausdrücklichen Regelung des § 44a Abs. 1 S. 2 AbgG sind andere berufliche Tätigkeiten und Ämter mit der Mitgliedschaft im Bundestag grund­ sätzlich vereinbar.285 Hierin spiegelt sich die Eigenschaft des (Bundestags-)Abge­ ordneten als Volksvertreter wider. Diese gewollte Verbindung des Abgeordneten mit dem „bürgerlichen“ Leben kann aber auch zu Interessenkollisionen führen. In solchen Fällen ist es dem Abgeordneten kraft ungeschriebenen Verfassungs­ rechts wegen seiner Abgeordnetentätigkeit untersagt, solche Nebentätigkeiten weiterzuführen. Allerdings sind solche immanenten Schranken ausfüllungs- und konkretisierungsbedürftig.

231

Auf jeden Fall sind berufsbedingte Aufträge und Weisungen verboten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Entsprechendes gilt für die Annahme von gesetzlich nicht vor­ gesehenen Zuwendungen und Vermögensvorteilen. Dies versucht § 44a Abs. 2 AbgG in Worte zu fassen. Er verbietet grundsätzlich die Annahme von Zuwendun­ gen oder anderen Vermögensvorteilen für die Ausübung des Mandats. Dies lässt aber die Zulässigkeit der Entgegennahme von Spenden unberührt (§ 44a Abs. 2 S. 4 AbgG), was zu Grauzonen der Käuflichkeit führen kann.

232

(Potentiell) wirkungsvoller sind wohl die Anzeigepflichten und Veröffent­ lichungsvorschriften der aufgrund § 44b AbgG zu erlassenden Verhaltensregeln. Tätigkeiten vor Übernahme des Mandats sowie Tätigkeiten und Einkünfte neben dem Mandat, die auf für die Ausübung des Mandats bedeutsame Interessenver­ knüpfungen hinweisen können, sind nach Maßgabe der vom Bundestag aufgestell­ ten Verhaltensregeln anzuzeigen und zu veröffentlichen (§ 44a Abs. 4 S. 1 i. V. m. § 44b AbgG i. V. m. Anlage 1 zur GOBT). Allerdings haben diese Vorschriften bis heute nicht die wünschenswerte Transparenz über die beruflichen und finan­ ziellen Interessenkollisionen der Bundestagsabgeordneten gebracht. Außerdem ist die Transparenzregelung zu Spenden (§ 44b Nr. 3 Var. 2 AbgG) leicht zu umgehen (Stückelung von Spenden, Sponsoring etc.).

233

284 Weil die Art des Amtes und die Bedeutung der anfallenden Verwaltungstätigkeiten bei Hochschullehrern und Lehrern relativ unbedeutend sind, ist die Gefahr eines Interessenkon­ flikts regelmäßig sehr gering, so BVerfGE 18, 172 (185) – Oberstadtdirektor. 285 Zur Verfassungsmäßigkeit der Inkompatibilitätsregelung in § 26 Abs. 2 des Berliner Landeswahlgesetzes, nach der Mitglieder des zur Geschäftsführung berufenen Organs eines privatrechtlichen Unternehmens, an dem das Land Berlin mit mehr als 50 % beteiligt ist, mit dem Erwerb der Mitgliedschaft im Abgeordnetenhaus aus ihrer beruflichen Funktion aus­ scheiden, vgl. BVerfGE 98, 145 ff.

140

§ 2 Bundestag

4. Verlust der Mitgliedschaft 234

Das Bundeswahlgesetz enthält in § 46 Abs. 1 BWahlG eine Aufzählung von Gründen für den Mandatsverlust.

235

Nach § 46 Abs. 1 S. 1 BWahlG verliert ein Abgeordneter seine Mitgliedschaft im Bundestag bei Ungültigkeit deren Erwerbs (§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BWahlG), bei Neufeststellung des Wahlergebnisses (§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BWahlG), bei Wegfall einer Voraussetzung seiner jederzeitigen Wählbarkeit (§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BWahlG), darüber hinaus aber auch durch Verzicht (§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 BWahlG, sog. Mandatsrückgabe) sowie durch Feststellung der Verfassungswid­ rigkeit der Partei oder der Teilorganisation einer Partei (Parteiverbot, § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, Abs. 4 BWahlG), der er angehört.286 Der Verlust des Mandats lässt sich im Fall des Parteiverbots damit rechtfertigen, dass die Verfassung die konkret verfolgten politischen Zielvorstellungen nicht billigt und demgemäß auch nicht in den verfassungsrechtlich geschützten parlamentarischen Entscheidungsprozess aufnehmen will. Daneben führt eine vorzeitige Auflösung des Bundestags (s. o. Rn. 214 ff.) zum Mandatsverlust. Auch der Tod des Abgeordneten bewirkt den Ver­ lust des Mandats (vgl. § 48 Abs. 1 S. 1 BWahlG). Hinzu kommen Verlustgründe nach anderen gesetzlichen Vorschriften (vgl. § 46 Abs. 1 S. 2 BWahlG); die Be­ schränkung auf gesetzlich vorgesehene Gründe für den Mandatsverlust dient dem personellen Bestandsschutz des Parlaments. § 47 BWahlG regelt die Zuständig­ keiten zur Entscheidung über den Verlust der Mitgliedschaft.

236

Von der Konstellation des Parteiverbots einmal abgesehen, ist die Innehabung des Mandats unabhängig von der weiteren Parteizugehörigkeit. Deshalb wird die Mitgliedschaft im Bundestag durch den Wechsel oder den Verlust der Partei­ zugehörigkeit nicht beeinflusst.287 Politische Forderungen der ‚verlassenen‘ Partei nach einer Mandatsrückgabe im Falle eines Parteiwechsels mögen aus der Sicht der betroffenen Partei bisweilen nachvollziehbar sein, sie sind aber verfassungs­ rechtlich nicht begründet.

237

Das Bundeswahlgesetz regelt in seinem § 48 die Berufung von Listennachfolgern und Ersatzwahlen. Sofern ein Abgeordneter aus dem Bundestag ausschei­ det, wird im Nachrückverfahren der Sitz aus der Landesliste derjenigen Partei besetzt, für die der Ausgeschiedene bei der Wahl aufgetreten ist (§ 48 Abs. 1 S. 1 BWahlG). Das gilt allerdings nur für Listenbewerber, die noch der entsprechenden Partei angehören (§ 48 Abs. 1 S. 2 BWahlG).

238

Dass der Sitz unbesetzt bleibt, weil die Liste erschöpft ist (§ 48 Abs. 1 S. 4 BWahlG), wird in der Praxis kaum vorkommen. Relevanter ist dagegen der Fall, in dem der Ausgeschiedene als Wahlkreisabgeordneter einer Wählergruppe oder 286

Nach BVerfGE 2, 1 (77) – SRP-Verbot, oblag es noch den zuständigen Wahlprüfungs­ instanzen, für jeden einzelnen Abgeordneten der für verfassungswidrig erklärten Partei fest­ zustellen, ob sein Mandat erloschen ist. 287 Vgl. Tsatsos, DÖV 1971, 253 ff.

G. Stellung der Abgeordneten

141

einer Partei (direkt) gewählt worden ist, für die im Land keine Landesliste zuge­ lassen wurde. In diesem Fall muss nach § 48 Abs. 2 BWahlG in dem betreffenden Wahlkreis eine Ersatzwahl durchgeführt werden. In der politischen Praxis ge­ schieht dies aber nur selten.

II. Abgeordnetenstatus 1. Grundsätzliches Das Abgeordnetenmandat ist kein Amt im eigentlichen verwaltungsrechtlichen Sinne, sondern ein besonderes verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis der Mitgliedschaft im Bundestag.288 Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zu­ sammenhang bereits früh vom „Status“ des Abgeordneten gesprochen, der sich aus Art. 38 Abs. 1 GG ergibt.289 Im Ergebnis soll dieser Normenkomplex auch und gerade die Funktionsfähigkeit des Parlamentes sichern.290

239

Nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind die Bundestagsabgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes,[291] an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Ge­ wissen unterworfen.“ Es handelt sich um eine historisch geprägte Formel: Diese Aussage ist nahezu wortgleich aus der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 übernommen worden (s. bereits oben Rn. 19).292 In ihr spiegelt sich die Vorstellung des politischen Liberalismus wider, welche den einzelnen Abgeordneten als einen „unabhängigen, als Einzelperson gewählten“293 Amtsträger konzipiert hat, welcher entsprechend frei und unabhängig Entscheidungen trifft.

240

Heute sind diese historischen Voraussetzungen weitgehend entfallen: Die Zeit der Honoratiorenabgeordneten, d. h. der Parlamente ohne politische Parteien und ohne Berufspolitiker, ist längst vorüber. Deswegen klingt Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG mit seinen traditionellen Formulierungen in der Gegenwart etwas abgestanden und fast wie eine Satire auf die moderne Parteiendemokratie. Den heutigen Vor­ gaben und Anforderungen des Parteienstaates an parlamentarisches Arbeiten ent­ sprechend wird dieser Verfassungssatz deshalb längst einschränkend ausgelegt.

241

Die Formulierung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sorgte schon bei der Erarbeitung des Grundgesetzes für Kontroversen:294 Es wurde schon damals kritisch bemerkt, die Abgeordneten seien nur von einem bestimmten Teil des Volkes abgeordnet.

242

288

Leisner, in: Sodan, GG, 4. Aufl. 2018, Art. 38, Rn. 19. BVerfGE 2, 143 (164). 290 Morlok / Hientzsch, JuS 2011, 1 (2). 291 S. dazu auch Hartmann, AöR 2009, 1 (7 f.). 292 Vgl. Art. 29 RV (s. o. Rn. 19); Art. 21 WRV (s. o. Rn. 25). 293 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 599. 294 Hierzu und zum Folgenden H. H. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 38, Rn. 10 f., (Lfg. 60, Oktober 2010). 289

142

§ 2 Bundestag

Zudem würden sie ihre Arbeit entsprechend einer politischen Einstellung erfüllen, die nicht zuletzt stark von der Partei abhingen, der sie angehörten. Nichtsdesto­ trotz setzte sich die Formulierung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG durch, da man die Abgeordneten gerade vor einem Parteien- oder Fraktionszwang schützen wollte. 243

Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG haftet nach wie vor ein besonderer Status des Abgeordneten an, der sich aus der Repräsentationsfunktion der Mandatsträgers ergibt. Was in der Schrift „De Republica Anglorum“ (1583) von Thomas Smith295 erstmals für England ausgesprochen und später bezogen auf die französische Republik zu einer Theorie der parlamentarischen Reprä­ sentation durch Sieyès weiterentwickelt wurde,296 war die Vorstellung, dass die Gesamtheit der Gewählten nicht einzelne Stände, sondern das ganze Volk vertreten und unmittelbar den einheitlichen und unteilbaren Willen der Staatsbürger repräsentieren. In Deutschland sah erstmals der Entwurf der Paulskirchenverfassung297 von 1848 auf Reichsebene ein Parlament anstelle eines Ständetages vor. Dieser Status vermittelt sich allen Abgeordneten gemeinsam und zu gleichen Anteilen.

244

Zu den Abgeordnetenrechten, die sich unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ableiten lassen, gehört u. a. das Recht, parlamentarische Initiativen zu ergrei­ fen.298 Dagegen hat der einzelne Abgeordnete keinen Anspruch darauf, in ein be­ stimmtes zahlenmäßig begrenztes Gremium gewählt zu werden.299 Ebensowenig folgt aus dem Recht, sich an der parlamentarischen Willensbildung zu beteiligen, ein zwingender Anspruch auf Teilnahme an den vertraulichen Beratungen im Vermittlungsausschuss.300

245

Hinsichtlich des Status des Abgeordneten werden im Wesentlichen drei grundsätzliche Aspekte unterschieden: das freie Mandat (s. u. Rn. 246 ff.), das gleiche Mandat (s. u. Rn. 267 ff.) sowie verschiedene Mitwirkungsrechte und -pflichten (s. u. Rn. 275 ff.).301 2. Freiheit des Mandats a) Allgemeines

246

Die Freiheit des Mandats richtet sich gegen den Staat (s. u. Rn. 248), aber auch gegen Dritte (s. u. Rn. 250) einschließlich Parteien und Fraktionen (s. u. Rn. 254 ff.). Sie ist notwendige Voraussetzung der repräsentativen Demokratie.302 295 Thomas Smith (1513–77), Staatssekretär von Königin Elisabeth I.; zu Smiths Begriff der ‚Repräsentation‘ Pitkin, The Concept of Representation, 1967, S. 246 f. 296 U. a. durch die Schrift „Quelques idées de Constitution applicables à la ville de Paris“, 1789. 297 Abschn. IV, Art. IV, § 93: Das Volkshaus besteht aus Abgeordneten des deutschen Volkes. 298 BVerfGE 84, 304 (328) – PDS / Linke Liste. 299 BVerfGE 70, 324 (353) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 300 BVerfGE 96, 264 (284) – Fraktions- und Gruppenstatus. 301 Vgl. dazu Häberle, NJW 1976, 537 (538 f.). 302 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, S. 214.

G. Stellung der Abgeordneten

143

Die Freiheit des Mandats soll die Funktionsfähigkeit des Parlaments sichern, soll aber auch der Sicherung der Individualstellung der Abgeordneten dienen. Diese grundgesetzlich gewährte Freiheit soll dem Abgeordneten eine flexible Ausübung seines Mandats, namentlich einer Öffnung für neue gesellschaftliche Entwicklungen, Wertvorstellungen sowie neue Tatsachen und wissenschaftliche Erkenntnisse ermöglichen.303

247

Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG schützt den Abgeordneten zunächst einmal vor jeglicher staatlicher Beeinträchtigung, vor allem bezüglich des Bestands und der Dauer des Mandats. Dieser Schutz greift auch gegenüber dem Bundestag selbst: Diesem ist es grundsätzlich verwehrt, das Verhalten eines Abgeordneten vor der Wahl (soweit es nicht seine Wählbarkeit ausschließt) zum Anknüpfungspunkt eines besonderen politischen Überprüfungsverfahrens zu machen.

248

Im Zusammenhang mit der Überprüfung von Abgeordneten auf frühere Tätigkeit oder Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR hat das Bundesver­ fassungsgericht allerdings das von § 44c AbgG vorgesehene Verfahren einer sog. Kollegialenquête gebilligt, mit dem der Bundestag bei besonderen Verdachtsmomenten die Involvie­ rung einzelner Abgeordneter in den Staatssicherheitsdienst der DDR feststellen lassen kann. Dieses Verfahren – so das Bundesverfassungsgericht – sei im Interesse des Vertrauens der Öffentlichkeit in das Parlament gerechtfertigt, sofern es zum Schutze des Abgeordnetensta­ tus besondere Anforderungen erfülle, die über den entschiedenen Fall hinaus als prozedurale Schutzmöglichkeiten auch abstrakte Geltung beanspruchen könnten. So müssten dem Betrof­ fenen Beteiligungsrechte eingeräumt sein, die ihm gestatteten, aktiv an der Herstellung des Beweisergebnisses mitzuwirken. Außerdem müsse das Verfahren Regelungen enthalten, die eine korrekte Wiedergabe des Umfangs der Ermittlungen gewährleisteten.304

249

Darüber hinaus wird jedem einzelnen Abgeordneten die Freiheit des Mandats von Weisungen, Aufträgen und Wünschen Dritter rechtlich verbürgt, seien es solche von Wählern, Parteifreunden, Fraktionskollegen, Vorgesetzten, gesell­ schaftlichen Gruppen oder anderen. Gleichwohl darf die Zugehörigkeit eines Ab­ geordneten zu einer Partei, einer Fraktion, einer Koalition oder auch zum Kabinett keine rechtlichen Auswirkungen auf die Freiheit seiner Entscheidung haben (vgl. auch Rn. 254 ff.).305

250

Aus der Freiheit des Mandats folgt insbesondere das Verbot des sog. „imperativen Mandats“ (Weisungsgebundenheit durch Wähler und / oder Partei). Das imperative Mandat war in den 1970er Jahren insbesondere von der Studentenbe­ wegung gefordert worden, um tatsächliche (oder angebliche) Strukturschwächen der repräsentativen Demokratie306 – vor allem die Entfremdung von Wählern und Gewählten – zu überwinden.

251

303

Morlok / Hientzch, JuS 2011, S. 1 (4). BVerfGE 94, 351 (366, 368 f.); bestätigend auch BVerfGE 99, 19 (32). 305 Ausführlich H. H. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. IV, Art. 38, Rn. 194 ff., (Lfg. 60, Ok­ tober 2010). 306 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 87. 304

144 252

§ 2 Bundestag

Ebensowenig wird der einzelne Abgeordnete rechtlich – wohl aber moralisch – durch seine eigenen Wahlversprechen verpflichtet. Etwaige vertragliche Verpflichtungen sind bereits wegen Verstoßes gegen § 134 BGB i. V. m. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG von vorneherein nichtig. Der Abgeordnete ist bei seiner Arbeit unmittelbar nur seinem Gewissen (und der Verfassung) unterworfen.

b) Keine absolute Freiheit 253

Allerdings ist auch die vom Grundgesetz vorgesehene Freiheit des Mandats nicht schrankenlos. Vielmehr kann sie – wie vorbehaltlos gewährleistete Grund­ rechte auch307 – durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang begrenzt werden, zu denen bspw. die Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Parlaments als solche zählt.308 Jedoch soll das Prinzip der repräsentativen Demokratie, wie es sei­ nen Niederschlag im Grundgesetz gefunden hat, keine über Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG hinausgehende Wirkung für die parlamentarischen Rechte des einzelnen Abgeord­ neten haben.309 Mag die Grenze zwischen Individualrecht des Abgeordneten und organschaftlichem Interesse des Bundestags im Einzelfall auch schwierig zu be­ stimmen sein, steht doch zumindest fest, dass die Freiheit des Mandats Beschrän­ kungen überhaupt zugänglich ist. c) Freies Mandat und Parteizugehörigkeit

254

Die rechtliche Unabhängigkeit der Abgeordneten des Bundestags spiegelt sich in der politischen Wirklichkeit allerdings nur sehr bedingt wider. Regelmäßig ge­ langen die Abgeordneten über politische Parteien in den Bundestag, wo sie sich regelmäßig zu einer Fraktion zusammenschließen (s. Rn. 370 ff.). Im Bundestag werden sie von ihrer Partei oder Fraktion einerseits zu parteikonformen Entschei­ dungen gedrängt, der sie sich andererseits aber regelmäßig auch selbst politisch verbunden fühlen. Darüber hinaus hängt eine erneute Wiederwahl regelmäßig faktisch zunächst von der Nominierung durch die jeweilige Partei ab (s. auch Rn. 151 ff. u. Rn. 256).

255

Trotz des rechtlich freien Mandats besteht also eine faktische Abhängigkeit der Abgeordneten von den Parteien. Das komplexe Verhältnis von Parteizugehörig­ keit und Abgeordnetenstatus sieht Leibholz als eine Konsequenz der Entwicklung hin zum Parteienstaat:310 Das Parlament werde in seiner Funktion des Meinungs­ 307

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 51, Rn. 58 ff. Ausdrücklich BVerfGE 99, 19 (32). 309 BVerfGE 80, 188 (221) – Wüppesahl; 90, 286 (342 f.) – Bundeswehreinsatz. 310 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, S. 226 f.; vgl. zur „Parteiendemokratie“ des Grundgesetzes auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 231 ff. 308

G. Stellung der Abgeordneten

145

austausches und der Meinungsbildung geschwächt: Der Schwerpunkt der demo­ kratischen Meinungsbildung verschiebe sich in den Bereich der Parteien, während das Parlament „mehr und mehr zu einer Stätte w[e]rd[e], an der sich gebundene Parteibeauftragte treffen, um anderweitig, z. B. in Ausschüssen, Fraktionen oder Parteikonferenzen, bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen“.311 Die faktische inhaltliche Bindung der Abgeordneten an das Parteiprogramm der eigenen Partei folgt maßgeblich aus der jeweiligen Parteimitgliedschaft und den oben geschilderten Machtstrukturen bei der Aufstellung als Wahlkandidat. Im re­ gelmäßig gegebenen Fall einer (von einer mehrfraktionellen Bundestagsmehrheit getragenen) Regierungskoalition folgt die Bindung der Abgeordneten der Regie­ rungsfraktionen jedenfalls faktisch auch aus den (z. T. ‚fremden‘) Parteibedürf­ nissen, welche in Koalitionsvereinbarungen absegnet wurden. Die praktische Verknüpfung von Mandat und Parteizugehörigkeit manifes­ tiert sich dem Wähler gegenüber auch und gerade bei Wahlen: Dieser hat zwar nach § 4 BWahlG bei der Erststimme die Wahl zwischen verschiedenen Bewerbern – der jeweils gewählte Bewerber ist der sog. Wahlkreisabgeordnete –, kann mittels der Zweitstimme aber nur zwischen Landeslisten, nicht jedoch zwischen den einzelnen Kandidaten als solchen wählen. Insofern trifft der Wähler bei der Listenwahl in aller Regel gerade auch eine Entscheidung zwischen politischen Parteien. Die personelle Zusammensetzung des Bundestags wird dementsprechend entscheidend durch die Nominierung der Kandidaten auf den Landeslisten durch die politischen Parteien (vor-)bestimmt. Ohne einen (aussichtsreichen) Listenplatz oder die Auf­ stellung als Wahlkreiskandidat bleibt eine Kandidatur meistens chancenlos. Die Entscheidung des Wahlvolks bleibt regelmäßig auf diese Kandidaten beschränkt.

256

Zwar besteht nach § 18 Abs. 1 Var. 2 i. V. m. § 20 Abs. 3 S. 1 BWahlG bei den Kreiswahlvorschlägen die Möglichkeit, sich mit Unterstützung von 200 Wahl­ berechtigten des Wahlkreises auch unabhängig von dem Kreiswahlvorschlag einer politischen Partei, d. h. ohne die Unterstützung durch eine politische Partei als Erststimmen-Kandidat aufstellen zu lassen. Die Praxis zeigt jedoch, dass die Erfolgschancen (Wahlkreisgewinn) dieser Möglichkeit nahezu gleich Null sind. Landeslisten können ohnehin nur von Parteien eingereicht werden (§ 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG).

257

Dem Wahlrechtsgrundsatz der Unmittelbarkeit wird bei einer Listenwahl nur dann noch ausreichend Rechnung getragen, wenn die Listen verbindlich vor der Wahl feststehen und nicht zur allgemeinen Disposition der Parteien stehen.312 Ansonsten könnten die Parteien Kandidaten nach ihrem freien Belieben in den Bundestag senden, die Mandate wären nicht mehr unmittelbar auf die Wahlent­ scheidung des Wählers zurückzuführen.

258

311 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, S. 226 f. 312 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 127 ff.

146

§ 2 Bundestag

259

Die Praxis der Verknüpfung von Mandat und Parteizugehörigkeit lässt erkennen, dass die rechtliche Freiheit des Mandats einer Fraktionsbindung (Fraktionsdisziplin) bei Abstimmungen nicht absolut entgegenstehen kann, jedenfalls soweit diese weder rechtlich bindend noch (konkret / explizit) faktisch erzwungen ist (s. u. Rn. 260). Die Fraktionsbindung meint die Begrenzung des freien Mandats durch Vorgaben der Fraktion für das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten. Die Fraktionen können im politischen Kampf im Bundestag und in der öffentlichen Meinung ihre Aufgaben regelmäßig nur erfüllen, wenn sie geschlossen auftreten. Dafür müssen sie z. B. politische Positionen im Hinblick auf Parlamentsdebatten und Gesetzesbeschlüsse vorher in einem Prozess fraktionsinterner Willensbildung festlegen. Die Fraktionsbindung ist gerade auch bei Koalitionsregierungen unver­ zichtbar, wenn es z. B. um die Umsetzung von Koalitionsbeschlüssen geht. Die Fraktionen können auch Sanktionen bei Verletzung der Fraktionsbindung durch einen Abgeordneten treffen, z. B. Rückruf eines Abgeordneten aus einem Aus­ schuss, Verlust von Fraktionsämtern bis zum Fraktionsausschluss. Gleichwohl haben solche Fraktionsbeschlüsse nur den Charakter rechtlich unverbindlicher Empfehlungen.313 Die politische Bindung durch eine entsprechende politische Fraktionsdisziplin ist somit grundsätzlich zulässig (s. auch Rn. 263), die rechtliche dagegen nicht. Ein Parteiausschluss wegen eines bestimmten Abstimmungsver­ haltens würde eine rechtliche Bindung voraussetzen und ist deshalb unzulässig.

260

Das in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verbürgte freie Mandat dient dem Abgeordneten auch als Abwehrrecht gegen seine Fraktion.314 Wird eine Fraktionsbindung un­ widerstehlich, d. h. faktisch zwingend, oder wird diese gar als rechtlich verbind­ lich behandelt, ist die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen überschritten. Dies ist dann der Fall, wenn die Nichtbefolgung von Fraktionsbeschlüssen oder -erklärungen zu solchen Sanktionen oder Nachteilen führt, welche die Ausübung des Mandats oder gar dessen Bestand gefährden. Es liegt dann ein unzulässiger Fraktionszwang vor (imperativer Fraktionszwang).315

261

Wegen des verfassungsrechtlichen Verbots des imperativen Fraktionszwangs sind insbe­ sondere vorgefertigte Erklärungen, mit denen sich ein Abgeordneter gegenüber seiner Partei oder Fraktion unter bestimmten Voraussetzungen oder gar nach dem Willen der Partei- oder Fraktionsführung zum Verzicht auf sein Mandat verpflichtet, unzulässig und unwirksam. Dies gilt erst recht für die Abgabe von pauschalen, vorab erklärten Blanko-Mandatsverzichtserklärungen an die Fraktionsführung.

262

Das Gleiche gilt für sog. Rotationsvereinbarungen, nach denen die gewählten Abgeord­ neten im Laufe der Legislaturperiode durch ihre Listennachfolger ersetzt werden. Hier ist die Bestimmung der Abgeordneten nicht mehr (nur) auf die Stimmentscheidung des Wäh­

313 BVerfGE 47, 308 (318), 90, 104 (106); Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 38, Rn. 49. 314 Pfeil, Der Abgeordnete und die Fraktion, 2008, S. 158 f. 315 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 28; hierzu ausführlich in Pfeil, Der Abgeord­ nete und die Fraktion, 2008, S. 157 ff.

G. Stellung der Abgeordneten

147

lers zurückzuführen, sondern beruht maßgeblich auf einem internen Parteibeschluss.316 Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, der einer Listenwahl zugrunde liegt, wird so durch das Dazwischenschalten von subjektiven Entscheidungen und Absprachen Dritter (insbes. Fraktionsbeschlüsse über ernstzunehmende politische Fragen) verletzt. Deshalb sind solche Rotationsvereinbarungen unzulässig.

Da auch bei der unverbindlichen und unerzwungenen Fraktionsdisziplin (s. o. Rn. 259) ein Spannungsverhältnis zum freien Mandat besteht, ist es begrüßens­ wert, dass bisweilen – insbesondere bei der Entscheidung grundsätzlicher ethischer Fragen – die Fraktionen keine Beschlussempfehlung abgeben und ihren Mitglie­ dern die Möglichkeit eröffnen, parteipolitisch nicht präjudizierte parteiübergrei­ fende Positionen einzunehmen. In den Medien findet sich dann gelegentlich die nicht ganz präzise Formulierung, „der Fraktionszwang“ sei in dieser Frage aufge­ hoben, es handelt sich dann um eine offene Abstimmung. Beispiele für eine Ab­ stimmung ohne Beschlussempfehlung waren etwa die Entscheidungen des Bun­ destags für eine eingeschränkte Präimplantationsdiagnostik im Juli 2011 sowie für die „Ehe für alle“ im Juni 2017.

263

Bezüglich der Frage der Fraktionsdisziplin etc. ist im Schrifttum und in der Rechtsprechung häufig von einer verfassungsimmanenten Unvereinbarkeit bzw. einem verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis zwischen Art. 21 GG und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG die Rede.317 Die erforderlich scheinende Auflösung dieses Spannungsverhältnisses318 lässt sich indessen vermeiden, wenn man die Rechts­ wirkungen der beiden Vorschriften richtig zueinander in Beziehung setzt. Eine Vorrangstellung des spezielleren Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gegenüber dem „sehr allgemein gehaltenen“ Art. 21 GG lässt sich kaum begründen.319 Die Institutio­ nalisierung der Parteien in Art. 21 GG verhält sich überhaupt nicht zu der Frage, inwieweit politische Vereinigungen auch Bestandteile der Wahl und der Parla­ mentsstruktur sein sollen. Diese Entscheidung wird regelmäßig durch Wahlund Parteiengesetze, d. h. auf einfachgesetzlicher Ebene getroffen. Parteiliches Wirken beschränkt sich trotz der grundlegenden Vorschrift des Art. 21 GG im Wesentlichen auf den gesellschaftlich-politischen Bereich, beschränkt aber nicht den repräsentativen Abgeordnetenstatus nach dem Grundgesetz.320 Es kann viel­ mehr in jeder einzelnen Frage sehr wohl eine gewissensunterworfene Entschei­ dung des Abgeordneten für eine parteitreue und fraktionsgesteuerte Abstimmung

264

316

Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38, Rn. 82; differenzierend Trute, in: v. Münch / ​ Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 38, Rn. 32; s. auch NdsStGH, NJW 1985, 2319 (2320). 317 Vgl. BVerfGE 2, 1 (72) – SRP-Verbot, wo sogar von einer „prinzipiellen Unvereinbarkeit“ die Rede ist. 318 Das Bundesverfassungsgericht hat an anderer Stelle zur Lösung des Gegensatzes in eini­ ger Realitätsferne empfohlen, dass die Parteien (über die ihnen angehörenden Abgeordneten) eben gesamtstaatliche, und nicht ausschließlich Gruppeninteressen wahrnehmen müssten, BVerfGE 5, 85 (233 f.) – KPD-Verbot. 319 Vgl. Silberkuhl, in: Hömig / Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 38, Rn. 15. 320 BVerfGE 44, 144 (149).

148

§ 2 Bundestag

geben.321 Im gesellschaftlichen Bereich vorgeformte Politik lässt sich gerade auch über die Stimme überzeugter und parteigebundener Abgeordneter in den staat­ lichen Entscheidungsvorgang einbringen. 265

Das Rechtsverhältnis des Abgeordneten zu seiner Partei, das in verfassungs­ rechtlicher Hinsicht durch die Artikel 38 und 21 GG bestimmt wird, aktualisiert sich bei einem Zerwürfnis zwischen dem einzelnen Abgeordneten und seiner Partei. Ein solches Zerwürfnis kann zu einem freiwilligen Austritt oder einem unfreiwilligen Ausschluss des Abgeordneten aus der Fraktion oder gar aus der Partei führen. Wenn diese Konstellationen im Einzelnen auch unterschiedlich zu beurteilen sind, ist ihnen doch eines gemeinsam: Das Mandat des Abgeordneten im Bundestag bleibt unberührt (s. auch oben Rn. 236). Insofern setzt sich die von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG geschützte Unabhängigkeit auch und gerade gegen die ver­ fassungsrechtliche Verankerung der politischen Parteien in Art. 21 GG durch.

266

Trotz dieser Tendenz zur Verselbständigung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gegenüber Art. 21 GG bleiben beide Vorschriften inhaltlich miteinander verbunden. Im Fall der Spende an einen Abgeordneten hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise unter ausdrückli­ cher Bezugnahme des Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG entschieden, dass der Abgeordnete den Spender dann öffentlich zu benennen hat, wenn auch die Partei eine solche Spende in ihrem Rechen­ schaftsbericht nach ihrer Herkunft zu verzeichnen hätte.322

3. Gleichheit der Mandate 267

Neben der Freiheit des Mandats wird der Status des Abgeordneten vor allem durch das Prinzip der formalisierten Gleichbehandlung aller Abgeordneten geprägt. Jeder Abgeordnete ist in gleicher Weise Vertreter des gesamten Volkes, was letztlich auf dem Prinzip der formalen Wahlrechtsgleichheit beruht (Art. 38 Abs. 1 S. 2 u. S. 1 GG).323

268

Das Prinzip der formalen Gleichheit besagt, dass das Grundgesetz im Parla­ mentsrecht (wie im Wahlrecht) keine für den Status des einzelnen Abgeordneten erheblichen besonderen, in seiner Person liegenden Umstände kennt, die eine Dif­ ferenzierung innerhalb dieses Status rechtfertigen könnten.324 Deshalb sind alle Mitglieder des Parlaments einander formal gleichgestellt.325

269

Mit diesem Absolutheitsanspruch konnte der Grundsatz allerdings nicht auf­ rechterhalten werden. Vielmehr sind gewisse Differenzierungen möglich. In späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht zugestanden, dass 321

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 600. 322 BVerfGE 85, 264 (325) – Parteienfinanzierung VI. 323 Frenz, JA 2010, 126 (127). 324 S. auch BVerfGE 102, 224 (239 f.). 325 BVerfGE 40, 296 (317); 80, 188 (220) – Wüppesahl; 84, 304 (325) – PDS / Linke Liste; 93, 195 (204).

G. Stellung der Abgeordneten

149

„der den Abgeordnetenstatus bestimmende Grundsatz demokratischer, formaler Gleichheit […] bei Vorliegen besonderer Gründe Differenzierungen zu[lässt]“,326 und dass „die für eine Teilnahme am Prozess der parlamentarischen Willensbildung geltenden Gleichheits­ anforderungen […] durch das Verfassungsgebot der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments eine Einschränkung erfahren“ müssen.327

Vermittelt das Mandat über die Figur der Repräsentation allen Abgeordneten gleichermaßen einen besonderen Status, muss dem innerparlamentarisch ein Recht auf „gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten“328 am parlamentarischen Entscheidungsprozess entsprechen. Dies wirkt sich insbesondere auf die Besetzung der Ausschüsse aus, die von der Geschäftsordnung geregelt wird (insbeson­ dere § 57 GOBT i. V. m. § 12 GOBT).

270

Nach derzeitiger, allerdings nicht unumstrittener Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts gilt: Solange der Abgeordnetenzahl eine entsprechend große Anzahl von Sitzen in Ausschüssen gegenübersteht, wie dies regelmäßig der Fall ist, kann der einzelne Abgeordnete Sitz sowie Rede- und Antragsrecht in einem Ausschuss beanspruchen.329

271

Diesen Anspruch hat nach überwiegender Ansicht auch der fraktionslose Abgeordnete.330 Fraglich ist, ob diesem auch ein Stimmrecht im Ausschuss zustehen muss. Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht verneint.331 Zu Recht ist dem­ gegenüber durch ein Sondervotum332 und im Schrifttum333 auf die Untrennbarkeit von Sitz und Stimme in einem parlamentarischen Gremium hingewiesen worden. Da die Zugehörigkeit zu und die Tätigkeit in Parlamentsausschüssen gerade auf dem Mandat beruhen, stellt die Verwehrung des Stimmrechts – entgegen der Mehr­ heitsmeinung im Bundesverfassungsgericht – eine bedeutende Verkürzung der Mit­ gliedschaftsrechte gegenüber den Rechten anderer Abgeordneter im Ausschuss dar.

272

Dass die Zuteilung eines Stimmrechts im Ausschuss der Gewährleistung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu entnehmen und eine andere verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht er­ kennbar sei, überzeugt dabei nicht. Deshalb gilt es, eine Rechtfertigung für diese Beschränkung des Abgeordnetenstatus zu finden. Eine solche vermag die vom Gericht pauschal ange­ führte „Funktionstüchtigkeit“ des Parlaments nicht zu liefern. Die Begründung dafür, dass und inwieweit durch ein Stimmrecht der Fraktionslosen im Ausschuss das Funktionieren der Parlamentsarbeit konkret beeinträchtigt werden könnte, bleibt das Gericht schuldig. Zweifel ergeben sich bereits daraus, dass fraktionslose wie fraktionsangehörige Ausschussmitglieder

273

326 BVerfGE 94, 351 (369) aus Anlass der Überprüfung, ob Abgeordnete für das MfS tätig waren. 327 BVerfGE 96, 264 (279) – Fraktions- und Gruppenstatus, Hervorh. durch d. Verf. 328 BVerfGE 84, 304 (321) – PDS / Linke Liste, Hervorh. durch d. Verf. 329 BVerfGE 80, 188 (222 f.) – Wüppesahl. In diesem Verfahren rügte ein fraktionslos gewor­ dener Abgeordneter die Rechtsstellung fraktionsloser Abgeordneter. Darunter auch seinen – jedenfalls faktischen – Ausschluss vom Stimmrecht in einem der Ausschüsse des Bundestags. 330 A. A. Kruis, bei: BVerfGE 80, 241 ff. 331 BVerfGE 80, 188 (224) – Wüppesahl. 332 Sondervotum des Richters Mahrenholz, BVerfGE 80, 188 (235 ff.) – Wüppesahl. 333 Brandner, JA 1990, 151 (154); Schulze-Fielitz, DÖV 1989, 829 (833).

150

§ 2 Bundestag

bei der Stimmabgabe frei sind.334 Immerhin ist aber zuzugestehen, dass das Argument der Funktionsfähigkeit des Parlaments an sich grundsätzlich zur Beschränkung der Abgeordne­ tenrechte in Betracht kommt. Die Rechtfertigung der Beschränkung der Abgeordnetenrechte muss allerdings konkret erfolgen und nachvollziehbar sein.

274

Abgeordnete sind grundsätzlich auch berechtigt, an Sitzungen von Ausschüssen teilzu­ nehmen, denen sie nicht angehören.335 Allerdings steht ihnen dann kein Stimmrecht in den „besuchten“ Ausschüssen zu.

4. Mitwirkungsrechte a) Übersicht 275

Über den Wortlaut hinaus – und insofern unter Einbezug historischer und vor allem teleologischer Aspekte –, folgen eine Anzahl weiterer Rechte des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Zu den sich so ergebenden Abgeordnetenrech­ ten zur Mitwirkung zählen das Rede- und Stimmrecht (s. u. Rn. 280 f. u. 288 ff.) sowie die Beteiligung an der Ausübung des Frage- und Informationsrechts des Parlaments (s. bereits oben Rn. 91 ff.).336 Besondere Bedeutung kommt dem Frageund Interpellationsrecht des einzelnen Abgeordneten (s. u. Rn. 282 ff.) zu, mit dem der Notwendigkeit einer sachangemessenen Information Rechnung getragen wird. Es verpflichtet die Regierungsmitglieder im konkreten Fall, grundsätzlich Rede und Antwort zu stehen (s. o. Rn. 102 ff.).

276

Auch das Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzuschließen, wird über Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verfassungskräftig geschützt. Gleichzeitig wird der Abgeordnete aber auch in seiner Entscheidung geschützt, sich keiner Fraktion anzuschließen.337 b) Mitwirkungsrechte als Minderheitenschutz

277

Das prinzipielle Gebot gleichberechtigter Mitwirkung aller Abgeordneten (s. o. Rn. 267 ff.) ist zugleich Vorbedingung und Gewährleistung für das Recht der Min­ derheit, ihren Standpunkt in den parlamentarischen Willensbildungsprozess einzu­ bringen. Verstärkt werden dadurch vor allem die Möglichkeiten zu einer wirksa­ men Kontrolle der Regierungstätigkeit. Die Kontrollfunktion des Parlaments als grundlegendes Prinzip des parlamentarischen Regierungssystems (s. o. Rn. 89 ff.) ist angesichts des in der Verfassungswirklichkeit regelmäßig bestehenden Inte­ 334

So zutreffend Brandner, JA 1990, 151 (155). Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38, Rn. 156. 336 Zusammenfassend: BVerfGE 80, 188 (218) – Wüppesahl; zum Frage- und Informations­ recht: BVerfGE 13, 123 (125). 337 Du Mesnil / Müller, JuS 2016, 603 (606). 335

G. Stellung der Abgeordneten

151

ressengegensatzes zwischen regierungstragender Mehrheit und oppositioneller Minderheit wesentlich von den Wirkungsmöglichkeiten der Minderheit abhängig. Gerade weil „ebenso wie die Mehrheit auch die Minderheit im Parlament nicht notwendig eine homogene Einheit darstellt, sondern in eine Mehrzahl oder sogar Vielzahl von Gruppierungen – Fraktionen oder auch Fraktionsstärke nicht erreichende Gruppen und einzelne Abgeordnete – aufgespalten sein kann“,338 lässt sich der demokratisch gebotene Minderheitenschutz nur durch die Zuweisung von Rechten (auch) an den einzelnen Abgeordneten gewährleisten.

278

Die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten erfüllen also auch eine objektive Funktion; sie dienen auch dem Schutz von Minderheiten im Parlament. Dies gilt in besonderem Maße für das Rede- und Stimmrecht des einzelnen Abgeordneten, daneben aber auch für sein Frage- und Informationsrecht.

279

c) Rederecht Das Rederecht ist ein das Amt des Abgeordneten prägendes Recht: Der Abge­ ordnete hat nicht nur das Recht, im Bundestag abzustimmen, also an einem Be­ schluss im Sinne von Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG mitzuwirken. Er hat vielmehr auch das Recht zu beraten oder Änderungsanträge zu stellen, also an der von Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG erwähnten Verhandlung teilzunehmen. Denn „öffentliches Verhan­ deln von Argumenten und Gegenargumenten, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus. Ge­ rade das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffnet Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen, die bei einem weniger transparenten Vor­ gehen sich nicht so ergäben“.339

280

Das Rederecht des Abgeordneten findet seine (insbesondere zeitliche) Grenze in den Rederechten der anderen Abgeordneten. Das muss vor allem im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments und eines erfolgreichen Beratungsab­ laufs gelten.340 Die Geschäftsordnung (s. u. Rn. 332) enthält auch vor diesem Hin­ tergrund in den §§ 33 bis 35 GOBT Einzelheiten zum Rederecht der Abgeordneten (freier Vortrag vom Rednerpult oder von den Saalmikrofonen aus; Einzelheiten zur Rededauer).

281

338

So der zutreffende Befund in BVerfGE 70, 324 (363 f.) – Haushaltskontrolle der Nach­ richtendienste. 339 BVerfGE 70, 324 (355) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste, unter Verweis auf 40, 237 (249) – Anwaltsverschulden. 340 Du Mesnil / Müller, JuS 2016, 603 (605).

152

§ 2 Bundestag

d) Frage- und Informationsrecht 282

Außerdem stärkt ein verfassungsrechtliches Fragerecht des einzelnen Abge­ ordneten den Schutz der parlamentarischen Minderheit und die Rechte der Oppo­ sition (s. Rn. 404 ff.).

283

Das Fragerecht erfüllt keinen Selbstzweck, sondern hat die Funktion, den Aufgaben des Abgeordneten zu dienen. Dieser ist aufgrund seines Mandats berufen, eigenverantwortlich an den Aufgaben mitzuwirken, die dem Parlament obliegen. Das setzt wiederum voraus, dass er über die Informationen verfügt, die für eine sachbezogene Beteiligung am Entscheidungs­ prozess des Parlaments erforderlich sind. Da er diese Informationen nur selten selbst besitzt und selbst meist auch nicht erlangen kann, ist er in hohem Maße auf den Sachverstand ange­ wiesen, welcher der Regierung durch die Ministerialverwaltung zur Verfügung steht. Dabei muss er auch selbst darüber befinden können, welche Informationen er zur verantwortlichen Erfüllung seines Mandats benötigt.341

284

Das Informationsrecht der Abgeordneten (als Recht informiert zu werden) soll vor allem eine effektive Kontrolle der Exekutive durch das Parlament gewährleis­ ten, die insbesondere durch die parlamentarische Opposition (s. dazu Rn. 404 ff.) ausgeübt wird.342 Es soll zudem der Erhaltung der Funktionen des Parlaments dienen.343 Das Informationsbegehren kann unterschiedliche Formen annehmen – die meisten dieser Formen können Abgeordnete nur im Zusammenwirken mit anderen Abgeordneten nutzen: Dies gilt z. B. für die Kleinen und Großen An­ fragen der Abgeordneten, geregelt in den §§ 100 ff. GOBT (s. o. Rn. 98), sowie für die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, deren Rechtsgrundlage verfas­ sungsrechtlich in Art. 44 Abs. 1 GG abgesichert und einfachgesetzlich im PUAG ausgestaltet ist (s. Rn. 443 ff.).

285

Einzelnen Abgeordneten steht gem. § 105 GOBT das Recht zu, kurze Einzelfragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten (s. bereits oben Rn. 99).

286

Dem Informationsanspruch korrespondiert eine Plicht der Bundesregierung zur vollständigen und zutreffenden Antwort (ausführlich oben Rn. 102 ff.), soweit sich die Frage mit ihrem Kompetenzbereich befasst.

287

Der Informationsanspruch findet seine Grenzen vor allem im Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (z. B. Willensbildung der Regierung selbst in oder zur Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortsitzungen; hierzu § 7 Rn. 327 ff.), in der Funktionsfähigkeit der Regierung, in der Schutzbedürftigkeit und Schutz­ würdigkeit geheimhaltungspflichtiger Angelegenheiten sowie in den Grundrechten (hierzu bereits oben Rn. 104).

341

Zur parallelen Lage im Landesverfassungsrecht NWVerfGH, DVBl. 1994, 48 (49). Thedieck, JA 1988, 423 (425). 343 Harks, JuS 2014, 979. 342

G. Stellung der Abgeordneten

153

e) Stimmrecht Das Stimmrecht ist eines der Statusrechte des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.344 Es kann von jedem Abgeordneten frei ausgeübt werden.345 Ein Frak­ tionszwang, der den Abgeordneten zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten verbindlich festlegen will, ist unzulässig (s. dazu Rn. 260 ff.). Das Stimmrecht ist ein höchstpersönliches Recht, das der Abgeordnete nur selbst ausüben kann.346 Er kann sich also nicht vertreten lassen. Wegen seiner essentiellen Bedeutung für die Beschlussfassung des Bundestags ist eine Einschränkung oder ein Entzug des Stimmrechts grundsätzlich unzulässig; dies gilt selbst für den Fall, dass der Ab­ geordnete selbst von der Angelegenheit, über die abgestimmt wird, betroffen ist.347

288

Jeder Abgeordnete hat daher grundsätzlich ein Stimmrecht im Plenum. Dane­ ben steht ihm die ordentliche Mitgliedschaft und ein mit ihr verbundenes Stimm­ recht in einem der ständigen Ausschüsse zu. Allerdings steht fraktionslosen Abgeordneten ausnahmsweise keine ordentliche Mitgliedschaft in einem der ständigen Ausschüsse zu, wenn seine Stimme andernfalls überproportional zum sonstigen Kräfteverhältnis im Plenum wirkte (s. dazu Rn. 270 ff.)348. Hiermit geht dann notwendigerweise auch die Einschränkung des Stimmrechts einher.

289

Das Verfahren und die Arten der Abstimmungen regelt der Bundestag auf­ grund seiner Geschäftsordnungsautonomie (s. dazu Rn. 330 ff.) in der Geschäftsordnung des Bundestags, §§ 46 ff. GOBT

290

III. Besondere Rechte der Abgeordneten Neben den aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ableitbaren, bereits genannten Statusrech­ ten (s. o. Rn. 239 ff.) enthält das Grundgesetz in Art. 46 bis 48 GG weitere wichtige Regelungen für die Abgeordneten. Dazu zählen die Immunität und Indemnität (s. u. Rn. 293 ff.), das Zeugnisverweigerungsrecht (s. u. Rn. 305 ff.) sowie Entschä­ digung und Versorgung der Abgeordneten (s. u. Rn. 308 ff.). Diese Vorschriften betreffen sowohl die parlamentarische als auch die persönliche Rechtstellung der Bundestagsabgeordneten.

291

Die Regelungen des Art. 48 GG werden im Wesentlichen durch das Abgeordnetengesetz (AbgG) umgesetzt und konkretisiert: Dieses umfasst Vorschriften zum Schutz vor Behinderungen der freien Mandatsannahme und -ausübung (§§ 2 bis 4), darunter z. B. Vorschriften zum Wahlvorbereitungsurlaub (Art. 48 Abs. 1 GG i. V. m. § 3 AbgG), Regelungen über das Verhältnis der Mitgliedschaft im Bundes­

292

344

Magiera, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 38, Rn. 60. Magiera, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 38, Rn. 61. 346 Butzer, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 38, Rn. 142. 347 Magiera, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 38, Rn. 61. 348 BVerfGE 80, 188 (222 ff.). 345

154

§ 2 Bundestag

tag zu Ämtern des öffentlichen Dienstes (§§ 5 bis 10) und – in gewisser Anlehnung an die für den öffentlichen Dienst geltenden Regelungen – Vorschriften zu den Leistungen an Abgeordnete (§§ 11 bis 44). 1. Immunität und Indemnität a) Schutzrichtung 293

Dem Schutz vor strafrechtlichen bzw. strafprozessualen Behinderungen des freien Mandats dienen die in Art. 46 GG enthaltenen Grundsätze der Immunität (s. u. Rn. 295 ff.) und der Indemnität (s. u. Rn. 302 ff.). Geschützt wird aber auch vor anderen staatlichen Maßnahmen (z. B. Überwachung durch Verfassungsschutz, aber auch beamtenrechtliche Sanktionen) sowie zivilgerichtlichen Entscheidungen (etwa Schadensersatz- oder Unterlassungsurteile).

294

Primärer Schutzzweck der Grundsätze der Immunität und der Indemnität ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments insgesamt (s. u. Rn. 298).349 Entsprechend schützt Art. 46 GG z. B. nicht vor parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen, aber auch nicht vor Parteistrafen. b) Immunität

295

Die Regelung des Art. 46 Abs. 2 GG steht insbesondere einer strafrechtlichen Verfolgung bzw. Freiheitsbeschränkung eines Abgeordneten entgegen.

296

Um einen umfassenden Schutz der Funktionsfähigkeit des Bundestags zu errei­ chen, sind die in Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG gewährleisteten Sicherungen weit auszu­ legen.350 Der Anwendungsbereich der Immunitätsvorschriften beginnt daher nicht erst bei der Anordnung von Zwangsmaßnahmen oder Sanktionen selbst, sondern bereits bei der Einleitung von Untersuchungsmaßnahmen.351 Die hierdurch vermit­ telte Immunität des Abgeordneten, die strafprozessual ein persönliches Strafverfolgungshindernis darstellt, kann nur durch eine Genehmigung des Bundestags aufgehoben werden. Die Strafverfolgung bzw. die Haft eines Abgeordneten ist also nur mit Genehmigung des Bundestags zulässig, es sei denn, er wird bei Begehung der Tat oder im Verlauf des folgenden Tages festgenommen (Art. 46 Abs. 2 GG). Ein laufendes Verfahren gegen einen Abgeordneten ist einzustellen bzw. seine Haft ist auszusetzen, wenn der Bundestag dies verlangt (Art. 46 Abs. 4 GG).

297

Die Immunität beginnt mit Erwerb des Mandats und endet mit dem Verlust des Mandats (hierzu Rn. 234 ff.). 349

Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 51, Rn. 40. Du Mesnil / Müller, JuS 2016, 603 (604). 351 Du Mesnil / Müller, JuS 2016, 603 (604). 350

G. Stellung der Abgeordneten

155

Ziel der Abgeordnetenimmunität ist  – im Gegensatz zu dem zu Zeiten des Reichstags des Kaiserreichs bezweckten weitgehenden persönlichen Schutz des Abgeordneten vor Willkürakten der monarchischen Exekutive – die Funktions­ tüchtigkeit des Parlaments.352 Die Immunität des Abgeordneten ist somit kein Recht des einzelnen Abgeordneten, sondern ein Recht der Volksvertretung, der deshalb von Art. 46 Abs. 2 und 3 GG die Dispositionsbefugnis über die Immunität der Abgeordneten zugesprochen wird. Deshalb wird hier insoweit nicht von Rech­ ten sondern von Garantien der Rechtsordnung gesprochen.

298

In der Praxis beschließt jeder neu gebildete Bundestag zu Beginn der Legislatur­ periode seit der 5. Wahlperiode immer wieder den „Beschluss des Deutschen Bun­ destags betr. Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestags“.353 Somit verzichtet der Bundestag weitgehend auf seinen Schutz durch Immunität. Ausgenommen sind lediglich Beleidigungsdelikte politischer Natur. Damit reagiert er auf die hohe Publizitätswirkung der Aufhebung der Immunität, die für die Ab­ geordneten anstelle eines Schutzes geradezu eine persönliche und politische Be­ lastung darstellen kann.354

299

Im Einzelnen befasst sich der Immunitätsausschuss des Bundestags mit der Angelegenheit der Immunität: Zwar hat der Bundestag als Gesamtorgan die Durch­ führung von Ermittlungen gegen Abgeordnete im eben erwähnten Beschluss vorab genehmigt (Nr. 1 Abs. 1 Anlage 6 zur GOBT).

300

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts erfüllt die Immunität auch im heutigen Rechtsstaat noch eine wichtige Funktion (s. aber auch unten Rn. 614).355 Eine gegenteilige Sicht unterstellte ein ideales Verhältnis von geschriebenem Recht und Verfassungswirklich­ keit. Eine Gefahr willkürlicher Verfolgung sei zwar in einem funktionierenden Rechtsstaat unwahrscheinlich. Doch gerade in Zeiten politischer Spannungen nicht vollends auszuschlie­ ßen.356 Dies wurde etwa auch im Fall des Bundestagsabgeordneten Pofalla deutlich. Dieser war im Falle eines Wahlsiegs seiner Partei bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für ein Landesministeramt vorgesehen (Schattenkabinett im Wahlkampf). Drei Tage vor der Land­ tagswahl wurde bei ihm eine Hausdurchsuchung wegen Verdachts auf Steuerhinterziehung durchgeführt. Die Immunität war zuvor auf Antrag der Staatsanwaltschaft aufgehoben wor­ den. Die Vorwürfe erwiesen sich jedoch später als haltlos, woraufhin zwei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht stattfanden.357 Beide Verfahren wies das Bundesverfassungsgericht als (teilweise) unzulässig358 sowie unbegründet359 zurück.

301

352

BVerfGE 104, 31 (329 f.); vgl. NWVerfGH, DÖV 2006, 70 f.; Hesse, Grundzüge des Ver­ fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 607. 353 S. am Ende v. Anlage 6 zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags: „Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten und in Fällen der Genehmigung gemäß § 50 Abs. 3 StPO und § 382 Abs. 3 ZPO sowie bei Ermächtigungen gemäß § 90b Abs. 2, § 194 Abs. 4 StGB“; hierzu Glauben, DÖV 2012, 378 (382). 354 Glauben, DÖV 2012, 378. 355 BVerfGE 104, 310 (328 f.); so auch Trute, JZ 2003, 148 (148 f.). 356 BVerfGE 104, 310 (328 f.). 357 BVerfGE 103, 81; 104, 310. 358 BVerfGE 103, 81 (86); BVerfGE 104, 310 (322). 359 BVerfGE 104, 310 (331).

156

§ 2 Bundestag

c) Indemnität 302

Im Unterschied zum Strafverfolgungshindernis Immunität (s. o. Rn. 296) ist die in Art. 46 Abs. 1 GG normierte Indemnität als ein persönlicher Strafausschlie­ ßungsgrund zu qualifizieren, der dem Abgeordneten  – anders als bei der Im­ munität – auch nach dem Ende der Mitgliedschaft im Bundestag zugute kommt und die Freiheit der Rede im Parlament schützt. Die – praktisch nicht besonders bedeutsame – Vorschrift schützt den Abgeordneten vor gerichtlicher oder dienst­ licher Verfolgung wegen einer im Bundestag oder in den Ausschüssen getätigten Äußerung oder Abstimmung, es sei denn, es handelt sich um verleumderische Be­ leidigungen. Der Abgeordnete darf wegen solcher Äußerungen im Parlament auch außerhalb des Bundestags nicht zur Verantwortung gezogen werden.360 Wenngleich dieser Schutz (insbesondere auch vor dem Zugriff der Judikative) dem Abgeord­ neten persönlich zugute kommt, sichert er über die Freiheit und Unabhängigkeit seiner parlamentarischen Tätigkeit hinaus auch die Funktionsfähigkeit des Parla­ ments selbst.

303

Verleumderische Beleidigungen sind nach Art. 46 Abs. 1 S. 2 GG von der Indem­nität ausdrücklich ausgenommen. Auch reine Privatgespräche, die zufäl­ lig im Gebäude des Bundestags geführt wurden, unterfallen nicht der Indemni­ tät. Diese tragen nicht zur schützenswerten politischen Meinungsbildung bei und sind entsprechend jedenfalls nicht von Art. 46 Abs. 1 GG geschützt.361 Weil hinter dem Schutz des einzelnen Abgeordneten die Funktionsfähigkeit des Parlaments steht, sind Äußerungen des Abgeordneten in Parteigremien und im Wahlkampf von Art. 46 Abs. 1 GG nicht erfasst.362

304

Die Indemnität hindert weder die Ausübung der Ordnungsgewalt des Bundestagspräsidenten (s. u. Rn. 343) noch fraktionelle Maßnahmen (wie etwa den Aus­ schluss einzelner Mitglieder), um die Beratungen des Bundestags „in geordneten Bahnen“ zu halten. 2. Zeugnisverweigerungsrecht, Beschlagnahmeverbot

305

Das Zeugnisverweigerungsrecht des Art. 47 S. 1 GG dient ebenfalls der Si­ cherung der Funktion der Abgeordneten und zwar insbesondere durch den Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Abgeordneten und Wählern, aber auch zwischen Abgeordneten und Informanten. Der Abgeordnete soll unabhängig die Kontrolle der Regierung (s. o. Rn. 89 ff., 277) wahrnehmen können. Dazu müssen 360 Die Indemnität schützt auch vor der Inanspruchnahme durch Private, die den Rechtsweg z. B. wegen einer Unterlassungs- oder Schadensersatzklage beschreiten; so auch Roll, NJW 1980, 1493 ff. 361 Du Mesnil / Müller, JuS 2016, 603 (604). 362 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 31.

G. Stellung der Abgeordneten

157

vertrauliche Informationen, die er im Rahmen seiner Abgeordnetentätigkeit erhält, besonders geschützt werden. Ohne Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten würden diese nicht an bestimmte heikle Informationen kommen. Art. 47 GG dient insgesamt der ungestörten Kommunikation zwischen Abgeordneten und Bürgern und sichert damit auch das freie Mandat.363 Einfachgesetzlich ist das Zeugnisverweigerungsrecht sowohl in § 53 Abs. 1 StPO für den Strafprozess, als auch in § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO für den Zivilpro­ zess abgesichert. Nach § 100d Abs. 5 StPO sind auch Abhörmaßnahmen und On­ line-Durchsuchungen bei Abgeordneten unzulässig, da ihnen ein Zeugnisverwei­ gerungsrecht zusteht.

306

Das Beschlagnahmeverbot in Art. 47 S. 2 GG steht in engem Funktionsver­ bund zum Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 S. 1 GG. Das Beschlagnah­ meverbot soll insbesondere eine Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts verhindern.364 Sein Anwendungsbereich reicht deshalb so weit, wie das Zeugnis­ verweigerungsrecht gilt. Erfasst werden alle Datenträger, die sich im Büro des Abgeordneten sowie in den Bundestagsbüros seiner Mitarbeiter befinden.365 In­ formationen, die unter Verletzung des Beschlagnahmeverbots ermittelt werden, dürfen nicht verwertet werden.

307

3. Entschädigung und Versorgung der Abgeordneten („Diäten“) Nach Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG haben die Abgeordneten einen „Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.“ Eine hinreichende Entschädigung eines Abgeordneten ist grundsätzlich notwendig, um die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen seiner Unabhängigkeit zu sichern. Da der Bundestag kein „Honoratiorenparlament“ des 19. Jahrhunderts366 mehr ist, sondern eine sozialstaatsgerechte367 Vertretung des ganzen Volkes, bedarf es grundsätzlich einer existenzsichernden Entschädigung für die Abgeordneten. Diese ähnelt heute immer mehr einer Besoldung im öffentlichen Dienst. Allerdings neh­ men die Streitigkeiten und Entscheidungen zu Fragen der Abgeordnetenentschädi­ gung, ihrer Bemessung und Besteuerung, ihrer Wandlung zu einem Quasi-Gehalt, zu einer Besoldung in der ansonsten übersichtlich zu nennenden Verfassungsrecht­ sprechung zum Status des Abgeordneten einen großen Raum ein.368

363

Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 47, Rn. 5. BVerfGE 20, 162 (188); 32, 373 (394). 365 Frenz, JA 2010, 126. 366 Vgl. Seuffert, bei: BVerfGE 40, 296 ff.; 40, 330 (338). 367 BVerfGE 40, 296 (296). 368 Vgl. nur BVerfGE 4, 144 (150); 20, 56 (103) – Parteienfinanzierung I; 32, 157 (164 f.); 40, 296 (311); 40, 330 (339) – Erstes Diätenurteil; 64, 301 (313); 102, 224 (233 f.) – Zweites Diäten­ urteil. 364

308

158

§ 2 Bundestag

309

Wenn sich der Verfassung wohl auch keine Vorgaben über die konkrete Höhe der Diäten entnehmen lassen, so bestimmt sie doch zumindest in den Grundzügen das Verfahren und die Maßstäbe zur Bestimmung der Entschädigungshöhe. Um zu vermeiden, dass „für den Abgeordneten wesentliche Teile seiner finanziellen Ausstattung in einem Verfahren festgesetzt werden, das sich der Kontrolle der Öf­ fentlichkeit entzieht“,369 muss die Entschädigung der Abgeordneten gesetzlich (d. h. aber eben auch von den Abgeordneten selbst) geregelt werden. Die Feststel­ lung der Grundsätze der Abgeordnetenbesoldung ist im Übrigen eine wesentliche Entscheidung i. S.d Wesentlichkeitsrechtsprechung.370

310

Dabei bleibt das politische Grundproblem bestehen, dass Abgeordnete in einer Demokratie über ihre finanzielle Ausstattung selbst entscheiden. Diese Ent­ scheidung in eigener Sache ist nicht unproblematisch; in einem untechnischen Sinn sind die Abgeordneten „befangen“. Deswegen ist immer wieder vorgeschlagen wor­ den, Sachverständigenkommissionen mit der Festsetzung der Diäten zu betrauen. Aus verfassungsrechtlichen Gründen sollen Kommissionen nur Empfehlungen formulieren, aber nicht Entscheidungen treffen können.

311

Mit der gesetzlichen Regelung und der damit verbundenen Öffentlichkeit soll vor allem ver­ hindert werden, dass sich die Abgeordneten verdeckt bei passender Gelegenheit immer wieder höhere Diäten zusprechen. Nach § 11 Abs. 1 S. 1 AbgG soll sich die Höhe der Diäten an der Besoldung eines Bundesrichters bzw. eines kommunalen Wahlbeamten auf Zeit orientieren (Besoldungsgruppe R 6, B 6). Dieser Anpassungspflicht ist der Bundestag sowohl in der 14. als auch in der 15. Legislaturperiode aber nicht bzw. nur teilweise nachgekommen, weil die Abgeordneten der Auffassung waren, die Erhöhung politisch nicht vertreten zu können. In der 16. und 17. Legislaturperiode erfolgten moderate Erhöhungen, nachdem die Bindung an die Besoldung der Bundesrichter der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln war. Die Abge­ ordnetenentschädigung beträgt seit dem 6. Juni 2020 10.083,47 Euro (Grundbezüge  – § 11 Abs. 1 S. 2 AbgG).

312

Der Umstand, dass die Bundestagsabgeordneten über ihre finanzielle Ausstat­ tung entscheiden, hat im Übrigen lange Zeit die Besteuerung der Diäten ver­ hindert. Die mittlerweile durchgesetzte Besteuerung der Diäten erscheint heute indessen selbstverständlich.

313

Entspricht die grundsätzliche finanzielle Ausstattung der Abgeordneten der verfassungsrechtlich gebotenen Freiheit des Mandats, folgt aus dem Prinzip der Gleichheit des Mandats (Rn. 267 ff.) das Verbot, bei der Diätenhöhe der ein­ zelnen Abgeordneten, sei es nach Ausmaß oder finanziellem Aufwand der parla­ mentarischen Tätigkeit oder der Höhe des beruflichen Einkommens, zu differenzieren. Das Prinzip der formalisierten Gleichbehandlung verbietet es, innerhalb des finanziellen Status zwischen Abgeordneten Unterschiede zu machen.371 Dies verbiete es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings 369

BVerfGE 40, 296 (327). Zur Wesentlichkeitstheorie allgemein Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. I, 2011, § 7, Rn. 211 ff. 371 BVerfGE 40, 296 (317 f.). 370

G. Stellung der Abgeordneten

159

nicht, für politisch ganz besonders herausgehobene Parlamentsposten bestimmte „Funktionszulagen“ zu gewähren.372 In der Realität sind dies der Präsident und die Vizepräsidenten des Bundestags sowie die Fraktionsvorsitzenden (§§ 11 Abs. 2, 52 Abs. 2 lit. a AbgG). Nähere gesetzliche Regelungen sind in §§ 11 ff. AbgG enthalten. Neben den (steuerpflichtigen) monatlichen Diäten sieht das geltende Abgeord­ netengesetz eine Reihe weiterer Bezüge vor, insbesondere eine (steuerfreie) Kostenpauschale (seit 1. Januar 2020 4.497,62 Euro) für den Ausgleich von Büro­ kosten u. a. (§ 12 AbgG i. V. m. Abgeordnetenpauschale-Bekanntmachung 2020). Außerdem werden den Abgeordneten Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern ersetzt (§ 12 Abs. 3 AbgG). Hinzu kommen noch eine Freifahrtberechtigung (s. u. Rn. 320) bzw. Fahrtkostenerstattungen (§ 16 AbgG). Schließlich stehen den Abgeordneten Zuschüsse in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen (§ 27 AbgG) zu. Insgesamt ist diese Nebenausstattung der Abgeordneten recht üp­ pig und bisweilen wohl auch missbrauchsanfällig.

314

Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag erwarten die Abgeordneten fol­ gende – recht großzügige – Leistungen: ein Übergangsgeld für ausscheidende Ab­ geordnete (§ 18 AbgG), ein Anspruch auf Altersentschädigung (§§ 19 ff. AbgG) sowie ein Anspruch auf Versorgungsabfindung (§ 23 AbgG). Daneben sieht das Gesetz ein Überbrückungsgeld für Hinterbliebene (§ 24 AbgG) vor.

315

Der Umfang der Versorgung der Abgeordneten nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundes­ tag ist an die Dauer der Parlamentszugehörigkeit geknüpft. Seit der Änderung des Abge­ ordnetengesetzes im Jahre 2008 ist allerdings die Beschränkung einer Pensionszahlung nur für Abgeordnete, die mindestens acht Jahre dem Deutschen Bundestag angehört haben, mit nachvollziehbarem Grund entfallen: Die vormalige Regelung entfaltete gerade dann missliche Steuerungswirkungen, wenn die Abgeordneten über eine Vertrauensfrage zu befinden hatten, deren Verneinung zu einer Verkürzung der Legislaturperiode führen könnte. Insoweit konnten Abgeordnete in Versuchung geraten, entgegen ihrer politischen Ansicht abzustimmen, um die Regeldauer der Legislaturperiode beizubehalten, weil andernfalls der Beginn ihres Pensions­ anspruchs erst in die dritte Legislaturperiode ihrer Mitgliedschaft im Bundestag fallen würde. Nunmehr erhält nach § 19 Abs. 1, § 20 S. 1 bis S. 3 AbgG bereits jeder Abgeordnete, der we­ nigstens ein Jahr dem Deutschen Bundestag angehörte, ab dem 67. Lebensjahr eine Pension von 2,5 % (für jedes Jahr der Mitgliedschaft), maximal jedoch 65 % der aktuellen Höhe der Abgeordnetenentschädigung. Dieser Maximalbetrag wird also nach 26 Jahren im Bundestag erreicht.

316

4. Sonstige persönliche Rechte Die Bewerbung um ein Bundestagsmandat soll Art. 48 Abs. 1 GG ermöglichen, der dem Bewerber zur Vorbereitung der Wahl (unbezahlten) Urlaub zusichert (s. a. § 3 AbgG; sog. Wahlvorbereitungsurlaub). 372

BVerfGE 102, 224 (237 ff.) – Fraktionszulagen.

317

160

§ 2 Bundestag

318

Im Übrigen darf niemand daran gehindert werden, das Amt eines Abgeordne­ ten zu übernehmen und auszuüben (Hinderungsverbot), Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG. Gegen den Hinderungsgrundsatz wird nicht dadurch verstoßen, dass dem Bewer­ ber im Hinblick auf ausbleibende Arbeitsleistungen kein Arbeitslohn mehr gezahlt wird (vgl. auch § 3 S. 2 AbgG). Mit dem Hinderungsverbot einher geht das Verbot, den Bewerber aufgrund seines Einsatzes für das Gemeinwesen beruflich zu be­ nachteiligen (Benachteiligungsverbot, vgl. § 2 Abs. 2 AbgG in Konkretisierung von Art. 48 Abs. 2 GG). Hinzu kommt das Verbot, wegen des Erwerbs, der An­ nahme bzw. Ausübung des Mandats gekündigt oder entlassen zu werden (Kündigungs- oder Entlas­sungsverbot, Art. 48 Abs. 2 S. 2, § 2 Abs. 3 AbgG).

319

Erkennbar richten sich die Ansprüche nach Art. 48 Abs. 1 GG primär gegen Private, können aber auch Arbeitgeber der öffentlichen Hand verpflichten.

320

Schließlich haben die Bundestagsabgeordneten auch das Recht, alle staatlichen Verkehrsmittel unentgeltlich zu benutzen (Art. 48 Abs. 3 S. 2 GG, § 16 AbgG). Erfasst werden nur Verkehrsmittel des Bundes (insbesondere die Deutsche Bahn AG). Diese Freifahrtberechtigung hat sich angesichts der großzügigen Diätenre­ gelungen (Rn. 308 ff.) längst überlebt. Die Abgeordneten halten hieran freilich fest.

IV. Prozessuale Rechte der Abgeordneten 321

Dass der einzelne Abgeordnete zur Wahrung seiner Statusrechte (nicht aber zur Wahrung seiner Grundrechte) vor dem Bundesverfassungsgericht im Organstreit­ verfahren beteiligtenfähig ist, steht außer Zweifel (s. dazu § 8 Rn. 373 ff.). Wie er seine Rechte geltend machen kann, ist dagegen nicht immer eindeutig. Auszugehen ist stets von dem Grundsatz, dass der Abgeordnete ein mit seinem verfassungs­ rechtlichen Status verbundenes Recht nur im Organstreit und nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann.373 Denn Art. 38 Abs. 1 S. 2  GG begründet kein Individualrecht des Abgeordneten als „jedermann“ und wird kon­ sequenterweise auch nicht von den verfassungsbeschwerderelevanten Normen in § 90 BVerfGG mitumfasst. Allerdings können im Organstreit eben ausschließlich die Rechte geltend gemacht werden, die sich aus seiner organschaftlichen Stel­ lung im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergeben. Zudem muss sich der Abge­ ordnete gegen Maßnahmen oder Unterlassungen eines anderen in § 63 BVerfGG genannten Organs als Antragsgegner wenden.374 Der Abgeordnete ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ein „anderer Beteiligter“, der durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet ist. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verdrängt als Maßstab insofern die Grundrechte.

373 374

BVerfGE 2, 143 (164); 6, 445 (448); 32, 157 (162). BVerfGE 99, 19 (29).

G. Stellung der Abgeordneten

161

Andererseits sind aber durchaus Konstellationen vorstellbar, in denen dem ein­ zelnen Abgeordneten ausnahmsweise die Beschwerdebefugnis im Verfassungsbeschwerdeverfahren zuzusprechen ist (z. B. bei Meinungsäußerungen im Wahl­ kampf – s. auch § 8 Rn. 375).375

322

V. Pflichten von Abgeordneten Die Abgeordneten unterliegen einigen – überwiegend einfach-gesetzlich niedergelegten – Pflichten. Das freie Mandat der Abgeordneten gewährleistet ihnen eine inhaltliche Wahrnehmungsfreiheit bei der Ausübung ihres Mandats, nicht jedoch eine generelle Freiheit von Pflichten im Zusammenhang mit dem Abge­ ordnetenmandat.376 Darüber hinaus mag man Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG grundlegende Pflichten der Abgeordneten zur Wahrung einer unabhängigen Stellung entneh­ men, so die – freilich unbestimmten – Pflichten, sich nicht an Weisungen zu bin­ den und keine Vorteile für bestimmte Handlungen im Parlament anzunehmen.

323

Zu den greifbaren Pflichten der Abgeordneten gehören – neben den Verpflich­ tungen im Wahlkreis – in erster Linie die Anwesenheit im Parlament – nicht je­ doch unbedingt im Parlamentsplenum – und die Mitarbeit in den Ausschüssen.377 Die Nichtteilnahme an Sitzungen und Abstimmungen im Plenum wird mit – mo­ deraten – Kürzungen der Kostenpauschale (s. Rn. 314) sanktioniert (§ 14 AbgG).

324

Daneben unterliegen die Abgeordneten einer Verschwiegenheitspflicht (§ 44d AbgG).378 Eine wirksame Kontrolle der Regierung durch das Parlament bringt es mit sich, dass die Abgeordneten mit dem geheimhaltungsbedürftigen Wissen der Regierung in Berührung kommen. Der Bundestag hat sich daher eine Geheimschutzordnung gegeben, die nach § 17 GOBT i. V. m. Anlage 3 zur GOBT Teil der Geschäftsordnung ist.

325

Umgekehrt haben die Abgeordneten Offenbarungspflichten bezüglich ihrer Nebentätigkeiten.379 Für das Verhalten von Abgeordneten im Hinblick auf Neben­ tätigkeiten geben §§ 44a, 44b AbgG nur einen Rahmen vor, der insbesondere durch die vom Bundestag und seinen Abgeordneten zu befolgenden Verhaltens­regeln (Rn. 328) ausgefüllt wird. Nebentätigkeiten von Abgeordneten führen immer wie­ der zu Streit.

326

Bei der heutigen Arbeitsbelastung der Parlamentarier sollte die Abgeordnetentätigkeit den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit bilden (§ 44a Abs. 1 S. 1 AbgG). Es ist

327

375 Vgl. etwa BVerfGE 32, 157 (162), in der es um die Regelung der Altersversorgung für Abgeordnete – freilich eines (ehemaligen) Landtagsabgeordneten – ging. 376 BVerfGE 118, 277 (326). 377 BVerfGE 44, 308 (317); 90, 286 (343). 378 BVerfGE 67, 100 (135); 70, 324 (359). 379 Vgl. dazu BVerfGE 118, 277 (323 f.); Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 38, Rn. 177.

162

§ 2 Bundestag

dem Abgeordneten jedoch freigestellt, ob er neben seinem Mandat noch beruf­ lich tätig sein will. Dadurch verringert sich die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Verbleib im Parlament, zudem ist es wünschenswert, wenn Abgeordnete neben dem politischen Betrieb noch Kontakt mit dem außerparlamentarischen Berufsleben haben. Gegenläufig ist allerdings die Gefährdung des freien Mandats, wenn Abgeordnete im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Zuwendungen organisierter Interessenvertretungen erhalten. Nicht in jedem Fall bewiesen die Abgeordneten dabei in der Vergangenheit das erforderliche Gespür in der Frage, welche Nebentätigkeiten mit dem Mandat zu vereinbaren sind und ab wann der „gekaufte Abgeordnete“ Konturen annimmt. In Ausnahmefällen erfolgten dabei in der Vergangenheit finanzielle Zuwendungen ohne (erkennbare) Gegenleistung. 328

Um diesen Gefährdungen entgegenzuwirken, beschloss der Bundestag „Verhaltensregeln“, wonach Abgeordnete ihre Einkünfte aus Nebentätigkeiten offenzu­ legen haben (§ 44b AbgG, § 18 GOBT, Anlage 1 zur GOBT).380 Dabei besteht aber nur eine begrenzte Transparenz, nicht zuletzt wegen der pauschalen Einteilung in zehn Einkommensklassen bei Verzicht auf die Offenlegung konkreter Einkommen der Abgeordneten (§ 3 Anlage 1 zur GOBT). Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Verfahren jedoch im Wesentlichen gebilligt.381

329

Die Geschäftsordnung des Bundestags bestimmt neben dem „Geschäftsgang“ die „Dis­zi­plin“ im Parlament.382 Sie statuiert Verhaltenspflichten für die parla­ mentarische Tätigkeit der Abgeordneten (§§ 36 ff. GOBT). So haben die Abgeord­ neten durch ihr Verhalten die „Würde des Bundestages“383 zu achten (vgl. § 36 Abs. 1 S. 2 GOBT) und dürfen als Redner nicht vom Verhandlungsgegenstand abschweifen (vgl. § 36 Abs. 1 S. 1 GOBT). Der Bundestagspräsident kann die Ordnung während einer Sitzung durch Sach- und Ordnungsrufe, durch Wortent­ ziehung, durch Ordnungsgelder oder – als ultima ratio – durch Sitzungsausschluss (bis zu dreißig Sitzungstagen) aufrechterhalten (s. a. Rn. 351).384 Die traditionellen Verhaltensregeln im Parlament sehen sich jüngst insbesondere durch das Verhalten von Abgeordneten der populistischen AfD herausgefordert.

380

S. dazu Freund, DÖV 1987, 435. BVerfGE 118, 277 (316 f.); vgl. dazu Linck, NJW 2008, 24 (25 f.); BVerwG, DVBl. 2010, 114 (114 f.). 382 BVerfGE 44, 308; 80, 188 (218) – Wüppesahl. 383 Kritisch zu diesem Rechtsbegriff Ingold / L enski, JZ 2012, 120 (122 f.), aus rechtsstaat­ lichen und „demokratieprinzipiellen“ Gründen. 384 Näheres bei Ingold / L enski, JZ 2012, 120 ff., welche die Regelungen der GOBT zu Ord­ nungsgeld und Sitzungsausschluss für verfassungswidrig halten. 381

H. Organisation des Bundestags

163

H. Organisation des Bundestags I. Autonomie Der Bundestag genießt äußere und innere Autonomie.385 Ausprägungen dieses Status sind seine Befugnisse nach Art. 40 GG, die einschlägiger deutscher Parla­ mentstradition entsprechen.386 Zum einen ist der Bundestag bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben frei von Aufträgen, Aufsicht und Weisungen anderer Staatsorgane (äußere Autonomie). Zum anderen regelt er – im Rahmen seiner inneren Autonomie – seine Verfahrensweise und Organisation selbständig durch Geschäftsord­ nung (GOBT) nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG, die in jeder Legislaturperiode von den jeweiligen Mitgliedern neu zu beschließen ist (s. u. 332 ff.).387 Die Ausgestaltung der Geschäftsordnung findet ihre Grenzen in der Verfassung.388

330

Neben der Befugnis zum Erlass einer Geschäftsordnung kommt die innere Auto­ nomie des Bundestags auch darin zum Ausdruck, dass er sein Präsidium, das aus dem Präsidenten und den stellvertretenden Präsidenten besteht, und seine Schrift­ führer (Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG) selbst wählt (s. u. 338 ff.).

331

II. Geschäftsordnung 1. Allgemeines In seiner Geschäftsordnung kann der Bundestag die innere Organisation und den internen Geschäftsgang regeln. Insofern ist die Geschäftsordnungsautonomie (s. dazu § 1 Rn. 95 ff.) eine wesentliche Grundlage des Parlamentsrechts.389

332

Aufgrund seiner Geschäftsordnungsautonomie kann der Bundestag auch über den konkreten Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens entscheiden, soweit dieser nicht durch die Verfassung vorgegeben ist. Der internen Regelung zugänglich sind damit neben den Vorschriften über die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Ausschüsse (s. u. Rn. 415 ff.) und der Bildung von Fraktionen (s. u. Rn. 375 ff.) vor allem Ausgestaltungen des Rederechts sowie der Informations- und Kontroll­ rechte (s. o. Rn. 281, 284).

333

385

BVerfGE 44, 308 (314); Versteyl, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 40, Rn. 1. Vgl. §§ 110, 114, 116 der Paulskirchenverfassung; Art. 27 RV; Art. 26, 28, 38 WRV. 387 Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. IV, Art. 40, Rn. 62, (Lfg. 85, November 2018); Versteyl, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 40, Rn. 20. In der Praxis wird regelmäßig die Ge­ schäftsordnung des vorangegangenen Parlaments übernommen. 388 Brocker, in: BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 40, Rn. 25. 389 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 41; kritisch zum Begriff der „Autonomie“ in diesem Zusammenhang: Schwerin, Der Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, 1998, S. 19 ff. 386

164 334

§ 2 Bundestag

Um die Geschäftsordnung ausreichend flexibel zu halten, sieht § 126 GOBT vor, dass Abweichungen von der Geschäftsordnung im Einzelfall mit einer quali­ fizierten Anwesendenmehrheit (Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder) beschlossen werden können, sofern dem nicht die Bestimmungen des Grundge­ setzes entgegenstehen. Es handelt sich nicht um den Beschluss von dauerhaften Änderungen der Geschäftsordnungsvorschriften, sondern um Durchbrechungen der Geschäftsordnung im Einzelfall. 2. Rechtsnatur und Rang

335

Welchen Rang die Geschäftsordnung in der Normenhierarchie einnimmt, ist umstritten. Auszugehen ist zunächst davon, dass die Geschäftsordnung des Bun­ destags der Verfassung im Range nachsteht, so dass sich ihr Inhalt weder zu den ausdrücklichen Regelungen des Grundgesetzes noch zu den allgemeinen Verfassungsprinzipien und den der Verfassung immanenten Wertentscheidungen in Widerspruch setzen darf.390 Diese Bestimmungen kommen umgekehrt also als Prüfungsmaßstab für die Regelungen der Geschäftsordnung in Betracht.

336

Auch wird der Geschäftsordnung kein Gesetzesrang zugesprochen, so dass Gesetze, die unter Verstoß gegen die Geschäftsordnung des Bundestags zustande gekommen sind, rechtlich nicht fehlerhaft und schon gar nicht nichtig sind.391 Frei­ lich können Geschäftsordnungsverstöße aber Indizien für – eigenständig festzu­ stellende – Verfassungsverstöße sein.

337

Grundsätzlich ist die Geschäftsordnung des Bundestags nach herrschender Meinung am ehesten als sog. autonome Satzung zu qualifizieren,392 die im Range somit nicht nur unter der Verfassung, sondern auch unter dem gesamten formellen und materiellen Bundesrecht steht.393 Die Bestimmungen der Geschäftsordnung binden nur die Mitglieder des Bundestags. Sie haben also eine bloße Binnenwirkung und keine Außenwirkung. Sie gelten auch nur für die jeweilige Legislatur­ periode.394 Eine Verletzung der Geschäftsordnung können Abgeordnete mit der Begründung im Organstreitverfahren rügen, dass sie dadurch (zugleich) in ihren Statusrechten aus Art. 38 Abs. 1 GG verletzt wurden. An der Einordnung als Sat­

390

BVerfGE 1, 144 (148) – Geschäftsordnungsautonomie; 44, 308 (315). Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 43. 392 Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 40, Rn. 18. 393 Eine ältere Ansicht qualifiziert die Geschäftsordnung als bloße Konventionalregel, vgl. Hatschek, Parlamentsrecht, S. 42, während eine weitere Meinung von der Gleichrangigkeit zum formellem Bundesrecht ausgeht, vgl. Schliesky, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7.  Auflage 2018, Art. 40, Rn. 22. 394 Vgl. BVerfGE 1, 144 (148) – Geschäftsordnungsautonomie; 29, 221 (234); 44, 308 (315); differenzierend zur bloßen Binnengeltung: Schwerin, Der Bundestag als Geschäftsordnungs­ geber, 1998, S. 75 ff. 391

H. Organisation des Bundestags

165

zung wird vor allem die Begrifflichkeit kritisiert, da Satzungen regelmäßig im Zusammenhang mit Selbstverwaltungskörperschaften vorliegen.395

III. Leitungsorgane 1. Bundestagspräsident a) Verfassungsrechtliche Vorgaben Der Bundestag wählt gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG, § 2 Abs. 1, § 3 GOBT einen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Der Bundestagspräsident und die stellvertretenden Präsidenten bilden jeweils nach § 5 GOBT das Präsidium (s. dazu Rn. 356). Der amtierende Präsident und zwei Schriftführer bilden in den jeweiligen Sitzungen des Bundestags den Sitzungsvorstand (§ 8 Abs. 1 GOBT). Ist der Bundestagspräsident verhindert, wird er von einem der Stellvertreter ver­ treten, welcher der zweitstärksten Bundestagsfraktion angehört (§ 7 Abs. 6 GOBT).

338

Einer aus der Weimarer Zeit übernommenen Gewohnheit entsprechend wird der stärksten Fraktion – und nicht der stärksten Partei – das Vorschlagsrecht für den Präsidenten zuerkannt.396 Dabei steht grundsätzlich jedem Abgeordne­ ten ein Vorschlagsrecht für die Wahl des Bundestagspräsidenten zu.397 In der Ver­ gangenheit ist dies mehrfach der CDU / CSU-Fraktion (aus zwei Parteien) zugute gekommen, auch wenn die SPD stärker im Parlament vertreten war als die CDU.398 Der gesamtpolitischen Zusammensetzung des Bundestags wird von § 2 Abs. 1 S. 2 GOBT Rechnung getragen, nach dem jede Fraktion mindestens durch einen stell­ vertretenden Präsidenten vertreten sein muss.399

339

Für gewöhnlich werden die Kandidaten der kleineren (auch Oppositions-)Fraktionen von den übrigen mitgewählt. Dies scheiterte jedoch 2005 bei Lothar Bisky (Die Linke), der in vier

340

395

Vgl. dazu Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 94 f. So Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 34; vgl. Ipsen, Der Staat der Mitte, 2009, S. 283. 397 Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 395. 398 Zu Beginn der 16. Legislaturperiode (d. h. im Jahre 2005) hatte die CDU / CSU-Fraktion 226 Abgeordnete (180 CDU- und 46 CSU-Abgeordnete), die SPD-Fraktion 222. Gewählt wurde Norbert Lammert (CDU). 399 Die Zahl der Präsidentenvertreter, wie auch der Schriftführer, war in der GOBT lange Zeit nicht festgeschrieben. Traditionell wurden vier stellvertretende Präsidenten aus den Reihen der Abgeordneten nach der Stärke der Fraktionen gewählt. In der 13. Legislaturperiode be­ stand das Präsidium aus je einem Fraktionsvertreter der CDU / CSU, der FDP, der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen. Letztgenannte Fraktion erreichte durch eine erstmalig gemeinsame Fraktionsabstimmung mit der CDU / CSU-Fraktion einen Präsidiumsplatz. § 7 Abs. 6 GOBT könnte man entnehmen, dass zumindest die zweitstärkste Fraktion im Bundestag mehr als nur ein Präsidiumsmitglied stellen soll. Seit 1995 legt § 2 Abs. 1 S. 2 GOBT als Mindestvorgabe fest, dass jede Fraktion des Deutschen Bundestags durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten sein muss. 396

166

§ 2 Bundestag

Wahlgängen nicht die nötige Mehrheit erreichte. Erst im April 2006 wurde dann Petra Pau (Die Linke) zur Vizepräsidentin gewählt.400 Im Jahr 2017 konnte der Kandidat der AfD, Albrecht Glaser, in drei Wahlgängen die erforderliche Mehrheit nicht erreichen, sodass die Position va­ kant blieb; später scheiterten andere personelle Vorschläge der AfD-Fraktion mehrfach. Dies wird im Schrifttum vereinzelt zum Anlass genommen, (faktisch) eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Wahl von Kandidaten der anderen Fraktionen zu behaupten.401 Solche Forderungen können jedoch mit Blick auf den Grundsatz des freien Mandats (s. Rn. 246 ff.) nicht überzeu­ gen. Zu bedenken ist aber eine grundlegendere Reform der Kreationsmodalitäten für das Prä­ sidium des Bundestags. Ähnliche Problemlagen können sich bei anderen parlamentarischen Ämtern wie demjenigen des Alterspräsidenten stellen (dazu unten Rn. 366). Man mag solche Vorgänge als Ausprägung des politisch und rechtlich schwierigen Umgangs mit „unerwünsch­ ten, aber nicht verbotenen politischen Partei[en]“ begreifen.402

341

Nach Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG übt der Präsident das Hausrecht, also die Befugnis eines jeden Eigentümers, über die Nutzung seines Eigentums zu verfügen,403 und die Polizeigewalt, d. h. alle (präventiv-) polizeilichen Aufgaben und Befugnisse,404 im Gebäude des Bundestags aus.405 Entgegen der üblichen Gewaltenteilung, wel­ che die Ausübung hoheitlicher Gewalt grundsätzlich der Exekutive überantwortet, wurden Hausrecht und Polizeigewalt gerade der Organisationsgewalt des Parla­ ments zugesprochen, um die Legislative vor Übergriffen der anderen Gewalten zu schützen.406

342

Während die Polizeigewalt des Bundespräsidenten einheitlich als öffentlichrechtlich qualifiziert wird, besteht bzgl. der Einordnung des Hausrechts Streit. Mehrheitlich wird das Hausrecht des Bundestagspräsidenten als privatrechtliches Institut eingeordnet.407 Es entstamme dem einem Eigentümer zustehenden Nut­ zungs- und Verfügungsrecht an seinem Eigentum. Eine Gegenmeinung beruft sich auf den konkreten Zweck des Hausrechts, die Sicherstellung der Funktionstüch­ tigkeit des Parlaments, das Hausrecht wäre somit öffentlich-rechtlicher Natur.408 Die rechtliche Einordnung des Hausrechts ist schon wegen der Bestimmung des Rechtswegs rechtlich relevant. Geboten ist eine differenzierte Regelung, wonach es auf den konkreten Zweck der Ausübung des Hausrechts ankommt.409 Macht 400

S. dazu Fuchs / Fuchs / Fuchs, DÖV 2009, 232 (235 f.). So – nicht überzeugend – Darsow, NVwZ 2019, 1013 (1015), mit der Forderung, im drit­ ten Wahlgang abgegebene „Nein-Stimmen“ „wegen der Pflicht zur konsistenten Anwendung der Geschäftsordnung als ungültig zu werten“. 402 Dazu ausführlich Kloepfer, NJW 2016, 3003 (3004 f.). 403 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 40, Rn. 14. 404 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 40, Rn. 14. 405 Vgl. hierzu ausführlich Günther, Hausrecht und Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten, 2013. 406 Ramm, NWwZ 2010, 1461 (1462). 407 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1. Auflage 1980, S. 85; Wilrich, DÖV 2002, 152 (155), m. w. N. 408 Klein, in: Maunz / Dürig GG, Bd. III, Art. 40, Rn. 139 ff., (Lfg. 85, November 2018); ­Morlok, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 40, Rn. 35. 409 BVerwGE 35, 103 (106). 401

H. Organisation des Bundestags

167

der Präsident des Bundestags von seinem Hausrecht Gebrauch wie jeder andere Eigentümer auch (z. B. Verweis von Verkäufern aus dem Bundestagsgelände), ist die Maßnahme zivilrechtlich zu beurteilen. Dient die Ausübung des Hausrechts dem geregelten Ablauf des Parlamentsbetriebs (z. B. Verweis von Medienvertre­ tern aus den öffentlichen Sitzungen), ist die Maßnahme als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren. Der Bundestagspräsident übt daneben auch die Ordnungsgewalt (s. dazu Rn. 351) aus, §§ 36 ff. GOBT. Er hat damit die Befugnis jedes Trägers öffentlicher Gewalt inne, in seinem räumlichen Bereich Maßnahmen zur ordnungsgemäßen Aufga­ benerfüllung zu treffen.410

343

Ordnungsgewalt, Hausrecht und Polizeigewalt übt der Bundestagspräsident maßgeblich auch auf der Grundlage der Hausordnung des Deutschen Bundestags411 aus. Diese Hausordnung ist vom Bundestagspräsidenten aufgrund der Er­ mächtigung in § 7 Abs. 2 S. 2 GOBT im Einvernehmen mit dem Ausschuss für Wahl­prüfung, Immunität und Geschäftsordnung erlassen worden. Sie regelt im Wesentlichen die Zutrittsberechtigung zu den Gebäuden des Deutschen Bundes­ tags (vgl. §§ 2, 3 der Hausordnung des Deutschen Bundestags) und Verhaltensvor­ schriften in den Räumen des Deutschen Bundestags (§§ 4–6 der Hausordnung des Deutschen Bundestags). Die Verhaltensvorschriften richten sich an die Besucher des Bundestags und regeln z. B. die Mitnahme von bestimmten Gegenständen so­ wie das Verbot von Tonaufzeichnungen (§ 5 Abs. 1 der Hausordnung des Deutschen Bundestags). Vertreter der Medien hingegen sind mit Einwilligung des Bundestags­ präsidenten Aufnahmen gestattet (§ 6 der Hausordnung des Deutschen Bundestags).

344

Durchsuchungen oder Beschlagnahmen in den Räumen des Bundestags sind ohne die Genehmigung des Bundestagspräsidenten nicht zulässig, Art. 40 Abs. 2 S. 2 GG. Während das Hausrecht in erster Linie der Abwehr privater Störer dient, bei der sich der Bundestagspräsident im Wege des Amtshilfeersuchens durchaus auch der Polizeikräfte von Bund und Ländern bedienen kann, schützt der Geneh­ migungsvorbehalt von Durchsuchungen und Beschlagnahmungen vor Funktions­ störungen des Parlaments durch parlamentsfremde Hoheitsträger. Der Genehmi­ gungsvorbehalt ergänzt insoweit den durch Art. 46 GG gewährleisteten Schutz der Abgeordneten durch Indemnität und Immunität (s. o. Rn. 293 ff.), sichert die Autorität des Bundestagspräsidenten und zielt auch auf den Schutz der Institution des Bundestags als solcher.

345

Auch außerhalb des Bundestags treffen den Bundestagspräsidenten verschiedene andere verfassungsrechtliche Pflichten. So ist er beispielsweise gemäß Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG verpflichtet, die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsi­ denten fristgerecht einzuberufen.

346

410 411

Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 40, Rn. 15. Hausordnung des Deutschen Bundestages v. 07.08.2002, BGBl. I S. 3483.

168

§ 2 Bundestag

b) Ausgestaltung in der Geschäftsordnung 347

Über diese spezifischen, verfassungsrechtlich normierten Rechte und Pflichten des Präsidenten hinausgehend formuliert § 7 Abs. 1 GOBT seine Rolle allgemein: „Der Präsident vertritt den Bundestag und regelt seine Geschäfte. Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundestags, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ordnung im Hause.“

348

Diese Befugnis zur Wahrnehmung der Befugnisse des Bundestags erstreckt sich nicht nur auf fiskalisches Handeln (§ 7 Abs. 3 GOBT), sondern auch auf die Vertretung in Verfassungsstreitigkeiten.412

349

Zudem ist der Bundestagspräsident oberste Dienstbehörde und Dienstherr413 der Bundestagsbeamten und -angestellten (§ 7 Abs. 4 GOBT). Wesentliche dienstrechtliche Entscheidungen im Hinblick auf die Beamten und Angestellten des Bundestags trifft er im Benehmen mit dem Präsidium (s. dazu Rn. 356). Der Bundestagspräsident wird in seiner Tätigkeit von der Bundestagsverwaltung (s. dazu Rn. 600) maßgeblich unterstützt. Soweit der Bundestagspräsident Verwal­ tungsaufgaben wahrnimmt, ist er Behörde im Sinne des § 1 Abs. 4 VwVfG und gesetzlicher Vertreter des Bundestags im Sinne des § 62 Abs. 3 VwGO.

350

Im Übrigen verfügt der Bundestagspräsident in allen Ausschüssen über eine beratende Stimme (§ 7 Abs. 1 S. 3 GOBT).

351

Konkrete Rechte und Befugnisse des Bundestagspräsidenten ergeben sich ins­ besondere aus dem VI. Abschnitt der Geschäftsordnung, der die Einberufung und Leitung der Sitzungen (§§ 21, 22 GOBT) sowie mögliche Ordnungsmaßnahmen (§§ 36–38 GOBT) erfasst. Zur Durchsetzung der ihm übertragenen Sitzungsgewalt414, die sich gegen die Mitglieder des Bundestags richtet, steht dem Bundes­ tagspräsidenten zunächst die Möglichkeit der Rüge 415 zu, die aufgrund ihres nur mahnenden Charakters keinerlei Rechtsnachteil für den betroffenen Abgeordneten mit sich bringt und deshalb auch nicht Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein kann.416 Demgegenüber sind der Sach- und Ordnungsruf sowie die Wortentziehung (§ 36 GOBT; s. a. Rn. 329) ebenso wie das in der 17. Legislaturperiode eingeführte 412

BVerfGE 1, 115 (116). Die Dienstherrenfähigkeit steht regelmäßig nur juristischen Personen (§ 2 BeamtStG, § 2 BBG) zu. Für den Bundestag folgt sie aus „Teilrechtsfähigkeit“, die diesem einzelne öffent­ lich-rechtliche Zuständigkeiten eröffnet, vgl. dazu im einzelnen Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, II, 1980, S. 44. 414 Im Rahmen seiner Sitzungsgewalt mahnte Bundestagspräsident Schäuble die Abgeord­ neten in einem Rundschreiben an, technische Geräte zurückhaltend im Plenum zu nutzen. Er wollte hiermit insbesondere das „Twittern“ aus dem Plenarsaal unterbinden. Sowohl das me­ diale Echo, als auch die Reaktion der Abgeordneten fiel eher negativ aus. 415 In der 12. Und 13. Wahlperiode kam es zu jeweils 3 Rügen, in der 14. Wahlperiode zu 9 Rügen, in der 15. Wahlperiode zu 1 Rüge, in der 16. Wahlperiode zu 7 Rügen, in der 17. Wahl­ periode zu 9 Rügen. 416 Vgl. BVerfGE 60, 374 (380 f.). 413

H. Organisation des Bundestags

169

Ordnungsgeld (§ 37 GOBT) oder gar der Sitzungsausschluss (§ 38 GOBT) Dis­ ziplinarmittel, die den Abgeordneten in seinen verfassungsrechtlich gewährleis­ teten Rechten beeinträchtigen.417 Der betroffene Abgeordnete kann gegen diese Ordnungsmaßnahmen Einspruch einlegen (§ 39 GOBT) und die Verletzung seines verfassungsrechtlichen Status, des freien Abgeordnetenmandats aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, durch verfassungswidrige Ordnungsmaßnah­men im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen (s. dazu § 8 Rn. 373 ff.). Zur Sitzungsgewalt des Bundestagspräsidenten lässt sich schließlich auch die Befugnis des Präsidenten zählen, gemäß § 127 Abs. 1 S. 1 GOBT über Zweifel bei der Auslegung der Geschäftsordnung, die während einer Sitzung des Bundestags auftreten, für den Einzelfall zu entscheiden.

352

c) Gesetzlich übertragene Aufgaben Schließlich sind dem Bundestagspräsidenten auch verschiedene Aufgaben durch Gesetz übertragen worden. So bedarf es für die Zulassung einer Versammlung innerhalb des befriedeten Bezirks um den Bundestag durch das Bundesinnen­ ministerium des Einvernehmens mit dem Bundestagspräsidenten418 – eine Rege­ lung, die in inhaltlichem Zusammenhang mit dessen Hausrecht (s. Rn. 342) steht und eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit darstellt419.

353

Insbesondere das Parteiengesetz weist dem Bundestagspräsidenten mehrere Aufgaben zu: Er ist als „mittelverwaltende Stelle“ (§ 21 Abs. 2 PartG) für die staatliche Teilfinanzierung der politischen Parteien zuständig, prüft die Rechen­ schaftsberichte der Parteien und setzt etwaig zu zahlende Rückforderungen fest (§§ 18 ff. PartG).

354

Weitere Befugnisse werden ihm vom Abgeordnetengesetz übertragen, so be­ dürfen etwa Dienstreisen der Abgeordneten der Zustimmung des Präsidenten (§ 17 Abs. 1 AbgG).420

355

417

Näheres bei Ingold / L enski, JZ 2012, 120 ff., welche die Regelungen der GOBT zu Ord­ nungsgeld und Sitzungsausschluss für verfassungswidrig halten. 418 § 3 Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 1 Abs. 1 BefBezG, verkündet als Art. 1 des G. v. 8.12.2008 (BGBl. I, S. 2366). 419 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 63, Rn. 57. 420 Zu weiteren Aufgaben und Befugnissen des Bundestagspräsidenten vgl. Willrich, DÖV 2002, 152.

170

§ 2 Bundestag

2. Präsidium 356

Das Präsidium setzt sich aus dem Bundestagspräsidenten und den stellvertretenden Präsidenten zusammen (§ 5 GOBT). Das Präsidium ist ein „interfrak­ tionelles Beratungsorgan“,421 das im Vorfeld des Ältestenrats (s. u. Rn. 359 ff.) zur informellen Beratung und Konfliktschlichtung zwischen den Fraktionen beitragen soll.422 Bezüglich des Vorsitzes in Sitzungen des Bundestags wird die Reihenfolge der Vertretung vom Präsidenten im Einvernehmen mit seinen Stell­ vertretern festgelegt (§ 8 Abs. 2 S. 1 GOBT).

357

Die Aufgaben und Funktionen des Präsidiums werden von den Vorschriften der Geschäftsordnung und anderer Gesetze nur unvollständig wiedergegeben. Ein wichtiges Beispiel für eine benannte Zuständigkeit ist die Regelung des § 7 Abs. 4 S. 4 GOBT, wonach der Präsident bestimmte wichtige personalrechtliche Entscheidungen unter Berücksichtigung des Präsidiums trifft: Sind Beamte des höheren Dienstes oder entsprechend eingestufte Angestellte betroffen, handelt der Präsident im Benehmen mit den stellvertretenen Präsidenten, betrifft die Ent­ scheidung leitende Beamte oder entsprechend eingestufte Angestellte, ist sogar die Zustimmung des Präsidiums erforderlich.

358

Hinzu kommen die Zuständigkeiten im Rahmen der gemäß § 44b  AbgG erlassenen „Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages“423, so etwa Entscheidungen bezüglich nicht angezeigter Einkünfte von Abgeordneten (§ 44b Nr. 5 i. V. m. § 44a Abs. 4 S. 2 AbgG). Die vorgenannten gesetzlichen Vor­ schriften stellen jedoch keine abschließende Regelung der Zuständigkeiten des Präsidiums dar. 3. Ältestenrat

359

Der Ältestenrat nimmt Aufgaben zur Koordinierung und Lenkung der Arbeit des Parlaments wahr.424 Er setzt sich gem. § 6 Abs. 1 S. 1 GOBT aus dem Präsi­ dium (dem Präsidenten und seinen Stellvertretern) sowie 23 weiteren Mitgliedern zusammen. Letztere werden von den Fraktionen entsprechend ihrer Fraktions­ stärke benannt (§ 12 GOBT). Anders als sein Name vermuten lässt, muss der Äl­ testenrat nicht die ältesten Abgeordneten des Bundestags umfassen. Gleichwohl gehören Anfänger nicht in dieses Gremium.

360

Der Ältestenrat hat vielfältige Aufgaben: Er soll den Präsidenten bei der Füh­ rung der Geschäfte unterstützen (vgl. § 6 Abs. 2 S. 1 GOBT). Er soll beispielsweise 421

Versteyl, in: v. Münch / Kunig, 6. Aufl. 2012, Art. 40, Rn. 7. Vgl. Willrich, DÖV 2002, 152 (157); Roll, in Nomos – Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht, GOBT, § 5. 423 Vgl. hierzu bspw. Freund, DÖV 1987, 435. 424 Roll, in Nomos – Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht, GOBT, § 6. 422

H. Organisation des Bundestags

171

eine Verständigung zwischen den Fraktionen über die Besetzung der Stellen der Ausschussvorsitzenden sowie über den Arbeitsplan des Bundestags, vor allem die Planung der Tagesordnung im Plenum, herbeiführen, ohne aber hierüber beschlie­ ßen zu können (vgl. § 6 Abs. 2 S. 2 u. S. 3 GOBT). Über sonstige innere Angelegenheiten des Bundestags kann der Ältestenrat nur beschließen, soweit sie nicht dem Präsidenten oder dem Präsidium vorbehalten sind (§ 6 Abs. 3 S. 1 GOBT). In diesen Fragen entscheidet der Ältestenrat nach dem Konsensprinzip.425 Maßgebliches Gewicht kommt dem Ältestenrat auch bei der Aufstellung des Haushaltseinzelplans für den Bundestag zu: Er erstellt dessen Voranschlag, von dem der Haushaltsausschuss des Bundestags nur mit seinem Einverständnis ab­ weichen kann (§ 6 Abs. 3 S. 3 GOBT). Im Übrigen verfügt der Ältestenrat über die Verwendung der dem Bundestag vorbehaltenen Räume (§ 6 Abs. 3 S. 2 GOBT). Schließlich kann der Ältestenrat das Gesetzgebungsverfahren insoweit leicht mo­ difizieren, als auf seine Empfehlung hin eine allgemeine Aussprache über eine Gesetzesvorlage schon in der ersten Lesung stattzufinden hat (§ 79 S. 1 GOBT).

361

Sämtliche Aufgaben des Ältestenrats sind organisatorischer Art und zielen nicht auf eine inhaltliche Vorformung der parlamentarischen Willensbildung. Des­ halb unterliegt die Zusammensetzung des Ältestenrats nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zwingend dem Prinzip der gleichberechtigten Teilnahme an den Aufgaben, die dem Bundestag nach dem Grundgesetz übertra­ gen worden sind426 – fraktionslose Abgeordnete (s. Rn. 272 f., 402 ff.) und Gruppen ohne Fraktionsstatus i. S. v. § 10 Abs. 4 S. 1 GOBT (s. Rn. 397 ff.) haben demnach keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Mitarbeit im Ältestenrat. Die Zusam­ mensetzung des Ältestenrats nach dem Spiegelbildlichkeitsprinzip gem. § 12 S. 1 GOBT bezieht sich nur auf Fraktionen.

362

Ebenso wie beim Präsidium (s. o. Rn. 356 ff.), so lässt sich auch die Aufgabe des Ältestenrats durch eine Betrachtung der ihm ausdrücklich übertragenen rechtlichen Befugnisse nur beschränkt wiedergeben. Über diese Befugnisse hinausgehend ist der Ältestenrat vor allem „Organ der Integration und Kommunikation zwischen Parlamentspräsident und Fraktionen“,427 und das „eigentliche politische Organi­ sations- und Leitungsgremium der gesamten Parlamentsarbeit“,428 was sich in § 6 Abs. 2 S. 2 GOBT teilweise abbildet.

363

Nach jeder Bundestagswahl geht dem Ältestenrat das informelle Gremium des Vor-Ältestenrats voraus. Er besteht aus dem (noch) amtierenden Bundestagspräsi­ denten (vgl. Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG) sowie Vertretern der (neu) im Bundestag ver­ tretenen Fraktionen. Der Vor-Ältestenrat bereitet die konstituierende Sitzung des Bundestags vor und übernimmt alle organisatorischen Aufgaben für diese Sitzung.

364

425

Roll, in Nomos – Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht, GOBT, § 6. Deutlich BVerfGE 96, 264 (280) – Fraktions- und Gruppenstatus. 427 Schliesky, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 40, Rn. 13. 428 Versteyl, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 40, Rn. 10. 426

172

§ 2 Bundestag

4. Alterspräsident 365

Beim Alterspräsidenten handelt es sich um das nach Dienstjahren dem Bundestag am längsten angehörende Mitglied, sofern dieses bereit ist, den Vorsitz bei der konstituierenden Sitzung zu übernehmen (§ 1 Abs. 2 GOBT).

366

Bis zu einer Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags im Jahr 2017 war vorgesehen, dass der lebensälteste Abgeordnete das Amt des Alterspräsidenten übernimmt.429 Aus sachlichen Gesichtspunkten ist das Anknüpfen an das Dienstalter besonders einleuchtend, geht mit dem Dienstalter doch eine besondere parlamentarische Erfahrung einher, welche das Kriterium des Lebensalters als solches nicht garantiert.

367

Dem Alterspräsidenten kommt Bedeutung vor allem in der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags zu, mit der die neue Wahlperiode eingeleitet und gleichzeitig die vorangehende Legislaturperiode beendet wird. Der Präsident des alten Bundestags ist zwar kraft Geschäftsordnungsrechts (§ 1 Abs. 1 GOBT) und wohl auch kraft Verfassungsgewohnheitsrechts430 zur Einberufung dieser Sitzung befugt, aber zu einer inhaltlichen Leitung nicht mehr legitimiert (und möglicher­ weise auch gar nicht mehr Mitglied des neuen Bundestags). Ein neuer Präsident ist dagegen noch nicht gewählt. Weil es aber auch und gerade in der konstituieren­ den Sitzung einer organisatorischen Leitung bedarf, kommt dem an Dienstjahren ältesten Mitglied des neuen Bundestags der Vorsitz zu, der auch die vorläufigen Schriftführer benennt. Dies zumindest sieht § 1 Abs. 2 und 3 GOBT vor, der streng genommen aber gar nicht für den neuen Bundestag gilt, der sich ja erst selbst eine Geschäftsordnung geben muss. Von dieser formal-rechtlichen Betrachtungsweise einmal abgesehen, stehen dieser Regelung keine materiell-rechtlichen Bedenken entgegen.

368

Die Bestimmung eines Präsidenten nach Dienstjahren und nicht nach Frak­ tionszugehörigkeit bringt es mit sich, dass die konstituierende Sitzung von einem Mitglied des Bundestags geleitet werden kann, das einer kleinen oder gar der kleinsten oder auch überhaupt keiner Fraktion angehört. Gleichwohl scheint das formale (dienstbezogene) Senioritätsprinzip, das mit demokratischen Grundsät­ 429

Die hierzu dem Bundestag vorgelegte Beschlussempfehlung BT-Drs. 18/12376 wurde am 01.06.2017 vom Bundestag angenommen. Mit dieser Änderung sollte verhindert werden, dass in der auf die Bundestagswahl im September 2017 folgenden Legislaturperiode der an Jahren älteste Abgeordnete Alterspräsident des Bundestags werden würde. Im Sommer 2017 war nämlich prognostizierbar, dass voraussichtlich Wilhelm v. Gottberg (geb. 1940, AfD) nach der alten Regelung Alterspräsident geworden wäre. Nach der Änderung der GOBT wurde Wolfgang Schäuble als dienstältester Abgeordneter Alterspräsident des Bundestags. Es mag hier dahinstehen, ob das geschilderte Handeln des Parlaments wirklich souverän war – rechtmäßig war es schon. Man mag diesen Vorgang in einem weiteren Horizont als Ausprägung des politisch und rechtlich schwierigen Umgangs mit „unerwünschten, aber nicht verbotenen politischen Partei[en]“ begreifen, dazu ausführlich Kloepfer, NJW 2016, 3003 (3004 f.); zur ähnlichen Problemlage bei Wahlen zum Präsidium des Bundestags s. bereits oben Rn. 340. 430 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 39, Rn. 3; vgl. Versteyl, in: v. Münch / ​ Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 40, Rn. 19.

H. Organisation des Bundestags

173

zen grundsätzlich nur begrenzt zu vereinbaren ist, besonders geeignet, um in der ersten Sitzung des neu gewählten Bundestags die erforderlichen selbstorganisato­ rischen Handlungen des Bundestags durchführen zu können.431 Außerhalb der konstituierenden Sitzung obliegt dem Alterspräsidenten der Vorsitz über die Bundestagssitzungen auch dann, wenn der Präsident und seine Stellvertreter gleichzeitig verhindert sind (§ 8 Abs. 2 S. 2 GOBT). Bei der Wahr­ nehmung seiner Aufgaben wird der Alterspräsident von der Bundestagsverwaltung (s. Rn. 600) unterstützt.

369

IV. Fraktionen und Gruppen 1. Fraktionen a) Allgemeines Abgeordnete schließen sich in der Regel nach ihrer parteipolitischen Zugehörig­ keit in parlamentarischen Fraktionen im Parlament zusammen.432 Die Fraktionen, die das äußere Erscheinungsbild und die Arbeitsweise des Bundestags prägen, die­ nen der Vorformung und Straffung der inhaltlichen Entscheidungsfindung durch die Vereinigung politisch gleichgerichteter Mandatsträger. Die Fraktionen sind die Erscheinungsweisen der politischen Parteien im Parlament.433

370

Weniger straff organisierte Vorläufer parlamentarischer Fraktionen gab es in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 (näher oben Rn. 13). Erst im Reichstag des Kaiserreichs ab 1871 gewannen die Fraktionen an Festigkeit (s. o. Rn. 19).

371

Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG folgt das Recht der Bundestagsabgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen, aber eben auch das Recht, sich nicht zu Fraktionen zusammenzuschließen.

372

Mag der Unterschied zwischen Partei und Fraktion von der Öffentlichkeit oft nicht wahrgenommen werden, ist in rechtlicher Hinsicht doch festzuhalten, dass die Fraktionen im Unterschied zu den – privatrechtlich organisierten – Parteien öffentlich-rechtliche Teile des Bundestags, d. h. Organteile (s. u. Rn. 385; allge­ mein § 1, Rn. 39), sind. Sie verfügen über eigene Zuständigkeiten und Rechte und sind jedenfalls rechtlich zunächst nicht von der ihr zugehörigen Partei bzw. deren

373

431 Theoretisch ist bspw. auch an die Entscheidung per Los zu denken, die die GOBT in Fäl­ len der Stimmengleichheit vorsieht (vgl. bspw. § 2 Abs. 2 S. 6 u. § 11 S. 2 GOBT). 432 Bei der CDU / CSU-Fraktion handelt es sich um einen Sonderfall: Beide Parteien treten nicht in Konkurrenz zueinander und beschließen zu Beginn jeder Legislaturperiode erneut die Fraktionsgemeinschaft. 433 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 33; Zeh, in Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 52, Rn. 14.

174

§ 2 Bundestag

Bestand abhängig.434 Das schließt nicht aus, dass die Parteien in ihren Satzungen den Fraktionen oder Fraktionsgeschäftsführern oder auch ‚einfachen‘ Fraktions­ mitgliedern eigene Rechte in der Partei einräumen.435 374

Die strenge Unterscheidung zwischen Partei und Fraktion spiegelt sich in der Finanzierung der Fraktionen wider. Zur Erfüllung ihrer inhaltlichen Aufgaben wer­ den die Fraktionen durch Mittel aus dem Bundeshaushalt bezahlt (§ 50 AbgG).436 Eine Verwendung der Fraktionsmittel für Parteiaufgaben wird in § 50 Abs. 4 S. 2 AbgG explizit untersagt. Die Parteien werden nach Maßgabe besonderer Regelun­ gen finanziert (§§ 18 ff. PartG). Die Unterscheidung ist theoretisch sauber, birgt aber in der politischen Praxis Missbrauchspotential.

375

Die Fraktionen erhalten ihre Gestalt und ihre Funktionen insbesondere durch die Geschäftsordnung des Bundestags,437 aber auch durch gesetzliche Regelungen: Die §§ 10–12 GOBT enthalten wichtige Regelungen zu den Fraktionen (Bildung, Reihenfolge und Stellenanteile der Fraktionen); im Jahr 1995 sind die §§ 45 ff. AbgG als sog. „Fraktionsgesetz“ in das Abgeordnetengesetz eingefügt worden,438 die im Wesentlichen die vorherige Praxis kodifizierten.439 Zuvor war zu Beginn der 1970er Jahre der Erlass eines Fraktionsgesetzes gescheitert.440 Die §§ 45 ff. AbgG treffen Regelungen über den Beginn sowie die Liquidation der Fraktionen, bis hin zu den durch sie wahrzunehmenden Aufgaben. Ein eigenständiges Fraktionsge­ setz besteht auf Bundesebene – anders als für manche Volksvertretungen der Län­ der441 – bisher nicht. Bis auf weiteres wird man sich also mit der gesetzestechnisch unvollkommenen Mischung aus Gesetz, Geschäftsordnung und parlamentarischen Usancen begnügen müssen.

434

Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 54. So haben etwa nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 der FDP-Bundessatzung die Mitglieder der FDPBun­des­tags­fraktion Rederecht auf den Parteitagen. 436 Vgl. zum Sinn und Zweck der öffentlichen Finanzierung der Fraktionen BVerfGE 80, 118 (231): „Die Fraktionszuschüsse sind für die Finanzierung dieser der Koordination dienenden Parlamentsarbeit bestimmt und insoweit zweckgebunden.“ 437 Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. 3, 3. Auflage 2005, § 51, Rn. 18. 438 Vgl. Schmidt-Jortzig / Hansen, NVwZ 1994, 1145; Morlok, NJW 1995, 29 (30). 439 Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 175. 440 Vgl. Schmidt-Jortzig / Hansen, NVwZ 1994, 1145 (1146), mit Hinweis auf BT-Dr VI/3690 v. 03.08.1972. 441 So z. B.: das BayFraktionsgesetz v. 26.3.1992 (GVBl., S. 38), zul. geänd. d. G. v. 24.7.2013 (GVBl., S. 449), in Berlin das Fraktionsgesetz vom 8.12.1993 (GVBl. S. 591), zul. geänd. d. Art. 2 d. G. v. 7.4.2017 (GVBl. S. 294), in Brandenburg das Fraktionsgesetz a. F. vom 29.3.1994 (GVBl. S. 86), ersetzt durch das FraktG n. F. vom 19.6.2019 (GVBl. I Nr. 40), zul. geänd. d. Art. 3. d. G. v. 11.11.2019 (GVBl. S. 8), das Fraktionsgesetz Sachsen-Anhalt vom 5.11.1992 (GVBl. S. 768), zul. geänd. d. Art. 5. d. G. v. 20.3.2020 (GVBl. S. 64). 435

H. Organisation des Bundestags

175

b) Begriff der Fraktion Der Begriff der Fraktion wird vom Grundgesetz nicht definiert, immerhin aber vorausgesetzt: Nach Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG bestimmt der Bundestag die von ihm in den Gemeinsamen Ausschuss (s. dazu § 4 Rn. 7 ff.) zu entsendenden Ab­ geordneten im Verhältnis der Stärke der Fraktionen. Damit ist nicht gesagt, was unter einer „Fraktion“ zu verstehen ist. Das einfache Gesetzesrecht bestimmt in § 46 Abs. 1 AbgG immerhin: „Fraktionen sind rechtsfähige Vereinigungen von Abgeordneten im Deutschen Bundestag“. Letztlich unterliegt die Ausfüllung des Begriffs „Fraktion“ v. a. der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags.442

376

Etymologisch verweist ‚Fraktion‘ auf das lateinische ‚fractum‘ (‚zerbrochen‘): Fraktionen sind ‚Bruchstücke‘ des Gesamtparlaments. Es ließe sich auch von Ausschnitten (Segmen­ ten) des Gesamtorgans Bundestag oder von Organteilen (s. § 1 Rn. 39) sprechen. Die Rede von Bruchstücken, Ausschnitten oder Teilen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fraktionen trotz ihrer organisatorischen Eigenständigkeit und Verfestigung gerade auch der interfraktio­ nellen Kooperation und der parlamentarischen Integration dienen. Das Gesamte oder größere Ganze ist im ‚Bruch‘ eben stets mitgedacht; das ist beispielsweise in der Rede von parlamen­ tarischen Klubs im österreichischen Nationalrat anders.

377

Fraktionen sind nach § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT „Vereinigungen von mindestens fünf von Hundert der Mitglieder des Bundestags, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen.“

378

Das Merkmal der inneren politischen Homogenität einer Fraktion, das sich aus der gemeinsamen Parteizugehörigkeit bzw. aus „gleichgerichteten Zielen“ und fehlendem politischen Wettbewerb ergibt, muss zeitlich durchgehend bestehen, nicht nur bei Konstituierung des Bundestags. Daraus folgt, dass der Fraktions­ status nicht nur bei förmlicher Auflösung einer Fraktion oder dem Unterschreiten der Mindeststärke entfallen kann, sondern auch bei inzwischen aufgetretener deut­ licher materieller Inhomogenität.443 Übliche Flügelkämpfe innerhalb einer Partei stellen den Fraktionsstatus aber nicht in Frage.

379

Sofern zwei Parteien „aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen“, können ihre Bundestagsabgeordneten gem. § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT eine gemeinsame Fraktion (untechnisch sog. „Fraktionsgemeinschaft“) bilden. Seit 1949 bilden die Abgeordneten der Parteien CDU und CSU die CDU / CSU-Fraktion.444

380

442

BVerfGE 96, 264 (280 f.) – Fraktions- und Gruppenstatus. Ipsen, NVwZ 2006, 176 (177 f.). Mit der früher von der CSU nach dem „Fraktions­ beschluss“ von Kreuth im Jahre 1976 erwogenen bundesweiten Ausdehnung der CSU wäre diese mit der CDU in Wettbewerb getreten, wodurch die Voraussetzung für eine Fraktions­ bildung nach § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT entfallen wäre. 444 A. Schwerdtfeger, NVwZ 2017, 841. 443

176 381

§ 2 Bundestag

Die Festsetzung eines Mindestquorums zur Fraktionsbildung (fünf von Hun­ dert der Mitglieder des Bundestags) soll eine effektive Aufgabenerfüllung der Fraktionen, nämlich die Koordinierung und Straffung der parlamentarischen Vor­ gänge, gewährleisten.445 Dass die Geschäftsordnung des Bundestags den Frak­ tionsstatus an eine Mindeststärke knüpft, ist vom Bundesverfassungsgericht im Grundsatz gebilligt worden. Allerdings lässt sich das Erfordernis einer Mindest­ stärke nicht ohne Weiteres aus der 5 %-Sperrklausel-Regelung im Wahlrecht (s.  Rn.  167 ff.) herleiten.446 Ein „verfassungsrechtlich tragfähiger Grund für die Festsetzung einer Fraktionsmindeststärke liegt [aber] in der Autonomie des Deut­ schen Bundestags, durch seine Geschäftsordnung die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten.“ Aus diesem Grunde seien, so das Bundesverfas­ sungsgericht, auch Differenzierungen zwischen Fraktionen und anderen Zusam­ menschlüssen gerechtfertigt, denn sie begegneten der Gefahr, dass die parlamenta­ rische Arbeit durch die Vielzahl von Anträgen kleiner Gruppen behindert würde.447 c) Aufgaben der Fraktionen

382

Sinn der Fraktionsbildung ist es, durch entsprechende Untergliederungen die Arbeitsweise des Parlaments praktikabel zu machen, vor allem aber auch das Spektrum unterschiedlicher politischer Richtungen im Bundestag in der Parla­ mentsstruktur widerzuspiegeln. Die Fraktion als (faktisch notwendige)  Gliede­ rungseinheit448 zwischen dem Gesamtparlament und den einzelnen Abgeordneten und das fraktionelle Arbeiten sind damit zugleich Bausteine der repräsentativ-par­ lamentarischen (Parteien-)Demokratie.449 Sie wirken an der Erfüllung der Aufga­ ben des Deutschen Bundestags mit (§ 47 Abs. 1 AbgG) und müssen ihre Organi­ sation und Arbeitsweise an den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie ausrichten (§ 48 Abs. 1 AbgG). Sie geben sich eine Geschäftsordnung (§ 48 Abs. 2 AbgG). Wegen der mit dem Fraktionsstatus einhergehenden umfangreichen Be­ fugnisse, wirken die Fraktionen (insbesondere die der Opposition) als Kontroll­ instanzen (s. Rn. 89 ff., 404 ff.) gegenüber der Bundesregierung.450

383

Die Fraktionen stehen vermittelnd zwischen den einzelnen Abgeordneten und den politischen Parteien. Die Anerkennung der Fraktionen als notwendige Ein­ richtungen des Verfassungslebens durch das Bundesverfassungsgericht stützte sich anfangs auf die Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 21 GG.451 Nunmehr wird sie als Zusammenschluss von Abgeordneten, die in 445

Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 223 f. BVerfGE 84, 306 (324 f.). 447 BVerfGE 96, 264 (278) – Fraktions- und Gruppenstatus. 448 BVerfGE 2, 143 (160, 167) – EVG-Vertrag. 449 Nach BVerfGE 80, 188 – Wüppesahl (Ls. 3 b., 219 f.) ist die Existenz von Fraktionen zu­ gleich das Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestags. 450 Zeh, in: Isesee / K irchhof, HbStR, 3. Auflage 2005, § 52, Rn. 19. 451 BVerfGE 7, 99 (107); 47, 198 (225) – Wahlwerbesendungen. 446

H. Organisation des Bundestags

177

der repräsentativen Demokratie einen besonderen Status nach Art. 38 Abs. 1 GG einnehmen, auf diese Vorschrift zurückgeführt.452 Die Rechte der Fraktionen er­ geben sich deshalb aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG.453 Diese Herleitung der Rechte von Fraktionen aus Rechten der Abgeordneten indiziert in besonderem Maße, dass die Fraktionen nur politisch, nicht aber rechtlich in ihrer Programmatik und ihren Entscheidungen von den politischen Parteien ab­ hängig sind. d) Rechtsnatur der Fraktionen Die Rechtsnatur der Fraktionen ist umstritten454; die Deutungen des rechtli­ chen Status der Fraktionen reichen im Wesentlichen von der Kategorie ‚Verfas­ sungsorgan‘, über ‚Verfassungsorganteil‘455, über ‚nichtrechtsfähiger Verein des Bürgerlichen Gesetzbuches‘456 oder ‚öffentlich-rechtliche Personenvereinigung‘457 bis hin zu ‚Staatsorgan sui generis‘.458 Diese Qualifizierungen bewegen sich in unterschiedlichen Dimensionen (Verfassungsrecht – einfaches Recht; öffentliches Recht – Privatrecht; Außenrecht – Binnenrecht).

384

Vermag die beiläufige Erwähnung der „Fraktionen“ in Art. 53a GG (s. o. Rn. 376) die Verfassungsorganqualität der Fraktionen auch nicht zu begründen, spricht doch vieles für die Eigenschaft der Fraktion als Organteil des Parlaments (s. auch § 1 Rn. 39). Hierfür sprechen auch verfassungsprozessuale Vorschriften: Nach allgemeiner Auffassung eröffnet Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. § 63 BVerfGG den Fraktionen als in der Geschäftsordnung des Bundestags mit eigenen Rechten ausgestatteten Teilen des Bundestags die Möglichkeit, ein Organstreitverfahren durchzuführen (s. u. Rn. 396).459

385

Bei den Fraktionen handelt es sich um rechtsfähige (§ 46 Abs. 1 AbgG) öffentlich-rechtliche Vereinigungen. Nach § 46 Abs. 2 AbgG können sie klagen und verklagt werden.

386

Fraktionen sind aber nach Auffassung des Gesetzgebers kein Teil der öffent­ lichen Verwaltung und üben hiernach auch keine öffentliche Gewalt aus (§ 46

387

452

BVerfGE 70, 324 (350 f., 362 f.) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. BVerfGE 80, 188 (219 f.); 84, 304 (322 f.) – Wüppesahl. 454 Vgl. Zeh, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 52, Rn. 7 ff. 455 Vgl. BVerfGE 1, 208 (229): Das Bundesverfassungsgericht spricht hier nicht wörtlich von „Verfassungsorganteil“, sondern sagt „[Die Fraktion] ist nur ein Organ des Landtages, und ihre Rechte und Pflichten beziehen sich auf den innerparlamentarischen Raum.“ 456 Achterberg, JA 1984, 9 (9). 457 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 1026 f. 458 Schmidt, DÖV 1990, 102 (105). 459 BVerfGE 70, 324 (350 f.) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. Nach BVerfGE 67, 100 (125) – Flick-Untersuchungsausschuss – kann die Fraktion auch Rechte des gesamten Parlaments geltend machen. 453

178

§ 2 Bundestag

Abs. 3 AbgG). Deswegen gilt den Fraktionen gegenüber auch nicht die Rechtsweg­ garantie des Art. 19 Abs. 4 GG; Fraktionen handeln (abgesehen von Fiskalgeschäf­ ten) nicht unmittelbar nach außen gegenüber dem Bürger oder anderen Rechtsträ­ gern. Trotzdem ist ihr Handeln (abgesehen von Fiskalgeschäften) dem öffentlichen Recht (Parlamentsrecht) zuzuordnen. e) Befugnisse der Fraktionen 388

Die praktische Bedeutung der Fraktionen innerhalb des parlamentarischen Ent­ scheidungsprozesses ist groß: Das Stärkeverhältnis der Fraktionen untereinander bestimmt die personelle Besetzung des Ältestenrats und der Ausschüsse, die Re­ gelung des Ausschussvorsitzes (§ 12 GOBT) sowie die Reihenfolge der Fraktionen untereinander (§ 11 GOBT), z. B. beim Rederecht.

389

Die verfahrensmäßige Ausgestaltung wichtiger Rechte der Abgeordneten wie etwa das Rederecht (§ 28 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 1, § 35 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 GOBT) oder auch das Recht, Anträge zur Geschäftsordnung zu stellen (§ 29 Abs. 2 GOBT), knüpfen in unterschiedlicher Form an Fraktionsstatus bzw. -mitglied­ schaft an und unterliegen im Ergebnis weitgehend der Fraktionsentscheidung.460

390

Zu den Befugnissen der Fraktionen im Einzelnen gehören insbesondere das Recht, die Tagesordnung zu ergänzen oder einzelnen Punkten der Tagesordnung zu widersprechen (vgl. § 20 Abs. 2 u. Abs. 3 GOBT), die Erstattung von Zwischenberichten durch einen Ausschuss zu verlangen (§ 62 Abs. 2 S. 1 GOBT), namentliche Abstimmung zu fordern (§ 52 S. 1 GOBT) und zu beantragen, dass der Bun­ destag ein Regierungsmitglied zitiert, d. h. herbeiruft (§ 42 GOBT). Hinzu kommt das Fragerecht, d. h. das Recht, einem Regierungsmitglied Fragen zu stellen, also zu „interpellieren“, bspw. mittels Großer und Kleiner Anfragen (§ 75 Abs. 1 lit. f, Abs. 3, §§ 100 ff. GOBT).

391

Ferner haben Fraktionen die Befugnis, Mitglieder in die Ausschüsse, Unter­ ausschüsse, Untersuchungsausschüsse, Enquête-Kommissionen bzw. den Vermitt­ lungsausschuss des Bundestags zu entsenden sowie Ausschussvorsitzende und Stellvertreter zu stellen, was sich mittelbar aus § 12 GOBT ergibt.

392

Diese Konzentration von Befugnissen bei den Fraktionen lässt sich vor allem im Interesse der Funktionstüchtigkeit parlamentarischen Wirkens rechtfertigen.461

460 Dass nur den Fraktionen durch die Geschäftsordnung des Bundestags Redezeiten zu­ geteilt werden, hat das Bundesverfassungsgericht weitgehend gebilligt, vgl. BVerfGE 10, 4 (14) – Redezeit. In der 19. Legislaturperiode verteilt sich die „Berliner Stunde“ in den Debat­ ten des Deutschen Bundestags wie folgt: CDU / CSU 21 Minuten, SPD 13 Minuten, AfD und FDP jeweils 7 Minuten, Bündnis 90/Die Grünen 6 Minuten sowie Die Linke 4 Minuten pro Stunde; vgl. BT-Drs. 18/481, 18/997. 461 BVerfGE 10, 4 (13 f.) – Redezeit.

H. Organisation des Bundestags

179

Neben den Fraktionsbefugnissen gibt es die in Fraktionsstärke wahrzunehmenden Abgeordnetenbefugnisse (wahrzunehmen von „anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages“ – sog. „abstrakte Fraktion“462) wie das Antragsrecht zur Ausübung des Zitierrechts nach Art. 43 Abs. 1 GG i. V. m. § 42 GOBT oder auch das legislative Initiativrecht nach Art. 76 Abs. 1 GG i. V. m. § 76 GOBT. Einige Befugnisse sind ausdrücklich sowohl als Fraktionsbefugnisse wie auch als in Fraktionsstärke wahrzunehmende Abgeordnetenbefugnisse ausgestal­ tet (so etwa das Antragsrecht zur Ausübung des Zitierrechts gem. § 42 GOBT).

393

Die Befugnisse der Fraktionen können in Konkurrenz zu den Rechten des einzelnen Abgeordneten treten. Das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen Abgeordnetenrechten und Fraktionsbindungen lässt sich auch nicht allein damit beheben, dass man den Zusammenschluss der einzelnen Abgeordneten zu einer Fraktion auf deren jeweilige freie Mandatsausübung zurückführt (s. o. Rn. 250).463

394

Freilich ist zu beachten, dass sich der einzelne Abgeordnete auch mit anderen Mitgliedern des Bundestags in einer anderen Fraktion bzw. in einer Gruppe (etwa einem Wahlbündnis) zusammenschließen kann. Dabei sind verschiedene Kon­ stellationen und Gestaltungen denkbar: Der Abgeordnete kann die Partei- und Fraktionsmitgliedschaft wechseln; alternativ kann der Bundestag gem. § 10 Abs. 1 S. 2 GOBT zustimmen, dass ein Abgeordneter Mitglied in einer Fraktion mit Abgeordneten einer anderen Partei, die mit seiner Partei im Wettbewerb steht, wird; denkbar ist auch, dass der Abgeordnete Gast in der anderen Fraktion wird (§ 10 Abs. 3 GOBT).

395

f) Prozessuale Stellung der Fraktionen Darüber hinaus sind die Fraktionen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 64 f. BVerfGG auch befugt, als Partei im Organstreitverfahren ihre eigenen Rechte, aber auch die Rechte des gesamten Parlaments prozessstandschaftlich geltend zu machen.464 Dieses Instrument dient besonders dem Schutz parlamenta­ rischer Minderheiten (s. dazu § 8 Rn. 359).

462

Zeh, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 52, Rn. 6. So aber BVerfGE 80, 188 (219) – Wüppesahl; 84, 304 (322) – PDS / Linke Liste. Auf Ein­ zelheiten wurde bereits im Zusammenhang mit dem Status des Abgeordneten eingegangen (s. o. Rn. 254 ff.). 464 BVerfGE 67, 100 (125) – Flick-Untersuchungsausschuss. 463

396

180

§ 2 Bundestag

2. Gruppen a) Allgemeines 397

Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG folgt – wie erwähnt – das Recht der Abgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen bzw. sich nicht zu Fraktionen zusam­ menzuschließen oder sich in anderer Weise als in Fraktionen zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden.

398

Mitglieder des Bundestags, die sich zusammenschließen wollen, ohne die Fraktionsmindeststärke von 5 % aller Abgeordneten zu erreichen, können als sogenannte Gruppe anerkannt werden (§ 10 Abs. 4 S. 1 GOBT).465 Hierbei ist al­ lerdings auf die bisher eher geringe praktische Relevanz der Gruppe, insbesondere wegen der wahlrechtlichen 5 %-Hürde (s. o. Rn. 167 ff.), im parlamentarischen All­ tag hinzuweisen. b) Rechte der Gruppen

399

An die Anerkennung als Gruppe knüpft eine Reihe von Rechten im Parlament an. Zunächst haben Gruppen Anspruch auf eine angemessene Ausstattung mit sachlichen und personellen Mitteln, sofern auch Fraktionen solche gewährt wer­ den. Zum Teil wird jedoch auf ein verfassungsrechtliches Abstandsgebot zwischen Fraktionen und Gruppen mit der Folge verwiesen, dass Gruppen nicht dieselben Rechte zugesprochen werden könnten wie Fraktionen.466 Darüber hinaus verlangt der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit der Zusammensetzung von Parlament und Ausschüssen (s. o. Rn. 83), dass auch Gruppen bei der Besetzung der Ausschüsse zumindest in den Fällen Berücksichtigung finden, in denen bei der gegebenen Größe der Ausschüsse und auf der Grundlage des vom Bundestag jeweils ange­ wendeten Proportionalverfahrens ein oder mehrere Sitze auf sie entfielen. Sind sie einmal in einem Ausschuss vertreten, so haben sie dort die gleichen Rechte wie die von den Fraktionen entsandten Mitglieder.467

400

Es erscheint noch zulässig, wenn einer Gruppe nicht durchgängig Redezeit ge­ währt wird, sondern darüber von Sitzung zu Sitzung erneut zu befinden ist. Dass grundsätzlich organisatorische und verwaltungstechnische Teilhaberechte und Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb des Bundestags den Fraktionen den par­ lamentarischen Alltag vereinfachen, wohingegen Gruppen um einzelne Ausstattungspositionen gesondert ersuchen müssen, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. 465

Im 12. Deutschen Bundestag (1990–1994) waren z. B. zwei Gruppen vertreten: zum einen die PDS / Linke Liste, zum anderen Bündnis 90/Die GRÜNEN. 466 Schmidt, DÖV 2015, 261. 467 Vgl. die Leitsätze in BVerfGE 84, 304  – PDS / Linke Liste; s. auch BVerfGE 96, 264 (280) – Fraktions- und Gruppenstatus.

H. Organisation des Bundestags

181

Verfassungsrechtlich problematisch erscheint es aber, wenn von den Mehrheits­ fraktionen Gruppenrechte durch eine unterschiedliche Anwendung und Auslegung von Geschäftsordnungsregeln beschnitten werden und damit einer Gruppe etwa die Entsendung von Vertretern in den politisch bedeutsamen Vermittlungs­ausschuss versagt wird.468 c) Prozessuale Stellung von Gruppen Gruppen sind im Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 BVerfGG beteiligtenfähig, weil sie in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, nämlich durch § 10 Abs. 4 S. 1 GOBT.469 Verfassungsprozessual sind Gruppen insoweit also den Fraktionen gleichgestellt.

401

3. Fraktions- und gruppenlose Abgeordnete Abgeordnete, die sich keiner Fraktion (bzw. Gruppe)  angeschlossen haben (oder von ihr ausgeschlossen wurden), profitieren grundsätzlich nicht von der den Fraktionen (oder Gruppen) durch die Geschäftsordnung eingeräumten Befugnis­ sen. Die verfassungsrechtlich normierte Gleichheit aller Abgeordneten gebie­ tet aber, ihnen wesentliche Teilnahme- und Mitwirkungsrechte einzuräumen (s. o. Rn. 272 f.).470 Fraktionslose Abgeordnete sind daher berechtigt, an Ausschuss­ sitzungen teilzunehmen und dort zu reden. Ein Stimmrecht ist ihnen nach h. M. jedoch nicht unbedingt zu gewähren (s. dazu Rn. 272), da sie andernfalls über Ge­ bühr repräsentiert wären.471

402

Auch sind fraktionslose Abgeordnete zwar kein Organteil des Bundestags, doch sind sie als „andere Beteiligte“ im Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG antragsbefugt. Gleichwohl können sie nicht in Prozessstandschaft die Rechte des gesamten Bundestages geltend machen (s. § 8 Rn. 372).

403

468 In namentlicher Abstimmung wurde 1995 nach einer Geschäftsordnungsdebatte be­ schlossen, dass die Besetzung des Vermittlungsausschusses nach dem kleine Gruppierun­ gen geringfügig benachteiligenden d’Hondt’schen Zählverfahren anstatt des sonst üblichen Ste. Laguë / Schepers-Modus vorgenommen werde, wodurch die PDS-Gruppe einen ihr sonst zustehenden Sitz im Vermittlungsausschuss nicht erhielt (vgl. aber BVerfGE 96, 264 [283] – Fraktions- und Gruppenstatus – zur Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens). 469 Dies ermöglichte den Gruppen von Bündnis 90/Die GRÜNEN und der PDS, welche beide über die auf das Beitrittsgebiet beschränkte 5 %-Hürde in den 12. Bundestag eingezogen waren, ihren Status verfassungsgerichtlich klären zu lassen (BVerfGE 84, 304 (Ls. 1–3c) – PDS / Linke Liste). 470 BVerfGE 80, 188 (218 f.) – Wüppesahl; vgl. dazu die Ausführungen zur Gleichheit des Mandats, oben Rn. 127 f., sowie ausführlich Brandner, JA 1990, 151 ff. 471 BVerfGE 80, 188 (222 f.) – Wüppesahl.

182

§ 2 Bundestag

V. Opposition 404

Die Opposition ist (insbesondere) die parlamentarische Minderheit.472 Freilich gibt es „kein Oppositionsmonopol auf Seiten des Parlaments“473: Auch im außerparlamentarischen Bereich gibt es oppositionelle Kräfte; die freiheitliche Demo­ kratie des Grundgesetzes kennt Oppositionen im Plural, so etwa auch im Bundesrat (ausführlich § 3 Rn. 56 ff.), in den politischen Parteien außerhalb des Bundestags und in sonstigen politisch aktiven Gruppen und Individuen – ggf. auch in Teilen von Kunst, Presse oder Wissenschaft. ‚Opposition‘ in einem (sehr) weiten Sinn ist dann ein „Oberbegriff für das Äußern von Widerspruch“474.

405

Im Parteienbundesstaat des Grundgesetzes wirkt die parteipolitische Opposition häufig über den Bundesrat (s. o. Rn. 40 sowie ausführlich § 3 Rn. 56 ff.).

406

Die parlamentarische und außer-parlamentarische Opposition ist essentiell für die Demokratie und die freiheitliche demokratische Grundordnung475. Wer die Opposition abschaffen will, ist ein Verfassungsfeind. Ohne Opposition gibt es keine reale Demokratie.476 Ihre Rolle kann politisch gar nicht hoch genug einge­ schätzt werden. Sie hat für das politische System der Bundesrepublik Deutschland ein sehr hohes Gewicht.477

407

Gleichwohl findet die parlamentarische Opposition als solche keine ausdrück­ liche Anerkennung im Grundgesetz. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsge­ richts hat deutlich festgestellt: „Das Grundgesetz schweigt bereits über den Begriff der Opposition. Schon gar nicht erkennt es Oppositionsfraktionen als spezifische

472

Opposition ist nach H. P. Schneider „die Gesamtheit aller nicht an der Regierung betei­ ligten, aber potentiell regierungsfähigen Gruppen (Fraktionen) im Parlament“. Vgl. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1974, S. 121; vgl. dazu auch Poscher, Die Opposition als Rechtsbegriff, AöR 122 (1997), 444 (448 f.); Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grund­ gesetz, 1995, S. 39 f. 473 Ingold, ZRP 2016, 143 (144); ders., Das Recht der Oppositionen. Verfassungsbegriff – Verfassungsdogmatik – Verfassungstheorie, 2015, S. 352 ff.; vgl. auch Kuhn, Der Verfassungs­ grundsatz effektiver parlamentarischer Opposition, 2019, S. 31: „[p]arlamentarische Opposi­ tion als Teilmenge des Oppositionsbegriffs“. 474 Kuhn, Der Verfassungsgrundsatz effektiver parlamentarischer Opposition, Tübingen 2019, S. 29. 475 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 280, § 28, Rn. 72 f. 476 Hierzu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 11 f. 477 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen in frühen politischen Aus­ sprachen im Deutschen Bundestag zur Rolle und Bedeutung der Opposition. Der Abgeordnete Kurt Schumacher definierte etwa „das Wesen der Opposition als den permanenten Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen“, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenographische Berichte, Bd. 1, 1. Wahlperiode 1949, 6. Sitzung v. 21.9.1949, S. 32; der Abgeordnete v. Brentano meinte, „dass die Opposition eine staatlich ebenso not­ wendige Aufgabe zu erfüllen hat wie die Regierung selbst“, ebda. S. 43.

H. Organisation des Bundestags

183

Rechtsträger an.“478 Freilich lassen sich verfassungsrechtliche Sicherungen der par­ lamentarischen Opposition als ungeschriebener „verfassungsrechtliche[r] Grund­ satz effektiver Opposition“479 aus dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ableiten (hierzu sogleich unten Rn. 410). Mehrere Bundesländer480 und einige aus­ ländische Verfassungen (z. B. die Verfassung von Südafrika)481 kennen dagegen die ausdrückliche verfassungsrechtliche Verbürgung der Opposition. Auch für das Grundgesetz, d. h. für den Bundestag, gibt es die verfassungspolitische Forderung nach einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerung von Rechten der Opposition. Verfassungspolitische Bestrebungen innerhalb der Gemeinsamen Verfassungs­ kommission, durch eine mögliche Verfassungsänderung in Form eines neuen Art. 49 GG das Recht auf die Bildung und die Ausübung parlamentarischer Opposition zu verankern, konnten sich politisch nicht durchsetzen.482

408

Das Grundgesetz begreift die parlamentarische Opposition im Bundestag funktionell als Teil des Organs Bundestag. Letztlich besteht die Opposition aus den Oppositionsfraktionen, also aus den nicht regierungstragenden Fraktionen. Die Opposition ist aber institutionell kein eigenständiges Verfassungsorgan und auch kein verselbständigter Organteil.483 Im Schrifttum ist  – zugespitzt  – die Rede davon, parlamentarische Opposition sei „Funktion und nicht Institution“484.

409

Das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von Opposition ist nach zutreffender Auffassung auch des Bundesverfassungsgerichts im demokratischen Prinzip verwurzelt485 und soll zudem durch das Rechtsstaatsprinzip abgesichert sein.486 Zugleich erkennt das Gericht, dass die Minderheit im Bundes­ tag „anders als der Bundesrat, die Bundesregierung und der Bundespräsident […]

410

478

BVerfGE 142, 25 (58) – Oppositionsrechte. BVerfGE 142, 25 (55) – Oppositionsrechte. 480 Vgl. Art. 38 Abs. 3, 49 Abs. 4 LV-Bln, Art. 55 Abs. 2 LV Bbg, Art. 24 Abs. 1 LV-Hbg, Art. 18 LV-SH, Art. 59 Abs. 1 LV-Th.; ausführlich Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen. Eine verfassungsrechtliche Analyse der neuen Oppositionsregelungen, 2000. 481 Sec. 57(2)(d): „The rules and orders of the National Assembly must provide for […] the recognition of the leader of the largest opposition party in the Assembly as the Leader of the Opposition.“ In England wird auch von „Her Majesty’s Opposition“ gesprochen. 482 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 89 f. 483 Das Bundesverfassungsgericht skizziert genaugenommen den verfassungsrechtlichen Status der (oppositionellen) Minderheit, BVerfGE 2, 143 (170) – EVG-Vertrag; 10, 4 (16 f.); 44, 308 (363). Klein (in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 50, Rn. 45) fordert eine „institutionelle Aufwertung“ der Opposition, ähnlich derjenigen der politischen Parteien durch Art. 21 GG. 484 Kuhn, Der Verfassungsgrundsatz effektiver parlamentarischer Opposition, Tübingen 2019, S. 31 ff.; zuvor zum Aspekt der Opposition als „verfassungsrechtliche Funktion“: Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen. Eine verfassungsrechtliche Analyse der neuen Oppositionsregelungen, 2000, S. 72; Mundil, Die Opposition. Eine Funktion des Verfassungsrechts, 2014, S. 110 f., m. w. N. 485 BVerfGE 70, 324 (363) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 486 BVerfGE 142, 25 – Oppositionsrechte. 479

184

§ 2 Bundestag

keinerlei verfassungsrechtliche Möglichkeit [hat], durch Handeln oder Unterlas­ sen ihrer Rechtsauffassung Geltung zu verschaffen und zu verhindern, dass der mit einfacher Mehrheit gefa[ss]te Beschlu[ss] des Bundestags den Rechtsschein der Gültigkeit erlangt. Sie kann nur, falls sie 1/[4 der Mitglieder des Bundestags] umfa[ss]t, […] den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem Antrag auf Normenkontrolle anrufen.“487 411

Indem die Opposition die parlamentarischen Kontrollbefugnisse entschei­ dend wahrnimmt, hat sie politisch, aber auch innerhalb des verfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges eine tragende Rolle inne: Ausdruck dessen ist beispielsweise die Möglichkeit parlamentarischer Minderheiten, Befugnisse des Gesamtparlaments wahrzunehmen (vgl. Art. 39 Abs. 3 S. 3, Art. 44 Abs. 1 S. 1, Art. 45a Abs. 2, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Minderheitsbefugnisse kommen politisch vor allem der Opposition zugute.

412

Die Zusammenarbeit der CDU / CSU-Fraktion mit der SPD-Fraktion in der Großen Koali­ tion infolge der Bundestagswahlen im Jahr 2013 warf für die 18. Legislaturperiode (2013– 2017) einmal mehr die Frage der Stärkung von Minderheitenrechten im Bundestag auf. Selbst bei einem Zusammenwirken der Oppositionsfraktionen konnten diese z. B. nicht das Quorum für eine abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) oder für eine MinderheitenEnquête (Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG) von einem Viertel der Mitglieder des Bundestags erreichen. In diesem Zuge bestätigte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zwar den im Grundgesetz enthaltenen und durch die Rechtsprechung konkretisierten „allgemeinen verfas­ sungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition“.488 Gleichwohl entschied der Senat – we­ nig überraschend –, eine Bevorzugung oppositioneller Fraktionen oder Abgeordneter durch die Zuweisung spezifisch oppositionsbezogener geringerer Quoren fände (de constitutione lata) keine verfassungsrechtliche Grundlage.489

413

Auf entsprechenden öffentlichen Druck hin wurden aber – ausdrücklich nur für die Dauer der 18. Wahlperiode – die Quoren für die Ausübung bestimmter parlamentarischer Minder­ heitenrechte durch Änderung der Geschäftsordnung in § 126a GOBT a. F. abgesenkt.490 Der Bundestag legte sich selbst binnenrechtliche Bindungen zum Minderheitenschutz auf, die über das vom Grundgesetz geforderte Maß hinausgingen: Manche Rechte (etwa Einberufung der Minderheiten-Enquête)  konnten durch „120 seiner Mitglieder“ (d. h. durch weniger als ein Fünftel der Abgeordneten) ausgeübt werden (§ 126a Abs. 1 Nr. 1 GOBT a. F.), andere Rechte (etwa Befassung des Verteidigungsausschusses oder des Haushaltsausschusses in bestimmten Angelegenheiten) konnten „auf Antrag aller Ausschussmitglieder der Fraktionen, die nicht die Bundesregierung tragen“, ausgeübt werden (§ 126a Abs. 1 Nr. 2, 7, 8 GOBT a. F.). § 126a GOBT umfasste nicht alle parlamentarischen Minderheitenrechte, so beispielsweise nicht die Antragsberechtigung der abstrakten Normenkontrolle. Die Absenkung der Quoren sollte le­ diglich vorübergehend gelten, weshalb von einer Verfassungsänderung abgesehen wurde.491 487

BVerfGE 2, 143 (169) – EVG-Vertrag. BVerfGE 142, 25 – Oppositionsrechte. 489 BVerfGE 142, 25 – Oppositionsrechte. 490 Durch Beschl. v. 3.4.2014, BGBl. I S. 534. 491 Vgl. Ingold, ZRP 2016, 143; denkbar wäre es auch, Minderheitenrechte schon einem Fünftel der Mitglieder des Parlaments oder zwei Fraktionen zur gemeinsamen Ausübung zu­ zubilligen. 488

H. Organisation des Bundestags

185

In der 19. Wahlperiode nach der Bundestagswahl 2017 haben sich die Größenverhältnisse der Fraktionen im Bundestag verändert. Den regierenden Parteien der Großen Koalition (CDU / CSU und SPD) stehen nun vier Oppositionsparteien gegenüber (FDP, Bündnis 90/ Grüne, Die Linke, AfD). Das Problem ist jetzt nicht mehr die genügende (Gesamt-)Größe der Opposition, um Minderheitenrechte wahrzunehmen, sondern ihre inhaltliche Zerrissenheit, die gemeinsames oppositionelles Handeln praktisch kaum möglich macht. Mehr Oppositions­ parteien bedeuten im Ergebnis eben häufig weniger Oppositionsmacht.

414

VI. Ausschüsse 1. Allgemeines Ausschüsse sind Unterorgane des Bundestags zur Erfüllung seiner Aufgaben, in denen ein beträchtlicher Teil der parlamentarischen Arbeit geleistet wird.492 Sie sind gemäß der Formulierung des § 62 Abs. 1 S. 2 GOBT „vorbereitende Beschlußorgane des Bundestag[s]“. Die Ausschüsse sind die eigentlichen Foren der parlamentarischen Arbeit, wobei die fehlende Öffentlichkeit der Ausschussarbeit (s. o. Rn. 113, 134) die Erreichung der politischen Kompromisse jenseits der Par­ tei- und Fraktionsgrenzen erleichtert, was aber auf Kosten der demokratischen Akzeptanz gehen kann.

415

Bundestagsausschüsse kommen in unterschiedlichen Formen daher: Die Aus­ schüsse werden regelmäßig als ständige Ausschüsse (§ 54 Abs. 1 S. 1 GOBT) für die gesamte Dauer einer Legislaturperiode eingesetzt. Zudem kann der Bundestag nach § 55 Abs. 1 S. 2 GOBT für einzelne Angelegenheiten „Sonderausschüsse“ einsetzen, die typischerweise auch für die gesamte Legislaturperiode arbeiten müs­ sen. Nicht-ständige Ausschüsse sind u. a. die Untersuchungsausschüsse (s. dazu Rn. 443 ff.).

416

Die Einsetzung von Ausschüssen ist zum Teil in der Verfassung vorgesehen (s. u. Rn. 422 ff.), kann darüber hinaus – unter Wahrung des Selbstbestimmungs­ rechts und der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags – auch gesetzlich be­ stimmt werden und obliegt ansonsten dem freien Ermessen des Bundestags. Die Ausschüsse können zur Vorbereitung der eigenen Arbeit ihrerseits Unterausschüsse einsetzen (§ 55 Abs. 1 GOBT).

417

Die hohe Bedeutung der Ausschüsse zeigt sich u. a. in den ausführlichen Rege­ lungen der §§ 54–74 GOBT. Die Ausschüsse werden – vorbehaltlich von Sonder­ regelungen – durch Abgeordnete des Bundestags besetzt. Angesichts der Bedeu­ tung der Ausschussarbeit für die Entscheidungsfindung im Plenum müssen die Grundsätze der parlamentarischen Repräsentation auch für die Ausschüsse (und etwaige Unterausschüsse) gelten.

418

492 Unter Hinweis auf die Tradition dieser parlamentarischen Arbeitsteilung in Deutschland: BVerfGE 80, 188 (221 f.) – Wüppesahl.

186

§ 2 Bundestag

419

Stets muss die Zusammensetzung des Ausschusses ein verkleinertes Bild des Plenums darstellen, der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Parlament und Aus­ schüssen muss gewahrt sein (§ 12 S. 1 GOBT).493 Gegenläufig zu einer genauen Ab­ bildung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag kann die Arbeitsfähigkeit des Aus­ schusses sein. Sie kann eine Beschränkung der Mitgliederzahl erforderlich machen, was eine genaue Spiegelbildlichkeit verhindern kann. In der 19. Legislatur­periode hatten die Ausschüsse des Bundestags zwischen 9 und 49 Mitglieder. Die Mitgliederzahl korrespondiert in gewisser Weise mit der Bedeutung der Ausschüsse: Die politisch bedeutendsten und parlamentarisch wesentlichen Ausschüsse des Bundestags sind auch seine größten (Wirtschaft- und Energieausschuss: 49 Mit­ glieder, Ausschuss für Arbeit und Soziales: 46  Mitglieder, Haushaltsausschuss: 44 Mitglieder, Innenausschuss: 45 Mitglieder, Auswärtiger Ausschuss: 45 Mitglie­ der, Verteidigungsausschuss: 36 Mitglieder). Diese Größe ermöglicht es, auch bei den kleineren Parteien noch nach den Mandaten im Bundestag zu differenzieren.

420

Da aber nur ganze Sitze in den Ausschüssen verteilt werden können, lässt sich keine perfekt proportionale Gerechtigkeit bzw. Spiegelbildlichkeit zwischen Bundestagszusammen­ setzung und Ausschusszusammensetzung erreichen. „Deshalb fällt die Entscheidung für das bei Gremienwahlen anzuwendende Zählsystem grundsätzlich in die autonome Entscheidungs­ befugnis des Bundestags.“494

421

Die fachliche Gliederung der (ständigen) Ausschüsse orientiert sich zu einem erheb­ lichen Teil, aber nicht vollständig an der Gliederung der Bundesministerien untereinander. Grundsätzlich hat jedes Bundesministerium einen korrespondierenden Ausschuss. In der im Jahre 2017 begonnenen 19. Legislaturperiode bestehen die folgenden ständigen Ausschüsse des Bundestags: Arbeit und Soziales; Auswärtiges; Bau, Wohnen, Stadtentwicklung, Kom­ munen (seit April 2018); Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (näher unten Rn. 514 ff.); Digitale Agenda; Ernährung und Landwirtschaft; Europäische Union; Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Finanzen; Gesundheit; Haushalt; Inneres (und Heimat); Kultur und Medien; Menschenrechte und humanitäre Hilfe; Petitionen; Recht und Verbraucherschutz; Sport; Tourismus; Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (seit 2018: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit); Verkehr und digitale Infrastruktur; Verteidi­ gung; Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung; Wirtschaft und Energie; Wirtschaft­ liche Zusammenarbeit und Entwicklung.

2. Verfassungsgeforderte Ausschüsse 422

Einige Ausschüsse sind bereits grundgesetzlich vorgesehen, so dass deren Ein­ richtung verfassungsrechtlich zwingend und der Disposition des Bundestags ent­ zogen ist. Die Ausschüsse genießen durch diesen Verfassungsrang eine Art Bestandsschutz, aus dem sich aber weder konkrete Aussagen über die Arbeit in den 493

BVerfGE 80, 188 (222 f., 225, 226) – Wüppesahl; 96, 264 (282) – Fraktions- und Grup­ penstatus. 494 BVerfGE 96, 264 (283) – Fraktions- und Gruppenstatus. Vgl. zum Zählverfahren der Be­ setzung der Bundestagsmitglieder im Vermittlungsausschuss auch BVerfGE 112, 118 (133 f.).

H. Organisation des Bundestags

187

Ausschüssen, geschweige denn über deren Ergebnisse schlussfolgern lassen. Ins­ besondere bleiben sie Hilfsorgane des Parlaments und erlangen nicht den Status eigenständiger Verfassungsorgane.495 a) Petitionsausschuss Nach Art. 45c Abs. 1 GG hat der Bundestag einen Petitionsausschuss zu be­ stellen, der für die nach Art. 17 GG an den Bundestag gerichteten Bitten und Be­ schwerden zuständig ist.496 Art. 45c Abs. 1 GG dient – mittelbar-politisch – dem Grundrechtsschutz durch Organisation.

423

Die konkreten Befugnisse des Ausschusses sind seit 1975 im Petitionsausschussgesetz (PetAG)497 verankert. Sie umfassen insbesondere Zugangsrechte zu Informationen der Bundesregierung und der Bundesbehörden, sei es durch Vor­ lage von Akten, durch Erteilung von Auskunft oder durch Zutritt zu Einrichtungen (§ 1 PetAG). Diese Informationsrechte werden durch die Reichweite des Peti­ tionsrechts und durch die parlamentarischen Kontrollbefugnisse begründet und begrenzt. Auch ist der Petitionsausschuss berechtigt, den Petenten, Zeugen und auch Sachverständige zu hören (§ 4 PetAG). Bei all seinen Handlungen kann der Petitionsausschuss auf die Amtshilfe der Gerichte und Verwaltungsbehörden zu­ rückgreifen (§ 7 PetAG).

424

Auch die Geschäftsordnung des Bundestags enthält Spezialregelungen zur Zuständigkeit und zum Verfahren im Petitionsausschuss (§§ 108 ff. GOBT). Der Petitionsausschuss legt dem Bundestag monatlich eine Sammelübersicht der bestehenden Petitionen (§ 112 Abs. 1 S. 1 u. S. 2 GOBT) und jährlich einen schriftlichen Bericht über seine Tätigkeit vor (§ 112 Abs. 1 S. 3 GOBT). Den Antragstel­ lern wird die Art der Erledigung ihrer Petitionen mitgeteilt; die Mitteilung soll mit Gründen versehen werden (§ 112 Abs. 3 S. 1 u. S. 2 GOBT)

425

b) Europaausschuss Der im Jahre 1992 in das Grundgesetz aufgenommene498 Art. 45 S. 1  GG verpflichtet den Bundestag, einen Ausschuss für Angelegenheiten der Europäi­ schen Union (kurz, wenn auch ungenau: Europaauschuss oder auch „Unions-Aus­ 495

Vgl. bspw. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 45a, Rn. 3. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 76, Rn. 7 f. 497 Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestags v. 19.7.1975, BGBl. I, S. 1921, zul. geänd. d. G. v. 5.5.2004 (BGBl. I, S. 718); vgl. auch Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, 1985, S. 35 f.; Burkiczak, NVwZ 2005, 1391 (1392 ff.). 498 Die urspr. Fassung v. Art. 45 GG (Einsetzung eines „ständigen Ausschuß[es], der die Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung zwischen zwei Wahlperioden zu wahren hat“) wurde durch G. v. 23.08.1976, BGBl. I 2381, aufgehoben. Die Regelung zum 496

426

188

§ 2 Bundestag

schuss“499) zu bestellen. Diese verfassungsstarke Verpflichtung zur Bestellung des Europaausschusses wird einfach-gesetzlich im Gesetz über die Zusammen­ arbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union aufgegriffen (§ 2 S. 1 EUZBBG). Anders als die Europakammer des Bundesrats (Art. 52 Abs. 3a GG; s. dazu § 3 Rn. 303), deren Bildung im Ermes­ sen des Bundesrats steht, ist der Europaausschuss des Bundestags also verpflichtend. 427

Der Europaausschuss soll die Informations- und Mitwirkungsrechte des Bun­ destags im Zusammenhang mit der Europäischen Union praktikabel machen und institutionell absichern.500 Der Europaausschuss des Bundestags wird – gemeinsam mit der Bundesregierung und der Europakammer des Bundesrats (Art. 52 Abs. 3a GG; s. dazu § 3 Rn. 298 ff.) – als Teil eines „europapolitische[n] Machtdreieck[s]“ betrachtet; hierin wird teilweise die Gefahr der europapolitischen (Selbst-)Ent­ machtung der Plenen von Bundestag und Bundesrat durch Delegation wichtiger Befugnisse an ihre Ausschüsse erblickt.501

428

Im Unterschied zu anderen Ausschüssen ist es für den Europaausschuss erlaubt, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments an den Ausschusssitzungen teilnehmen (§ 93b Abs. 8 S. 1 GOBT). Von dieser Möglichkeit wird Gebrauch gemacht: In der 19. Legislaturperiode besteht der Europaausschuss aus 39 Mit­ gliedern und 16 (nicht stimmberechtigten) vom Bundestagspräsidenten berufenen deutschen Mitgliedern des Europäischen Parlaments.502

429

Eine weitere Besonderheit des Europaausschusses besteht in der durch Art. 45 S. 2 GG eingeräumten Befugnis des Bundestags, den Ausschuss mit der Wahrnehmung der durch Art. 23 GG gewährten Rechte des Bundestags gegenüber der Bundesregierung zu beauftragen (Art. 45 Abs. 1 S. 2 GG). Zudem kann der Bundestag den Ausschuss mit der Wahrnehmung aller oder eines Teils503 der Befugnisse des Bundestags betrauen, die den europäischen Verträgen entspringen (Art. 45 S. 3 GG).

430

Zwar steht es im Ermessen des Bundestags, ob und wie weit er von dieser Mög­ lichkeit zur Ermächtigung des Europaausschusses Gebrauch macht oder ob er sich dabei gegebenenfalls ein „Rückholrecht“ vorbehält.504 Diese plenarersetzenden Beschlüsse stellen eine Ausnahme von dem in § 62 Abs. 1 S. 2 GOBT angespro­ chenen, darüber hinaus aber auch aus Verfassungsrecht abgeleiteten Grundsatz dar, Europaausschuss wurde eingefügt durch G. v. 21.12.1992, BGBl. I 2086, und zul. geänd. durch G. v. 8.10.2008, BGBl. I 1926 (Ergänzung von Art. 45 S. 3 GG). 499 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 45, Rn. 1, (Lfg. 56, Oktober 2009). 500 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 12 f. 501 Badura, in: FS Schambeck, 1994, S. 887 (901); hierzu auch Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 45, Rn. 3, (Lfg. 56, Oktober 2009). 502 Zu dieser Größe kritisch im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit Pernice, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 45, Rn. 11. 503 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 45, Rn. 5 f., (Lfg. 56, Oktober 2009). 504 BVerfGE 123, 276 (432).

H. Organisation des Bundestags

189

nach dem Ausschüsse nur Beschlüsse des Plenums vorbereiten, diese aber nicht selbst treffen dürfen.505 Dementsprechend enthält die GOBT in § 93b nunmehr Spezialregelungen für den Europaausschuss, wobei § 93b Abs. 2 S. 3 GOBT die Ermächtigung des Art. 45 S. 2 GG und § 93b Abs. 2 S. 5 GOBT die Ermächtigung des Art. 45 S. 3 GG aufgreift. Die Möglichkeit des Ausschusses, für den gesamten Bundestag, also das Plenum, Stellungnahmen abzugeben, ist in ihrer Bedeutung umso höher einzuschätzen, als die Bundesregierung diese Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG bei ihren Verhandlungen auf europäischer Ebene zu berücksichtigen hat.506

431

Neben seinen Befugnissen aus Art. 45 S. 2 u. 3 GG zur plenarersetzenden Wahr­ nehmung von Rechten des Bundestags zeichnet sich der Europaausschuss gegen­ über anderen Ausschüssen auch durch sein weitergehendes Initiativrecht aus; er ist nicht auf die Vorgaben des Plenums des Bundestags beschränkt.507

432

Das Verhältnis zwischen Bundestag bzw. seinem Europaausschuss, soweit er für den Bundestag zu handeln ermächtigt wurde, einerseits und Bundesregierung anderer­ seits regelt das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG).508 Das Gesetz gestaltet insbesondere Berichts- und Informationspflichten über Vor­ gänge in der Europäischen Union der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag aus (z. B. in den §§ 3–7, 9–10 EUZBBG). Es regelt es die Behandlung von Stellungnahmen des Bundestags durch die Bundesregierung in den Verhand­ lungen der Bundesregierung in der Europäischen Union (§ 8 EUZBBG). Daneben sieht das EUZBBG ein Verbindungsbüro des Deutschen Bundestages vor, das un­ mittelbar Kontakte zu Einrichtungen der Europäischen Union pflegen soll (§ 11 EUZBBG).

433

c) Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Ausschuss für Verteidigung aa) Gemeinsamkeiten der Ausschüsse für Auswärtiges und für Verteidigung. Die Gemeinsamkeiten beider Ausschüsse beginnen mit der Entstehungsgeschichte: Mit der Wehrnovelle von 1956 wurde mit dem damals neuen Art. 45a Abs. 1 (S. 1509) GG der schon zuvor bestehende Verteidigungsausschuss auch verfassungs­ 505

Pernice, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 45, Rn. 11, 17 ff. Vgl. dazu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 41 f. 507 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Bd, III, Art. 45, Rn. 7, (Lfg. 67, November 2012). 508 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 4. Juli 2013, BGBl. Teil 1, S. 2170. 509 Von 1956 bis 1976 hatte Art. 45a Abs. 1 GG noch einen S. 2: „Die beiden Ausschüsse werden auch zwischen zwei Wahlperioden tätig.“ Infolge der Änderung von Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG im Jahr 1976 („Seine [des Bundestags] Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages.“) wurde diese Regelung obsolet und daher aufgehoben. 506

434

190

§ 2 Bundestag

rechtlich institutionalisiert und zugleich mit den Rechten eines Untersuchungsaus­ schusses ausgestattet. Gleichzeitig wurde ein Ausschuss für auswärtige Angelegen­ heiten im Grundgesetz verankert. 435

Art. 45a Abs. 1 GG verpflichtet den Bundestag zur Einrichtung von Ausschüssen für auswärtige Angelegenheiten bzw. für Verteidigung. Wie im Fall des Europa­ ausschusses (s. o. Rn. 426) liegt in dieser verfassungsstarken Verpflichtung zur Bestellung der beiden Ausschüsse eine Begrenzung der Geschäftsordnungsauto­ nomie des Bundestags.

436

Das Grundgesetz unterstreicht die parlamentarische Kontrolle sowohl des aus­ wärtigen Bereichs als auch der Streitkräfte – Bereiche, die im Konstitutionalismus (s. o. Rn, 6 ff.) im Wesentlichen nur mittels des Budgetrechts durch das Parlament kontrolliert werden konnten und zu den Sachgebieten mit besonders großem exekutivem Gestaltungsspielraum zähl(t)en.

437

Entsprechend dem Sinn parlamentarischer Kontrollaufgaben (s. o.  Rn,  89 ff.) decken sich die sachlichen Anwendungsbereiche des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und des Verteidigungsausschusses weitgehend mit dem Tätig­ keitsfeld des Auswärtigen Amts auf der einen und dem des Bundesverteidigungs­ ministeriums auf der anderen Seite.

438

Wie anderen Ausschüssen auch, stehen dem Auswärtigen Ausschuss und dem Verteidigungsausschuss insbesondere Frage- und Informationsrechte zu Gebote. Den besonders sensiblen Geheimhaltungsinteressen im auswärtigen und militäri­ schen Bereich ist im Wege der Abwägung mit der parlamentarischen Kontrollauf­ gabe Rechnung zu tragen.

439

bb) Besonderheiten des Ausschusses für Verteidigung. Die Befugnisse eines Untersuchungsausschusses, die dem Ausschuss für Verteidigung durch Art. 45a Abs. 2 S. 1 GG zugewiesen werden, lassen den Verteidigungsausschuss nicht zu einem dauernden Untersuchungsausschuss erstarken. Soll er als Untersuchungs­ ausschuss tätig werden, bedarf es einer entsprechenden förmlichen Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss; hierüber fasst der Ver­ teidigungsausschuss Beschluss (vgl. auch § 34 Abs. 1 S. 1 PUAG). Art. 45a Abs. 2 S. 2 GG und § 34 Abs. 1 S.  2 PUAG sehen vor, dass ein Viertel der Mitglieder des Verteidigungsausschusses eine Minderheiten-Enquête bewirken kann. Mit Blick auf den minderheitenschützenden Grundgedanken ist diese Norm mit der ent­ sprechenden Regelung des allgemeinen Untersuchungsausschussrechts in Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG verwandt510 (s. u. Rn. 449).

440

Zudem schließt Art. 45a Abs. 2 S. 1, Abs. 3 GG aus, dass über militärische Sachverhalte in einem anderen Ausschuss Untersuchungen stattfinden. Die Norm begründet ein Untersuchungsmonopol des Verteidigungsausschusses für An­ 510 Anders als Art. 45a Abs. 2 S. 2 GG adressiert Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG freilich nicht die Ausschussminderheit, sondern die Minderheit des Plenums.

H. Organisation des Bundestags

191

gelegenheiten der Streitkräfte, sie geht dem Art. 44 (Abs. 1) GG als lex specialis vor (vgl. Art. 45a Abs. 3 GG). Der Grund für dieses Monopol ist in den besonderen Geheimhaltungsinteressen bei Angelegenheiten der Streitkräfte zu sehen, denen in der politischen Praxis regelmäßig durch eine Besetzung des Verteidigungsaus­ schusses mit (aus Sicht der Fraktionsführungen) besonders vertrauenswürdigen Abgeordneten Rechnung getragen wird. Dieses besondere Geheimhaltungsinteresse ist auch der Grund für die in Art. 45a Abs. 3 GG ausgeschlossene Anwendbarkeit des Art. 44 Abs. 1 GG: Die Beweiserhebung darf also – entgegen der allgemeinen Regel des Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG – nicht öffentlich erfolgen; außerdem gibt nicht etwa das Plenum des Bundestags dem Verteidigungsausschuss einen Untersuchungsauftrag – der Verteidigungsaus­ schuss konstituiert sich vielmehr aus eigenem Recht als Untersuchungsausschuss (s. o. Rn. 439).

441

cc) Besonderheiten des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Der Aus­ schuss für auswärtige Angelegenheiten kann sich nicht als Untersuchungsausschuss konstituieren. Es fehlt eine dem  – nur für den Verteidigungsausschuss geltenden – Art. 45a Abs. 2 GG (s. o. Rn. 439) entsprechende Grundlage für die Konstituierung des auswärtigen Ausschusses als Untersuchungsausschuss.511 Die Weimarer Reichsverfassung hatte eine solche Möglichkeit für den „ständigen Aus­ schuß für auswärtige Angelegenheiten“ noch vorgesehen.512 Unter dem Grundge­ setz werden außenpolitische Untersuchungsgegenstände außerhalb des besonderen Bereichs der „Verteidigung“ durch herkömmliche Untersuchungsausschüsse gem. Art. 44 GG (s. sogleich Rn. 443 ff.) untersucht.513

442

511 Zur Entstehungsgeschichte dieser Divergenz Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deut­ schen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments an der auswärtigen und internationa­ len Politik, 2008, S. 57 ff., mit der Mutmaßung, dass den Mitgliedern des damals schon ohne verfassungsrechtliche Anerkennung bestehenden Auswärtigen Ausschusses die „durch den Kanzler [Adenauer] gegenüber dem Ausschuss zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung ge­ nügte“ und man im Auswärtigen Ausschuss selbst auch deshalb die ausdrückliche Verbürgung besonderer verfassungsrechtlicher Positionen nicht für notwendig erachtete. 512 S. Art. 35 Abs. 3 WRV; hierzu Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundes­ tages und die Mitwirkung des Parlaments an der auswärtigen und internationalen Politik, 2008, S. 35, 55 f. 513 Hierzu Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments an der auswärtigen und internationalen Politik, 2008, S. 62 f., mit Nennung von Beispielen.

192

§ 2 Bundestag

3. Untersuchungsausschüsse a) Allgemeine Bedeutung und verfassungsrechtliche Vorgaben 443

Nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG kann der Bundestag Untersuchungsausschüsse als nicht ständige Ausschüsse (s. o. Rn. 416) einsetzen. Er ist dazu verpflichtet, wenn ein Viertel seiner Mitglieder dies beantragt. Mit einem solchen Untersuchungsaus­ schuss kann der Bundestag in spezifischer Weise sein parlamentarisches Untersuchungsrecht (allgemein oben Rn. 89 ff.) ausüben.

444

Das parlamentarische Untersuchungsrecht wird z. T. auch als „Enquêterecht“ bezeichnet.514 Um eine Verwechslung mit den Enquête-Kom­m is­sio­nen (s. u. Rn. 518 ff.) zu vermeiden (zu diesem Problem bereits oben Rn. 93), soll im Folgenden mit Blick auf Art. 44 GG die Termi­ nologie des „Untersuchungsrechts“ (im engeren Sinne) und des „Untersuchungsausschusses“ verwendet werden.

445

Maßgebliche historische Wurzeln der Untersuchungsausschüsse liegen in England, wo sie bereits im Mittelalter erwähnt wurden und gegen Ende des 17. Jahrhunderts feste Konturen er­ hielten.515 In Deutschland bekannte sich auf nationalstaatlicher Ebene erstmals die Frankfurter Nationalversammlung zum Untersuchungsrecht.516 In der Folge fanden sich vergleichbare Re­ gelungen auch in den Verfassungen der einzelnen Länder.517 In der Praxis konnten auf natio­ nalstaatlicher Ebene erstmals mit Art. 34 WRV Untersuchungsausschüsse eingerichtet werden.

446

Sein umfassendes Untersuchungsrecht kann der Bundestag auf vielfältige Weise ausüben. Letztlich dienen auch Interpellations- und Fragerechte dem – im wei­ ten Sinne verstandenen  – Untersuchungsrecht des Bundestags (allgemein oben Rn. 89 ff.). Insoweit ist die Befugnis zur Einsetzung von Untersuchungsausschüs­ sen nur ein Untersuchungsinstrument unter mehreren, wenn auch ein besonders herausgehobenes mit besonders scharfen Konsequenzen.

447

Mit der Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, steht dem Bundes­ tag ein Instrument mit besonderen verfassungsrechtlichen Befugnissen zur Ver­ fügung, insbesondere mit dem Recht zur Beweiserhebung (vgl. Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG). Auf diese Rechte kann der Bundestag nur durch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zurückgreifen; das Untersuchungsrecht in diesem en­ gen Sinne steht ihm als Plenum nicht zu.518

448

Das Bundesverfassungsgericht beurteilt die Aufgabe von Untersuchungsausschüssen in der durch den Grundsatz der Gewaltenteilung geprägten parlamentarischen Demokratie daher wie folgt:

514

Vgl. bspw. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 47. Vgl. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 44, Rn. 1. 516 Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 44, Rn. 10, (Lfg. 76, Dezember 2015). 517 Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 44, Rn. 10 f., (Lfg. 76, Dezember 2015). 518 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 47; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13, Rn. 145. 515

H. Organisation des Bundestags

193

„Untersuchungsverfahren haben in der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Auf­ gabe zu erfüllen. Durch sie erhalten die Parlamente die Möglichkeit, unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur Gerichten und besonderen Behörden zur Verfügung stehen, selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklärungs­ bedürftig halten. Aufgabe der Untersuchungsausschüsse ist es, das Parlament bei seiner Arbeit zu unterstützen und seine Entscheidungen vorzubereiten. Das Schwergewicht der Untersuchungen liegt naturgemäß in der parlamentarischen Kontrolle von Re­gierung und Verwaltung, insbesondere in der Aufklärung von in den Verantwortungsbereich der Regierung fallenden Vorgängen, die auf Mißstände hinweisen. Gerade solcher Kontrolle kommt im Rahmen der Gewaltenteilung besonderes Gewicht zu. Sie ist nur gewährleistet, wenn zwischen Parlament und Regierung ein politisches Spannungsverhältnis besteht. Ein Untersuchungsverfahren, das nicht von dieser Spannung ausgelöst und in Gang gehalten wird, kann seinem Zweck nicht gerecht werden. In der Sicherstellung dieser Kontrolle liegt die verfassungsrechtliche Bedeutung des Minderheitsrechts.“519

Der – vor allem für die Opposition wichtige (s. o. Rn. 404 ff.520) – Minderheiten­ schutz kann sich nicht darin erschöpfen, dass auf Antrag eines Viertels der Mit­ glieder des Bundestags ein Untersuchungsausschuss einzusetzen ist (Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG). Vielmehr muss sich dieser Schutz auch während des Verfahrens im Untersuchungsausschuss fortsetzen.

449

Dem Minderheitenschutz kommt auch und gerade beim Verfahren in mehrheitlich ein­ gesetzten Untersuchungsausschüssen eine wichtige Bedeutung zu.521 Das zeigte sich etwa beim sog. Visa-Untersuchungsausschuss (2. Untersuchungsausschuss der 15. Wahlperiode; 2005).522 Nachdem die Bundestagswahl durch eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage (s. § 7 Rn. 150) vorgezogen werden sollte, beendeten die Regierungsparteien (SPD und Bünd­ nis  90/Die  Grünen) die Beweisaufnahme, in der u. a. die Anhörung von Bundesministern geplant war. Hinsichtlich der Vertrauensfrage und der Bundestagsauflösung handelte es sich jedoch zu dem Zeitpunkt um eine bloße Absicht des damaligen Bundeskanzlers Schröder523,

450

519 BVerfGE 49, 70 (85) – Untersuchungsgegenstand; bezugnehmend auch 67, 100 (125) – Flick-Untersuchungsausschuss; 77, 1 (43). 520 Vertiefend Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 45 f. 521 Vgl. BVerfGE 105, 197 (224)  – Minderheitsrechte im Untersuchungsausschuss: „Das Recht der qualifizierten Minderheit auf angemessene Berücksichtigung ihrer Beweisanträge besteht auch im Rahmen einer Mehrheitsenquete. Um in den Genuss der Verfahrensrechte aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG zu gelangen, muss die einsetzungsberechtigte Minderheit sich nicht mit einem eigenen Untersuchungsantrag konstituieren.“ 522 Nach ursprünglicher Initiative der CDU / CSU-(Oppositions-)Fraktion (vgl. BT-Drs. 15/4285) war dieser Untersuchungsausschuss – nach einem Umweg über den Geschäftsordnungsaus­ schuss und einer Abänderung (Ergänzung, Ausweitung) des Untersuchungsgegenstands (vgl. BT-Drs. 15/4552) – auch von den Regierungsfraktionen einberufen worden (vgl. den Steno­ grafischen Bericht, 149. Sitzung, Berlin, Freitag, den 17. Dezember 2004, S. 13945 [14002]). 523 Seit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 wurde nach einer Ab­ sichtserklärung des Bundeskanzlers im politischen Raum die Möglichkeit erörtert, vor Ab­ lauf der Legislaturperiode des 15. Deutschen Bundestages Neuwahlen herbeizuführen; vgl. zum Sachverhalt BVerfGE 113, 113 (115) – Visa-Untersuchungsausschuss. Der Bundeskanzler stellte die Vertrauensfrage jedoch erst am 27. Juni 2015; die Ausschussmehrheit beschloss al­

194

§ 2 Bundestag

so dass das Bundesverfassungsgericht durch einstweilige Anordnung die Fortsetzung der Be­ weisaufnahme anordnete.524

451

Trotz dieser besonderen rechtlichen Befugnisse und der besonderen rechtlichen wie politischen Bedeutung von Untersuchungsausschüssen sind die entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorgaben recht allgemein gehalten.

452

Relativ konkret gefasst – im Einzelnen in seinen Rechtswirkungen aber kom­ plex – ist noch Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG, der die Beschlüsse von Untersuchungsaus­ schüssen der richterlichen Erörterung entzieht. Mit dieser Exemtion richterlicher Kon­trolle wird die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG durchbrochen.525 In der Norm kommt der Rechtsgedanke der strikten oder zumindest sehr weitrei­ chenden Parlamentsautonomie zum Ausdruck, der die (verfassungs-)gerichtliche Kontrolle zwar nicht völlig ausschließen, aber doch begrenzen will. Das Bundes­ verfassungsgericht hat festgestellt, dass „die Feststellung, Würdigung und Be­ urteilung der Tatsachen durch das Parlament […] nicht verfassungsgerichtlicher Kontrolle [unterliegt].“526

453

Art. 44 Abs. 4 S. 2 GG billigt den Gerichten allerdings die Freiheit zu, den der Untersuchung zugrundeliegenden Sachverhalt selbstständig zu würdigen und zu beurteilen, soweit es um bei ihnen anderweitig anhängige gerichtliche Verfahren und nicht um die gerichtliche Kontrolle des Abschlussberichts des Untersuchungs­ ausschusses als solchen geht.

454

Trotz der Rechtsschutzexemtion ist die Verfassungs- und insbesondere die Grundrechtsbindung von Untersuchungsausschüssen unbestreitbar. So hat der Untersuchungs­ausschuss insbesondere die Menschenwürde und die Persönlich­ keitsrechte Betroffener zu wahren.

455

Für die Beweiserhebung verweist Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG lediglich pauschal auf die Vorschriften über den Strafprozess, die „sinngemäß“ Anwendung finden. Die exakte Bestimmung dieser „sinngemäßen Anwendung der Normen des Straf­ prozesses“ ist immer wieder Gegenstand von gerichtlichen Streitigkeiten gewesen (näher unten Rn. 485 ff.).527 Die Verweisung bezweckt den Schutz der Betroffenen lerdings schon Anfang Juni 2005 die Aussetzung der Zeugenvernehmung, vgl BVerfGE 113, 113 (116). 524 BVerfGE 113, 113 (125)  – Visa-Untersuchungsausschuss; s. dazu auch M.  Fuchs  / ​ A. Fuchs / K. Fuchs, DÖV 2009, 232 (234 f.). 525 Hierzu allgemein Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 74, Rn. 35. 526 BVerfGE 99, 19 (35) – Gysi III (es ging nicht um einen Untersuchungsausschuss nach Art. 44 GG, sondern um das Ergebnis einer in parlamentarischer Eigenverantwortung durch­ geführten Personalenquête nach § 44b AbgG a. F. zur Überprüfung auf Tätigkeit oder politi­ sche Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit / A mt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik). 527 BVerfGE 67, 100 – Flick-Untersuchungsausschuss; E 77, 1 (48 f.) – Neue Heimat; 124, 78 (115) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse; E 143, 101 – NSA-Untersuchungsaus­ schuss.

H. Organisation des Bundestags

195

einerseits, aber auch den Zugriff auf die Zwangsmittel der Strafprozessordnung andererseits;528 das Bundesverfassungsgericht spricht von „befugnisbegründenden“ und „befugnisbegrenzenden Regelungen“.529 Zu beachten ist dabei aller­ dings, dass der Untersuchungsausschuss nicht der Durch­setzung des staatlichen Straf­anspruchs dient, sondern allein der Wahrheitsfindung und Kontrolle in einem parlamentarisch-politischen Prozess. Auch der Umfang der Rechts- und Amtshilfe, zu der Gerichte und Verwaltungs­ behörden den Untersuchungsausschüssen nach Art. 44 Abs. 3 GG verpflichtet sind, ist im Einzelnen konkretisierungsbedürftig.

456

b) Konkretisierung durch das PUAG Trotz des erheblichen Konkretisierungsbedarfs der sehr allgemein gehaltenen verfassungsrechtlichen Vorgaben in Art. 44 GG ist es zu einer geschriebenen Fi­ xierung der Rechte und Befugnisse von Untersuchungsausschüssen sowie deren Grenzen lange Zeit nicht gekommen.530 Erst mit dem im Jahre 2001 geschaffenen Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse (Untersuchungsausschussgesetz – PUAG)531 hat der Bundesgesetzgeber relativ detaillierte Regeln für parlamentarische Untersuchungsverfahren aufgestellt. Sie lösten die bis dahin angewandten unverbindlichen IPA-Regeln532 ab.

457

Mit der Einführung des PUAG ergeben sich allerdings diverse verfassungsrechtliche Bedenken. Zunächst ist die Frage aufzuwerfen, ob das Gesetz als Aus­ führungsgesetz zu Art. 44 GG überhaupt zulässig ist, ohne dass ein diesbezüglicher Gesetzgebungsauftrag dem Grundgesetz zu entnehmen wäre. Die diesbezüglichen Zweifel werden noch dadurch verstärkt, dass das Bundesverfassungsgericht533 vor In-Kraft-Treten des PUAG Art. 44 GG selbst als unmittelbar geltende und hinrei­ chend bestimmte Ermächtigungsgrundlage für die Beweiserhebung durch Unter­ suchungsausschüsse des Bundestags angesehen hat. Eine gesetzgeberische Umset­ zung des Art. 44 GG durch ein Ausführungsgesetz hielt es nicht für notwendig. Auf der anderen Seite sprechen mit dem Grundsatz der Regelungsfreiheit des Gesetzge­ bers (innerhalb von Kompetenz- und sonstigen Verfassungsgrenzen) gute Gründe für die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in diesem Punkt. Dabei darf dieses freilich nicht die Substanz des Art. 44 GG in Frage stellen.

458

528

Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 44, Rn. 47. BVerfGE 143, 101 (133 f.) – NSA-Untersuchungsausschuss. 530 Auch die gemeinsame Verfassungskommission konnte sich nicht auf Eckwerte eines Untersuchungsausschussgesetzes einigen, vgl. Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfas­ sungsreform, 2. (unveränd.) Aufl. 1996, S. 92 f. 531 Vom 19.6.2001 (BGBl. I, S. 1142), zul. geänd. d. G. v. 5.5.2004 (BGBl. I, S. 718); vgl. dazu Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 ff. 532 Interparlamentarische Arbeitsgruppe, vgl. BT-Drs. 5/4209. 533 BVerfGE 77, 1 (50 ff.) – Neue Heimat. 529

196

§ 2 Bundestag

459

Sollte aus der Geschäftsordnungsautonomie (s. o. Rn. 332 ff.) nicht nur das Recht, son­ dern auch die Pflicht folgen, sich zur Regelung der innerparlamentarischen Angelegenheiten der Geschäftsordnung statt eines Gesetzes zu bedienen (vgl. auch § 1 Rn. 105), wie es bspw. Mahrenholz und Böckenförde534 postulieren, verstieße eine gesetzliche Regelung über das Verfahren in Untersuchungsausschüssen auch gegen diesen verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatz (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG). Denn zum einen sind bei dem Erlass eines Gesetzes andere Verfassungsorgane, nämlich Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung, beteiligt und können deshalb Einfluss auf dessen Inhalt nehmen.535 Zum anderen bindet ein Gesetz (frei­ lich vorbehaltlich der Möglichkeit einer Gesetzesänderung) jedes weitere Parlament, während die Geschäftsordnung dem Grundsatz der Diskontinuität unterfällt. Allerdings hat die Bun­ desregierung – sieht man einmal von ihren eigenen Gesetzesinitiativen ab – de facto keinen dominanten Einfluss auf die Willensbildung des Bundestags bei der Gesetzgebung. Sofern es sich – wie beim PUAG – nicht um ein Zustimmungsgesetz handelt, ist auch der Einfluss des Bundesrats eher gering. Schließlich ist auch die Beteiligung des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung und Verkündung in der Praxis regelmäßig ein lediglich formaler Akt. Dem­ entsprechend geht auch das Bundesverfassungsgericht von einer Wahlfreiheit des Bundestags zwischen Geschäftsordnung und Gesetz aus, sofern es sich – erstens – nicht um ein Zustimmungsgesetz handelt, – zweitens – der Kernbereich der Geschäftsordnungsautonomie nicht betroffen ist und – drittens – wichtige Gründe dafür sprechen, die Form des Gesetzes zu wählen.536 Diese drei Voraussetzungen sind beim PUAG erfüllt. Der sachliche Grund für die Form des Gesetzes ist in der Verbindung der parlamentarischen Verfahrensregeln mit Regeln über die Beweiserhebung auszumachen. Somit steht die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags der Zulässigkeit des PUAG nicht entgegen.

460

Ob die Regelungsform des Untersuchungsausschussrechts auch für den Rechtsschutz am Untersuchungsausschuss beteiligter kleinerer Fraktionen im Organstreitverfahren gegen Mehrheitsentscheidungen des Ausschusses von Bedeutung ist, wird unterschiedlich gese­ hen.537 Nach der Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts kann das PUAG „als im Kern verfassungsinterpretatorisches und damit deklaratorisches Gesetz […] keine über Art. 44 GG hinausgehenden verfassungsprozessual durchsetzbaren Minder­ heitenrechte schaffen“.538 Nach Auffassung des Senats kommt es also nicht darauf an, ob die Regelungen zum Untersuchungsausschussrecht in Geschäftsordnungs- oder Gesetzesform erlassen werden; entscheidend ist für das Gericht, dass Art. 44 Abs. 1 GG die Minderheiten­ rechte auch prozessual abschließend bestimme. Daher ist nach der Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts nur eine „Fraktion im Untersuchungsausschuss“ antragsberechtigt und antragsbefugt, die mehr als ein Viertel seiner Mitglieder stellt bzw. „repräsentiert“.539 Kleinere 534

In ihrem Sondervotum zu BVerfGE 70, 376 ff. und 386 ff. – Haushaltskontrolle der Nach­ richtendienste. 535 Ebenso Magiera, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 40, Rn. 24. 536 BVerfGE 70, 324 (360 ff.) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 537 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 15, Rn. 247 a. E. 538 BVerfGE 143, 101 (130) – NSA-Untersuchungsausschuss. 539 Vgl. BVerfGE 105, 197 (220 f.) – Minderheitsrechte im Untersuchungsausschuss: „Die in den Untersuchungsausschuss entsandten Abgeordneten einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestags umfasst, repräsentieren den einsetzungs­ berechtigten Teil des Bundestags im Ausschuss. Dies gilt jedenfalls, solange kein Dissens zwischen der Fraktion und ihren Vertretern im Ausschuss erkennbar wird.“ Vgl. BVerfGE 143, 101 (129) – NSA-Untersuchungsausschuss.

H. Organisation des Bundestags

197

Fraktionen sind nur insoweit organstreitbefugt, als ihre Gesamtfraktion – nicht also bloß die Fraktion im Ausschuss – prozessstandschaftlich Rechte des Bundestags als Ganzem geltend macht.540 Wieweit die prozessstandschaftlichen Rechte reichen, ist jedoch höchst zweifelhaft. Nach der Gegenauffassung können sich die Antragsberechtigung und Antragsbefugnis im Organstreitverfahren auch aus Normen des PUAG als Konkretisierung von Verfassungsrecht ergeben: Eine Antragsberechtigung für das Organstreitverfahren setzt bekanntlich (s. dazu § 8 Rn. 369 f.) voraus, dass das jeweilige Organ, der Organteil oder der sonstige Beteiligte des Verfassungslebens im Grundgesetz selbst oder in der Geschäftsordnung des Bundestags mit eigenen Rechten ausgestattet ist (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG). Das Grundgesetz selbst verleiht solche Rechte jedoch nur der einsetzungsberechtigten Minderheit von einem Viertel der Abgeordneten (Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG). Ergänzende Geschäftsordnungsregeln fehlen. Allerdings stattet das PUAG die Fraktionen (im Ausschuss) oder die einzelnen Aus­ schussabgeordneten verschiedentlich mit gewissen Rechten aus (vgl. u. a. § 4 S. 3, § 6 Abs. 1 S. 1, § 14 Abs. 3 Nr. 1 PUAG). Diese Regelungen sind geschäftsordnungsäquivalent (‚materielles Geschäftsordnungsrecht‘). Daher lässt sich argumentieren, dass diese Normen die Antragsberechtigung von Fraktionen und Abgeordneten im Untersuchungsausschuss stützen können. Schwieriger ist die Begründung der Antragsbefugnis, da insoweit die mögliche Ver­ letzung von Geschäftsordnungsrecht als solche nicht ausreicht, sondern auch ein Verfassungsverstoß möglich erscheinen muss (vgl. § 64 Abs. 1 BVerfGG; s. § 8 Rn. 384 ff.). Hier lässt sich – entgegen der ausdrücklich anderslautenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (s. o. Rn. 460) – argumentieren, dass die einfach-gesetzlichen, materiell-geschäftsordnungs­ äquivalenten Rechte von Fraktionen und Abgeordneten im Untersuchungsausschuss aus dem PUAG verfassungskonkretisierend wirken und die Antragsbefugnis der genannten Akteure – auch unterhalb der Schwelle des Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG – stützen können.

461

c) Einsetzung eines Untersuchungsausschusses Was die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen betrifft, so nehmen Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG (und § 1 Abs. 1 PUAG) eine Unterscheidung zwischen zwei Fällen vor, die sich über die Konstituierung hinaus auch auf das Verfahren in den Unter­ suchungsausschüssen auswirkt. Im ersten Fall geht die Initiative zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses von einer Mehrheit des Bundestags aus. Im zweiten Fall beantragt (mindestens) ein Viertel der Mitglieder des Bundestags die Einset­ zung des Untersuchungsausschuss, wobei es sich regelmäßig um die Oppositions­ fraktionen (s. o. Rn. 404 ff.) handeln wird. Zur Unterscheidung beider Fälle spricht man z. T. von Mehrheits- bzw. Minderheits-Untersuchungsausschüssen. Auch im Fall eines Minderheits-Untersuchungsausschusses muss der Bundestag den Untersuchungsausschuss auf Antrag der qualifizierten Minderheit mit Mehrheit im Sinn des in Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG beschließen (s. u. Rn. 465).

462

In beiden Fällen wirkt der Einsetzungsbeschluss des Bundestags legitimations­ vermittelnd: Da der Untersuchungsausschuss seine Befugnisse für den Bundestag, also für das Plenum ausübt, ist er insoweit wie jeder andere Ausschuss des Bun­

463

540

Vgl. BVerfGE 143, 101 (128) – NSA-Untersuchungsausschuss.

198

§ 2 Bundestag

destags auch nur ein Hilfsorgan des Bundestags,541 so dass er seine Legitimation durch den Einsetzungsbeschluss des Bundestags erhält und keiner zusätzlichen, selbständigen demokratischen Legitimation mehr bedarf.542 464

Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Regelung des § 5 PUAG (noch) zu­ lässig, nach der die Mitglieder des Ausschusses nicht aus der Mitte des Bundes­ tags gewählt, sondern von den Fraktionen bestimmt werden. Nach – nicht zwin­ gender  – Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist diese Benennung der einzelnen Abgeordneten keine Frage der demokratischen Legitimation, sondern lediglich eine solche der personellen Zuständigkeit innerhalb des Organbereichs des Bundestags.543 Zwar steht Gruppen  – anders als Fraktionen (vgl. § 4 S. 3 PUAG)  – kein Grundmandat im Untersuchungsausschuss zu. Ist jedoch über die Größe des Untersuchungsausschusses entschieden, werden rechnerisch auch Gruppen in das Verteilungsverfahren einbezogen, sodass ihnen u. U. ein Sitz zu­ gesprochen werden kann (vgl. § 4 S. 4 PUAG).544 Auch Gruppen steht dann ein Benennungsrecht zu.545

465

Es ist nochmals zu betonen, dass auch die Einsetzung eines Minderheits-Unter­ suchungs­ausschusses eines ausdrücklichen Mehrheitsbeschlusses des Bundes­ tags bedarf. Hier muss zwischen Einsetzungsantrag der qualifizierten Minderheit und Einsetzungsbeschluss der Mehrheit unterschieden werden: Ein Beschluss über die Ernennung hat zu erfolgen, wenn die Einrichtung eines Untersuchungs­ ausschusses mit dem entsprechenden Quorum beantragt wird (§ 2 Abs. 1 PUAG). Wird ein Minderheits-Untersuchungs­aus­schus­ses von mindestens einem Vier­ tel der Mitglieder beantragt, besteht eine Einsetzungspflicht ausschließlich für verfassungsgemäße Untersuchungsverfahren (s. auch unten Rn. 474 ff.; vgl. auch § 2 Abs. 3 S. 1 PUAG zum Fall des teilweise für verfassungswidrig gehaltenen Einsetzungsantrags).

466

Auch vor dieser gesetzlichen Ausgestaltung im PUAG sprach einiges dafür, einen konsti­ tutiven Einsetzungsbeschluss der Mehrheit des Bundestags zu fordern. Dafür sprechen fol­ gende Funktionen des Einsetzungsbeschlusses: Nur durch einen solchen konstitutiven Ein­ setzungsbeschluss wird sichergestellt, dass die notwendigen formellen Voraussetzungen (etwa die notwendige qualifizierte Mehrheit) und die materiellen Vorgaben (die Zulässigkeit des Untersuchungs­gegenstands) aus Sicht des Bundestags als Ganzem tatsächlich gegeben sind. Außerdem wird die demokratische Legitimation des Untersuchungsausschusses – sieht man einmal von der persönlichen Legitimation der Ausschussmitglieder ab – erst durch den Ein­ setzungsbeschluss des Bundestags vermittelt (s. o. Rn. 463). Schließlich kann man den Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG so verstehen, dass der Untersuchungsausschuss nicht bereits mit dem Antrag der Minderheit eingesetzt ist, sondern auf diesen noch vom Bundestag einzusetzen ist.

541

Vgl. BVerfGE 143, 101 (128) – NSA-Untersuchungsausschuss. BVerfGE 77, 1 (40 f.) – Neue Heimat. 543 Vgl. BVerfGE 77, 1 (39 ff.) – Neue Heimat. 544 Georgii, in: Waldhoff / Gärditz, PUAG Kommentar, § 4, Rn. 14. 545 Georgii, in: Waldhoff / Gärditz, PUAG Kommentar, § 5, Rn. 12. 542

H. Organisation des Bundestags

199

Andererseits bestand (und besteht auch unter den Regelungen des PUAG) die Gefahr, dass die Mehrheit des Bundestags die ihr nach Sinn und Zweck des Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG nicht zustehende Möglichkeit erhält, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu ver­ schleppen oder gar zu verhindern. Insofern ist die Praxis im Bundestag, nach der der Bun­ destagspräsident den Einsetzungsbeschluss feststellt, wenn sich kein Widerstand gegen den gestellten Antrag erhebt, durchaus als zulässiger Kompromiss zu beurteilen. Dabei hat der Parlamentspräsident aber zumindest über die formellen Voraussetzungen, also insbesondere über das Erreichen des erforderlichen Quorums von mindestens einem Viertel der Abgeord­ neten (§ 2 Abs. 1 PUAG), zu befinden. Sofern ein von der erforderlichen Anzahl von Abge­ ordneten beantragter Untersuchungsausschuss gleichwohl nicht eingesetzt wird, bliebe nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht, um die Einhaltung der verfassungsrechtlichen An­ forderungen überprüfen zu lassen.

467

Im Fall eines Minderheits-Untersuchungsausschusses ist die Mehrheit grund­ sätzlich an den in dem Einsetzungsantrag bezeichneten Untersuchungsgegenstand gebunden (sog. Themenhoheit546 der qualifizierten Minderheit). Dieser verfas­ sungsstarke547, in Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG implizierte Grundsatz wird einfachgesetzlich in § 2 Abs. 2 PUAG  – in Ansicht der zwischenzeitlich aufgetretenen politischen Praxis – expliziert: „Der Einsetzungsbeschluss darf den in dem Ein­ setzungsantrag bezeichneten Untersuchungsgegenstand nicht ändern, es sei denn, die Antragstellenden stimmen der Änderung zu.“ Mit Blick auf die minderheiten­ schützende Themenhoheit ist nicht nur die Beschneidung, sondern grundsätzlich auch eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstands gegenüber dem Minder­ heitsantrag im Mehrheitsbeschluss unzulässig, da diese zu Verzögerungen der von der Minderheit beantragten Untersuchung führen kann (untersuchungsausschuss­ rechtliches ‚Bepackungsverbot‘548).549 Die Mehrheit kann freilich einen weiteren, selbstständigen Untersuchungsausschuss einrichten.

468

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts führte – zum analogen parlamentarischen Untersuchungsrecht unter der Schleswig-Holsteinischen Verfassung  – aus: „Der Untersuchungsgegenstand darf grundsätzlich auch nicht gegen den Willen der Minderheit ver­ ändert oder erweitert werden. […] Unberührt bleibt selbstverständlich das Recht der Mehrheit, ihrer­seits Sachverhalte, die sie im Hinblick auf das von einer Minderheit betriebene Unter­su­ chungs­verfahren politisch für aufklärungsbedürftig hält, zum Gegenstand einer selbständigen Untersuchung zu machen. […] Von Verfassungs wegen sind jedoch Zusatzfragen gegen den Willen der Antragsteller zulässig – und zwar selbst dann, wenn dies zu einer Verzögerung der Ausschußarbeit führt – wenn sie nötig sind, um ein umfassenderes – und wirklichkeitsgetreueres – Bild des angeblichen Mißstandes zu vermitteln.“550

469

546

Brocker, in: BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 44, Rn. 26. Vgl. (für die Verfassung von Schleswig-Holstein): BVerfGE 49, 70 (86 f.) – Untersuchungs­ gegenstand. 548 Das untersuchungsausschussrechtliche ‚Bepackungsverbot‘ darf nicht mit dem haus­ haltsrechtlichen Bepackungsverbot (vgl. Art. 110 Abs. 4 S. 1 GG) verwechselt werden; dazu Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 10, Rn. 77 ff. 549 Vgl. (für die Verfassung von Schleswig-Holstein): BVerfGE 49, 70 (86 f.) – Untersuchungs­ gegenstand; vgl. Pofalla, DÖV 2004, 335 (338 f.). 550 BVerfGE 49, 70 (86 f.) – Untersuchungsgegenstand; Hervorh. d. Verf. 547

200

§ 2 Bundestag

470

Damit gerät mögliches taktisches Verhalten der Regierungsfraktionen ins Bild, z. B. wenn die Opposition ein bestimmtes Fehlverhalten der Regierung untersuchen lassen will und die Regierungsfraktionen deshalb darauf drängen, ein ähnliches Fehlverhalten zu untersuchen, das eine frühere Regierung unter Führung der damaligen Oppositionsparteien vorgenommen haben soll. In der parlamentarischen Praxis des Bundestags gab es durchaus Beispiele für ein mit Blick auf die minderheitenschützende Themenhoheit problematisches Vorgehen: So ergänzte die (rot-grüne) Parlamentsmehrheit über die Annahme einer Beschlussempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses den Untersuchungsgegenstand des ursprünglich von der CDU / CSU-(Oppositions-)Fraktion beantragten Visa-Untersuchungsausschusses (s. o. Rn. 450): Statt der Visa-Vergabepraxis seit 1998 wurde der Zeitraum vor 1998 mit in den Untersuchungs­ gegenstand einbezogen.551 Diese Erweiterung mag freilich auch noch unter die eben zitierte vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Ausnahme vom ‚Bepackungsverbot‘ zur Herstel­ lung eines „umfassendere[n] – und wirklichkeitsgetreuere[n] – Bild[s] des angeblichen Miß­ standes“ fallen. Es spricht einiges dafür, dem Geschäftsordnungsausschuss und dem Plenum des Bundestags insoweit einen gewissen Einschätzungsspielraum zuzubilligen.

471

Was die Besetzung des Untersuchungsausschusses durch ordentliche Mitglieder und gleichviele stellvertretende Mitglieder betrifft, so steht dem Bundestag bei der Abwägung zwischen den Bedürfnissen eines Untersuchungsausschusses und einer möglichst repräsentativen Zusammensetzung des Ausschusses ein Gestaltungsspielraum zu. Dabei ist zugunsten der Funktionsfähigkeit des Untersuchungs­ ausschusses durchaus einzustellen, dass der Untersuchungsausschuss seinen Auf­ trag wegen des Grundsatzes der Diskontinuität bis zum Ende der Legislaturperiode erfüllt haben muss.552 Von diesen Vorgaben geht auch § 4 S. 2 PUAG aus, nach dem bei der Gesamtgröße die Aufgabenstellung und die Arbeitsfähigkeit des Unter­ suchungsausschusses zu berücksichtigen sind. Jede Fraktion muss vertreten sein (§ 4 S. 3 PUAG). Auch Gruppen können entsprechend den allgemeinen Bestim­ mungen des Bundestags vertreten sein (s. bereits oben Rn. 464).

472

Der Vorsitz in Untersuchungsausschüssen bestimmt sich gem. § 6 Abs. 1 S. 1 PUAG  – in Anlehnung an die allgemeine Regel des § 12 GOBT (s. o. Rn. 388, 391) – nach dem Kräfteverhältnis der Fraktionen im Parlament. Gem. § 6 Abs. 1 S. 2 PUAG bestimmt jeder einzelne Untersuchungsausschuss das Mitglied, das den Vorsitz führt, aus seiner Mitte nach den Vereinbarungen im Ältestenrat (s. o. Rn. 359 ff.). Der stellvertretende Vorsitzende muss einer anderen Fraktion ange­ hören als der Vorsitzende (§ 7 Abs. 1 Hs. 2 PUAG).

551

Vgl. BT-Drs. 15/4552; vgl. auch den Stenografischen Bericht, 149. Sitzung, Berlin, Freitag, den 17. Dezember 2004, S. 13945 (14002); ein anderes Beispiel (sog. „Lügenuntersuchungs­ ausschuss“) schildert Pofalla, DÖV 2004, 335 (335 f., 340). 552 S. BVerfGE 96, 264 (281) – Fraktions- und Gruppenstatus.

H. Organisation des Bundestags

201

d) Untersuchungsgegenstand, Untersuchungszweck Alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse können grundsätzlich zum Gegenstand eines Untersuchungsausschusses gemacht werden.553 Dieser oftmals als konturlos kritisierte Begriff554 dient als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzip zum einen dem Schutz berechtigter Interessen Dritter und soll zum anderen die Ge­ meinwohlorientierung der Untersuchung hervorheben.555

473

Ein Untersuchungsausschuss darf nach § 1 Abs. 3 PUAG nur „im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Bundestags“ eingesetzt werden (s. be­ reits oben Rn. 94). Inhaltlich muss also die Verbandszuständigkeit des Bundes, aber auch die Organzuständigkeit des Bundestags, dessen Teil der Untersuchungsaus­ schuss schließlich ist, vorhanden sein. Dies folgt bei insofern offenem Wortlaut des Art. 44 GG aus dessen systematischer Stellung556 und ist jetzt in § 1 Abs. 3 PUAG festgeschrieben.557

474

Aus dieser Beschränkung auf den Aufgabenbereich des Bundestags ergeben sich zunächst Grenzen im Hinblick auf die föderale, sog. vertikale Gewalten­teilung (Bund / Länder): Sachverhalte, die in die Zuständigkeit eines Landes fallen, kön­ nen nicht zum Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des Bundestags ge­ macht werden.558

475

Was daneben Grenzen aus der funktionalen, sog. horizontalen Gewaltenteilung (zwischen den Staatsgewalten) betrifft, so sind diese keinesfalls so starr, dass dem Untersuchungsausschuss jede Befassung mit Vorgängen aus den Bereichen der Exekutive verwehrt wäre, weil die Untersuchungsausschüsse ja auch und gerade Instrumente für die parlamentarische Kontrolle der Exekutive sein sollen (s. auch bereits oben Rn. 287 zu den Grenzen des Informationsrechts des einzelnen Abge­ ordneten). Immerhin soll der Untersuchungsgegenstand in zeitlicher Hinsicht aber jedenfalls nicht auf die laufende Regierungstätigkeit bzw. auf laufende Verwal­ tungsverfahren erstreckt werden, sondern grundsätzlich auf bereits abgeschlossene Vorgänge begrenzt sein.559 Freilich ist die „Abgeschlossenheit“ von Vorgän­ gen nicht ohne Wertungen feststellbar. Nach wohl h. M.560 ist ein Kernbereich der

476

553

Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 47. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. III, Art. 44, Rn. 114, (Lfg. 76, Dezember 2015); Brocker, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 44, Rn. 6 f. 555 Reinhardt, NVwZ 2014, 991 (992); Brocker, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 44, Rn. 6. 556 Vgl. etwa BVerfGE 77, 1 (44) – Neue Heimat. 557 Die allgemeine Befassungskompetenz des Parlaments ist damit allerdings nicht gemeint. 558 Eine andere Frage ist, was der Bundestag in Debatten und ggf. schlichten Parlaments­ beschlüssen behandeln darf: Erörtern kann der Bundestag grundsätzlich alles, auch wenn politisch Bedeutsames in den Zuständigkeitsbereich eines Landes fällt. 559 BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss; BVerfGE 124, 78 (121) – Unter­ suchungsausschuss Geheimgefängnisse; BVerfGE 143, 101 (137 f.) – NSA-Untersuchungsaus­ schuss. 560 Grundlegend Scholz, AöR 105 (1980), 598 ff. 554

202

§ 2 Bundestag

Eigenverantwortung der Regierung, nämlich ein „nicht ausforschbarer Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Regierung“, von parlamentarischen Unter­ suchungen ausgenommen (s. dazu § 7 Rn. 327 ff.).561 477

Geschützt ist demnach gegenüber Untersuchungsausschüssen vor allem die Willensbildung der Regierung selbst und zwar sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungsprozessen vollzieht.562 Dies bewahrt die Regierung nicht nur davor, Informationen aus laufenden Verhandlungen und Entscheidungs­ vorbereitungen preisgeben zu müssen, vielmehr sind „auch bei abgeschlossenen Vorgängen […] Fälle möglich, in denen die Regierung […] geheimzuhaltende Tatsachen mitzuteilen nicht verpflichtet ist.“563 Einen pauschalen Hinweis auf das Schutzgut „Willensbildung der Regie­ rung“ lässt das Bundesverfassungsgericht dagegen nicht genügen; entscheidend sei eine Ab­ wägung der Umstände des Einzelfalls.564

478

In inhaltlicher Hinsicht bedarf es der hinreichenden Konkretisierung des Untersuchungsgegenstands.

479

Im Übrigen muss der Untersuchungszweck verfassungsmäßig sein (und darf z. B. nicht auf die Erkundung von Intimdaten – etwa Sexualverhalten von Politi­ kern – gerichtet sein). Ein Untersuchungsausschuss, der keinen zulässigen Untersu­ chungszweck zum Gegenstand hat, darf nicht eingesetzt werden. § 2 Abs. 3 PUAG enthält Sonderregelungen für den Fall, dass der Bundestag (d. h. die Mehrheit der Abgeordneten) bei einer Minderheitenenquête (s. o. Rn. 462) den Einsetzungs­ antrag teilweise für verfassungswidrig hält. Damit ist die Einsetzung des Unter­ suchungsausschusses thematisch auf jene Teile zu beschränken, die der Bundes­ tag für verfassungsgemäß hält, wobei im Übrigen das Bundesverfassungsgericht angerufen werden kann.

480

Bei Zweifeln über die Verfassungsmäßigkeit des Einsetzungsbeschlusses sind der Bundesgerichtshof bzw. der Ermittlungsrichter verpflichtet, das Verfahren aus­ zusetzen und dem Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Vorlagefrage zu unterbreiten (§ 36 Abs. 2 PUAG).

481

Untersuchungsaufträge können sich schließlich auch auf die Erforschung und Aufklärung von Missständen im nicht-öffentlichen Bereich richten und zwar umso mehr, als private Unternehmen „aufgrund gemeinwirtschaftlicher Zielsetzung ihrer Tätigkeit in erheblichem Umfang aus staatlichen Mitteln gefördert oder steuer­ lich begünstigt werden und besonderen rechtlichen Bindungen unterliegen.“565 561

So deutlich etwa BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss. BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss. 563 BVerfGE 67, 100 (139)  – Flick-Untersuchungsausschuss; vgl. auch BVerfGE 124, 78 (122) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse; BVerfGE 143, 101 (137 f.) – NSA-Unter­ suchungsausschuss. 564 BVerfGE 124, 78 (122) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse. 565 BVerfGE 77, 1 (38 f.) – Neue Heimat; vgl. auch schon BVerfGE 67, 100 (143) – Flick-Un­ ter­su­chungs­ausschuss. 562

H. Organisation des Bundestags

203

Soweit parlamentarische Untersuchungsausschüsse öffentliche Gewalt aus­ üben, haben sie neben dem in Art. 44 Abs. 2 S. 2 GG genannten Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis gemäß Art. 1 Abs. 3 GG auch alle anderen Grundrechte zu beachten.566 In Betracht kommen vor allem das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie die einen Geheimnisschutz statuierenden Grundrechte, also für private In­ formationen das aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie für bestimmte unternehmerische Infor­ mationen der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen durch Art. 12 GG bzw. Art. 14 GG. Eingriffe in Grundrechte durch Maßnahmen des Untersuchungs­ ausschusses sind wie sonstige Eingriffe auch nur im Rahmen der vom Grundge­ setz ausdrücklich vorgesehenen Schranken sowie im Rahmen des Verfassungs­ grundsatzes des Übermaßverbots (der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit) zulässig.

482

Hierbei ist u. a. die Intensität des Grundrechtseingriffs gegen das Gewicht des Untersuchungszwecks und des Beweisthemas abzuwägen.567 Dabei kann dem Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Untersuchungsinteresse und individuellem Geheimhaltungsinteresse häufig durch prozedurale Maßnahmen (s. u. Rn. 498 ff.) Rechnung getragen werden, bspw. durch den ausnahmsweisen Ausschluss der Öffentlichkeit, durch Anonymisierung personen­ bezogener Daten oder durch ein in camera-Ver­fah­ren. Letzteres ermöglicht die Überprüfung von Informationen auf ihre Geheimhaltungsbedürftigkeit hin durch ein Gericht. Die entspre­ chenden Unterlagen werden hierbei weder den Beteiligten noch der Öffentlichkeit zur Ver­ fügung gestellt, bzw. erst, wenn das Gericht sie als nicht geheimhaltungsbedürftig einstuft.

483

Das PUAG enthält keine gesetzliche Konkretisierung der verfassungsrechtlich begründeten Grenzen des Untersuchungsgegenstands. Im Gegenteil: Auf die ausdrückliche Nennung notwendiger Kriterien hat der Gesetzgeber bewusst ver­ zichtet568 und es bei der Statuierung der Zulässigkeit „im Rahmen der verfassungs­ mäßigen Zuständigkeit“ des Bundestags (§ 1 Abs. 3 PUAG) belassen.

484

e) Befugnisse Zu den besonderen Befugnissen des Untersuchungsausschusses gehört vor al­ lem die Beweiserhebung, die gemäß der verfassungsrechtlichen Verweisung des Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG „entsprechend“ den strafprozessualen Regelungen zu erfolgen hat. Ausgehend von einer teleologischen Interpretation des Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Norm eine (zulässige) dynamische Verweisung erkannt, so dass das jeweils geltende Strafverfahrensrecht auf Beweiserhebungen von Untersuchungsausschüssen sinngemäß Anwendung findet. Darüber hinaus hat das Gericht klargestellt, dass sich die Verweisung nicht nur

566

BVerfGE 67, 100 (142) – Flick-Untersuchungsausschuss. So deutlich BVerfGE 77, 1 (44) – Neue Heimat. 568 Ausschuss-Bericht, BT-Drs. 14/5790, S. 12. 567

485

204

§ 2 Bundestag

auf befugnisbegründende, sondern auch auf befugnisbegrenzende Regelungen der Strafprozessordnung bezieht (s. o. Rn. 455).569 486

Das PUAG enthält eine Reihe von konkretisierenden Bestimmungen über die Beweiserhebung, die sich mehr oder weniger deutlich an der bis zum Erlass des PUAG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientieren. Klargestellt ist nunmehr, dass bereits der Beschluss eines Viertels der Ausschuss­ mitglieder genügt, um zulässige Beweise zu erheben oder die nach dem PUAG zu­ ständigen Gerichte anzurufen (§ 17 Abs. 2, Abs. 4 PUAG). Die oben angedeutete Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Minderheitsuntersuchungsausschuss (s. o. Rn. 462) ist von maßgeblicher Bedeutung für das Prozedere im Untersu­ chungsausschuss. Denn nicht nur bei der Einsetzung, sondern gerade auch bei der Arbeit eines von einer Minderheit beantragten Untersuchungsausschusses ist es möglich, dass die politische Mehrheit versucht, die Tätigkeiten des Ausschusses entweder gänzlich zu verhindern, zu behindern oder aber in ihrem eigenen Sinne zu beeinflussen.

487

Den verfassungsrechtlichen Verweis auf die Regelungen der Strafprozess­ ordnung nehmen die §§ 22 ff. PUAG auch in Bezug auf den Schutz von Zeugen und Betroffenen auf und konkretisieren diesen zugleich. So können sich Berufs­ geheimnisträger und ihrer Berufshelfer auf das Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 53 und 53a StPO berufen (§ 22 Abs. 1 PUAG). Entsprechendes gilt für das Zeugnisver­weigerungsrecht bei Gefahr der Strafverfolgung für sich selbst oder Angehörige (§ 22 Abs. 2 PUAG i. V. m. § 52 StPO). Ebenso wird den Zeugen eine relativ umfangreiche Entschuldigungsmöglichkeit zum Fernbleiben von Sitzun­ gen, zu denen sie ordnungsgemäß geladen wurden, zugebilligt (§ 21 Abs. 2 PUAG).

488

Eine Vereidigung ist im PUAG nicht vorgesehen.570 Nach § 162 Abs. 2 StGB i. V. m. § 153 StGB unterfällt eine falsche Aussage vor dem Untersuchungsaus­ schuss aber dem Straftatbestand der falschen uneidlichen Aussage.

489

Betroffenen, die durch die Veröffentlichung des Abschlussberichts (s. dazu Rn. 509) in ihren Rechten erheblich beeinträchtigt werden können, ist ein Recht zur Kenntnis- und Stellungnahme der betreffenden Passagen eingeräumt (§ 32 Abs. 1 PUAG). Ihre Stellungnahme ist im Bericht inhaltlich wiederzugeben (§ 32 Abs. 2 PUAG).

490

Diese Regelungen zum Schutz der Zeugen und Betroffenen werden teilweise kritisiert für ihre Degradierung der Untersuchungsausschüsse zu einer nachgeordneten Instanz der Justiz,571 569

BVerfGE 76, 363 (385 f., 387) – Lappas; BVerfGE 143, 101 (133 f.) – NSA-Untersuchungs­ ausschuss. 570 Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 44, Rn. 49. Vgl. dazu auch Hamm, ZRP 2002, 11 ff.; Groß, ZRP 2002, 91 f.; Wiefelspütz, ZRP 2002, 14 ff. 571 So – mit Hinweis auf Vorbilder in den USA (Sonderermittler) und in Südafrika (Truth and Reconciliation Commission) – H.-P. Schneider, NJW 2001, 2604 (2607): „Die Abgrenzung der Befugnisse des Ausschusses zu denen der Justiz ist daher nicht befriedigend gelungen. […] Man hätte […] gründlicher darüber nachdenken müssen, ob nicht in ganz besonders gravie­

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205

teilweise schlicht als strukturelles Problem beschrieben, welches die Arbeit der Ausschüsse lahmzulegen droht.572

Das PUAG trifft in §§ 21, 27 PUAG Vorsorge gegenüber unberechtigtem Ausbleiben bzw. gegenüber unberechtigter Auskunftsverweigerung. Wenn ein Zeuge, ohne sich auf ein entsprechendes Verweigerungsrecht berufen zu können, kein Zeugnis gibt oder wenn Akten nicht herausgegeben werden, steht dem Unter­ suchungsausschuss zunächst die Möglichkeit zu, ein Ordnungsgeld festzusetzen, das in diesen und allen anderen im PUAG geregelten Fällen, etwa dem Fortbleiben von Zeugen, einheitlich auf bis zu 10.000 Euro festgelegt ist (s. bspw. § 21 Abs. 1 S. 1, § 27 Abs. 1 PUAG). Darüber hinaus kommen als Erzwingungsmaßnahme die zwangsweise Vorführung (§ 21 Abs. 1 S. 1 PUAG) und auch die Beugehaft in Betracht (§ 27 Abs. 2 PUAG). Bezüglich der Anordnung der Beugehaft ist der Untersuchungsausschuss aber an den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG gebunden, so dass der Ausschuss die Anordnung der Haft nicht selbst festsetzen, sondern nur beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs beantragen kann. Für alle Beuge­maßnahmen gilt, dass die Grundrechte des Betroffenen und insbeson­ dere auch das Übermaßverbot zu beachten sind.573

491

Das PUAG hat das Verfahren über die Vorlage von Beweismitteln durch die Bundesregierung vereinfacht. Entsprechend ihrer grundsätzlichen Verpflichtung, Beweismittel an den Untersuchungsausschuss vorzulegen (§ 18 Abs. 1 PUAG),574 entscheidet für die Bundesregierung über ein derartiges Ersuchen der zuständige Fachminister oder – bei entsprechendem gesetzlichen Vorbehalt – die Regierung als Kollegialorgan (§ 18 Abs. 2 S. 1 PUAG).

492

Das PUAG verpflichtet neben der Bundesregierung auch andere Behörden und juristische Personen des Bundes zur Vorlage von Beweismitteln (§ 18 Abs. 1 PUAG). Gerichte und Verwaltungsbehörden sind nach Art. 44 Abs. 3 GG und § 18 Abs. 4 PUAG zur Rechts- und Amtshilfe bei der Beweiserhebung durch einen Untersuchungsausschuss verpflichtet.

493

f) Rechtsschutz Für Streitigkeiten nach dem PUAG, insbesondere Beweisstreitigkeiten, hat § 36 Abs. 1 PUAG eine zentrale Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes bestimmt, so­ fern das Grundgesetz, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz oder Spezialnormen renden Fällen, nämlich dann, wenn ein Zeuge selbst lieber vor einem Untersuchungsausschuss aussagen würde, als sich der Strafverfolgung auszusetzen, der Ausschuss, also das Parlament und nicht die Justiz, das letzte Wort haben sollte – mit der Folge, dass dann diese Aussage im Strafprozess nicht verwendet werden darf.“ 572 Danckert, ZRP 2000, 476 (477). 573 Vgl. BVerfGE 76, 363 (383). 574 Vgl. schon BVerfGE 67, 100 (Ls. 2) – Flick-Untersuchungsausschuss.

494

206

§ 2 Bundestag

des PUAG keine anderweitige gerichtliche Zuständigkeit, so etwa die Zuständig­ keit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs oder die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, anordnen: 495

So entscheidet bei der Weigerung der Bundesregierung, Beweismittel herauszugeben (vgl. § 18 Abs. 1 PUAG; s. o. Rn. 492), auf Antrag des Untersuchungsausschusses oder eines Viertels seiner Mitglieder das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Ersuchens (§ 18 Abs. 3 Var. 1 PUAG). Über die Einstufung einer Angelegenheit als Verschluss­ sache (vgl. § 18 Abs. 2 S. 2 PUAG; s. u. Rn. 503) entscheidet hingegen der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (§ 18 Abs. 3 Var. 2 PUAG). Der Ermittlungsrichter entscheidet ebenfalls über Streitigkeiten bezüglich der Ablehnung von Beweiserhebungen sowie der An­ wendung von Zwangsmitteln (§ 17 Abs. 4 PUAG) sowie bei Streitigkeiten bei der Rechts- und Amtshilfe (§ 18 Abs. 4 S. 2 PUAG).

496

Gegen Entscheidungen des Ermittlungsrichters ist die Beschwerde zulässig, über die der Bundesgerichtshof entscheidet (§ 36 Abs. 3 PUAG).

497

Hält der Bundesgerichtshof oder der Ermittlungsrichter den Einsetzungsbeschluss des Bundestags nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG, § 2 PUAG (s. o. Rn. 463) für verfassungswidrig und kommt es für seine Entscheidung auf die Gültigkeit an, entscheidet das Bundesverfassungsgericht (§ 36 Abs. 2 S. 1 u. S. 2 PUAG).

g) Verfahren 498

Die Untersuchungsausschüsse sind insbesondere an rechtsstaatliche Vorgaben gebunden und haben die Grundrechte der Beteiligten zu achten. Grundsätzlich gel­ ten für Untersuchungsausschüsse die gleichen Verfahrensvorgaben wie für andere Ausschüsse auch. Nach § 54 Abs. 2 GOBT sind die Bestimmungen der GOBT auch auf die Ausschüsse des Bundestags anwendbar, soweit sie nicht durch die Verfassung oder durch Spezialregelungen verdrängt werden.

499

In der Praxis erlässt ein Untersuchungsausschuss zumeist eine eigene, auf seine speziellen Befugnisse zugeschnittene Geschäftsordnung. Allerdings wird diese Geschäftsordnungsautonomie durch die Vorgaben des PUAG z. T. überlagert.

500

Das gilt schon für die zur Herbeiführung bestimmter Maßnahmen erforderliche Mehrheit. Während grundsätzlich die Mehrheit der Ausschussmitglieder erforder­ lich ist, sieht das PUAG eine Reihe von Beschlüssen vor, die entsprechend dem von Art. 44 Abs. 1 GG intendierten Minderheitenschutz schon durch ein Viertel seiner Mitglieder beantragt werden können (etwa § 8 Abs. 2, Abs. 3, § 10 Abs. 1 S. 1, § 17 Abs. 2 PUAG). Der Minderheitenschutz setzt sich in dem Recht der einsetzungs­ berechtigten Minderheit fort, über die Beweiserhebung mitzubestimmen.575

501

Ähnlich wie nach § 69 Abs. 1 S. 1 GOBT der allgemeine Grundsatz festlegt wird, dass die Beratungen in den Ausschüssen des Bundestags grundsätzlich nicht 575

BVerfGE 105, 197 (223 ff.) – Minderheitsrechte im Untersuchungsausschuss.

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207

öffentlich sind, schreibt § 12 Abs. 1 PUAG vor, dass jedenfalls die Beratungsund Beschlussfassung des Untersuchungsausschusses nicht öffentlich ist. Al­ lerdings fordert Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG, § 13 Abs. 1 S. 1 PUAG die Öffentlichkeit der Beweis­aufnahme. Jedoch kann auch hier nach Art. 44 Abs. 1 S. 2 GG, § 14 Abs. 1 PUAG die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Trotz der Öffentlichkeit der Beweiserhebung sind Ton- und Filmaufnahmen bzw. -übertragungen nach § 13 Abs. 1 S. 2 PUAG unzulässig. Hiervon kann der Untersuchungsausschuss allerdings Ausnahmen zulassen (§ 13 Abs. 1 S. 3 PUAG). Die Bundesregierung kann den Ausschluss der Öffentlichkeit von Verhandlungen eines Untersuchungsausschusses nicht erzwingen: Zwar berechtigt § 14 Abs. 3 Nr. 2 PUAG u. a. Mit­ glieder der Bundesregierung, einen Antrag auf Ausschluss oder Beschränkung der Öffentlich­ keit zu stellen; über diesen Antrag entscheidet dann allerdings der Untersuchungsausschuss (§ 14 Abs. 4 S. 1 PUAG). Der Untersuchungsausschuss ist nach der Verfassung „Herr über die Öffentlichkeit seiner Verhandlungen“.576

502

Verschlusssachen, also Angelegenheiten aller Art, die durch besondere Sicher­ heitsmaßnahmen gegen die Kenntnis durch Unbefugte geschützt werden müssen,577 sind dem Untersuchungsausschuss trotz ihrer ‚Sensibilität‘ grundsätzlich vorzu­ legen (arg. § 18 Abs. 2 S. 2 PUAG). Allerdings ist die Bundesregierung nicht ver­ pflichtet, dem Untersuchungsausschuss Verschlusssachen mit Dienstgeheimnissen vorzulegen, wenn dieser nicht „den von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Geheimschutz gewährleistet.“578 Bei Streitigkeiten über die Vorlage als Verschlusssache entscheidet der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (s. dazu Rn. 495).

503

Eine Besonderheit im Verfahren der Untersuchungsausschüsse stellt der Ermittlungsbeauftragte dar. Nach § 10 Abs. 1 S. 1 PUAG kann (und muss) der Ausschuss (auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder) einen Ermittlungsbeauf­ tragten einsetzen. Sein Ermittlungsauftrag soll auf höchstens sechs Monate be­ grenzt sein (§ 10 Abs. 1 S. 1 PUAG). Bestimmt wird der Ermittlungsbeauftragte mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Ausschussmitglieder (§ 10 Abs. 2 S. 1 PUAG). Erfolgt dies nicht innerhalb einer Frist von drei Wochen nach dem Einsetzungsbeschluss, so wird er vom Vorsitzenden im Einvernehmen mit seinem Stellvertreter und im Benehmen mit den Obleuten der Fraktionen bestimmt (§ 10 Abs. 2 S. 2 PUAG).

504

Aufgabe des Ermittlungsbeauftragten ist es, Beweismaterial zunächst zu beschaffen, zu sichten und die zu beurteilenden Sachverhalte sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht aufzubereiten (§ 10 Abs. 3 S. 2 PUAG).579 Bei diesen Maßnahmen zur Vorbereitung der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses (vgl. § 10 Abs. 3 S. 1 PUAG) hat der Ermitt­ lungsbeauftragte grundsätzlich dieselben Rechte wie der Ausschuss, also namentlich das

505

576

BVerfGE 67, 100 (137) – Flick-Untersuchungsausschuss. Vgl. Dazu § 1 Anlage 3 zur GOBT – Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages. 578 BVerfGE 67, 100 (137) – Flick-Untersuchungsausschuss. 579 Ausschuss-Bericht, BT-Drs. 14/5790, S. 15. 577

208

§ 2 Bundestag

Recht auf Vorlage von Beweismitteln, auf Augenscheinnahme sowie Herausgabeansprüche (§ 10 Abs. 3 S. 3 bis S. 6 PUAG). Am Ende seiner Ermittlungen erstattet der Beauftragte dem Ausschuss einen schriftlichen und mündlichen Bericht (§ 10 Abs. 3 S. 9 PUAG). Öffentliche Erklärungen gibt er nicht ab.

506

Mit der Schaffung des Instituts des Ermittlungsbeauftragten wurde eine Entscheidung gegen die Einsetzung eines Unterausschusses beim Untersuchungsausschuss getroffen. Das Institut des Ermittlungsbeauftragten ist jedoch bislang praktisch eher weniger (obschon tendenziell immer stärker) relevant. In der Vergangenheit wurde folgende Personen als Ermittlungsbeauftragte eingesetzt: der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Joachim Ja­ cob (bestellt 2007 im sog. „BND-Untersuchungsausschuss“)580, der frühere Ministerialbe­ amte Gerold Lehnguth (bestellt 2010 im „Gorleben-Untersuchungsausschuss“)581, Bernd v. ­Heintschel-​­Heinegg, Gerhard Schäfer, Volkhard Wache sowie Ulrich Hebenstreit (bestellt 2012 im „NSU-Untersuchungsausschuss“ I)582 und (erneut) v. Heintschel-Heinegg (bestellt 2016 im „NSU-Untersuchungsausschuss“ II)583.

507

Kritisch lässt sich zur Institution des Ermittlungsbeauftragten anmerken, dass dieser mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet ist, um in der Tat die Möglichkeit zu haben, den Ausschuss arbeitstechnisch erheblich zu entlasten. Jedoch entledigen sich die Mitglieder des Untersuchungsausschusses gerade durch diese weitreichenden Kompetenzen aber derjenigen Aufgaben, die im Zentrum der Arbeit des Untersuchungsausschusses stehen und daher zu ihren ureigensten Obliegenheiten als Abgeordnete im Untersuchungsausschuss gehören.584 Hinzu kommt, dass eine Aussetzung der Arbeit des Ausschusses während der Ermittlungstätigkeit des Ermittlungsbeauftragten nicht vorgesehen ist, so dass leicht parallele Arbeitsstrukturen entstehen können, die einer sachgerechten Aufklärung häufig nicht dienlich sind.

508

Auch andere Regelungen des PUAG treffen im Schrifttum auf Kritik.585 So wird bemängelt, dass das Zutritts- und Rederecht der Regierung aus Art. 43 Abs. 2 GG für nicht-öffentliche Ausschusssitzungen nicht im Rahmen einer Verfas­ sungsänderung beschränkt wurde.586 Gerade wenn es beim Untersuchungsgegen­ stand um Aufklärung von Missständen aus dem Bereich der Bundesregierung geht, sei es inakzeptabel, dass Regierungsmitglieder oder deren Beauftragte nicht nur an vertraulichen Beratungen teilnähmen, sondern auch jederzeit das Wort ergreifen dürften. Ein weiteres Defizit wird in dem Versäumnis gesehen, für Mitglieder der Untersuchungsausschüsse eine Präsenzpflicht einzuführen. Wie in den anderen Ausschüssen des Bundestags, so haben auch die Mitglieder der Untersuchungsaus­ schüsse die Möglichkeit, den Sitzungen beliebig oft fernzubleiben, ohne damit ihr Stimmrecht bei den zu treffenden Entscheidungen zu verwirken.

580

BT-Drs. 16/13400, S. 46. BT-Drs. 17/13700, S. 45 ff. 582 BT-Drs. 17/14600, S. 52 ff., 55 ff. 583 BT-Drs. 18/12950, S. 108. 584 (H.-P.) Schneider, NJW 2001, 2604 (2608). 585 Z. B. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 ff. 586 (H.-P.) Schneider, NJW 2001, 2604 (2607). 581

H. Organisation des Bundestags

209

h) Berichts- und Abschlussphase Wie der Untersuchungsausschuss aufzulösen ist, wurde gesetzlich nicht gere­ gelt. Allerdings sieht § 33 Abs. 1 S. 1 PUAG die schriftliche Berichterstattung des Untersuchungsausschusses gegenüber dem Bundestag als wesentlichen inhalt­lichen Endpunkt der Untersuchungsausschussarbeit vor. Der Abschlussbericht hat den Gang des Verfahrens, die ermittelten Tatsachen und das Ergebnis der Untersu­ chung wiederzugeben (§ 33 Abs. 1 S. 2 PUAG). Sondervoten sind dabei möglich (§ 33 Abs. 2 PUAG).

509

Der Regelung des Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG ist die Wertung zu entnehmen, dass die Abschlussberichte von Untersuchungsausschüssen mit richterlichen Entscheidungen und ihrer Wirkkraft nicht zu vergleichen sind.587 Deshalb lässt sich etwa das in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG normierte Recht auf den gesetzlichen Richter nicht auf parlamentarische Untersuchungsaus­ schüsse übertragen.588 Nach Art. 44 Abs. 4 S. 2 GG sind – wie erwähnt – Gerichte nicht an die Ermittlungsergebnisse des Untersuchungsausschusses gebunden.

510

Mit der Vorlage eines Abschlussberichts hat sich die Aufgabe des Unter­ suchungsausschusses als nicht ständiger Ausschuss erledigt.

511

Wegen des Grundsatzes der Diskontinuität (s. o. Rn. 205 ff.) endet die Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses jedoch spätestens mit Ende der Arbeit des Bun­ destags bei Ablauf der Legislaturperiode. Für diese Konstellation sieht § 33 Abs. 3 PUAG die Vorlage eines Sachstandsberichts über das bisherige Verfahren und das bisherige Ergebnis der Untersuchungen vor. Der Sachstandsbericht erleichtert einem etwaigen nach Neuwahlen eingerichteten neuen Untersuchungsausschuss das Aufgreifen der Untersuchungen.

512

4. Sonderausschüsse Der Bundestag kann gem. § 54 Abs. 1 S. 2 GOBT für „einzelne Angelegenheiten“ nicht-ständige Sonderausschüsse errichten. Sie werden durch einfachen Parlamentsbeschluss eingesetzt, der auch die Zahl der Mitglieder bestimmt. Der Sonderausschuss eignet sich insbesondere zur Auslagerung besonders komplexer, sachgebietsübergreifender und reformorientierter Fragen aus der Ausschuss­ arbeit. Gleichwohl wird von der Ermächtigung des § 54 Abs. 1 S. 2 GOBT – grund­ sätzlich zu Recht – selten Gebrauch gemacht. Ein Beispiel für einen Sonderaus­ schuss war der im Herbst 2000 fraktionsübergreifend beantragte und eingesetzte Sonderausschuss „Maßstäbegesetz / Finanzausgleichsgesetz“ „zur Vorbereitung der Verhandlungen des Deutschen Bundestages zu diesen Gesetzgebungsvorhaben“

587 Kritisch zur Regelung des Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG im Hinblick auf die Beeinträchtigung des Art. 19 Abs. 4 GG bspw. Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 44, Rn. 57 ff. 588 BVerfGE 77, 1 (42) – Neue Heimat.

513

210

§ 2 Bundestag

und zur Dokumentation der „Wahrnehmung der besonderen Verfahrensverant­ wortung des Gesetzgebers“.589 5. Besonderheiten im Bereich Technikfolgenabschätzung a) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 514

Ein merkwürdiges Ausnahmegebilde stellt die Organisation der Technikfolgen­ abschätzung auf der Ausschussebene des Bundestags dar:590 Der Ausschuss für Bil­ dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ist einer der ständigen Fachaus­ schüsse des Deutschen Bundestags (s. o. Rn. 421). Er begleitet in den titel­gebenden Sachbereichen die Politik des Bundestags (und des Bundesministeriums für Bil­ dung und Forschung). Die Geschäftsordnung des Bundestags sieht in § 56a Abs. 1 S. 1 GOBT vor, dass der Ausschuss591 Technikfolgenanalysen veranlasst sowie für das Plenum aufbereitet und auswertet. Der Ausschuss hat Grundsätze über die Erstellung von Technikfolgenanalysen aufzustellen und diese Grundsätze zum Ausgangspunkt seiner Entscheidung im Einzelfall zu machen (§ 56a Abs. 2 GOBT).

515

Technikfolgenabschätzung war vor allem in den 1970er und 1980er eine vieldiskutierte Aufgabe (technology assessment)592 und ist in dieser Zeit in den Fokus des Parlaments gera­ ten. Die parlamentarische Befassung mit Fragen der Technikfolgenabschätzung war zunächst Gegenstand mehrerer Enquête-Kommissionen (s. u. Rn. 518 ff.) und ist um 1989/1990593 in die ständige Fachausschussarbeit integriert worden. Der zuständige Fachausschuss organisiert die technische Auftragsforschung für das Parlament. Es hätte zwar nahegelegen, diese Auf­ gabe einem besonderen Unterorgan des Bundestags, insbesondere einem Beirat (s. u. Rn. 517), zu übergeben. Die Aufwertung des Bundestagsausschusses für Bildung und Forschung um den Aspekt der Technikfolgenabschätzung trägt aber auch dem Umstand Rechnung, dass in Er­ mangelung von Bundeskompetenzen der Bildungs- und Forschungsausschuss mit Aufgaben nicht überlastet ist.

589

BT-Drs. 14/4251. Zu Bedeutung, Grenzen und Voraussetzungen der Technikfolgenabschätzung für das poli­ tische System siehe Grunwald, in: Kloepfer (Hrsg.), Technikumsteuerung als Rechtsproblem, 2002, S. 43 (47 ff.). 591 Zu beachten ist, dass § 56a Abs. 1 S. 1 GOBT, welcher durch Bek. v. 12.11.1990 (BGBl. I S. 2555) eingefügt wurde, wörtlich von einem „Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung“ spricht; damals gab es getrennte Fachausschüsse für die Ressorts Bildung und Forschung und die Technikfolgenabschätzung wurde letzterem zugeschlagen. Seit 1994 werden allerdings die Ressorts Bildung und Forschung in einem gemeinsamen Fachaus­ schuss (unter Einschluss der Technikfolgenabschätzung) geführt. 592 S. dazu auch Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 1, Rn. 85 ff. 593 S. den Hinweis in Fußn. 591. 590

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211

b) Büro für Technikfolgenabschätzung Die Besonderheit der Organisation der parlamentarischen Technikfolgenab­ schätzung liegt freilich weniger in der Arbeit des Ausschusses für Bildung, For­ schung und Technikfolgenabschätzung selbst, als vielmehr in der Tatsache, dass die Aufgabe der Technikfolgenabschätzung teilweise nicht nur aus dem Plenum, sondern auch aus dem Ausschuss ausgegliedert wird: Mit der Erstellung von Tech­ nikfolgenanalysen kann der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung gem. § 56a Abs. 1 S. 2 GOBT Institutionen außerhalb des Bundestags beauftragen. Von dieser Möglichkeit hat der Ausschuss Gebrauch gemacht und das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) beauftragt, das vom Karlsruher Institut für Technologie in Berlin betrieben wird.

516

VII. Besondere Kommissionen, Gremien und Beiräte 1. Allgemeines Neben den Ausschüssen bestehen im (und beim) Bundestag eine Reihe weiterer besonderer Kommissionen, Gremien und Beiräte. Zu ihnen zählen insbesondere die Enquête-Kommissionen (Rn. 518 ff.) und Gremien (sowie Kommissionen) aus Geheimschutzgründen (Rn. 525 ff.). Hinzu kommen verschiedene Formen von Bei­ räten (s. u. Rn. 566 ff.) sowie bestimmte Formen der Beteiligung des Bundestags an Kuratorien und Verwaltungsräten (s. u. Rn. 578 ff.). Diese Kategorisierung knüpft neben funktionellen Unterscheidungen (deutlich etwa bei den Geheimschutz­ gremien) auch an die Art der Besetzung der Entitäten an: Während sich Gremien des Bundestags grundsätzlich dadurch auszeichnen, dass sie ausschließlich mit Abgeordneten des Bundestags besetzt sind (s. u. Rn. 526), können in Kommissionen auch Nicht-Abgeordnete vertreten sein (s. u. Rn. 522 u. 552); bei den Beiräten ist insoweit zwischen parlamentarischen Beiräten und Beiräten mit Parlamentsbetei­ ligung zu differenzieren (hierzu unten Rn. 568).

517

2. Enquête-Kommissionen Eine nicht unerhebliche Bedeutung haben in der Bundesrepublik Deutschland die seit der Weimarer Zeit bekannten Enquête-Kommissionen erlangt, die „zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“ eingesetzt werden können (§ 56 Abs. 1 S. 1 GOBT), wobei allerdings seit geraumer Zeit gewisse Ermüdungserscheinungen in der Einsetzungspraxis unverkennbar sind.

518

Ein Blick auf die bislang eingesetzten Enquête-Kommissionen verdeutlicht nicht nur deren mögliche thematische Bandbreite, sondern spiegelt auch ein Stück bundesrepublikani­

519

212

§ 2 Bundestag

scher Entwicklung wider: „Auswärtige Kulturpolitik“ und „Fragen der Verfassungsreform“594 (6. Wahlperiode), „Frau und Gesellschaft“ (7. Wahlperiode), „Zukünftige Kernenergiepolitik“ (8. Wahlperiode), „Neue Informations- und Kommunikationstechniken“, „Bildung 2000“ so­ wie „Jugendprotest im demokratischen Staat“ (9. Wahlperiode), „Chancen und Risiken der Gen­ technologie“ und „Einschätzung und Bewertung von Technologiefolgen“ (10. ­Wahlperiode), „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung“, „Gefahren von AIDS und wirk­ same Wege zu ihrer Eindämmung“ (11. Wahlperiode), „Vorsorge zum Schutz der Erdatmo­ sphäre“, „Schutz des Menschen und der Umwelt“, „Demographischer Wandel“, „Aufarbei­ tung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ (12. Wahlperiode),595 „Demographischer Wandel  – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“, „Schutz der Erdatmosphäre“, „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“, „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“, „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode), „Recht und Ethik der modernen Medizin“, „Globa­lisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“, „Zukunft des Bür­ gerschaftlichen Engagements“, „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“ (14. Wahlperiode), „Ethik und Recht der modernen Medizin“, „Kultur in Deutschland“ (15. und wiederum 16. Wahl­ periode), „Internet und digitale Gesellschaft“ (17. Wahlperiode), „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ (17. Wahlperiode), „Berufliche Bildung in der digitalen Welt“ (19. Wahlperiode), „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaft­ liche Potentiale“ (19. Wahlperiode).

520

Nach § 56 Abs. 1 S. 2 GOBT ist der Bundestag zur Einsetzung einer EnquêteKom­m ission verpflichtet, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestags dies unter Bezeichnung des genauen Kommissionsauftrags beantragt. Insofern kann sich die Einsetzung von Enquête-Kommissionen auch als ein Instrument parla­ mentarischer Minderheiten darstellen.

521

Die Mitglieder werden im Einvernehmen der Fraktionen benannt und vom Präsidenten berufen (§ 56 Abs. 2 S. 1 GOBT). Jede Fraktion kann mindestens ein Mitglied in die Kommission entsenden (§ 56 Abs. 3 GOBT), wodurch Gruppen und fraktionslose Abgeordnete unberücksichtigt bleiben können.596

522

Im Unterschied zu Ausschüssen des Bundestags (s. o. Rn. 415 ff.) müssen die Mitglieder von Enquête-Kommissionen nicht ausschließlich dem Bundestag angehören. Sie bereiten Beschlüsse und Gesetzesinitiativen des Bundestags nicht unmittelbar vor, sondern werden lediglich im Vorfeld parlamentarischer Willensbildung tätig. Gerade deshalb können auch

594

Schlussbericht in BT-Drs. 7/5924. Übersicht und Hinweise zur Entstehung bei v. Gayl, Das Parlamentarische Institut der Enquête-Kom­m ission am Beispiel der Enquête-Kommission „AIDS“ des Deutschen Bun­ destags, 1993; Rehfeld, Enquête-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Lompe / Rass / Rehfeld, Enquête-Kommis­sio­nen und Royal Commissions, 1981, S. 181, 187. 596 BVerfGE 80, 188 (230) – Wüppesahl; 96, 264 (282). 595

H. Organisation des Bundestags

213

Sachverständige in die Kommission berufen werden,597 etwa um komplexere Gesetzesvor­ haben mit dem notwendigen wissenschaftlichen und fachlichen Sachverstand vorzubereiten. Sie haben dann dieselben Rechte im Rahmen der Kommission inne wie Fraktionsvertreter.598 Da sich der Grundsatz der Diskontinuität des Bundestags auch auf etwaige Enquête-Kom­ mis­sio­nen erstreckt, ordnet § 56 Abs. 4 S. 1 GOBT an, dass die Kommission ihren Bericht so rechtzeitig vorzulegen hat, dass noch vor Ablauf der Legislaturperiode eine Aussprache im Plenum erfolgen kann. Sofern ein abschließender Bericht nicht erstattet werden kann, soll ein Zwischenbericht dem (nächsten) Bundestag die Entscheidung ermöglichen, ob die Kommis­ sion ihre Arbeit einstellen oder fortsetzen soll (§ 56 Abs. 4 S. 2 GOBT). So wurde etwa die Arbeit der ursprünglich in der 15. Wahlperiode eingesetzten Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ in der 16. Wahl­periode des Bundestags fortgesetzt (Laufzeit insgesamt von 2003 bis 2007).

523

Die Enquête-Kommission hat gem. § 56 Abs. 4 GOBT eine Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag. Ihre Ergebnisse liefern Informationen, insbesondere zu komplexen Themen, und sind Grundlage der Beratung in Ausschüssen und Ple­ num. Sie stärken nicht zuletzt die Position des Parlaments gegenüber den oft weit überlegenen Möglichkeiten und Einrichtungen auf Regierungsseite.599 Im Unter­ schied zu den Untersuchungsausschüssen verhalten sich die Aufträge an EnquêteKommissionen regelmäßig zu langfristigen und übergreifenden Fragestellungen, weniger zu den Erfordernissen der Tagespolitik. Eine mittlere Stellung auf diesem Spektrum zwischen übergreifenden und tagespolitischen Fragen nehmen die oben angesprochenen Sonderausschüsse für „einzelne Angelegenheiten“ nach § 54 Abs. 1 S. 2 GOBT ein (s. o. Rn. 513).

524

3. Gremien aus Geheimschutzgründen a) Begriff Gremien aus Geheimschutzgründen sind mit der Wahrnehmung spezifischer Aufgaben des Parlaments betraut, die besonderer Geheimhaltung bedürfen. Die Errichtung dieser Gremien erfolgt, um die konfligierenden Belange einer funk­ tionierenden parlamentarischen bzw. rechtsstaatlichen Kontrolle einerseits und eines qualifizierten Geheimhaltungsbedarfs andererseits zu einem vernünfti­ gen Ausgleich zu bringen. Daher wird die Mitgliedszahl der Gremien gegenüber den sonstigen Bundestagsausschüssen erheblich – auf regelmäßig nur bis zu neun Mitglieder  – beschränkt und die Gremiumsarbeit strengen Geheimhaltungsre­ geln unterworfen: Während Bundestagsausschüsse zwar zumeist nicht-öffentlich, aber nur im Ausnahmefall geheim tagen, vollzieht sich die Arbeit dieser Bundes­

597

v. Münch, Staatsrecht I, 8. Aufl. 2016, Rn. 231. Roll, in: Nomos – Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht, GOBT, § 56. 599 Vgl. BT-Drs. 6/3829, S. 20. 598

525

214

§ 2 Bundestag

tagsgremien jeweils kraft gesetzlicher Anordnung stets geheim und niemals nur nicht-öffentlich. 526

Organisatorisch können diese Gremien unterschiedliche Gestalt annehmen: Ein Teil der Gremien (etwa das Parlamentarische Kontrollgremium; s. u. Rn. 531 ff.) ist organisatorisch von den Bundestagsausschüssen völlig getrennt. Zu Mitgliedern des Gremiums können Abgeordnete unabhängig von ihren sonstigen Ausschuss­ mitgliedschaften gewählt werden. Ein anderer Teil der Gremien (darunter z. B. das Vertrauensgremium nach § 10a BHO; s. u. Rn. 536) wird jedoch dem Bundestagsausschuss zugeordnet, der hypothetisch für den Gegenstand der Gremiumstätig­ keit zuständig wäre, sofern dieses nicht gesondert eingesetzt wäre. Diese Anbin­ dung ist zunächst organisatorischer Natur; sie eröffnet dem Gremium den Zugriff auf die sachlichen Ressourcen des Ausschusses, insbesondere die Mitarbeit des jeweiligen Ausschusssekretariats. Hierneben ordnen die Errichtungsgesetze aller­ dings auch eine personelle Teilidentität dergestalt an, dass sich die Gremien allein aus Mitgliedern des zugeordneten Bundestagsausschusses konstituieren dürfen. Dessen ungeachtet sind auch diese Gremien allerdings keine bloßen Unterausschüsse eines Bundestagsausschusses. Denn während Unterausschüsse durch den jeweiligen Ausschuss selbst eingesetzt und besetzt werden (vgl. § 55 Abs. 1 GOBT; s. o. Rn. 417), erfolgen Einsetzung der Gremien und Wahl ihrer Mitglieder durch das Plenum.

b) Arten der Gremien 527

Die bestehenden Geheimschutzgremien können entsprechend ihrer Aufgaben grob – allerdings nicht vollends trennscharf – zwei Kategorien zugeordnet wer­ den: Es handelt sich einmal um Gremien der parlamentarischen Kontrolle und zum anderen um Gremien der rechtsstaatlichen Kontrolle.

528

Einige der Bundestagsgremien nehmen Kontrollaufgaben in besonderer Form wahr, die der Bundestag ohnedies hat. Es handelt sich hierbei insoweit um eine Substitution der gewöhnlichen Modi parlamentarischer Kontrolle durch das Gre­ mienverfahren, also um eine besondere organisatorische Ausgestaltung der par­ lamentarischen Kontrollfunktion (allgemein oben Rn. 89 ff.). Daher soll hier von Gremien parlamentarischer politischer Kontrolle gesprochen werden. Diese sind derzeit das Parlamentarische Kontrollgremium (Rn. 531), das Vertrauensgre­ mium nach § 10a BHO (Rn. 536) und das Gremium zur Kreditfinanzierung des Bundes (Rn. 539).

529

Andere Bundestagsgremien üben demgegenüber Kontrollfunktionen aus, die dem Bundestag gerade spezifisch zur Wahrnehmung in diesen Gremien gesondert zugewiesen werden. Sie sollen die Einschränkungen der gerichtlichen Kont­rolle von bestimmten grundrechtseinschränkenden Maßnahmen durch besondere parlamen­ tarische Kontroll- und Unterrichtungsrechte teilweise ausgleichen. Ihre Funktion

H. Organisation des Bundestags

215

ist teilweise (tendienziell) gerichtsäquivalent (beachte jedoch Rn. 550). Die er­ weiterten parlamentarischen Kontrollrechte dienen dem Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren. Gegenüber der sonstigen parlamentarischen Kontrolle verhalten sie sich komplementär. Diese Gremien können als Gremien rechtsstaatlicher parlamentarischer Kontrolle bezeichnet werden, obwohl natürlich auch sie der parlamentarischen Kontrolle dienen (vgl. Art. 10 Abs. 2, Art. 13 Abs. 6 S. 2 und S. 3 GG). Derzeit bestehen folgende einschlägige Gremien: das Gremium nach § 23c Abs. 8 Zollfahndungsgesetz (Rn. 549) sowie das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 GG (Rn. 548). Außerdem ist hier die G 10-Kommission (Rn. 551) zu nennen. c) Gremien parlamentarischer politischer Kontrolle Von besonderer Bedeutung ist – erstens – das Parlamentarische Kontrollgremium (s. dazu Rn. 531 ff.), das keinem Bundestagsausschuss zugeordnet ist und über eigene Personal- und Sachmittel verfügt. Daneben sind noch drei Gremien dem Haushaltsausschuss zugeordnet: Es han­delt sich dabei – zweitens – um das sog. Vertrauensgremium (s. dazu Rn. 536 ff.), drittens um das Gremium zur Kredit­ finanzierung des Bundes (s. dazu Rn. 539 ff.) und – viertens – um das „Sonder­ gremium“ zum europäischen Stabilisierungsmechanismus (s. dazu Rn. 544 ff.).

530

aa) Das Parlamentarische Kontrollgremium. Dem Parlamentarischen Kontroll­ gremium600 obliegt die Kontrolle der Bundesregierung hinsichtlich ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit, d. h. der Tätigkeit des Bundesamts für Verfassungs­ schutz, des Militärischen Abschirmdiensts sowie des Bundesnachrichtendiensts (§ 1 Abs. 1 PKGrG). Seine Aufgabe steht in einem Spannungsverhältnis zwischen einer umfangreichen Kontrolle der der Exekutive unterstehenden Nachrichten­ dienste durch das Parlament einerseits und der effektiven Aufgabenwahrnehmung der Dienste ihrerseits.

531

Durch eine Verfassungsänderung von 2009601 wurde mit Art. 45d Abs. 1 GG die Bestellung des derartigen Gremiums (nicht: Ausschuss) zur verfassungsrechtlichen Pflicht des Bundestags. Art. 45d Abs. 2 GG begründet einen Auftrag an den Gesetzgeber, das Nähere zu regeln. Dies ist durch das Kontrollgremiumgesetz602 geschehen.

532

Die Mitglieder des Parlamentarische Kontrollgremiums werden vom Plenum des Bundestags aus dessen Mitte mit Mitgliedermehrheit gewählt (§ 2 Abs. 1, Abs. 3 PKGrG). Das Kontrollgremium wird in strenger Diskontinuität auch hin­

533

600

S. a. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 127 ff. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 45d) v. 17.7.2009 (BGBl. I, S. 1977). 602 Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bun­ des (Kontrollgremiumgesetz  – PKGrG) v. 11.4.1978 (BGBl.  I, S. 453), neugef. d. Art. 1  d. G. v. 29.7.2009 (BGBl. I, S. 2346), zuletzt geändert durch Art. 13b d. G. v. 9.12.2019 (BGBl. I S. 2053). 601

216

§ 2 Bundestag

sichtlich der Zahl seiner Mitglieder in jeder Legislaturperiode (§ 2 Abs. 1 und 2 PKGrG) mit der Besonderheit neu gebildet, dass das Gremium in seinem Mitglie­ derbestand über die alte Legislaturperiode hinaus bestehen bleibt, bis der nächste Bundestag neue Mitglieder gewählt hat (§ 3 Abs. 4 PKGrG). Unter Umständen sind in dem Gremium nicht alle Fraktionen vertreten.603 534

Die Mitglieder sind auch über ihren Verbleib in dem Gremium hinaus zu strenger Geheimhaltung verpflichtet (§ 10 Abs. 1 PKGrG). Die Gesamtheit der Abgeordneten wird in die Kontrolle nur insoweit einbezogen, als ihr wenigstens zweimal je Wahlperiode Bericht über die Arbeit des Gremiums zu erstatten ist (§ 13 PKGrG).

535

Hinsichtlich der parlamentarischen und rechtsstaatlichen Kontrolle besteht nach dem G 10 eine Arbeitsteilung zwischen dem Parlamentarischen Kontrollgremium einerseits und der G 10-Kom­mis­sion andererseits (hierzu unten Rn. 551 ff.).

536

bb) Das Vertrauensgremium. Das Vertrauensgremium nach § 10a Abs. 2 BHO ist die haushaltsrechtliche Entsprechung zum Parlamentarischen Kontrollgremium (s. o.  Rn.  531 ff.). Es bewilligt anstelle des Haushaltsausschusses „Ausgaben, die nach geheimzuhaltenden Wirtschaftsplänen bewirtschaftet werden sollen“ (§ 10a Abs. 2 S. 1 BHO). Das betrifft, „[s]ofern der Bundestag nichts anderes be­ schließt“, „die Wirtschaftspläne für die Nachrichtendienste“ (§ 10a Abs. 2 S. 3 BHO). Dem Vertrauensgremium obliegt damit auch die Kontrolle der Ausgaben hinsichtlich dieser Wirtschaftspläne. Es teilt die Abschlussbeträge der Wirtschafts­ pläne rechtzeitig dem Haushaltsausschuss mit (§ 10a Abs. 2 S. 4 BHO).

537

Das Vertrauensgremium stellt ein verkleinertes Abbild des Haushaltsausschusses dar; es darf nur aus Mitgliedern dieses Ausschusses bestehen (§ 10a Abs. 2 S. 1 BHO). Die Bildung des Gremiums zu Beginn der Wahlperiode kann daher erst nach Besetzung des Haushaltsausschusses erfolgen. Über die Zahl der Mitglieder entscheidet der Bundestag in jeder Wahlperiode neu (§ 10a Abs. 2 S. 1 BHO i. V. m. § 2 Abs. 1 u. Abs. 2 PKGrG). Unter Umständen sind im haushaltsrecht­ lichen Vertrauensgremium  – wie auch im Parlamentarischen Kontrollgremium (s. o. Rn. 533) – nicht alle Fraktionen vertreten.604

538

Haushaltsrechtliche und parlamentarisch-inhaltliche Kontrolle sind wechselseitig auf­ einander angewiesen. Daher ist die Zusammenarbeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums (s. o. Rn. 531 ff.) und des Vertrauensgremiums durch wechselseitige Mitwirkungsrechte ins­ 603

Zu Beginn der 19. Legislaturperiode konnte der von der AfD-Fraktion vorgeschlagene Kandidat nicht die erforderliche Mehrheit erzielen, sodass das Gremium für kurze Zeit mit nur acht statt wie ursprünglich vorgesehen neun Abgeordneten besetzt war, vgl. 19. Deutscher Bun­ destag, Stenografischer Bericht der 7. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2018, S. 530. Kurze Zeit später wurde der Kandidat im zweiten Anlauf gewählt, vgl. 19. Deutscher Bun­ destag, Stenografischer Bericht, 11. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2018, S. 816. 604 Zu Beginn der 19. Legislaturperiode konnte der von der AfD-Fraktion vorgeschlagene Kandidat in mehreren Anläufen nicht die erforderliche Mehrheit erzielen, vgl. 19. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 22. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 21. März 2018, S. 1870.

H. Organisation des Bundestags

217

titutionalisiert. Jeweils der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende sowie ein beauf­ tragtes Mitglied beider Gremien sind berechtigt, an den Sitzungen des jeweils anderen Gre­ miums teilzunehmen (§ 9 PKGrG, § 10a Abs. 1 S. 6 BHO).

cc)  Gremium zur Kreditfinanzierung des Bundes. Einzelfragen der Bundes­ schuld sind dem Gremium nach § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes605 (oft sog. Gremium zur Kreditfinanzierung des Bundes oder Bundesfinanzierungsgremium) anvertraut, das infolge der Neuregelung des Bundesschuldenwesens im Jahre 2006 das frühere Gremium nach § 4a des Bundeswertpapierverwaltungs­ gesetzes abgelöst hat.

539

Das Gremium wird über alle Fragen der Bundesschuld unterrichtet (§ 3 Abs. 2 S. 1 BSchuWG). Gegenstand ist insoweit weniger die in Bundeshaushalt und Fi­ nanzplan transparente Höhe der Staatsverschuldung, sondern die Art und Entwicklung der Finanzierungsinstrumente, die Struktur der Gläubiger und der Abschluss liquiditätssteuernder Rechtsgeschäfte. Diese Informationen sind legi­ timerweise geheim zu behandeln, weil ihr Bekanntwerden erhebliche nachteilige Folgen für die Finanzierungsfähigkeit und die Finanzierungsgeschäfte der Bun­ desrepublik Deutschland hätte. Es handelt sich gewissermaßen um „Geschäftsgeheimnisse“ des Staates.

540

Wie das Vertrauensgremium (s. o. Rn. 537) besteht auch das Bundesfinanzie­ rungsgremium allein aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses (§ 3 Abs. 1 S. 1 BSchuWG). Freilich sind gem. § 3 Abs. 2 S. 1 BSchuWG das Bundesministerium der Finanzen und der Bundesrechnungshof „ständig vertreten“. Die Zahl der Mit­ glieder des Bundesfinanzierungsgremiums legt der Bundestag zu Beginn der Wahlperiode fest.

541

Neben der parlamentarischen Kontrolle der Bundesschuld nach seinem Stamm­ gesetz, dem Bundesschuldenwesengesetz, nimmt das Bundesfinanzierungsgre­ mium weitere gesetzliche Aufgaben wahr: Es übt im Regelfall die parlamentarische Kontrolle von Beteiligungen des Bundes an privatrechtlichen Unternehmen aus (§ 69a Abs. 2 S. 1 BHO) und hat seit 2018 die Aufgaben des früheren Gremiums zum Finanzmarktstabilisierungsfonds (Kontrolle hinsichtlich des Finanzmarktstabilisierungsfonds und des Restrukturierungsfonds) inne (§ 10a Abs. 2, Abs. 3 FMStFG, § 16 RStruktFG).

542

Von 2008 bis 2017 wurden die Kontrollaufgaben hinsichtlich des Finanzmarktstabili­ sierungsfonds und des Restrukturierungsfonds durch ein eigenständiges Gremium, das frü­ here Gremium zum Finanzmarktstabilisierungsfonds gem. § 10a Abs. 1 FMStFG wahrge­ nommen.

543

dd)  „Sondergremium“ zum europäischen Stabilisierungsmechanismus. Ein weiteres Gremium der parlamentarischen Kontrolle stellt das „Sondergremium“ gemäß § 3 Abs. 3 StabMechG dar. Das Sondergremium besteht aus zu Beginn der

544

605

Art. 1 G. v. 12.7.2006, BGBl. I 1466.

218

§ 2 Bundestag

Legislaturperiode gewählten Abgeordneten des Bundestags, die zugleich Mitglie­ der des Haushaltsausschusses sein müssen (§ 3 Abs. 3 S. 2 StabMechG). 545

Beim Aufkauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt in Angelegenheiten der Finanzstabilisierung in der Eurozone (‚Euro-Rettung‘) kann ein besonderes Interesse an Ver­ traulichkeit gegeben sein (vgl. § 3 Abs. 3 S. 1 StabMechG). Vertraulichkeit ist unter Umständen eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die mit den Aufkäufen verfolgten finanzpolitischen Zwe­ cke und angestrebten Wirkungen. Macht die Bundesregierung die besondere Vertraulichkeit einer solchen Angelegenheit geltend, so werden die Beteiligungsrechte des Bundestags durch das Sondergremium wahrgenommen (§ 3 Abs. 3 S. 2 StabMechG).

546

Die Übertragung von Kontrollbefugnissen auf das Sondergremium steht in Konflikt mit der Repräsentationsfunktion des Bundestags in seiner Gesamtheit und seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung sowie mit dem freien Mandat der ausgeschlossenen Abgeordneten.606 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte 2012 fest, dass die ursprüngliche Aus­ gestaltung der Befugnisse und Arbeitsweise des Sondergremiums mit Art. 38 Abs. S. 2 GG unvereinbar war: Nach der ursprünglichen Fassung von § 3 Abs. 3 StabMechG war das Son­ dergremium nicht nur im Fall von Ankäufen von Staatsanleihen, sondern auch bei weiteren Maßnahmen zur Finanzstabilisierung, die nicht in gleicher Weise auf Vertraulichkeit ange­ wiesen sind, an die Stelle des Plenums getreten.607 Der Bundesgesetzgeber fasste § 3 Abs. 3 StabMechG daraufhin gegenständlich und verfahrensmäßig enger.

d) Gremien parlamentarischer rechtsstaatlicher Kontrolle 547

Zu den Gremien, die der parlamentarischen rechtsstaatlichen Kontrolle die­ nen (s. o. Rn. 529), gehören: erstens das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 S. 2 GG (s. u. Rn. 548) sowie – zweitens – das Gremium nach § 23c Abs. 8 Zollfahndungs­ dienstgesetz (s. u. Rn. 549 f.). Hinzu kommt – drittens – die G10-Kommission (s. u. Rn. 551 ff.). Diesen Gremien ist gemein, dass sie über die Einschränkungen bestimmter Grundrechte durch regelmäßige Berichte der Bundesregierung unter­ richtet werden und aufgrund dieser Berichte Kontrolle über die Behördenpraxis an nach Art und Intensität der Grundrechtseinschränkung rechtsstaatlich neural­ gischen Punkten ausüben können.

548

aa) Gremium nach Art. 13 Abs. 6 S. 2 GG. Das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 S. 2 GG kontrolliert die Anwendung von Maßnahmen der Wohnraumüberwachung (v. a. große Lauschangriffe nach Art. 13 Abs. 3 GG sowie bundesbehörd­ lich durchgeführte präventive Lausch- und Spähangriffe nach Art. 13 Abs. 4 GG). Das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 S. 2 GG ist das einzige grundgesetzunmittelbar bestimmte Bundestagsgremium parlamentarischer rechtsstaatlicher Kontrolle.608 606

BVerfGE 130, 318 – Stabilisierungsmechanismusgesetz. BVerfGE 130, 318 – Stabilisierungsmechanismusgesetz. 608 Das Gremium nach Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG, § 1 Abs. 2 G 10 ist verfassungsrechtlich ermög­ licht, aber nicht vorgeschrieben. Das – ausdrücklich grundgesetzlich vorgesehene – Parlamen­ tarische Kontrollgremium nach Art. 45d GG wird vorliegend als Gremium parlamentarischer Kontrolle geführt. 607

H. Organisation des Bundestags

219

bb) Gremium nach § 23c Abs. 8 ZFdG. Das Gremium nach § 23c Abs. 8 ZFdG wacht über die Maßnahmen der Telekommunikations-, Brief- und Postüber­ wachung im Zuständigkeitsbereich der Behörden des Zollkriminalamts.

549

Die Kontrollfunktion beider Gremien erstreckt sich nicht auf die nachträgliche Rechtmä­ ßigkeitskontrolle einer bestimmten Maßnahme im Einzelfall; die Gremien haben damit weder Gerichtsfunktion noch einen rechtswegersetzenden Charakter.609 Es greift aber gleichwohl zu kurz, wenn im Schrifttum ein rein politischer Charakter der Kontrolle behauptet wird.610 Auch entgegen der Gesetzesbegründung zu Art. 13 Abs. 6 GG zielen die Gremien nicht allein auf „Normeffizienz“.611 Denn die Einrichtung einer zusätzlichen parlamentarischen Kontroll­ instanz ist dem Umstand geschuldet, dass bei Eingriffen der Telefon- bzw. Wohnraumüber­ wachung ein vorheriger Rechtsschutz nicht zu erlangen ist, der nachträgliche Rechtsschutz aber unvollkommen bleiben muss, weil der Eingriff einmal schon geschehen ist und weil der Betroffene von dem erfolgten heimlichen Eingriff nicht in jedem Fall benachrichtigt wird (vgl. § 101 Abs. 4 S. 3 ff., Abs. 5  u. Abs. 6 StPO) und auch im Falle der Unterrichtung der Grundrechtseingriff jedenfalls nicht mehr ungeschehen zu machen ist. Die parlamentarischen Gremien sollen nicht den Rechtsschutz im Einzelfall ersetzen, wohl aber das Fehlen der – zu einem verhältnismäßigen Einsatz der Eingriffsmittel disziplinierenden  – Wirkung einer wirkkräftigen Rechtsschutzmöglichkeit kompensieren, um so den verhältnismäßigen Einsatz der Eingriffsmittel zu gewährleisten. Es handelt sich daher insgesamt um eine auch rechts­ staatliche Kontrolle durch parlamentarische Gremien. Dass die Kontrolle daneben auch eine politische Funktion aufweist, ist einem parlamentarischen Gremium wesenseigen.

550

cc) G 10-Kommission. Einen Sonderstatus unter den dem Bundestag angeglie­ derten besonderen Organen nimmt die so genannte G 10-Kommission ein, die der Gesetzgeber mit Bedacht als „Kommission“, nicht als Gremium bezeichnet hat.612 Dem aufgrund des Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG erlassenen Art. 10-Gesetzes verdankt die G 10-Kommission ihren Namen. Obschon den Gremien rechtsstaatlicher Kon­ trolle nicht unverwandt, unterscheidet sich die G 10-Kommission von diesen nach Funktion und Zusammensetzung.

551

Die Kommission hat keine parlamentarische Funktion, sondern dient der offenen Rechtsschutzsubstitution. Ihre Mitglieder müssen selbst nicht Mitglied des Bundestags sein. Sie werden vom Parlamentarischen Kontrollgremium (s. o. Rn. 531) nach Anhörung der Bundesregierung für die Dauer einer Wahlperiode des Deutschen Bundestags mit der Maßgabe bestellt, dass ihre Amtszeit erst mit der Neubestimmung der Mitglieder der Kommission, spätestens jedoch drei Monate nach Ablauf der Wahlperiode endet (§ 15 Abs. 1 S. 4 G 10). Die Zahl der Mitglie­ der ist gesetzlich auf acht festgelegt (§ 15 Abs. 1 S. 1 G 10): Dazu zählen der Vor­ sitzende, der als einziger die Befähigung zum Richteramt aufweisen muss, sowie

552

609 Richtig Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 13, Rn. 113, (Lfg. 71, März 2014); Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 13, Rn. 102; J. Meyer / Hetzer, NJW 1998, 1017 (1025). 610 So etwa Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 13, Rn. 102. 611 BT-Drucks. 13/8650, S. 5 f., zust. Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 13, Rn. 113, (Lfg. 71, März 2014). 612 BT-Drs. 16/12412, S. 5.

220

§ 2 Bundestag

drei Beisitzer und vier Stellvertreter. In der 16. Wahlperiode waren nur zwei Bei­ sitzer der Kommission Abgeordnete, in der 19. Wahlperiode war gar kein Mitglied der Kommission aktueller Abgeordneter. 553

Bei der G 10-Kommission handelt sich nicht um einen besonderen Ausschuss des Bundestags, sondern um ein Hilfsorgan des Parlaments (s. § 1 Rn. 43). Die Einordnung als ‚Hilfsorgan‘ soll nicht verkennen, dass den Mitgliedern der Kom­ mission Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit zugesichert werden (§ 15 Abs. 1 S. 3 G 10). Der Bundestag tritt nicht selbst als Kontrollorgan auf. Er vermittelt le­ diglich – indirekt über das Parlamentarische Kontrollgremium – die Legitimation für die Wahrnehmung der Kontrolle durch die G 10-Kommission.613 Fraglich ist, inwieweit die Maßstäbe parlamentarischer Besetzung (proportionale Zuteilung der Vorschlagsrechte für die Kommissionsmitglieder zu den Fraktionen) für die­ ses Hilfsorgan gelten bzw. – angesichts seiner geringen gesetzlichen Mitglieder­ zahl – überhaupt gelten können.

554

Die G  10-Kommission beruht  – wie erwähnt  – auf dem im Rahmen der so­ genannten Notstandsgesetze eingefügten Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG, der dem Ge­ setzesvorbehalt des Satzes 1 zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen eine besondere Rechtsschutzbestimmung an die Seite stellt.614 Hiernach kann ein Gesetz, welches zu Beschränkungen der in Art. 10 Abs. 1 GG geschützten Kom­ munikationsfreiheiten ermächtigt, zugleich vorsehen, dass in Fällen einer qua­ lifizierten Gefahrenlage einerseits diese Beschränkung dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird, andererseits an die Stelle des Rechtswegs eine Überprüfung durch parlamentarisch bestellte Organe und Hilfsorgane tritt. Darin liegt eine grundgesetzliche Sonderzuweisung des Rechtsschutzes an den Bundestag für den Bundesbereich und an die Landtage für den Bereich der Länder. Die erforderliche Gefahrenlage ist gegeben, wenn die Beschränkung dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bzw. des Bestandes oder der Sicherung des Bun­ des oder eines Landes dient.

555

Der Gesetzesvorbehalt des Art. 10 Abs. 2 S. 1, S. 2 GG ist durch das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10-Gesetz – G 10) genutzt wor­ den.615 Das G 10 erlaubt den mit dem nachrichtendienstlichen Staatsschutz betrauten Behörden, dem Militärischen Abschirmdienst und dem Bundesnachrichtendienst sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz und den Landesämtern für Verfassungsschutz, die Überwachung der Telekommunikation in der von Art. 10 GG vorgegebenen Gefahrenlage, die – so stellt es das Gesetz klar – auch die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Trup­ pen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrags mitumfasst (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 613

Hufeld, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 56, Rn. 61. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 1 f., 82 f.; ders., Verfassungs­ recht, Bd. II, 2010, § 65, Rn. 36 f. 615 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (BGBl. 1968 I, S. 949), grundl. novelliert durch das Gesetz zur Neuregelung der Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses v. 26.6.2001 (BGBl.  I, S. 1254, ber. 2298), zul. geänd. d. Art. 12 d. G. v. 17.8.2017 (BGBl. I, S. 3202). 614

H. Organisation des Bundestags

221

G 10). Nach der gesetzlichen Konkretisierung erfasst die mögliche Gefahrenlage vor allem die Gefahr der Verwirklichung staatsschutzspezifischer Straftatbestände sowie einiger schwerwiegender sonstiger Delikte, sofern sie gegen Staatsschutzinteressen gerichtet sind (vgl. den Katalog in § 3 Abs. 1 G 10). Der Bundesnachrichtendienst wird außerdem in bestimmten weiteren Fällen der Kriegs- oder Terrorismusgefahr, schwerwiegender internationaler Kriminalität und bei bestimmten Personengefährdungen im Ausland zu einer strategischen Fernmeldekontrolle ermächtigt, einer sog. verdachtlosen Rasterfahndung (vgl. den Katalog in § 5 Abs. 1 sowie § 8 Abs. 1 G 10).616 Diesen weitgehenden Beschränkungsrechten steht eine enge Benachrichtigungspflicht und damit ein weitgehender Rechtswegausschluss gegenüber: Beschränkungsmaßnahmen sind dem Betroffenen nur und erst mitzuteilen, wenn eine Gefähr­ dung des Zwecks der Beschränkung ausgeschlossen werden kann (§ 12 G 10). Auch wenn der Betroffene anderweitig von der erfolgten Maßnahme erfährt, bleibt ihm jedoch der Rechtsweg solange verschlossen, bis er von der Maßnahme benachrichtigt worden ist. Der Rechtsweg ist damit nicht nur faktisch, sondern auch gesetzlich ausgeschlossen (§ 13 G 10). Problematisch ist dies vor allem im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG617.

Hinsichtlich der grundgesetzlich angeordneten parlamentarischen (und teil­ weise zugleich rechtsstaatlichen) Kontrolle besteht nach dem G 10 eine Arbeitsteilung zwischen dem Parlamentarischen Kontrollgremium einerseits und der G 10-Kom­mis­sion andererseits:618

556

Das Parlamentarische Kontrollgremium (s. o. Rn. 531 ff.) gehört – wie erwähnt – zu den Gremien parlamentarischer Kontrolle (s. o. Rn. 528). Es hat – wie auch bei der sonstigen Kon­ trolle der Nachrichtendienste – die Zuständigkeit für die abstrakt-generelle Kontrolle ex post inne, die es durch die Entgegennahme von Berichten der Dienste an das Gremium und die Erstattung von eigenen Berichten an den Bundestag wahrnimmt; für die Maßnahmen strategischer Überwachung des Bundesnachrichtendienstes obliegen ihm auch Zustimmungsvorbehalte ex ante (§ 5 Abs. 1 S. 2, § 8 Abs. 2 G 10; beachte jedoch die Klausel zur „Gefahr im Verzug“ in § 14 Abs. 2 G 10).

557

Der G 10-Kommission kommen grundsätzlich ex ante-Informationsansprüche bei Be­ schränkungsmaßnahmen nach dem G 10 zu: Gemäß § 15 Abs. 6 S. 1 G 10 unterrichtet das zu­ ständige Bundesministerium monatlich die G 10-Kommission über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen vor deren Vollzug. Anordnungen, welche die Kommission für un­ zulässig oder nicht notwendig erklärt, hat das zuständige Bundesministerium unverzüglich aufzuheben (§ 15 Abs. 6 S. 6 G 10). Bei Gefahr im Verzug wird die Kontrolltätigkeit auf eine ex post-Kontrolle umgestellt (vgl. § 15 Abs. 6 S. 2 bis S. 5 G 10).

558

Einzelheiten der Kontrollbefugnisse der G 10-Kommission ergeben sich aus § 15 Abs. 5 G 10: Der Umstand der Nichtbenachrichtigung der Betroffenen und des gesetzlichen Rechts­ wegausschlusses soll dadurch kompensiert werden, dass die G 10-Kommission nicht nur auf Antrag hin, sondern bereits von Amts wegen über die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Maßnahmen entscheidet (vgl. § 15 Abs. 5 S. 1 G 10). Dies entspricht der richterlichen Tätigkeit im Verfahren nach §§ 100a, 100b StPO.619 Nach einem klarstellenden Hinweis des

559

616

Dazu Schafranek, DÖV 2002, 846. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 65, Rn. 36. 618 Näher Huber, NJW 2001, 3296 (3301). 619 Huber, NJW 2001, 3296 (3301). 617

222

§ 2 Bundestag

Bundesverfassungsgerichts bestimmt nunmehr § 15 Abs. 5 S. 2 G 10,620 dass sich die Kontroll­ befugnis der Kommission auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der erlangten personenbezogenen Daten einschließlich der Entscheidung über die Mitteilung an Betroffene richtet. Zur Ermittlung besitzen die Mitglieder und ihre Mitarbeiter umfassende Informations-, Einsichts- und Zutrittsrechte. Daneben entscheidet die G 10-Kommission über das dauerhafte Entfallen der Benachrichtigungspflicht hinsichtlich einer bestimmten Beschränkungsmaß­ nahme (§ 12 Abs. 1 S. 5 G  10): Eine solche Entscheidung kann frühestens fünf Jahre nach Vollzug der Maßnahme und nur einstimmig durch die Kommission erfolgen, sofern im Falle einer Benachrichtigung der Zweck der Beschränkung weiterhin gefährdet würde. Da mit dieser Entscheidung dem Betroffenen grundsätzlich auch der Rechtsweg auf Dauer versperrt bleibt, beschließt die Kommission folglich über die endgültige Substituierung des subjektiven Be­ troffenenrechtsschutzes durch ihre eigene objektive Nachkontrolle.

560

Die Tätigkeit der G 10-Kommission hat zwar auch administrative und parlamentarische Fa­ cetten,621 im Kern jedoch quasi-judikativen Charakter. Die Kontrolle der Kommission soll der „gerichtlichen Kontrolle gleichwertig“622 sein. Folgerichtig sind die Mitglieder der Kommission in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen (§ 15 Abs. 1 S. 3 G 10).

561

Gegen die Einrichtung der G 10-Kommission werden erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht.623 Der Grundeinwand – die Verfassungswidrigkeit von Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG – ist allerdings vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen worden.624 Unter Ge­ sichtspunkten der Gewaltengliederung ist freilich die durch die Kommission forcierte Entdifferenzierung von legislativer und judikativer Tätigkeit kaum zu rechtfertigen, als die Anforderungen an die Ausbildung der Kommissionsmitglieder für die Wahrnehmung judika­ tiver Tätigkeit unangemessen gering sind (gem. § 15 Abs. 1 S. 1 G 10 muss lediglich der Vor­ sitzende die Befähigung zum Richteramt besitzen).

e) Errichtung und Besetzung von Gremien 562

Für einige Kontrollorgane ist die Mitgliederzahl gesetzlich vorgeschrieben (vgl. etwa die acht Mitglieder der G 10-Kommission gem. § 15 Abs. 1 S. 1 G 10 – s. o. Rn. 552). Bei anderen Kontrollorganen kann der Bundestag wegen seiner Geschäftsordnungsautonomie die Mitgliederzahl der Gremien mit ihrer Errichtung jeweils zu Beginn der Legislaturperiode hingegen frei festlegen (so beispielsweise beim Parlamentarischen Kontrollgremium, vgl. § 2 Abs. 2 PKGrG). Insoweit ist der Bundestag nur hinsichtlich des „Ob“, nicht aber des „Wie“ der Er­ richtung gebunden. Durch diese Flexibilität bezüglich der Mitgliederzahl kann der Bundes­ tag auf seine eigene parteipolitische Zusammensetzung Rücksicht nehmen. Dies kann freilich auch dazu genutzt werden, die Mitgliederzahl so zu bestimmen, dass kleinere Fraktionen an der Teilnahme an dem Ausschuss gehindert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat eine solche Praxis in einem Fall gebilligt.625 620

BVerfGE 100, 313 (401) – Telekommunikationsüberwachung I. Vgl. Hufeld, in: Isensee / K irchhof, HdbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 56, Rn. 60. 622 BVerfGE 30, 1 (23 f.) – Abhörurteil I. 623 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 10, Rn. 87; vgl. auch Kloepfer, Verfassungs­ recht, Bd. II, 2010, § 65, Rn. 38 ff. 624 BVerfGE 30, 1 (26). 625 BVerfGE 70, 324 (366) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 621

H. Organisation des Bundestags

223

Allerdings ist das Errichtungsermessen des Bundestags – also faktisch das der jeweili­ gen Bundestagsmehrheit – durch die Statusrechte der Abgeordneten begrenzt. Zwar findet der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Plenum und Ausschüssen, wie er etwa in Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG für den Gemeinsamen Ausschuss und in § 12 GOBT für den Ältestenrat und die sonstigen Ausschüsse normiert ist, aufgrund der spezialgesetzlichen Regelung keine un­ mittelbare Anwendung. Gleichwohl scheidet eine Verletzung der Statusrechte nicht bereits deshalb aus, weil jeder Abgeordnete (rechtlich betrachtet) die gleiche Chance hat, vom Plenum in ein Gremium parlamentarischer Kontrolle gewählt zu werden. Vielmehr sind die Status­ rechte der Abgeordneten nur gewahrt, wenn der Bundestag das Gremium so einrichtet, dass nach seiner Zusammensetzung zu Beginn der Legislaturperiode jede Fraktion bei anteiliger Zuteilung jeweils wenigstens ein Mitglied stellen kann, solange das mit den durch die Gre­ mienerrichtung beabsichtigte Zwecke, insbesondere der Geheimhaltung, vereinbar ist. Unter den Bedingungen eines Fünf- oder Sechs-Fraktionen-Parlaments wird dies eher möglich sein als bei dem Szenario eines Parlaments vieler kleinerer Fraktionen. Ein Einrichtungsermessen ist dem Bundestag eingeräumt, um den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit und die Notwendig­ keit einer kleinen Gremiengröße zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Modellcharak­ ter kommt insoweit der Besetzungsvorschrift für das Sondergremium nach dem StabMechG (hierzu oben Rn. 544 ff.) zu: Gem. § 3 Abs. 3 S. 3 StabMechG ist die „Anzahl der Mitglieder und eine gleich große Anzahl von Stellvertretern […] die kleinstmögliche, bei der jede Frak­ tion zumindest ein Mitglied benennen kann, die Mehrheitsverhältnisse gewahrt werden und bei der die Zusammensetzung des Plenums widergespiegelt wird“.

563

f) Verfassungspolitische Bedenken Beide Spielarten der Gremien (parlamentarische politische und parlamentarische rechts­ staatliche Kontrolle) werfen verschiedene verfassungsrechtliche Fragen auf: Für die Gremien parlamentarischer politischer Kontrolle ist problematisch, inwieweit eine Kontrolle durch einige wenige Abgeordnete zudem unter den Vorzeichen der Geheimhaltung der grundgesetz­ lich geforderten parlamentarischen Kontrolldichte – insbesondere auch der Kontrolle durch Herstellung von Öffentlichkeit – gerecht werden kann. Denn der Bundestag verhandelt öf­ fentlich (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG). Die Bedenken, die sich bereits gegen die Nicht-Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen richten (s. Rn. 134 f.), gelten für die Gremienerrichtung umso mehr. In der Errichtung besonderer Geheimgremien artikuliert sich auch ein Misstrauen gegenüber der Verantwortungsfähigkeit der Abgeordneten, das präkonstitutionelle Züge trägt. Die Effektivi­ tät der Gremienkontrolle wird durch die geringe Zahl der Gremienmitglieder, die zu der Kom­ plexität der den Gremien aufgetragenen Kontrollgegenstände in deutlichem Missverhältnis steht, und auch dadurch vermindert, dass den Oppositionsfraktionen ob der Geheimhaltungs­ bedürftigkeit der Sachverhalte keine politischen Mittel zu Gebote stehen, ihre Informations­ rechte auch gegenüber einer informationsunwilligen Bundesregierung durchzusetzen. Daher ist der Errichtung arkaner Gremien in Kernbereichen parlamentarischen Kontrollrechts zumindest mit Skepsis zu begegnen. Eine Verfassungswidrigkeit der Errichtung jedes einzel­ nen Gremiums könnte sich auf Dauer jedenfalls auch aufgrund des kumulativen Kontrollent­ zugs durch die Errichtung übermäßig vieler Gremien ergeben.

564

Bei den Gremien parlamentarischer rechtsstaatlicher Kontrolle ist das Öffentlichkeitsgebot ebenfalls, aber nicht in gleicher Weise betroffen. Ausnahmen von der Öffentlichkeit sind dort eher hinzunehmen, wo der Bundestag Aufgaben wahrnimmt, die außerhalb des Kernbe­

565

224

§ 2 Bundestag

reichs der parlamentarischen Kontrolle liegen. Zudem ist die Gewaltengliederung berührt: Durch die Bildung solcher Gremien werden dem Bundestag tendenziell legislativfremde  – nämlich quasi-judikative  – Aufgaben übertragen (s. o. Rn. 560). Auch eine Verunklarung der funktionalen Organdifferenzierung berührt die Organrechte selbst. Da aber zugleich ein parlamentarischer Kontrollaspekt der Arbeit der Gremien rechtsstaatlicher Kontrolle nicht zu leugnen ist, muss die Einrichtung auch dieser Gremien – wenngleich nicht unbegrenzt – hin­ genommen werden.

4. Beiräte a) Allgemeines 566

Eine begrenzte – und wohl tendenziell weiter abnehmende – Bedeutung für das Verfassungsorgan Bundestag (aber auch für die Landtage) haben parlamentarische Beiräte. Allen parlamentarischen Beiräten (i. w. S.) ist eigentümlich, dass es sich um Beratungs-, nicht um Entscheidungsgremien handelt, die zu den von ihrem Auf­ trag umfassten Themen folgerichtig allenfalls Empfehlungen aussprechen können.

567

Den Titel der „parlamentarischen Beiräte“ tragen indessen verschiedene förmliche Spielarten beratender Gremien: Beiräte des Parlaments selbst (parlamen­ tarische Beiräte i. e. S.; s. u.  Rn.  568 ff.) und Beiräte mit Parlamentsbeteiligung (Rn. 574 ff.), Beiräte einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (insbeson­ dere Stiftung), die kraft Gesetzes aus Parlamentariern zu bestehen haben (Rn. 572) und gar Beiräte einer juristischen Person des Privatrechts, die keine Hilfsorgane des Parlaments sind (Rn. 573). b) Parlamentarische Beiräte i. e. S.

568

Parlamentarische Beiräte dienen dem Bundestag als Beratungsorgane ohne Beschlusskompetenz, wodurch sie Sonderausschüssen (s. o. Rn. 513) und EnquêteKommissionen (s. o. Rn. 518 ff.) ähneln: Anders als (Sonder-)Ausschüsse sind par­ lamentarische Beiräte nicht unmittelbar in die Gesetzesberatung einbezogen und haben auch keine Kontrollbefugnisse gegenüber der Bundesregierung. Anders als Enquête-Kommissionen, die grundsätzlich während eines Zeitraums von höchstens einer Legislaturperiode ein Thema unter einer bestimmten Fragestellung möglichst abschließend behandeln und Antworten in Form eines Abschlussberichts geben sollen (s. o. Rn. 524), ist ein Beirat regelmäßig als ständiges Organ angelegt, das in den Modalitäten seiner Arbeit frei ist. Auch parlamentarische Beiräte müssen freilich für jede Legislaturperiode neu beschlossen werden, falls sie wahlperioden­ übergreifend arbeiten sollen, es sei denn sie werden parlamentsgesetzlich dauerhaft eingerichtet. Regelungen des Geschäftsordnungsrechts bestehen insoweit nicht. Der Versuchung, Beiräte zur Umgehung des komplizierten prozeduralen Arrange­ ments an Stelle von Enquête-Kommissionen einzusetzen, ist der Bundestag jedoch

H. Organisation des Bundestags

225

bisher im Wesentlichen nicht erlegen. Anders als die die Bundesregierung bera­ tenden Beiräte (s. dazu § 7 Rn. 290 ff.) bestehen parlamentarische Beiräte i. e. S. ausschließlich aus Parlamentariern. Als parlamentarisches Komplementärorgan zum Rat für nachhaltige Entwicklung der Bun­ desregierung (s. dazu § 7 Rn. 295) ist der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung (PBnE) konzipiert worden. Erstmals wurde er im Jahr 2004 vom Bundestag auf gemeinsamen Antrag der rot-grünen Koalitionsfraktionen und der Oppositionsfraktion FDP hin eingesetzt.626 Ihm ist es aufgegeben, „Anwalt langfristiger Verantwortung im politischen Geschehen [zu] sein und Politik für kommende Generationen [zu] strukturieren“.627 Der Nachhaltigkeitsbeirat gibt deshalb Empfehlungen und pflegt Beratungen auch mit anderen Parlamenten. Der Beirat wurde in den auf die 15. Wahlperiode folgenden Wahlperioden jeweils (wieder-)eingesetzt; dabei gab es Änderungen hinsichtlich der festgesetzten Mitgliederzahl.

569

Von 2007 bis 2009 bestand während der 16. Wahlperiode der Parlamentarische Beirat zu Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissenschaften (Ethikbeirat) des Deutschen Bundestags.628 Seine Aufgabe lag vor allem in der parlamentarischen Begleitung des Deut­ schen Ethikrats.

570

Im Einzelfall können auch Unterausschüsse ordentlicher Bundestagsausschüsse den Cha­ rakter eines Parlamentarischen Beirats haben. Typisch ist hierfür die seit 1988 bestehende „Kommission zur Wahrung der Belange der Kinder“ (Kinderkommission), die dem Bundes­ tagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnet ist und aus einem Teil der Ausschussmitglieder besteht. Die Empfehlungen und Stellungnahmen dieses „weltweit beachteten Pilotprojekts“629 richten sich an die Gesamtheit des Parlaments und die Öffent­ lichkeit. Die Kommission gibt sich außerdem für jede Legislaturperiode ein eigenständiges Arbeitsprogramm; Gesetzgebungsbefugnisse hat sie nicht. Es handelt sich um einen Beirat im formellen Gewande eines Unterausschusses, der durch die Zuordnung zu einem Ausschuss in seiner Autonomie und Arbeitsfähigkeit begrenzt wird.

571

c) Sonstige parlamentarische Beiräte Als interparlamentarischer Beirat ist der Parlamentarische Beirat der Stiftung für das Sorbische Volk zu qualifizieren, der aus je zwei ordentlichen und stellvertretenden Mitglie­ dern des Deutschen Bundestags, des Sächsischen Landtags und des Brandenburgischen Land­ tags besteht.630

572

Nur vereinzelt finden sich unechte parlamentarische Beiräte, die Vereinen oder zivilrechtliche Stiftungen außerhalb des Parlaments zugehören und die eine einem Kuratorium vergleichbare Funktion haben. Solche Beiräte bestehen zwar ebenfalls nur aus Parlamenta­

573

626

BT-Drs. 15/2441. BT-Drs. 16/1131, S. 1. 628 BT-Drs. 16/5128. 629 So bilanzierend Schmidt, RdJB 1993, 462 ff. 630 Vgl. Art. 9 des Staatsvertrags zwischen dem Land Brandenburg und dem Freistaat Sachsen über die Errichtung der „Stiftung für das Sorbische Volk“ vom 28. August 1998, SächsGVBl., 629 bzw. BbgGVBl. I, 220. 627

226

§ 2 Bundestag

riern, sind jedoch keine Organe oder Hilfsorgane des Parlaments, sondern der jeweiligen par­ lamentsfremden juristischen Person. Sie sind titularisch fragwürdig, wenn nicht irreführend, und verfassungsrechtlich insoweit ohne Belang. Ein Beispiel ist der Parlamentarische Beirat der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung.

d) Beiräte unter Parlamentsbeteiligung 574

Keine parlamentarischen Beiräte i. e. S. sind Beiräte, die nicht allein aus Abgeordneten einer Volksvertretung bestehen. Es handelt sich dabei um bloße Bei­ räte unter Parlamentsbeteiligung. Der Bundestag selbst verfügt über solche Beiräte nicht. Allerdings bestehen im Zuordnungsbereich der Bundesregierung einige Beiräte, denen kraft Gesetzes zu einem jeweils bestimmten Teil Mitglieder des Bundestags angehören:

575

Der Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn besteht aus jeweils 16 Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats (§ 5 Abs. 1 BNetzAG). Der Beirat hat diverse, ihm durch Spezialgesetze verliehene Mitwir­ kungs- und Auskunftsrechte, auch bei der Bestellung der Präsidenten und Vizepräsidenten der Bundesnetzagentur.631

576

Der Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesministerium der Finanzen (sog. Programmbeirat) und der Beirat für die grafische Gestaltung der Sonderpostwertzeichen beim Bundesministerium der Finanzen (sog. Kunstbei­ rat) sind ausschließlich mit Fragen der Auswahl der Themen und der gestalterischen Umset­ zung von Sonderbriefmarken befasst. Die Beiräte bestehen u. a. aus Vertretern des zuständigen Bundesministeriums der Finanzen, des Bundestags, der Deutschen Post sowie philatelistischer und anderer Verbände, im Falle des Kunstbeirats außerdem auch aus Hochschulprofessoren.

577

Ebenfalls keinen parlamentarischen Beirat i. e. S., sondern einen Beirat unter Parlaments­ beteiligung bildet schließlich der Beirat beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, von dessen 17 Mitgliedern acht durch den Deutschen Bundestag gewählt, neun von den im Gebiet der ehemaligen DDR liegenden („neuen“) Bundesländer einschließ­ lich Berlin nach einem von diesen ausgehandelten Schlüssel632 benannt werden (§ 39 Abs. 1 StUG in der bis zum 16.06.2021 geltenden Fassung). Die vom Bundestag entsandten Mitglie­ der können, müssen aber nicht Abgeordnete des Bundestags sein. Der Bundestag wird daher insoweit zuvörderst als Kreationsorgan tätig. Es ist allerdings zu gewährleisten, dass – sofern möglich – alle im Bundestag vertretenen Fraktionen an der Beiratsarbeit beteiligt werden.633 Der Beirat soll insbesondere – nicht zuletzt symbolisch – die von der Aufarbeitung der Tätig­ keit des Staatssicherheitsdienstes besonders betroffenen Bundesländer beratend beteiligen; die 631 Die Befugnisse finden sich in § 3 Abs. 3 Gesetz über die Bundesnetzagentur für Elektri­ zität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, § 60 EnWG, § 120 Nr. 2–6 TKG, § 46 Abs. 2 PostG. 632 Die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erhalten jeweils zwei Mitglieder, die übrigen Länder je eines, vgl. Pietrkiewicz / Burth, in: Geiger / K linghardt, Stasi-UnterlagenGesetz, 2. Aufl. 2006, § 39, Rn. 3. 633 Pietrkiewicz / Burth, in: Geiger / K linghardt, Stasi-Unterlagen-Gesetz, 2. Aufl. 2006, § 39, Rn. 4.

H. Organisation des Bundestags

227

Einbeziehung der Bundestagsabgeordneten unterstreicht das besondere Gewicht der Aufgabe. Neben dem StUG-Beirat gibt es gemäß § 39a StUG a. F. ein neunköpfiges wissenschaftliches Beratungsgremium. Ende 2020 hat der Bundesgesetzgeber das StUG novelliert; zur Begleitung des Transformationsprozesses des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv wird künftig nach § 39 StUG n .F. ein Beratungsgremium gebildet.

5. Kuratorien und Verwaltungsräte Der Deutsche Bundestag wählt und benennt außerdem Mitglieder für zahlreiche weitere Kuratorien, Stiftungs- und Verwaltungsräte juristischer Personen zumeist des öffentlichen Rechts bzw. jedenfalls eines öffentlichen Zwecks, der kultureller, wissenschaftlicher oder staatspolitischer Natur ist.

578

Nur ausnahmsweise bestehen solche Kuratorien ausschließlich aus Abgeordneten. Bei­ spielhaft ist insoweit die Bundeszentrale für politische Bildung, die von einem aus 22 Bun­ destagsabgeordneten bestehenden Kuratorium kontrolliert wird.634 Auch der oben angespro­ chene  – als unechter parlamentarischer Beirat qualifizierte  – Parlamentarische Beirat der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (s. o. Rn. 573) kann der Sache nach hierzu gezählt werden (ist aber eben titularisch als „Beirat“ benannt und wird daher oben behandelt).

579

Regelmäßig sind die Gremien und die Verwaltungsräte jedoch gemischt besetzt; der Bun­ destag kann insoweit nur einen Teil der Mitglieder benennen. Zu den Gremien zählen die Stiftungsräte der Kulturstiftung des Bundes, der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Deutschen Stiftung Friedensforschung sowie der Stiftung CAESAR (Center of Advanced European Studies and Research), der Rundfunkrat der Deutschen Welle, der Verwaltungsrat der Deutschen Welle, der Filmförderungsanstalt und der Bundesanstalt für Finanzdienstleis­ tungsaufsicht, die Kuratorien der Gesellschaft „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialfor­ schung“, der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und der Stiftung „Archiv der Parteien und Massenorganisa­ tionen der DDR“ sowie der Senat der Helmholtz-Gemeinschaft.635

580

Grundsätzlich ist die Mitgliedschaft in einem dieser Gremien nicht an die Ausübung einer bestimmten parlamentarischen Funktion gebunden. Jedoch bestimmt die Satzung des Ver­ eins Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit, dass der Vorsitzende des Haushalts- sowie des Rechtsausschusses des Bundestags diesem Kuratorium angehören; das Recht, eine Vertretung zu benennen, obliegt allein diesen. Der Bundestagspräsident soll stets Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sein (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Ju­ den Europas“636).

581

Die wuchernde Zahl institutionalisierter Beteiligungen des Bundestags und seiner Abge­ ordneten in Kontroll-, Aufsichts- und Mitwirkungsgremien parlamentsfremder juristischer

582

634 § 6 Abs. 1 des Erlasses über die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) des Bundes­ ministers des Innern v. 24.01.2001, GMBl., S. 270. 635 Vgl. das Amtliche Handbuch des Deutschen Bundestags, 16. Wahlperiode, Stand: Februar 2009. 636 G. v. 17.03.2000, BGBl. I S. 212, zul. geänd. durch G. v. 29.03.2017, BGBl. I S. 626.

228

§ 2 Bundestag

Personen zeugt einerseits von der legitimationsvermittelnden Wirkung parlamentarischer Beteiligung, ist jedoch andererseits angesichts der vielfältigen Beanspruchung des Bundes­ tags durch seine Kernaufgaben – Gesetzgebung, Regierungskontrolle – nicht unbedenklich. Der Mehrwert der steten Beteiligung für die parlamentarische Arbeit ist in manchen Fällen nicht ohne Weiteres ersichtlich. Es handelt sich daher beim Ausbau institutionalisierter Be­ teiligungen oftmals um ein einseitiges Geschäft zu Lasten des Bundestags.637

VIII. Parlamentsbeauftragte 1. Begriff, Funktionen und Arten 583

Vor allem zur Profilierung eines bestimmten fachpolitischen Themas ist in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend die Einsetzung von Beauftragten von Verfassungsorganen üblich geworden – neben Parlamentsbeauftragten sind dies vor allem Regierungsbeauftragte (s. u. Rn. 585). Der Beauftragte nimmt eine an ihn delegierte Aufgabe mit den ihm zugeordneten Mitarbeitern wahr. Bei dieser Aufgabe handelt es sich in der Regel um ein bestimmtes Politikfeld. Das um sich greifende Beauftragtenwesen ermöglicht die Verknüpfung eines Sachproblems mit einer Person, die außerhalb der hierarchischen Gliederung der Bundesbehör­ den gestellt ist.

584

Der Beauftragte ist durchaus zur parteiischen Wahrnehmung des Amts im Sinne der Auf­ gabe berechtigt, ohne eine Abwägung mit konfligierenden Interessen wahrnehmen zu müssen. Er steht grundsätzlich auf dem Standpunkt des Belangs, für den er ernannt wurde (Parteilichkeitsfunktion). Er wird aber regelmäßig um so erfolgreicher agieren, je parteipolitisch neutraler er auftritt. Der Beauftragte übt vielfach auch als unmittelbarer Ansprechpartner für die Belange der Bürger eine Quasi-Petitionsfunktion aus (s. auch Rn. 596).

585

Auf Bundesebene gibt es mittlerweile eine Vielzahl solcher Beauftragter. Dabei handelt es sich jedoch zumeist um Beauftragte der Bundesregierung, die sie im Rahmen ihrer Organisationskompetenz einsetzt (s. dazu § 7 Rn. 266 ff.).

586

Der Arbeitsweise des Bundestags ist demgegenüber die Einsetzung von Beauf­ tragten tendenziell fremd. Der Bundestag als Kollegialorgan muss mit Mehrheit einheitliche Entscheidungen fällen, spricht aber doch nicht mit einer Stimme. Die Delegation eines bestimmten Politikfelds an eine Person zur besonderen Wahr­ nehmung widerspricht an sich dem parlamentstypischen Pluralismus der geäußerten Auffassungen. Daher würde es die Statusrechte der Parlamentsminderheit verletzen, wenn eine Parlamentsmehrheit – nach Vorbild der Bundesregierung – eigene Beauftragte etwa für Drogen, Menschen mit Behinderung oder Integration einsetzte. Die parlamentseigene Organisationsform zur Behandlung bestimmter Themen und zur Wahrnehmung besonderer Aufgaben ist die Bildung von Son­ derausschüssen (s. o. Rn. 513) und Enquête-Kommissionen (s. o. Rn. 518 ff.) oder 637

Tendenziell so auch Zeh, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 52, Rn. 62.

H. Organisation des Bundestags

229

Beiräten (s. o. Rn. 566 ff.). Der Bundestag verfügt über keinen kraft Organisations­ beschlusses eingesetzten ‚gewillkürten‘ Parlamentsbeauftragten. Von Parlamentsbeauftragten lässt sich allerdings durchaus hinsichtlich zweier Phänomene sprechen: zum einen hinsichtlich des Wehrbeauftragten des Bundes­ tags, dessen Einrichtung und Sonderstellung durch das Grundgesetz in Art. 45b S. 1 GG mit Verfassungsrang vorgegeben ist (s. sogleich Rn. 588 ff.); insoweit ist auch von einem parlamentseigenen Beauftragten die Rede.638 In gewisser Weise dem Bundestag als Parlamentsbeauftragte i. w. S. zurechenbar sind zum anderen diejenigen Beauftragten, die zwar organisatorisch nicht Teil des Bundestags sind, aber deren Einsetzung durch Parlamentsgesetz vorgeschrieben ist (parlaments­ gesetzlich eingesetzte Beauftragte; s. u. Rn. 597 ff.).

587

2. Wehrbeauftragter Der 1956 eingefügte Art. 45b GG ordnet an, dass zum Schutz der Grundrechte und als „Hilfsorgan“ des Bundestags bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle ein Wehrbeauftragter des Bundestags berufen wird (s. auch oben § 1 Rn. 43, 59). Mit Errichtung der Bundeswehr639 und den hierdurch bedingten Grund­ rechtsbeschränkungen (vgl. insbesondere Art. 17a GG640) wurde es für notwendig erachtet, den Schutz der Grundrechte auch und gerade im Bereich der Streitkräfte zu sichern, weshalb mit der Grundgesetznovelle vom 19. März 1956 nicht nur die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Bundeswehr, sondern eben auch für den Wehrbeauftragten gelegt wurden.

588

Der Wehrbeauftragte darf kein Bundestagsmitglied oder Landtagsmitglied (und auch kein Regierungsmitglied) sein (§ 14 Abs. 3 WBeauftrG). Er wird für fünf Jahre gewählt, sodass seine Amtszeit nicht an die Legislaturperiode gebunden ist. Der Wehrbeauftragte wird auf Vorschlag des Verteidigungsausschusses, der Frak­ tionen oder einer Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke mit der Mitglieder­ mehrheit für die Dauer von fünf Jahren (geheim) gewählt (§§ 13, 14 W ­ BeauftrG; s. auch § 113 GOBT).

589

Aufgaben und Status des Wehrbeauftragten werden in Art. 45b S. 1 GG prägnant beschrieben. Er dient „zum Schutze der Grundrechte“ und soll „bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle“ der Exekutive mitwirken. Seine Funk­ tion beschreibt das Grundgesetz – teilweise – als „Hilfsorgan“ des Bundestags, wobei Letzteres nichts anderes bedeutet als die Qualität eines von außen kom­ menden eigenständigen Organs zur Unterstützung des Organs Bundestag (s. dazu § 1 Rn. 43).

590

638

Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 15, Rn. 338 f. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 29, Rn. 4 f f., 15 f. 640 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 29, Rn. 9 f. 639

230

§ 2 Bundestag

591

Wird der Wehrbeauftragte zum Schutz der Grundrechte tätig, ist er nicht bloßes „Hilfsorgan“ des Bundestags sondern als eigenständiges Organ zu qualifizieren (s. dazu § 1 Rn. 43).

592

Einzelheiten der Stellung und der Aufgaben ergeben sich entsprechend der verfassungsrechtlichen Ermächtigung in Art. 45b S. 2 GG aus dem Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags641 sowie aus den §§ 113–115 GOBT.

593

In seiner Funktion als „Hilfsorgan“ des Bundestags zur Exekutivkontrolle wird er auf Weisung des Bundestags oder des Verteidigungsausschusses zur Prüfung bestimmter Vorgänge tätig (§ 1 WBeauftrG).

594

Wird der Wehrbeauftragte auf Weisung tätig, so hat er über das Ergebnis seiner Prüfung auf Verlangen einen Einzelbericht zu erstatten (§ 2 Abs. 3 WBeauftrG). Darüber hinaus kann er dem Bundestag oder dem Verteidigungsausschuss jeder­ zeit Einzelberichte vorlegen (§ 2 Abs. 2 WBeauftrG) und ist unabhängig davon ver­ pflichtet, dem Bundestag einen Jahresbericht vorzulegen (§ 2 Abs. 1 WBeauftrG). Die Berichte werden vom Bundestagspräsidenten regelmäßig an den Verteidi­ gungsausschuss überwiesen, es sei denn, dass eine Fraktion oder eine Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke wünscht, die Berichte im Plenum zu behandeln. In diesem Fall kann der Bundestagspräsident dem Wehrbeauftragten auf Antrag einer Fraktion oder einer Gruppe in Fraktionsstärke das Wort in der Aussprache der von ihm vorgelegten Berichte erteilen (§§ 114, 115 GOBT). Durch dieses Quorum öffnet das Grundgesetz insbesondere der Opposition (s. o. Rn. 404 ff.) den Zugang zu einem für sie politisch besonders wichtigen Instrument.

595

Zur Erfüllung seiner Berichtspflichten hat der Wehrbeauftragte vielfältige Amtsbefugnisse, insbesondere Informationszugangsrechte (Auskunftsrechte, Ak­ teneinsichtsrechte, Besuchsrechte zur Truppeninspektion im In-und Ausland – § 3 WBeauftrG). Mit diesen Befugnissen korrespondiert die Pflicht aller Gerichte und aller Verwaltungsbehörden zur Amtshilfe (§ 4 WBeauftrG).

596

Von besonderer Bedeutung ist das gesetzlich verankerte Recht eines jeden Sol­ daten, sich ohne Einhaltung des Dienstweges unmittelbar an den Wehrbeauftragten zu wenden, ohne dafür dienstlich gemaßregelt oder benachteiligt werden zu dür­ fen (sog. Eingaberecht des Soldaten, § 7 WBeauftrG). Diese Regelung verdeut­ licht den Charakter des Wehbeauftragten als Petitionsinstanz (s. o. Rn. 584).642 Es handelt sich um eine spezialgesetzliche Ausformung des Petitionsrechts aus Art. 17 GG.643 Wird der Wehrbeauftrage im Zuge des Grundrechtschutzes der Sol­ 641 In der Fassung der Bekanntmachung v. 16.6.1982 (BGBl. I, S. 677), zul. geänd. d. G. v. 5.2.2009 (BGBl. I, S. 160). 642 Schmidt-Radefeldt, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 45b, vor Rn. 1. 643 Schmidt-Radefeldt, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, 43. Edition 2020, Art. 45b, Rn. 10.

H. Organisation des Bundestags

231

daten tätig, ist er gerade nicht weisungsgebunden (§ 5 Abs. 2 WBeauftrG). Wird ihm die Verletzung von Grundrechten der Soldaten bekannt, wird er nach eigenem Ermessen tätig (§ 1 Abs. 3 WBeauftrG). 3. Gesetzlich eingesetzte Beauftragte Während der Wehrbeauftragte durch das Grundgesetz selbst als eigenständiges Organ mit Verfassungsrang eingesetzt wird, ist die Mehrzahl der Beauftragten auf Bundesebene organisatorisch bei der Bundesregierung angesiedelt und auch ledig­ lich durch Organisationsakt der Regierung eingerichtet (s. ausführlich § 7 Rn. 273). Zum Teil ist die Einsetzung von Beauftragten aber auch gesetzlich durch das Parlament veranlasst. Das rechtfertigt es, insoweit von Parlamentsbeauftragten i. w. S. (s. o. Rn. 587) zu sprechen.

597

Im Einzelnen handelt es sich bei den parlamentsgesetzlich eingesetzten Beauf­ tragten um den Bundesdatenschutzbeauftragten644 (§ 7 Rn. 275 ff.), den Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur (zuvor: Stasi-Unterlagen-Beauf­ tragter)645, den Integrationsbeauftragten646, den Patientenbeauftragten647 sowie den Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen648.

598

Beim Bundesdatenschutzbeauftragten sowie beim SED-Opferbeauftragten sind die Rückbindungen an den Bundestag relativ groß: Nicht nur werden diese Be­ auftragten vom Bundestag gewählt (§ 11 Abs. 1 S. 1 BDSG, § 5 Abs. 1 S. 1 OpfBG), sondern sie haben auch Tätigkeitsberichte, Gutachten etc. für den Bundestag zu erstellen (§ 15 BDSG, § 2 OpfBG).

599

IX. Bundestagsverwaltung und Wissenschaftliche Dienste Im Bereich des Deutschen Bundestags fallen unterschiedliche Verwaltungsauf­ gaben in nennenswertem Umfang an; dafür besteht die Bundestagsverwaltung. Die Aufgaben der Bundestagsverwaltung reichen über die Vorbereitung und Durch­ führung der Sitzungen des Parlaments seiner Ausschüsse und Gremien, die Unter­ stützung der Abgeordneten, Öffentlichkeitsarbeit durch Betreuung von Gruppen und Führungen durch das Parlamentsgebäude in Berlin, bis hin zur Gewährleis­ 644

Die oder der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, §§ 8 ff. BDSG. 645 §§ 1 ff. SED-Opferbeauftragtengesetz (OpfBG); s. auch § 7 Rn. 286. 646 Die oder der Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, §§ 92 ff. AufenthG. 647 Die oder der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Pa­ tienten, § 140h SGB V. 648 Die oder der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Be­ hinderungen, §§ 17 f. BGG.

600

232

§ 2 Bundestag

tung von Kommunikation und Sicherheit sowie die Verwaltung und Kontrolle der öffentlichen Mittel. Die Bundestagsverwaltung hat insgesamt ca. 3000 Mitarbeiter. 601

Der Bundestagspräsident als oberste Dienstbehörde (§ 7 Abs. 4 S. 1 GOBT – s. o. Rn. 349) ist Vorgesetzter der Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung. Im Auftrag des Bundestagspräsi­ denten leitet der Direktor beim Deutschen Bundestag, der den Rang eines Staatssekretärs innehat, die Bundestagsverwaltung.

602

Als für die Qualität der parlamentarischen Arbeit von herausgehobener Bedeu­ tung werden oft die Wissenschaftlichen Dienste (WD) des Bundestags, eine Unterabteilung der Bundestagsverwaltung, angesehen. Sie sollen die Abgeordneten mit für die Entscheidung wesentlichen Informationen versorgen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Erstellung aktueller Gutachten und Begriffserläuterungen, die teil­ weise auch der Öffentlichkeit zugänglich sind (hierzu sogleich Rn. 605).

603

Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags sind idealtypisch als ein wissensmachttechnisches Gegengewicht zum Sachverstand der Regierung konzipiert, das in der Demo­ kratie unerlässlich ist, und soll dem Parlament zur effektiven Wahrnehmung seiner Kontrolle der Exekutive (s. o. Rn. 89 ff.) verhelfen. Inwieweit die Wissenschaftlichen Dienste dieses Gegengewicht realiter bil­den können, ist freilich zweifelhaft. Letztlich ist die Personalaus­ stattung der Dienste trotz mancher zwischenzeitlicher Verbesserungen immer noch zu gering und ihre Aufgabenstellung zu diffus, um durchgängig einen wesentlichen Beitrag zur Gewal­ tenbalance zu erbringen. Entscheidend für den Einfluss der Wissenschaftlichen Dienste ist die Qualität, Neutralität und Unvoreingenommenheit ihrer Arbeit. Institutionell bringen die Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags insgesamt bessere Voraussetzungen als die üblichen Auftragsgutachten. In Einzelfällen ist es den Wissenschaftlichen Diensten so auch durchaus gelungen, politische und juristische Debatten zu befrieden.

604

Ebenfalls von großer Bedeutung für die Qualität der parlamentarischen Kontrolle und für ein Informationsgleichgewicht zwischen Parlament und Regierung sind der Sachverstand der angestellten Referenten der Fraktionen und Abgeordneten einerseits sowie die wissen­ schaftliche Ad-hoc-Beratung durch externe Sachverständige (Beratungsgremien) andererseits.

605

Neben ihrer besonderen Rolle für die Gewaltenteilung haben die Wissenschaftlichen Dienste auch (potentiell) Bedeutung für das Verhältnis zwischen Parlament und Öffentlichkeit. Damit ist auch die im Schrifttum umstrittene Frage angesprochen, ob und in welchem Umfang die Öffentlichkeit bzw. einzelne ihrer Mitglieder einen Anspruch auf Informationszugang zu den Erarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste haben: Das Bundesver­ waltungsgericht hat unterdessen entschieden, dass der Bundestag bei der mandatsbezogenen Unterstützung der Abgeordneten durch Zuarbeiten der Wissenschaftlichen Dienste nach § 1 Abs. 1 IFG informationspflichtig ist.649

649

BVerwGE 152, 241; zustimmend m. w. N. Schoch, in: ders. (Hrsg.), Informationsfreiheits­ gesetz, 2. Aufl. 2016, § 1, Rn. 203 ff.; ablehnend Waldhoff, JuS 2016, 283 (284).

I. Ausblick

233

I. Ausblick Die grundgesetzlichen Vorschriften über den Bundestag haben sich im Wesentlichen bewährt. Das schließt die Möglichkeit zu punktuellen Verbesserungen in der Verfassung (z. B. mögliche Verlängerung der Legislaturperiode, ausdrückliche Verankerung eines Selbstauflösungsrechts, Neuregelung des Diätenfestsetzungs­ verfahrens, strengere Inkompatibilitätsregelungen) nicht aus. Nicht alles sollte den sich gerade hier (zu) stark ausbreitenden konkretisierenden Verfassungsvollzugsgesetzen (z. B. AbgG, PUAG etc.) und schon gar der Geschäftsordnung des Bundestags überlassen bleiben.

606

Die eigentlichen Probleme des III. Abschnitts des Grundgesetzes liegen aber nicht in solchen punktuellen Veränderungsmöglichkeiten, sondern eher in den Schwächen seiner Grundkonstruktion und in Funktionsschwächen des Parla­ mentarismus insgesamt. Zu nennen sind insbesondere: – erstens – die Schwächen der repräsentativen parlamentarischen Demokratie mit der Entfremdung von Wäh­ lern und Gewählten650, – zweitens – die Hegemonie der Exekutive, – drittens – die zunehmende Verlagerung politischer Auseinandersetzungen und Kompromiss­ findungen in interne Zirkel (z. B. Koalitionsausschüsse) bzw. in Massenmedien so­ wie – viertens und besonders schwerwiegend – die starke Macht der in Art. 21 GG geregelten politischen Parteien mit der typischen Ausbildung der parteipolitischen Machtblöcke (Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen). Hinzu kommt die tendenzielle Verlängerung dieser Machtstellung im Parteienbundesstaat (s. dazu oben Rn. 40, 405 sowie § 3 Rn. 56 ff.): mit den bundesregierungsnahen Mehr­ heitsfraktionen im Bundestag und den häufig bundesoppositionsnahen Landes­ regierungen im Bundesrat (beachte aber zu Relativierungen dieses Befunds § 3 Rn. 56 ff.). Wer dies ändern will, müsste grundlegende Verfassungsänderungen (außerhalb der Art. 38–48 GG) anstreben, für die es für lange Zeit keine hinrei­ chenden politischen Mehrheiten geben wird. Hinzu kommt schließlich der Bedeu­ tungsverlust des Bundestags durch die Abwanderungen wesentlicher Regelungs­ befugnisse auf die Ebene der Europäischen Union.

607

Auch die (überwiegend)  abnehmende Qualität der Beratungen im Bundes­ tag, die vor allem einer Überlastung des Parlaments geschuldet ist, schwächt die Stellung des Parlaments. Sitzungen mit über 50 Tagesordnungspunkten sind keine Seltenheit. Dies ist schwer zu korrigieren. Die weitere Verlagerung der Recht­ setzung auf Rechtsverordnungen oder gar Verwaltungsvorschriften verstärkt die Dominanz der Exekutive. Hinzukommt die Frage, ob alle Abgeordneten für ihre parlamentarischen Tätigkeiten hinreichend qualifiziert sind. Auch hier gilt es, den dominanten Einfluss der politischen Parteien etwa bei der Kandidatenaufstellung zu Bundestagswahlen (s. o. Rn. 150 ff.) zurückzudrängen.

608

650

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 315 f.

234

§ 2 Bundestag

609

Die Entschädigung der Abgeordneten (Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG – s. o. Rn. 308 ff.), die längst zur entgeltähnlichen Bezahlung geworden ist, könnte durch verfassungs­ rechtliche Festlegungen von Verfahren und auch Höhen politisch entlastet werden. Der populäre Vorwurf der Selbstbedienungsmentalität von Abgeordneten mag zwar in Einzelfällen begründet sein, ist aber grundsätzlich insoweit ungerecht­ fertigt, als das Parlament nach geltendem Verfassungsrecht selbst über die Ab­ geordnetenbezahlung entscheiden muss. Eine gewisse sachliche Distanz könnte hier dadurch geschaffen werden, dass der Bundestag nur für den jeweils nächsten Bundestag (nicht für den jeweils laufenden) entscheiden würde. Nicht gerechtfertigt ist aber auf jeden Fall die Sonderbehandlung der Abgeordneten durch die Zubilli­ gung einer nachweislosen und steuerfreien Aufwandsentschädigung (§ 12 AbgG). Auch Abgeordnete sollten hier den Weg der Normalbürger über die Absetzbarkeit beruflicher Aufwendungen gehen müssen.

610

Die Versorgung der Abgeordneten für die Zeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament ist dringend zurückzuschneiden. Auch das Privileg der freien Benutzung aller staatlichen Verkehrsmittel (Art. 48 Abs. 3 S. 2 GG s. o. Rn. 320) erscheint überlebt und ist deshalb aufzuheben. Umgekehrt sollten obligatorische Fraktionsbeiträge der Abgeordneten verboten werden. Die Abgeordnetenentschä­ digung dient allein den Abgeordneten und nicht den Fraktionen bzw. Parteien.

611

Schließlich sollte eine weitgehend unbegrenzte Transparenz über die Art und das Ausmaß der Nebentätigkeit von Abgeordneten hergestellt werden: Die bis­ herigen Transparenzregeln (s. o. Rn. 326) sind eher pover und nur ganz unzuläng­ lich geeignet, Lobbyeinflüsse durch „Kauf“ von Abgeordneten tatsächlich zu of­ fenbaren. Flankierend zu einer Verstärkung der Transparenzordnung kommt dem Sonderstraftatbestand des § 108e StGB (Strafbarkeit der Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern) eine Funktion bei der Sicherung der Unab­ hängigkeit des Parlaments zu. Die im Jahr 2014 erfolgte Novellierung des § 108e StGB ist im Schrifttum teilweise auf Kritik gestoßen: Durch Restriktionen wie die Nichterfassung nachträglicher Zuwendungen für bereits vorgenommene Handlun­ gen des Mandatsträgers bleibe die Reform „substantiell hinter den strafrechtlichen Vorschriften für Amtsträger zurück“.651

612

Über verschärfte Inkompatibilitätsregelungen sowie Berufsausübungsbeschränkungen und -bedingungen für Abgeordnete etwa nach dem Vorbild des Art. 66 GG ist nachzudenken. Der naheliegende Einwand, dadurch würden die Angehörigen der sog. freien Berufe und Unternehmer aus dem Parlament heraus­ gedrängt und der Weg zum Beamtenparlament geebnet, lässt sich durch Ruhensund Vertretungsregelungen relativieren. Im Übrigen kann man nicht hinsichtlich

651

Hoven, NStZ 2015, 553 (554 ƒ.), welche daher von einer „rechtspolitische[n] Minimal­ lösung“ spricht, welche in erster Linie der technokratischen Umsetzung der United Nations Convention against Corruption, nicht aber einem kohärenten Rechtsgüterschutz verpflichtet sei.

I. Ausblick

235

der Bemessung der Abgeordnetenentschädigung von dem Mandat als Hauptberuf ausgehen, um dann über die nahezu grenzenlose Zulassung – bisweilen – außerpar­ lamentarischer Tätigkeiten das Mandat faktisch zur Nebentätigkeit degenerieren zu lassen. Eine andere Lösung wäre die völlige Anrechenbarkeit der Nebenerwerbe auf die Abgeordnetenentschädigung. Schließlich ist die Möglichkeit zu beseitigen, dass Mitglieder der Bundesregie­ rung zugleich Bundestagsabgeordnete sein können (Minister-Abgeordnete). Dies verstärkt den ohnehin dominierenden Einfluss der Exekutive, führt offenkundig zu immanenten Interessenkonflikten zwischen Kontrollierten und Kontrollierenden und ist unter dem Aspekt der horizontalen Gewaltenteilung letztlich unbegreiflich. Wenn Parteien durch das Verbot von Minister-Abgeordneten gezwungen werden, auf die prominenten Namen von Ministern bei der Kandidatenaufstellung zu ver­ zichten, kann dies den politischen Selbststand der Abgeordneten langfristig nur erhöhen. Und die Aussage, die Möglichkeit der Minister-Abgeordneten erleichtere der Bundesregierung ihre politischen Aufgaben ist – bei Lichte betrachtet – eher ein Argument gegen diese Gewaltenvermischung. Ähnliche Einwände sprechen auch gegen die künftige Beibehaltung der Figur des Parlamentarischen Staatssekretärs (s. dazu § 7 Rn. 357). Eine ausdrückliche Inkompatibilitätsregelung zwischen Abgeordneten und Regierung findet sich bislang nur in den Vorschriften über den Gemeinsamen Ausschuss in Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG (s. § 4 Rn. 9). Sie er­ scheint jedoch als eine klare Ausnahmebestimmung und will verhindern, dass im Gemeinsamen Ausschuss als Rumpfparlament die Abgeordneten in eine Interes­ senkollision mit der Exekutive gelangen.

613

Die Immunitätsregelung des Art. 46 Abs. 2 GG (s. o. Rn. 295) ist – jedenfalls in der bisherigen weiten Form – überholt und der Bevölkerung im Wesentlichen nicht mehr vermittelbar. Sie läuft heute faktisch wegen des Regelbeschlusses eines jeden Bundestags (s. o. Rn. 299) ohnedies weitgehend leer und hat nicht zuletzt den kontraproduktiven Effekt, Strafverfahren gegen Abgeordnete besonders ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Die Regelung sollte aufgehoben oder auf die Verfol­ gung wegen politischer Straftaten beschränkt werden652.

614

Die Möglichkeit zur Selbstauflösung des Bundestags im Sinne der bisherigen politischen Staatspraxis einer auflösungsgerichteten Vertrauensfrage (s. o. Rn. 219) sollte in die Verfassung aufgenommen werden, schon um Einwänden der Verfas­ sungsmanipulation der geltenden Rechtslage zu begegnen. Die nach den Erfahrun­ gen der Weimarer Republik ursprünglich befürchtete Destabilisierung durch die Möglichkeit der (Selbst-)Auflösung dürfte beim konstitutiven Zusammenwirken von Bundestag, Bundeskanzler und Bundespräsident nicht eintreten.

615

Für mehr Elemente der direkten Demokratie durch verstärkte Möglichkeiten zu Volksabstimmungen mag manches sprechen, sie könnten jedoch den Bedeu­

616

652

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 114 f.

236

§ 2 Bundestag

tungsverlust des Parlaments vertiefen.653 Es käme entscheidend darauf an, reprä­ sentative und direkte Demokratie sinnvoll zu verzahnen, auch um zu vermeiden, dass insoweit falsche Erwartungen geweckt werden. 617

Ungelöst sind bisher die Funktionsveränderungen des Parlaments und des Par­ lamentarismus durch das zunehmende Aufkommen der sozialen Netzwerke (s. o. Rn. 120). Hier muss der Bundestag ein selbstbewusstes Selbstverständnis als Par­ lament mit  – auch  – (mehr) digitaler Parlamentsöffentlichkeit entwickeln (s. o. Rn. 120).

618

Ein wesentliches verfassungspolitisches Arbeitsfeld bleibt zudem die Ausge­ staltung des Bundestagswahlrechts (s. o. Rn. 147 ff.). Hier muss v. a. die Frage der Größe des Parlaments (angesichts von Überhang- und Ausgleichsmandaten – s. o. Rn. 164 ff.) im Zentrum von Reformüberlegungen stehen. Der bisherige Reform­ elan ist wohl zu gering. Schrifttum: Achterberg, Die Fraktion – Rechtsgestalt und Rechtswirkung, JA 1984, 9 ff.; Achterberg, Parlamentsrecht, 1984; Badura, Das Staatsziel „europäische Integration“ im Grundgesetz, in: FS Schambeck, 1994, S. 887 ff.; Bickenbach, Vor 75 Jahren: Die Entmäch­ tigung der Weimarer Reichsverfassung durch das Ermächtigungsgesetz, JuS 2008, 199 ff.; ­Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, ZRP 2017, 197 ff.; Bosbach, Mehr VerfassungsEhrlichkeit wagen, RuP 2006, 142 ff.; Brandner, Der fraktionslose Abgeordnete und das Aus­ schußmandat, JA 1990, 151 ff.; ders., Parlamentarische Gesetzgebung in Krisensituationen – Zum Zustandekommen des Finanzmarktstabilisierungsgesetz, NVwZ 2009, 211 ff.; Buettner  / ​ Jäger, Bundestagsauflösung und Vertrauensfrage, DÖV 2006, S. 408 ff.; Burkiczak, Rechts­ fragen der Behandlung von Petitionen mit rechtswidrigem Inhalt oder rechtswidriger Inten­ tion durch den Deutschen Bundestag, NVwZ 2005, 1391 ff.; Burmeister / Greve, Parité  – Gesetz und Demokratieprinzip, ZG 2019, 154 ff.; Butzer, Der Bereich des schlichten Parla­ mentsbeschlusses, AöR 119 (1994), 61 ff.; Butzer / Henkenötter, Pairing im Deutschen Bundes­ tag, ZG 1995, 328 ff.; Busse, Auflösung des Bundestags als Reformproblem, ZRP 2005, 257 ff.; Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen. Eine verfassungsrechtliche Analyse der neuen Oppositionsregelungen, 2000; Danckert, Aussagezwang im parlamentari­ schen Untersuchungsausschuss, ZRP 2000, 476 ff.; Darsow, Über die Grenzen des Gutgemein­ ten  – zum Wahlgeschehen eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags, NVwZ 2019, 1013 ff.; Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1993; Dickow, Auflösung des Bundestags als Reformproblem, ZRP 2006, 132; Du Mesnil / Müller, Die Rechtsstellung der Bundestagsabgeordneten, JuS 2016, 603 ff.; Epping, „Gefühltes Misstrauen“ – die insze­ nierte Vertrauensfrage vom 1. Juli 2005, RuP 2005, 197 ff.; Erichsen, Wahlsysteme, Jura 1984, 24 ff.; Essmann-Bode, Das Ein- und Zweikammersystem im deutschen Konstitutionalismus. Eine Studie über die Vor- und Frühformen des heutigen Parlamentarismus, 2016; Euchner, John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1967; Franz, Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, DÖV 2008, 1042 ff.; Frenz, Abgeordnetenrechte, JA 2010, 176; Freund, Änderung des Verhaltensrechts für Mitglieder des Deutschen Bundestags, DÖV 1987, 435 ff.; Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 16 (1957), 9 ff.; Frowein, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, 653

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 291 ff.

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§ 2 Bundestag

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Schrifttum

239

handbuch, § 1; Schröder, Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen, in: FS Re­ deker 1993, 173 ff.; Schulze-Fielitz, Der Fraktionslose im Bundestag – Einer gegen alle?, DÖV 1989, 829 ff.; Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, 1998; Sieyès, Quelques idées de Constitution applicables à la ville de Paris, 1789; Sinner, Der Deutsche Bun­ destag als zentrales Verfassungsorgan nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts, ZParl, Heft 2/2012, 313 ff.; Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2010; Ströbele, Kein Selbstauflösungsrecht des Bundestags, RuP 2006, 144; Struck, Für ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags, RuP 2006, 140 ff.; Thaysen, Parlamentarisches Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1976; Thedieck, Die Parlamentsfunktio­ nen, JA 1988, 423 ff.; Thierse, Das Selbstauflösungsrecht des Bundestags – eine sinnvolle Er­ gänzung des Grundgesetzes, RuP 2006, 145 f.; Thomé, Die Unabhängigkeit der Bundesdaten­ schutzaufsicht, VuR 2015, 130 ff.; Treuner, Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, DVBl. 2008, 421 ff.; Tsatsos, Mandatsverlust bei Verlust der Parteimitglied­ schaft, DÖV 1971, 253 ff.; Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, 1985; Wadle, Das Er­ mächtigungsgesetz – Eine Erinnerung, JuS 1983, 170 ff.; Wassermann, Selbstauflösungsrecht des Bundestags, RuP 2005, 186 ff.; Wiefelspütz, Der Eid im Untersuchungsausschuss, ZRP 2002, 14 ff.; ders., Untersuchungsausschuss und öffentliches Interesse, NVwZ 2002, 10 ff.; Wieland / Albin, Demokratiedefizite aus einer Verlängerung der Wahl­periode können aufge­ fangen werden, ZRP 2006, 76 ff.; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152 ff.; ­Wittreck, Genese und Entwicklung des deutschen Parlamentsrechts, in: M ­ orlock / Schliesky /  Wiefelspütz / Baddenhausen (Hrsg.), Parlamentsrecht – Praxishandbuch, § 2; Unterpaul, Zu­ nehmende Zahl der Überhangmandate unbedenklich?, NJW 1994, 3267 ff.; Waldhoff, Staats­ organisationsrecht und Verwaltungsrecht: Informationsansprüche gegen die Wissenschaftli­ chen Dienste des Deutschen Bundestags, JuS 2016, 283 ff.; Wolf, Informationsansprüche des Parlaments gegenüber der Regierung, 2017; Zuck, Die fröhliche Wissenschaft – Über Über­ hangmandate, NJW 1994, 3209 ff.

§ 3 Bundesrat Übersicht A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

I. Bundesrat und Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243



II. Historische Entwicklung einer Länderkammer in Deutschland . . . . . . . . . . . . 244 1. Historische Vorläufer des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Errichtung des Bundesrats unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Reformdiskussionen nach 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 4. Sitz des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249



III. Funktionen des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1. Interessenvertretung der Länder durch ein Organ des Bundes . . . . . . . . . . 249 2. Faktor der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung . . . . . . . . . . . . . . 251 3. Weitere, ergänzende Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252



IV. Bundesrat und Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Unterschiede zwischen Bundesrat und Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Bundesrat als ‚Zweite Kammer‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255



V. Bundesrat und politische Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Bundesrat im „Parteienbundesstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. „Strukturbruch“-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Bundesrat als Blockade? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 4. Einfluss der Länder im Parteienbundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

B. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

I. Bundesländer als institutionelle Mitglieder des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Stimmengewichtung im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263



II. Landesvertreter als personelle Mitglieder des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Verhältnis von institutioneller und personeller Mitgliedschaft . . . . . . . . . . 266 2. Potentielle Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Imperatives Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4. Ende der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 5. Demokratische Legitimation der persönlichen Mitglieder . . . . . . . . . . . . . 270

§ 3 Bundesrat

241

C. Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

I. Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271



II. Präsident und Präsidium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. Wahl des Bundesratspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Vorzeitiges Ausscheiden aus dem Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Aufgaben des Bundesratspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4. Präsidium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276



III. Plenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277



IV. Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277



V. Bundesratsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

D. Verfahren im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

I. Sitzungen des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278



II. Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279



III. Beschlussfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Mehrheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Beschlussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3. Erforderliche Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4. Einheitliche Stimmabgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

E. Aufgaben und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

I. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284



II. Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Gesetzesinitiativrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Stellungnahmen zu Regierungsentwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4. Anrufung des Vermittlungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 5. Entscheidung über Zustimmungsgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6. Mitwirkung an Einspruchsgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 7. Befugnisse im Gesetzgebungsnotstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 8. Einfluss auf Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295



III. Mitwirkung bei der „Verwaltung des Bundes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 1. Mitwirkung beim Landesvollzug von Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Zustimmung zu allgemeinen Verwaltungsvorschriften etc. . . . . . . . . . . 298 b) Befugnisse in der Bundesaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Mitwirkung bei bundeseigener Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300



IV. Spezielle Bereiche der Mitwirkung des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1. Mitwirkung bei auswärtigen Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 2. Mitwirkung im Verteidigungsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3. Mitwirkung in Notsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

242

§ 3 Bundesrat 4. Mitwirkung bei der Rechnungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305



V. Sonstige Rechte und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Informationsanspruch gegenüber der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Anwesenheits- und Rederecht im Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 3. Kreationsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 4. Prozessuale Stellung des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

F. Bundesrat und Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

I. Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union . . . . . . . 309



II. Mitwirkung des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union . . . . 310 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 2. Mitwirkung bei der Übertragung von Hoheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3. Mitwirkung bei der Willensbildung des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312



III. Europakammer des Bundesrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

G. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

A. Allgemeines

243

A. Allgemeines I. Bundesrat und Bundesstaat Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat, also ein Gesamtstaat, in dem die Ausübung der Staatsgewalt auf eine zentrale Organisationsebene (Bund) und mehrere Gliedstaaten (Länder) aufgeteilt ist.1 Die einzelnen Ebenen stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander. Vielmehr ist es ein regelmäßiges Kennzeichen von Bundesstaaten, dass die Gliedstaaten auf die politische Willens­ bildung des Gesamtstaates Einfluss nehmen können. Für diese Mitwirkung der Gliedstaaten, der Bundesländer, an der politischen Willensbildung des Gesamt­ staates und seiner zentralen Organisationsebene, dem Bund, steht in der Bundes­ republik Deutschland als Institution der Bundesrat zur Verfügung. Der Bundesrat ist somit der institutionalisierte Ausdruck des Bundesstaatsprinzips.

1

Dies zeigt auch ein Vergleich mit ausländischen Bundesstaaten (s. a. Rn. 15). In föderal organisierten Staaten gibt es regelmäßig neben der Volksvertretung ein weiteres Organ, durch das die jeweiligen Gliedstaaten an der Gesamtwillensbil­ dung beteiligt werden.2 In den USA ist neben dem Repräsentantenhaus der Senat in die Gesetzgebung eingebunden, in der Schweiz ist dies neben dem Nationalrat der Ständerat, auch Österreich kennt neben dem Nationalrat den Bundesrat, und Belgien hat neben der Abgeordnetenkammer einen Senat.3 Mögen die jeweiligen Befugnisse und schon die Kreation4, die Zusammensetzung und Arbeitsweisen dieser Gremien auch im Einzelnen verschieden sein, so sind sie doch alle institu­ tioneller Ausdruck der föderalen Struktur dieser Staaten.

2

1 Vgl. BVerfGE 13, 54 (77) – Neugliederung Hessen; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 1 ff. 2 Zur Kategorie der ‚zweiten Kammer‘, welche in diesem Zusammenhang regelmäßig dis­ kutiert wird, s. u. Rn. 51 ff. 3 So die Beispiele bei Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 29; vgl. ferner diejeni­ gen Beispiele im Sammelband Riescher / Ruß / Haas (Hrsg.), Zweite Kammern, 2. Aufl. 2010, welche sich auf (‚echte‘ und ‚unechte‘) ‚zweite Kammern‘ in föderativen Verfassungsordnun­ gen beziehen. Zum Begriff der ‚zweiten Kammer‘ s. u. Rn. 51 ff. 4 Beispielsweise werden die Senatoren in den USA – anders als die Mitglieder des deutschen Bundesrates – seit der Verfassungsänderung durch das 17. Amendment zur US-amerikanischen Verfassung (1912/13) direkt durch die wahlberechtigten Bürger der einzelnen Bundesstaaten gewählt.

244

§ 3 Bundesrat

II. Historische Entwicklung einer Länderkammer in Deutschland 1. Historische Vorläufer des Bundesrats 3

Als Folge und Ausdruck der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland kann der Bundesrat in der deutschen Verfassungsgeschichte auf – mehr oder weniger funktionsähn­ liche – institutionelle Vorläufer zurückblicken.5

4

Letztlich steht er – freilich eher lose6 – in der Tradition des Reichstags des Heiligen Römischen Reichs,7 in dem die Vertreter der Reichsstände, also die weltlichen und geistlichen Fürsten sowie später auch die Vertreter der Reichsstädte, zunächst unregelmäßig und an unter­ schiedlichen Orten, seit 1663 als „Immerwährender Reichstag“ in Regensburg zusammentra­ ten. Die zeitliche und örtliche Perpetuierung dieses Reichsorgans ging allerdings einher mit der Praxis der Fürsten, sich auf den Sitzungen vertreten zu lassen. Der Reichstag wurde zum Gesandtenkongress. Eine Gemeinsamkeit dieses „Immerwährenden Reichstags“ mit dem grundgesetzlichen Bundesrat mag man folglich in der Zusammensetzung durch Vertreter der Exekutiven der kleineren staatlichen (oder staatsähnlichen) Einheiten in einem politischen Mehrebenensystem sehen. Freilich war das Heilige Römische Reich – anders als die Bundes­ republik Deutschland – kein demokratischer Bundesstaat, sodass erhebliche funktionale Unter­ schiede zwischen den beiden Institutionen bestehen.8 Mit dem Untergang des Alten Reichs 1806 hatte auch der Reichstag keinen Bestand mehr.

5

Zwischen diesem Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und dem Wiener Kongress von 1815 kann man von Deutschland nicht wirklich als von einer (bundes-) staatlich verfassten Gemeinschaft sprechen.9 Mag in dieser Zeit auch die Idee eines deut­ schen Nationalstaats besonders gestärkt worden sein, so gingen doch die beiden deutschen Großmächte, Preußen und Österreich, aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon letztlich so gestärkt hervor, dass sie sich nicht mehr einem einheitlichen deutschen Staat unterordnen wollten. Deshalb kam es 1815 nur zur Gründung des Deutschen Bundes, der aber strikt als Staatenbund („völkerrechtlicher Verein“10), nicht als Bundesstaat, ausgestaltet war. Institu­ tionell waren die einzelnen Mitgliedstaaten im Deutschen Bund durch die Bundesversammlung in Frankfurt am Main verbunden, die insoweit die Tradition des Reichstags des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation wieder aufnahm. In der Bundesversammlung, welche

5 Vgl. zum Folgenden auch E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1990, § 33 (zur Bundesversammlung des Deutschen Bundes), Bd. III, 3. Aufl. 1988, § 59 (zum Bundesrat der Reichsverfassung von 1871), Bd. VI, 1981, § 27 (zum Reichsrat der Weimarer Reichsverfassung); sowie Frotscher, in: FS Schenke, 2011, S. 167 (169 ff.); Th. I. Schmidt, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 22 Rn. 2 ff.; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 58; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 32 ff. 6 Vgl. Frotscher, in: FS Schenke, 2011, S. 167 (170): Parallelen „[n]ur bei oberflächlicher Betrachtung“. 7 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 10. 8 Vgl. Frotscher, in: FS Schenke, 2011, S. 167 (170 f.). 9 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 19. 10 So die Bezeichnung in der Wiener Schlussakte (1820); dazu Frotscher, in: FS Schenke, 2011, S. 167 (171).

A. Allgemeines

245

teilweise auch als „Bundestag“11 bezeichnet wurde, kamen die Gesandten der im Deutschen Bund zusammengeschlossenen Fürsten sowie die Freien Städte zusammen. Unter dem Vor­ sitz des österreichischen Präsidialgesandten wurde über auswärtige, militärische und zum Teil auch über innere Angelegenheiten des Deutschen Bundes beraten. Nach Anzahl der entsandten Vertreter ließ sich der Engere Rat (insgesamt 17 Stimmen) vom Plenum (anfangs 69 Stimmen) unterscheiden, wobei insbesondere im Plenum die Stimmen nach der Größe der Staaten gewichtet wurden.12 Die Paulskirchenverfassung von 184913 stellt den eigentlichen – wenngleich Versuch ge­ bliebenen  – Beginn der Tradition eines bundesstaatlich-demokratischen Zwei-Kammer-­ Systems14 in Deutschland dar. Der Reichstag sollte sich aus dem Volkshaus und dem Staatenhaus zusammensetzen (vgl. § 85 der Paulskirchenverfassung). Die Abgeordneten des Volkshauses wären in allgemeinen und direkten Wahlen bestimmt worden. Die insgesamt 192 Mitglieder des Staatenhauses wären zur Hälfte von den Regierungen und zur anderen Hälfte von den Volksvertretungen der einzelnen Staaten auf sechs Jahre ernannt worden (vgl. § 88 der Paulskirchenverfassung).

6

Nach den Verfassungen des Norddeutschen Bundes von 186715 bzw. des Deutschen Reichs von 1871 war der Bundesrat eines der obersten (Reichs-)Organe.16 Der Bundesrat fungierte als Repräsentant der Gesamtheit der Mitgliedstaaten des Deutschen Reichs, die als Souverän des Reichs angesehen wurde.17 Dieser Bedeutungszuwachs entsprach dem Wandel vom Staaten­ bund (Deutscher Bund) zum Bundesstaat (Norddeutscher Bund und Deutsches Reich). Sämt­ liche Reichsgesetze bedurften der Zustimmung des Bundesrats ebenso wie bestimmte Maß­ nahmen des Kaisers, namentlich etwa die Auflösung des Reichstags oder die Kriegserklärung. Entsprechend der alten Stimmverteilung des Deutschen Bundes richtete sich die Stimmenver­ teilung auf die einzelnen Länder nicht (exakt) nach deren Bevölkerungszahl. Insgesamt gab es 48 Stimmen. Auf Preußen entfielen 17 Stimmen, es folgten Bayern mit sechs Stimmen, Sachsen und Württemberg mit je vier Stimmen. Baden, Hessen und seit 1911 Elsaß-Lothrin­ gen hatten drei Stimmen. Den Rest bildeten Braunschweig und Mecklenburg-Schwerin mit je zwei Stimmen sowie 17 Kleinstaaten mit jeweils einer Stimme. Regelmäßig erschienen die Fürsten der Länder nicht selbst, sondern ließen sich durch weisungsgebundene Gesandte ver­ treten, insoweit war der Bundesrat ein Gesandtenkongress. Im Unterschied zum Bundesrat in der Bundesrepublik Deutschland stand der Bundesrat im Deutschen Reich unter dem Vor­ sitz des Reichskanzlers.

7

11

So etwa Chr. Schönberger, in: Morlok / Schliesky / Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht. Praxishandbuch, 2016, § 1, Rn. 25. 12 Insoweit bestehen Parallelen zum grundgesetzlichen Verfassungsorgan Bundesrat, in dem beispielsweise ebenfalls eine Stimmgewichtung stattfindet (vgl. Art. 51 Abs. 2 GG; s. u. Rn. 77 ff.). Bei einer Betrachtung der jeweiligen Funktionen zeigen sich jedoch wesentliche Unterschiede zwischen der Bundesversammlung des Deutschen Bundes und dem grundge­ setzlichen Bundesrat. Badura hält die Bundesversammlung für nicht mit dem Bundesrat des Grundgesetzes „vergleichbar“, weil es sich beim Deutschen Bund um einen Staatenbund ge­ handelt habe, als dessen alleiniges Zentralorgan die Bundesversammlung fungierte: ders., Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 58. 13 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 24. 14 Zur terminologischen Kategorie der ‚zweiten Kammer‘ s. u. Rn. 51 ff. 15 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 38 ff. 16 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 45. 17 Vgl. Frotscher, in: FS Schenke, 2011, S. 167 (173).

246

§ 3 Bundesrat

8

Unter der Weimarer Reichsverfassung von 191918 trat der Reichsrat die Nachfolge des Bundesrats der Reichsverfassung von 1871 an, allerdings mit sehr viel geringeren Befugnissen. Diese kompetenzmäßige Schwächung der Ländervertretung ist auch im Zusammenhang mit der Demokratisierung des Deutschen Reichs durch die Weimarer Verfassung zu sehen, hatte doch die Bundesratsidee im monarchischen Kaiserreich vor allem auch ein anti-demokrati­ sches Moment.19 Dem Reichsrat stand im Gesetzgebungsverfahren nur ein Einspruchsrecht zu, das vom – unmittelbar demokratisch legitimierten – Reichstag durch erneuten Beschluss überstimmt werden konnte.

9

Im Zuge der Zerschlagung der eigenständigen Verfassungsstaatlichkeit der Länder im Nationalsozialismus („Gleichschaltung“20) wurde der Reichsrat durch Gesetz der Reichs­ regierung vom 14. Februar 1934 aufgehoben.21 Der unitarisch ausgerichtete sog. ‚Führerstaat‘ war föderalistischen Strukturen nicht angetan und verzichtete folgerichtig auf ein föderatives Reichsorgan.

10

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Westdeutschland zunächst in der ameri­ kanischen Besatzungszone und später auch im Vereinigten Wirtschaftsgebiet (sog. Bi-Zone aus US-amerikanischer Zone und britische Zone) der Länderrat geschaffen, in welchem die betroffenen Länder ihre Interessen wahrnehmen konnten.22

11

In Bayern bestand auf Landesverfassungsebene von 1946 bis zu seiner Auflösung in Folge eines Volksbegehrens mit Wirkung zum Jahreswechsel 1999/2000 der Bayerische Senat. Dieser war jedoch nicht etwa eine (reine) Vertretung territorialer Untergliederungen des Frei­ staates Bayern, sondern eine Kammer, welche aus Vertretern wirtschaftlicher, sozialer, reli­ giöser, kultureller und wissenschaftlicher Gruppen und Institutionen sowie von Kommunen bestand. Beim Bayerischen Senat handelte sich also (auch) um die institutionelle Verwirkli­ chung ständischer Gliederung. Noch stärker ständisch fokussiert sind Einrichtungen wie die Arbeitnehmerkammer Bremen oder die Arbeitskammer des Saarlandes; hierbei handelt es sich freilich nicht um Landesverfassungsorgane, sondern um besondere öffentlich-rechtlich organisierte Interessenvertretungen.

12

Die DDR wies bei ihrer Gründung 1949 noch föderalistische Strukturen auf und die erste DDR-Verfassung23 enthielt mit der Länderkammer noch eine dem Bundesrat entfernt äh­ nelnde Institution.24 Die Abgeordneten der Länderkammer wurden durch die Landtage nach Fraktionenproporz gewählt und waren an die Feststellung des „Landeswillens“ durch den je­ weiligen Landtag grundsätzlich gebunden (Art. 72 DDR-Verfassung 1949). Seit 1952 bis zur

18

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 55 ff. Vgl. Sturm, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 24, Rn. 2. 20 Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 31.03.1933, RGBl. I S. 153; Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich v. 07.04.1933, RGBl. I, S. 173 („Reichsstatthaltergesetz“). 21 RGBl. 1934 I, S. 89; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 73. 22 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 83; ausführlich Pfeiffer, Der Län­ derrat der amerikanischen Zone, seine Geschichte und staatsrechtliche Würdigung, 1948; Härtel, Der Länderrat des amerikanischen Besatzungsgebietes, 1951; Stolleis, in: Isensee / K irchhof (Hrsg.), HbStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 7, Rn. 65 ff. 23 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2 Rn. 127. 24 Th. I. Schmidt, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 22, Rn. 13, spricht jedoch von der DDR-Länderkammer als „Gegenbild“ zum Bundesrat des Grundgesetzes. 19

A. Allgemeines

247

Wieder­vereinigung bestanden in der DDR dann jedoch nur 14 Bezirke, aber keine Länder im eigentlichen Sinne. Die Länderkammer wurde vorübergehend aus Bezirksvertretern zu­ sammengesetzt und schließlich im Jahr 1958 aufgelöst.25

2. Errichtung des Bundesrats unter dem Grundgesetz Durch das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 wurde der Bundesrat als Verfassungsorgan (s. § 1 Rn. 45) der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Die in­ stitutionelle Ausgestaltung des Bundesrats knüpft in wesentlichen Punkten an das Vorbild des Reichsrats der Weimarer Republik (s. o. Rn. 8) wie auch des Länderrats der Bi-Zone (s. o. Rn. 10) an.

13

Wie seine historischen Vorgänger – mit (teilweiser) Ausnahme des nicht ver­ wirklichten Staatenhauses der Paulskirchenverfassung (s. o. Rn. 6) – ist der Bun­ desrat des Grundgesetzes durch Exekutivlastigkeit geprägt: Er wird aus den bzw. durch die Landesregierungen besetzt (s. u. Rn. 86) und nicht etwa durch die Land­ tage oder gar unmittelbar durch die Wahlberechtigten in den einzelnen Ländern (‚Landesvölker‘) gewählt.

14

Verfassungsvergleichend entspricht dem Befund der Exekutivlastigkeit der Kreation die Zuordnung des grundgesetzlichen Bundesrats zum Exekutivrats­ modell 26 (auch „Bundesratsmodell“ oder „Gesandtenkongresstyp“27), dem etwa auch der Ministerrat der Europäischen Union zugeordnet werden kann. Dem steht als Alternative das Senatsmodell28 mit Wahl des föderativen Organs durch Volksvertretungen der föderierten Einheiten oder gar Direktwahl durch die Wahl­ berechtigten der föderierten Einheiten gegenüber.

15

Ein wesentlicher Unterschied des Bundesrats  – wie freilich auch schon des Reichsrats der Weimarer Republik – zu seinen historischen Vorgängern besteht darin, dass der Bundesrat – so er als Plenum tagt – keinen Gesandtenkongress im buchstäblichen Sinn darstellt29: Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG besteht der Bun­ desrat aus Mitgliedern der Landesregierungen (s. u. Rn. 86), also gerade nicht aus Diplomaten oder Ministerialbeamten; allerdings arbeiten in den Ausschüssen des Bundesrats auch Vertreter der Ministerialverwaltungen (s. u. Rn. 89 f.).

16

25

Vgl. Th. I. Schmidt, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 22, Rn. 14. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 36 ff. 27 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 57. 28 Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 36 ff.; wichtigstes Beispiel sind die USA. 29 So auch Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 37; beachte jedoch Badura, Staats­ recht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 57, welcher den Typ des „Gesandtenkongresses“ (oder synonym „Bundesratstyp“) – mit durch die Regierungen der Gliedstaaten instruierten Mitgliedern – dem Typen des Senats – mit durch die Bevölkerung der Gliedstaaten gewählten Mitgliedern – gegenüberstellt und den Bundesrat des Grundgesetzes folglich – in sich konsequent – als „Ge­ sandtenkongress“ in diesem Sinne einordnet. 26

248

§ 3 Bundesrat

17

Über die grundsätzliche Rolle des Bundesrats bestand im Parlamentarischen Rat weitgehend Einigkeit: Er sollte als föderal zusammengesetztes (Bundes-) Verfassungsorgan den Willen der Bundesländer bündeln und auf diese Weise ein politisches Gegengewicht zum unitarischen Organ Bundestag bilden.30

18

Uneinigkeit herrschte im Parlamentarischen Rat hinsichtlich der konkreten institutionellen Ausgestaltung des Föderativorgans. Dies betraf einerseits die Frage der Kreation bzw. der Zusammensetzung des Föderativorgans: Die Vorschläge eines Staatenausschusses oder eines Senats haben sich dabei – entgegen dem Vor­ schlag eines Senats im Herrenchiemseer Verfassungsentwurf  – gegenüber dem Exekutivratsmodell nicht durchgesetzt.31 Andererseits wurden auch unterschied­ liche Auffassungen zu der Frage vertreten, wie und durch welche Kompetenzen die verfassungspolitische Stärke der Ländervertretung auf Bundesebene letztend­ lich zu bestimmen sei.32 Insbesondere ging es um die Frage, ob das Föderativ­ organ gegenüber dem unitarischen Bundestag gleichberechtigt oder kompetenziell untergeordnet sein soll (s. u. Rn. 51 ff.). Diese Kontroversen haben letztlich zu einer insgesamt – vom Umfang wie vom Inhalt her – eher zurückhaltenden Regelung in den Art. 50 bis 53 GG geführt. 3. Reformdiskussionen nach 1949

19

Auch nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland kam es immer wieder zu verfassungsrechtspolitischen Diskussionen, ob im Zuge der Verfassungsän­ derung als institutionelle Alternativen statt des Bundesrats ein Senat oder ein Länderrat als neue Verfassungsorgane geschaffen werden sollten.33

20

Die Einführung eines Senats durch Verfassungsänderung wurde auch als mögliches Element einer umfassenderen Föderalismusreform in Betracht gezogen.34 Bislang kam es je­ doch zu keiner umfassenden Reform des Bundesrats. Offenbar ist das Bundesratsmodell zu 30 Vgl. den Redebeitrag von Carlo Schmidt in Stenographische Berichte des Parlamenta­ rischen Rates, Sitzung des Hauptausschusses vom 30.11.1948, S. 16; vgl. auch Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, 1998, S. 213. 31 Art. 66 des Verfassungsentwurfs vom Herrenchiemsee sah noch die Einrichtung eines Senats als ‚echte‘ zweite Kammer vor, dessen Vertreter durch die Landesparlamente gewählt werden sollten. 32 Vgl. etwa die Darstellung bei Rapp, Der Bundesrat, 1974, S. 15; Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, 1998, S. 212 ff. 33 Vgl. Lindemann, Das antiquierte Grundgesetz. Plädoyer für eine zeitgemäße Verfassung, 1966, S. 196 ff., 227 ff.; dazu Kloepfer, JR 1970, 361 (361 f.); vgl. zu den Reformdiskussionen auch Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 314 f. – wieder etwas anderes ist der „Länderrat“ von Bündnis 90/Die Grünen: Es handelt sich um ein Organ innerhalb der Binnenorganisation dieser politischen Partei. 34 Vgl. J. Schmidt, Die Struktur der Zweiten Kammer im Rechtsvergleich. Ein Beitrag zur Reform des Bundesrates, 2006; S. 284 ff.; dies., DÖV 2006, S. 379 (384 f.); skeptisch gegenüber der Einführung der Senatslösung durch Verfassungsänderung Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 16 f.

A. Allgemeines

249

stark in der deutschen Verfassungstradition (s. o. Rn. 14) verankert und fügt sich zudem in das grundgesetzliche Föderalismusmodell mit starker Bundeslegislative bei starker Länderverwal­ tung ein. Beispielsweise stellte die Enquête-Kommission Verfassungsreform (1970–76) fest, dass sich das deutsche Bundesratssystem bewährt habe und nicht durch ein Senats- oder Misch­ modell abgelöst werden solle.35 Mit der Föderalismusreform I wurde im Jahr 2006 die institu­ tionelle Gestalt des Bundesrats sodann auch unberührt gelassen, wohl aber der Versuch unter­ nommen, die Zahl der zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze zu verringern (s. u. Rn. 66).

Insgesamt ist die Entscheidung zur Einrichtung des Bundesrats in seiner kon­ kreten Form nach den Art. 50 ff. GG – nicht aber die Entscheidung für ein födera­ tives Bundesorgan überhaupt – eine der am stärksten kritisierten Regelungen des Staatsorganisationsrechts des Grundgesetzes.36 Dies liegt vor allem an den Span­ nungen zwischen der exekutivlastigen Ausgestaltung des Bundesrats einerseits und der Grundentscheidung für die parlamentarische Demokratie andererseits.

21

4. Sitz des Bundesrats Am 27. September 1996 hat der Bundesrat Berlin zu seinem Sitz bestimmt (s. § 1 Rn. 109).37 Die erste Sitzung im aktuellen Dienstgebäude, dem ehemaligen Preußischen Herrenhaus, fand am 29. September 2000 statt.

22

Vor dem Jahr 2000 war Bonn Dienstsitz des Bundesrats. Der Bundesrat arbeitet im Nord­ flügel des Bundeshauses; dort befindet sich heute eine Außenstelle des Bundesrats.

23

III. Funktionen des Bundesrats 1. Interessenvertretung der Länder durch ein Organ des Bundes Der Bundesrat als Bundesorgan schützt die Länderinteressen auf Bundesebene. Nach der grundsätzlichen Funktionsbeschreibung des Art. 50 GG wirken die Länder durch den Bundesrat bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes sowie – seit einer Grundgesetzänderung aus dem Jahre 199238 – in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Der Bundesrat hat also die Interessen der Länder, konkretisiert durch die Vorstellungen der Länderregierungen, beim legislativen, 35 Vgl. Abschlussbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924 v. 09.12.1976, S. 96 ff.; hierzu Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaats­ recht, 1998, S. 314 f. 36 Vgl. Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (72): „Der Bundesrat […] paßt […] überhaupt nicht in die Struktur einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung“; dagegen Sachs, VVDStRL 58 (1999), 39 (49 ff., 76); referierend zur Kritik am institutionellen Arrangement Bundesrat wie auch zur Verteidigung desselben C. Möllers, in: Aulehner u. a. (Hrsg.), Föde­ ralismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 81 (104 f.) m. w. N. 37 Beschl. des Bundesrats v. 27.9.1996. 38 Änderung des Grundgesetzes v. 21.12.1992, BGBl. I, S. 2086.

24

250

§ 3 Bundesrat

administrativen und EU-relevanten Zusammenwirken der Organe des Bundes zu wahren. Diese funktionale Aufgabenbeschreibung des Art. 50 GG bringt ebenso wie die Bezeichnung „Bundesrat“ die Zugehörigkeit dieses Verfassungsorgans zur Bundesebene zum Ausdruck. 25

Der Bundesrat ist ein Bundesorgan, ein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland und spielt eine wichtige Rolle bei der politischen Willensbildung des Bundes. Deshalb ist er weder an der Willensbildung in den einzelnen Ländern be­ teiligt noch repräsentiert er ‚das Volk der Länder‘. Die Entscheidungen, an denen der Bundesrat mitwirkt, beruhen mithin nicht auf dem demokratischen Willen der Gliedstaaten, sondern sind Ergebnis der staatlichen Willensbildung auf Bundes­ ebene (s. auch Rn. 46). An dieser Willensbildung des Bundes wirken die Landes­ regierungen durch den Bundesrat mittelbar mit.39

26

In der ‚Ewigkeitsklausel‘ des Art. 79 Abs. 3 GG40 werden Grundgesetzänderun­ gen, durch welche „die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzge­ bung“ berührt wird, für unzulässig erklärt. Hiermit ist jedoch nicht die konkrete institutionelle Form der Mitwirkung der Länder gerade über den Bundesrat garan­ tiert (s. § 1 Rn. 179). Im Wege der Verfassungsänderung wäre daher die Einfüh­ rung alternativer institutioneller Modelle (s. Rn. 19 f. und 325) zulässig. Zudem bezieht sich die ‚Ewigkeitsgarantie‘ lediglich auf die Mitwirkung der Länder im Bereich der Bundesgesetzgebung, nicht aber der Verwaltung oder in Angelegen­ heiten der Europäischen Union.

27

Auch bereits nach geltendem Verfassungsrecht ist die Mitwirkung der Län­ der an Bundesangelegenheiten nicht auf den formell-institutionalisierten Weg über den Bundesrat beschränkt. Es gibt gegenüber dem Bundesrat alternative For­men der Mitwirkung der Länder an Bundesangelegenheiten: Dies betrifft zunächst informale Einrichtungen wie Konferenzen von Bundes- und Landes­ ministerien. Das Grundgesetz sieht aber auch ausdrücklich Alternativen zum Bundesrat vor:41 Beispielsweise wird der Einfluss der Länder bei der Wahl von Richterinnen und Richtern der obersten Gerichtshöfe des Bundes42 über die hälftige Besetzung eines Richterwahlausschusses mit Landesministern gesichert (vgl. Art. 95 Abs. 2 GG; s. u. Rn. 267); der Bundesrat ist hieran nicht beteiligt. Auch bei der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung wird das föderale Element nicht etwa durch den Bundesrat wahrgenommen, sondern durch die hälftige Besetzung der Bundesversammlung durch Mitglieder, die von den Landtagen gewählt werden (s. § 6 Rn. 3, 9 ff.).

39

Vgl. zum Ganzen BVerfGE 8, 104 (120) – Volksbefragung. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 126 ff. 41 Vgl. auch Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 11, der auf weitere Alternativmodelle der Ländermitwirkung in Art. 32 Abs. 2 GG und Art. 91a GG hinweist. 42 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 23, Rn. 78 ff. 40

A. Allgemeines

251

In Einzelfällen nehmen informale ‚Formen‘ der Mitwirkung der Länder an Bundesangelegenheiten Entscheidungen des Bundesrats faktisch sogar vorweg. So werden beispielsweise Entscheidungen über die hälftig vom Bundesrat zu wählenden Mitglieder des Bundesverfas­ sungsgerichts (s. u. Rn. 265, 317, s. § 8 Rn. 162) bereits in der Ministerpräsidentenkonferenz faktisch (vor-)entschieden. Die dieser Auswahl nachgelagerte formale Wahl findet dann frei­ lich im Bundesrat statt.

28

2. Faktor der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung Die Hauptfunktion des Bundesrats als Bundesorgan zur Interessenvertretung der Länder weist ihm eine wichtige Rolle im föderativen Staatsaufbau der Bundes­ republik Deutschland zu: Der Bundesrat baut auf die grundgesetzliche Entschei­ dung für eine bundesstaatliche, d. h. ‚vertikale‘ Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern auf, verschränkt Bundes- und Ländergewalt aber zugleich, indem er Länderinteressen auf Bundesebene integriert.

29

Neben dieses vertikal-gewaltenverschränkende Element im Verhältnis von Bund und Ländern tritt die besondere Bedeutung des Bundesrats für die horizontale Gewalten- und Funktionenverschränkung auf Bundesebene: Die Einordnung des Bundesrats in die horizontale Gewaltenteilung fällt dabei jedoch nicht leicht. Der Bundesrat hat Aufgaben im Bereich von allen drei Gewalten: Im Gesetzgebungs­ verfahren (s. u. Rn. 172 ff.), bei der Verwaltung (s. u. Rn. 221 ff.) und sogar in der Ju­ dikative (etwa bei der Wahl der Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 Abs. 1 GG, s. u. Rn. 264 f.). Zudem liegen manche Aufgaben des Bun­ desrats ‚quer‘ zur klassischen Einteilung der drei Staatsfunktionen: So entscheidet der Bundesrat beim sog. Mängelrügeverfahren nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG beim Landesvollzug von Bundesgesetzen im Rahmen der sog. Bundesaufsichtsverwal­ tung (s. u. Rn. 229)43 – eine Befugnis, die exekutive und (quasi-)judikative Aspekte verbindet. Sicherlich sind insgesamt die Gesetzgebungskompetenzen des Bun­ desrats mit Abstand die bedeutendsten Zuständigkeiten des Bundesrats. Poli­ tisch sieht das Grundgesetz den Bundesrat vor allem als ‚Vertretungs‘-Organ der Landesregierungen.

30

Für seine Aufgaben im Rahmen der horizontalen Gewaltenteilung ist der Bundesrat auch im Verfassungsprozessrecht, insbesondere durch seine Antragsberechtigung im Organstreit­ verfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), aber etwa auch durch das Recht, den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen (Art. 61 Abs. 1 GG), gewappnet.44

31

Die konkrete institutionelle Ausgestaltung des Bundesrats verwirklicht somit nicht den Gedanken einer strikten horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung, son­ dern bildet gerade auch ein horizontal und vertikal gewaltenverschränkendes,

32

43 44

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 59 f. Zur verfassungsprozessualen Stellung des Bundesrats: s. u. Rn. 268.

252

§ 3 Bundesrat

staatsfunktion- und staatsebenenübergreifendes Bindeglied in der institutionel­ len Ausgestaltung der Bundesgewalt in ihrem Verhältnis zu den Ländern. 33

Durchaus kritikwürdig ist hierbei die Tatsache, dass die konkrete Ausgestaltung des Bun­ desrats, insbesondere seine Zusammensetzung aus Vertretern der Exekutiven der Länder, die ohnehin bestehende Exekutivlastigkeit der grundgesetzlichen Ordnung noch vertieft.45

34

Freilich ist die Exekutivprägung des Bundesrats durchaus funktional folgerichtig: Der grundgesetzliche Föderalismus ist wesentlich durch die Funktionentrennung von Bundesgesetzgebung einerseits und Landesvollzug von Bundesgesetzen andererseits geprägt.46 In die­ sem größeren Zusammenhang wird deutlich, dass der Bundesrat die Möglichkeit bietet, die besondere Verwaltungsexpertise der Landesbürokratien („Technokratie“) in die Bundes­ gesetzgebung aufzunehmen.47 Dies wird insbesondere auch durch die Öffnung der Bundesrats­ ausschüsse für Landesbeamte (vgl. Art. 52 Abs. 4 GG; s. u. Rn. 89 f.) befördert.

3. Weitere, ergänzende Funktionen 35

Neben der ausdrücklich in Art. 50 GG ausgesprochenen Funktionsbestimmung der Interessenvertretung der Länder auf der Ebene des Bundes und der in Art. 50 GG jedenfalls angedeuteten Bedeutung für die Gewaltenteilung und -verschrän­kung erfüllt der Bundesrat weitere, weniger direkt im Verfassungstext gefasste Funktio­ nen; solche lassen sich jedoch aus Einzelbefugnissen des Bundesrats ableiten.48

36

So verdeutlicht etwa das Recht des Bundesrats, im formellen Gesetzgebungsverfahren die Einberufung des Vermittlungsausschusses zu beantragen (Art. 77 Abs. 2 GG, s. u. Rn. 183 ff.), die zentrale Rolle des Bundesrats für das Finden von Kompromissen in der Bundesgesetzgebung. Die Kompromissbildung kann dabei nicht nur föderativ, sondern auch parteipolitisch motiviert sein (s. u. Rn. 56 ff.).

37

Das Erfordernis der Kompromissbildung bei der Gesetzgebung sollte dabei grundsätzlich nicht primär als Negativum („Blockade“; s. u. Rn. 65 ff.), sondern gerade auch als Chance zur ‚guten Gesetzgebung‘ gesehen werden; Bundesrat und Vermittlungsausschuss können als Korrektive und „Rationalitätsreserven“ wirksam werden.49 45 Zum „Kompetenzdilemma der Landesparlamente“ Scholz, in: Parlamentarische Demo­ kratie in der Bewährung. Ausgewählte Abhandlungen, 2012, S. 69 ff. 46 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 134. 47 Den Aspekt der Verwaltungsexpertise der Länder und seine Bedeutung für die Gewal­ tenteilung bzw. Gewaltenverschränkung hat insbesondere auch Hesse, Der unitarische Bun­ desstaat, 1962, betont. Kritik an der Argumentation Hesses bei C. Möllers, in: Aulehner u. a. (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 81 (94 f., 111): „Technokratie“ der Länder als Ersatz für die „dynastische Legitimität“ der Gliedstaaten des Kaiserreichs; jeweils mit anti-parlamentarischer Tendenz. 48 Herzog, in: Isensee / K irchhof (Hrsg.), HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 58, Rn. 1, weist darauf hin, dass das Grundgesetz überwiegend Zuständigkeiten und Rechte, also Befugnisse des Bundesrates formuliert, mit Ausnahme des Art. 50 GG jedoch nicht ausdrücklich die Auf­ gaben und Funktionen desselben umschreibt. 49 Vgl. Sturm, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 24, Rn. 9, 13, dort auch zum sog. ‚sanior pars‘-Gedanken.

A. Allgemeines

253

Das Grundgesetz verwendet den Bundesrat außerdem als institutionelles Instrument, um die Abänderbarkeit bestimmter Grundentscheidungen der Verfassung zu erschweren. Besonders deutlich wird dies beim Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen des Bundesrats für Verfassungsänderungen nach Art. 79 Abs. 2 GG (s. u. Rn. 192). Ein anderes Beispiel stellt die Vorschrift des Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG dar, nach welcher neue bundeseigene Mittel- und Unterbehörden – in Abweichung von der grundgesetzlichen Entscheidung für den Grundsatz des Vollzugs von Bundesgesetzen durch die Länder – nur mit Zustimmung des Bundesrats geschaffen werden dürfen (s. u. Rn. 231 ff.).

38

Im Regelfall werden im Bundesrat zwar die Interessen aller Länder verhandelt, in Einzel­ fällen kann der Bundesrat aber gerade auch die Funktion haben, die Interessen von ­Gruppen von Ländern (z. B. von Küstenländern, von ‚neuen‘ Ländern oder von finanzschwachen Ländern50), aber auch nur die Interessen eines einzelnen Landes auf Bundesebene zu wah­ ren. Nach Art. 37 GG etwa erfordert der Bundeszwang gegen ein Land die Zustimmung des Bundesrats (s. u. Rn. 254).51 Ähnliches gilt für Maßnahmen beim Staatsnotstand nach Art. 91 Abs. 2 GG, wenn sie nur ein Land betreffen. Hier kann der Bundesrat zum Beispiel die Ein­ stellung des Einsatzes von Streitkräften verlangen (Art. 87a Abs. 4 S. 2 GG; s. u. Rn. 252). Die Tatsache, dass der Bundesrat in konkreten Entscheidungssituationen nicht notwendigerweise die Interessen aller Länder gleichermaßen vertritt, spiegelt sich darin, dass Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG für die Entscheidungen des Bundesrats nicht etwa das Einstimmigkeitsprinzip, son­ dern das Mehrheitsprinzip vorsieht (s. u. Rn. 145).

39

Nach Herzog hat der Bundesrat – zumindest potentiell52– als „politisches Führungsorgan“ einen nicht unerheblichen Anteil an der Staatsleitung (s. auch § 1 Rn. 45 f.): Zwar sei die politische Bedeutung des Bundesrats gegenüber jener von Bundesregierung und Bundestag geringer einzuschätzen, allerdings sei der Bundesrat insbesondere angesichts der Verschrän­ kung von Bundestagsmehrheit und Regierungskoalition wichtig für die „politische Gewalten­ teilung“ auf Bundesebene.53

40

IV. Bundesrat und Bundestag 1. Unterschiede zwischen Bundesrat und Bundestag Die „Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes“ (vgl. Art. 50 Var. 1 GG) bringt den Bundesrat in eine funktionelle Nähe zum Bundestag. Beide Organe wer­ den vom Grundgesetz selbst als die „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften“ bezeichnet (Art. 59 Abs. 2 GG), wobei beide Verfassungsorgane 50

Vgl. zur Stellung der finanzschwächeren Länder im Bundesrat Herzog, in: Isensee / K irch­ hof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 7, der darauf hinweist, dass die „vergleichsweise finanzschwachen Länder im Bundesrat seit je über die Mehrheit der Stimmen verfügen.“ 51 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 62 ff. 52 Der Bundesrat schöpfe dieses Potential bisher in selbstauferlegter – durchaus kluger – Zurückhaltung nicht voll aus: Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 43. 53 Herzog, BayVBl 1966, 181; ders., in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 34 ff.

41

254

§ 3 Bundesrat

keine echten Körperschaften im Sinn des (verwaltungsrechtlichen) Organisations­ rechts sind (s. § 1 Rn. 35). Allerdings sind beide Verfassungsorgane sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Legitimation unterschiedlich ausgestaltet. Dies entspricht dem Ziel des Verfassungsgebers, zwischen den gesetzgebenden Organen eine ge­ wisse Spannung, wenn nicht Polarität zu erzeugen. 42

Der markanteste strukturelle Unterschied zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat liegt darin, dass der Bundesrat personell und damit auch sachlich keinem Legislaturzyklus unterliegt; er ist ein „permanentes Organ“54 nicht nur im orga­ nisatorischen Sinne. Weil er im Gegensatz zum Bundestag nicht dem Grundsatz der personellen und sachlichen Diskontinuität unterworfen ist (s. o. § 2 Rn. 205 ff.), kann er beispielsweise auch nach Ablauf einer Legislaturperiode des Bundestags noch mit dessen Gesetzesvorlagen befasst werden.55

43

Mit dem Grundsatz der Permanenz ist freilich bisher kein erkennbarer Zuwachs von politischem Gewicht des Bundesrats gegenüber dem Bundestag verbunden.

44

Der Unterschied von Diskontinuität (des Bundestags) und Permanenz (des Bundesrats) hat jedenfalls Auswirkungen auf die Zitierweise der Drucksachen der jeweiligen Organe: Die Bun­destagsdrucksachen werden nach der Legislaturperiode zitiert (z. B. 19/1000), während beim Bundesrat nach Jahren zitiert wird (im Jahr 2018 z. B. 100/18).

45

Darüber hinaus ist der Unterschied zwischen Bundestag und Bundesrat im Grad der demokratischen Legitimation offensichtlich: Während der Bundestag durch die periodisch stattfindenden Parlamentswahlen unmittelbar vom Volk legitimiert ist, lässt sich die demokratische Legitimation des Bundesrats nur mittelbar auf das Volk zurückführen, weil die Mitglieder des Bundesrats Mitglieder parlamentarisch gewählter Landesregierungen sind.

46

Im Schrifttum wird vereinzelt die Auffassung vertreten, der Bundesrat sei nicht einmal mittelbar demokratisch legitimiert, da der „Legitimationskörper Landesvolk“ (s. § 1 Rn. 9) keine demokratische Legitimation auf Bundesebene vermitteln könne.56 Allerdings gelte die verfassungskräftige Anordnung der Einrichtung des Bundesrats als Bundesorgan unabhängig von dieser verfassungstheoretischen Frage, sodass es sich bei der Einrichtung des Bundesrats nicht etwa um einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip und nicht um verfassungswidriges Verfassungsrecht (Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG) handele.57

47

Schließlich sind die Abgeordneten des Bundestages „an Aufträge und Weisun­ gen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), verfügen also über ein freies Mandat (s. o. § 2 Rn. 246 ff.). Die Mitglieder des Bun­ 54 Eschenburg, in: Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft – Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 35 (38). 55 Kloepfer, Jura 1991, 169 (175). 56 C. Möllers, in: Aulehner u. a. (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staat­ lichkeit?, 1997, S. 81 (103) m. w. N. 57 Vgl. C. Möllers, in: Aulehner u. a. (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 81 (104).

A. Allgemeines

255

desrats als Mitglieder der Landesregierungen sind dagegen mit einem imperativen Mandat ausgestattet, unterliegen also den Weisungen der sie entsendenden Lan­ desregierung (arg. e contrario Art. 77 Abs. 2 S. 3 GG). Freilich gilt es zu berücksichtigen, dass trotz dieses – landesregierungsintern – imperativen Mandats nach Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG die Stimmen eines Landes im Bundesrat einheitlich abgegeben werden müssen (s. u. Rn. 156 ff.). Das bedeutet, dass ein Mitglied des Bundesrats, welches entgegen der Weisung seiner Landesregierung abstimmt, im Außenverhältnis nicht etwa durch die sonstigen Stimmen dieses Landes oder dessen sog. Stimmführer überstimmt werden kann (ausführlich hierzu Rn. 92, 156 ff.).58

48

Während Bundestagsabgeordnete keine Vertreter haben, können Bundesratsmitglieder sich vertreten lassen. Indemnität, Immunität und Zeugnisverweige­ rungsrecht haben nur Mitglieder des Bundestags (s. § 2 Rn. 293 ff.). Zwischen der Mitgliedschaft im Bundesrat und im Bundestag besteht im Übrigen Inkompatibi­ lität (vgl. § 2 GOBR; s. u. 87).

49

Unterschiede zwischen Bundesrat und Bundestag gibt es weiterhin hinsichtlich des typischerweise vorherrschenden (Debatten-)Stils. Gemeinhin wird der Bundes­ rat mit einer gemäßigteren politischen Debattenkultur in Verbindung gebracht („leises Kammerspiel“).59 Der Ton bewegt sich zwischen „kühler Sachlichkeit“ und „menschlicher Verbindlichkeit“.60 Der gedämpfte Stil mag auch damit zu tun haben, dass die Bundesratsmitglieder Vertreter der jeweiligen Landesexekutive sind (s. u. Rn. 86 ff.).

50

2. Bundesrat als ‚Zweite Kammer‘? Trotz der vielfältigen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Bundesgesetzgebung ist der Bundesrat keine (‚echte‘) „Zweite Kammer“.61 Das Bundesverfassungsgericht lehnt diese Deutung (des Bundesrats als ‚Zweite Kammer‘) zutreffenderweise ab, da der Bundesrat innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens neben dem Bundestag keine gleichwertigen Entscheidungsbefugnisse besitze62 und auch nicht entspre­ chend demokratisch legitimiert sei. 58

Vgl. BVerfGE 106, 310 – Zuwanderungsgesetz. Vgl. Herles, in: Bundesrat (Hrsg.), Vierzig Jahre Bundesrat, 1989, S. 231 ff., welcher dem Bundestag den Charakter einer „dramatischen Schaubühne“ und dem Bundesrat denjenigen eines „leise[n] Kammerspiel[s]“ zuordnet. Diesen Zuordnungen liegt freilich eine gewisse Klischeebildung zu Grunde. Auch im Bundesrat kommt es gelegentlich zu lautstarken „In­ szenierungen“, so bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz am 22.03.2002, vgl. Bräuninger / Gschwend / Shikano, Politische Vierteljahresschrift 2010, 223 (224, Fußn. 1). 60 Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 50. 61 So („Zweite Kammer“) aber lautete die Bezeichnung in den Verhandlungen des Parla­ mentarischen Rates, vgl. den Redebeitrag von Süsterhenn in Stenographische Berichte der Hauptausschußsitzung vom 30.11.1948, S. 148; vgl. auch Klein, AöR 108 (1983), 329 (330 f.). 62 BVerfGE 37, 363 (380) – Bundesrat, unter Verweis auf Friesenhahn, in: Bundesrat (Hrsg.) Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft – Beiträge zum 25jährigen Bestehen 59

51

256

§ 3 Bundesrat

52

Nach der Konzeption des Grundgesetzes verbleibt dem Bundesrat gegenüber den Gesetzes­ beschlüssen des Bundestags regelmäßig allein eine Einspruchsbefugnis. Nur in bestimmten Fällen ordnet das Grundgesetz für Gesetzesbeschlüsse das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrats an (s. u. Rn. 186 ff.). Darin liegt der wesentliche Unterschied zu den ‚echten‘ ZweiKammer-Systemen der Verfassungen anderer Staaten, in denen sämtliche Gesetzesbeschlüsse der Entscheidungsmacht beider Kammern unterliegen.63 Auch sind Bundestag und Bundesrat nicht etwa Teile eines einheitlichen, beiden Teilen (begrifflich-systematisch) übergeordneten Gesetzgebungsorgans ‚Parlament‘, wie dies etwa in den USA (Kongress aus Repräsentanten­ haus und Senat) der Fall ist.64

53

Im Schrifttum wird allerdings mitunter darauf hingewiesen, dass der Bundesrat angesichts seiner Kompetenzausstattung und der indirekten Legitimation seiner Mitglieder durch die Landesparlamente als (teilweises) „funktionales Äquivalent einer Zweiten Kammer“ be­ zeichnet werden könne, wobei dies teilweise auf den Bereich der Zustimmungsgesetze begrenzt wird.65 Bereits diese Einschränkung auf Zustimmungsgesetze zeigt, dass die Einordnung des Bundesrats auch als ‚unechte‘ ‚zweite Kammer‘ fragwürdig ist. Außerdem droht hierbei aus dem Blick zu geraten, dass sich die Funktion des Bundesrats gerade nicht darin erschöpft, zu­ sammen mit dem Bundestag an der Gesetzgebung mitzuwirken. Die Aufgaben und Befugnisse des Bundesrats gehen über die Legislativfunktion hinaus, wenngleich dort der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt (s. o. Rn. 30).

54

Dass abweichend von der grundgesetzlichen Systematik in der Verfassungs­ praxis vor der Föderalismusreform I66 die Zahl der Zustimmungsgesetze über­ wog,67 rechtfertigt es nicht, den Bundesrat an der konstitutionellen Vorgabe vorbei als eine „faktische zweite Kammer“ zu bezeichnen.68 Denn es darf nicht verkannt werden, dass der Bundesrat – trotz seines Gesetzesinitiativrechts (Art. 76 Abs. 1 Var. 3 GG) und der u. U. eröffneten Einwirkungsmöglichkeiten über den Vermitt­

des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 251 ff. Ebenso Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 46. 63 Wie etwa in Art. 156 Abs. 2 der Schweizer Bundesverfassung; vgl. auch BVerfGE 37, 363 (381) – Bundesrat; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 56. 64 Vgl. Klein, AöR 108 (1983), 329 (331). 65 Eith / Siewert, in: Riescher / Ruß / Haas (Hrsg.), Zweite Kammern, 2. Aufl. 2010, S. 97 ff. (102), m. w. N. 66 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 196 ff. 67 Sie machten seit Anfang der 80er Jahre bis zur Föderalismusreform I im Jahr 2006 etwa zwischen 55 % und 60 % aller Bundesgesetze aus: Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisations­ recht, 30. Aufl. 2018, Rn. 353, Fn. 19; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 130. In der 15. Legislaturperiode (2002 bis 2005), der letzten Legislaturperiode vor der Föderalismusreform I, lag der Wert bei 51 %, vgl. Georgii / Borhanian, Zustimmungs­ gesetze nach der Föderalismusreform (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundesta­ ges), 2006, S. 3. In der 18. Legislaturperiode (2013 bis 2017) machten Zustimmungsgesetze nur noch ca. 36,5 % aus: Laut Statistik des Bundesrats wurden in der 18. Legislaturperiode insgesamt 548 Gesetzesvorlagen durch den Bundesrat beraten; davon waren nach Auffas­ sung des Bundesrats 197 Vorlagen zustimmungsbedürftig; hinzu kamen drei Grundgesetz­ änderungen (vgl. http://www.bundesrat.de/SharedDocs/downloads/DE/statistik/18wp.pdf?__ blob=publicationFile&v=32; letzter Abruf am 22.07.2020). 68 So Wyduckel, DÖV 1989, 181 ff.

A. Allgemeines

257

lungsausschuss (vgl. Art. 77 Abs. 2 GG)  – insgesamt durch das Zustimmungs­ erfordernis regelmäßig mehr kritisch-reagierend als konstruktiv-agierend in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden ist. Für die konkreten verfassungsrechtlichen Befugnisse ist die staats- und politikwissenschaftliche Frage, ob der Bundesrat als ‚zweite Kammer‘ zu qualifizieren ist oder nicht, grundsätzlich ohnehin ohne Bedeutung.69 Letztlich handelt es sich hierbei vor allem auch um eine Kategorie des vertikalen und horizontalen Verfassungsvergleichs.70 Der rechtsver­ gleichende Blick kann dabei durchaus informativ für das deutsche Verfassungsrecht sein: Beispielsweise verdeutlicht die Gegenüberstellung des Bundesrats mit (anderen) ‚echten‘ und ‚unechten‘ Kammern im Ausland Funktionen des Bundesrats, die nicht ausdrücklich in der zentralen Funktionsbestimmung in Art. 50 GG niedergeschrieben sind, tatsächlich aber von diesem wahrgenommen werden, etwa die wichtige Rolle für die Kompromissbildung bei der Gesetzgebung (s. o. Rn. 36).

55

V. Bundesrat und politische Parteien 1. Bundesrat im „Parteienbundesstaat“ Eine von der Verfassung nicht intendierte Realität ist die – häufig beobacht­ bare – Instrumentalisierung des Bundesrats zur Durchsetzung parteipolitischer Ziele im „Parteienbundesstaat“.71 In Zeiten, in denen die parteipolitische Oppo­ sition im Bundestag über die Mehrheit im Bundesrat verfügt, kann sie über die Anrufung des Vermittlungsausschusses bzw. über den Einspruch gegen Parla­ mentsbeschlüsse, vor allem durch die Verweigerung der Zustimmung zu Zustim­ mungsgesetzen, Einfluss auf die Politik der Regierungsmehrheit im Bundestag ausüben. Zum Teil entsteht dann der Eindruck, der Bundesrat sei weniger die Stimme der Länder als vielmehr ein Instrument der jeweiligen Oppositionspar­ teien auf Bundesebene.72

69 Vgl. Friesenhahn, in: Bundesrat (Hrsg.) Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politi­ sche Kraft – Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates der Bundesrepublik Deutsch­ land, 1974, S. 251; Klein, AöR 108 (1983), 329 (331). Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg., Januar 2009, Art. 55, Rn. 14, bezeichnet die Frage, ob der Bundesrat eine ‚echte‘ „Zweite Kammer“ sei, wohl auch deshalb als „etwas kindlich[e], zu bestimmten Zeiten aber ernsthaft diskutiert[e] Frage.“ 70 Vgl. Sturm, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 24, Rn. 1 f., 6. 71 Eine frühe Erwähnung des Begriffs „Parteienbundesstaat“ findet sich bei Bilfinger, DJZ 1932, Sp. 1017 (1018), mit Blick auf die Auswirkungen des Konflikts zwischen Preußen und dem Reich auf den Reichsrat; vgl. Klein, DÖV 1971, 325 (329); nunmehr umfassend aus poli­ tikwissenschaftlicher Sicht Decker, Regieren im „Parteienbundesstaat“. Zur Architektur der deutschen Politik, 2011, welcher den Begriff des „Parteienbundesstaats“ sehr weitgehend als Bezeichnung für das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland überhaupt verwen­ det; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 18, sowie § 9, Rn. 58. 72 Hierzu eingehend Dolzer, VVDStRL 58 (1999), 7 (19 ff.).

56

258

§ 3 Bundesrat

57

Die Bedeutung der parteipolitischen Kräfteverhältnisse im Bundesrat für die Bundes(partei)politik war schon früh unübersehbar.73 Sowohl die Wahlen zu den Landesparlamenten als auch die Entscheidungen über Koalitionen auf Lan­ desebene finden stets auch unter besonderer Berücksichtigung der Mehrheitsver­ hältnisse im Bundesrat statt.

58

Zwar ist von der Verfassung durch die Mitwirkungsbefugnis des Bundesrats eine gegenseitige – auch parteipolitische – Einflussnahme unter den Gesetzgebungskörperschaften und Regierungen in Bund und Ländern durchaus beabsichtigt.74 Das Verfassungsrecht darf diese politischen Entwicklungen zum Parteienbundes­ staat nicht ignorieren.75 Andererseits entzieht sich dieser Trend grundsätzlich einer Beurteilung als verfassungsrechtlich zulässig bzw. unzulässig.76 2. „Strukturbruch“-These

59

Jedenfalls aber führt der Parteienbundesstaat zu einer besonderen Spannungslage: Während im Bundestag das Mehrheitsprinzip und der Parteienwettbewerb hervortreten, wird die Arbeit im Bundesrat eher durch eine Art von ‚Konsens‘Prinzip geprägt. Freilich gilt im Bundesrat formal gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG auch das Mehrheitsprinzip (der Stimmen; s. u. Rn. 145); mit Blick auf die partei­ politischen Einflüsse (verschiedene Koalitionen in den Ländern) wirkt jedoch häufig ein faktisches ‚Konsens‘-Prinzip (der parteipolitischen Kräfte). Zum Teil wird diese Spannung zwischen Mehrheitsprinzip im Bundestag und parteipoli­ tisch durchflochtenem ‚Konsens‘-Prinzip im Bundesrat als fundamentaler „Struk­ turbruch“ (Lehmbruch) im grundgesetzlichen Verfassungssystem beschrieben:77 Während die politischen Parteien im Bundestag vor allem im politischen Wett­ bewerb stehen würden, seien sie im Bundesrat oftmals zur (lagerübergreifenden) 73 Bei Süsterhenn (Senats- oder Bundesratssystem?, in: Speyerer Beiträge, 1957, S. 73, 81) wird Bundeskanzler Adenauer auf dem 6. CDU-Parteitag des Jahres 1956 in Stuttgart wie folgt zitiert: „Bei Schaffung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat … waren wir noch von der Illusion gefangen, die Länder­re­gie­r ungen würden sich loslösen vom Kampf der Par­ teien, und wir nahmen an, daß nicht dieselben Partei­vor­stände oder Fraktionsvorstände, die im Bundestag ihren Einfluß ausüben, dies nun auch im Bundesrat tun würden.“ 74 In den Bundesstaaten nach angelsächsischem Vorbild (USA, Kanada, Australien etc.) sind die Tätigkeitsbereiche von Gesamt- oder Zentralstaat und Gliedstaaten strenger voneinander getrennt als in denen Zentraleuropas, wie z. B. Deutschland, Schweiz, Österreich; eingehend dazu Maunz, in: ders. / Dürig, GG (32. Ergänzungslieferung, Oktober 1996), Art. 50, Rn. 2. 75 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 130. 76 Siehe nur Klein, DÖV 1971, 325, der den Einfluss im Ergebnis jedoch für zulässig hält (a. a. O., S. 330). Wie hier auch Maunz, in: ders. / Dürig, GG (Erstbearbeitung, November 1958), Art. 50, Rn. 26. 77 Vgl. die „Strukturbruchthese“ von Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 3. Aufl. 2000, S. 81 f.; überwiegend kritisch hierzu Reutter, ZPol 2010, 123 (125 ff.); s. zur „Strukturbruchthese“ auch U. Münch, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 7, Rn. 24.

A. Allgemeines

259

Kooperation angehalten. Durch die Verweigerung dieser Kooperation im Bundes­ rat könnten die im Bundestag unterlegenen parteipolitische Kräfte im Bundesrat Blockaden herbeiführen (s. u. Rn. 65 ff.). Letztlich geht es hier um das parteipolitische Auseinanderfallen von Regierungsmehrheit und Gesetzgebungsmehrheit („divided government“).78 Während die Regierungsmehrheit ‚nur‘ in der Mehrheit im Bundestag besteht (vgl. Art. 63 Abs. 2, Art. 67 f. GG), erfordert die Gesetzgebungsmehrheit – wegen des Zustim­ mungs- oder Einspruchsrechts des Bundesrats (vgl. Art. 77 Abs. 2 bis 4 GG; s. u. Rn. 186 ff.) – die Kombination der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Fallen Bundestags- und Bundesratsmehrheit parteipolitisch auseinander, so wird in dieser Situation eine lagerübergreifende „informale Große Koalition“ aus Bundestags­ mehrheit und Bundesratsmehrheit79 („materielle Allparteienregierung“80) zur fak­ tischen Voraussetzung für das Funktionieren der Bundesgesetzgebung.

60

In der Verfassungswirklichkeit sind inkongruente Mehrheiten in Bundestag und Bundes­ rat seit 1949 der Regelfall.81

61

Diese Konstellation des Auseinanderfallens der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat er­ fährt durch die in den letzten Dekaden zu beobachtende Pluralisierung des parteipolitischen Spektrums eine Verschärfung. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen durch die Vielzahl ihrer Beteiligungen an verschiedenen Landesregierungen Einfluss auf unterdessen mindestens eine Ein-Drittel-Sperrminorität, tendenziell aber sogar auf eine absolute Mehrheit der Stimmen im Bundesrat hat.82 Dadurch, dass die Partei in (ver­ schiedene) Koalitionen eingebunden ist, kann sie über die Abgabe dieser Stimmen freilich nicht unilateral verfügen.

62

In der Praxis sehen die Koalitionsverträge auf Länderebene regelmäßig vor, dass im Falle von Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer Landesregierung das jeweilige Land sich im Bundesrat der Stimme enthält. Dies ist besonders wichtig, wenn in dem Land eine andere Koalition regiert als im Bund. Wegen des Mitglie­ dermehrheitserfordernisses (vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG) wirkt eine Enthaltung des Landes wie eine ‚Nein‘-Stimme zum jeweiligen Beschlussvorschlag (s. u. Rn. 151).

63

Dies sichert den kleineren Parteien (d. h. den kleineren Koalitionspartnern in den Landes­ regierungen) Einfluss auf die Entscheidungen im Bundesrat. Bedenkt man, dass die kleine­ ren Parteien ggf. nur in einem Bundesland die 5 %-Hürde übersprungen haben, können sie so

64

78

Vgl. Reutter, ZPol 2010, 123 (126); U. Münch, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 7, Rn. 25, 27. 79 Hierzu U. Münch, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 7, Rn. 25; vgl. auch Reutter, ZPol 2010, 123 (126): Erfordernis einer „doppelte[n] Mehrheit“. 80 Böckenförde, in: FS Schäfer 1980, S. 182 (191). 81 Vgl. Reutter, ZPol 2010, 123 (126), mit einer Übersicht (bis 2009). In der Zeit von 1949 bis 2009 hätten in über 70 % der Zeit inkongruente Mehrheiten bestanden. 82 Am 01.07.2020 hatten Bündnis 90/Die Grünen Einfluss auf insgesamt 45 (von 69) Stim­ men im Bundesrat (sechs Stimmen aus Baden-Württemberg; fünf Stimmen aus Hessen; je vier Stimmen aus Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Sachen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Hol­ stein und Thüringen; sowie je drei Stimmen aus Bremen und Hamburg).

260

§ 3 Bundesrat

einen überproportionalen Einfluss auf die Bundespolitik gewinnen. Dies hat zu einschlägigen rechtspolitischen Änderungsvorschlägen geführt (s. u. Rn. 152).

3. Bundesrat als Blockade? 65

Die häufig bestehende Konstellation des Auseinanderfallens der parteipoliti­ schen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat (s. o. Rn. 60 ff.) birgt das Potenzial der Blockade der Bundesgesetzgebung und anderer staatlicher Funktionen, an denen der Bundesrat mitwirkt (dazu Rn. 165 ff.). Dies gilt in besonderem Maße bei Zustimmungsgesetzen (dazu Rn. 186 ff.). Auf diese Weise drohe die Blockade politischer Innovationen. Die Strukturbruchthese (s. o. Rn. 59 ff.) geht auf diese Weise in die „Blockadethese“83 über.

66

Die Föderalismusreform I des Jahres 2006 hatte das Ziel, die Zahl der Zustimmungsge­ setze zu reduzieren und damit die Blockademöglichkeiten des Bundesrats zu verringern.84 Mit der Reduzierung der Zahl der Zustimmungsgesetze ist auch der Einfluss des Bundesrats entsprechend geringer geworden. In der 18. Legislaturperiode (2013 bis 2017) lag der Anteil der Zustimmungsgesetze bei ca. 36,5 %.85 Vor der Föderalismusreform I lag der Wert zwi­ schen 50 % und 60 %.86

67

Mit Blick auf die Verfassungswirklichkeit kann in der praktischen Arbeit des Bundesrats allerdings keine (eindeutige) gegenseitige Blockade von Parteienwettbewerb und Bundesstaatlichkeit ausgemacht werden87, wenngleich Blo­ 83

Referierend zur „Blockadethese“ m. w. N. Reutter, ZPol 2010, 123 (127). Vgl. Lehmann-Brauns, Die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen nach der Fö­ deralismusreform, 2008, S. 34; ders., in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 23, Rn. 1, mit Verweis auf BR-Drs. 178/06; ferner Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 196 ff., u. § 9, Rn. 44 f. 85 Laut Statistik des Bundesrats wurden in der 18. Legislaturperiode insgesamt 548 Geset­ zesvorlagen durch den Bundesrat beraten; davon waren nach Auffassung des Bundesrats 197 Vorlagen zustimmungsbedürftig; hinzu kamen drei Grundgesetzänderungen (vgl. http://www. bundesrat.de/SharedDocs/downloads/DE/statistik/18wp.pdf?__blob=publicationFile&v=32; letzter Abruf am 22.07.2020). 86 Laut Statistik des Bundesrats lag der Wert in der 13. Legislaturperiode (1994–1998) bei 59,5 %, in der 14. Legislaturperiode (1998–2002) bei 54,6 % und in der 15. Legislaturperiode (2002–2005) bei 50,8 % (vgl. http://www.bundesrat.de/SharedDocs/downloads/DE/statistik/ gesamtstatistik.pdf?__blob=publicationFile&v=8; letzter Abruf am 22.07.2020). 87 Argumente und Nachweise gegen die weit verbreitete „Blockadethese“ bei Reutter, ZPol 2010, 123 (125 ff.). Zur Verwirklichung von Landesinteressen trotz Parteieneinflusses: vgl. Leunig / Träger, in: dies. (Hrsg.), Parteipolitik und Landesinteressen. Der deutsche Bundes­ rat 1949–2009, 2012, S. 289 (305); die Komplexität des Einflusses von Landes- und Partei­ interessen auf das Abstimmungsverhalten der Länder im Bundesrat wird verdeutlicht von Bräuninger / Gschwend / Shikano, Politische Vierteljahresschrift 2010, 223 (225 f., 246), welche für eine stärker differenzierte Betrachtung der verschiedenen parteipolitischen Konstellatio­ nen, Themen sowie Grade der Parteipolitisierung plädieren. Letztlich – so zeigt sich gerade am Zusammenspiel von Landes- und Parteiinteressen – ist der Bundesrat in den Worten Webers eine der „am meisten schillernden Schöpfungen des Grundgesetzes“, Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 78. 84

A. Allgemeines

261

ckadetendenzen nicht ausgeschlossen werden können. Gegen die Blockadethese spricht zunächst eine quantitative Betrachtung: Tatsächlich scheitern letztlich nur sehr wenige Maßnahmen an der fehlenden Zustimmung des Bundesrats.88 Frei­ lich muss man andererseits die möglichen abschreckenden Vorwirkungen eines drohenden Bundesratsvetos (s. u. Rn. 191) in Rechnung stellen; insbesondere poli­ tische Innovationen und Schlüsselentscheidungen mit hohem Konfliktpotential89 können wegen geringer Erfolgsaussichten im Bundesrat von vorneherein erschwert werden.90 4. Einfluss der Länder im Parteienbundesstaat Die Bildung und die politische Ausrichtung der Landesregierungen sind ureigene Bestandteile des – auch in der Weimarer Zeit anerkannten – Rechts der Länder auf eigene Politik.91 Neben der ‚Landesinnenpolitik‘, zählt zum Recht der Län­ der auf eigene Politik auch die freie politische Entscheidung darüber, wie sie – im Rahmen der Bundesverfassung, also insbesondere über den Bundesrat – Einfluss auf die Politik der Bundesebene nehmen.

68

Innerhalb des hierfür zu fordernden Handlungsspielraums ist Parteipolitik durch die Landesregierungen unausweichlich. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die maßgeblichen politischen Parteien in Deutschland sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene aktiv sind. Nähmen die Länder im Bundesrat ausschließlich regionale Politikinteressen wahr oder verfolgten sie alleine Sachprogramme, füllte dies zudem die ambivalente Aufgabe des Bundesrats, Bundes- und Landespolitik miteinander in Beziehung zu setzen, nicht aus.

69

Nach der Regierungsmehrheit in den Ländern wird im informellen Sprachgebrauch (auch des Bundesrats selbst92) zwischen A-Ländern und B-Ländern unter­ schieden, wobei bei ersteren die SPD den Ministerpräsidenten stellt, bei letzteren

70

88

Vgl. Reutter, ZPol 2010, 123 (128): Von 1949 bis 2009 sei nur bei ca. 1 % der Zustim­ mungsgesetze die Zustimmung des Bundesrats endgültig (also auch nach Durchführung des Vermittlungsverfahrens) verweigert worden. 89 Vgl. zur Unterscheidung von Routine- und Schlüsselentscheidungen Zohlnhöfer, ZPol 2009, 39 (55); Reutter, ZPol 2010, 123 (128). 90 Skeptisch hinsichtlich des Blockadepotentials auch bei Schlüsselentscheidungen jedoch Reutter, ZPol 2010, 123 (128 ff.). 91 Schmitt, in: Prozeßbericht Preußen contra Reich 1932, S. 40 f. Freilich sprach Schmitt dem Land Preußen ein „Recht auf eigene Politik“ im Kontext des sog. ‚Preußenschlags‘ der Sache nach ab. Zur eigenständigen Politik der Länder der Bundesrepublik Deutschland in kompara­ tiver und nach Sachbereichen (etwa Schul-, Hochschul-, Integrations-, Sozial-, Polizeipolitik) gegliederter Weise vgl. den Sammelband Hildebrandt / Wolf (Hrsg.), Die Politik der Bundes­ länder. Staatstätigkeit im Vergleich, 2008. 92 Vgl. etwa den Redebeitrag des früheren Ministerpräsidenten Teufel (Baden-Württem­ berg), in der 774. Sitzung des Bundesrats (22. März 2002), Plenarprotokoll 774, S. 130.

262

§ 3 Bundesrat

die CDU oder CSU.93 Durch die Wahlen des Ministerpräsidenten Kretschmann von Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg in den Jahren 2011 und 2016, sowie des Ministerpräsidenten Ramelow von der Partei Die Linke in Thüringen im Jahr 2014 wird diese binäre Einteilung freilich in Frage gestellt. 71

Eine parteipolitische Durchdringung der formellen Bundesratstätigkeit und -organisation, insbesondere eine Fraktionsbildung unter den einzelnen Landesvertretern bzw. -vertretungen nach Parteizugehörigkeit, folgt aus solchen ‚nur‘ informellen parteipolitischen Prägungen indes nicht.94

72

Freilich führt das Einfließen parteipolitischer Strukturen in den Bundesrat zu keiner absoluten Verhinderung der effektiven Durchsetzung von Landesinteressen durch parteipolitische Motive.95 So ist durchaus zu beobachten, dass sich Landespolitiker – insbesondere im Vorfeld von Landtagswahlen – von der Linie der Bundesebene ihrer eigenen Partei absetzen.96 Manche Ministerpräsidenten können als „Landesfürsten“ besondere politisch-programmatische Unabhängigkeit gewinnen und diese auch über den Bundesrat geltend machen.97 In der Staatspra­ xis können die Interessen von Landesregierungen zudem sachlich mit denen der Bundesregierung übereinstimmen, obwohl diese durch andere politische Parteien getragen wird.98 Politische Erfolge für den gesamten Bundesstaat können dann zum ebenen- wie auch lagerübergreifenden Anliegen werden.

73

Auch in diesem Zusammenhang ist auf die zunehmende Vielfalt von Koalitionsmöglichkeiten auf Bundesebene wie auf Landesebene durch die Etablierung ‚neuer‘ und Stärkung ‚neuerer‘ Parteien und die tendenzielle Schwächung der Volksparteien SPD und CDU / CSU hinzuweisen (s. bereits Rn. 70). Die (potentielle) Vielfalt von Koalitionen begünstigt tenden­ ziell eine verstärkte politische Autonomie der Landesverbände der Parteien99, die sich auch in der Durchsetzung der jeweiligen Landesinteressen über den Bundesrat gegen die Interessen der jeweiligen Bundespartei niederschlagen kann. 93

Vgl. Leonardy, ZParl 2002, 180 (182; 184 f.); Smith, Konfliktlösung im demokratischen Bundesstaat, 2011, S. 270. 94 Denn der Bundesrat ist bereits durch die verschiedenen Landesvertretungen strukturiert und bedarf für seine Arbeit keiner weiteren politischen Gliederungseinheiten (abgesehen von den sachpolitisch ausgerichteten Ausschüssen als Unterorganen), vgl. zu den Bundestagsfrak­ tionen, § 2 Rn. 370 ff.; Maunz, in: ders. / Dürig, GG (Erstbearbeitung, November 1958), Art. 50, Rn. 25. 95 Vgl. Leunig / Träger, in: dies. (Hrsg.), Parteipolitik und Landesinteressen. Der deutsche Bundesrat 1949–2009, 2012, S. 289 (305); Bräuninger / Gschwend / Shikano, Politische Vier­ teljahresschrift 2010, 223 (246), kommen in ihrer Untersuchung des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat in den Jahren 1990 bis 2005 zu dem Ergebnis, dass in der Mehrzahl der Fälle keine Überschattung durch kompetitives Parteienverhalten nachweisbar sei. 96 U.  Münch, in: Derlien / Murswieck (Hrsg.), Regieren nach Wahlen, 2001, S. 133 (140); Sturm, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 24, Rn. 19. 97 Vgl. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 21. 98 Vgl. Reutter, ZPol 2010, 123 (129). 99 Vgl. Detterbeck / Renzsch, in: Jun / Haas / Niedermeyer (Hrsg.), Parteien und Parteien­ systeme in den deutschen Ländern, 2008, S. 39 (52); Sturm, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Fö­ deralismus, Bd. I, 2012, § 24, Rn. 19.

B. Zusammensetzung

263

B. Zusammensetzung Wie bereits angedeutet wurde, unterscheidet sich der Bundesrat sowohl in seiner Struktur wie in seiner Legitimation vom Bundestag (s. o. Rn. 41 ff.). Kennzeichnend für die spezifische Struktur als auch – damit zusammenhängend – für die Legiti­ mation ist die Besonderheit, dass die Mitgliedschaft im Bundesrat eine institutionelle wie eine persönliche Komponente hat.100 Auch die Geschäftsordnung des Bundesrats (GOBR) trägt der Unterscheidung von institutioneller und persönlicher Mitgliedschaft Rechnung, indem es entweder „jedem Land“ oder „jedem Mitglied“ bestimmte Rechte zuspricht (vgl. bspw. § 19 Abs. 1 und 2 GOBR).

74

I. Bundesländer als institutionelle Mitglieder des Bundesrats 1. Allgemeines Entsprechend seiner Funktion, die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes zu gewährleisten, lassen sich zunächst die Bundesländer als ‚Mitglieder‘ des Bundesrats ausmachen. Über eine funktionelle Be­ trachtung hinaus folgt dies bereits aus dem Wortlaut des Art. 50 GG sowie auch des Art. 51 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 GG, der jedem Land eine bestimmte Anzahl von Stimmen zuweist. Schließlich erklärt sich auch das von Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG normierte Erfordernis einheitlicher Stimmabgabe aus der Mitgliedschaft der Länder als solche. Relevant sind somit die Stimmen der institutionellen, nicht der persön­lichen Mitglieder.

75

Von der Mitgliedschaft der Länder gehen auch zahlreiche Bestimmungen der GOBR über die Rechte der Länder im Bundesrat aus. So hat z. B. jedes Land nach § 19 Abs. 2 GOBR das Recht, Fragen an die Bundesregierung zu stellen, die nicht im Zusammenhang mit einem Gegenstand der Tagesordnung stehen. Ferner kann jedes Land gemäß § 23 Abs. 3 bis 5 GOBR die Tagesordnung beeinflussen. Schließlich hat jedes Land nach § 26 GOBR das Recht, im Bundesrat Anträge zu stellen.

76

2. Stimmengewichtung im Bundesrat Sind die Bundesländer als Institutionen gleichberechtigte Mitglieder des Bun­ desrats, werden ihre Einflussmöglichkeiten durch die Anzahl ihrer persönlichen Mitglieder doch ihrer Einwohnerzahl nach, wenngleich mit steigender Einwoh­ nerzahl degressiv, gewichtet. Nach Maßgabe des Art. 51 Abs. 2 GG verfügen die

100

Ausführlich zu dieser Spannungslage Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 ff.

77

264

§ 3 Bundesrat

Länder über mindestens drei Stimmen,101 bei mehr als zwei Millionen Einwohnern über vier,102 bei mehr als sechs Millionen Einwohnern über fünf103 und bei einer Landeseinwohnerzahl über sieben Millionen Einwohnern über sechs Stimmen.104 78

Nach dieser Stimmenverteilung ist den vier einwohnerstarken Ländern Baden-Württem­ berg, Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen mit insgesamt 24 von 68 Stimmen eine Sperrminorität gesichert, d. h., sie können durch einheitliche Abstimmung eine Zweidrittel­ mehrheit im Bundesrat – wie sie nach Art. 79 Abs. 2 GG etwa für Verfassungsänderungen er­ forderlich ist – verhindern. Die Stimmenverteilung wurde nach der Wiedervereinigung durch Neuanfügung der höchsten Stufe (sechs Stimmen bei über sieben Millionen Einwohnern) ge­ ändert105, um weiterhin den größeren alten Bundesländern mehr Einfluss zu sichern.

79

§ 27 GOBR regelt die Feststellung der Einwohnerzahl: Sie bemisst sich nach den Ergeb­ nissen der amtlichen Bevölkerungsfortschreibung, sofern nicht die Ergebnisse einer amtli­ chen Volkszählung vorliegen. Dass die Ermittlung der Einwohnerzahlen zur Bestimmung der Stimmverteilung im Bundesrat lediglich im Geschäftsordnungsrecht geregelt wird, kritisiert das Schrifttum unter Verweis auf die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts106 zu Recht; eine bundesgesetzliche Regelung erscheint angebracht (s. a. § 1 Rn. 105).107

80

Als „Einwohner“ im Sinne von Art. 51 Abs. 2 GG werden in der Staatspraxis diejenigen Personen begriffen, die im betreffenden Land ihren Wohnsitz haben ohne Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit. Diese Auslegung entspricht der herrschenden – wenngleich nicht unumstrittenen – Auffassung im Schrifttum.108 Nach einer – vereinzelt gebliebenen – Minder­ meinung liege insoweit ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip vor.109 Die Mindermeinung überzeugt nicht: Neben grammatikalischen und systematischen Erwägungen – Vergleich von Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 116 GG einerseits und Art. 51 Abs. 2 GG andererseits – spricht das Bundesstaatsprinzip für die Zulässigkeit der Einbeziehung von Einwohnern ohne deut­ sche Staatsangehörigkeit, da auf diese Weise das ‚Größenverhältnis‘ zwischen den Ländern

101

Bremen (0,68  Mio. Einwohner); Hamburg (1,83  Mio.); Mecklenburg-Vorpommern (1,61 Mio.); Saarland (0,99 Mio.). Maßgeblich sind die Zahlen der letzten amtlichen Volkszäh­ lung bzw. deren Fortschreibung; Angaben hier nach dem Statistischen Bundesamt, 30.06.2018. 102 Berlin (3,62  Mio.); Brandenburg (2,51  Mio.); Rheinland-Pfalz (4,08  Mio.); Sachsen (4,08 Mio.); Sachsen-Anhalt (2,21 Mio.); Schleswig-Holstein (2,89 Mio.); Thüringen (2,15 Mio.). 103 Hessen (6,25 Mio.). 104 Baden-Württemberg (11,05  Mio.); Bayern (13,04  Mio.); Niedersachsen (7,98  Mio.); Nordrhein-West­falen (17,91 Mio.). 105 Gesetz zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertragsgesetz), G. v. 23.9.1990, BGBl. II S. 885, i. V. m. Art. 4 Nr. 3 Einigungsver­ trag. War das wirklich ein Beitrag zum Zusammenwachsen von Ost und West? 106 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 121 ff. 107 Vgl. Deecke, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Stimmenverteilung im Bun­ desrat, 1998, S. 141; Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 21. 108 Vgl. zur h. M. Deecke, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Stimmenverteilung im Bundesrat, 1998, S. 91; Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 20; vgl. auch Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 7; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 51, Rn. 4. 109 Vgl. Maunz / Scholz, in: Maunz / Dürig, GG (32. Ergänzungslieferung, Oktober 1996), Art. 51, Rn. 3.

B. Zusammensetzung

265

wirklichkeitsnah abgebildet wird. Dies unterscheidet die Stimmverteilung im Bundesrat im Übrigen auch von der Besetzung der Bundesversammlung: Für die Zusammensetzung der Bundesversammlung bestimmt § 2 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG, dass Ausländer bei der Ermittlung der Bevölkerungszahlen außer Betracht bleiben.

Unabhängig von der Frage nach der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Einwohner“ ist die gewählte Form einer abgestuften Stimmenverteilung auf den grundsätzlicheren Vorwurf der Unausgewogenheit gestoßen, da danach eine Bundesratsmehrheit letztlich von einer Bevölkerungsminderheit – mit Blick auf das gesamte Bundesgebiet – getragen werden könnte.110

81

Dem ist zunächst mit der Geschichte zu entgegnen, dass kein deutsches Föderativorgan je­ mals egalitäre Gleichheit oder exakte Proportionalität zwischen der Bevölkerungszahl eines Landes und der Stimmenverteilung innerhalb der Ländervertretung aufgewiesen hat.111 Denk­ bar und mit dem föderalistischen Prinzip vereinbar wäre es sogar, jedem Land nach dem – im Bundesstaat freilich nicht direkt anwendbaren – Prinzip der Gleichheit aller Staaten und nach dem Vorbild des US-Senats die gleiche Stimmenzahl im Bundesrat zuzugestehen. Vorschläge, die bestehende Stimmenverteilung durch Verfassungsänderung zu modifizieren, fanden in der „Enquête-Kommission Verfassungsreform“ aber keine mehrheitliche Zustimmung.112 Im Er­ gebnis bleibt jede Gewichtung dezisionistisch.113 Föderal kann es nur um ein relativ gleichberechtigtes Mitwirken aller Bundesländer gehen. Dies ist weder durch mathematische Aufrechnung der jeweiligen Einwohnerzahlen im Sinne demokratischer Stimmengleichheit noch durch die Einräumung einer (auch durch „Bevölkerungsarithmetik“114 drohenden) He­ gemonialstellung zu bewerkstelligen. In einem Bundesstaat ist ein für alle Länder akzeptab­ ler Verteilungsschlüssel zu finden, in den neben demographischen etwa auch wirtschaftliche und soziale Faktoren einfließen könnten. Dieser Schlüssel sollte den kleineren Mitgliedstaa­ ten einen überproportionalen Anteil am Bundesgeschehen einräumen, was andererseits al­ lerdings nicht zu einer Abwehrhaltung auf Seiten der dadurch relativ benachteiligten großen Länder führen darf.

82

110

Laufer, Der Bundesrat, 1972, S. 400. Eschenburg, in: Bundesrat (Hrsg.) Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft – Beiträge zum 25jährigen Bestehen des Bundesrates der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 35 (45 f.). 112 Schlussbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924, abgedruckt in: Zur Sache 3/76, S. 211 f. 113 So zutreffend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 122. 114 Begriff von Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 141. 111

266

§ 3 Bundesrat

II. Landesvertreter als personelle Mitglieder des Bundesrats 1. Verhältnis von institutioneller und personeller Mitgliedschaft 83

Trotz der primären („eigentlichen“115) Mitgliedschaft der Bundesländer als solche kommen auch den Vertretern dieser Länder eigene persönliche Mitgliedschaftsrechte zu. Nicht nur die Geschäftsordnung spricht ihnen Teilnahme-, Redeund Fragerechte zu (§§ 18, 19 GOBR). Auch das Grundgesetz selbst gewährt den persönlichen Mitgliedern des Bundesrats Rechte (s. bspw. Art. 43 Abs. 2 GG: Zu­ tritts- und Rederecht im Bundestag) und trägt damit der Notwendigkeit Rechnung, dass die Gebietskörperschaft Land wie jede juristische Person nur durch natürliche Personen handeln kann.

84

Allerdings soll die personelle Mitgliedschaft der Vertreter deren Landes­ zugehörigkeit nicht überdecken.116 Vielmehr hat die personelle Mitgliedschaft in erster Linie eine praktisch-dienende Funktion für die institutionelle Mit­ gliedschaft der Länder.117 Die personellen Mitglieder sind über das imperative Mandat (s. u. Rn. 91 ff.) an die Länder als institutionelle Mitglieder gebunden. Sofern ein personelles Mitglied des Bundesrats die Interessen seines Landes ver­ letzt, stehen aber allein interne (landes-)politische Sanktionsmechanismen zur Verfügung.

85

Die potentielle Spannungslage zwischen personeller und institutioneller Mitgliedschaft wird insbesondere im Fall einer – Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG widersprechenden – uneinheitlichen Stimmabgabe der personellen Mitglieder eines Landes deutlich (hierzu unten Rn. 156 ff.).118 Eine uneinheitliche Stimmabgabe kann vor allem dann vorkommen, wenn innerhalb einer Mehrparteienkoalition auf Landesregierungsebene Uneinigkeit hinsichtlich einer politischen Frage herrscht, was die schon beschriebene Bedeutung des Parteienbundestaats (s. o. Rn. 56 ff.) einmal mehr unterstreicht.

2. Potentielle Mitglieder 86

Für die Entsendung in den Bundesrat kommen nach Art. 51 Abs. 1  GG aus­ schließlich „Mitglieder der Regierungen der Länder“ in Betracht. Das sind re­ gelmäßig die Ministerpräsidenten und die Minister bzw. die Bürgermeister und Senatoren der Stadtstaaten. Darüber hinaus können auch Staatssekretäre bzw. (in Bremen und Hamburg) Staatsräte in den Bundesrat entsandt werden, sofern sie im kollegial strukturierten Landeskabinett stimmberechtigt sind. Welche Positionen

115 So Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 (159, 165), welcher das Verhältnis von institutioneller Mitgliedschaft und personeller Mitgliedschaft hierarchisiert. 116 Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 30. Aufl. 2018, Rn. 340. 117 Vgl. Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 (165), m. w. N. 118 Vgl. Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 (175 ff.).

B. Zusammensetzung

267

Kabinettsrang besitzen, richtet sich nach Landes(verfassungs)recht.119 Ministerial­ beamte aus den Landesverwaltungen scheiden aufgrund der zwingenden Voraus­ setzung des Kabinettsrangs als Mitglieder aus. In der Vergangenheit benannten die Bundesländer u. a. stets ihren Regierungschef als ein Mitglied des Bundesrats.120 Zwischen der Mitgliedschaft im Bundesrat und im Bundestag besteht Inkom­ patibilität (§ 2 S. 1 GOBR). Die Regelung einer staatsorganisationsrechtlichen In­ kompatibilität im Geschäftsordnungsrecht (und nicht in der Verfassung oder zu­ mindest in einem formellen Gesetz) ist regelungstechnisch fragwürdig (s. auch § 1 Rn. 81, 105). Diese Geschäftsordnungsvorschrift bringt nach wohl überwiegender Auffassung im Schrifttum zugleich – insbesondere mit Blick auf die „institutio­ nellen Gegensätzlichkeit von Bundestag und Bundesrat“121 – eine ungeschriebene Regel des Verfassungsrechts122 zum Ausdruck.123 Weiterhin ist die Mitgliedschaft im Bundesrat inkompatibel mit dem Amt des Bundespräsidenten (Art. 55 GG) und der Mitgliedschaft im Bundesverfassungsgericht (Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG) oder in der Bundesregierung (Art. 66 GG124).

87

Auch die Stellvertreter, derer sich die Mitglieder des Bundesrats – im Gegensatz zum Bun­ destag – bedienen können, müssen Mitglieder der jeweiligen Landesregierung sein (Art. 51 Abs. 1 S. 2 GG). Wie die regulären Mitglieder müssen auch die Stellvertreter ausdrücklich und individuell bestellt und abberufen werden. Zwar wird dieses Erfordernis für die Vertreter der Bundesratsmitglieder in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GG nicht ausdrücklich wiederholt.125 Wären aber alle Landesregierungsmitglieder zugleich geborene Mitglieder des Bundesrats, wäre schwer­

88

119

Nach Art. 45 Abs. 2 der Landesverfassung Baden-Württemberg können auch Staatssekre­ täre und ehrenamtliche Staatsräte zu Regierungsmitgliedern ernannt werden. Demgegenüber begrenzt Art. 62 GG die Mitgliedschaft in der Bundesregierung auf den Bundeskanzler und die Bundesminister: Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (86. Ergänzungslieferung, Januar 2019), Art. 69, Rn. 25. 120 Ziller, Der Bundesrat, 1989, S. 48; die Gegenwart der Regierungschefs im Bundesrat ver­ deutlicht die Repräsentationstauglichkeit des Bundesratsmandats und zugleich die praktische Wichtigkeit der bestehenden Vertretungsmöglichkeit für Bundesratsmitglieder (Art. 51 Abs. 1 S. 2 GG). 121 Vgl. Tsatsos, Die Unzulässigkeit der Kumulation von Bundestags- und Bundesratsmandat, 1965, S. 29 ff. 122 Vgl. Partsch / Genzer, AöR 76 (1950/51), 186 (194 ff.); vgl. auch Tsatsos, Die Unzulässig­ keit der Kumulation von Bundestags- und Bundesratsmandat, 1965, S. 29 ff., 44, welcher die Inkompatibilität aus der Struktur des Grundgesetzes, insbesondere der „institutionellen Gegen­ sätzlichkeit von Bundestag und Bundesrat“, sowie aus Art. 20 Abs. 2 GG und einem „funktio­ nal“ zu verstehendem Gewaltenteilungsprinzip ableitet; a. A. (gegen eine verfassungsrechtliche Verankerung der Inkompatibilität): Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 51, Rn. 10, m. w. N., Darstellung des Streits bei Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 18. 123 Vgl. auch § 97 der Paulskirchenverfassung. 124 Ob sich die Inkompatibilität unmittelbar aus Art. 66 GG ergibt, ist im Einzelnen umstrit­ ten, vgl. etwa Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 18. Vgl. zudem die einfach­ gesetzliche Regelung in § 4 BMinG. 125 Jekewitz, in: Denninger, AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 51, Rn. 3, mit Hinweis auf Maunz, in: ders. / Dürig, GG (Erstbearbeitung, November 1958), Art. 52, Rn. 12, der hieran seine we­ nig ergiebige und inhaltlich unvollständige Unterscheidung von „gekorenen Mitgliedern“ des Bundesrates und deren „geborenen Stellvertretern“ anknüpft; dagegen überzeugend Stern, Das

268

§ 3 Bundesrat

lich zu erklären, wen dann das Grundgesetz mit der Formulierung in Art. 52 Abs. 4 GG meint, nach der „andere Mitglieder oder Beauftragte“ der Landesregierungen be­fugt sind, an den Sit­ zungen der Bundesratsausschüsse teilzunehmen. Im Übrigen geht auch die Geschäftsordnung davon aus, dass die Stellvertreter stets benannt sein müssen (§§ 1, 46 GOBR).126

89

Den Ausschüssen des Bundesrats (s. u. Rn. 130 ff.) können gemäß Art. 52 Abs. 4 GG auch solche Mitglieder oder Beauftragte der Regierungen der Länder angehören, die nicht Mitglieder des Bundesrats sind (s. u. Rn. 132). „Beauftragte der Regierungen der Länder“ müssen keinen Landeskabinettsrang haben und kön­ nen sogar von außerhalb der Landesverwaltung stammen. Praktisch relevanter ist hingegen die Beauftragung von Beamten aus der Landesministerialbürokratie.

90

Die Einbindung der Landesministerialbürokratie in die Arbeit der Ausschüsse des Bundes­ rats ist praktisch von hoher Bedeutung; hier zeigt sich die „administrative Komponente“ des Bundesrats (Herzog).127 Die Arbeit der Landesbeamten in den Ausschüssen des Bundesrats er­ möglicht die Rezeption der besonderen Verwaltungsexpertise der Länder auf Bundesebene (s. o. Rn. 34). Weiterhin bietet die Einbindung der Landesministerialbürokratie die Möglich­ keit einer effektiveren Kontrolle von Gesetzgebungsinitiativen, die aus der Bundesministerial­ bürokratie stammen: Die „Gesetzgebungsbürokratie“ des Bundes trifft im Bundesrat auf die „Vollzugsbürokratie“ der Länder.128

3. Imperatives Mandat 91

Die Bestellung und Abberufung der konkreten Mitglieder des Bundesrats ist Angelegenheit der jeweiligen Landesregierung. Im Unterschied zu den Abgeord­ neten des Bundestags werden die Mitglieder des Bundesrats nicht für eine fest be­ stimmte Zeit in den Bundesrat entsandt. Bereits hierin kommt die Abhängigkeit der einzelnen Vertreter von ihrer Landesregierung zum Ausdruck, die darüber hinaus in einer inhaltlichen Weisungsabhängigkeit gipfelt. Die Bundesrats­ mitglieder verfügen also – anders als die Bundestagsabgeordneten – nicht über ein freies Mandat (s. § 2 Rn. 246 ff.), sondern über ein imperatives Mandat. Die grundsätzliche Bindung an Weisungen der Landesregierung folgt auch aus einem Umkehrschluss zu Art. 77 Abs. 2 S. 3 GG, in dem bestimmt ist, dass die in den Vermittlungsausschuss entsandten Mitglieder des Bundesrats nicht an Weisungen gebunden sind.

Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 135, wonach es nur „gekorene Bundesratsmitglieder“ gibt und sich eine Differenzierung erübrigt. 126 Ebenso Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 16 m. w. N.; der Streit um „ge­ borene“ Mitglieder ist für die Praxis ohnehin insofern irrelevant, als es den Landesregierungen zum einen möglich ist, die Liste der Stellvertreter jederzeit zu ändern, und sie zum anderen ohnehin regelmäßig alle Regierungsmitglieder zu Stellvertretern benennen. 127 Vgl. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 22 ff. 128 Vgl. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 24, 45, 47 f.: „Ministerialbürokratie contra Ministerialbürokratie“.

B. Zusammensetzung

269

Das imperative Mandat ist ein Aspekt des Innenverhältnisses zwischen dem einzelnen Bundesratsmitglied und der Landesregierung, welcher er angehört. Für das Außenverhältnis und den Grundsatz der einheitlichen Stimmabgabe eines je­ den Landes (Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG) gilt, dass ein Mitglied des Bundesrats, wel­ ches entgegen der Weisung seiner Landesregierung abstimmt, nicht etwa durch die sonstigen Stimmen dieses Landes oder dessen sog. Stimmführer überstimmt werden kann (s. u. Rn. 156 ff.).129

92

Weisungsberechtigt sind nach ganz überwiegender Auffassung allein die jeweiligen Landesregierungen.130 Demgegenüber sind weder das jeweilige Lan­ desparlament131 noch das jeweilige Landesvolk zu Instruktionen der Vertreter im Bundesrat befugt. Sie sind an der Vertretung auf Bundesebene generell nicht be­ teiligt.132 Das Grundgesetz entscheidet diese Frage zwar nicht ausdrücklich, jedoch liegt in Art. 51 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG ein Argument für diese Auffassung: Wenn nur die Landesregierungen die Mitglieder des Bundesrats bestellen und abberufen können, so spricht das dafür, ihnen auch das ausschließliche Weisungsrecht gegen­ über ‚ihren‘ Bundesratsmitgliedern zuzubilligen. Zwingend ist dieses Argument, gerade angesichts eines solch intensiven Übergriffs in den Bereich des Landesver­ fassungsrechts, allerdings nicht.

93

Freilich sieht das Grundgesetz – über andere institutionelle Wege als den Bundesrat – ver­ einzelt auch den Einbezug der Landesparlamente in Fragen des Staatsorganisationsrechts des Bundes vor: Beispielsweise besteht das Bundesverfassungsorgan Bundesversammlung, welches den Bundespräsidenten wählt, hälftig aus Mitgliedern, die durch die Landesparla­ mente gewählt werden (s. o. Rn. 27, s. § 6 Rn. 9 ff.). Im Bereich des Verfassungsprozessrechts sind die Landesparlamente – zusätzlich zum Bundesrat – bei den besonderen Verfahrensar­ ten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG (Kompetenzkontrollverfahren; s. § 8 Rn. 456 f.) und Art. 93 Abs. 2 GG (Kompetenzfreigabeverfahren; s. § 8 Rn. 458 ff.) antragsberechtigt.

94

Außerdem sind die Landesregierungen bzw. jedenfalls der jeweilige Landes­ regierungschef den Volksvertretungen der Länder gegenüber parlamentarisch verantwortlich. Insoweit haben die Volksvertretungen der Länder – mittelbare, rein politische – Einflussmöglichkeiten auf das Abstimmungsverhalten der Bun­ desratsmitglieder aus dem entsprechenden Bundesland.

95

Eine  – auf das Innenverhältnis der jeweiligen Landesregierung begrenzte  – Frage des jeweiligen Landesverfassungsrechts ist es, wie innerhalb der Landes­ regierung die Entscheidungsfindung über das Abstimmungsverhalten erfolgt und welche Rolle dabei eine etwaige Richtlinienkompetenz des Landesregierungs-

96

129

Vgl. BVerfGE 106, 310 – Zuwanderungsgesetz. Vgl. zur h. M. nur Maunz, in: ders. / Dürig, GG (Grundwerk), Art. 51, Rn. 18, m. w. N.; vorsichtig („dürfte“) a. A. (zeitlich vor BVerfGE 8, 104 – Volksbefragung) Schnorr, AöR 76 (1950/51), 259 (282). 131 Vgl. hierzu (referierend) C. Möllers, in: Aulehner u. a. (Hrsg.), Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 81 (102 f.) m. w. N. und dem Hinweis darauf, dass der Parlamentsvorbehalt nicht auch für die Mitwirkung an gesetzgeberischer Tätigkeit gelte. 132 BVerfGE 8, 104 (121) – Volksbefragung. 130

270

§ 3 Bundesrat

chefs spielt. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts führt eine etwaige Richtlinienkompetenz eines Landesregierungschefs jedenfalls nicht dazu, dass eine uneinheitliche Stimmabgabe der Bundesratsmitglieder des Landes (s. u. Rn. 156) nach außen hin als einheitlich behandelt wird.133 97

In der Praxis wird das Stimmverhalten eines Landes zu einem großen Teil bereits auf Beamtenebene (vor)entschieden, ohne dass sich das Landeskabinett vertieft mit den Einzelfra­ gen befasst. Die Landesministerialbürokratie ist regelmäßig entscheidend an der Erarbeitung der sog. Stimmlisten beteiligt.134

4. Ende der Mitgliedschaft 98

Neben einer Abberufung eines Bundesratsmitglieds durch die jeweilige Lan­ desregierung als actus contrarius zu seiner Bestellung endet die Mitgliedschaft im Bundesrat auch mit dem Ausscheiden aus der jeweiligen Landesregierung. Als weitere Beendigungsgründe kommen der Verzicht des Betroffenen auf seine Bundesratsmitgliedschaft sowie sein Tod oder seine Amtsunfähigkeit in Betracht. Dagegen berührt ein Ressortwechsel innerhalb der Landesregierung die Mitglied­ schaft im Bundesrat nicht, sofern die Landesregierung das Bundesratsmitglied nicht zugleich abberuft. Der Zeitpunkt des Erlöschens der Mitgliedschaft einzel­ ner Bundesratsmitglieder wird nach § 1 GOBR von den Landesregierungen dem Präsidenten des Bundesrats mitgeteilt. 5. Demokratische Legitimation der persönlichen Mitglieder

99

Die Vertreter im Bundesrat werden  – anders als die Mitglieder des Bundes­ tags – nicht unmittelbar vom Volk gewählt, sondern von den Regierungen der Bundesländer bestimmt. Sie sind also nicht unmittelbar demokratisch legitimiert. Allerdings erfordert die demokratische Konzeption des Grundgesetzes nicht, dass die grundsätzlich notwendige demokratische Legitimation aller staatlichen Organe und Amtswalter durch unmittelbare Volkswahl erfolgen muss. Vielmehr genügt „in aller Regel … ein mittelbarer Legitimationszusammenhang, der durch eine un­ unterbrochene Legitimationskette vom Volk über die von diesem gewählten Ver­ tretung zu den mit den staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern hergestellt wird“.135

100

Dem Erfordernis einer mittelbaren demokratischen Legitimation wird bei den Vertretern der Länder im Bundesrat dadurch Genüge getan, dass sie ihr Amt

133

BVerfGE 106, 310 (334) – Zuwanderungsgesetz. Vgl. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 24. 135 BVerfGE 83, 60 (72 f.)  – Ausländerwahlrecht II, unter Verweis auf 77, 1 (40)  – Neue ­Heimat. 134

C. Organisation

271

als Mitglieder der Landesregierungen entweder direkt136 oder zumindest über die Ernennung durch den Ministerpräsidenten137 auf den Landtag und über die Land­ tagswahlen auf das Volk im jeweiligen Land zurückführen können. Allerdings wird diese mehrfach abgeleitete demokratische Legitimation der Mitglieder des Bundesrats zusätzlich dadurch relativiert, dass die Landesregierun­ gen regelmäßig ausschließlich von den jeweiligen Landtagsmehrheiten getragen werden und oppositionelle Landtagsfraktionen somit ohne Einfluss auf die Be­ stellung der Vertreter im Bundesrat bleiben.

101

Am Beispiel des Bundesrats lässt sich ein in der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung jedenfalls prinzipiell notwendiges Proportionalitätsverhältnis zwischen dem Grad an demokratischer Legitimation und dem Umfang der übertragenen Befugnisse ablesen: Mehr­ fach abgeleitet über die Wahl der Landesparlamente, deren Wahlen von Landesregierungen und schließlich über die Entscheidung der jeweiligen Regierung für bestimmte Vertreter haben die Mitglieder des Bundesrats nur eine eingeschränkte, mittelbare demokratische Legitimation. Dieser nur mittelbaren demokratischen Legitimation entsprechen aber auf der anderen Seite auch nur eingeschränkte Befugnisse des Bundesrats. Er steht gegenüber dem Bundestag und der Bundesregierung nicht im Zentrum der Staatsaufgaben Gesetzgebung und Verwaltung,138 er verfügt hier vielmehr nur über eingeschränkte Mitwirkungskompetenzen (Art. 50 GG).

102

C. Organisation I. Autonomie Wie der Bundestag (s. § 2 Rn. 330), so genießt auch der Bundesrat Autonomie, d. h. das Recht, sich selbst zu organisieren, Unterorgane zu bilden (s. u. Rn. 130) und sich selbst zu verwalten. Dies ergibt sich aus seiner Stellung als Verfassungsorgan (s. § 1 Rn. 94 ff.) und den in Art. 52 Abs. 1 bis 4 GG genannten Befugnissen.

103

Insbesondere das Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GG), ist Ausdruck der Autonomie des Bundesrats.

104

Im Unterschied zur Geschäftsordnung des Bundestags (s. § 2 Rn. 210) ist die des Bundes­ rats in ihrer zeitlichen Geltung nicht beschränkt, da für den Bundesrat der Grundsatz der

105

136

So bspw. nach Art. 107 Abs. 2 S. 1 LV-Bre. So bspw. nach Art. 45 LV-Bay. 138 Nach der Reichsverfassung von 1871 (Art. 5 Abs. 1) war der Bundesrat, dessen Zustim­ mung zu jedem Gesetzesbeschluss erforderlich war, gegenüber dem Reichstag gleichberech­ tigt. Der Bundesrat, hinter dem die verbündeten Landesregierungen standen, galt nicht nur als Gesetzgeber, sondern gemeinsam mit der Reichsleitung durch den Kaiser als Reichsregierung, als höchste Macht im Reich. Im Gegensatz dazu besaß der Reichsrat nach der Weimarer Reichsverfassung von 1919 keine Exekutivbefugnisse und gegenüber den Gesetzesbeschlüssen des Reichstages nur ein generel­ les Einspruchsrecht, Art. 74 Abs. 1 WRV; einen Einspruch konnte der Reichstag allerdings mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen (Art. 74 Abs. 3 WRV). 137

272

§ 3 Bundesrat

Diskontinuität nicht gilt (s. o. Rn. 42). Der Bundesrat ist ein kontinuierliches, permanentes Organ, dessen institutionelle Mitglieder (die Länder)  – im Gegensatz zu den persönlichen Mitgliedern – nicht wechseln. Im Vergleich mit der Geschäftsordnung des Bundestags wurde die Geschäftsordnung des Bundesrats bisher seltener geändert – im Zeitraum von 1993 bis 2017 beispielsweise nur viermal.139

106

Die Geschäftsordnungsautonomie des Bundesrats hat verfassungsrechtliche Grenzen: Als Binnenrecht darf die Geschäftsordnung grundsätzlich nur die Organisation und die Rechtsver­ hältnisse innerhalb des Organs Bundesrat regeln. Dies kann in gewissem Maße freilich auch Außenstehende erfassen, so im Falle der Ordnungsgewalt des Bundesratspräsidenten gem. § 22 GOBR. Im Übrigen kann im Sinne der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungs­ gerichts140 zu fordern sein, dass bestimmte für das demokratische Zusammenleben grundsätz­ liche Fragen wie die Bestimmung der Stimmverhältnisse im Bundesrat nicht lediglich durch Geschäftsordnungsrecht, sondern durch Parlamentsgesetz zu regeln sind (dazu oben Rn. 79).

II. Präsident und Präsidium 1. Wahl des Bundesratspräsidenten 107

Gemäß Art. 52 Abs. 1 GG, § 5 Abs. 1 GOBR wählt der Bundesrat seinen Prä­ sidenten (und zwei Vizepräsidenten) auf ein Jahr. Die Geschäftsordnung nimmt diese verfassungsrechtliche Vorgabe in § 5 GOBR auf und bestimmt zusätzlich, dass nur ein Mitglied des Bundesrats zum Präsidenten gewählt werden kann (§ 5 Abs. 1 GOBR: „aus seinen Mitgliedern“).141

108

Dies wird im Unterschied zu den Regelungen zum Vorsitz im früheren Bundesrat des Deutschen Kaiserreichs nach Art. 15 Abs. 1 RV 1871 (Vorsitz durch den Reichskanzler) bzw. im früheren Reichsrat der Weimarer Republik nach Art. 65 Abs. 1 WRV (den Vorsitz führte ein Mitglied der Reichsregierung) oder auch zum US-amerikanischen Senat (Vorsitzender ist der Vizepräsident der USA) als Besonderheit empfunden.142 Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch die innere Stimmigkeit dieser grundgesetzlichen Vorgabe: Dass der Präsident nur vom Bundesrat selbst und nicht von einem anderen Verfassungsorgan gestellt werden kann, ergibt sich aus einer systematischen und funktionalen Betrachtung der grundgesetzlichen Be­ stimmungen über den Bundesrat, insbesondere seiner Funktion als autonomem Faktor der (horizontalen und vertikalen) Gewaltenteilung und -verschränkung (s. o. Rn. 29 ff.). Andere institutionelle Arrangements wären freilich (verfassungspolitisch) auch denkbar.

109

Demgegenüber mag es als erstaunlich empfunden werden, dass nach der insoweit offenen Formulierung des § 5 Abs. 1 GOBR nicht nur die Ministerpräsidenten, sondern auch Lan-

139 Dem stehen im selben Zeitraum (1993–2017) 23 Änderungen der Geschäftsordnung des Bundestags gegenüber. 140 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 121 ff. 141 Der Wortlaut des Grundgesetzes bestimmt dies nicht. Dies ergibt sich aber aus der Ab­ kehr des Grundgesetzes von verfassungsgeschichtlichen Vorbildern im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik (s. Rn. 108). 142 Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 17: „nicht […] ganz selbstverständlich“.

C. Organisation

273

desminister und Staatssekretäre bzw. Staatsräte als Präsidenten in Betracht kommen. In der Praxis wird diese Möglichkeit allerdings ebensowenig wie das einer Wahl innewohnende Moment einer echten politischen Entscheidung genutzt.

Vielmehr wechselt die Bundesratspräsidentschaft entsprechend dem sog. Königsteiner Abkommen143 vom 30. August 1950 jeweils zum 1. November in vorbe­ stimmter, an der Bevölkerungszahl orientierter Reihenfolge zwischen den einzelnen Bundesländern, wobei jeweils der Regierungschef das Amt des Bundesratspräsi­ denten übernimmt (Rotationsprinzip). Dabei wird die Reihenfolge von der Ein­ wohnerzahl der Länder in absteigender Tendenz bestimmt (Degressionsprinzip144).

110

Im Rotationsprinzip des Königsteiner Abkommens wird zum Teil ein anschauliches Bei­ spiel für die Existenz und das Funktionieren von Verfassungsgewohnheitsrecht145 erblickt.146 Die Qualifizierung des Abkommens als verbindliches Verfassungsgewohnheitsrecht ist jedoch abzulehnen. Eine verfassungsstarke Bindung des (jeweils aktuellen) Bundesrats mit Wirkung in die Zukunft wäre – gerade angesichts der Bedeutsamkeit der betroffenen Selbst­ organisationsentscheidung – zu weitreichend.

111

Vielmehr wäre die Wiederwahl eines Bundesratspräsidenten nach einem Jahr  – unter Durchbrechung des Abkommens  – ebenso verfassungsgemäß147 wie beispielsweise die rotationswidrige Wahl eines nicht turnusgemäß vorgese­ henen Landesregierungschefs oder eines übrigen Bundesratsmitglieds (z. B. auf Ministerebene).

112

Solche Abweichungen vom Königsteiner Abkommen sind zur Zeit freilich poli­ tisch unwahrscheinlich. Jedenfalls ist das Abkommen ein Beleg für das partei- und länderübergreifende Verständnis für die Bedeutung der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Länder im föderalen Machtgefüge. Zugleich kann die Praxis des Königsteiner Abkommens als eine grundsätzliche Absage an die Parteipolitisierung des Amtes des Bundesratspräsidenten verstanden werden.148

113

Bei alledem darf die politische Bedeutung des Bundesratspräsidenten freilich nicht über­ schätzt werden. Ihm kommen in erster Linie organisatorische Rechte zu (s. u. Rn. 120 ff.). An­ dererseits ist die Stellung des Bundesratspräsidenten aufgrund der protokollarischen Rangfolge

114

143

Abgedruckt z. B. bei Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, 1991, S. 332 ff.; dazu Ipsen, Der Staat der Mitte, 2009, S. 50. 144 Vgl. Korioth, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 52, Rn. 4. 145 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 136 f. 146 Für die Einordnung als Verfassungsgewohnheitsrecht Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorga­ nisationsrecht, 30. Aufl. 2018, Rn. 348; implizit a. A. Korioth, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 52, Rn. 4; Robbers, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 52, Rn. 4; wohl auch Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 52, Rn. 15, welche eine (auch mehrfache) Wie­ derwahl des Bundesratspräsidenten für verfassungsmäßig halten. 147 Vgl. deutlich Korioth, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 52, Rn. 4: „dem Bundesrat [bleibt] die Freiheit […], jederzeit von diesem Turnus abzuweichen“; ferner Robbers, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 52, Rn. 4; so wohl auch Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 52, Rn. 15. 148 Vgl. etwa Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 52, Rn. 14.

274

§ 3 Bundesrat

(s. § 1 Rn. 167 ff.) von hohem Symbolgehalt und nicht zu vernachlässigender Bedeutung für das Selbstverständnis des grundgesetzlichen Bundesstaats. Es ist der bundesstaatlichen Integration sicherlich förderlich, dass die Bundesratspräsidentschaft zwischen den sechzehn Bundesländern wechselt. Letztlich scheint diese politische Lösung auch vom Grundgesetz gewollt zu sein, denn es ist kein durchschlagender sonstiger Grund ersichtlich, die Amtszeit auf ein Jahr zu begrenzen.149

115

Wie der Bundespräsident (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG), der Bundeskanzler (Art. 63 Abs. 1 GG) und die vom Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfassungs­ gerichts (§ 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) wird der Präsident des Bundesrats nach § 5 Abs. 1 GOBR ohne Aussprache gewählt.

116

Das Verbot der Aussprache bei der Wahl des Bundesratspräsidenten mag im Hinblick auf die Funktion des Bundesratspräsidenten als Vertreter des Bundespräsidenten (Art. 57 GG; s. § 5 Rn. 88 ff.) konsequent sein und auch dem gedämpften Debattenstil des Bundesrats (s. o. Rn. 50) entsprechen. Gleichwohl wird dieses Verbot der Aussprache von einem autoritären vordemokratischen Grundverständnis geprägt und scheint heute überlebt (s. a. § 5 Rn. 54 f. zur Wahl des Bundespräsidenten und § 7 Rn. 49, 58, 64, 129 zur Wahl des Bundeskanzlers; s. allgemein § 1 Rn. 71). Das Risiko möglicher kritischer oder gar rufschädigender Anfragen in einer Personaldebatte muss der Minderung demokratischer Legitimation durch ‚Sprech­ verbote‘ gegenübergestellt werden.

2. Vorzeitiges Ausscheiden aus dem Amt 117

Die verfassungsrechtliche Vorgabe der einjährigen Amtszeit des Bundesratsprä­ sidenten (Art. 52 Abs. 1 GG) kann in Widerspruch zur jederzeitigen Möglichkeit der Abberufung der Bundesratsmitglieder durch die jeweiligen Landesregierungen geraten. Die Geschäftsordnung sieht in § 5 Abs. 2 GOBR deshalb für den Fall der vorzeitigen Beendigung eine gebotene („soll“) Nachwahl des Bundesratspräsidenten innerhalb von vier Wochen vor.

118

Offen bleibt sowohl bei dieser als auch bei der verfassungsrechtlichen Formu­ lierung, ob der Nachfolger in diesem Fall für die gesamte Amtszeit von einem Jahr oder nur für die verbleibende Amtszeit seines Vorgängers zu wählen ist. In der Praxis wird der Nachfolger stets nur für die noch verbleibende Amtszeit gewählt. Damit wird – entsprechend dem Königsteiner Abkommen – die besondere föderativ-politische Bedeutung des Bundesratsvorsitzes betont, die insofern einen kontinuierlichen Wechsel zwischen den einzelnen Bundesländern nahe legt.

119

Aus rechtlicher Sicht ist diese Handhabung keinesfalls zwingend. Art. 52 Abs. 1 GG kann auch so verstanden werden, dass der neue Bundesratspräsident bei vorzeitigem Ausscheiden 149

Zum Teil wird die Befristung der Amtszeit als Mittel betrachtet, um das Amt des Bundes­ ratspräsidenten aus der Macht- und Parteipolitik herauszuhalten – vgl. etwa Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16, Rn. 18. Dieses Argument wird allerdings durch die – nach dem Verfas­ sungstext des Grundgesetzes bestehende – Möglichkeit der (auch unmittelbar anschließenden) Wiederwahl des Bundesratspräsidenten etwas abgeschwächt.

C. Organisation

275

des jeweiligen Vorgängers wieder für ein Jahr und nicht nur für die verbleibende Amtszeit gewählt wird.

3. Aufgaben des Bundesratspräsidenten Zu den wichtigsten Aufgaben des Bundesratspräsidenten gehören die Vorbereitung und Leitung der Plenarsitzungen (Art. 52 Abs. 2 GG, §§ 15, 20 GOBR) sowie die Koordination der Ausschussbefassung (§§ 11, 36 GOBR).

120

Dem Präsidenten des Bundesrats steht gemäß § 6 Abs. 3 GOBR das Hausrecht in den Gebäuden des Bundesrats zu. Dies lehnt sich teilweise an die entsprechende Befugnis des Bundestagspräsidenten in den Bundestagsgebäuden an, welche jedoch weitergehend auch die „Polizeigewalt“ umfasst (vgl. Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG). Dem Bundesratspräsidenten kommt die „Polizeigewalt“ in den Gebäuden des Bundes­ rats nicht zu; zuständig sind insoweit die örtlichen Sicherheitsbehörden.150 Der Bundesratspräsident ist zudem Dienstvorgesetzter der Bundesratsbediensteten (§ 6 Abs. 1 S. 2 GOBR).

121

Darüber hinaus vertritt der Bundesratspräsident die Bundesrepublik Deutsch­ land in allen Angelegenheiten des Bundesrats (§ 6 Abs. 1 S. 1 GOBR). Dies be­ rührt Fragen des ‚Protokolls‘ (s. § 1 Rn. 167 ff.) und kann auch eine Vertretung gegenüber dem Ausland umfassen.

122

Eine bedeutende Aufgabe des Bundesratspräsidenten enthält im V. Abschnitt des Grundgesetzes Art. 57 GG: Danach nimmt der Bundesratspräsident – als ‚Vertreter‘ des Bundespräsidenten – die Befugnisse des Bundespräsidenten im Falle seiner Verhinderung oder seines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Amt wahr (s. auch § 5 Rn. 88 ff.).151 Im Gegensatz zum sonstigen Handeln von VerfassungsUnterorganen (s. § 1 Rn. 36 ff.) nimmt der Bundesratspräsident dieses Recht nicht für den Bundesrat, sondern als eigenes von der Verfassung verliehenes Recht wahr.

123

Zu beachten ist, dass das Grundgesetz  – anders als noch Art. 51 WRV (Vertretung des Reichspräsidenten durch den Reichskanzler und ab 1932 durch den Präsidenten des Reichs­ gerichts)152 – in Art. 57 nicht ausdrücklich von ‚Vertretung‘, sondern von der „Wahrnehmung

124

150

Vgl. Dörr, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), GG, 36. Ed. 2018, Art. 52, Rn. 7.3, m. w. N. Nach dem am 31. Mai 2010 von Bundespräsident Horst Köhler erklärten Rücktritt mit sofortiger Wirkung führte deshalb der damalige Bundesratspräsident, der Bremer Bürger­ meister Jens Böhrnsen, mit sofortiger Wirkung die Geschäfte des Bundespräsidenten, bis am 30. Juni 2010 Christian Wulff zum neuen Bundespräsidenten gewählt wurde. Wulff selbst trat am 17. Februar 2012 vom Amt des Bundespräsidenten zurück. Bis zur Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten am 18. März 2012 führte der bayerische Ministerpräsident Horst ­Seehofer als Bundesratspräsident die Geschäfte des Bundespräsidenten. 152 Zur Verfassungslage unter der WRV (knapp) Paterok, Die Wahrnehmung der Befugnisse des Bundespräsidenten durch den Präsidenten des Bundesrates, Art. 57 GG, 1966, S. 8 f. Zur Verfassungsänderung von 1932: Schmitt, DJZ 1933, Sp. 27; hierzu Neumann, Carl Schmitt als Jurist, 2015, S. 298 f. Die Verfassungsänderung wurde von der NSDAP initiiert, um – für den Fall des Todes von Hindenburg – eine Militärdiktatur v. Schleichers zu verhindern. 151

276

§ 3 Bundesrat

der Befugnisse“ spricht.153 Das kommentierende Schrifttum verwendet hingegen weitgehend den Begriff der „Vertretung“, wobei entsprechend der textlichen Fassung in Art. 57 GG davon ausgegangen wird, dass es sich um einen Fall der Ersatzvertretung, nicht etwa der Nebenver­ tretung handelt (s. ausführlich § 5 Rn. 95).154 Ein paralleles Handeln von Bundespräsident und Bundesratspräsident in Vertretung des Bundespräsidenten ist somit nicht zulässig.

125

Motiv des Parlamentarischen Rates für die Auswahl des Bundesratspräsidenten als ‚Ver­ treter‘ des Bundespräsidenten war die Überlegung, dass im Vertretungsfalle bei ihm die geringste Gefahr einer Kollision mit den Interessen des eigenen Amtes bestünde. Zugleich unterstreicht die Regelung in Art. 57 GG die Bedeutung des Bundesrats als föderales Verfas­ sungsorgan im Staatsgefüge (vgl. § 5 Rn. 89 f.).

126

Um etwaige Interessenkonflikte zwischen der Wahrnehmung der Aufgaben des Bundes­ präsidenten und denen des Bundesratspräsidenten von vorneherein zu vermeiden, bestimmt § 7 Abs. 1 S. 2 GOBR, dass die Aufgaben des Bundesratspräsidenten als solchem für die Zeit der Wahrnehmung der Befugnisse des Bundespräsidenten von einem seiner Vizepräsidenten (s. Rn. 127, 107) wahrgenommen werden. Der Bundesratspräsident gilt als verhindert, solange er nach Art. 57 GG die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrnimmt.

4. Präsidium 127

Das Präsidium als Beratungs- und Ausführungsorgan besteht aus dem Präsidenten und den zwei Vizepräsidenten, die den Präsidenten vertreten können (§§ 5, 7 GOBR). Zu den Aufgaben des Präsidiums zählen gem. § 8 GOBR die Aufstellung des Haushaltsplanentwurfes, Entscheidungen über innere Angelegenheiten des Bundesrats sowie die Ausführung der Beschlüsse des Bundesrats.

128

Das Präsidium des Bundesrats wird bei der Vorbereitung der Sitzungen und der Führung der Verwaltungsgeschäfte des Bundesrats durch den Ständigen Beirat beraten und unterstützt (§ 9 Abs. 2 S. 1 GOBR). Der Ständige Beirat ist in be­ stimmtem Umfang ein funktionales Äquivalent zum Ältestenrat des Bundestags (s. § 2 Rn. 359 ff.). Der Ständige Beirat wird durch Bevollmächtigte der Länder, die nicht zwingend Bundesratsmitglieder sein müssen (vgl. § 9 Abs. 5 Nr. 3 GOBR), gebildet (§ 9 Abs. 1 S. 2 GOBR). Er dient vor allem auch der Koordinierung des Bundesrats mit der Bundesregierung (§ 9 Abs. 3 GOBR) und unterstreicht so die Exekutivlastigkeit des Bundesratsmodells (s. Rn. 14 f., 21, 33, 316, 325).

153 Hierzu Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 135 f., der darauf hinweist, dass das Grundgesetz mit dieser Formulierung verdeutliche, dass der Bundesratspräsident (auch im Fall des Art. 57 GG) in keinem Abhängigkeitsverhältnis zum Bundespräsidenten stehe. 154 Vgl. nur Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 139.

C. Organisation

277

III. Plenum Das Plenum des Bundesrats setzt sich entsprechend dem Schlüssel des Art. 51 Abs. 2 GG (s. o. Rn. 77 ff.) aus den Vertretern der Bundesländer bzw. deren Stellvertretern zusammen, wobei die stellvertretenden Mitglieder den ordentlichen Mitgliedern in Rechten und Pflichten gleichgestellt sind (§ 46 GOBR). Das Plenum ist dazu berufen, alle wesentlichen Entscheidungen, insbesondere die (außen)ver­ bindlichen Beschlüsse zu fassen.

129

IV. Ausschüsse Aufgrund seiner Geschäftsordnungsautonomie (s. o. Rn. 103 ff.) kann der Bun­ desrat ständige Ausschüsse kreieren (§ 11 Abs. 1 S. 1 GOBR). Bestätigt wird diese Befugnis von Art. 52 Abs. 4 GG, der die Existenz von Ausschüssen voraussetzt. Der­ zeit hat der Bundesrat insgesamt 16 Ausschüsse eingesetzt, die in ihrem sachlichen Zuschnitt in etwa den Zuständigkeiten der Bundesministerien entsprechen. Die Sitzungen der Ausschüsse sind nicht öffentlich (§ 37 Abs. 2 S. 1 GOBR. s. u. Rn. 141).

130

Mit Ausnahme der gesondert darzustellenden Europakammer des Bundesrats (Art. 52 Abs. 3a GG, §§ 45a–45l GOBR; s. dazu Rn. 298 ff.), die formal aber gleich­ falls als Ausschuss zu qualifizieren ist, bereiten die Ausschüsse die Beschluss­ fassung durch den Bundesrat nur vor, dürfen selbst aber keine verbindlichen Entscheidungen treffen (§ 39 Abs. 1 GOBR). Die Ausschüsse des Bundesrats arbeiten mit Ausnahme der Europakammer nicht plenarersetzend, sondern ledig­ lich plenardienend.

131

Die Besonderheit der Ausschüsse gegenüber dem Plenum des Bundesrats be­ steht darin, dass ihnen gemäß Art. 52 Abs. 4 GG auch andere Mitglieder oder Beauftragte der Landesregierungen angehören können. Von dieser Ermächtigung macht die Praxis ausgiebigen Gebrauch, so dass in den Ausschüssen vorrangig die Experten aus den jeweiligen Ministerialbürokratien der Länder zusammen­ kommen. Darüber hinaus sind die Ausschüsse gemäß § 40 Abs. 3 GOBR befugt, Sachverständige oder sonstige Personen anzuhören.

132

V. Bundesratsverwaltung Zur Vorbereitung der Arbeit des Bundesrats und seiner Organe besteht nach § 14 Abs. 1 GOBR ein eigenes Sekretariat, die Bundesratsverwaltung. Diese Dienst­ stelle wird vom Direktor des Bundesrats geleitet. Er unterstützt den Präsidenten bei der Führung seiner Amtsgeschäfte (s. o. Rn. 120 ff.), vor allem bei der Vor­ bereitung und der Leitung der Sitzungen, stellt die vorläufige Tagesordnung für das Plenum auf, berät den Präsidenten in Fragen der Geschäftsordnung und des parlamentarischen Verfahrens und wirkt bei der Auszählung der Stimmen mit.

133

278 134

§ 3 Bundesrat

Oberste Dienstbehörde für die Mitarbeiter des Bundesrats ist der Bundesratspräsident (§ 6 Abs. 1 S. 2 GOBR; s. o. Rn. 121).

D. Verfahren im Bundesrat 135

Der Bundesrat bestimmt den Zeitpunkt seiner Zusammenkunft selbst. Auch Regelungen über das Verfahren im Bundesrat, über Rede und Abstimmung u. s. w. sind seiner Geschäftsordnungsautonomie (s. o. Rn. 103 ff.; allgemein § 1 Rn. 94 ff.) überlassen. Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Verfahren im Bun­ desrat enthalten im Wesentlichen nur Art. 52 Abs. 2 GG (Einberufung), Art. 52 Abs. 3 GG (Beschlussfassung, Geschäftsordnungsautonomie und Verhandlungs­ öffentlichkeit – s. u. Rn. 141 f.) und Art. 53 GG (Rechte von Mitgliedern der Bun­ desregierung). Die GOBR regelt in den §§ 15–45 die Sitzungen des Bundesrats, wobei u. a. allgemeine Verfahrengrundsätze formuliert werden, in den §§ 45a–45l das Verfahren in den Angelegenheiten der Europäischen Union (s. u. Rn. 275 ff.).

I. Sitzungen des Bundesrats 136

Der Bundesrat wird von seinem Präsidenten einberufen. Nach dem Grund­ gesetz ist der Bundesratspräsident gemäß Art. 52 Abs. 2 S. 2 GG zur Einberufung verpflichtet, wenn es von den Vertretern mindestens zweier Länder oder von der Bundesregierung verlangt wird.

137

Nach der GOBR besteht diese präsidiale Pflicht zur Einberufung des Bundesrats schon auf Verlangen eines einzelnen Landes (§ 15 Abs. 1 GOBR). Dies stellt einerseits eine erweiternde, aber zulässige Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Einberufungs­ pflicht dar, andererseits stellt es keinen Verfassungs­verstoß, sondern einen bloßen Verstoß gegen die GOBR dar, wenn der Bundesratspräsident dem Verlangen eines einzelnen Landes nicht nachkommt.

138

In der Praxis stellt sich diese Frage nur selten, denn die Plenarsitzungstermine werden für jedes Kalenderjahr im Voraus festgelegt, um eine entsprechende Orga­ nisation der Bundesratsmitglieder, die in erster Linie Aufgaben in ihren Landes­ regierungen wahrzunehmen haben und insofern eine Doppelfunktion ausüben, zu ermöglichen. Aus diesem Grunde wird die Vorbereitung der Arbeit des Bundesrats nicht ausschließlich an dessen Sitz in Berlin, sondern auch in den Landes­ hauptstädten geleistet.

139

Für die Vorbereitung der Sitzungen des Bundesrats sind die Fristen zur Beteili­ gung des Bundesrats im formellen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 76 und 77 GG von Bedeutung.155 155

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 182, 207 ff.

D. Verfahren im Bundesrat

279

Jeweils in etwa sechs Wochen (in Ausnahmefällen drei oder neun Wochen) vor einem Ple­ narsitzungstag bekommt der Bundesrat die Gesetzesvorlagen der Bundesregierung zugeleitet (vgl. Art. 76 Abs. 2 GG – sog. ‚erster Durchgang‘ beim Bundesrat).156 Vom Bundestag kom­ men die Gesetzesbeschlüsse in etwa drei Wochen vor der Sitzung des Bundesrats (vgl. Art. 77 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG) und werden dort sofort an die betroffenen Ausschüsse überwiesen. Zwei Wochen vor der Plenarsitzung müssen die jeweiligen Ausschüsse des Bundesrats ihre Bera­ tungen abgeschlossen haben. Vor der Plenarsitzung wird die Haltung der einzelnen Länder dann jeweils länderintern zwischen den verschiedenen Landesministerien abgestimmt und abschließend in den Länderkabinetten festgelegt. Formell müssten sich die Länderkabinette mit allen Vorlagen und Empfehlungen des Bundesrats befassen. In der Praxis sind jedoch an­ dere Gremien auf Beamtenebene vorgeschaltet, so dass nur bedeutsame Angelegenheiten im Kabinett entschieden werden.

140

II. Verfahrensgrundsätze Die Verfahrensgrundsätze des Bundesrats entsprechen weitgehend denen des Bundestags (s. § 2 Rn. 125 ff.). So verhandelt auch der Bundesrat nach Art. 52 Abs. 3 S. 3 GG regelmäßig öffentlich. Er kann aber auch den Ausschluss der Öf­ fentlichkeit beschließen (Art. 52 Abs. 3 S. 4 GG; § 17 GOBR). Die Ausschüsse des Bundesrats verhandeln gemäß § 37 Abs. 2 GOBR nichtöffentlich, wobei die GOBR im Unterschied zur entsprechenden Regelung für die Bundestagsausschüsse (§ 69 Abs. 1 S. 2 GOBT) keine Möglichkeit vorsieht, die Öffentlichkeit ausnahmsweise zuzulassen.

141

Unabhängig von einem etwaigen Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen des Plenums sind gemäß Art. 53 S. 1 GG die Mitglieder der Bundesregierung stets berechtigt und auf Verlangen verpflichtet, an den Verhandlungen des Plenums oder der Ausschüsse des Bundesrats teilzunehmen. Weitergehend sind nach § 18 Abs. 1 GOBR auch die Berichterstatter des Vermittlungsausschusses157 sowie die Staatssekretäre des Bundes zur Teilnahme an den Verhandlungen des Bundesrats berechtigt. Art. 53 S. 2 GG billigt (nur) den Mitgliedern der Bundesregierung über das Teilnahmerecht hinaus sogar ein Rederecht zu. Diese verfahrensrechtliche Einbindung der Bundesregierung in die Arbeit des Bundesrats dient der gegen­ seitigen Information sowie der Möglichkeit einer frühzeitigen Abstimmung der spezifischen Interessen der Exekutiven von Bund und Ländern. Gemäß Art. 53 S. 3 GG hat die Bundesre­ gierung eine korrespondierende Informationspflicht, d. h. sie muss den Bundesrat auch ohne ausdrückliches Verlangen (vgl. Art. 53 S. 1 GG) über die „Führung der Geschäfte“ auf dem Laufenden halten.

142

Einzelheiten über das Verfahren im Plenum des Bundesrats ergeben sich aus dessen Geschäftsordnung. Von besonderer Bedeutung ist demnach die Feststellung der Tagesordnung (§ 23 Abs. 2 GOBR), die den Inhalt der Verhandlung sowie den konkreten Rahmen der Wahrnehmung der darauf bezogenen Rechte, insbesondere der Fragerechte, bestimmt (vgl. bspw. § 19 GOBR).

143

156 157

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 182. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 229 ff.

280

§ 3 Bundesrat

III. Beschlussfassung 144

Der Bundesrat artikuliert seinen Willen in Form von Beschlüssen. Das schließt informelle Einwirkungen und Kontakte im politischen Betrieb sowie Verlaut­ barungen für die Öffentlichkeit nicht aus. 1. Mehrheitsprinzip

145

Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stim­ men (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG; näher unten Rn. 150 ff.; allgemein § 1 Rn. 112 ff.). Das Grundgesetz gestaltet das föderative Bundesorgan Bundesrat somit nach dem Mehrheitsprinzip und nicht etwa nach dem Einstimmigkeitsprinzip aus. Dies lässt sich – ähnlich wie auch die Gewichtung der Stimmen nach Einwoh­ nerstärke (s. o. Rn. 77 ff.)  – als Relativierung des Grundsatzes der Gleichheit der Länder (als Staaten) betrachten und zeigt eine unitarisierende Tendenz der Bundesratsstruktur.158 2. Beschlussfähigkeit

146

Ein Beschluss des Bundesrats setzt zunächst die Beschlussfähigkeit voraus, die gegeben ist, wenn die Mehrheit der Stimmen des Bundesrats vertreten ist (§ 28 Abs. 1 GOBR; arg. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG). Zur Zeit liegt diese Mehrheit der Stim­ men bei 35 von 69.

147

Entscheidend für die Beschlussfähigkeit des Bundesrats ist das Vertretensein einer Min­ destzahl von Stimmen, nicht etwa die Anwesenheit einer Mindestzahl von personellen Mitgliedern: Die – je nach Einwohnerzahl drei bis sechs – Stimmen eines Landes können nämlich auch durch nur ein einziges anwesendes Mitglied (oder einen Vertreter) aus diesem Land abgegeben werden (vgl. Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG) – sog. Stimmführerschaft. Das heißt, für die wirksame Abgabe aller Stimmen eines Lands genügt die Anwesenheit eines Mitglieds (oder eines Vertreters) aus diesem Land. Hier zeigt sich, dass im Bundesrat die personelle Mit­ gliedschaft der institutionellen Mitgliedschaft grundsätzlich nachgeordnet ist (s. o. Rn. 74, 83).

148

Im Unterschied zur entsprechenden Regelung beim Bundestag (s. o. § 2 Rn. 142 ff.) gilt der Bundesrat nicht bis zur ausdrücklichen Feststellung der Beschlussunfähig­ keit als beschlussfähig, vielmehr muss der Präsident des Bundesrats gemäß § 28 Abs. 2 GOBR ex officio die Sitzung bei Beschlussunfähigkeit aufheben.

149

Der Grund für diesen Unterschied liegt darin, dass der Bundestag seine Beschlüsse nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG regelmäßig schon mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen fassen kann (sog. einfache Abstimmendenmehrheit), während im Bundesrat nach Art. 52 Abs. 3 S. 1  GG stets die Mehrheit „seiner [in Art. 51 Abs. 2 GG grundgesetzlich vorgesehenen] 158

Vgl. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 4, 6.

D. Verfahren im Bundesrat

281

Stimmen“ erforderlich ist (Mitgliedermehrheit, sog. absolute Mehrheit159; zu den Mehrheits­ begriffen s. § 1 Rn. 115 ff.).

3. Erforderliche Mehrheit Ein Beschluss des Bundesrats setzt nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG mindestens die Mehrheit „seiner Stimmen“, also die Mitgliedermehrheit (vgl. § 1 Rn. 115 ff.) voraus. Von den insgesamt 69 Stimmen des Bundesrats sind also grundsätzlich 35 Stimmen erforderlich, um den Beschluss für einen Antrag fassen zu können.

150

Enthaltungen wirken dabei wie Nein-Stimmen, wobei deren inhaltliche Be­ deutung von der jeweiligen Abstimmungsfrage abhängt. Im Fall von Zustimmungs­ gesetzen (s. Rn. 186 ff.) bedeutet eine Enthaltung ein Nein zur Zustimmung und damit ein Nein zum Gesetz. Im Fall von Einspruchsgesetzen (s. Rn. 193 ff.) hin­ gegen wirkt sie wie ein Nein zum Einspruch und damit wie ein Ja zum Gesetz. Auf Länderebene vereinbaren Koalitionsparteien häufig, dass sich bei Meinungs­ verschiedenheiten zwischen den Koalitionspartnern das Land enthält.

151

Dagegen wurde in der Vergangenheit der – freilich eine Verfassungsänderung vorausset­ zende – Gegenvorschlag unterbreitet, wonach künftig die Mehrheit der abgegebenen Stim­ men zählen sollte (Abstimmenden- statt Mitgliedermehrheit), um Blockaden durch Landes­ koalitionsparteien zu vermeiden. Die Einführung einer Abstimmendenmehrheit im Bundesrat könnte den Koalitionsparteien auf Landesebene ermöglichen, bei parteipolitisch besonders umstrittenen Themen ihre kontroversen Auffassungen durch eine ‚echte‘ Enthaltung in der Ab­ stimmung abzubilden, ohne ein Scheitern der Landeskoalition zu riskieren.160 In der Realität würde sich wohl wenig ändern, wenn und weil die Koalitionspartner künftig die Beteiligten auffordern könnten, bei Meinungsverschiedenheiten mit „Nein“ zu stimmen.

152

Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG normiert das Mindestmehrheitserfordernis für die Be­ schlussfassung im Bundesrat. Das Grundgesetz kennt jedoch auch qualifizierte Mehrheitserfordernisse: Gemäß Art. 79 Abs. 2 GG sind für verfassungsändernde Gesetze (s. u. Rn. 192) und gemäß Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG sind für die Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht (s. § 5 Rn. 194 ff.) zwei Drit­ tel der Stimmen des Bundesrats erforderlich.

153

Die Feststellung der Mehrheit erfolgt grundsätzlich durch Abstimmung im Plenum. Einzelheiten normiert § 29 GOBR: Danach wird regelmäßig durch Hand­ aufheben abgestimmt. Nur sofern eine Abstimmung über die entsprechenden Empfehlungen der Ausschüsse nicht beantragt wird, keine einander widerspre­ chenden Empfehlungen und keine Anträge oder Wortmeldungen vorliegen, kann der Präsident feststellen, dass der Bundesrat gemäß den Empfehlungen der Aus­

154

159

Der grundsätzlich vorzugswürdige Begriff der ‚Mitgliedermehrheit‘ als Synonym der ‚absoluten Mehrheit‘ passt für die Beschlussfassung im Bundesrat – anders als im Bundes­ tag – wegen des Auseinanderfallens von Stimme und Mitgliedschaft weniger gut. 160 Vgl. Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 (178).

282

§ 3 Bundesrat

schüsse beschlossen hat, ohne dass eine Abstimmung im Plenum erforderlich wäre (§ 29 Abs. 2 S. 1 GOBR). 155

Vor In-Kraft-Treten der Geschäftsordnung des Bundesrats hatte es das Bundesverfassungs­ gericht trotz fehlender ausdrücklicher Formulierung für einen Beschluss genügen lassen, dass „besondere Umstände bei der Beratung und Beschlussfassung eindeutig erkennen lassen, dass der Bundesrat mit der Vorlage einverstanden war und das Zustandekommen des Geset­ zes gewollt hat.“161

4. Einheitliche Stimmabgabe 156

Nach Art. 51 Abs. 3 S. 2  GG können die Stimmen eines Landes nur einheit­ lich abgegeben werden. Insofern sind für Entscheidungen des Bundesrats nur die Länder als institutionelle Mitglieder, nicht jedoch die persönlichen Mitglieder maßgeblich.

157

Trotz dieser eindeutigen Rechtslage können sich Probleme aus der Tatsache er­ geben, dass die institutionellen Mitglieder ihre Stimmen nur durch die personelle Mitglieder artikulieren können (s. o. Rn. 83 ff.). Probleme entstehen, wenn ver­ schiedene personelle Mitglieder aus ein und demselben Land unterschiedliche Abstimmungssignale geben. Nachdem zwei Vertreter desselben Landes in einer frühen Sitzung des Bundesrats am 19. Dezember 1949 unterschiedlich abstimmten, wurden im wissenschaftlichen Schrifttum anfänglich drei Auffassungen zu der Frage vertreten, welche Folgen das uneinheitliche Abstimmungsverhalten von Vertretern eines Landes im Bundesrat nach sich zieht.162

158

In Anlehnung an den Präzedenzfall, bei dem der Bundesratspräsident und Mi­ nisterpräsident Nordrhein-Westfalens Arnold (CDU) 1949 unter Hinweis auf die gebotene Einheitlichkeit der Stimmabgabe die Stimmen für das Land NordrheinWestfalen selbst abgab – die unterschiedlichen Stimmen wurden also für das Land abgegeben, in dem er selbst Ministerpräsident war –, soll – erstens – nach einer Mindermeinung bei widersprüchlichem Abstimmungsverhalten stets die Stimme des Regierungschefs maßgeblich sein, weil die Ungültigkeit aller Länderstimmen die Gesamtentscheidung des Bundesrats erheblich beeinflussen könne.163

159

Dieser Auffassung folgte am 20. März 2002 der Bundesratspräsident Wowereit (SPD), als er bei der Abstimmung über das stark umkämpfte Zuwanderungsgesetz maßgeblich auf die Stimme des brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe (SPD) rekurrierte und die entgegengesetzte Stimme des brandenburgischen Innenministers Schönbohm (CDU) insofern ignorierte.164 161

BVerfGE 28, 66 (79 f.) – Postgebühren. Vgl. zum Folgenden auch Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 (177 f.), m. w. N.; zur knappen Darstellung des Streits in der juristischen Falllösung M. Nolte / Tams, Jura 2000, 158 (163). 163 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 136 f. 164 Vgl. Dörr / Wilms, ZRP 2002, 265 (265 ff.), mit Auszug aus dem stenografischen Sitzungs­ bericht; s. auch Schenke, NJW 2002, 1318 (1319 f.). 162

D. Verfahren im Bundesrat

283

Dieser Auffassung wird vom Bundesverfassungsgericht165 und von der herrschenden Meinung indessen widersprochen. Die Gegenmeinung sei mit dem klaren Wortlaut des Grundgesetzes nicht vereinbar166 und verkenne den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichwertigkeit der Stimmen der (persönlichen) Mitglieder des Bundesrats.

Nach zutreffender Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der herr­ schenden Meinung sind – zweitens – alle Stimmen des betreffenden Landes ungültig, wenn sie nicht einheitlich abgegeben werden.167 Der Wortlaut des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG lässt keinen Raum für differenzierende Lösungen.168

160

Kaum noch vertreten wird  – drittens  – die Auffassung, die uneinheitliche Stimmabgabe verpflichte zur Wiederholung der Abstimmung im Bundesrat.169

161

Diese Ansicht impliziert als ersten Schritt die Ungültigkeit der gesamten Abstimmung im Bundesrat. Nach dieser Auffassung erhielte ein Land ein vom Grundgesetz nicht vorgesehenes Veto-Recht im Bundesrat, denn es könnte durch eine abgesprochene uneinheitliche Stimmabgabe die Entscheidungsfindung im Bundesrat vollständig blockieren. Weil außerdem die schwerwiegende Folge der Ungültigkeit der gesamten Abstimmung zumindest in den Fäl­ len nicht notwendig ist, in denen sich das Splitten der Stimmen eines Landes nicht auf das Gesamtergebnis auswirkt, ist diese Auffassung abzulehnen.

162

Folgt man der zutreffenden herrschenden Meinung, nach welcher die uneinheit­ liche Stimmabgabe eines Landes die Stimmen dieses Landes ungültig macht, so stellt sich die Folgefrage, ob und ggf. in welcher Form der Bundesratspräsident auf eine einheitliche Stimmabgabe des Landes hinwirken kann, wenn sich Un­ stimmigkeiten im Abstimmungsverhalten verschiedener Vertreter eines Landes abzeichnen. Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Bundesratspräsidenten das Recht zu, durch Nachfragen auf eine wirksame Stimmabgabe des Landes hinzu­ wirken, es sei denn, dass „ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht besteh[e] und nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten [sei], dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde.“170

163

In einem Sondervotum der Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff wird darüber hinaus das Recht des Bundesratspräsidenten bejaht, durch Nachfrage den Vertretern des Landes die Möglichkeit zu geben, auch eine zunächst eindeutig uneinheitliche Stimmabgabe in einem „zweiten Anlauf“ zu korrigieren.171

164

165

BVerfGE 106, 310 (330 ff.) – Zuwanderungsgesetz. Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 51, Rn. 24, m. w. N. 167 BVerfGE 106, 310 – Zuwanderungsgesetz; so schon Schäfer, Der Bundesrat, 1955, S. 53 f.; aus dem späteren Schrifttum bspw. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 59, Rn. 23; Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 51, Rn. 13; Posser, in: Benda / Maihofer / Vogel, HbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 24, Rn. 67; Robbers, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 51, Rn. 15; vgl. dazu auch Schenke, NJW 2002, 1318 (1320 f.); Maurer, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 157 (176 ff.). 168 Robbers, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 51, Rn. 15 m. w. N. 169 So noch v. Mangoldt / Klein, GG, 2. Aufl. 1964, Art. 51, Anm. III 4 b. 170 BVerfGE 106, 310 (332) – Zuwanderungsgesetz. 171 BVerfGE 106, 310 (342 ff., abw. Meinung) – Zuwanderungsgesetz; so auch Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 51, Rn. 6. 166

284

§ 3 Bundesrat

E. Aufgaben und Befugnisse I. Übersicht 165

Die Verfassungsvorschrift des Art. 50 GG beschreibt die Mitwirkung der Länder an Bundesangelegenheiten als zentrale Aufgabe des Bundesrats (s. bereits oben Rn. 24). Es heißt darin zunächst sehr allgemein: „Durch den Bundesrat wir­ ken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Ange­ legenheiten der Europäischen Union mit.“ An dieser Formulierung fällt zunächst auf, dass der Bundesrat nur instrumental gebraucht wird: Nicht der Bundesrat wirkt an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit, sondern die Länder wirken mit – und zwar durch den Bundesrat. Gleichwohl ist – wie erwähnt – der Bundes­ rat ein Bundesorgan (s. o. Rn. 25).

166

Diese allgemeine Aufgabenzuweisung wird durch zahlreiche grundgesetzliche Bestimmungen konkretisiert (wie etwa durch Art. 77 GG für die Bundesgesetz­ gebung, Art. 84 f. GG für die Ausführung der Bundesgesetze, Art. 104a–108 GG für die Finanzverfassung und Art. 23 GG für Angelegenheiten der Europäischen Union).

167

Bundesratsaufgaben können auch aufgrund einfacher Gesetze zugewiesen wer­den;172 dabei ist jedoch ebenso wie bei der Einrichtung und Tätigkeit länder­ übergreifender Einrichtungen (z. B. Konferenzen der Ministerpräsidenten und Ressortminister) die grundgesetzliche Kompetenzordnung zu beachten.173 Charak­ teristisch für den Status und die Kompetenz des Bundesrats ist der in Art. 50 GG verwendete Begriff der „Mitwirkung“. Die Hauptlast der Gesetzgebung und Ver­ waltung liegt beim Bundestag bzw. bei der Bundesregierung.174

168

Die Aufgaben des Bundesrats in Art. 50 GG werden nach den Staatsgewalten differenziert: Unabhängig von den konkreten Ausgestaltungen ist schon die von Art. 50 GG genannte Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes (Rn. 172 ff.) in ihrem Kern Schutzgegenstand der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG (s. o. Rn. 26). Außerdem lässt sich bereits Art. 50 GG als Ausgangs­ norm für eine strukturelle Unterscheidung der Mitwirkung bei der Gesetzgebung einerseits und der Mitwirkung bei der Verwaltung des Bundes (Rn. 221 ff.) ande­ rerseits heranziehen.

169

Demgegenüber erwähnt Art. 50 GG eine Mitwirkung im Bereich der Rechtsprechung nicht. Dies erklärt sich zunächst einmal aus der besonderen Stellung der Judikative, die vor allem in ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten Unabhängigkeit (Art. 97 GG)175 zum Ausdruck 172

BVerfGE 1, 299 (311) – Wohnungsbauförderung. Maunz / Scholz, in: Maunz / Dürig, GG (32. Ergänzungslieferung, Oktober 1996), Art. 50, Rn. 11. 174 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 610. 175 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 42 ff. 173

E. Aufgaben und Befugnisse

285

kommt. Darüber hinaus ist die Judikative in erster Linie Sache der Länder und wird durch die Gerichte der Länder wahrgenommen. Mittelbar aber kann auch der Bundesrat Einfluss auf die Judikative nehmen. So wählt er immerhin die Hälfte der Richter des Bundesverfassungs­ gerichts (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG) und kann versuchen, seine Vorstellungen im Gesetzgebungs­ verfahren bspw. der Prozessordnungen durchzusetzen. Für die Wahlen der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes sieht Art. 95 Abs. 2 GG hingegen keine Beteiligung des Bundesrats vor. Hier setzt das Grundgesetz auf die unmittelbare Mitwirkung der Länder im Richterwahl­ ausschuss (s. bereits Rn. 27).

Die erst durch eine Grundgesetzänderung im Jahre 1992176 in den Art. 50 GG aufgenommene Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union nimmt schließlich eine Sonderstellung ein (s. u. Rn. 283 ff.).177

170

Das Grundgesetz kennt verschiedene Modi der Mitwirkung des Bundesrats an Bundesangelegenheiten: Neben den besonders wichtigen Modi der Zustimmung und des Einspruchs, insbesondere zu Bundesgesetzen (s. u. Rn. 186 ff. und Rn. 193 ff.), sind dies außerdem das „Einvernehmen“ des Bundesrates (vgl. Art. 129 Abs. 1 S. 2 GG), das „Verlangen“ des Bundesrats (vgl. Art. 87a Abs. 4 S. 2 GG178; Art. 35 Abs. 3 S. 2, 91 Abs. 2 S. 2 GG179) sowie die Wahl der Hälfte der Bundesverfassungsrichter durch den Bundesrat (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG).

171

II. Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes 1. Überblick Von besonderer Bedeutung für den föderal-demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes sind die Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats bei der Gesetzge­ bung des Bundes.180 Denn grundsätzlich bedürfen alle wesentlichen Regelungen im Verhältnis des Staates zu den Bürgern der Gesetzesform (sog. Wesentlichkeits­ theorie181), aber beispielsweise auch die innerstaatliche Mitwirkung bei völker­ rechtlichen Verträgen182 oder die Feststellung des Haushaltsplans183. Das Gesetz ist das herausgehobene Herrschaftsmittel in einer Demokratie.

172

Der Bundesrat ist in vielfältiger Weise in das Gesetzgebungsverfahren des Bundes eingebunden. Er kann selbst die Initiative ergreifen (Art. 76 Abs. 1 GG; s. u. Rn. 176 ff.), zu Gesetzesvorlagen der Regierung – im sog. ersten Durchgang – Stel­

173

176

Änderung des Grundgesetzes v. 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2086). Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 182, 207 ff. 178 Verlangen der Einstellung eines Streitkräfteeinsatzes; s. unten Rn. 252. 179 Verlangen, Weisungsunterstellungen der Landespolizei und den Einsatz der Bundespoli­ zei bei überregionalen Naturkatastrophen bzw. im inneren Notstand aufzuheben – s. Rn. 250 f. 180 Vgl. dazu Selg, Die Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung des Bundes, 2009, S. 41 f. 181 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 121 ff. 182 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 35, Rn. 38 ff. 183 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 245. 177

286

§ 3 Bundesrat

lung nehmen (Art. 76 Abs. 2 GG; s. u. Rn. 180 ff.) und Gesetzesbeschlüsse des Bun­ destags in den Vermittlungsausschuss bringen (Art. 77 Abs. 2 GG; s. u. Rn. 183 ff.) bzw. durch Einspruch deren Wirksamwerden hemmen (Art. 77 Abs. 3 und 4 GG; s. u. Rn. 193 ff.). Vor allem hat er bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen ein nicht ersetzbares Zustimmungsrecht (Art. 77 Abs. 2a, Art. 78 Var. 1 GG; s. u. Rn. 186 ff.). 174

Die Beteiligung an Rechtsetzungskompetenzen ist 1994 noch erweitert worden: Nach der damaligen Neufassung des Art. 80 Abs. 3 GG kann der Bundesrat auch Entwürfe für bestimmte Rechtsverordnungen der Bundesregierung erstellen. Die­ ses Initiativrecht für Rechtsverordnungen des Bundes gilt für sämtliche Rechts­ verordnungen, die zu ihrer Entstehung der Zustimmung des Bundesrats bedürfen. Wann ein Zustimmungsrecht des Bundesrats bei Rechtsverordnungen gegeben ist, wird in Art. 80 Abs. 2 GG normiert (s. dazu Rn. 204 ff.).

175

Zu betonen ist aber, dass in allen Fällen die Mitwirkung der Länder an der Bun­ desgesetzgebung vom Grundgesetz allein durch die Beteiligung des Bundesrats (Art. 50 GG) gewährleistet wird. Sie stellen keine Rechte der Länder, sondern Zuständigkeiten des Bundesrats als Verfassungsorgan des Bundes (s. o. Rn. 25) dar. Die Mitwirkung nach Art. 50 GG kann deshalb nicht von einem Land als eigenes Recht geltend gemacht werden.184 Im Einzelnen stellen sich die Einflussmöglich­ keiten des Bundesrats auf die Bundesgesetzgebung wie folgt dar: 2. Gesetzesinitiativrecht

176

Der Bundesrat hat gemäß Art. 76 Abs. 1 GG das Recht, eigene Gesetzentwürfe (Gesetzesvorlagen) beim Bundestag einzubringen. Ausnahmen vom Gesetzesini­ tiativrecht des Bundesrats stellen Entwürfe für das Haushaltsgesetz (vgl. Art. 110 Abs. 3 GG) oder für Gesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG) dar. Für diese Spezialgesetze besteht ein Initiativmonopol der Bundesregierung.

177

Das Gesetzesinitiativrecht steht dem Bundesrat nur als Ganzem zu, so dass es einzelnen Ländern versagt ist, dem Bundestag eigene Vorlagen zuzuleiten. Sie können lediglich versuchen, den Bundesrat zur Übernahme ihres eigenen Geset­ zesentwurfs zu gewinnen.185

178

Beschließt der Bundesrat mit der Mehrheit seiner Stimmen einen solchen Ge­ setzentwurf (s. a. § 30 Abs. 1 Var. 1 GOBR), wird dieser nicht unmittelbar dem Bundestag, sondern gemäß Art. 76 Abs. 3 S. 1  GG zunächst der Bundesregierung zugeleitet,186 um eine Koordination von Bundes- und Landesexekutiven in 184 BVerfGE 94, 297 (311) – Treuhandanstalt II: „Die Mitwirkung der Länder an der Ge­ setzgebung des Bundes ist vom Grundgesetz allein durch die Beteiligung des Bundesrates (Art. 50 GG) gewährleistet und kann nicht von einem Land als eigenes Recht geltend gemacht werden.“ 185 Vgl. Kloepfer, Jura 1991, 169 (170). 186 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 190.

E. Aufgaben und Befugnisse

287

der vorparlamentarischen Phase zu ermöglichen, bevor die Volksvertretung damit befasst wird. Die Bundesregierung soll im Verfahren nach Art. 76 Abs. 3 GG zu dem Entwurf Stellung nehmen und ist ungeachtet einer solchen Stellungnahme verpflichtet, den Bundesratsentwurf innerhalb von sechs Wochen (Art. 76 Abs. 3 S. 1 GG), bei wichtigem Grund neun Wochen und bei Eilbedürftigkeit innerhalb von drei Wochen (Art. 76 Abs. 3 S. 1–4 GG) an den Bundestag weiterzuleiten. Kommt die Bundesregierung dieser Pflicht nicht nach, so darf der Bundesrat dem Bundestag seinen Entwurf nicht selbständig zukommen lassen, sondern ist auf eine Durchsetzung durch das Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungs­ gericht angewiesen. Trotz der Freiheit des Bundestages, über Gesetzesentwürfe (auch des Bundes­ rats) ablehnend zu beschließen, ist das Initiativrecht des Bundesrats von erheb­ licher Bedeutung. Statistisch betrachtet kommen zwar nicht einmal 10 %187 aller Gesetzesentwürfe vom Bundesrat, jedoch können Bundesratsinitiativen im Par­ teienbundesstaat auch zu einem wichtigen Instrument oppositioneller Politik werden, wenn die ‚oppositionellen Bundesländer‘ über die Mehrheit im Bundes­ rat verfügen. Diese Abhängigkeit von (bundes-)parteipolitischen Aspekten mag im Sinne einer zusätzlichen Gewaltenverschränkung begrüßt werden. Nicht zu verkennen ist aber, dass erst diese Instrumentalisierung des Bundesrats durch die politischen Parteien im Parteienbundesstaat (s. dazu oben Rn. 56 ff.) zeitweilig die Gefahr eines ‚Reformstaus‘ hervorgebracht hat, wie sich bspw. bei der langen Dis­ kussion um Steuerreformen in den 1990er Jahren gezeigt hat.

179

3. Stellungnahmen zu Regierungsentwürfen Neben diesem eigenen Gesetzesinitiativrecht ist der Bundesrat auch im Verfah­ ren bei (den zahlenmäßig überwiegenden) Gesetzesentwürfen der Bundesregierung frühzeitig beteiligt. Solche Vorlagen werden gemäß Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG zunächst dem Bundesrat vorgelegt, der das Recht zur Stellungnahme hat, bevor der Regierungsentwurf mitsamt dieser Stellungnahme dem Bundestag zugeleitet wird.188 Zweck dieses Verfahrensschrittes ist – ähnlich wie beim Verfahren nach Art. 76 Abs. 3 GG (s. o. Rn. 178) – die Möglichkeit der Koordinierung von Bun­ des- und Landesexekutiven, bevor der Gesetzesentwurf an das Parlament geht.

180

In diesem ‚ersten Durchgang‘189 kann der Bundesrat die Gesetzesentwürfe unter verfassungsrechtlichen, fachlichen, finanziellen und nicht zuletzt auch poli­

181

187 Statistisches Mittel für die Zeit vom 7.9.1949 bis 27.10.2009. Vgl. dazu Bryde, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 76, Statistische Angaben. 188 Etwas anderes gilt nach Art. 110 Abs. 3 S. 1 GG für den Entwurf des Haushaltsgesetzes, der dem Bundestag und dem Bundesrat gleichzeitig zuzuleiten ist. 189 Der zweite Durchgang ist dann die Befassung des Bundesrates mit dem beschlossenen Gesetz zur Entscheidung über die Anrufung des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG bzw. über Zustimmung oder Einspruch (hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 207 f.).

288

§ 3 Bundesrat

tischen Gesichtspunkten prüfen. In seinen Stellungnahmen kann er Änderungen, Ergän­zungen oder Alternativen vorschlagen, den Gesetzesentwurf aber auch ins­ gesamt vorab ablehnen. Allerdings bindet die Stellungnahme des Bundesrats in diesem Stadium des Gesetzgebungsverfahrens die Bundesregierung nicht. Viel­ mehr legt die Bundesregierung ihre Ansicht zur Stellungnahme des Bundesrats schriftlich in einer Gegenäußerung dar. Gesetzesentwurf, Stellungnahme und Gegenäußerung werden dann dem Bundestag zugeleitet. Der Bundestag entschei­ det hierauf, ob er den Gesetzentwurf – gegebenenfalls unter Berücksichtigung der vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen – als Gesetz beschließt. 182

Bei Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestags entfällt dagegen der ‚erste Durchgang‘ beim Bundesrat. Solche Abgeordneten- und Fraktionsentwürfe müssen weder der Bundesregierung noch dem Bundesrat zugeleitet werden. Viel­ mehr wird in diesem Falle erst das vom Bundestag beschlossene (aber noch nicht gültige) Gesetz dem Bundesrat zugeleitet. Der Bundesrat entscheidet dann über einen Einspruch bzw. über eine Zustimmung oder über die etwaige Anrufung des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG. Die Tatsache, dass Abgeordne­ ten- und Fraktionsvorlagen – anders als Regierungsvorlagen – nicht in einem ‚ers­ ten Durchgang‘ dem Bundesrat zugeleitet werden müssen, hat zur Praxis der sog. ‚verkappten Regierungsvorlagen‘ geführt: Dabei handelt es sich formell um Ab­ geordneten- oder Regierungsfraktionsentwürfe „aus der Mitte des Bundestages“, welche aber faktisch durch die ressourcenstarke Bundesministerialbürokratie er­ arbeitet und wohl vor allem aus Zeitgründen – unter Vermeidung (Umgehung) des ‚ersten Durchgangs‘ beim Bundesrat – über die Regierungsfraktionen unmittelbar in den Bundestag eingebracht werden. Diese Praxis ist nicht verfassungswidrig; die Mitglieder des Bundestags sind in ihrer Entscheidung, sich fremde Entwürfe zu eigen zu machen, frei. Diese Bewertung wird insbesondere durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, das freie Mandat der Mitglieder des Bundesrats (s. § 2 Rn. 246 ff.), ge­ stützt. Im Falle einer bewussten Ausbootung des Bundesrats durch eine ‚verkappte Regierungsvorlage‘ mag man an einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verfas­ sungsorgantreue und an einen Feststellungsantrag im Organstreitverfahren denken. 4. Anrufung des Vermittlungsausschusses

183

Ist ein Bundesgesetz vom Bundestag beschlossen worden, ist der Bundesrat be­ fugt, innerhalb von drei Wochen mit der Mehrheit seiner Stimmen den Vermitt­ lungsausschuss190 anzurufen, wenn er mit einem Gesetzesbeschluss des Bundestags nicht einverstanden ist (Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG). Ein solcher Anrufungsbeschluss kann sich konkret auf einige begrenzte Streitpunkte beziehen oder auch das ge­ samte Gesetzgebungsvorhaben betreffen. In dem Verfahren vor dem Vermittlungs­ ausschuss kann der Bundesrat versuchen, seine Vorstellungen zum Inhalt des Ge­ 190

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 229 ff.

E. Aufgaben und Befugnisse

289

setzes gegenüber denen des Bundestags durchzusetzen. Der Vermittlungsausschuss ist grundsätzlich an den Umfang des Anrufungsbegehrens gebunden, wobei die Einzelheiten dieser Bindung schwer zu bestimmen sind.191 Der Vermittlungsaus­ schuss gehört nicht zu den zulässigen Gesetzesinitiativberechtigten und darf daher kein völlig neues Gesetz vorlegen.192 Die Entscheidungs- bzw. Mehrheitsfindung im Bundesrat über die Anrufung des Vermittlungs­ausschusses unterliegt keinen grundgesetzlich ausgestalteten Verfahrensvor­ gaben. Deshalb ist davon auszugehen, dass bis zu einer Beschlussfassung über die Anrufung politische Einflussnahmen auf die Bundesländer zulässig sind, sofern die dabei eingesetzten Mittel nicht ihrerseits verfassungswidrig sind – etwa, weil sie gegen Vorgaben der Finanz­ verfassung verstießen.

184

Der Vermittlungsausschuss kann bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen auch von Bundestag und Bundesregierung angerufen werden (Art. 77 Abs. 2 S. 4 GG).193 Letztlich hängt der Einfluss des Bundesrats auf die Bundesgesetzgebung aber auch nach einem etwaigen Verfahren im Vermittlungsausschuss davon ab, ob es sich bei dem beschlossenen Gesetz um ein Zustimmungs- oder ein Einspruchsgesetz handelt:

185

5. Entscheidung über Zustimmungsgesetze Am weitreichendsten sind die Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats im Be­ reich der Gesetzgebung des Bundes bei den sogenannten Zustimmungsgesetzen, also solchen Bundesgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrats bedürfen.194 Die Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich nach dem Enumerationsprinzip durch Einzelbestimmungen im Grundgesetz, welche die „Zustimmung des Bundesrates“ ausdrücklich verlangen.195

191 Vgl. BVerfGE 72, 175  – Wohnungsfürsorge; E  101, 297  – Häusliches Arbeitszimmer; E  120, 56  – Vermittlungsausschuss; E  125, 104  – Vermittlungsausschuss III; ausführliche Analyse von Rechtsprechung und Schrifttum bei Elsner, Die Kompetenzen des Vermittlungs­ ausschusses im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, 2018, S. 104 ff. 192 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 235. 193 Für ein Beispiel für die Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundestag nach Zustimmungsversagung durch den Bundesrat vgl. das Gesetzgebungsverfahren zur Steuerre­ form in der 14. Legislaturperiode, wie es in BVerfGE 101, 297 (300 ff.) – Häusliches Arbeits­ zimmer, geschildert wird. 194 S. a. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21 Rn. 208 ff.; zur Zustimmungsbedürftig­ keit von Rechtsverordnungen vgl. dens., a. a. O., § 21 Rn. 343 f. 195 Die Zustimmung des Bundesrats ist erforderlich in den Fällen des Art. 16a Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1; Art. 23 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a S. 3, Abs. 7 S. 1; Art. 29 Abs. 7 S. 1, 2; Art. 37 Abs. 1; Art. 53a Abs. 1 S. 4; Art. 72 Abs. 3 S. 2; Art. 73 Abs. 2; Art. 74 Abs. 2; Art. 77 Abs. 2 S. 2; Art. 79 Abs. 2; Art. 80 Abs. 2 S. 1; Art. 81 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1; Art. 84 Abs. 1 S. 3, 6, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 2, Abs. 5 S. 1; Art. 85 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; Art. 87 Abs. 3 S. 2; Art. 87b Abs. 1 S. 3, 4, Abs. 2 S. 1, 2; Art. 87c; Art. 87d Abs. 2; Art. 87e Abs. 5

186

290 187

§ 3 Bundesrat

Die wichtigsten Fälle der Zustimmungsbedürftigkeit betreffen insbesondere: – verfassungsändernde Gesetze (Art. 79 Abs. 2 GG; s. u. Rn. 192), – Gesetze zur Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der europäischen In­ tegration (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG; s. u. Rn. 286), – Gesetze, welche im Rahmen der Bundesaufsichtsverwaltung das Abweichungs­ recht der Länder bei Regelung des Verwaltungsverfahrens ausschließen (Art. 84 Abs. 1 S. 5, 6 GG; s. u. Rn. 224), – Gesetze, welche im Rahmen der Bundesaufsichtsverwaltung die Befugnis der Bundesregierung zur Erteilung von Einzelweisungen vorsehen (Art. 84 Abs. 5 S. 1 GG; s. u. Rn. 225), – Gesetze, welche die Einrichtung der Behörden im Falle der Bundesauftragsver­ waltung regeln (Art. 85 Abs. 1 S. 1 GG; s. u. Rn. 224), – Gesetze zur Bestimmung der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a Abs. 2 GG, Art. 91c Abs. 4 S. 2 GG, Art. 91e Abs. 3 GG),196 – Gesetze, welche die Länder zur Erbringung von Geldleistungen gegenüber Drit­ ten verpflichten, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind (Art. 104a Abs. 4 GG)197 sowie – Gesetze, die das Finanzaufkommen der Länder und Kommunen zum Gegenstand haben (Art. 105 Abs. 3 GG).

188

Diese Aufzählung verdeutlicht, dass sich die Zustimmungsbedürftigkeit vor allem auf um­ fassende Systementscheidungen (Verfassungsänderungen und europäische Integration) so­ wie auf die Absicherung der Verwaltungshoheit sowie Finanzhoheit der Länder bezieht.198

S. 1, 2; Art. 87f Abs. 1; Art. 91a Abs. 2; Art. 91c Abs. 4 S. 2; Art. 96 Abs. 5; Art. 104a Abs. 4, Abs. 5 S. 2, Abs. 6 S. 4; Art. 104b Abs. 2 S. 1; Art. 105 Abs. 3; Art. 106 Abs. 3 S. 3, Abs. 4 S. 2, Abs. 5 S. 2, Abs. 5a S. 3, Abs. 6 S. 5; Art. 106a S. 2; Art. 106b S. 2; Art. 107 Abs. 1 S. 2, 4; Art. 108 Abs. 2 S. 2, Abs. 4a S. 1, Abs. 4 S. 1, Abs. 5 S. 2, Abs. 7; Art. 109 Abs. 4, Abs. 5 S. 3; Art. 109a Abs. 1; Art. 115a Abs. 1 S. 1; Art. 115c Abs. 1 S. 2, Abs. 3; Art. 115d Abs. 2 S. 3, 4; Art. 115k Abs. 3 S. 2; Art. 115l Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; Art. 119 S. 1, Art. 120a Abs. 1 S. 1; Art. 130 Abs. 1 S. 2; Art. 132 Abs. 4; Art. 134 Abs. 4; Art. 135 Abs. 5; Art. 143a Abs. 3 S. 3; Art. 143b Abs. 2 S. 3; Art. 143c Abs. 4, Art. 143d Abs. 2 S. 3, 5, Abs. 3 S. 2.  – Das „Einvernehmen“ des Bundesrats ist in Art. 129 Abs. 1 S. 2 erforderlich. 196 Zu den Gemeinschaftsaufgaben Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 135 ff. 197 Zur Neufassung von Art. 104a Abs. 4 GG durch die Föderalismusreform I 2006 Risse, in: FS Schneider 2008, 271 (281 ff.).; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 49. 198 Die Absicherung von Verwaltungshoheit und Finanzhoheit der Länder durch Zustim­ mungstatbestände war insbesondere auch bei der Neufassung der Art. 84 Abs. 1 S. 5, 6 u. Art. 104a Abs. 4 GG in der Föderalismusreform I im Jahr 2006 zu berücksichtigen, wobei zugleich das (tendenziell kollidierende) Primärziel der Reform, die Reduktion der Gesamt­ zahl von Zustimmungsgesetzen, sicherzustellen war, vgl. Risse, in: FS Schneider 2008, 271 (284).

E. Aufgaben und Befugnisse

291

Das Gesetz ist insgesamt zustimmungsbedürftig, wenn auch nur eine einzige Vorschrift zustimmungsbedürftig ist, weil das Gesetz formell eine Einheit dar­ stellt.199 Grundsätzlich können aber Gesetze vom Gesetzgeber in zustimmungs­ bedürftige und nicht zustimmungsbedürftige Gesetze aufgeteilt werden, sofern keine willkürliche Aufteilung erfolgt.200 Die Änderung zustimmungsbedürftiger Gesetze kann, muss aber nicht zur Zustimmungsbedürftigkeit des Änderungs­ gesetzes führen.201

189

Zustimmungsbedürftige Gesetze können nur in Kraft treten, wenn ihnen der Bundesrat ausdrücklich zustimmt. Eine konkludente Zustimmung reicht nicht aus. Die Geschäftsordnung des Bundesrats verlangt eine zweifelsfreie Fassung von Beschlüssen, die auf die Zustimmung zu Gesetzesvorlagen oder sonstigen Akten, zielen (§ 30 Abs. 1 S. 1 u. 2 GOBR; sog. „Formstrenge“202). Bei der Abstimmung über Zustimmungsbeschlüsse wirken Enthaltungen wie ein Nein zur Zustimmung und damit wie ein Nein zum Gesetz (s. Rn. 151).

190

Eine Ablehnung der Zustimmung kann vom Bundestag nicht überstimmt wer­ den; das Zustimmungserfordernis ist ein absolutes Vetorecht des Bundesrats. Dieses wiegt umso stärker, als der Bundesrat seine Zustimmung auch wegen nicht zustimmungsbedürftiger Teile des Gesetzes verweigern darf.203 Bundestag und Bundesregierung können – wie erwähnt – lediglich durch Anrufung des Ver­ mittlungsausschusses einen Einigungsversuch anregen. Bleiben diese Versuche aber erfolglos, wirkt sich das Zustimmungserfordernis des Bundesrats als striktes oder absolutes – und nicht etwa nur suspensives – Vetorecht aus. Dies bringt am deutlichsten Art. 78 GG Var. 1 zum Ausdruck, der als Voraussetzungen für das Zustandekommen von Bundesgesetzen im Falle zustimmungsbedürftiger Gesetze eben auch die tatsächlich erfolgte Zustimmung des Bundesrats nennt.

191

Bei verfassungsändernden Gesetzen wird dieses Vetorecht insofern noch ver­ stärkt, als hier abweichend von dem Grundsatz des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG eine Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit auch im Bundesrat erforderlich ist (Art. 79 Abs. 2 GG). Dieses Mitentscheidungsrecht in Form eines qualifizierten Zustimmungserfordernisses dient der Sicherung des verfassungsrechtlichen Grund­ konsenses im Bundesstaat und will Verfassungsänderungen weiter erschweren. Bedurfte doch das Grundgesetz selbst für sein Zustandekommen (neben der vor­ gelagerten Beschlussfassung des Parlamentarischen Rates und der nachträglichen Genehmigung durch die drei westlichen Besatzungsmächte)  der Ratifizierung

192

199 Vgl. dazu Wernsmann, NVwZ 2005, 1352 ff.; kritisch Haghu, Die Zustimmung des Bun­ desrates nach Art. 84 Abs. 1 GG, 2007, S. 178 f.; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 219 ff. 200 BVerfGE 8, 274 (294) – Preisgesetz; 55, 274 (319) – Berufsausbildungsabgabe; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 222. 201 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 223 ff. 202 M. Nolte / Tams, Jura 2000, 158 (162). 203 BVerfGE 37, 363 (381) – Bundesrat.

292

§ 3 Bundesrat

durch mindestens zwei Drittel der damals (auf dem Gebiet der späteren Bundes­ republik Deutschland) bestehenden Länder (Art. 144 Abs. 1 GG).204 6. Mitwirkung an Einspruchsgesetzen 193

Bei den übrigen, nicht zustimmungsbedürftigen Gesetzen hat der Bundesrat ge­ mäß Art. 77 Abs. 3 S. 1 GG nur die Möglichkeit, Einspruch einzulegen. Sie heißen deshalb Einspruchsgesetze. Voraussetzung für die Einlegung eines Einspruchs ist allerdings, dass das Vermittlungsverfahren (s. o. Rn. 183 ff.) beendet ist (vgl. Art. 77 Abs. 3 S. 1 GG). Außerdem kann der Einspruch nur gegen das Gesetz als Ganzes und nicht etwa gegen einzelne Bestimmungen eingelegt werden.

194

Auch der Einspruch des Bundesrats bedarf eines ausdrücklichen Beschlusses (§ 30 Abs. 1 S. 1 GOBR). Aus Abstimmungsfrage und Abstimmung muss sich zweifelsfrei ergeben, dass der Bundesrat einen Einspruch einlegt (sog. „Form­ strenge“; s. o. Rn. 190). Bei der Abstimmung über Einspruchsbeschlüsse wirken Enthaltungen wie ein Nein zum Einspruch und damit wie ein Ja zum Gesetz. Legt der Bundesrat nicht innerhalb von zwei Wochen Einspruch gegen das Gesetz ein, so kommt das Gesetz zustande (Art. 78 Var. 3 GG).

195

Die ausdrücklich beschlossene Zustimmung des Bundesrats zu einem Einspruchsgesetz ist in der Regel jedoch als Verzicht auf einen Einspruch umdeutbar. Das Einspruchsgesetz wird hierdurch jedoch nicht etwa zu einem Zustimmungsgesetz, was bei etwaigen späteren Änderungen dieses Gesetzes relevant werden könnte.

196

In der umgekehrten Konstellation, in welcher der Bundesrat bei Vorliegen eines Ein­ spruchsgesetzes fälschlicherweise von einem Zustimmungsgesetz ausgeht, die Zustimmung jedoch ausdrücklich verweigert, kann diese Zustimmungsverweigerung nach herrschender Meinung grundsätzlich nicht in einen Einspruch umgedeutet werden.205 Dies liegt schon daran, dass ein Einspruch gemäß Art. 77 Abs. 3 GG erst nach Abschluss des Vermittlungs­ verfahrens zulässig ist. Demnach scheidet die Umdeutung einer Zustimmungsverweigerung in einen Einspruch jedenfalls dann aus, wenn kein Vermittlungsverfahren stattgefunden hat. Auch die Umdeutung einer Zustimmungsverweigerung in ein Verlangen auf Einberufung eines Vermittlungsausschusses wird wegen der unterschiedlichen Zielrichtungen dieser Beschlüsse

204 Die Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen hatten die Ministerprä­ sidenten zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung ermächtigt, „die von den Ländern zu genehmigen sein wird“. Entsprechend einem Beschluss der Londoner Sechsmächtekonferenz (Anfang Juni 1948) wurde das Inkrafttreten des Grundgesetzes an eine Ratifizierung in zwei Dritteln der Länder geknüpft, vgl. JöR N. F. 1 (1951), 1 (3). 205 Kersten, in Maunz / Dürig, GG (86. Ergänzungslieferung, Januar 2019), Art. 77, Rn. 97; a. A. (d. h. für die Zulässigkeit einer Umdeutung) hingegen Degenhart, Staatsrecht I. Staatsor­ ganisationsrecht, 34. Aufl. 2018, Rn. 234; für die Zulässigkeit der Umdeutung auch M. Nolte  / ​ Tams, Jura 2000, 158 (162 f.), allerdings für den Fall, dass zuvor ein Vermittlungsverfahren stattgefunden hat.

E. Aufgaben und Befugnisse

293

überwiegend abgelehnt.206 Insoweit trägt der Bundesrat also das Risiko der Falscheinschät­ zung der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes: Geht der Bundesrat fälschlich von einem Zustimmungsgesetz aus und verlangt (daher) nicht die Einberufung eines Vermittlungsaus­ schusses, so kann das Gesetz gem. Art. 78 Var. 2 GG zustande kommen, obgleich der Bun­ desrat seine ablehnende Haltung in der – unpassenden – Form der Zustimmungsverweigerung geäußert hatte. Dem Bundesrat steht für Zweifelsfälle nach überwiegender Auffassung daher zusätzlich zur Zustimmungsverweigerung die Möglichkeit eines Hilfsantrags in Form eines vorsorglichen Einspruchs zu Verfügung.207

Mit dem Einspruch kann der Bundesrat einen Gesetzentwurf, genauer ein nach Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG vom Bundestag beschlossenes Gesetz, nicht ohne Weite­ res zu Fall bringen. Vielmehr wirkt sich der Einspruch nur auf die notwendigen Mehrheiten im Bundestag für einen endgültigen Gesetzesbeschluss aus: Der mit Mitglieder- bzw. Stimmenmehrheit (sog. absoluter Mehrheit, d. h. der „Mehrheit der Stimmen des Bundesrates“; s. o. Rn. 150) vom Bundesrat beschlossene, soge­ nannte einfache Einspruch kann nach Art. 77 Abs. 4 S. 1 GG mit Mitgliedermehr­ heit vom Bundestag zurückgewiesen werden. In Abweichung von dem Grundsatz des Art. 42 Abs. 1 GG (Abstimmendenmehrheit) ist für einen solchen Beschluss also immerhin die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (sog. Kanzlermehr­ heit) erforderlich (Art. 77 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 121 GG). Hat der Bundesrat mit zwei Dritteln seiner Stimmen einen sogenannten qualifizierten Einspruch be­ schlossen, kann der Bundestag diesen Einspruch nur mit einer Mehrheit zurück­ weisen, die in doppelter Weise qualifiziert ist: Erforderlich sind zwei Drittel der abgegebenen Stimmen und zugleich mindestens die Mehrheit seiner gesetzlichen Mitglieder – gefordert wird also die Kombination einer qualifizierten Abstimmen­ denmehrheit und einer einfachen Mitgliedermehrheit (allgemein zu den Mehrheits­ begriffen § 1 Rn. 115 ff.).

197

Nur wenn im Bundestag diese Mehrheiten nicht zustandekommen, kann sich auch der bloße Einspruch des Bundesrats als ein endgültiges Veto auswirken und das Gesetzesvorhaben stoppen. Regelmäßig aber wirkt der Einspruch im Unter­ schied zur verweigerten Zustimmung nur als suspensives Veto.

198

7. Befugnisse im Gesetzgebungsnotstand Dem Bundesrat kommen wesentliche Befugnisse im – seit 1949 in der politi­ schen Realität noch nie erklärten – Gesetzgebungsnotstand gem. Art. 81 GG zu.208 In den labilen Zeiten einer Minderheitsregierung nach einer erfolglos verlaufenen Vertrauensfrage ohne darauf folgende Bundestagsauflösung nach Art. 68 GG (s. dazu § 7 Rn. 146) kann unter zusätzlichen Voraussetzungen der Gesetzgebungsnot­ 206

Kersten, in: Maunz / Dürig, GG (65. Ergänzungslieferung, April 2012), Art. 77, Rn. 97. Vgl. BVerfGE 37, 363 (396) – Bundesrat; ablehnend mit Verweis auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit M. Nolte / Tams, Jura 2000, 158 (163), m. w. N. 208 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 281 ff. 207

199

294

§ 3 Bundesrat

stand erklärt werden. Im Ergebnis können für einen Zeitraum von sechs Monaten durch das Zusammenwirken der Bundesregierung und des Bundesrats Gesetze erlassen werden. 200

Letztlich wirken hier die Bundesexekutive (Bundesregierung) und die Landesexekutiven (im Bundesrat verbundene Landesregierungen) zusammen, um die Schwäche des Bundesparla­ ments209 auszugleichen. Traumatisiert durch ‚Weimar‘, sollte nach Auffassung der Verfassungs­ geber unter dem Grundgesetz die Gesetzgebung auch bei destruktiven Parlamentsmehrheiten möglich bleiben. Der Bundesrat erhält hier eine legislative Reservefunktion.

201

Das in Art. 81 GG zum Gesetzgebungsnotstand vorgesehene Verfahren210 ist zweistufig ausgestaltet: Auf beiden Stufen ist die Mitwirkung des Bundesrats vor­ gesehen. In einem ersten Schritt erfolgt die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands. Gemäß Art. 81 Abs. 1 GG setzt eine von der Bundesregierung beantragte und vom Bundespräsidenten auszusprechende Erklärung des Gesetzgebungsnot­ stands die Zustimmung des Bundesrats voraus. Der Gesetzgebungsnotstand ist für eine konkrete Gesetzesvorlage zu erklären. Voraussetzung ist, dass die Gesetzes­ vorlage entweder nach einer erfolglosen Vertrauensfrage vom Bundestag abge­ lehnt wird, obwohl die Bundesregierung sie als dringlich bezeichnet hat (Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG), oder mit einer erfolglosen Vertrauensfrage verbunden war (Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG).

202

In einem zweiten Verfahrensschritt geht es um das Zustandekommen von Ge­ setzesvorlagen nach erfolgter Erklärung des Gesetzgebungsnotstands. In Abwei­ chung von Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG, nach dem ausschließlich der Bundestag Ge­ setze beschließen kann, hat der Bundesrat im Falle des Gesetzgebungsnotstands gemäß Art. 81 Abs. 2 GG ausnahmsweise die Möglichkeit, durch Zustimmung zu Gesetzesvorlagen der Bundesregierung Gesetze zu Stande kommen zu las­ sen. Diese Befugnis setzt aber nicht nur einen erklärten Gesetzgebungsnotstand (s. o. Rn. 201) voraus, sondern ist darüber hinaus in detaillierte Verfahrensvor­ schriften eingebettet. Voraussetzung ist die erneute Ablehnung der Gesetzes­ vorlage oder die Annahme in einer Form, welche die Bundesregierung als unan­ nehmbar bezeichnet hat (Art. 81 Abs. 2 S. 2 GG). Gleiches gilt, wenn die Vorlage nicht innerhalb von vier Wochen nach der erneuten Einbringung verabschiedet wird (Art. 81 Abs. 2 S. 2 GG); damit soll einer Obstruktion durch Verzögerung entgegengewirkt werden.

203

Schon die Einbindung von Entscheidungen aller anderen Verfassungsorgane (mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts) in das Verfahren beim Gesetzgebungsnotstand zeigt, dass das Gewicht der Befugnisse des Bundesrats zum Gesetzeserlass im Gesetzgebungsnotstand 209 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 81, Rn. 1, spricht von einer „Funktions­ störung des Bundestags“, umfassend zum Begriff der „Funktionsstörung in der Staatsorgani­ sation“: E. Klein, in: Isensee / K irchhof (Hrsg.), HbStR, Bd. XII, 3. Aufl. 2014, § 279, Rn. 1 ff., sowie speziell zum Gesetzgebungsnotstand: Rn. 33 ff.; vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 283. 210 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 281 ff.

E. Aufgaben und Befugnisse

295

nicht sehr hoch eingeschätzt werden darf. Gleichwohl ist festzuhalten, dass dem Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren des Gesetzgebungsnotstands das Letztentscheidungsrecht da­ rüber zukommt, ob ein Gesetz zustande kommen soll oder nicht – freilich vorbehaltlich der abschließenden Ausfertigung durch den Bundespräsidenten (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). Während die Befugnisse des Bundesrats im normalen Gesetzgebungsverfahren nicht über ein Letzt­ verhinderungsrecht hinausgehen, hat er im Gesetzgebungsnotstand für eine Dauer von sechs Monaten ausnahmsweise die Möglichkeit, aktiv Gesetzentwürfe der Bundesregierung – gegen den Bundestag – als Gesetze zu beschließen. Mit Blick auf diese Funktion im Gesetzgebungs­ notstand wird der Bundesrat auch als „Legalitätsreserve“ bezeichnet.211

8. Einfluss auf Rechtsverordnungen Rechtsverordnungen nach Art. 80 GG sind allgemeingültige, abstrakte und ge­ nerelle Regelungen, mithin Gesetze im (nur) materiellen Sinn,212 die – anders als Gesetze im formellen Sinn – nicht vom Bundestag beschlossen, sondern von der Bundesregierung, einem Bundesminister oder von den Landesregierungen er­ lassen werden. Sie stellen exekutive oder gubernative Gesetzgebung dar. Weil Rechtsverordnungen aber wie die meisten Parlamentsgesetze materiell-rechtliche Regelungen für das Verhältnis Staat – Bürger normieren und insofern mit diesen funktional vergleichbar sind, kann die Einbindung des Bundesrats beim Erlass von Rechtsverordnungen als „Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes“ (im materiellen Sinn) verstanden werden (vgl. Art. 50 GG).

204

Letztlich kann offen bleiben, ob der allgemeinen Aufgabenzuweisung in Art. 50 GG ein formaler oder ein materieller Gesetzesbegriff zugrunde liegt, denn die konkreten Befugnisse des Bundesrats ergeben sich aus anderen grundgesetzlichen Bestimmungen.

205

Die Mitwirkung des Bundesrats beim Erlass von Rechtsverordnungen der Bundesexekutive wird ausdrücklich durch Art. 80 Abs. 2 und Abs. 3 GG geregelt. Demnach sind  – vorbehaltlich einer anderweitigen Entscheidung des formellen Gesetzgebers  – (nur) bestimmte Arten von Rechtsverordnungen des Bundes zustimmungsbedürftig (s. u. Rn. 207 ff.). Ein Einspruchsrecht des Bundesrats für Rechtsverordnungen ist (anders als bei formellen Bundesgesetzen) vom Grund­ gesetz213 nicht vorgesehen. Nach Art. 80 Abs. 3 GG hat der Bundesrat zudem ein Initiativrecht für zustimmungsbedürftige Rechtsverordnungen des Bundes (s. u. Rn. 217 ff.).

206

Art. 80 Abs. 2 GG bestimmt, dass verschiedene, dort im Einzelnen aufgeführte Arten von Rechts­verordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers

207

211

Vgl. Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 4, 6. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 23 ff., 301. 213 Denkbar ist, dass der formell-gesetzlich handelnde Ermächtigungsgesetzgeber ein Ein­ spruchsrecht des Bundesrats zu Bundesrechtsverordnungen vorsieht. Dies wäre wohl durch den Vorbehalt des Art. 80 Abs. 2 GG („vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung“) gedeckt. 212

296

§ 3 Bundesrat

der Zustimmung des Bundesrats bedürfen.214 Dabei sind vier Fälle (zum Teil mit Unterfällen) zu unterscheiden: 208

Es handelt sich – erstens – um Rechtsverordnungen über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung des Postwesens und der Telekommunikation sowie über Eisenbahnentgelte, Eisenbahnbau und -betrieb.

209

Wichtiger ist heute – zweitens – die Zustimmungsbedürftigkeit von Rechtsverordnungen, die aufgrund von Zustimmungsgesetzen (hierzu oben Rn. 186 ff.) ergehen. Die die Rechts­ setzungsermächtigung nutzende Norm teilt insoweit das juristische Schicksal der Ermächti­ gungsnorm.

210

Zustimmungsbedürftig ist eine Rechtsverordnung weiter – drittens – dann, wenn sie auf­ grund von Bundesgesetzen ergeht, die von Ländern im Rahmen der Aufsichts- bzw. Auftragsverwaltung nach Art. 84, 85 GG ausgeführt werden. Die Zustimmungsbedürftigkeit der Rechtsverordnung ergibt sich hier u. a. aus vergleichbaren Schutzerwägungen zu Gunsten der Länder wie im Falle der Zustimmungsbedürftigkeit der Verwaltungsvorschriften der Bundes­ regierung nach Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG (s. u. Rn. 223).

211

Schließlich kann – viertens – aufgrund des Vorbehalts in Art. 80 Abs. 2 GG („vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelungen“) die Zustimmungsbedürftigkeit vom Ermächtigungsgesetzgeber vorgesehen werden.

212

Der Vorbehalt „anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung“ in Art. 80 Abs. 2 GG erlaubt es dem Bundesgesetzgeber – umgekehrt – auch, abweichend von den in Art. 80 Abs. 2 GG genannten Zustimmungsbedürftigkeitstatbeständen die Zustimmungsbedürftigkeit von Verordnungen im ermächtigenden formellen Gesetz auszuschließen.215 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein solches Gesetz (allein deshalb) seinerseits zustimmungsbedürftig ist216, wird im Schrifttum teilweise abgelehnt.217

213

Sämtliche Zustimmungsbedürftigkeitstatbestände des Art. 80 Abs. 2 GG gelten ausschließlich für Rechtsverordnungen der Bundesexekutive (Bundesregierung oder Bundesminister), nicht aber für Verordnungen der Landesregierungen.218

214

Verordnungen der Landesregierungen sind nach zutreffender Auffassung auch dann Landesrecht, und nicht etwa Bundesrecht, falls ihre formell-gesetzliche Ermächtigungs­ norm bundesrechtlicher Natur ist. Daher wäre eine Zustimmungsbefugnis des Bundesorgans Bundesrat zu Verordnungen der Landesregierungen aus bundesstaatlicher Sicht systemwidrig.

214

Näheres bei Antoni, AöR 114 (1989), 220 ff.; Scholz, in: Parlamentarische Demokratie in der Bewährung. Ausgewählte Abhandlungen, 2012, S. 89 ff. 215 BVerfGE 28, 66  – Postgebühren; E 106, 1 (25)  – Oberfinanzdirektionen; E 136, 69 (102 f.) – KFZ-Überlänge-Verordnung; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 80, Rn. 27. 216 BVerfGE 28, 66 – Postgebühren; a. A. zuvor jedoch BVerwGE 28, 36 – Zitiergebot. 217 Antoni, AöR 114 (1989), 220 (234 ff.), unter Verweis auf BVerwGE 28, 36; Remmert, in: Maunz / Dürig, GG (86. Ergänzungslieferung, Januar 2019), Art. 80, Rn. 177; Pieroth, in: ­Jarass  / ​ ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 80, Rn. 28. 218 Ausführlich m. w. N. Antoni, AöR 114 (1989), 220 (227).

E. Aufgaben und Befugnisse

297

Der Wortlaut von Art. 80 Abs. 2 GG ist insoweit sprachlich missglückt, legt er doch nahe, die akteursbezogene Einschränkung der Zustimmungspflichtigkeit auf Verordnungen der Bundesexekutive („Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers“) gelte nur für Art. 80 Abs. 2 Var. 1 GG, nicht aber für die nachfolgend in Art. 80 Abs. 2 GG aufgeführten Fälle (welche durch die hinsichtlich des Verordnungsgebers indifferente For­ mulierung „Rechtsverordnungen auf Grund von Bundesgesetzen“ eingeleitet werden). Richti­ gerweise gilt Art. 80 Abs. 2 GG insgesamt nur für Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers.

215

Das auf den ersten Blick eher formale Zustimmungserfordernis bedeutet wie bei den zustimmungsbedürftigen formellen Bundesgesetzen auch, dass der Bun­ desrat in diesen Fällen inhaltlich auf die Rechts­verordnungen Einfluss nehmen kann. Dabei liegt die politische Gestaltungsmacht weniger in der Wahrnehmung als vielmehr in der Androhung eines Vetos. Eine Verweigerung der Zustimmung ist praktisch selten (zuletzt deutlich unter 1 % der zugeleiteten Entwürfe).219

216

Ferner hat der Bundesrat – seit einer Verfassungsänderung im Jahre 1994220 – gemäß Art. 80 Abs. 3  GG auch ein Initiativrecht für zustimmungsbedürftige Rechtsverordnungen. Mit diesem  – bisher selten gebrauchten (s. u. Rn. 219)  – Initiativrecht ist der Bundesrat zur Einbringung von Regelungsvorschlägen nicht allein auf Gesetzesinitiativen nach Art. 76 GG angewiesen.

217

Wenngleich wegen der Beschränkung auf zustimmungsbedürftige Rechtsverordnungen letztlich kein materieller Kompetenzgewinn des Bundesrats mit dem Initiativrecht verbunden ist, erwachsen dem Bundesrat doch zumindest verfahrensmäßige Vorteile.221 Er ist nicht auf ein Tätigwerden der Bundesregierung als Verordnungsgeberin angewiesen, sondern kann diese umgekehrt zu einem Tätigwerden animieren und dabei zugleich frühzeitig auf den Inhalt der Rechtsverordnung Einfluss nehmen.

218

Anwendungsfälle existieren, sind aber selten.222 Die Zahl der vom Bundesrat nach Art. 80 Abs. 3 GG initiierten Verordnungsvorschläge liegt regelmäßig unter oder um zehn pro Le­ gislaturperiode.223 Anwendungsfälle gibt es vor allem in Sachbereichen mit erheblichem

219

219 In der 17. Legislaturperiode (2009–2013) wurde lediglich einem von 454 zugeleiteten Rechtsverordnungsentwürfen vom Bundesrat die Zustimmung versagt; vgl. Statistik der parlamentarischen Arbeit des Bundesrates v. 19. Oktober 2013; abrufbar unter http://www. bundesrat.de/SharedDocs/downloads/DE/statistik/17wp.pdf?__blob=publicationFile&v=6; letzter Abruf am 22.07.2020. In der 18. Legislaturperiode (2013–2017) wurde lediglich einem von 400 zugeleiteten Rechtsverordnungsentwürfen vom Bundesrat die Zustimmung versagt; vgl. https://www.bundesrat.de / SharedDocs / downloads / DE / statistik/18wp.pdf?__blob=publi­ cationFile&v=40; letzter Abruf am 22.07.2020. 220 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27.10.1994, BGBl. I S. 3146; hierzu Hofmann, NVwZ 1995, 134 ff. 221 Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 80, Rn. 64; vgl. auch Hofmann, NVwZ 1995, 134 (137). 222 So auch die Einschätzung von Mann, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 80, Rn. 49; Remmert, in: Maunz / Dürig, GG (86. Ergänzungslieferung, Januar 2019), Art. 80, Rn. 186. 223 In der 17. Legislaturperiode (2009–2013) waren es lediglich sechs, demgegenüber betrug im gleichen Zeitraum die Zahl der dem Bundesrat zur Entscheidung über die Zustimmung nach Art. 80 Abs. 2 GG zugeleiteten Rechtsverordnungen 454; vgl. Statistik der parlamenta­

298

§ 3 Bundesrat

Verwaltungsaufwand der Länder, etwa im Gewässerschutzrecht224 oder im (Nutz-)Tierschutz­ recht.225

220

Die Bundesregierung muss sich mit den Initiativen des Bundesrats befassen, allerdings muss sie diese nicht beschließen.

III. Mitwirkung bei der „Verwaltung des Bundes“ 221

Neben der Gesetzgebung wirkt der Bundesrat auch bei den Verwaltungsaktivi­ täten des Bundes mit. Er ist insbesondere in den Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften und sonstiger Verwaltungsregelungen eingebunden.

222

Im Einzelnen sind dabei  – in Konkretisierung der insoweit unspezifischen allgemeinen Aufgabenbeschreibung in Art. 50 GG (Mitwirkung bei der „Verwaltung des Bundes“) – die Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats im Bereich des Landesvollzugs von Bundesgesetzen (s. u. Rn. 223 ff.) und bei der bundeseigenen Verwaltung, d. h. beim Bundesvollzug von Bundesrecht (s. u. Rn. 231 ff.) zu unterscheiden. Eine Mitwirkung des Bundesrats als Bundes­ organ am Landesvollzug von Landesrecht scheidet demgegenüber naturgemäß aus. Auch beim vereinzelt, etwa im Landespresserecht (Auskunftsansprüche gegenüber Bundesbehörden), vorkommenden Bundesvollzug von Landesrecht kraft Natur der Sache226 ist eine Mitwirkung des Bundesrats nicht vorgesehen.

1. Mitwirkung beim Landesvollzug von Bundesrecht a) Zustimmung zu allgemeinen Verwaltungsvorschriften etc. 223

Art. 84 Abs. 2 GG – für die Bundesaufsichtsverwaltung227 – und Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG – für die Bundesauftragsverwaltung228 – sowie Art. 108 Abs. 7 GG – für die Finanzverwaltung durch Landesbehörden und Kommunen229  – ermächtigen die Bundesregierung zum Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften, um eine rischen Arbeit des Bundesrates v. 19. Oktober 2013; abrufbar unter http://www.bundesrat. de/SharedDocs/downloads/DE/statistik/17wp.pdf?__blob=publicationFile&v=6; letzter Ab­ ruf am 22.07.2020. In der 18. Legislaturperiode (2013–2017) lag die Zahl bei zehn nach Art. 80 Abs. 3 GG initiierten Verordnungsvorschlägen; vgl. https://www.bundesrat.de / Sha­ redDocs / downloads / DE / statistik/18wp.pdf?__blob=publicationFile&v=40; letzter Abruf am 22.07.2020. 224 Vgl. etwa Entwurf einer Verordnung über Anlagen zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen (AwSV), BR-Drs. 144/16(B), auf Initiative der Länder Bayern und Rheinland-Pfalz hin. 225 Vgl. etwa Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsver­ ordnung, BR-Drs. 403/16(B), auf Initiative des Lands Niedersachsen hin. 226 Hierzu allgemein Kloepfer, in: FS Battis, 2014, S. 597 ff. 227 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 47 ff. 228 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 64 ff. 229 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 153 ff.

E. Aufgaben und Befugnisse

299

bundesweit einheitliche Ausführung der Bundesgesetze zu gewährleisten.230 Weil mit diesen verfassungsrechtlich normierten Ermächtigungen die Regelzuständig­ keit der Länder für Verwaltungsvorschriften durchbrochen wird, bedürfen solche allgemeinen Verwaltungsvorschriften der Zustimmung des Bundesrats. Entsprechendes gilt für die grundgesetzliche Durchbrechung der Zuständigkeit der Länder für die Behördeneinrichtung bei der Bundesauftragsverwaltung nach Art. 85 Abs. 1 S. 1 GG und für die bundesgesetzliche Bestimmung abweichungs­ fester Regeln des Verwaltungsverfahrens bei der Bundesaufsichtsverwaltung nach Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG.231 Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass bundesgesetzliche Regelungen des Verwaltungsverfahrens – an­ ders als solche der Behördeneinrichtung – in der Bundesauftragsverwaltung nach Art. 85 GG nicht der Zustimmung des Bundesrats bedürfen.232

224

Der Grundgedanke der Absicherung von Länderinteressen durch die Beteiligung des Bundesrats im Falle der Einschränkung ihrer Verwaltungshoheit gilt schließ­ lich auch für die Einzelweisungen, zu denen die Bundesregierung im Bereich der Aufsichtsverwaltung gemäß Art. 84 Abs. 5 S. 1 GG mit Zustimmung des Bundes­ rats gesetzlich ermächtigt werden kann.233 In der Abhängigkeit der Gesetze, welche zu solchen Einzelweisungen ermächtigen, von der Zustimmung des Bundesrats kommt dessen Funktion als Sachwalter der Interessen (der Gesamtheit) der Länder besonders deutlich zum Ausdruck.

225

Demgegenüber hat der Bundesrat bei der Bundesauftragsverwaltung keine Mitwirkungs­ rechte, soweit es um Weisungen der Bundesregierung an Landesbehörden geht (vgl. Art. 85 Abs. 3 GG234).

226

b) Befugnisse in der Bundesaufsicht Im Rahmen ihrer Rechtsaufsicht bei der Bundesaufsichtsverwaltung nach Art. 84 Abs. 3 u. 4 GG235 kann die Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 3 S. 2 GG grundsätzlich Beauftragte zu den obersten Landesbehörden entsenden. Darüber hinaus kann sie auch zu den nachgeordneten Behörden Beauftragte der Bundes­ regierung entsenden, ist hierfür aber auf die Zustimmung entweder der obersten Landesbehörde oder, sofern diese ihre Zustimmung nicht erteilt, des Bundesrats angewiesen. 230

BVerfGE 11, 6 (18) – Dampfkessel. Zur Neufassung von Art. 84 Abs. 1 S. 5, 6 GG durch die Föderalismusreform I 2006 Risse, in: FS Schneider 2008, 271 (273 ff.); vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 50. 232 BVerfGE 126, 77 – Flugsicherungsgesetz; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 77, m. w. N., auch zu Gegenstimmen. 233 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 61. 234 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 82 ff. 235 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 57 ff. 231

227

300

§ 3 Bundesrat

228

Demgegenüber hat der Bundesrat bei der Bundesauftragsverwaltung keine Mitwirkungs­ rechte, soweit es um die Entsendung von Beauftragten der Bundesregierung an Landesbehör­ den geht (vgl. Art. 85 Abs. 4 S. 2 GG).

229

Darüber hinaus ist es der Bundesrat, der auf Antrag der Bundesregierung (als Kollegium) oder des betroffenen Landes gemäß Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG im sog. Mängelrügeverfahren festzustellen hat, ob ein Land bei der Ausführung von Bundesgesetzen Recht verletzt hat.236 Gegen den Beschluss des Bundesrats kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden (Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG); es ist dann ein Bund-Länder-Streitverfahren statthaft. Das Mängelrügeverfahren vor dem Bundesrat fungiert insoweit – also nur im Anwendungsbereich des Art. 84 Abs. 4 GG – als Vorverfahren des bundesverfassungsgerichtlichen Bund-LänderStreitverfahrens, zudem ist die Anfechtungsfrist des § 70 BVerfGG (ein Monat ab Beschlussfassung des Bundesrats) zu beachten (s. dazu § 8 Rn. 518, 524).

230

Bislang wurde in der Praxis – soweit ersichtlich – noch nie ein Mängelrügeverfahren vor dem Bundesrat durchgeführt.237 Diesem voraussetzungsvollen und schwerfälligen Verfahren werden vielmehr informale Mittel wie Konsultationen und Stellungnahmen vorgezogen. Da auch das Drohpotential einer bisher nie benutzten Waffe gegen Null geht, handelt es sich bei Art. 84 Abs. 4 GG um ‚totes Holz‘238 im Grundgesetz, das im Rahmen einer Verfassungs­ bereinigung aus dem Grundgesetz entfernt werden sollte.

2. Mitwirkung bei bundeseigener Verwaltung 231

Weiterhin ist gemäß Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG die Zustimmung des Bundesrats er­ forderlich, wenn der Bund auf Gebieten, in denen ihm die Gesetzgebung zusteht, zur Bewältigung neuer Aufgaben und bei dringendem Bedarf bundeseigene Mittel- und Unterbehörden errichten will.239 Neben der Zustimmung des Bundesrats bedarf ein solches Gesetz außerdem – abweichend von Art. 42 Abs. 2 GG – der Mitgliedermehrheit (absoluten Mehrheit) im Bundestag.

232

Die Vorschrift des Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG stellt eine schwerwiegende Ausnahme zur Regel des Art. 83 GG, der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder für den Vollzug der Bundes­ gesetze, dar. Insoweit soll das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrats dazu beitragen, Durchbrechungen des föderalistisch bedeutsamen Grundsatzes des Landesvollzugs von Bundesgesetzen zu erschweren. Die besondere Schwere der Einschränkung der Verwaltungs­ hoheit der Länder besteht im Fall des Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG darin, dass durch die Einführung von „bundeseigenen Mittel- und Unterbehörden“ eine Regionalisierung der bundeseigenen Verwaltung erfolgen würde, welche in besondere Konkurrenz zur Landesverwaltung treten würde. 236

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 59 f. So auch die Bemerkung in BSGE 105, 100: „Seit seinem Bestehen wurde [das Mängel­ rügeverfahren] in der Praxis noch nie durchgeführt; derartige Streitigkeiten wurden und wer­ den bevorzugt auf andere Art und Weise beigelegt“. 238 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 5, Rn. 11 ff. 239 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 114. 237

E. Aufgaben und Befugnisse

301

In der politischen Praxis wurden – soweit ersichtlich – noch keine neuen bundeseigenen Mittel- und Unterbehörden geschaffen.240 Allerdings kommen in der Staatspraxis sog. Außenstellen von Bundesoberbehörden nach Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG vor, beispielsweise Außen­ stellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Für dieses institutionelle Arrangement gilt das Bundesratszustimmungserfordernis aus Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG – nach wohl herrschender Auffassung – nicht, da es sich bei den Außenstellen nicht um Mittel- oder Unterbehörden, sondern um bloße „unselbständige Teile [eines] Bundesamtes“ handele.241 Zwingend erscheint dies nicht.

233

IV. Spezielle Bereiche der Mitwirkung des Bundesrats Neben der Mitwirkung des Bundesrats an der „Verwaltung des Bundes“ im engeren Sinne (d. h. an der ‚vollziehenden Gewalt‘; s. o. Rn. 221 ff.) kommen ihm verschiedene Mitwirkungsbefugnisse im Bereich der auswärtigen Angelegenhei­ ten (s. u. Rn. 235 ff.), im Verteidigungsfall (s. u. Rn. 243 ff.), in Notsituationen (s. u. Rn. 249 ff.) sowie bei der Rechnungskontrolle auf Bundesebene (s. u. Rn. 255 ff.) zu. Diese speziellen Bereiche der Mitwirkung des Bundesrats lassen sich nicht ein­ deutig den drei in Art. 50 GG aufgezählten Dimensionen der Arbeit des Bundesrats (Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes, bei der Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union) zuordnen, ergeben sich jedoch aus speziellen grundgesetzlichen Aufgaben- und Zuständigkeitszuweisungen.

234

1. Mitwirkung bei auswärtigen Angelegenheiten Abgesehen von seinen speziellen Befugnissen in Angelegenheiten der Europäischen Union (vgl. Art. 50 Var. 3 GG), die hier gesondert dargestellt werden (s. u. Rn. 275 ff.), ist der Bundesrat zum Teil auch bei sonstigen auswärtigen Angelegen­ heiten des Bundes beteiligt.

235

Dies gilt in erster Linie für völkerrechtliche Verträge über die politischen Beziehungen des Bundes bzw. solche, die sich auf die Bundesgesetzgebung be­ ziehen.242 Sie unterliegen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG einem Gesetzesvorbehalt, wobei sich die hierbei ergebenden konkreten Befugnisse des Bundesrats nach den allgemeinen Regeln der Bundesratsbeteiligung an der „Gesetzgebung des Bundes“ (s. o. Rn. 172 ff.) bestimmen.

236

Betreffen völkerrechtliche Verträge also Materien, für deren gesetzliche Rege­ lung als innerstaatliches Recht – hypothetisch betrachtet – die Zustimmung des Bundesrats erforderlich wäre, so gilt dies auch für die entsprechenden Vertrags­

237

240

Vgl. Ibler, in: Maunz / Dürig, GG (86. Ergänzungslieferung, Januar 2019), Art. 87, Rn. 278, m. w. N. 241 Vgl. VG Frankfurt a. M., NVwZ 1993, 810. 242 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 35, Rn. 44 ff.

302

§ 3 Bundesrat

gesetze (‚Zustimmungsgesetze‘243) zu diesen völkerrechtlichen Verträgen. Man kann insoweit von einer Parallele zwischen innen- und außenpolitischen Kompetenzen des Bundesrats244 sprechen. 238

Ein Beispiel für ein Vertragsgesetz, welches der Zustimmung des Bundesrats bedurfte (und diese auch tatsächlich erhielt), ist das Gesetz zur Umsetzung der sog. Aarhus-Konvention vom 25. Juni 1998 über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entschei­ dungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten.245 Im Vertragsgesetz geht es u. a. auch um bundesstaatsrechtlich relevante Regelungen des Verwaltungsverfahrens (in Umweltschutzangelegenheiten), welche auch das Verwaltungsverfahren von Landesbehörden betreffen, sodass bei rein innerstaatlicher Regelung der Zustimmungstatbestand des Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG (bis 2006: Art. 84 Abs. 1 Hs. 2 GG a. F.) betroffen wäre.

239

Demgegenüber hat der Bundesrat bei den die „politischen Beziehungen des Bundes“ be­ treffenden völkerrechtlichen Verträgen (vgl. Art. 59 Abs. 2 S. 1 Fall 1 GG246) regelmäßig nur ein Einspruchsrecht, da hier zumeist kein Zustimmungsbedürftigkeitstatbestand (wie z. B. Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG) einschlägig sein wird.247 Bei den sog. Ostverträgen (Moskauer Vertrag und Warschauer Vertrag der sozialliberalen Regierung Brandt / Scheel aus den frühen 1970er Jahren) war allerdings zunächst umstritten, ob der Bundesrat den Vertragsgesetzen zustimmen müsse. Dies wurde zum Teil mit dem Argument bejaht, es handele sich um eine Verfassungs­ änderung, zum Teil wurde auf einen zustimmungsbedürftigkeitsbegründenden Eingriff in die „Hoheit der Länder“ verwiesen.248 Letztlich stellte der Bundesrat jedoch keinen Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses, nahm allerdings eine begleitende Entschließung zur politischen Kommentierung der Verträge einstimmig an.249

240

Auch für Verwaltungsabkommen i. S. d. Art. 59 Abs. 2 S. 2 GG, also solche Abkommen, die für ihre innerstaatliche Verbindlichkeit keines formellen Geset­ zes bedürfen,250 gilt der Gleichlauf innen- und außenpolitischer Kompetenzen des Bundesrats. Sofern solche Abkommen durch Rechtsverordnung umgesetzt wer­ den sollen, bestimmt sich die Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 80 Abs. 2 GG (hierzu oben Rn. 206 ff.). Darüber hinaus kann die Zustimmung des Bundesrats dadurch erforderlich werden, dass für den Vollzug durch die Länder Verwaltungs­ vorschriften des Bundes zu erlassen sind (Art. 84 Abs. 2 GG, Art. 85 Abs. 2 GG).

241

Trotz dieser strukturellen Parallele zwischen den Mitwirkungsbefugnissen des Bundesrats in auswärtigen Angelegenheiten und denen in rein innerstaatlichen Angelegenheiten werden die Gestaltungsspielräume des Bundesrats in den aus­ 243

Im vorliegenden Zusammenhang zeigt sich im Übrigen die Mehrdeutigkeit des rechtswis­ senschaftlichen Terminus ‚Zustimmungsgesetz‘. Einerseits ist dieser gebräuchlich für Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Andererseits wird er teilweise verwendet zur Bezeichnung der Gesetze im Sinne des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG. 244 Zur teilweise ähnlichen Lage im Bereich der europäischen Integration s. u. Rn. 290. 245 G. v. 09.12.2006, BGBl. II 151. 246 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 35, Rn. 45. 247 Vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 15, m. w. N. 248 Referierend zu diesen Argumenten: Der Spiegel, Heft 30/1971 v. 19.07.1971, S. 22. 249 Plenarprotokoll der 381. Sitzung des Bundesrats v. 19.05.1972, S. 566. 250 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 35, Rn. 74 ff.

E. Aufgaben und Befugnisse

303

wärtigen Angelegenheiten regelmäßig deutlich geringer ausfallen als im inner­ staatlichen Gesetzgebungsverfahren. Als potentieller Gegenspieler tritt hier nicht nur der Bundestag auf, vielmehr kann die Mit­ wirkung des Bundesrats auch die außenpolitische Gestaltungsfreiheit der Bundesregierung beeinträchtigen, die für die Aushandlung der völkerrechtlichen Verträge zuständig ist (s. dazu § 5 Rn. 113; § 7 Rn. 334 ff.), faktisch die Handlungsmöglichkeiten des Bundesrats. Häufig wird sich der Bundesrat also dem Druck ausgesetzt sehen, entweder einen völkerrechtlichen Ver­ trag ohne inhaltliche Änderung zu billigen oder aber sich politisch für die Blockierung von völkerrechtlichen (Vor-)Verpflichtungen verantworten zu müssen.

242

2. Mitwirkung im Verteidigungsfall Die Feststellung des Verteidigungsfalls,251 an die weitreichende Modifizie­ rungen der gesamten Staatsorganisation geknüpft sind, trifft gemäß Art. 115a Abs. 1 GG der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats. Wie bei zustimmungs­ bedürftigen Bundesgesetzen (s. o. Rn. 186 ff.) und zustimmungsbedürftigen Rechts­ verordnungen (s. o. Rn. 206 ff.) wirkt sich das Zustimmungserfordernis auch bei der Feststellung des Verteidigungsfalls als Vetorecht des Bundesrats aus.

243

Allerdings ist dieses Vetorecht prozedural nicht so weitreichend ausgestattet wie etwa bei Verfassungsänderungen, für die Art. 79 Abs. 2 GG eine Zweidrittelmehr­ heit im Bundesrat (und im Bundestag) verlangt (s. o. Rn. 192). Die Zustimmung des Bundesrats zur Feststellung des Verteidigungsfalls kann der Bundesrat ent­ sprechend dem Grundsatz des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen fassen, während im Bundestag insoweit gemäß Art. 115a Abs. 1 S. 2 GG eine doppelt qualifizierte Mehrheit notwendig ist.

244

Ist der Verteidigungsfall mit Zustimmung des Bundesrats einmal festgestellt, hat der Bund gem. Art. 115c Abs. 1 S. 1 GG auch auf dem Sachgebiet der ausschließlichen Landeskompetenzen252 das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung.253 Die so verabschiedeten Bundesgesetze bedürfen allerdings der Zustimmung des Bundesrats (Art. 115c Abs. 1 S. 2 GG). Die Preisgabe der ausschließlichen Landes­ kompetenzen im Verteidigungsfall soll so – wenigstens teilweise – durch Mitwir­ kungsrechte des Bundesrats kompensiert werden.

245

Grundsätzlich ist allerdings festzuhalten, dass im Verteidigungsfall nicht nur die Kompetenzen der Länder, sondern auch die Rechte des Bundesrats beschnitten werden oder zumindest doch beschnitten werden können.

246

Dies zeigt sich zum einen am modifizierten Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 115d GG, nach welchem u. a. Entwürfe nicht mehr zunächst dem Bundesrat, sondern vielmehr gleich­ zeitig auch dem Bundestag zuzuleiten sind.

247

251

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 29, Rn. 49 f. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 158 ff. 253 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 29, Rn. 55. 252

304 248

§ 3 Bundesrat

Zum anderen und vor allem wird dies an der Regelung des Art. 115e Abs. 1 GG deutlich, nach welcher der Gemeinsame Ausschuss (Art. 53a GG  – s. dazu § 4 Rn. 1 ff.) unter be­ stimmten Voraussetzungen in die Stellung des Bundestages und des Bundesrats eintritt und deren Rechte einheitlich wahrnimmt (s. § 4 Rn. 37 ff.). Teilweise entschärft wird diese Beein­ trächtigung der Position des Bundesrats durch den Umstand, dass immerhin – aber eben auch nur – ein Drittel der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses dem Bundesrat entstammt (vgl. Art. 53a Abs. 1 S. 1 GG; s. auch § 4 Rn. 40).

3. Mitwirkung in Notsituationen 249

Weiterhin nimmt der Bundesrat – in bisher noch nicht praktisch relevant gewor­ denen Fällen – die Funktion einer Beobachter- und Kontrollinstanz wahr. Das gilt insbesondere in den verschiedenen Arten nationaler Notstände.254

250

Kann die Bundesregierung nach Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG im Falle einer Naturkatastrophe oder eines landesübergreifenden Unglücksfalls255 zumindest mittelbar über die Polizeikräfte der Länder verfügen und darüber hinaus auch Einheiten der Bundespolizei und der Streitkräfte einsetzen, so kann der Bundesrat nach Art. 35 Abs. 3 S. 2 GG jederzeit die Aufhebung solcher Maßnahmen verlangen.

251

Gleiches gilt gemäß Art. 91 Abs. 2 S. 2 GG für den Fall des Staatsnotstandes256, wenn die Bundesregierung zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung eines Landes die Polizei die­ ses Landes sowie die anderer Länder ihren Weisungen unterstellt. Auch hier hat der Bundesrat das Recht, jederzeit die Aufhebung dieser Anordnung der Bun­ desregierung zu verlangen (Art. 91 Abs. 2 S. 2 GG). Entsprechendes gilt für die Weisungsbefugnis der Bundesregierung gegenüber Landesregierungen in Fällen länderübergreifender Gefahren (Art. 91 Abs. 2 S. 3 GG).

252

Ist es im Falle des Art. 91 Abs. 2 GG nach Art. 87a Abs. 4 S. 1 GG zum Einsatz von Streitkräften zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes gekom­ men, kann der Bundesrat (ebenso wie der Bundestag) die Einstellung des Streitkräfteeinsatzes verlangen (Art. 87a Abs. 4 S. 2 GG).

253

An dieser Befugnis, die Aufhebung von Maßnahmen zu verlangen, zeigt sich, dass der Bundesrat nicht immer der Vertreter aller Bundesländer ist, sondern durch­ aus als Interessenvertreter einzelner Bundesländer oder auch nur eines einzigen Bundeslandes fungieren kann.

254

Dies gilt auch für seine Einbindung in die Entscheidung über Maßnahmen des Bundeszwangs257 (s. o. Rn. 39). Wenn ein Land die ihm obliegenden Bundespflich­ 254

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 5 ff. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 17 ff. 256 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 37 ff. 257 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 28, Rn. 62 ff. 255

E. Aufgaben und Befugnisse

305

ten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung gemäß Art. 37 Abs. 1 GG nur mit Zu­ stimmung des Bundesrats Maßnahmen treffen, um das entsprechende Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. 4. Mitwirkung bei der Rechnungskontrolle Der Bundesrat spielt eine wichtige Rolle bei der Rechnungsprüfung und Finanzkont­rolle des Bundes.258 Nach Art. 114 Abs. 1 GG legt der Bundesfinanzminister (dem Bundestag und) dem Bundesrat Rechnung. Nach Art. 114 Abs. 2 S. 2 GG hat der Bundesrechnungshof unmittelbar (der Bundesregierung, dem Bundestag und) dem Bundesrat jährlich über seine Rechnungstätigkeit zu berichten. Der Bundesrat entscheidet dann unabhängig vom Bundestag über die Entlas­ tung der Regierung.

255

V. Sonstige Rechte und Befugnisse 1. Informationsanspruch gegenüber der Bundesregierung Die Bundesregierung ist nach Art. 53 S. 3 GG verpflichtet, den Bundesrat „über die Führung der Geschäfte auf dem Laufenden zu halten“. Auch hier zeigt sich letztlich wieder das Zusammenwirken von Bundesexekutive und Landesexekuti­ ven (vermittelt durch den Bundesrat; zur Exekutivlastigkeit des Bundesratsmodells Rn. 14 f., 21, 33, 128, 316, 325). Der Verpflichtung nach Art. 53 S. 3 GG entspricht ein reziproker Informationsanspruch des Bundesrats, der aber nicht über das bloße Informiertwerden hinaus geht und nicht etwa auch eine Verpflichtung der Bun­ desregierung zu Konsultationen oder Abstimmungen mit dem Bundesrat umfasst. Dementsprechend genügt die Bundesregierung ihrer Informationspflicht bereits durch Benachrichtigungen, Mitteilungen, Auskünfte oder Hinweise.259 Sie kann ihrer Verpflichtung angesichts des insofern offenen Wortlauts des Art. 53 S. 3 GG sowohl in schriftlicher wie auch in mündlicher Form nachkommen.

256

Der Informationsanspruch des Bundesrats gegenüber der Bundesregierung aus Art. 53 S. 3 GG ist – wie beispielsweise auch das Rederecht der Bundesratsmitglieder im Bundestag gem. Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG (s. sogleich Rn. 260 ff.) – eine Konkretisierung und exemplarische Formalisierung des umfassenden Gedankens der Verfassungsorgantreue (s. § 1 Rn. 162).

257

Der Informationsanspruch bezieht sich auf die „Führung der Geschäfte“. Dazu zählen Vorhaben auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung ebenso wie die Entwicklung der allgemeinen politische Lage, der Außenpolitik und der Ver­

258

258

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 275 ff.; ders., Finanzverfassungs­ recht, 2014, § 15, Rn. 6. 259 S.  Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53, Rn. 13.

306

§ 3 Bundesrat

teidigungspolitik, kurz alles, „was die staatsleitende Tätigkeit der Bundesregierung einschließlich der Ministerialverwaltung ausmacht“.260 259

Im Schrifttum wird teilweise ein „Leerlaufen“ der formalen Informationspflicht der Bun­ desregierung gegenüber dem Bundesrat beobachtet. Praktisch bedeutsamer seien vielmehr die informale Abstimmung von Bundes- und Landesexekutiven in (oder im Umfeld von) Fachministerkonferenzen sowie Ministerpräsidentenkonferenzen (s. auch oben Rn. 28).261

2. Anwesenheits- und Rederecht im Bundestag 260

Die Mitglieder des Bundesrats haben nach Art. 43 Abs. 2 S. 1 GG ein Zutrittsrecht zu allen (auch nicht-öffentlichen) Sitzungen des Bundestags und seiner Ausschüsse. Ergänzt wird dieses primär auf passive Information zielende An­ wesenheitsrecht der Mitglieder des Bundesrats durch ein aktives Rederecht der Mitglieder des Bundesrats. Dieses Rederecht der Mitglieder des Bundesrats ergibt sich reziprok aus der in Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG normierten Anhörungspflicht des Bundestags bzw. seiner Ausschüsse.262 Nach Interpretation im Schrifttum dienen diese Rechte als Instrumente der „Zusammenarbeit zum gemeinsamen Besten“263 der „föderalen Kooperation zwischen Parlament und Rat“.264

261

In der politischen Praxis des Parteienbundesstaates (s. o. Rn. 56 ff.) ist das Rederecht dann besonders wichtig, wenn – wie (zumindest früher) nicht selten – der (parteipolitische, nicht parlamentarische) Oppositionsführer im Bund der Ministerpräsident eines Landes ist. In die­ ser Position fanden sich beispielsweise in den frühen 1960er Jahren der spätere Bundeskanzler Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin (1957–1966), in den frühen 1970er Jahren der spätere Bundeskanzler Kohl als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (1969–1976), in den 1990er Jahren der saarländische Ministerpräsident Lafontaine (1985–1998) bzw. der spätere Bundeskanzler Schröder als Ministerpräsident Niedersachsens (1990–1998) und vor der Bun­ destagswahl 2002 der CDU / CSU-Kanzlerkandidat und Ministerpräsident Bayerns Stoiber.265

262

Konkret bedeutet das als Anwesenheitsrecht ausgestaltete Rederecht der Mitglieder des Bundesrats, dass ihnen abweichend von der sich aus der Geschäftsordnung des Bundestages ergebenden Reihenfolge das Wort als nächster Redner zu erteilen ist. Ohne die Worterteilung darf von dem Rederecht dagegen kein Gebrauch gemacht werden: Das Rederecht unterbricht die Rednerliste, nicht den Redner.266 In inhaltlicher Hinsicht beschränkt sich die Redebefug­ nis auf Meinungsbeiträge, ein Mitgestaltungs- oder gar ein Antragsrecht umfasst es nicht.

263

Den Rechten der Bundesratsmitglieder im Bundestag korrespondieren keine entsprechenden Befugnisse der Bundestagsmitglieder gegenüber dem Bundesrat. Der Grund dieser 260

Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53, Rn. 14 m. w. N. Vgl. auch Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 13. 262 Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 51, Rn. 7. 263 Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 43, Rn. 17. 264 Magiera, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 43, Rn. 7. 265 Vgl. zur letztgenannten parteipolitischen Konstellation etwa den Beitrag von Schwarz, in: taz. die tageszeitung, v. 26.04.2002, S. 7, mit dem Titel „Zwei Kanzler im Plenarsaal.“ 266 Morlok, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 43, Rn. 23 f. 261

E. Aufgaben und Befugnisse

307

Asymmetrie liegt unter anderem darin, dass es dem Bundesrat – den Gesetzgebungsnotstand einmal ausgenommen (s. dazu Rn. 199) – nicht möglich ist, eigenständig Gesetze zu beschlie­ ßen, so dass es für ein jederzeitiges Informations- und Rederecht der Bundestagsmitglieder im Bundesrat keinen entsprechenden zwingenden Bedarf gibt.

3. Kreationsbefugnisse Der Bundesrat ist wie der Bundestag an der Besetzung verschiedener anderer Or­ gane beteiligt. So wählt er gemäß Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. In Abweichung von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG be­ stimmt § 7 BVerfGG, dass für die Berufung der vom Bundesrat zu bestimmenden Richter eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, eine Qualifizierung, die sonst nur für verfassungsändernde Gesetze (Art. 79 Abs. 2 GG; s. o. Rn. 192) und die Erhe­ bung der Anklage gegen den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfas­ sungsgericht (Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG; s. u. Rn. 271) erforderlich ist.

264

(Faktische) Vorentscheidungen über die Kandidaten für die vom Bundesrat zu wählen­ den Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden teilweise bereits in der Ministerpräsi­ dentenkonferenz getroffen.267 Dies ist ein besonders gravierendes Beispiel für den faktischen Bedeutungsverlust des Bundesrats durch informale politische Strukturen (s. o. Rn. 28).

265

Auch hat der Bundesrat ein einfachgesetzlich eingeräumtes Vorschlags- und Zustimmungsrecht für die Besetzung vieler weiterer Ämter, so z. B. für das Amt des Generalbundesanwalts und der Bundesanwälte (§ 149 GVG), für die Vertre­ ter der Kommunen im Konjunkturrat (§ 18 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StabG) oder für die Mitglieder des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für Wiederaufbau (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 KredAnstWiAG).268 Schließlich entsendet der Bundesrat bspw. Vertreter in den Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit sowie in andere öffentliche Einrichtungen.

266

Freilich ist der Bundesrat nicht an allen bundesstaatlich relevanten Kreations- und Wahlaufgaben beteiligt: Beispielsweise wird der Einfluss der Länder bei der Wahl von Rich­ tern der obersten Gerichtshöfe des Bundes über die hälftige Besetzung eines Richterwahlausschusses mit Landesministern gesichert (vgl. Art. 95 Abs. 2 GG; s. o. Rn. 27). Auch bei der Wahl des Bundespräsidenten wird das föderale Element in der Bundesversammlung unab­ hängig vom Bundesrat verwirklicht, indem die Hälfte der Mitglieder der Bundesversammlung von den Landtagen gewählt wird (Art. 54 Abs. 3 GG; s. § 6 Rn. 1 ff.).

267

267

Vgl. den Artikel von Janisch, in: Süddeutsche Zeitung v. 13.02.2018. Vgl. zu diesen und weiteren Beispielen Bauer, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 50, Rn. 28. 268

308

§ 3 Bundesrat

4. Prozessuale Stellung des Bundesrats 268

Der Bundesrat ist in vielen der vor dem Bundesverfassungsgericht möglichen Verfahren beteiligtenfähig.

269

Die Verletzung eigener Rechte kann er im Organstreitverfahren rügen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG; s. § 8 Rn. 356 ff.). Hier wird die Stellung des Bundesrats als Verfassungsorgan des Bundes verfassungsprozessrechtlich gespiegelt. Demgegenüber ist der Bundesrat im BundLänder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG; s. § 8 Rn. 495 ff.) nicht beteiligtenfähig. Im Mängelrü­ geverfahren des Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG agiert der Bundesrat allerdings als Entscheidungsträger des Vorverfahrens eines Bund-Länder-Streits (s. o. Rn. 229).

270

Darüber hinaus kann der Bundesrat verschiedene andere verfassungsrechtliche Verfahren initiieren, etwa eine abstrakte Normenkontrolle zur Prüfung der Frage, ob ein Gesetz der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, § 76 Abs. 2 BVerfGG; s. § 8 Rn. 456 f.). Hinsichtlich sonstiger (allgemeiner) abstrakter Normenkontroll­ anträge gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist der Bundesrat hingegen nicht antragsfähig (wohl aber etwa die Landesregierungen). Jedoch kann der Bundesrat einen Antrag zur Klärung, ob vorkonstitutionelles Recht als Bundesrecht fortgilt, stellen (Art. 126 GG, § 86 Abs. 1 BVerfGG). Ein übergreifendes Konzept der Verfassung zu den unterschiedlichen Antragsberechtigungen dieser Verfahrensarten ist dabei kaum erkennbar.

271

Der Bundesrat kann eine Präsidentenanklage zur Feststellung, ob der Bundespräsident vorsätzlich das Grundgesetz oder ein anderes Bundesgesetz verletzt hat, erheben (Art. 61 Abs. 1 S. 1 GG, § 49 Abs. 1 BVerfGG; s. § 5 Rn. 194 ff.). Auch hier zeigt sich – wie schon bei der Beteiligtenfähigkeit im Organstreitverfahren – die Stellung des Bundesrats als Bundes­ organ neben anderen Bundesorganen und seine Bedeutung auch für die horizontale Gewal­ tenteilung (s. o. Rn. 29 ff.).

272

Außerdem kann der Bundesrat ein Parteiverbotsverfahren zur Prüfung, ob eine politi­ sche Partei verfassungswidrig im Sinne von Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG ist, anstrengen (Art. 21 Abs. 4 GG, § 43 Abs. 1 BVerfGG). Beim (jedenfalls im Ergebnis) gescheiterten NPD-Verbots­ verfahren 2013–2017269 erlangte die Antragsberechtigung des Bundesrats besondere praktische Bedeutung, da die übrigen antragsberechtigten Organe, der Bundestag und die Bundesregie­ rung, anders als beim gescheiterten NPD-Verbotsverfahren 2001–2003270, keinen Verbotsantrag stellten. Im Nachgang des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum zweiten Verbotsantrag 2017 schuf der verfassungsändernde Gesetzgeber in Art. 21 Abs. 3, Abs. 4 GG das Verfah­ ren zum Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von staatlicher Finanzierung.271 Gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 BVerfGG ist der Bundesrat auch insoweit antragsberechtigt.

273

In anderen Verfahren ist der Bundesrat z. T. (lediglich) äußerungsberechtigt, so z. B. bei der abstrakten Normenkontrolle (§ 77 BVerfGG), beim Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG (§ 83 Abs. 2 BVerfGG) und ggf. bei der Verfassungsbeschwerde (§ 94 Abs. 1 BVerfGG).

269

BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren II. BVerfGE 107, 339 – NPD-Verbotsverfahren. 271 Zur wichtigen Rolle des Bundesrats (und des Bundesverfassungsgerichts) im Vorfeld dieser Verfassungsänderung vgl. Kloepfer, NVwZ 2017, 913. 270

F. Bundesrat und Europäische Union

309

Ein Rechtsbehelf des Bundesrats mit spezifisch EU-rechtlichem Bezug ist die Subsidiaritätsklage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. Art. 23 Abs. 1a S. 1 GG; hierzu sogleich Rn. 294).

274

F. Bundesrat und Europäische Union I. Mitwirkung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union Die Bundesländer sind vom europäischen Integrationsprozess nicht nur in politischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht betroffen, und zwar in doppelter Weise: Zum einen haben sie mit zunehmender europäischer Integration einen Teil der ohnehin schon knappen Freiräume bei der Ausübung ihrer Gesetzgebungskom­ petenzen eingebüßt, etwa im Bereich der Bildungspolitik durch die Anerkennung der Hochschuldiplome oder im Polizeibereich durch die Vorgaben der Gemeinsa­ men Innen- und Justizpolitik oder auch durch das Schengener Abkommen. Zum anderen sind es gerade die Bundesländer, die das Europäische Recht durch ihre Verwaltung zu vollziehen haben.

275

Dabei bestehen für die Länder im Unterschied zum Bund, dessen Kompetenz­ verluste durch entsprechende Mitwirkungsbefugnisse im Rat der Europäischen Union teilweise ausgeglichen werden, nur wenige eigene (direkte) Einflussmöglichkeiten auf die Politik oder gar die Rechtsetzung in der Europäischen Union. Zwar können die Abgeordneten im Europäischen Parlament die spezifischen Inter­ essen ihrer Region vertreten. Der ihnen von den Gründungsverträgen zugedachten Funktion entspricht dies allerdings nur sehr bedingt.

276

Vielmehr ist die direkte Interessenvertretung der regionalen und lokalen Gebietskörper­ schaften auf der Ebene der Europäischen Union dem Ausschuss der Regionen (Art. 300 Abs. 1, 3, Art. 306 f. AEUV) überlassen, der im Zuge der Verhandlungen um den MaastrichtVertrag auf Antrag der Bundesregierung gegründet wurde. Dem Ausschuss der Regionen kom­ men allerdings nur beratende Funktionen zu, seine Stellungnahmen müssen im europäischen Rechtsetzungsverfahren zwar berücksichtigt, nicht jedoch umgesetzt werden (vgl. Art. 301 Abs. 1, 307 AEUV).

277

Gemäß Art. 305 Abs. 2 AEUV erlässt der Rat der Europäischen Union einstimmig auf Vor­ schlag der Kommission einen Beschluss über die Zusammensetzung des Ausschusses der Regionen. Bundesgesetzliche Vorgaben zum Abstimmungsverhalten der Bundesregierung im Rat hinsichtlich der Entscheidung über die Zusammensetzung des Ausschusses der Regio­ nen enthält § 14 EUZBLG. Demnach schlägt die Bundesregierung dem Rat der Europäischen Union – im Einvernehmen mit dem Bundesrat – als Mitglieder des Ausschusses der Regionen und deren Stellvertreter die von den Ländern benannten Vertreter vor. Außerdem sollen die Gemeinden und Gemeindeverbände über die kommunalen Spitzenverbände mit drei gewählten Vertretern im Regionalausschuss vertreten sein.

278

310

§ 3 Bundesrat

279

Der Ausschuss der Regionen kann teilweise unter der europapolitischen Überschrift „Europa der Regionen“272 verortet werden, wobei das Konzept der europäischen Regionen freilich über die Institutionalisierung im Ausschuss der Regionen hinausgeht. Das „Europa der Regionen“ ist dabei nicht auf staatliche (Unter-)Einheiten wie die deutschen Länder beschränkt, wie ein Blick auf die Regionen in nicht-föderalen Mitgliedstaaten der EU und auf die Förde­ rung von (teilweise informalen) grenzüberschreitenden Europaregionen (z. B. Saar-Lor-Lux unter Beteiligung von Gebieten Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs) zeigt.

280

Das EU-Primärrecht enthält in Art. 5 Abs. 3 EUV das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip.273 Das Subsidiaritätsprinzip benennt (neben der zentralen) auch die regionale und lokale Ebene der Mitgliedstaaten als grundsätzlich vorrangig in Betracht kommende staatliche Handlungsebenen. In der Bundesrepublik Deutsch­ land betrifft dies also vor allem die Länder und die Kommunen. Die Subsidiarität gilt aber nur, soweit die Union keine ausschließliche Kompetenz in den Verträgen übertragen bekommen hat (vgl. Art. 5 Abs. 3 EUV).

281

Materiell-rechtlich kommt das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip somit – neben den Mitgliedstaaten – den Ländern und Kommunen als solchen zu Gute. Zur verfahrensrechtli­ chen und prozessualen Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips in Form von Subsidiari­ tätsrüge und Subsidiaritätsklage sind hingegen die „nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parlamente“ – in der Bundesrepublik Deutschland mithin neben dem Bundestag (s. § 2 Rn. 60 f.) auch der Bundesrat – berufen (vgl. Art. 5 Abs. 3 EUV, das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, sowie § 11 u. § 12 IntVG; hierzu sogleich Rn. 292 ff.).

282

Unabhängig von den mangelnden eigenständigen Einflussmöglichkeiten auf Unionsebene fehlte es den Ländern zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses häufig schon an entsprechenden Informationen über die Aktivitäten der EURechtsetzungsorgane. Daher unterhalten alle Bundesländer sog. Länderbüros oder Landesvertretungen in Brüssel, um sich insbesondere über Fragen der regio­ nalen Strukturpolitik rechtzeitig informieren zu können (vgl. auch § 8 EUZBLG).274

II. Mitwirkung des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union 1. Allgemeines 283

Sind solche Informations- und Einflussmöglichkeiten weitgehend den Aktivitä­ ten eines jeden einzelnen Landes überlassen, ist der Bundesrat als Verfassungsorgan zur Interessenvertretung der Länder lange Zeit nicht genutzt worden, um 272 Vgl. Ruge, Die Erfindung des „Europa der Regionen“. Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, 2003, S. 300 ff. 273 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 41, Rn. 65 ff. 274 Umfassend Schenderlein, Landesvertretungen im Entscheidungsprozess der Europäi­ schen Union, 2015.

F. Bundesrat und Europäische Union

311

die Vorstellungen der Länder in die Rechtsetzung auf europäischer Ebene einflie­ ßen zu lassen. Erst durch die in Folge des Maastricht-Vertrags von 1992 bedingten Änderungen des Grundgesetzes ist nunmehr verfassungsrechtlich sichergestellt, dass die Länder durch den Bundesrat auch „in Angelegenheiten der Europäischen Union“ mitwirken. Entsprechende Formulierungen finden sich seit 1992 sowohl in der allgemeinen Aufgabenbeschreibung des Bundesrats in Art. 50 GG als auch in Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG. Verfassungskonkretisierende Gesetze sind das Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) und das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG).275

284

Die Mitwirkung des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union lässt sich als zweistufig beschreiben: Sie bezieht sich einerseits auf die grundlegende Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (vgl. insbes. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG; s. sogleich Rn. 286 ff.) und anderseits auf die Mitwirkung des Bundesrats bei der Willensbildung des Bundes in Angelegenheiten der Euro­ päischen Union im operativen Geschäft (vgl. Art. 23 Abs. 1a, 2, 4, 5, 6 GG; s. u. Rn. 289 ff.).

285

2. Mitwirkung bei der Übertragung von Hoheitsrechten Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sieht vor, dass Vertragsgesetze zur Übertragung von Ho­ heitsrechten auf die Europäische Union stets der Zustimmung des Bundesrats bedürfen (s. o. Rn. 187). Wird hierdurch das Grundgesetz seinem Inhalt nach geän­ dert oder ergänzt oder werden solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht, so ist gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG eine Zwei-Drittel-Mehr­ heit der Stimmen des Bundesrats erforderlich.

286

Den Bundesrat – wie auch den Bundestag – trifft nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Übertragung von Hoheitsrechten an die Euro­ päische Union „eine besondere Verantwortung […], die […] den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss (Integrationsverantwortung).“276 Die An­ forderungen des Art. 23 Abs. 1 GG umfassen in materieller Hinsicht die Gewähr­ leistung demokratischer, rechtsstaatlicher, sozialer und föderativer Grundsätze, den Grundsatz der Subsidiarität sowie effektiven Grundrechtsschutz.

287

Auch nach (erstmaliger) Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union kann die Integrationsverantwortung des Bundesrats relevant bleiben: Dies gilt insbesondere für das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren (vgl. z. B. Art. 48 Abs. 6 EUV), für Brückenklauseln (vgl. z. B. Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV) und für die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV.277

288

275

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 26 ff. BVerfGE 123, 267  – Lissabon; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 22, 32. 277 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 23, 37 f. 276

312

§ 3 Bundesrat

Die entsprechenden Mitwirkungsrechte des Bundesrats zur Wahrnehmung seiner Integrations­ verantwortung ergeben sich aus den §§ 2–10 IntVG.

3. Mitwirkung bei der Willensbildung des Bundes 289

Auch im Hinblick auf die (Vorbereitung der) Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte auf Unionsebene ist (innerstaatlich) die Mitwirkung des Bundesrats teilweise erforderlich. Dies be­ trifft insbesondere bestimmte Einflussmöglichkeiten des Bundesrats auf das Ver­ halten der Bundesregierung im Rat der Europäischen Union.

290

In Art. 23 Abs. 4 Fall 1 GG ist der allgemeine Grundsatz der Beteiligung des Bundesrats an der Willensbildung des Bundes in EU-Angelegenheiten in inhalt­ licher Parallelität zur Reichweite seiner (hypothetischen) innerstaatlichen Mitwirkungsrechte festgeschrieben. Darüber hinaus ist der Bundesrat nach Art. 23 Abs. 4 Fall 2 GG zu beteiligen, soweit (hypothetisch) die Länder zuständig wären.

291

Die konkreten Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats ergeben sich aus Art. 23 Abs. 2 S. 2  GG (allgemeine Unterrichtungspflicht der Bundesregierung gegen­ über dem Bundesrat), aus Art. 23 Abs. 5 GG (Recht des Bundesrats zur Stellung­ nahme und korrespondierende Berücksichtigungspflicht der Bundesregierung in bestimmten Materien), Art. 23 Abs. 6 GG (Recht der Wahrnehmung der Rechte der Bundes­republik Deutschland durch „einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder“ in bestimmten Materien der ausschließlichen Ländergesetzgebungs­ kompetenz) sowie aus den sie konkretisierenden Gesetzen.278 Nähere Regelungen (vgl. Art. 23 Abs. 7 GG) enthält vor allem das bereits erwähnte Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG).

292

Der Bundesrat hat – neben dem Bundestag – weiterhin eine Funktion bei der verfahrensrechtlichen und prozessualen Durchsetzung des unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, welches materiell-rechtlich vor allem auch den Ländern (und Kommunen) zu Gute kommen soll (s. o. Rn. 280 f.).

293

Nach Art. 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit haben die „nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parla­ 278 Aufgrund des  – im Rahmen der Föderalismusreform von 2006 novellierten  – Art. 23 Abs. 6  GG erging mit Zustimmung des Bundesrats das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 12.3.1993 (BGBl. I, S. 313), zul. geänd. d. G. v. 22.9.2009 (BGBl. I, S. 3031), sowie das Gesetz über die Zusammen­ arbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 4.7.2013 (BGBl. I S. 2170), ferner das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 22.9.2009 (BGBl. I, S. 3022); vgl. auch die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Ländern über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 29.10.1993 (BAnz. Nr. 226 v. 2.12.1993, 10 425).

F. Bundesrat und Europäische Union

313

mente“ – in der Bundesrepublik Deutschland mithin neben dem Bundestag (s. § 2 Rn. 61) auch der Bundesrat – das Recht, eine Subsidiaritätsrüge zu erheben, in der sie ausführen, weshalb der Entwurf eines EU-Gesetzgebungsakts ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist (vgl. auch § 11 IntVG). Gerichtlichen Schutz soll der – in Folge der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 eingefügte – Art. 23 Abs. 1a GG bieten, der dem Bundesrat (und dem Bundestag) die Möglichkeit gibt, wegen einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips des Art. 5 Abs. 3 EUV Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu erheben (sog. Subsidiaritätsklage; vgl. Art. 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnis­ mäßigkeit Art. 12 lit. b EUV). Die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips betrifft aber unions­ rechtlich nur den Mitgliedstaat, stellt also nicht etwa die Verletzung eines eigenen Rechts der Länder oder des Bundesrats dar. Außerdem sind eben gerade nicht die Länder selbst, sondern der Bundesrat als Bundesorgan klageberechtigt. Näheres zur Subsidiaritätsrüge und Subsidia­ ritätsklage des Bundesrats regeln neben Art. 23 Abs. 1a GG die §§ 11, 12 IntVG.

294

Trotz dieser rechtlich gesicherten Einflussnahmemöglichkeiten des Bundesrats stellt die Vertretung der Interessen des Bundesrats und der Länder auf europäischer Ebene ein grundsätzliches Problem dar. Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, dass die Bundesrepublik Deutschland in bestimmten Fällen im Rat der Europäi­ schen Union nach Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG und in Einklang mit Art. 16 Abs. 2 EUV durch einen vom Bundesrat benannten Landesminister vertreten werden kann, bleiben die Einflussmöglichkeiten des Bundesrats grundsätzlich mittelbar: Er ist nicht direkt an der Willensbildung auf europäischer Ebene beteiligt, sondern kann nur versuchen, möglichst frühzeitig die deutsche Verhandlungsposition zu beeinflussen. Seine Stunde schlägt ggf. (erst) wieder bei der Umsetzung von Richt­ linien durch Bundesgesetze, an denen er mitwirkt.

295

Die Regelung des Art. 23 Abs. 6  GG, die etwa dazu führt, dass die Ressort­ minister oder gar Regierungschefs der europäischen Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union mit dem Kultusminister eines Bundeslandes (als vom Bun­ desrat benannten Vertreter der Länder) über Fragen der Bildungs-, Kultur- oder Rundfunkpolitik verhandeln, stößt verbreitet auf Kritik.

296

Bedenken bestehen weniger im Hinblick auf die erforderliche Abschlusskompetenz (Tätig­ werden eines Landesministers für den Bund), welche in Art. 23 Abs. 6 GG ausdrücklich einge­ räumt wird, und auch nicht im Hinblick auf die fehlende innerstaatliche Durchsetzungsmacht, die sich gerade aus der ausschließlichen Landeskompetenz ergibt. Vielmehr ist fraglich, ob ein Landesminister entsprechende Erfahrungen auf europäischer Ebene hat, ob Deutschland wirk­ lich gut daran tut, sich auf europäischer Ebene von Teilstaaten repräsentieren zu lassen und ob der Landesminister der geforderten Repräsentation nach außen wirklich gewachsen ist.279

297

279 Gemeint ist das „Sprechen mit einer Stimme“; vgl. P. Kirchhof, Brauchen wir ein neues Grundgesetz?, 1992, S. 41; Breuer, NVwZ 1994, 417 (428), hält die Regelung des Art. 23 Abs. 6 GG aus diesem Grunde für einen Verstoß gegen die aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes ableitbare Forderung nach einer einheitlichen, gesamtstaatlichen Willens­ bildung.

314

§ 3 Bundesrat

Zweifel bestehen schließlich auch bezüglich seiner auf das Parlament des jeweiligen Herkunfts­ bundeslandes reduzierten parlamentarischen Verantwortung.280

III. Europakammer des Bundesrats 298

Um die Länder über den Bundesrat stärker in die politische Willensbildung und die Rechtsetzung in der Europäischen Union einzubinden, hat der verfassungsän­ dernde Gesetzgeber in Folge des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992 das födera­ tive Organ Bundesrat für diese Aufgabe auch organisatorisch in besonderer Weise wappnen wollen: Nach Art. 52 Abs. 3a GG kann der Bundesrat eine Europakammer einrichten, mit der Besonderheit, dass diese in Angelegenheiten der Europäischen Union Beschlüsse fasst, die als Beschlüsse des Bundesrats gelten. Von dieser Ermächtigung hat der Bundesrat Gebrauch gemacht (§§ 45b ff. GOBR).

299

Die Europakammer ist gewissermaßen ein ‚Bundesrat im Kleinen‘. Sie stellt kein bloß unterstützend oder vorbereitend tätig werdendes Unterorgan des Bundesrats dar wie die üb­ rigen Ausschüsse (s. o. Rn. 131), sondern agiert – plenarersetzend – als der Bundesrat selbst (s. auch § 1 Rn. 41).

300

Ein einfacher Ausschuss als Unterorgan hätte demgegenüber die Entscheidungen des Bundesrats allenfalls vorbereiten und mithin nur begrenzt zu seiner arbeitsteiligen Entlas­ tung bei der Bewältigung von künftig vermehrt zu erledigenden EU-Angelegenheiten bei­ tragen können. Insgesamt dient die Europakammer (angesichts der vielfältigen und ausführ­ lichen europäischen Rechtsetzung) vorrangig zur Entlastung des Bundesrats als Plenum und zur Beschleunigung der Bundesratsarbeit.281 Die Beschleunigungsfunktion ist im Be­ reich der EU-Angelegenheiten von besonderer Bedeutung, erfordern Entscheidungen auf EU-Ebene doch teilweise außerordentlich schnelle Mitwirkungshandlungen verschiedenster Akteure.282

301

Schon vor Einfügung des Art. 52 Abs. 3a GG im Jahr 1992 hatte der Bundesrat – seiner Ge­ schäftsordnungsautonomie entsprechend – eine „EG-Kammer“ eingerichtet.283

302

Die Europakammer des Bundesrats ist das binnenorganisationsrechtliche Äquivalent zum Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Bundestags (Art. 45 GG; s. § 2 Rn. 426 ff.).

303

Nach dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 3a GG ist die Einrichtung der Europakammer aus Sicht des Grundgesetzes fakultativ. Hier besteht ein Unterschied zum Ausschuss für die

280

Badura, in: FS Redeker, 1993, S. 126, nennt dies die Desorientierung der parlamentari­ schen Verantwortung; ebenso Breuer, NVwZ 1994, 417 (428). 281 Vgl. dazu Fischer / Koggel, DVBl. 2000, 1742 (1743 f.). 282 Vgl. Maunz / Scholz, in: Maunz / Dürig, GG (56. Ergänzungslieferung, Oktober 2009), Art. 52, Rn. 26. 283 Vgl. BR-Drs. 230/88; hierzu Maunz / Scholz, in: Maunz / Dürig, GG (56. Ergänzungsliefe­ rung, Oktober 2009), Art. 52, Rn. 27; dort auch zu der damals umstrittenen Frage, ob sich die konkrete Ausgestaltung der „EG-Kammer“ im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie des Bundesrates hielt.

F. Bundesrat und Europäische Union

315

Angelegenheiten der Europäischen Union des Bundestags, dessen zwingende Bestellung seit 1992 in Art. 45 GG geregelt ist (s. § 2 Rn. 426).

Für die Stimmverteilung in der Europakammer gelten nach Art. 52 Abs. 3a Hs. 2 i. V. m. Art. 51 Abs. 2 GG die gleichen Regeln wie für das Bundesratsplenum selbst (s. o. Rn. 77 ff.). Außerdem gilt nach Art. 52 Abs. 3a Hs. 2 GG – wie auch im Ple­ num – das Erfordernis einheitlicher Stimmabgabe eines Landes (s. o. Rn. 156 ff.).

304

Die Europakammer kann Beschlüsse auch im schriftlichen Umfrageverfahren fassen (vgl. § 45i GOBR). Dies wurde durch eine Verfassungsänderung im Rahmen der „Föderalis­ musreform I“ im Jahr 2006 ermöglicht.284 Seit 2006 wird in Art. 52 Abs. 3a Hs. 2 GG nicht mehr – wie zuvor – (neben Art. 51 Abs. 2 GG) auch auf Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG verwiesen. Das in Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG normierte Erfordernis einheitlicher Stimmabgabe ist nunmehr aber ausdrücklich in Art. 52 Abs. 3a Hs. 2 GG für die Europakammer erwähnt. Somit entfällt für die Europakammer seit 2006 lediglich der zweite Gehalt des Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG, das Er­ fordernis der Stimmabgabe durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter.

305

Weitere Einzelheiten zur Zuständigkeit und Arbeitsweise der Europakammer sind in §§ 45b bis 45l GOBR geregelt. Gemäß § 45d Abs. 1 GOBR ist die Euro­ pakammer in Eilfällen (vgl. hierzu § 45d Abs. 2 GOBR) oder bei zu wahrender Vertraulichkeit (vgl. hierzu § 45d Abs. 3 GOBR) nach Zuweisung eines Bera­ tungsgegenstandes zuständig für die Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union.

306

Entsprechend der im Grundgesetz gestuft konzipierten Mitwirkung des Bundes­ rats in EU-Angelegenheiten (s. o. Rn. 291) sind auch die Befugnisse der Europakammer nach Art. 23 Abs. 5 u. 6 GG gestuft:

307

Die Europakammer kann für den Bundesrat gegenüber Maßnahmen der Bundesregierung innerhalb der ausschließlichen Bundeszuständigkeit Stellung nehmen; diese Stellungnahme ist von der Bundesregierung zu berücksichtigen (1. Stufe: Art. 23 Abs. 5 S. 1 GG). Die Euro­ pakammer kann für den Bundesrat in Angelegenheiten, die schwerpunktmäßig Gesetzge­ bungsbefugnisse der Länder betreffen, die „maßgeblich zu berücksichtigende“ Auffassung des Bundesrats formulieren, die allein an die Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes gebunden ist (2. Stufe: Art. 23 Abs. 5 S. 2 Hs. 2 GG). In Angelegenheiten der Ge­ setzgebungsbefugnisse der Länder auf dem Gebiet der schulischen Bildung, der Kultur und des Rundfunks, in deren Bereich die Wahrung deutscher Rechte durch einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder als intensivste Form föderaler Mitwirkung vorgesehen ist (3. Stufe: Art. 23 Abs. 6 GG), besteht die ‚Vertretungsrolle‘ der Europakammer für den Bun­ desrat in der Bestimmung des Beauftragten der Länder durch die Europakammer.

308

284

BT-Drs. 16/813, S. 10.

316

§ 3 Bundesrat

G. Ausblick 309

Insgesamt hat sich der Bundesrat als politische Institution und als Rechtskonstruktion auf der Ebene des Bundesverfassungsrechts bewährt. Die scheinbare Inkongruenz zwischen seinem Auftrag (Vertretung vor allem von Landesinte­ ressen) und seiner Konstruktion (als vor allem legislativ tätiges Bundesorgan aus Exekutivvertretern der Länder) hat Vorteile: Gerade weil er als ein Bundesorgan ausgestaltet und doch den Länderinteressen zu dienen bestimmt ist und gerade weil er maßgeblich ein Legislativorgan ist, das sich ausschließlich aus Mitgliedern der Landesregierungen zusammensetzt, ist der Bundesrat in besonderer Weise zur Zusammenführung der unterschiedlichen Funktionen, Organe und Kräfte im bundesdeutschen Verfassungsleben prädestiniert (s. o. Rn. 30).

310

Die vielfältigen Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats sind weniger zur Entfaltung pro­ grammatischer Gegenentwürfe als vielmehr zur Ergänzung, Abschleifung und Kontrolle der Entscheidungen anderer Verfassungsorgane geeignet (s. o. Rn. 165 ff.). Zudem birgt seine Zu­ sammensetzung durch politisch unterschiedlich zusammengesetzte Landesregierungen eher die Chance zur Kooperation als zur Konfrontation, was Blockadehaltungen des Bundesrats in Einzelfällen nicht ausschließt.285 Dem entspricht der sachliche und meist moderate Stil seiner Debatte. Der Bundesrat kennt kaum Debatten mit schrillen Tönen wie bisweilen der Bundestag (s. o.  Rn. 50).

311

Die Bedeutung des Bundesrats ist maßgeblich vom tatsächlichen Zustand der Bundesstaatlichkeit geprägt. In dem heute typischen Parteienbundesstaat (Re­ gierung und Regierungsfraktionen im Bund mit parteipolitisch ‚verbündeten‘ Ländern, Oppositionsfraktionen im Bundestag mit ‚oppositionellen Landesre­ gierungen‘; s. o. Rn. 56 ff.) gewinnt der Bundesrat eine ganz eigene Bedeutung.

312

Dies gilt insbesondere dann, wenn im Bundestag und im Bundesrat – wie nicht selten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten das Sagen haben. In diesen Fällen wird der Bundesrat leicht zum Instrument der Opposition (im Bund). Die Opposition gewinnt mit dem Bundesrat dann das, was sie im Bundestag auf­ grund ihrer Minderheitsposition nicht hat: reale Mitgestaltungs- und Mitentscheidungsmacht. Der Bundesrat verleiht so der Opposition gewissermaßen ‚Zähne‘ (s. o. Rn. 56). Angesichts der eher schwächelnden tatsächlichen horizontalen Gewaltenteilung in Deutschland hat dies durchaus positive Aspekte. Allerdings kann dies auch zu Blockadestrategien bis hin zur Lahm­ legung der Gesetzgebung bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen führen.

313

Einzelne negative Aspekte des Wirkens des Bundesrats sind gleichwohl nicht zu leugnen, wenn und weil auf diese Weise nicht mehr die Belange und Interessen der Länder, sondern primär parteipolitische Erwägungen im Vordergrund stehen. Diese parteienbundestaatliche Struktur kann im umgekehrten Fall gleichgerichteter Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat (etwa in Zeiten großer Koalitionen) sogar dazu führen, dass aus Gründen der Parteiloyalität

285

Die Notwendigkeit eines Konsenses zwischen den Verfassungsorganen betont auch Gusy, DVBl. 1998, 917 (927 f.); vgl. auch Haghu, Die Zustimmung des Bundesrates nach Art. 84 Abs. 1 GG, 2007, S. 99 f.

G. Ausblick

317

die Kontroll- und Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats nur noch unvollkommen wahrge­ nommen werden.

Der Bundesrat hat in seiner bisherigen Geschichte erhebliche Bedeutungsveränderungen erlebt. Das hängt zunächst einmal mit den oben geschilderten poli­ tischen Gesetzmäßigkeiten des Bundesrats im Parteienbundesstaat zusammen. In Zeiten unterschiedlicher Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ist die politische Wahrnehmung des Bundesrats erheblich ausgeprägter als in Zeiten gleichgerich­ teter Mehrheiten.

314

Vor allem hatte ein erheblicher Verfassungswandel für viele Jahre zu einem unübersehbaren Bedeutungszuwachs des Bundesrats geführt. Insbesondere auch im Vergleich zum Bundestag hat der Bundesrat seit 1949 eher an Bedeutung gewonnen.

315

Der faktische Machtblock zwischen Bundesregierung und Mehrheitsfraktionen im Bundes­ tag hat zur politischen Schwächung des Bundestags, aber auch zum Bedeutungszuwachs des Bundesrats geführt, da auf diese Weise der Trend zur Exekutivlastigkeit des grundgesetzlichen Verfassungsgefüges verstärkt wird. Von diesem Trend profitieren nämlich auch die Landesregierungen als die eigentlichen Akteure im Bundesrat.

316

Freilich handeln die Landesregierungen in der politischen Wirklichkeit insbesondere auch über informale Strukturen wie die Ministerpräsidentenkonferenz oder andere Konferenzen von Landesministerium (und ggf. Bundesministerien; s. o. Rn. 28, 265), was wiederum die Bedeutung des Plenums des Bundesrats als Ort föderaler Entscheidungsfindung schmälert.

317

Auch die gewachsene Bedeutung des Vermittlungsausschusses innerhalb des Verfahrens zum Erlass formeller Bundesgesetze (Art. 77 Abs. 2 GG; s. o. Rn. 183 ff.)286 stärkt die Position des Bundesrats im Verfassungsgefüge. Der Vermittlungsausschuss gibt dem Bundesrat – frei­ lich in unterschiedlichem Maße – sowohl bei Einspruchs- wie auch bei Zustimmungsgesetzen Einflussmöglichkeiten auf den Inhalt der Bundesgesetze.

318

Insbesondere hängt die erstarkende Bedeutung des Bundesrats im System des Grundgeset­ zes mit einem jahrzehntelangen Trend des Zuwachses der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen zusammen. Diese hatte vor allem zwei Gründe: erstens konnte der Bund den Verlockungen des alten Art. 84 Abs. 1 GG a. F. nicht widerstehen, im Bereich der konkurrieren­ den Gesetzgebung auch das Verwaltungsverfahren mitzuregeln, wodurch das jeweilige Gesetz zustimmungsbedürftig wurde. Der andere Grund liegt in Verfassungsänderungen, die zu Las­ ten vorheriger Landeskompetenzen Bundesgesetzgebungszuständigkeiten schufen, dafür aber kompensatorisch Zustimmungserfordernisse des Bundesrats für Bundesgesetze begründeten, also an die Stelle von Entscheidungskompetenzen der einzelnen Länder Zustimmungsbefug­ nisse der Ländergesamtheit begründeten.

319

Mit der verfassungsändernden Föderalismusreform I im Jahre 2006 konnte der Trend zur Zunahme zustimmungsbedürftiger Gesetze nur teilweise gebrochen wer­ den. Der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze sank von 50 % bis 60 % vor 2006 auf ca. 36,5 % in der 18. Legislaturperiode in den Jahren 2013–2017 (s. o. Rn. 66).

320

286

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 229 ff.

318

§ 3 Bundesrat

321

Art. 84 Abs. 1 GG n. F. lässt seitdem bundesrechtliche Regelungen über Verwaltungsverfahren und Behördeneinrichtungen im Bereich der Bundesaufsichtsverwaltung ohne Zustimmung des Bundesrats zu, hat dies aber mit der Befugnis der Länder zur Abweichungs­ gesetzgebung erkauft (Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG; s. o. Rn. 224).287 Mitentscheidungsbefugnisse der Ländergesamtheit werden also in diesen Fällen zu Befugnissen der einzelnen Länder. Freilich kann der Bund „in Ausnahmefällen […] wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundesein­ heitlicher Regelung“ die Abweichungsmöglichkeit aufheben, allerdings um den Preis, dass da­ durch die Regelung wieder der Zustimmung des Bundesrats bedarf (Art. 84 Abs. 1 S. 5, 6 GG).

322

In dem Maße, wie die Föderalismusreform I die (Fülle der) Zustimmungsbedürftigkeit zurückgedrängt hat, ist also der Einfluss des Bundesrats (begrenzt) zurückgegangen. Dieser Rückgang erschien allerdings zunächst deswegen größer als er tatsächlich war, weil er – ab­ gesehen von der zwischenzeitlichen christdemokratisch-liberalen Koalition (2009–2013) im Wesentlichen in Zeiten Großer Koalitionen (2005–2009, erneut 2013–2017 sowie erneut seit 2018) mit gleichgerichteten Mehrheiten von Bundestag und Bundesrat erfolgte, was die poli­ tische Bedeutung des Bundesrats ohnehin zurückdrängte.

323

Insgesamt ist derzeit kein erheblicher Änderungsbedarf im Bereich der Art. ­50–53 GG zu erkennen; dies gilt nicht im gleichen Maße für die Regelungen über die Mitwirkung des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union in Art. 23 GG (s. o. Rn. 289 ff.). Insbesondere erscheint ein Ausbau des Bundesrats als ‚echte‘ zweite Kammer (s. o. Rn. 51 ff.) nicht angezeigt. Eher können Verände­ rungen im Bundesstaat selbst die Rolle und Bedeutung des Bundesrats verändern. Bundesstaatsreformen können auch für den Bundesrat wichtige Konsequenzen haben.

324

Unverkennbar ist, dass der ohnehin bestimmende Einfluss der Exekutive im politischen Gesamtgefüge der Bundesrepublik Deutschland durch die ausschließ­ liche Besetzung des Bundesrats mit Landesregierungsmitgliedern gestärkt wird, wodurch mittelbar der Einfluss der Landtage ähnlich wie beim kooperativen Fö­ deralismus288 weiter geschwächt werden kann.

325

Diese Exekutivlastigkeit des Bundesrats ließe sich im Übrigen nur durch Reformen in Gestalt grundsätzlicher Verfassungsänderungen (z. B. Senatslösun­ gen nach US-Vorbild mit Direktwahl der Mitglieder durch die Bevölkerung) oder durch eine – ebenfalls eine Grundgesetzänderung voraussetzende – völlige oder teilweise Ersetzung der bisherigen Landesregierungsmitglieder durch Landtags­ mitglieder im Bundesrat verringern (s. schon oben Rn. 18 ff.). Solche Änderungen würden aber die besondere Geeignetheit der Exekutiven zur Kooperation zwischen Gliedstaaten vernachlässigen und erscheinen für absehbare Zeit ohnehin politisch unrealistisch (s. § 1 Rn. 179, 185). Ob partielle Verfassungsänderungen – wie z. B.­ die Einfügung des Art. 80 Abs. 4 GG im Jahr 1994 – die Rolle der Landtage wieder nachhaltig stärken können, darf bezweifelt werden.

287 288

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 48 ff. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 217 ff.

Schrifttum

319

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320

§ 3 Bundesrat

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§ 4 Gemeinsamer Ausschuss Übersicht A. Wehrverfassungsrechtliches Notstandsorgan in Wartestellung . . . . . . . . . . . . . . 322 B. Zusammensetzung und innere Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

I. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 1. Abgeleitetes Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2. Bestimmung der Mitglieder aus dem Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 3. Bestimmung der Mitglieder aus dem Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4. Rechtsstellung der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses . . . . . . . . . . 325 5. Verfassungsrechtliche Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326



II. Innere Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

C. Aufgaben und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329



II. In Friedenszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329



III. Im Verteidigungsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 1. Funktionsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 a) Voraussetzungen der Kompetenzerweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 b) Feststellung des Verteidigungsfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Einzelne Aufgaben und Befugnisse im Verteidigungsfall . . . . . . . . . . . . . 333 a) Ein-Kammer-Notparlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 c) Neuwahl des Bundeskanzlers, Misstrauensvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 d) Regierungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

D. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

322

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

A. Wehrverfassungsrechtliches Notstandsorgan in Wartestellung 1

Im Zug der Schaffung der sog. Notstandsverfassung1 von 1968 wurde der Ge­ meinsame Ausschuss in Art. 53a GG als neues2 oberstes Bundesorgan als Teil der Wehrverfassung3 verankert.4 Er ist ein „ständig präsentes“5 und selbständiges Verfassungsorgan.6 Entgegen seiner wenig glücklichen Bezeichnung als „Aus­ schuss“7 ist der Gemeinsame Ausschuss weder Unterorgan des Bundestags oder des Bundesrats noch gemeinsames Unterorgan der genannten Verfassungsorgane.

2

Konzeptionell-funktional handelt es sich beim Gemeinsamen Ausschuss um ein Notstandsgremium, das im Verteidigungsfall bei einer möglichen Funktionsun­ fähigkeit als ‚Ersatzorgan‘ vor allem des Bundestags (und auch des Bundesrats) reagieren soll. Der Gemeinsame Ausschuss erstarkt erst im Verteidigungsfall zu voller funktionaler Kraft (näher unten Rn. 30 ff.). Potentiell – nämlich im Szenario des Verteidigungsfalls – kann der Gemeinsame Ausschuss Anteil an der Staats­ leitung haben. Dies rechtfertigt seine Einordnung als Verfassungsorgan (s.  § 1 Rn. 46), obschon als Verfassungsorgan in Wartestellung8 (s. u. Rn. 29).

3

Die Einrichtung eines solchen ‚Notparlaments‘, welches auch und gerade im Verteidigungsfall ein funktionsfähiges legislatives Gegengewicht zur Regierung bildet9, beweist eine Abkehr von der bis in die Weimarer Zeit vorherrschenden Auf­ fassung, der Notstand sei die „Stunde der Exekutive“10. Insoweit mag die Schaf­ 1

Hierzu ausführlich Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 28. Damit ist der Gemeinsame Ausschuss das einzige Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland, welches vom Grundgesetz ursprünglicher Fassung noch nicht eingerichtet wor­ den war; zur Besonderheit beim Bundesverfassungsgericht, welches 1949 bereits verfassungs­ rechtlich vorgesehen war, aber erst 1951 funktionsfähig wurde, s. § 8 Rn. 16 f. 3 Hierzu eingehend Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 29. 4 Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 27.6.1968 (BGBl. I, S. 709). 5 Schick, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundes­ republik Deutschland, § 58, Rn. 10. 6 BVerfGE 84, 304 (337); Amann, Verfassungsrechtliche Probleme des Gemeinsamen Aus­schusses nach Art. 53a Abs. 1 GG, 1971, S. 18 ff.; Schick, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parla­ mentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 58, Rn. 10; die Stellung als eigenständiges Verfassungsorgan ergibt sich auch bereits aus der Fassung des Art. 53a GG als eigenständigem Abschnitt IVa des Grundgesetzes; s. auch Rn. 16, 29 sowie § 1 Rn. 46 f. 7 Kritik bei Schick, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 58, Rn. 11. 8 Vgl. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S.  171: „Parlament im Wartestand“. 9 Vgl. BVerfGE 80, 188 (234) – Wüppesahl: „Entscheidung, im Verteidigungsfalle die Le­ gislative […] funktionsfähig zu halten“; dazu A. Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, 2018, S. 227, 230, 277 f.; Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2020, S. 433 f. m. w. N. 10 So noch der 1. Regierungsentwurf zur Notstandsverfassung von 1960 (Schröder-Entwurf), BT-Drs. III/1800; hierzu Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 1. 2

B. Zusammensetzung und innere Ordnung

323

fung des Gemeinsamen Ausschusses als Notparlament gerade auch symbolischen Wert – als Verkörperung einer Verfassungsentscheidung – aufweisen, was nicht per se pejorativ zu verstehen ist.11 Die grundgesetzlichen Regelungen zum Gemeinsamen Ausschuss sind systematisch zweigeteilt: Während – erstens – in Art. 53a GG die Zusammensetzung und die Kreation des Organs sowie die Plicht der Bundesregierung, den Gemein­ samen Ausschuss über ihre Planungen für den Verteidigungsfall zu unterrichten, geregelt sind (s. u. Rn. 5 ff.), finden sich – zweitens – die wichtigen potentiellen Kompetenzen des Gemeinsamen Ausschusses für den Verteidigungsfall in der Wehrverfassung (Art. 115a ff. GG; s. u. Rn. 30 ff.).12

4

B. Zusammensetzung und innere Ordnung I. Zusammensetzung 1. Abgeleitetes Organ Unmittelbar aus dem Grundgesetz ergibt sich, dass der Gemeinsame Ausschuss ein abgeleitetes Organ (s. § 1 Rn. 145) aus insgesamt 48 Mitgliedern13 ist: Gemäß Art. 53a Abs. 1 S. 1 GG setzt er sich zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrats und zu zwei Dritteln aus Bundestagsabgeordneten zusammen; zusätzlich gibt Art. 53a Abs. 1 S. 3 GG vor, dass jedes Bundesland einen Vertreter aus dem Bundesrat entsendet – folglich müssen 16 der Mitglieder des Gemeinsamen Aus­ schusses Vertreter des Bundesrats und 32 Bundestagsabgeordnete sein.

5

Die Einrichtung des Gemeinsamen Ausschusses – bestehend aus Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats  – stellt einen Kompromiss zwischen dem Erfordernis einer funktionsfähigen Staatsleitung im Verteidigungsfall einerseits

6

11

Dies schließt freilich nicht aus, Kritik an Einzelheiten der Ausgestaltung des Organs und seiner Kompetenzen zu üben (so etwa die lückenhafte Regelung zum Status der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses – dazu unten Rn. 11 ff.); insgesamt deutlich kritischer hingegen etwa Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 4. 12 Diese Trennung von Organregelung und Kompetenzen wird im Schrifttum zum Teil als „verfassungssystematisch wenig geglückt“ bezeichnet, so Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 4, mit Hinweis auf Schäfer, AöR 93 (1968), 37 (59 ff.). Dem ist entgegenzuhal­ ten, dass die beschriebene Trennung durchaus auch Vorteile hat: So fügt sie sich in die – von den Regelungen zu anderen Verfassungsorganen (außer dem Bundesverfassungsgericht) be­ kannte – Aufteilung in organbezogene (Art. 38 ff. GG) und funktionsbezogene Regelungen (Art. 70 ff. GG) ein. Außerdem wird die regelungssystematische Integrität der verfassungs­ rechtlichen Teilordnung Wehrverfassung (Art. 115a ff. GG) bewahrt; näher zum Konzept der „verfassungsrechtlichen Teilordnung“ Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 24. 13 Vor 1990 hatte der Gemeinsame Ausschuss 33 Mitglieder (elf Vertreter aus dem Bundes­ rat, 22 Vertreter aus dem Bundestag).

324

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

sowie der gleichzeitigen Aufrechterhaltung demokratischer und bundesstaatlicher Prinzipien andererseits dar. Die Qualität der Ausgestaltung wird sich angesichts der Unwägbarkeiten eines Verteidigungsfalls erst bei einer tatsächlichen Aktivierung der Kompetenzen des Gemeinsamen Ausschusses zeigen können.14 2. Bestimmung der Mitglieder aus dem Bundestag 7

Die einzelnen Bundestagsmitglieder im Gemeinsamen Ausschuss werden gemäß Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG nach dem Kräfteverhältnis der Fraktionen im Bundestag mit jeder Legislaturperiode neu bestimmt. Eine verbindliche Bestimmung gemäß Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG erfolgt durch Beschluss des Bundestags.15 Hierbei ist der Bundestag nicht an die von den Bundestagsfraktionen nach § 2 Abs. 1 S. 1 GOGA vorgelegten Vorschläge, sehr wohl jedoch an die Entsendung von Abgeordne­ ten entsprechend der Fraktionsgröße gebunden. Folglich wird in Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG bei der Besetzung des Gemeinsamen Ausschusses nicht auf die tatsäch­ liche Zusammensetzung des Plenums abgestellt, sondern lediglich auf Gruppie­ rungen mit Fraktionsstärke.16

8

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Begriff der „Fraktion“ in Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG. Dies ist die einzige Verwendung des Fraktionsbegriffs im Grundgesetz, dessen Existenz an dieser Stelle verfassungsrechtlich anerkannt und verbürgt wird.17 Die Geschäftsordnung des Bundestags enthält in ihrem § 10 Abs. 1 S. 1 eine Definition der Fraktionen, an einer verfassungsrechtlichen Definition fehlt es dagegen (s. dazu § 2 Rn. 376 ff.). Entscheidend ist der Fraktions­ begriff bei der Frage nach der Berücksichtigung von Gruppierungen im Bundestag, welche nicht die Voraussetzung der einfachgesetzlichen Definition der Fraktion erfüllen. Der Ausschluss von Gruppen unterhalb der Fraktionsstärke soll eine Zer­ splitterung des Gemeinsamen Ausschusses vermeiden und ihm mehr Stabilität und Durchsetzungsvermögen verleihen, was die Fraktionen in Anbetracht ihrer derzei­ tigen Rolle im parlamentarischen Willensbildungsprozess besser zu gewährleisten vermögen als sonstige parlamentarische Gruppierungen.18 Demnach sind Gruppen

14

Vgl. Krebs, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 53a, Rn. 22. Krebs, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 53a, Rn. 8; Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 53a, Rn. 22. 16 BVerfGE 84, 304 (336); Dörr, in: Epping / Hillgruber, BeckOK GG, 26. Ed. 2015, Art. 53a, Rn. 9. 17 Nach BVerfGE 84, 304 (335) – PDS / Linke Liste, deckt sich dieser Begriff mit dem „im Parlamentsrecht geläufigen Tatbestand in seiner herkömmlichen Bedeutung“, insbesondere also mit dem Fraktionsbegriff in § 10 Abs. 1 GOBT. „Damit hat das Grundgesetz das für die Zusammensetzung der Ausschüsse in § 12 GOBT zum Ausdruck kommende Proporzprinzip für die Besetzung der Bundestagsbank des Gemeinsamen Ausschusses zum Verfassungsgebot erhoben“, BVerfGE 80, 188 (234) – Wüppesahl. 18 BVerfGE 84, 304 (336); 96, 264 (281). 15

B. Zusammensetzung und innere Ordnung

325

(s. dazu § 2 Rn. 397 ff.) und fraktionslose Abgeordnete (s. dazu § 2 Rn. 402 f.) von der Mitgliedschaft im Gemeinsamen Ausschuss ausgeschlossen. Inkompatibilitätsvorgaben werden in Art. 53a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG normiert: Dem Gemeinsamen Ausschuss kann nicht angehören, wer Mitglied der Bundesregierung ist. Zur Bundesregierung wird man hier auch  – obgleich sie in Art. 62 GG nicht als Mitglieder der Bundesregierung genannt werden – die Parlamentarischen Staatssekretäre (s. dazu § 7 Rn. 246) zählen und die Inkom­ pabilitätsregel des Art. 53a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG auf sie anwenden müssen. Nach § 14 Abs. 2  S. 1  GOBReg obliegt Parlamentarischen Staatssekretären insbeson­ dere die ministerielle Vertretung gegenüber Bundestag und Bundesrat, sodass sie politisch der „Bundesregierung“ i. S. v. Art. 53a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG zuzurechnen sind. Sie sind somit nur schwerlich in der Lage, eine legislative Kontrolle der Ex­ ekutive effektiver zu gewährleisten und mithin der Funktion des Gemeinsamen Ausschusses, im Verteidigungsfall die Gewaltenteilung sicherzustellen, kaum zuträglich.19

9

3. Bestimmung der Mitglieder aus dem Bundesrat Jedes Bundesland entsendet gem. Art. 53a Abs. 1 S. 3 GG ein Mitglied des Bunderats in den Gemeinsamen Ausschuss. Für den Entsendungsmodus der Mit­ glieder des Bundesrats enthält Art. 53a Abs. 1 GG zwar keine ausdrückliche Re­ gelung, aufgrund der erforderlichen Bundesratsmitgliedschaft gilt jedoch zu ihrer Bestimmung Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG entsprechend. Dieser berechtigt die Landesregierungen, die jeweiligen Mitglieder des Landes im Bundesrat zu bestimmen,20 sodass es sich bei dem entsandten Bundesratsmitglied notwendig um ein Mitglied der Landesregierung handeln muss. Eine Inkompatibilitätsregelung wie Art. 53a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 GG (s. Rn. 9) ist für Bundesratsmitglieder überflüssig, da sie als Landesregierungsmitglieder nicht gleichzeitig Mitglieder der Bundesregierung sein dürfen, was auch in § 4 BMinG21 ausdrücklich normiert worden ist.

10

4. Rechtsstellung der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses Die vom Bundestag entsandten Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses verlieren durch die Mitgliedschaft im Gemeinsamen Ausschuss ihre Rechts­ stellung als Abgeordnete des Bundestags nicht. Vielmehr bleiben ihnen alle aus der Freiheit des Mandats (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) erwachsenden Befugnisse

19

Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 8. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 10. 21 Gesetz über die Rechtsverhältnisse in der Mitglieder der Bundesregierung (BMinG) in der Fassung v. 17.7.2015, BGBl. I, S. 1322. 20

11

326

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

erhalten.22 (Gerade) auch im Gemeinsamen Ausschuss sind die Bundestagsmit­ glieder durch die Regelungen der Art. 46 ff. GG besonders geschützt und genie­ ßen u. a. Immunität, Indemnität und ein Zeugnisverweigerungsrecht (hierzu § 2 Rn. 293 ff.).23 12

Für die von den Landesregierungen entsandten Bundesratsmitglieder im Ge­ meinsamen Ausschuss normiert Art. 53a Abs. 1 S. 3 GG hingegen eine von ihrer Rechtsstellung im Bundesrat abweichende Regelung für ihre Tätigkeit im Ge­ meinsamen Ausschuss: Im Gemeinsamen Ausschuss unterliegen sie  – anders als im Bundesrat  – keinen Weisungen.24 Aufgrund der Wortlautgleichheit zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ist davon auszugehen, dass die Rechtsstellung aller Mit­ glieder des Gemeinsamen Ausschusses gleich und i. S. d. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auszulegen ist.25

13

Da es sich also auch beim Mandat der Bundesratsmitglieder im Gemeinsamen Ausschuss um ein freies Mandat handelt und alle Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses die Aufgaben von Bundestag und Bundesrat im Fall des Art. 115e Abs. 1 GG einheitlich wahrnehmen (s. u. Rn. 37 f.), ist von einem grundsätzlich gleichen Status aller Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses auszugehen. Daher wird man auch den Bundesratsmitgliedern im Gemeinsamen Ausschuss – trotz fehlender Verweisung – die Privilegien der Art. 46 f. GG, Immunität, Indem­ nität und ein Zeugnisverweigerungsrecht, zugestehen müssen.26 5. Verfassungsrechtliche Bedenken

14

Gegen die Schaffung eines einheitlichen Organs aus Bundestags- und Bundesratsmitglie­ dern sind verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden. Diese Vermischung von Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats im Gemeinsamen Ausschuss sei wegen des von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Bundesstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 1 GG problematisch.27 Allerdings verlangt Art. 79 Abs. 3 GG lediglich eine grundsätz­ liche Beteiligung der Länder an der Bundesgesetzgebung, macht jedoch keine bestimmten Vorgaben über den Modus der Mitwirkung (hierzu § 3 Rn. 26).28 Gerade im Verteidigungsfall

22

Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 53a, Rn. 24. Schick, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundes­ republik Deutschland, § 58, Rn. 26. 24 Hierzu Evers, AöR 91 (1966), 1 (6), der in der Weisungsfreiheit eine Verlagerung der politischen Entscheidung von der Landesregierung in das politische Gewissen des jeweiligen Mitglieds sieht. 25 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 168. 26 Schick, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bun­ desrepublik Deutschland, § 58, Rn. 27; Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 53a, Rn. 34. 27 So z.B Emmelius, in: Sterzel, Kritik der Notstandsgesetze, 1968, S. 118 (156 f.). 28 Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 12; Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 53a, Rn. 6. 23

B. Zusammensetzung und innere Ordnung

327

ist die Fähigkeit zu einer raschen Entscheidung der gesetzgebenden Organe notwendig, sodass eine Zusammenfassung und einheitliche Willensbildung hier sinnvoll erscheint, die zudem gerade geeignet ist, die Mitwirkung der Bundesländer an der Gesetzgebung sicherzustellen.29 Auch die Gewichtung der Anteile von Bundestags- und Bundesratsvertretern im Gemeinsamen Ausschuss von 2:1 ist nicht zu beanstanden, lässt sich der höhere Anteil an Bundestagsmit­ gliedern doch mit Blick auf die direkte demokratische Legitimation der Bundestagsmitglieder rechtfertigen. Art. 53a GG ist also mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar.

II. Innere Ordnung Bildung und Verfahren des Gemeinsamen Ausschusses werden in wesent­ lichen Teilen durch die Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss (GOGA)30 und nicht durch die Verfassung geregelt.31 Das Grundgesetz enthält in Art. 53a  Abs.  1  S.  4  GG eine Ermächtigung an den Bundestag, mit Zustim­ mung des Bundesrats eine Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss zu beschließen. Diesem Regelungsauftrag ist der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats mit Beschluss der Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss nachgekommen.32

15

Im Gegensatz zu Bundestag und Bundesrat steht dem Gemeinsamen Ausschuss also keine Geschäftsordnungsautonomie zu (s. auch § 1 Rn. 98; beachte jedoch § 19 GOGA – s. u. Rn. 18).33 Dies widerspricht tendenziell der Qualifikation des Gemeinsamen Ausschusses als Verfassungsorgan, an welche bei einer Gesamt­ schau aber dennoch festzuhalten ist (s. o. Rn. 1 f.).

16

Die Ermächtigung an den Bundestag (und den Bundesrat) in Art. 53a Abs. 1 S. 4 GG und die damit verbundene Versagung der Geschäftsordnungsautonomie für den Gemeinsamen Ausschuss lässt sich nicht mit der Erwägung rechtfertigen, dass der Gemeinsame Ausschuss im Falle seiner Aktivierung sofort handlungsfähig sein müsse und nicht erst mit der Aus­ arbeitung und dem Beschluss seiner Geschäftsordnung befasst werden solle. Richtig daran ist, dass es zweckmäßig ist, schon in Friedenszeiten eine Geschäftsordnung für den Gemein­ samen Ausschuss zu erlassen. Allerdings ist der Gemeinsame Ausschuss ein ständig präsentes Organ (s. schon oben Rn. 1); er könnte sich folglich durchaus bereits in Friedenszeiten eine Geschäftsordnung selbst geben. Die Kompetenz von Bundestag (und Bundesrat) zum Erlass

17

29

Evers, AöR 91 (1966), 1 (7). Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschusses v. 23.7.1969 (BGBl. 1, 1969, S. 1102) zul. geänd. d. G. v. 20.7.1993 (BGBl. I, S. 1500). 31 Deutliche Kritik an dieser Regelungstechnik bei Schick, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Par­ lamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, § 58, Rn. 26. 32 Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss v. 23.7.1969 (BGBl. I, S. 1102), zul. geänd. d. G. v. 20.7.1993 (BGBl. I, S. 1500). 33 So Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 53a, Rn. 41; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 13; Th. I. Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (621), begreift Art. 53a Abs. 1 S. 4 GG – wenig überzeugend – als einen verfassungsunmittelbaren Eingriff in die sonst bestehende Geschäftsordnungsautonomie. 30

328

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

einer Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss ist also eher als Kontrollinstrument gegenüber dem Gemeinsamen Ausschuss zu begreifen34 und wird dessen Charakter als (bloßes) Ersatzorgan gerecht.

18

Eine eigenständige Änderung der Geschäftsordnung durch den Gemeinsamen Ausschuss selbst ist nur nach Feststellung des Verteidigungsfalls unter den zusätz­ lichen Voraussetzungen des Art. 115e Abs. 1 GG (s. u. Rn. 37, 39 i.Vm. Rn. 32 ff.) möglich. Nach dieser Feststellung ist er berechtigt, die Rechte von Bundestag und Bundesrat, also auch den Beschluss seiner Geschäftsordnung nach Art. 53a Abs. 1 S. 4 GG, einheitlich wahrzunehmen (so auch ausdrücklich § 19 GOGA).35

19

Die Geschäftsordnung ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Abschnitt (§§ 1–9 GOGA) werden seine Zusammensetzung, seine Einberufung und das Verfahren in Friedenszeiten geregelt. Dieser Abschnitt der Geschäftsordnung befasst sich insbesondere mit der Wahl bzw. Bestimmung der Mitglieder und der stellvertre­ tenden Mitglieder des Ausschusses (§§ 2, 4 GOGA) sowie mit ihrem Ausscheiden (§§ 3, 4 Abs. 1 S. 2 GOGA). Den Vorsitz im Gemeinsamen Ausschuss hat der Bun­ destagspräsident (§ 7 GOGA). Er beruft die Mitglieder zu Informationssitzungen ein und unterrichtet hierüber die Bundesregierung (§ 8 GOGA).

20

Der zweite Abschnitt betrifft Verfahrensbestimmungen für die Tätigkeit des Gemeinsamen Ausschusses nach seinem Eintritt in die Rechte von Bundestag und Bundesrat, also im Verteidigungsfall (§§ 10–19 GOGA). Im Übrigen bestimmt § 18 Abs. 1 GOGA, dass die Geschäftsordnung des Bundestags in Ermangelung von Regelungen in der GOGA subsidiär Anwendung findet.

21

Die Beratungen des Gemeinsamen Ausschusses sind nicht öffentlich (§ 10 S. 1 GOGA) – hierin liegt eine Parallele zu den anderen Ausschüssen in Bundesrat und Bundestag (§ 69 GOBT, § 37 Abs. 2 S. 1 GOBR, s. dazu § 2 Rn. 113). Da es sich beim Gemeinsamen Ausschuss aber eben um ein (Not-)Parlament handelt, wird diese Parallelität teilweise scharf kritisiert: Sie sei mit dem verfassungsrechtlich garantierten Öffentlichkeitsprinzip der Parlaments­ arbeit nicht vereinbar; es hätte hierzu einer verfassungsrechtlichen Verankerung bedurft.36 Die Abkehr von dem Grundsatz der Öffentlichkeit parlamentarischer Arbeit für die Sitzun­ gen des Gemeinsamen Ausschusses sei jedenfalls in diesem vollumfänglichen Ausschluss auch nicht damit zu rechtfertigen, dass in seinen Sitzungen aufgrund des Verteidigungsfalls überwiegend Themen behandelt würden, die der Geheimhaltung unterlägen. Vielmehr hätte § 10 GOGA nur die Möglichkeit des Öffentlichkeitsausschlusses auf Antrag vorsehen dür­ fen.37 Andere halten dagegen, der Verteidigungsfall stelle mit seinen besonderen Umstän­ den sowie erhöhten Sicherheits- und Geheimhaltungsvorkehrungen einen Ausnahmefall dar,

34

Vgl. Emmelius, in: Sterzel (Hrsg.), Kritik der Notstandsgesetze, 2. Aufl. 1969, S. 118 (136): „Rest an Einfluß“ von Bundestag und Bundesrat auch nach Aktivierung der operativen Kompetenzen des Gemeinsamen Ausschusses (hierzu unten Rn. 30 ff.). 35 Vgl. Th. I. Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (621). 36 Delbrück, DÖV 1970, 229 (234); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 169, Fußn. 28. 37 Delbrück, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 23. Lfg. 1969, Art. 115e, Rn. 61 ff.

C. Aufgaben und Befugnisse

329

der die Abweichung vom Grundsatz der Öffentlichkeit parlamentarischer Arbeit zu recht­ fertigen vermag.38 Weitere Regelungen der GOGA betreffen die Abstimmungsmodalitäten im Gemeinsamen Ausschuss, so z. B. seine Beschlussfähigkeit in § 12 GOGA sowie die Mehrheitserfordernisse zur Beschlussfassung (§ 13 GOGA). Der Gemeinsame Ausschuss entscheidet – wie auch der Bundestag – grundsätzlich mit Abstimmendenmehrheit (§ 13 Abs. 1 GOGA; s. § 1 Rn. 118). Für bestimmte Handlungen des Gemeinsamen Ausschusses sieht freilich das Grund­ gesetz selbst (qualifizierte) Mehrheitserfordernisse vor, so beispielsweise für die Feststellung des Verteidigungsfalls, wenn diese ausnahmsweise durch den Gemeinsamen Ausschuss selbst erfolgt (Art. 115a Abs. 2 GG; s. u. Rn. 36).

22

Der Gemeinsame Ausschuss unterliegt nicht der Diskontinuität, sodass seine Mitglieder bis zur Bestellung neuer Mitglieder durch den neuen Bundestag im Amt bleiben (vgl. § 2 Abs. 1 u. § 4 Abs. 1 GOGA).39

23

C. Aufgaben und Befugnisse I. Allgemeines Der Gemeinsame Ausschuss ist als Verfassungsorgan mit gestuften Zuständigkeiten konzipiert: Während sich seine Befugnisse in Friedenszeiten im We­ sentlichen auf einen Unterrichtungsanspruch gegenüber der Bundesregierung be­ schränken, lebt seine Machtfülle im Verteidigungsfall auf. Zu jedem Zeitpunkt ist er jedoch als Verfassungsorgan gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zur Durchsetzung seiner Rechte organstreitbefugt.

24

II. In Friedenszeiten Als ständig präsentes Organ besteht der Gemeinsame Ausschuss auch in Frie­ denszeiten. Insbesondere sind für Friedenszeiten Informationssitzungen vorgese­ hen (§ 8 Abs. 1 GOGA). In Friedenszeiten sind die Befugnisse des Gemeinsamen Ausschusses allerdings gem. Art. 53a Abs. 2 S. 1 GG auf einen Unterrichtungsan­ spruch gegenüber der Bundesregierung beschränkt, dem die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen nachzukommen hat. Inhaltlich umfasst dieser Unterrichtungsanspruch alle Planungen der Bundesregierung für den Verteidigungsfall. Dieser Unterrichtungspflicht kann sich die Bundesregierung nicht mit dem

38

Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Stark, GG, 7. Aufl. 2008, Art. 53a, Rn. 26; Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 53a, Rn. 53; Robbers, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014 Art. 53a, Rn. 15 verlangt, dass der Gemeinsame Ausschuss in geeigneten Fällen die Öffent­ lichkeit herstellt. 39 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 28, S. 170.

25

330

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

Verweis auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit oder den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (s. dazu § 2 Rn. 187) entziehen. Die Unterrichtungen dienen der Vorbereitung des Gemeinsamen Ausschusses auf eine eventuelle Übernahme der Funktionen des Bundestags und des Bundesrats im Verteidigungsfall. Bei dem Unterrichtungsanspruch handelt es sich um ein verfassungsrechtlich verbürgtes und somit im Wege des Organstreitverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ein­ klagbares Recht. 26

Darüber hinaus hat der Gemeinsame Ausschuss auch ein Zitier- und Interpella­ tionsrecht: Er darf Mitglieder der Bundesregierung herbeizitieren und befragen (vgl. auch § 2 Rn. 282 zu entsprechenden Rechten des Bundestags).

27

Umstritten ist die Rechtsgrundlage des Zitier- und Interpellationsrechts des Gemeinsamen Ausschusses: Teilweise wird davon ausgegangen, dass dem Ge­ meinsamen Ausschuss dieses Recht gegenüber der Bundesregierung gem. Art. 43 Abs. 1, Art. 53 S. 1 GG und § 11 Abs. 2 GOGA zustehe.40 Dem ist jedoch zum einen entgegenzuhalten, dass jene Rechte dem Bundestag beziehungsweise dem Bundes­ rat als Organ zustehen. Sie können also nicht den Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat im Gemeinsamen Ausschuss zustehen. Ebenso wenig kann direkt auf das Zitier- und Interpellationsrecht der Ausschüsse von Bundestag und Bundes­ rat aus Art. 43 Abs. 1 und Art. 53 S. 2 GG abgestellt werden. Wie erwähnt, ist der Gemeinsame Ausschuss kein Unterorgan des Bundestags oder des Bundesrats (s. o. Rn. 1), sodass ihm die Rechte der Art. 43 Abs. 1 und Art. 53 S. 1 GG jeden­ falls nicht in direkter Anwendung zustehen können. Ausgangspunkt des Informationsanspruchs ist vielmehr Art. 53a Abs. 2 S. 1 GG: Zur effektiven Verwirk­ lichung der dort normierten Unterrichtungspflicht der Bundesregierung muss dem Gemeinsamen Ausschuss ein korrespondierendes Zitier- und Interpellationsrecht gegenüber der Bundesregierung zustehen. Hierzu können entweder in systemati­ scher Auslegung die Art. 43 Abs. 1, Art. 53 S. 1 GG herangezogen werden oder diese analog Anwendung finden. Danach steht dem Gemeinsamen Ausschuss als solchem ein Zitier- und Interpellationsrecht gegenüber der Bundesregierung zu. Ausdrücklich nicht beschnitten werden gemäß Art. 53a Abs. 2 S. 2 GG die Zitier­ rechte des Bundestags und seiner Ausschüsse.

28

Die Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses sowie ihre Stellvertreter haben auch in Friedenszeiten gem. § 6 GOGA sicherzustellen, dass sie jederzeit für den Bundestagspräsidenten, der gem. § 7 GOGA gleichzeitig Vorsitzender des Ge­ meinsamen Ausschusses ist, erreichbar sind. Diese Pflicht zur Erreichbarkeit der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses stellt für diese keine Residenzpflicht dar, kann einer solchen aber unmittelbar vor und während des Verteidigungsfalls angesichts der damit verbundenen Unwägbarkeiten gleich kommen.41 40

Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg., 2009, Art. 53a, Rn. 81; Dörr, in: Ep­ ping / Hillgruber, GG, 2. Aufl. 2013, Art. 53a, Rn. 26; Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 53a, Rn. 31; Krebs, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 53a, Rn. 20. 41 Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 53a, Rn. 56.

C. Aufgaben und Befugnisse

331

Der Gemeinsame Ausschuss kann damit im Kern als Verfassungsorgan in Wartestellung42 und in Reserve qualifiziert werden. Gleichwohl rechtfertigt sein verfassungsrechtlicher Unterrichtungsanspruch, den Gemeinsamen Ausschuss auch in Friedenszeiten als oberstes Bundesorgan zu qualifizieren.43 Seine passive Rolle darf der Gemeinsame Ausschuss in Friedenszeiten nicht verlassen.

29

III. Im Verteidigungsfall 1. Funktionsbeginn a) Voraussetzungen der Kompetenzerweiterung Über seine eben beschriebene informationell-vorbereitende Tätigkeit (s. o. Rn.  25 ff.) hinaus wird der Gemeinsame Ausschuss nur nach (ggf. auch: bei44) Feststellung des Verteidigungsfalls aktiv. Allerdings müssen auch im Vertei­ digungsfall zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein, damit die Kompetenzen des Gemeinsamen Ausschusses erweitert werden: Der Kompetenzübergang von Bundestag (und Bundesrat) auf den Gemeinsamen Ausschuss steht gem. Art.  115a Abs. 2, 115e Abs. 1 GG unter dem Vorbehalt der Versammlungs- oder Beschlussunfähigkeit des Bundestags. Ein handlungsfähiger Bundestag wird auch im Verteidigungsfall nicht suspendiert.45 Das Selbstversammlungsrecht von Bun­ destag (und Bundesrat) bleibt dementsprechend im Verteidigungsfall unberührt.46 Zudem gibt Art. 115l Abs. 1 GG dem Bundestag (und Bundesrat) die Kompetenz, Maßnahmen des Gemeinsamen Ausschusses „jederzeit“ aufzuheben (s. u. Rn. 42).

30

b) Feststellung des Verteidigungsfalls Nur ausnahmsweise hat der Gemeinsame Ausschuss die Zuständigkeit für die Feststellung des Verteidigungsfalls, die Regelzuständigkeit liegt vielmehr beim Bundestag: Grundsätzlich stellt gemäß Art. 115a Abs. 1 GG der Bundes­ tag auf Initiative der Bundesregierung und mit Zustimmung des Bundesrats den Verteidigungsfall fest. Stehen dem Zusammentritt des Bundestags allerdings un­ überwindliche Hindernisse entgegen oder ist er nicht beschlussfähig, so trifft der Gemeinsame Ausschuss diese Festlegung (Art. 115a Abs. 2 GG). Sind bei einem Angriff mit Waffengewalt sowohl der Bundestag als auch der Gemeinsame Aus­ schuss nicht in der Lage, sofort den Verteidigungsfall festzustellen, wird diese 42

S. bereits den Nachw. oben in Fußn. 8. Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 53a, Rn. 6. 44 Im Ausnahmefall des Art. 115a Abs. 2 GG wird der Gemeinsame Ausschuss bereits bei der Feststellung des Verteidigungsfalls aktiv, s. sogleich Rn. 31 ff. 45 Fritz, BayVbl. 1983, S. 72. 46 Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 4. 43

31

332

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

Feststellung gem. Art. 115a Abs. 4 S. 1 GG für den Zeitpunkt des Beginns des Angriffs fingiert. 32

Um der Reservefunktion des Gemeinsamen Ausschusses gerecht zu werden, kann er die Feststellung des Verteidigungsfalls gem. Art. 115a Abs. 2 GG nur unter folgenden engen materiellen Voraussetzungen vornehmen: zum einen Unabweis­ barkeit sofortigen Handelns sowie zum anderen Versammlungs-, also Funktions­ unfähigkeit oder Beschlussunfähigkeit des Bundestags.

33

Das unabweisbare Erfordernis eines sofortigen Handelns beschreibt eine Situation der Gefahr im Verzug; eine zeitliche Verzögerung der Feststellung des Verteidigungsfalls wäre mit einer Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland verbunden.47

34

Versammlungsunfähig und daher funktionsunfähig i. S. d. Art. 115a Abs. 2 GG ist der Bun­ destag, wenn er nicht in der Lage ist, rechtzeitig zu handeln; eine bloße Handlungsunwilligkeit reicht hingegen nicht aus.48 Der Fall des nicht rechtzeitigen Zusammentritts des Bundestags bezieht sich dabei – trotz gleicher Begrifflichkeit – nicht auf sein erstmaliges Zusammentreten i. S. v. Art. 39 GG (s. § 2 Rn. 200),49 sondern auf jede Situation, in welcher sich der Bundestag nicht in Sitzung befindet50.

35

Der Bundestag ist gem. § 45 Abs. 1 GOBT beschlussunfähig, wenn die Mehrheit der Mit­ glieder nicht im Saal anwesend ist.51 Allerdings ist für den Bereich des Art. 115a Abs. 2 GG von der sonst begründeten Praxis des Bundestags abzusehen, die Beschlussfähigkeit un­ abhängig von der anwesenden Mitgliederzahl zu vermuten, bis eine Beschlussunfähigkeit festgestellt wurde (vgl. § 45 Abs. 2 GOBT).52 Insofern bilden die Mehrheitserfordernisse in Art. 115a Abs. 1 S. 2 GG einen eindeutigen Maßstab: Der Bundestag hat die Feststellung des Verteidigungsfalls mit mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder zu beschließen. Ist er man­ gels anwesender Mitglieder hierzu nicht in der Lage, ist der Bundestag beschlussunfähig i. S. d. Art. 115a Abs. 2 GG.

36

Auch die formellen Anforderungen an die Feststellung des Verteidigungsfalls durch den Gemeinsamen Ausschuss sind qualifiziert: Gemäß Art. 115a Abs. 2 GG ist „ein[e] Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit [der] Mitglieder“ des Gemeinsamen Ausschusses erforderlich. Hier kom­ biniert das Grundgesetz ein qualifiziertes Abstimmendenmehrheitserfordernis mit einem Mitgliedermehrheitserfordernis (s. dazu § 1 Rn. 116 ff.).53

47

Epping, in: Maunz / Dürig, 64. Lfg. 2012, Art. 115a, Rn. 78. Herzog / Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 64. Lfg. 2012, Art. 53a, Rn. 69. 49 So aber Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 115e, Rn. 2; ders., a. a. O., Art. 115a, Rn. 4. 50 Vgl. Epping, in: Maunz / Dürig, GG, 64. Lfg. 2012, Art. 115a, Rn. 80, m. w. N. 51 Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 115e, Rn. 2; Schmidt-Radefeldt, in: Epping / Hillgruber, BeckOK GG, 26. Ed. 2015, Art. 115e, Rn. 6. 52 Epping, in: Maunz / Dürig, GG, 64. Lfg. 2012, Art. 115a, Rn. 81. 53 Kritisch zu der hiermit ermöglichten „Selbstinvestitur“ des Gemeinsamen Ausschusses: Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 115e, Rn. 4. 48

C. Aufgaben und Befugnisse

333

2. Einzelne Aufgaben und Befugnisse im Verteidigungsfall a) Ein-Kammer-Notparlament Für die Dauer der Handlungsunfähigkeit des Bundestags im Verteidigungs­ fall hat der Gemeinsame Ausschuss die Stellung von Bundestag und Bundesrat und nimmt deren Rechte einheitlich wahr (Art. 115e Abs. 1 GG). Er hat somit die Funktion eines Notparlaments i. w. S. Es erfolgt ein Übergang vom (annähernden) Zwei-Kammer-System in Friedenszeiten (näher dazu § 3 Rn. 51 ff.) auf ein EinKammer-System im Verteidigungsfall.

37

Die Aufgaben und Befugnisse des Gemeinsamen Ausschusses verwirklichen parlamentarische Funktionen (ausführlich § 2 Rn. 51 ff.), so insbesondere die Gesetzgebungsfunktion (s. u. Rn. 39 ff.), die Kreationsfunktion (s. u. Rn. 43 f.) und die Regierungskontrollfunktion (s. u. Rn. 45).

38

b) Gesetzgebung Grundlage der Organkompetenz des Gemeinsamen Ausschusses zur Gesetzge­ bung im Verteidigungsfall ist Art. 115e Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 77 Abs. 1, Art. 115d GG). Demnach steht die Kompetenz des Gemeinsamen Ausschusses zur Gesetz­ gebung unter dem Vorbehalt der Versammlungs- und Beschlussunfähigkeit des Bundestags (zu diesen Tatbestandmerkmalen bereits oben Rn. 32 ff.). Die Gesetzgebungsfunktion des Gemeinsamen Ausschusses wird in Art. 115e Abs. 2, Art. 115g, Art. 115k Abs. 1, 2 und Art. 115l Abs. 1 GG näher ausgeformt und v. a. formell und materiell begrenzt.

39

Aus verbandskompetenzieller Sicht (Zuständigkeit von Bund oder Ländern) ist zu berücksichtigen, dass der Gemeinsame Ausschuss neben den regulären Bundes­ gesetzgebungskompetenzen (v. a. gemäß Art. 70 ff. GG) auch die in Art. 115c GG erweiterten Gesetzgebungskompetenzen des Bundes (insbesondere Ausdehnung auf Landesgesetzgebungskompetenzen – Art. 115c Abs. 1 S. 1 GG) wahr­ nimmt. Da im Gemeinsamen Ausschuss keine Trennung oder getrennte Abstim­ mung von Mitgliedern aus Bundestag und Bundesrat stattfindet, ist es möglich, dass die Vertreter des Bundesrats beim Erlass von Gesetzen, die im Normalfall als Zustimmungsgesetz zu erlassen wären und daher einem absoluten Vetorecht des Bundesrats unterfallen würden (dazu § 3 Rn. 191), überstimmt werden können.54

40

Andererseits ist die Gesetzgebungskompetenz des Gemeinsamen Ausschusses verschiedentlich inhaltlich beschränkt. Nach Art. 115e Abs. 2 GG ist er daran ge­ hindert, verfassungsändernde Gesetze zu erlassen, durch Gesetz Hoheitsrechte

41

54

Hierzu kritisch (aus verfassungsrechtspolitischer Sicht) Herzog, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 57, Rn. 33.

334

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

auf die Europäische Union oder zwischenstaatliche Einrichtungen nach Art. 23 Abs. 1 S. 2, Art. 24 Abs. 1 GG zu übertragen oder nach Art. 29 GG die Neugliederung des Bundesgebiets zu betreiben. Der Gemeinsame Ausschuss darf die Stellung und die verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht beeinträchtigen (Art. 115g S. 1 GG). Der Gemeinsame Ausschuss kann wei­ terhin nur im Einverständnis mit den Verfassungsrichtern das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Bundesverfas­ sungsgerichts ändern (Art. 115g S. 2 GG). 42

Die vom Gemeinsamen Ausschuss erlassenen Gesetze unterliegen einem Auf­ hebungsvorbehalt: Der Bundestag kann außerdem mit Zustimmung des Bundes­ rats jedwedes vom Gemeinsamen Ausschuss verabschiedete Gesetz noch wäh­ rend des Verteidigungsfalls ohne Einhaltung eines förmlichen Verfahrens durch schlichten Beschluss aufheben (Art. 115l Abs. 1 S. 1 GG). Die Initiative hierzu kann auch vom Bundesrat ausgehen, indem er eine Befassung des Bundestags hie­ rüber verlangt (Art. 115l Abs. 1 S. 2 GG). In jedem Fall treten spätestens sechs Monate nach Ende des Verteidigungsfalls die durch den Gemeinsamen Aus­ schuss beschlossenen Gesetze und die hierauf gestützten Verordnungen außer Kraft (Art. 115k Abs. 2 GG). c) Neuwahl des Bundeskanzlers, Misstrauensvotum

43

Auch im Verteidigungsfall kann die Notwendigkeit einer Neuwahl des Bun­ deskanzlers eintreten. Ist der Bundestag an der Ausübung dieser Kompetenz aus Art. 63 GG (dazu § 7 Rn. 32 ff.) gehindert, steht dem Gemeinsamen Ausschuss in Wahrnehmung der Aufgaben des Bundestags gem. Art. 115h Abs. 2 S. 1 GG auch die Neuwahl des Bundeskanzlers auf Vorschlag des Bundespräsidenten zu. Der Gemeinsame Ausschuss entscheidet dabei gem. Art. 115h Abs. 2 S. 1 GG – wie auch der Bundestag im Normalfall gem. Art. 63 Abs. 2 GG (s. § 7 Rn. 52) – mit Mitgliedermehrheit. Als einheitliches Organ (s. Rn. 13, 40) führt der Gemeinsame Ausschuss auch die Kanzlerwahl einheitlich, d. h. nicht nach Bänken (Bundestags­ mitglieder, Bundesratsmitglieder) getrennt, durch.55

44

Der Gemeinsame Ausschuss kann durch Wahl eines Nachfolgers dem Bundeskanzler sein Misstrauen aussprechen (Art. 115e Abs. 1 GG i. V. m. Art. 67  GG, Art. 115h Abs. 2 S. 2 GG). Nötig ist dafür gemäß Art. 115h Abs. 2 S. 2 GG eine Zweidrittelmehrheit; die für das reguläre konstruktive Misstrauensvotum (Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG) ausreichende Kanzlermehrheit (s. § 7 Rn. 52) genügt hier also nicht.

55

Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 115 h, Rn. 11.

D. Ausblick 

335

d) Regierungskontrolle Ausdruck der Regierungskontrollfunktion des Gemeinsamen Ausschusses ist Art. 115f Abs. 2 GG: Demnach steht dem Gemeinsamen Ausschuss ein Unterrichtungsanspruch gegenüber der Bundesregierung zu; dieser bezieht sich auf bestimmte exekutive Maßnahmen im Verteidigungsfall, nämlich auf etwaige Einsätze der Bundespolizei „im gesamten Bundesgebiet“ und auf Weisungen der Bundesregierung an Stellen der Landesverwaltung. Weitere Kontrollbefugnisse des Gemeinsamen Ausschusses lassen sich aus der Klausel des Art. 115e Abs. 1 GG i. V. m. Art. 43 Abs. 1 GG etc. ableiten.

45

D. Ausblick Durch seine Gesetzgebungs-, Kreations- und Regierungskontrollfunktion (s.  Rn. 39 ff.) soll der Gemeinsame Ausschuss im Verteidigungsfall die Fortset­ zung der Parlamentsarbeit mit größtmöglicher Kontinuität gewährleisten.56 Hin­ ter seiner Einrichtung steht das – aus Gründen der Gewaltenteilung sowie aus demokratietheoretischen Gründen begrüßenswerte – Bestreben, die Staatslei­ tung im Verteidigungsfall nicht ausschließlich der Regierung zu überlassen57. Die Konzipierung des Gemeinsamen Ausschusses als Gegengewicht und Kontrollorgan gegenüber der Exekutive im Verteidigungsfall58 ist auch historisch begründet: Er soll einen Gegenentwurf zum weitreichenden Notverordnungsrecht und der damit verbundenen Machtfülle des Reichspräsidenten und der Reichsregierung in der Weimarer Republik in Kriegszeiten darstellen und so eine Aushebelung demo­ kratischer Grundsätze verhindern.

46

Es ist sicherlich fragwürdig, ob der Gemeinsame Ausschuss zu einer umfassen­ den Erfüllung der ihm zugesprochenen Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen im Verteidigungsfall tatsächlich in der Lage wäre:59 Bedenken an der Funktionsfähigkeit und Durchschlagskraft des Handelns des Gemeinsamen Ausschusses im ‚Ernst‘-Fall ergeben sich u. a. aus seiner – trotz Informationssitzungen in Frie­ denszeiten (s. o. Rn. 25) – mangelnden Arbeitsroutine sowie aus seiner geringen Größe und seiner Zusammensetzung60, ist er doch nicht wesentlich größer als die Bundesregierung selbst. Außerdem fehlt es ihm an einem unterstützenden Ver­ waltungsunterbau. Käme es zu einer Aktivierung des Gemeinsamen Ausschusses, könnte ihn dies deshalb faktisch leicht auf eine rein bestätigende Rolle der Exeku­ tivmaßnahmen beschränken. Zum Teil wird ein weiteres Hindernis für die Prakti­ kabilität der Regelungen zum Gemeinsamen Ausschuss in ihrer hohen Komplexität

47

56

BVerfGE 84, 304 (336). Vgl. die Nachw. oben in Fußn. 9. 58 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 177. 59 Vgl. auch Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 4. 60 Vgl. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 53a, Rn. 4. 57

336

§ 4  Gemeinsamer Ausschuss

gesehen.61 Sicherlich zeichnen sich die Regelungen zum Gemeinsamen Ausschuss nicht durch einfache Verständlichkeit aus; dies liegt nun aber in der komplexen Re­ gelungsmaterie der Wehrverfassung begründet.62 Gleichzeitig sorgt jedoch die Ins­ titution des Gemeinsamen Ausschusses für eine zumindest teilweise Verschiebung der Verantwortung von der Exekutive hin zum Gemeinsamen Ausschuss63 und trägt nicht zuletzt auch einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Wert (s. o. Rn. 3). Schrifttum: Amann, Verfassungsrechtliche Probleme des Gemeinsamen Ausschusses nach Art. 53a Abs. 1 GG, 1970; Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2020; Delbrück, Kritische Bemerkungen zur Geschäfts­ ordnung des Gemeinsamen Ausschusses, DÖV 1970, S. 229 ff.; Emmelius, Der Gemeinsame Ausschuß, in: Sterzel (Hrsg.), Kritik der Notstandsgesetze, 1968, S. 118 ff.; Evers, Die perfekte Notstandsverfassung, AöR 91 (1966), S. 1 ff.; Fritz, Handlungsbereich und Tätigkeitsdauer des Gemeinsamen Ausschusses im Verteidigungsfall, BayVbl. 1983, S. 72 ff.; Kaiser, Ausnah­ meverfassungsrecht, 2020; Schäfer, Die lückenhafte Notstandsverfassung. Kritische Bemer­ kungen zur dritten Regierungsvorlage, in: AöR 93 (1968), S. 37 ff.; Schick, Der Gemeinsame Ausschuß, in: Schneider / Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesre­ publik Deutschland, § 58; Th. I. Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, AöR 128 (2003), S. 608 ff.; A. Schwerdtfeger, Krisen­gesetzgebung, 2018.

61

Vgl. (zur Notstandsverfassung überhaupt) Schäfer, AöR 93 (1968), 37 (80); Hesse, Grund­ züge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 763; dazu referierend, nicht affirmativ Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 178 f. 62 Vgl. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 178 f.: „Verrechtlichung“ als „Voraus­ setzung einer Verrechtsstaatlichung“. 63 Vgl. die Nachw. oben in Fußn. 9.

§ 5 Bundespräsident Übersicht A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

I. Historische Entwicklung des Amts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 1. Monarchische Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 2. Reichspräsident als „Ersatz-Monarch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 3. Bundespräsident als Gegenentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 4. Bisherige Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 5. Amtssitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 6. Staatsoberhaupt der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346



II. Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2. Repräsentationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3. Integrationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 4. „Staatsnotarielle“ Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 5. Reservefunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351



III. Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Verhältnis zum Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Verhältnis zum Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 3. Verhältnis zur Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 4. Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

B. Wahl des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

I. Wählbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354



II. Wahlverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356



III. Eidesleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

I. Status, Besoldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359



II. Amtszeit und Amtsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360



III. Inkompatibilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362



IV. Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364



V. Vertretung des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 1. Bundesratspräsident als Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 2. Voraussetzungen der Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 3. Umfang der Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368



VI. Bundespräsidialamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

338

§ 5 Bundespräsident

D. Aufgaben und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370

I. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370



II. Außenvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 2. Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 3. Beglaubigung und Empfang der Gesandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 4. Sonstige völkerrechtliche Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376



III. Einbindung in die Regierungsbildung und Regierungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . 376 1. Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2. Ernennung und Entlassung der Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 3. Befugnisse in Regierungskrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 4. Genehmigung der Geschäftsordnung der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . 379 5. Informationen durch die Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379



IV. Einbindung in die Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 2. Einbindung in das normale Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 a) Ausfertigung und Verkündung der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 b) Umfang der Prüfungsbefugnis des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . 381 3. Funktionen im Gesetzgebungsnotstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384



V. Kompetenzen im Verteidigungsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385



VI. Ernennung der Bundesrichter, Bundesbeamten, Offiziere, Unteroffiziere . . . . 386



VII. Begnadigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387



VIII. Festsetzung der Staatssymbole, Ordensverleihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389



IX. Gesetzlich zugewiesene Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390



X. Prozessuale Rechtsstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391



II. Gegenzeichnungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 1. Geschichte und Funktionen des Gegenzeichnungserfordernisses . . . . . . . . 392 2. Gegenzeichnungspflichtige Anordnungen und Verfügungen . . . . . . . . . . . 394 3. Person des Gegenzeichnenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 4. Form der Gegenzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 5. Rechtswirkungen der Gegenzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398



III. Präsidentenanklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 2. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 3. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 4. Möglichkeit der einstweiligen Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

F. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

A. Allgemeines

339

A. Allgemeines Der Bundespräsident ist das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland.1 Mit dieser Bezeichnung wird der Bundespräsident gleichsam vom Ausland her betrachtet, denn der Begriff des Staatsoberhauptes ist weniger Rechtsbegriff des geltenden deutschen Staatsrechts, sondern vor allem ein solcher des Völkerrechts,2 das diesen Begriff ursprünglich vor allem an den früher fast allgemein verbreiteten Monarchien ausgeprägt hat. Der Staat handelte (formell) durch den Monarchen. Von innen betrachtet, ist der Bundespräsident – jedenfalls protokol­larisch – das höchste Verfassungsorgan des Staates (s. dazu § 1 Rn. 167 ff.). Weil das Amt des Bundespräsidenten mit nur wenig Entscheidungskompetenzen ausgestattet ist, zählt er aber zugleich zu den weniger bedeutenden Verfassungsorganen (neben der Bundesversammlung und dem Gemeinsamen Ausschuss3).

1

Wie den anderen Verfassungsorganen (außer dem Bundesverfassungsgericht und der Bun­ desversammlung) widmet das Grundgesetz auch dem Bundespräsidenten einen eigenen Ab­ schnitt. Der V. Abschnitt des Grundgesetzes enthält demgemäß Aussagen über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (Art. 54 GG), über die Inkompatibilitäten des Amts (Art. 55 GG), den bei Amtsantritt zu leistenden Eid (Art. 56 GG), die Stellvertretung des Bundespräsidenten (Art. 57 GG), das Erfordernis der Gegenzeichnung seiner rechtsver­ bindlichen Akte durch ein Mitglied der Bundesregierung (Art. 58 GG) sowie über seine Befug­ nisse im Bereich der auswärtigen Gewalt (Art. 59 GG), der Personalgewalt und Begnadigung des Bundes (Art. 60 GG). Schließlich sieht Art. 61 GG die Möglichkeit vor, den Präsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen. Daneben finden sich in anderen Abschnitten des Grundgesetzes zahlreiche weitere Befugnisse des Bundespräsidenten (insbesondere in den Abschnitten zur Bundesregierung, zur Gesetzgebung des Bundes und zum Verteidigungsfall; s. dazu die Auflistung in Rn. 106).

2

Die Stellung und die Funktionen des Bundespräsidenten im Gefüge der Ver­ fassungsorgane gehen aus dem Text des Grundgesetzes nur unzureichend hervor.

3

So liegt beispielsweise bei unbefangener Lektüre von Art. 60 Abs. 1 GG der Schluss nahe, das Personalwesen des Bundes sei eine Domäne des Bundespräsidenten. Wenn man das Er­ fordernis der Gegenzeichnung (Art. 58 GG) dazuliest, wird zumindest deutlich, dass der Bun­ despräsident bei Ernennungsakten nie Entscheidungen gegen den Willen der Bundes­regierung treffen kann. Doch es geht noch deutlich darüber hinaus: Der Bundespräsident trifft nicht

4

1

Ausführlich zum Begriff des Staatsoberhaupts Wiegand, AöR 133 (2008), 476; die Be­ zeichnung des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt ist – auch ohne ausdrückliche Nennung im Grundgesetz – weitestgehend anerkannt, vgl. etwa Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepub­ lik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 200; Kimminich, VVDStRL 25 (1967), 2 ff.; ablehnend soweit ersichtlich nur Schlaich, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. II, 2. Aufl. 1998, § 49, Rn. 91 ff. 2 Deutlich Kunig, Jura 1994, 217 (221). Auch die Allgemeine Staatslehre kennt die Bezeich­ nung Staatsoberhaupt, fraglich ist allerdings, inwieweit dieser Verwendung Rechtscharakter beizumessen ist. 3 Die (bisherige) Bedeutungslosigkeit des Gemeinsamen Ausschusses hängt freilich nicht mit einem geringen Kompetenzumfang zusammen, sondern damit, dass seine Kompetenzen nur im Verteidigungsfall aufleben (s. § 4 Rn. 2, 29).

340

§ 5 Bundespräsident

einmal eigene Auswahlentscheidungen, sondern er ist in der Regel verpflichtet, die von anderen Organen vorgelegten Entscheidungen formal nachzuvollziehen (auch wenn sich das etwa für die Bundesbeamten nicht aus dem Text des Grundgesetzes ergibt). Ihm bleibt nur die Befugnis zur Rechtskontrolle (Bundespräsident als „Staatsnotar“). Dass ihm neben diesen „staatsnotariellen“ Aufgaben und seinen wenigen echten (Reserve-)Kompetenzen vor allem eine repräsentative und integrierende Funktion zukommt, ergibt sich nicht aus dem Text des Grundgesetzes. Insbesondere fehlt eine allgemeine Funktions- oder Aufgabenzuweisung, wie sie sich etwa in Art. 50 GG für den Bundesrat findet.

5

Oftmals hat sich die Dogmatik rund um den Bundespräsidenten deshalb vor dem Hintergrund verfassungsgeschichtlicher und staatstheoretischer Überlegungen ent­ wickelt. Deutlich wird das etwa an der von der h. M. geforderten Neutra­lität des Bundespräsidenten: Schon für das Amt des Reichspräsidenten nach der Weima­ rer Reichsverfassung wurde – zurückgehend auf die Lehre Benjamin Constants (1767–1830)4 – namentlich von Carl Schmitt vertreten, der Präsident sei „pouvoir neutre“ und „Hüter der Verfassung“, er bilde einen „ruhenden Pol in der Verfas­ sung“.5 Auch wenn weder das ursprüngliche, monarchische Konzept der „pouvoir neutre“ von Constant, noch die antipluralistisch und antiparlamentarisch motivierte Betonung des Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung“ nach Schmitt viel mit der im Grundgesetz angelegten Stellung des Bundespräsidenten zu tun haben: Die alte Idee der Neutralität des Staatsoberhaupts wirkt fort und wird auf den Bundes­ präsidenten übertragen.

6

Der Begriff der Neutralität ist dabei schillernd und bedeutet für die Amtsinhaber eine Gratwanderung. Er sollte jedenfalls nicht zu rigoros im Sinne eines KeinePosition-Beziehens begriffen werden, sondern Bundespräsidenten dürfen und sol­ len eigene politische Akzente setzen (s. näher zur Frage der Neutralität Rn. 30).

7

Die Zuordnung des Bundespräsidenten zu einer der drei Staatsgewalten ist umstritten. Teilweise wird vertreten, dass der Bundespräsident angesichts seiner vielfältigen Funktionen und Mitwirkungsbefugnisse nicht in das Raster der drei herkömmlichen Gewalten passe, sondern eine „vierte Gewalt“6, eine Gewalt „sui ge­ neris“7 darstelle. Richtigerweise ist der Präsident aber der Exekutive zuzuordnen.8 Dafür sprechen Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG: Die Grundrechts- und Gesetzesbindung soll natürlich auch für den Bundespräsidenten gelten, was aber 4

In seinem Hauptwerk „De la nature du pouvoir royal dans une monarchie c­ onstitutionnelle“, in: Principes de Politique, Oeuvres, 1957, S. 1078 ff. Das Constant’sche Modell war auf die monarchische Verfassung der Zweiten Französischen Republik gemünzt, in deren Gefüge der seiner vormals absoluten Macht beraubte, neutralisierte König „pouvoir neutre“ sein sollte. 5 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 2. Aufl. 1969, S. 137 f. 6 Pernthaler, in VVDStRL 25 (1967), S. 151 (hinsichtl. des österreichischen Präsidenten). 7 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 212. 8 So auch Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 1; Butzer, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 3; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 12; v. Arnauld, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 54, Rn. 1. Für eine Zuordnung zu allen drei Funktionen: Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn 10.

A. Allgemeines

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die Zuordnung zu einer der dort genannten drei Gewalten erfordert. Angesichts der historischen Wurzeln im Amt des Monarchen liegt die Zuordnung zur Exeku­ tive nahe. Ist der Bundespräsident auch im Bereich der Exekutive zu verorten, ge­ hört er doch nicht der Regierung an. Er ist vielmehr gerade ein nichtregierender Staatspräsident (im Gegensatz z. B. zum Präsidenten der USA oder dem franzö­ sischen Präsidenten).9

I. Historische Entwicklung des Amts 1. Monarchische Wurzeln Das Amt des Bundespräsidenten hat seine historischen Wurzeln in der Position des Monarchen. Schon im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation fand sich mit dem Wahlkaisertum eine interessante Ähnlichkeit. Die Wahl des Kaisers er­ folgte durch die sieben und später neun Kurfürsten und galt auf Lebenszeit. Die letzte Kaiserwahl (Franz II.) fand 1792 und damit einige Jahre vor dem Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 statt. Schon weil das Alte Reich kein Staat im modernen Sinne war, ist allerdings bei Vergleichen mit heutigen Staatsoberhäup­ tern Vorsicht geboten.

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In den deutschen Einzel- wie Gesamtstaaten (mit Ausnahme der Stadtstaaten) wurde das Staatsoberhaupt bis zum Jahr 1918 nach dem dynastischen Prinzip, also durch Erbfolge entsprechend der familiären Zugehörigkeit zu einem Herrscher­ haus, regelmäßig auf Lebenszeit bestimmt. Nach dem monarchischen Prinzip sollte die Staatsgewalt vollständig und einheitlich durch den Monarchen als Sou­ verän ausgeübt werden. Paradigmatisch dafür ist Art. 57 der Wiener Schlussakte10, wo sich auch – anders als in der Reichsverfassung von 1871, der Weimarer Reichs­ verfassung und dem Grundgesetz – im Normtext der Begriff des Staatsoberhaupts wiederfindet. Letztlich spiegelt sich die Vorstellung, die Staatsgewalt müsse sich in einer einheitlichen, natürlichen Person (dem Monarchen) konzentrieren, in der Metapher vom (Ober-)Haupt des Staates wider.11 Freilich war (selbst in Zeiten des Absolutismus) der Monarch nicht völlig frei in der Ausübung der Staatsgewalt, sondern hatte etwa oftmals die Stände in der Entscheidungsfindung zu berück­ sichtigen. Mit der zunehmenden Konstitutionalisierung entstand im 19. Jahrhun­ dert der konstitutionelle Dualismus zwischen monarchischem Prinzip einerseits

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9 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 211; Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 6. 10 Die Wiener Schlussakte (WSA) vom 15. Mai 1820 ist eine Ergänzung und Fortentwick­ lung der Deutschen Bundesakte (DBA) vom 8. Juni 1815, durch die der Deutsche Bund ge­ gründet wurde. 11 Vgl. aber auch Wiegand, AöR 133 (2008), 476 (483 ff.), der die Körpermetapher in einen breiteren historischen und geistesgeschichtlichen Kontext stellt und vor einer zu direkten Ver­ knüpfung mit dem monarchischen Prinzip warnt.

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§ 5 Bundespräsident

und durch die Verfassung eingeräumter Volksvertretung andererseits. Vor allem Gesetzgebung und Haushaltswesen unterlagen so zunehmend der Mitwirkung der Volksvertretungen.12 Zudem entwickelte sich im 19. Jahrhundert das Instrument der Gegenzeichnung, wonach Regierungsakte des Monarchen einer Gegenzeich­ nung durch den zuständigen Minister bedurften.13 Die Regierungen selbst wurden vom Monarchen ernannt und entlassen. 10

Im Deutschen Reich von 1871 oblag dem Kaiser als Staatsoberhaupt etwa die völker­ rechtliche Vertretung des Reichs (Art. 11 RV), die Ernennung des Reichskanzlers (Art. 15 S. 1 RV), die Ausfertigung der Gesetze (Art. 17 S. 1 RV) und die Ernennung und Entlassung der Reichsbeamten (Art. 18 RV). Die Parallelen zu den grundgesetzlichen Befugnissen des Bun­ despräsidenten sind groß. Der zentrale Unterschied besteht aber darin, dass dem Kaiser in diesen Bereichen oftmals eigene Entscheidungsspielräume zustanden, während die entspre­ chenden Befugnisse des Bundespräsidenten weitestgehend auf das formale Nachvollziehen der Sachentscheidungen anderer Organe reduziert sind. Machtpolitisch entscheidend ist vor allem, dass der Reichskanzler nicht nur formal vom Kaiser zu ernennen und entlassen war, sondern dass dem Kaiser auch die inhaltliche Entscheidung darüber zustand. Diese Abhängigkeit der Regierung von der Billigung des Kaisers führte auch dazu, dass das Gegenzeichnungserfor­ dernis (Art. 17 S. 2 RV) einen völlig anderen Charakter hatte als das des Art. 58 GG – obwohl der rechtliche Mechanismus identisch ist (s. u. Rn. 177). Dem Kaiser standen aber auch recht­ liche Befugnisse zu, die das Grundgesetz nicht mehr dem Staatsoberhaupt zuweist: Besonders bedeutsam ist insofern die Befehls- und Kommandogewalt über das Reichsheer (Art. 64 S. 1 RV), die nach damals herrschender Meinung sogar dem Gegenzeichnungserfordernis entzo­ gen war.14 Da­neben oblag dem Kaiser etwa auch die Überwachung des Vollzugs der Reichs­ gesetze durch die Gliedstaaten (Art. 17 S. 1 RV)15 und die Vollstreckung der Reichsexekution (entspricht dem Bundeszwang nach Art. 37 GG) gegen die Gliedstaaten (Art. 19 S. 2 RV).

11

Letztlich hing die Rolle des Kaisers stark von dessen Amtsverständnis ab. Wilhelm I. überließ die Regierungsgeschäfte weitgehend seinem Reichskanzler Bismarck. Ihm wird der Ausspruch „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein“ zugeschrieben. Wilhelm II. hingegen nutzte die in der Verfassung angelegte Abhängigkeit der Regierung 12 Das unklare Verhältnis zwischen monarchischem Prinzip und selbstbewusster werden­ den Volksvertretungen offenbarte sich in aller Deutlichkeit im Verfassungskonflikt um die preußische Heeresreform 1859–1866, in dem sich letztlich der preußische König gegen das Abgeordnetenhaus durchsetzte. S. dazu näher § 2 Rn. 11. 13 Vgl. beispielhaft Art. 4 des bayerischen Gesetzes zur Verantwortlichkeit der Minister vom 4. Juni 1848: „Der König wird Seine Regierungs-Anordnungen jedesmal von den Ministern oder von den zeitlichen Stellvertretern gegenzeichnen lassen, in deren Geschäftskreis die Sache einschlägt. Ohne solche Gegenzeichnung sind die besagten Anordnungen nicht vollziehbar.“ Ähnliche Regelungen fanden sich etwa in Art. 44 der preußischen Verfassung von 1850 und Art. 17 S. 2 der Reichsverfassung von 1871. 14 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 1003; an­ ders aber etwa Meyer / Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 277 f. (Anmerkung f). 15 Art. 17 S. 1 RV regelte die Frage der Organzuständigkeit für die Reichsaufsicht. Dabei war auch der Bundesrat maßgeblich eingebunden (Art. 7 S. 1 Nr. 3 RV). Davon zu trennen ist die Frage nach Umfang und Modus der Aufsichtsbefugnisse, die dem Reich als Verband gegenüber den Gliedstaaten zustanden. Dazu aus der damaligen Literatur Triepel, Die Reichs­ aufsicht, 1917.

A. Allgemeines

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vom Kaiser dazu, in hohem Maße in die Tagespolitik einzugreifen (sogenanntes Persönliches Regiment16).

2. Reichspräsident als „Ersatz-Monarch“ Die Weimarer Reichsverfassung sah erstmals in Deutschland auf der Ebene des Gesamtstaats ein republikanisches Staatsoberhaupt vor: den vom Volk direkt und auf Zeit gewählten (Art. 41, 43 Abs. 1 WRV) Reichspräsidenten.17 Die Stellung des neuen republikanischen Oberhauptes im Verfassungsgefüge knüpfte allerdings stark an die des Kaisers an, was dem Amt des Reichspräsidenten die teilweise spöt­ tisch gemeinte Bezeichnung als „Ersatz-Monarch“ einbrachte.18 Erhalten blieb insbesondere, dass ihm die Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers (Art. 53 WRV) nicht nur als formale Befugnis zustand, sondern auch in der Sache in seinem Ermessen lag. Allerdings konnte der Reichstag jetzt den Rücktritt von Regierungs­ mitgliedern erzwingen (Art. 54 WRV). Die Weimarer Republik hatte also eine semipräsidentielle Regierungsform, d. h. sie stellte ein gemischt präsidentiell-par­ lamentarisches System dar, wie es sich etwa auch im heutigen Frankreich findet.19

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Die Reichsregierung trat also – verglichen mit der Verfassungssituation von 1871 – in eine stärkere Abhängigkeit vom Parlament, so dass es nicht verwundert, dass regelmäßig von Par­ lamentskoalitionen getragene (oder als Minderheitsregierung tolerierte) Regierungen ernannt wurden. Es bestand aber auch die Möglichkeit der sogenannten Präsidialkabinette, von der ab 1930 Gebrauch gemacht wurde: Fehlten den von Reichspräsident Hindenburg ernannten Reichskanzlern Brüning (1930–1932), Papen (1932) und Schleicher (1932–1933) parlamenta­ rische Mehrheiten für Gesetzgebungsvorhaben, so wurden diese kurzerhand vom Reichsprä­ sidenten im Rahmen seiner außerordentlichen „diktatorischen“20 Befugnis des Art. 48 Abs. 2 WRV als Notverordnungen erlassen.21 Der Reichspräsident konnte ferner den Reichstag auflösen (Art. 25 WRV)22 sowie Volksentscheide über vom Reichstag beschlossene Gesetze veranlassen (Art. 73 Abs. 1 WRV). Wie schon der Kaiser führte er den Oberbefehl über die Streitkräfte (Art. 47 WRV) und vollstreckte die Reichsexekution (Art. 48 Abs. 1 WRV).

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Im nationalsozialistischen Deutschland war Hitler das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs: Durch das Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen

14

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Vgl. eingehend zum Begriff des Persönlichen Regiments und dessen wechselnden Deutun­ gen Hull, in: Röhl (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, 1991, S. 3. 17 Hierzu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 65 ff. 18 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI Rev. Nachdr. d. 1. Aufl. 1993, S. 309. 19 Demgegenüber ist im echten Präsidialsystem, wie es sich paradigmatisch in den USA, aber etwa auch in vielen Staaten Südamerikas findet, die Regierung alleine dem Präsidenten politisch verantwortlich. Das Parlament kann nur aufgrund rechtlicher Verfehlungen eine Amtsenthebung betreiben („Impeachment“). 20 Anschütz, WRV, 14. Aufl. 1933, Art. 48, Anm. 6. 21 S. zum Notverordnungsrecht auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 66 f. 22 Diese Befugnis des Reichspräsidenten geht sogar über die vergleichbare Norm des Art. 24 S. 2 RV hinaus, nach der die Auflösung des Reichstags neben einer Zustimmung des Kaisers eines entsprechenden Beschlusses des Bundesrats bedurfte.

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§ 5 Bundespräsident

Reichs23 wurde mit Wirkung zum Todeszeitpunkt des letzten gewählten Reichs­ präsidenten Hindenburg am 2.8.1934 das Amt des Reichspräsidenten mit dem Amt des Reichskanzlers (das Hitler bereits innehatte) zusammengelegt,24 ein Stück Machtteilung innerhalb der Staatsleitung also beseitigt. 3. Bundespräsident als Gegenentwurf 15

Die Gestaltung des V.  Abschnitts des Grundgesetzes ist maßgeblich Verfassungsgestaltung aus Vergangenheitserfahrung.25 Weil die verfassungsrechtliche und politische Bedeutung des Reichspräsidenten im Staatsgefüge der Weimarer Republik als mitursächlich26 für die nationalsozialistische Machtergreifung und Herrschaft galt, hat das Grundgesetz von einer dem Reichspräsidenten vergleich­ baren Rechtsstellung des Bundespräsidenten bewusst Abstand genommen.27 Dem neuen Staatsoberhaupt blieben nur noch mit wenig politischer Macht verbundene rechtliche Befugnisse erhalten. Insbesondere liegt im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung die (Aus-)Wahl des Bundeskanzlers jetzt beim Parlament, nicht mehr beim Präsidenten. Auch wenn als Staatsoberhaupt ein Präsident verbleibt, hat die Bundesrepublik Deutschland damit kein (semi-)präsidentielles, sondern ein parlamentarisches Regierungssystem. Auch die Auflösung des Parlaments, die in der Weimarer Republik im Ermessen des Reichspräsidenten lag (Art. 25 Abs. 1 WRV), wurde auf zwei eng gefasste Konstellationen (s. u. Rn. 123, 129) beschränkt. Der Bundespräsident hat ferner kein Notverordnungsrecht, sondern nur noch die Möglichkeit, (auf Antrag der Bundesregierung und mit Zustimmung des Bundesrats) für ein bestimmtes Gesetzesvorhaben den Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG – s. u. Rn. 148) zu erklären. Die Entscheidung, ob in diesen Situatio­ nen der politischen Krise der Bundestag aufgelöst bzw. der Gesetzgebungsnotstand erklärt wird, liegt allerdings beim Bundespräsidenten und zählt damit zu seinen wenigen verbliebenen echten (Reserve-)Befugnissen. Entzogen wurde dem Prä­ sidenten die Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr, die in Frie­ denszeiten beim Verteidigungsminister bzw. im Kriegsfall beim Bundeskanzler liegt (Art. 65a, 115b GG). 23

Gesetz v. 1.8.1934, RGBl. I, S. 747. Zu dem Gesetz wurde nachträglich eine Volksabstimmung durchgeführt. Laut offiziellem Ergebnis stimmten 89,9 % dafür, bei einer Stimmbeteiligung von 95,7 %, vgl. http://www.sudd. ch/event.php?lang=de&id=de011934 (letzter Abruf 24.08.2020). 25 Vgl. dazu Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheits­ erfahrung, 1993, S. 25. 26 Die Hauptursachen für das Versagen des Verfassungsrechts lagen allerdings nicht im in­ stitutionellen Bereich, so zutreffend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 197. Vgl. zur Rolle des Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg: Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955, S. 429 ff., 511 ff. 27 Vor diesem Hintergrund wurde im Parlamentarischen Rat die Notwendigkeit eines Staats­ oberhaupts für das „Provisorium“ Bundesrepublik Deutschland bestritten (vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 190). 24

A. Allgemeines

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Daneben hat man, ebenfalls um eine starke Stellung vergleichbar dem Reichs­ präsidenten in der Weimarer Republik zu vermeiden, die Direktwahl des Präsidenten beseitigt.28 Die Amtszeit wurde von sieben auf fünf Jahre reduziert und eine Beschränkung auf eine einmalige Wiederwahl geschaffen (Art. 54 Abs. 2 GG). Angesichts der ohnehin schon relativ machtarmen Ausgestaltung des Amts erscheinen derartige Schutzmechanismen eher redundant. Naheliegender wä­ ren Begrenzungen zum Beispiel hinsichtlich der Wiederwahl eher beim nunmehr dominierenden Amt im Verfassungsgefüge: dem des Bundeskanzlers gewesen.29

16

Die grundgesetzliche Konzeption eines relativ schwachen Bundespräsidenten als Gegenmodell zum starken Reichspräsidenten der Weimarer Republik hat zu einer Perspektive auf das Amt geführt, die oft vorrangig auf die Unterschiede zum Reichspräsidenten abstellt und beschreibt, was der Präsident gerade nicht (mehr) ist. Diese historisch-negative Deutung ist durchaus berechtigt und zutreffend, genügt aber nicht. Es muss auch Aufgabe der Rechtswissenschaft sein, positiv zu umreißen, was das Amt des Bundespräsidenten ausmacht (s. dazu unten Rn. 24 ff.).

17

Die insgesamt relative Schwäche des Bundespräsidenten steht nicht nur im Gegensatz zum Weimarer Reichspräsidenten, sondern auch zu den starken Präsidenten anderer Staaten, z. B. Frankreichs,30 Russ­lands oder der USA31. Umgekehrt hat der Bundespräsident immer noch beachtliche Befugnisse, wenn man sein Amt mit den Befugnissen der verbliebenen Mo­ narchen in Europa vergleicht.

18

4. Bisherige Bundespräsidenten Die bisherigen Bundespräsidenten waren ausschließlich Männer, es gab aber auch einige aussichtsreiche Kandidatinnen.32 Der erste Bundespräsident war Theo­ dor Heuss (FDP) für zwei Amtszeiten von 1949 bis 1959. Ihm folgte für beinahe zwei volle Amtszeiten von 1959 bis zu seinem Rücktritt 1969 Heinrich Lübke (CDU). Gustav Heinemann (SPD) hatte für eine Amtszeit von 1969 bis 1974 das 28

Vgl. JöR N. F. 1 (1951), S. 400. Vgl. Kloepfer, Herrschaft auf Zeit – das Amt des Bundeskanzlers, FAZ v. 18.02.2016, S. 6. 30 Die von de Gaulle geprägte Verfassung der Fünften Republik Frankreichs von 1958 hat in dem vom Volk auf sieben Jahre zu wählenden und unbeschränkt wiederwählbaren Staats­ präsidenten eines der mächtigsten Staatsoberhäupter in Westeuropa konzipiert: Er ernennt den Premierminister und andere Mitglieder hochrangiger Verfassungsorgane (Art. 8, 13, 56), leitet die Kabinettssitzungen (Art. 9), kann die Nationalversammlung auflösen (Art. 12), hält den Oberbefehl über die Streitkräfte (Art. 15), besetzt die Bereiche der Außenpolitik (Art. 14, 52) und Verteidigungspolitik (einschließlich der Entscheidung über den Einsatz atomarer Waffen). 31 Der Präsident der Vereinigten Staaten ist Staatsoberhaupt und (mangels Premierminister, Kanzler oder Ministerpräsident) Regierungsspitze in Personalunion, verfügt im Verhältnis zum Kongress über Initiativ- und Vetorechte und hat mit den „executive orders“ auch nicht zu unterschätzende eigene Rechtsetzungsbefugnisse. 32 Insgesamt standen bis 2017 bei neun Bundesversammlungen auch Frauen zur Wahl. Vier Kandidatinnen erreichten über 40 % der Stimmen: Annemarie Renger (1979), Dagmar Schipanski (1999) und Gesine Schwan (2004, 2009). 29

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Amt des Bundespräsidenten inne, ebenso Walter Scheel (FDP) von 1974 bis 1979 und Carl Carstens (CDU) von 1979 bis 1984. Richard v. Weizsäcker (CDU) über­ nahm zwei Amtszeiten. Er wurde 1994 von Roman Herzog (CDU) abgelöst, der sich einer Wiederwahl nicht stellte. 1999 wurde Johannes Rau (SPD) Bundesprä­ sident der Bundesrepublik Deutschland. Ihm folgte 2004 Horst Köhler (CDU), der zwar 2009 wiedergewählt wurde, aber bereits 2010 zurücktrat. Auch die Amtszeit seines Nachfolgers Christian Wulff (CDU) endete 2012 vorzeitig durch Rücktritt. Ihm folgte für eine Amtszeit der ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagen­ behörde Joachim Gauck (parteilos). 2017 wurde Frank-Walter Steinmeier (SPD) als sein Nachfolger gewählt. 20

Bisher sind fast ausschließlich Parteimitglieder Bundespräsidenten geworden (Ausnahme Gauck) und zwar regelmäßig nur Mitglieder der größeren Parteien (Ausnahme Heuss und Scheel als FDP-Mitglieder). Mehr oder weniger haben aber alle Bundespräsidenten bisher parteipolitische Zurückhaltung walten lassen und insbesondere während ihrer Amtszeit keine Parteifunktionen wahrgenommen.

21

Aufgrund der weitgehend machtlosen Gestaltung des Amts haben amtierende Bundeskanzler (insbesondere Adenauer) es bisher immer abgelehnt, am sich abzeichnenden Ende ihrer Amtszeit für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren. Der Machtverlust wäre zu krass ausgefallen. Bestimmte Bundespräsidentenwahlen (z. B. die von Heinemann) wur­ den von manchen auch als Signal für einen politischen Herrschaftswechsel in Bundestag und Bundesregierung verstanden.

5. Amtssitz 22

Ihren Amtssitz hatten die Bundespräsidenten zunächst in der Villa Hammerschmidt in Bonn. Aus symbolischen Gründen wurde die Wahl des Bundesprä­ sidenten durch die Bundesversammlung einige Zeit in West-Berlin abgehalten – gegen Proteste der DDR und der Sowjetunion (s. a. § 6 Rn. 7). 1994 machte der damalige Bundespräsident v. Weizsäcker in Folge der Wiedervereinigung das Schloss Bellevue in Berlin zum ersten Amtssitz (s. a. § 1 Rn. 109). Die Villa Ham­ merschmidt fungiert seitdem noch als zweiter Amtssitz des Bundespräsidenten. 6. Staatsoberhaupt der DDR

23

In der DDR war Staatsoberhaupt zunächst der Staatspräsident (Art. 101 DDR-​ Verfassung von 1949). Nach dem Tod des einzigen Amtsinhabers Wilhelm Pieck im Jahr 1960 entschied man sich für ein kollektives Staatsoberhaupt nach sowjeti­ schem Vorbild, den Staatsrat (Art. 66 der geänderten DDR-Verfassung33). Weder 33

Die Einrichtung des Staatsrats erfolgte durch das verfassungsändernde Gesetz über die Bildung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik v. 12.9.1960, GBl. DDR 1960 I, S. 505.

A. Allgemeines

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der Staatspräsident noch der spätere Staatsrat hatten indessen die Macht, der SED etwas Substanzielles entgegenzusetzen.

II. Funktionen 1. Allgemeines Eine abstrakte Betrachtung der Funktionen des Bundespräsidenten im Verfas­ sungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht allein auf recht­liche Kriterien beschränken. Wirkmächtig wird das Amt nicht entscheidend durch die von der Verfassung zugewiesenen „harten“ rechtlichen Befugnisse, sondern eher durch „weiche“, nicht normierte und schwerlich normierbare Faktoren wie z. B. die Gestaltung und Akzentuierung öffentlicher Reden sowie symbolischer Amtshandlungen.

24

Gleichwohl kann eine Systematisierung der Aufgaben des Bundespräsidenten erfolgen. Danach lassen sich repräsentative, integrative, staatsnotarielle und so­ genannte Reservefunktionen des Bundespräsidenten unterscheiden. Die Normen im Grundgesetz zum Bundespräsidenten betreffen vor allem die staatsnotarielle Funktion und die Reservefunktionen. Amtsprägend sind aber eher die Repräsen­ tations- und Integrationsfunktion.

25

2. Repräsentationsfunktion Der Bundespräsident repräsentiert die Bundesrepublik Deutschland nach innen und nach außen,34 d. h. er verkörpert bei vielen Anlässen im In- und Ausland den deutschen Staat als solchen. Das entspricht nicht nur der historischen Rolle des Staatsoberhaupts, sondern als einziges „Ein-Personen-Organ“35 unter den Ver­ fassungsorganen (s. § 1 Rn. 142) ist der Bundespräsident dafür auch besonders gut geeignet.

26

Ein Teilaspekt der Repräsentation, die völkerrechtliche Vertretung, ist verfas­ sungsrechtlich geregelt (Art. 59 GG, s. dazu Rn. 109 ff.). Zur völkerrechtlichen Ver­ tretung zählt insbesondere die Befugnis zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge (Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG) sowie die Beglaubigung deutscher Diplomaten im Ausland und der Empfang ausländischer Diplomaten im Inland (Art. 59 Abs. 1 S. 3 GG). In der Staatspraxis freilich sind die völkerrechtlichen Befugnisse des Bundesprä­ sidenten in allen wichtigen Fragen vollständig auf die Bundesregierung delegiert

27

34

Heun, in Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 15; anders noch Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 54, Rn. 15, der die Repräsentationsfunktion des Bundespräsidenten auf das Außenverhältnis beschränkt wissen will. 35 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54 Rn. 7: „Ein-Mann-Organ“.

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oder ist jedenfalls deren Ausübung in der Sache durch die Bundesregierung vor­ gegeben (s. u. Rn. 110 f., 113). Doch auch unterhalb der Schwelle völkerrechtlich relevanter Handlungen repräsentiert der Bundespräsident als Staatsoberhaupt die Bundesrepublik Deutschland nach außen, etwa durch Staatsbesuche, Empfang von Staatsgästen, Grußbotschaften, Glückwunsch- und Kondolenzschreiben etc. 28

Die Bezeichnung „Bund“ in Art. 59 GG hat über den rechtlichen Gehalt der Norm hinaus zu der Frage geführt, ob der Bundespräsident den Bund oder die Gesamtheit von Bund und Ländern zu repräsentieren hat.36 Allerdings verkennt bereits die Fragestellung, dass der bun­ desstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ein zweigliedriger Bundesstaatsbegriff37 zugrunde liegt und es „den Bund“ als eigene staatsrechtliche Ebene gerade nicht gibt. Als Bundesorgan hat der Bundespräsident die Bundesrepublik Deutschland insgesamt nach außen zu vertreten, nicht hingegen die Länder in ihrer Gesamtheit und schon gar nicht ein einzelnes Bundesland.38

3. Integrationsfunktion 29

Nicht nur obliegt es dem Bundespräsidenten, im Rahmen seiner Repräsentations­ funktion den Staat auch nach innen zu verkörpern (s. o. Rn. 26). Er soll die Einheit des Staates durch sein Wirken auch erhalten und fördern. Diese Funktion des Bundespräsidenten wird als Integrationsfunktion bezeichnet.39 Sie umfasst einer­ seits die politische Integration, also das Einhegen von auseinanderstrebenden Tendenzen innerhalb oder zwischen Verfassungsorganen sowie zwischen Bund und Ländern. Diese moderierende, vermittelnde Rolle wird der Bundespräsident vornehmlich in nichtöffentlicher Weise im Rahmen seiner informellen Kontakte zu den verschiedenen Beteiligten des Verfassungslebens wahrnehmen. Soweit dem Bundespräsidenten in Situationen der politischen Krise echte (Reserve-)Kompe­ tenzen zukommen (s. u. Rn. 35), hat er auch hier auf eine integrierende, die Betei­ ligten zusammenführende Ausübung zu achten. Daneben meint Integration auch gesellschaftliche Integration. Der Bundespräsident soll auf Ausgleich und Ver­ ständnis zwischen Bevölkerungsgruppen, sozialen Milieus, Ethnien, religiösen Gruppen, politischen Strömungen usw. hinwirken.40 Das tut er primär durch sein 36

Vgl. hierzu Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 54, Rn. 17; weniger differenziert bei Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 17; Fritz, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bon­ ner Kommentar (178. Aktualisierung, 2016) Art. 54, Rn. 53. 37 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 14 ff. 38 Ohne dass besondere Regelungen zum Staatsoberhaupt in den Länderverfassungen nie­ dergelegt worden wären, werden diese Funktionen durch die Ministerpräsidenten bzw. Re­ gierenden Bürgermeister wahrgenommen. Vgl. etwa Art. 50 LV-BW; Art. 47 Abs. 3 LV-Bay; Art. 103 Abs. 1 LV-He; Art. 35 Abs. 1 LV-Nds. 39 Herzog, in: Maunz / Dürig, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 13; Schlaich, in: Isensee / K irch­ hof, HbStR Bd. II, 2. Aufl. 1998, § 49 Rn. 55; Heun, Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54 Rn. 18 (Fn. 104); die Idee einer integrierenden Funktion des Staatsoberhaupts gründet auf Smends Konzept der „persönlichen Integration“, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 25 ff.; kritisch zur Integrationsfunktion van Ooyen, JöR 57 (2009), 235. 40 Diesem Ziel diente etwa wohl die – umstrittene – Äußerung des ehemaligen Bundes­ präsidenten Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland.

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öffentliches Wirken, vor allem durch Auftritte und Reden, aber etwa auch durch Schirmherrschaften für gemeinnützige Organisationen oder bei Ausübung seines Rechts auf Ordensverleihung. Bereits aus dieser vermittelnden und integrierenden Funktion resultiert die Neutralitätspflicht des Bundespräsidenten.41 In dieser Pflicht lebt die alte Idee vom Staatsoberhaupt als „pouvoir neutre“ zumindest ein Stück weit fort (dazu schon Rn. 5). Der Bundespräsident hat sich nicht nur neutral gegenüber parteipolitischen Interessen, sondern auch gegenüber den verschiedenen staatlichen Gewalten zu verhalten und zwar sowohl im Hinblick auf die horizontale wie auf die vertikale Gewaltenteilung.42 Das Konzept der Neutralität bleibt dabei schillernd. Klar um­ reißen ließe sich der Begriff der Neutralität allenfalls, wenn man ihn in einem strengen, eher formalen Sinn des Überhaupt-Keine-Position-Beziehens versteht. Dieses Verständnis eines neutralen Staatsoberhaupts lebt etwa die britische Köni­ gin Elizabeth II., die genauestens darauf achtet, öffentlich in politisch umstrittenen Fragen keine Position zu beziehen. Ein derartiger Neutralitätsbegriff würde aber zu einem blutleeren Präsidenten43 führen, der letztlich auf das Halten von Sonntags­ reden beschränkt wird. Der Bundespräsident – der sich im Gegensatz zur britischen Königin auch auf eine solide demokratische Legitimation berufen kann  – darf und soll auch eigene politische Akzente setzen, womit er zwangsläufig aber auch bestimmte politische Strömungen, Gruppen oder Personen affirmiert und deren Gegenpositionen negiert. Die Neutralitätspflicht gebietet ihm dabei aber zumindest eine diskursive Würdigung der Gegenpositionen, eine Mäßigung im Tonfall und eine zugrundeliegende Haltung des Respekts und der Toleranz.44 Jedenfalls und mindestens gefordert ist eine Distanz zum parteipolitischen Tagesgeschehen.

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Die erfolgreiche Wahrnehmung der Integrationsfunktion lebt von einem hohen Maß an persönlicher Integrität, Charisma und Intellekt des jeweiligen Amtsinha­ bers. Der Bundespräsident wirkt vor allem kraft seiner Persönlichkeit in öffent­ lichen Auftritten und informellen Kontakten und weniger kraft der mit seinem Amt verbundenen Befugnisse. Gleichwohl gibt die Autorität des Amts sowie die Stellung als Verkörperung des Staates bei gleichzeitiger Distanz zum (partei-)poli­

31

41

Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch sehr zurückhaltend, was die Annahme einer rechtlichen Neutralitätspflicht des Bundespräsidenten angeht (bzw. verneint jedenfalls deren gerichtliche Überprüfbarkeit): „Inwieweit er [der Bundespräsident] sich dabei am Leitbild eines ‚neutralen Bundespräsidenten‘ orientiert, unterliegt weder generell noch im Einzelfall gerichtlicher Überprüfung.“ (BVerfGE 136, 323 (335) – NPD-Äußerung). In dieser Entschei­ dung fordert das Bundesverfassungsgericht gleichwohl ein Mindestmaß an Neutralität vom Bundespräsidenten (dazu gleich Rn. 32), das aber eher aus Art. 21 GG (Chancengleichheit der Parteien) und nicht aus der Stellung des Bundespräsidenten abgeleitet wird. 42 Zur Gewaltenteilung Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 44 ff., 69 ff. 43 Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn 20. 44 Nuanciert und zutreffend zur Neutralität des Bundespräsidenten Nettesheim, in: Isensee / ​ Kirchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 20 ff.; umfassender zum Begriff der Neutra­ lität Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972; zum „Respekt vor politi­ schen Überzeugungen“ Kloepfer, VerwArch 2019, 419 (429).

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§ 5 Bundespräsident

tischen Geschehen den nötigen Rahmen, in dem diese Qualitäten der Person des Bundespräsidenten erst zum Ausdruck kommen und eine integrierende Wirkung entfalten können. Zu Recht wird von der „Persönlichkeitsoffenheit“ des Amts ge­ sprochen.45 Einem guten Bundespräsidenten kann es gelingen, die geistige Führung in der Staatsleitung zu übernehmen.46 32

Die Frage der Neutralitätspflicht bei Äußerungen des Bundespräsidenten lag in jüngerer Zeit auch dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor.47 Es ging um kritische Äußerungen des Bundespräsidenten Gauck über die NPD, weshalb auch Fragen der Gleichbehandlung im Rahmen von Art. 21 GG relevant waren. Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Bundes­ präsidenten dabei einen relativ großen Spielraum ein: Auf Parteien bezogene kritische Äuße­ rungen des Bundespräsidenten seien demnach grundsätzlich zulässig, solange sie erkennbar dem Gemeinwohl verpflichtet sind, nicht eine Partei um ihrer selbst willen bevorzugt oder ausgegrenzt wird und die Grenze zur Schmähkritik gewahrt ist.48 Demgegenüber fordert das Bundesverfassungsgericht von der Bundesregierung in parallel gelagerten Sachverhalten eine striktere Neutralität.49

33

Ein anderes Problem im Zusammenhang mit der Neutralitätspflicht ist die Frage nach der Gegenzeichnungsbedürftigkeit von Äußerungen des Bundespräsidenten. Nähme man eine solche an, so könnte die Neutralität des Bundespräsidenten auch anders aufgefasst werden: Nämlich so, dass er keine eigenen Auffassungen äußert, sondern sich stets an der Linie der Bundesregierung zu orientieren hat (eine entsprechende Ausübung des Gegenzeichnungsrechts durch die Bundesregierung vorausgesetzt). Nach heute herrschender Meinung ist eine Gegen­ zeichnungspflicht für Äußerungen des Bundespräsidenten aber zu verneinen (s. u. Rn. 183 f.).

4. „Staatsnotarielle“ Funktion 34

Von hervorgehobener rechtlicher Bedeutung sind die „staatsnotariellen“ Auf­ gaben des Bundespräsidenten. Denn mit ihrer Wahrnehmung bekundet er einen in den anderen Verfassungsorganen gefassten politischen Willen authentisch nach außen, so etwa mit der Ausfertigung der Gesetze nach Art. 82 GG und mit der Er­ nennung und Entlassung der Mitglieder der Bundesregierung nach Art. 63 Abs. 2 bzw. Art. 64 Abs. 1 GG. Insofern dient die „staatsnotarielle“ Funktion maßgeblich auch der Rechtssicherheit. Die begriffliche Anlehnung an die Aufgaben eines Notars bringt zum Ausdruck, dass die Handlungen des Bundespräsidenten zwar insofern rechtlich relevant sind, als sie Voraussetzung für die Wirksamkeit der je­ weiligen Akte sind, dass der Bundespräsident aber grundsätzlich keinen Einfluss auf deren Inhalte nehmen darf. Wie ein Notar hat er dabei allerdings auch auf die Einhaltung des Rechts zu achten. Insofern erwächst aus der Einbindung als „Staats­ notar“ auch eine rechtliche Kontrollfunktion des Bundespräsidenten. So kann er 45

Leisner, in: FS Broermann, 1982, S. 433 ff. Insbesondere v. Weizsäcker war dies zum Missfallen von Kohl gelungen. 47 BVerfGE 136, 323; ausführlich dazu Butzer, ZG 2015, 97. 48 BVerfGE 136, 323 (335 f.) – NPD-Äußerung. 49 BVerfGE 138, 102 (113 ff. ) – Äußerungsbefugnis der Bundesregierung. 46

A. Allgemeines

351

(und muss er) beispielsweise die Ernennung eines vom Bundeskanzler vorgeschla­ genen Bundesministers verweigern, wenn die rechtlichen Ernennungsvorausset­ zungen (s. § 7 Rn. 86) nicht vorliegen. Im Text des Grundgesetzes kommt die recht­ liche Kontrollfunktion des Bundespräsidenten kaum zum Ausdruck, sondern nur die Kontrolle des Bundespräsidenten durch die Bundesregierung (s. a. Rn. 4, 181). Umstritten ist die Reichweite der rechtlichen Kontrollbefugnis des Bundespräsi­ denten insbesondere bei der Ausfertigung von Bundesgesetzen (s. dazu Rn. 137 ff.). 5. Reservefunktionen In Fällen, in denen andere Verfassungsorgane ganz oder teilweise funktionsunfähig werden, kommen dem Bundespräsidenten ausnahmsweise auch selbständige politische Entscheidungsbefugnisse zu. Insofern spricht man von der Reservefunktion des Bundespräsidenten. In gewisser Hinsicht kann dabei der Bun­ despräsident zum Organ der Stärke in Zeiten der Schwäche werden. Als Beispiele seien die Befugnis zur Auflösung des Bundestags in den Fällen einer gescheiterten Bundeskanzlerwahl (Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG; s. dazu Rn. 123 und § 7 Rn. 65 ff.) bzw. einer negativ beantworteten Vertrauensfrage des Bundeskanzlers (Art. 68 GG; s. dazu § 7 Rn. 147 ff.) sowie die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 Abs. 1 GG; s. dazu Rn. 148) genannt. Bei der Ausübung seiner Reservebefugnisse muss der Bundespräsident seiner Integrationsfunktion gerecht werden: Während er seine integrierende Funktion im Normalfall als vermittelnder Moderator wahr­ nimmt (s. o. Rn. 29), erstarkt er in der politischen Krise zum Schiedsrichter.50 Wie ein Schiedsrichter muss er in der Ausübung der Reservebefugnisse unparteiisch und um Konfliktlösung bemüht sein.

35

Reservefunktionen können weit verstanden werden. Sie müssen nicht im Ver­ fassungstext explizit aufgeführt werden, dürfen diesem freilich auch nicht wi­ dersprechen. Zu den informellen Reservebefugnissen des Bundespräsidenten zählt insbesondere dessen politische Vermittlerrolle, die bei Konflikten zwischen Verfassungsorganen, bei schwierigen Regierungsbildungsprozessen usw. aktuell werden kann. So ist es etwa 2018 dem Bundespräsidenten Steinmeier gelungen, die SPD zu – letztlich erfolgreichen – Verhandlungen zur Bildung einer Großen Koalition (Merkel / Scholz) zu bewegen, obwohl die SPD nach der Bundestagswahl 2017 angekündigt hatte, nicht für eine Große Koalition zur Verfügung zu stehen.

36

50 In Anlehnung an die Begrifflichkeit bei Schlaich, in: Iseensee / K irchhof, HbStR, Bd. II, 2. Auflage 1998, § 49, Rn. 56, welcher freilich das Bild des Schiedsrichters (für den Normal­ fall) gerade abgelehnt.

352

§ 5 Bundespräsident

III. Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen 37

Der Bundespräsident ist richtigerweise der Exekutive zuzuordnen (s. o. Rn. 7). Er wird nur in Ausnahmefällen allein tätig, in den meisten Fällen sind seine Funktio­ nen und Befugnisse auf ein Zusammenwirken mit anderen Verfassungsorganen angelegt. Neben den rechtlichen Beziehungen zu den anderen Organen, die im Fol­ genden kurz dargestellt werden sollen, ist das Verhältnis zu den anderen Bundes­ organen in der Praxis auch durch eine Reihe von informellen Kontakten geprägt. Relativ eigenständig agiert der Bundespräsident bei seiner Teilnahme an der öf­ fentlichen Willens­bildung (Reden, Medien etc.) sowie  – eingeschränkter  – bei Staatsbesuchen. 1. Verhältnis zum Bundestag

38

Im Verhältnis zum Deutschen Bundestag (s. a. § 2 Rn. 43 f.) hat der Bundesprä­ sident eine Reihe von Einwirkungsmöglichkeiten. Der Bundespräsident hat nach dem Grundgesetz die Auf­gabe, dem Bundestag einen Kanzlerkandidaten zur Wahl vorzuschlagen (Art. 63 Abs. 1 GG). Er kann den Bundestag auflösen, wenn ein Kanzler­kandidat im Falle des Art. 63 Abs. 4 GG (wiederholter Versuch der Kanz­ lerwahl) nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt oder der Bundeskanzler mit einer Vertrauensfrage im Parlament scheitert (vgl. Art. 68 GG; s. dazu § 7 Rn. 146 ff.). Weiterhin kann der Bundespräsident die Einberufung des Bundestags verlangen (Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG). Schließlich ist er berechtigt, für einen Gesetzesvorschlag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats den Gesetzgebungsnotstand zu erklären (Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG; s. Rn. 148).

39

Daneben bestehen informelle Kontakte zum Deutschen Bundestag. Der Bun­ despräsident sucht regelmäßig das Gespräch mit Abgeordneten der Regierungsund Oppositionsfraktionen sowie des Bundestagspräsidiums und einzelner Aus­ schüsse. Zu besonderen Anlässen wie dem Gedenken an die Opfer des Holocaust oder bei Staatsakten ist der Bundespräsident im Bundestag anwesend. 2. Verhältnis zum Bundesrat

40

Der Bundesrat hat insofern für den Bundespräsidenten eine besondere Bedeu­ tung, als der Präsident des Bundesrats nach Art. 57 GG der Vertreter des Bundespräsidenten ist (s. u. Rn. 88 ff.). Im Übrigen bestehen kaum Berührungspunkte zum Bundesrat, was gerade die Wahl des Bundesratspräsidenten als Vertreter sinnvoll macht.

A. Allgemeines

353

3. Verhältnis zur Bundesregierung Der Bundespräsident als Staatsoberhaupt – aber auch als Teil der Exekutive51 – steht in einem engen Verhältnis zur Bundesregierung. Insbesondere werden alle Regierungsmitglieder (Bundeskanzler und Bundesminister) vom Bundes­ präsidenten ernannt und entlassen und erhalten von ihm ihre Ernennungs- bzw. Entlassungsurkunden. Er hat aber grundsätzlich keinen eigenen politischen Ge­ staltungsspielraum bei der Regierungsbildung (s. Rn. 123, 125). Nach Art. 58 S. 1 GG bedürfen Rechtsakte des Bundespräsidenten der Gegenzeichnung durch Mitglieder der Bundesregierung (s. u. Rn. 177 ff.). Im Interesse einer einheitlichen Staatsführung erfolgt ein regelmäßiger Austausch von Dokumenten und Berichten zwischen der Bundesregierung und dem Bundespräsidialamt (vgl. etwa §§ 5, 21 Abs. 2 GOBReg). Der Bundespräsident empfängt den Bundeskanzler zu regelmä­ ßigen Gesprächen, umgekehrt ist nach § 23 Abs. 1 GOBReg das Bundespräsidial­ amt bei Kabinettssitzungen vertreten.

41

4. Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht Der Bundespräsident ist unter der Geltung des Grundgesetzes nicht der ent­ scheidende „Hüter der Verfassung“ im Sinne von Carl Schmitt.52 Diese Aufgabe nimmt heute das Bundesverfassungsgericht wahr (s. § 8 Rn. 2, 41). Die aus seiner „staatsnotariellen“ Funktion erwachsende rechtliche Kontrollfunktion des Bun­ despräsidenten (s. o. Rn. 34) ist begrenzt und steht stets unter einem Vorbehalt der Letztentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht. Zu einer solchen Letztentscheidung kann es allerdings nur kommen, wenn einer der Beteiligten die Initiative für ein verfassungsgerichtliches Verfahren ergreift. Faktisch ist es aber häufig so, dass die anderen Verfassungsorgane von der Einleitung eines Organ­ streitverfahrens absehen, wenn der Bundespräsident seine Mitwirkung wegen rechtlicher Bedenken verweigert.53 Insofern sollten die Kontrollbefugnisse des Bundespräsidenten auch nicht unterbewertet werden. Allerdings dürfte der Res­ pekt der anderen Organe vor den Bedenken des Bundespräsidenten auch viel mit der Seltenheit zu tun haben, mit der der Bundespräsident – soweit von außen er­ kennbar – von seinen Kontrollbefugnissen Gebrauch macht.

51

Str., s. dazu oben Rn. 7. Kimminich, VVDStRL 25 (1966), 2 ff. (76 ff., 83), Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 38; Stein, ZaöRV 69 (2009), 249 (253); Wiegand, AöR 133 (2008), 475 (510); v. Arnauld, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 54, Rn. 11. 53 So ist beispielsweise bei keinem der Gesetze, deren Ausfertigung der Bundespräsident aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken verweigert hat, ein auf die Ausfertigung gerichte­ tes Organstreitverfahren eingeleitet worden, vgl. Butzer, in: Maunz / Dürig, GG, 73. Lfg. 2014, Art. 82, Rn. 150. 52

42

354 43

§ 5 Bundespräsident

Die Bundesverfassungsrichter leisten ihren Amtseid vor dem Bundespräsiden­ ten (§ 11 Abs. 1 BVerfGG) und nehmen von ihm ihre Ernennungs- und Entlassungsurkunden entgegen (§ 10 BVerfGG). Daneben bestehen auch hier informelle Kontakte zwischen dem Gericht und dem Bundespräsidenten.

B. Wahl des Bundespräsidenten 44

Der Bundespräsident wird in der Bundesrepublik Deutschland nicht unmittelbar vom Volk gewählt, sondern von der Bundesversammlung als eigenständigem Verfassungsorgan (s. zur Bundesversammlung § 6). Dementsprechend ist der Bun­ despräsident ein nur mittelbar demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan. Dem­ gegenüber wurde der Reichspräsident der Weimarer Republik nach Art. 41 Abs. 1 WRV „vom ganzen deutschen Volk gewählt“ (s. o. Rn. 12). Auf rechtspolitischer Ebene wird eine Direktwahl auch des Bundespräsidenten immer wieder diskutiert (s. auch Rn. 210),54 wie sie etwa auch in Frankreich55 oder in Österreich56 prakti­ ziert wird. Der Sache nach findet auch in den USA mehr oder weniger eine Direkt­ wahl des Präsidenten statt, die allerdings formal gesehen eine indirekte Wahl ist (zwischengeschaltete Wahlmänner) und nicht immer der US-weiten Mehrheit der Wählerstimmen („­popular vote“) folgt.

I. Wählbarkeit 45

Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG normiert für den künftigen Bundespräsidenten verfas­ sungsrechtlich drei Wählbarkeitsvoraussetzungen: Wählbar ist nur, wer erstens Deutscher i. S. d. Art. 116 GG ist, zweitens das Wahlrecht zum Bundestag besitzt und drittens das vierzigste Lebensjahr vollendet hat. Darüber hinaus lässt sich Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG eine weitere Wählbarkeitsvoraussetzung entnehmen, denn wer bereits zweimal in Folge zum Bundespräsidenten gewählt wurde, darf nicht in unmittelbarem Anschluss ein drittes Mal dieses Amt innehaben (s. näher Rn. 66 f.). Jenseits dieser Vorgaben sind weitere Wählbarkeitsvoraussetzungen nicht zulässig. 54

Zu dieser Diskussion s. Rütters, ZParl 2013, 276; Lörler, ZRP 2014, 209; Köhne, RuP 2008, 95; Seltenreich, KJ 1995, 238. 55 Vgl. für eine verfassungsvergleichende Untersuchung von Bundespräsident und fran­ zösischem Staatspräsidenten Vilain / Wendel, in: Marsch / Vilain / Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, 2015, S. 121 ff. (Rn. 75 ff. sowie zur Wahl insb. Rn. 95 ff.). 56 Ein Vergleich des österreichischen und des deutschen Bundespräsidenten findet sich bei Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, s. dort insb. S. 93 ff., 333 ff., 472 ff. Der Vergleich mit dem österreichischen Bundespräsi­ denten dürfte durchaus fruchtbar sein, denn die Rolle des österreichischen Bundespräsidenten ist der seines deutschen Pendants relativ ähnlich. Zwar ist der österreichische Bundespräsident rechtlich gesehen mit weiter reichenden Kompetenzen ausgestattet, in der Verfassungspraxis wird das Amt aber ähnlich zurückhaltend wie das des deutschen Bundespräsidenten ausgeübt (sogenannter „Rollenverzicht“).

B. Wahl des Bundespräsidenten

355

Auch aus der Inkompatibilitätsvorschrift des Art. 55 GG lassen sich keine weiteren Voraussetzungen für die Wählbarkeit ableiten, denn sie betrifft nur das Verhalten während der Amtszeit des gewählten Präsidenten. Die dynamische Verweisung auf das (aktive und passive57) Wahlrecht zum Bundestag (§§ 12 f., 15 BWahlG) führt über die sonstigen Voraussetzungen in Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG hinaus zu Einschränkungen der Wählbarkeit von Deutschen, die im Ausland leben, die unter Betreuung stehen, die durch Richterspruch58 vom aktiven oder passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind oder die nach §§ 63, 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind.

46

Nach h. M. führt ein nachträglicher Entfall der Wählbarkeitsvoraussetzungen zu einer vorzeitigen Erledigung des Amtes.59 Die Amtszeit endet in diesem Fall ipso iure. Somit kann neben einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Präsidentenanklage nach Art. 61 GG (dazu Rn. 194 ff.) theoretisch auch eine strafrechtliche Verurteilung60 oder die Be­ stellung eines Betreuers einer Amtsenthebung gleichkommen.

47

Das mit vierzig Jahren relativ hohe Mindestalter des Bundespräsidenten61 soll gewährleisten, dass nur solche Personen für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren, die über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung verfügen und deren Eignung sich nicht nur an ihren Bekundungen und Absichtserklärungen, sondern vor allem an ihren bisherigen beruflichen oder sonstigen Leistungen ausmachen lässt. In Anlehnung an diese Norm und die hinter ihr stehenden Ziele verlangt auch § 3 Abs. 1 BVerfGG die Vollendung des 40. Lebensjahres für die Wahl zum Bun­ desverfassungsrichter. Warum das Grundgesetz ein solches Mindestalter dann nicht auch für den Bundeskanzler vorschreibt, bleibt unerfindlich. Wirklich zeit­ gemäß sind solche Mindestaltersbestimmungen aber ohnehin nicht mehr.62

48

57

Dass sowohl auf das aktive als auch auf das passive Wahlrecht verwiesen wird, ist nicht ganz eindeutig. Nach der Terminologie des BWahlG wird nur das aktive Wahlrecht als „Wahlrecht“ bezeichnet (§ 12 BWahlG), das passive Wahlrecht hingegen als „Wählbarkeit“ (§ 15 BWahlG). Schon dass im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff des „passiven Wahl­ rechts“ geläufig ist, spricht dafür, dass auch dieses erfasst sein soll, wenn in Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG vom „Wahlrecht“ die Rede ist. Auch die besondere Bedeutung der persönlichen Inte­ grität des Bundespräsidenten (s. o. Rn. 31) spricht stark dafür, dass der Ausschluss der Wähl­ barkeit zum Bundestag auch zu einem Ausschluss der Wählbarkeit zum Bundespräsidenten führen soll. Vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 22 f. 58 Entweder als Nebenfolge im Strafrecht (§§ 45, 45a, 358 StGB) oder als Nebenfolge einer Grundrechtsverwirkung (§ 39 Abs. 2 BVerfGG). 59 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 3; v. Arnauld, in: v. Münch / ​ ­Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 54, Rn. 17; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 57. 60 Voraussetzung dafür ist allerdings die vorherige Aufhebung seiner Immunität, dazu unten Rn. 84 f. 61 Nach Art. 41 Abs. 2 WRV lag die Altersgrenze für den Reichspräsidenten nur bei 35 Jahren. 62 Vor dem Hintergrund der das Amt in vielen Facetten immer noch prägenden monarchi­ schen Wurzeln ist die Forderung eines Mindestalters für den Präsidenten bemerkenswert (in der Weimarer Republik betrug es 35 Jahre, Art. 41 Abs. 3 WRV). Denn unter dem monar­ chischen Prinzip gab es ein solches Mindestalter gerade nicht, sodass etwa Wilhelm II. mit

356

§ 5 Bundespräsident

II. Wahlverfahren 49

Die Wahl des Bundespräsidenten erfolgt durch die Bundesversammlung (s. zu deren Zusammensetzung § 6 Rn. 9 ff.) in bis zu drei Wahlgängen ohne Aussprache. Der genaue Ablauf der Wahl wird vom Grundgesetz recht detailliert normiert und durch die §§ 8 ff. BPräsWahlG noch weiter konkretisiert:63

50

Zunächst bestimmt Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG den Zeitraum, in dem die Bundes­ versammlung zusammenzutreten hat. Danach muss sie spätestens dreißig Tage vor Ablauf der fünfjährigen Amtszeit des bisherigen Bundespräsidenten zusam­ mentreten, damit sichergestellt ist, dass zum Ende der Amtszeit bereits ein neuer Bundespräsident gewählt ist. Sofern ein Bundespräsident vorzeitig aus dem Amt ausscheidet, hat die Bundesversammlung spätestens dreißig Tage nach der vor­ zeitigen Beendigung zusammenzutreten. Den Landesparlamenten stehen also in diesem Fall nur dreißig Tage zur Verfügung, um ihre Vertreter für die Bundes­ versammlung zu wählen.

51

Verantwortlich für die Einhaltung dieser Fristen ist der Bundestagspräsident (zu diesem § 2 Rn. 338 ff.), der die Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG einzuberufen und deren Sitzung auch zu leiten hat (§ 8 BPräsWahlG).64 Ihm ist dabei das Ordnungsrecht und die Polizeigewalt übertragen.65 Im Einzelnen gestaltet sich der Ablauf der Bundesversammlung wie folgt:66 – Eröffnungsrede des Sitzungsleiters, – Beschluss der Geschäftsordnung, Feststellung der Beschlussfähigkeit und Wahl der Schriftführer, – Kundgabe der eingegangenen Wahlvorschläge, Durchführung der Wahl und Be­ kanntgabe des Ergebnisses (ggf. auch zweiter und dritter Wahlgang)67, – Annahme der Wahl durch den Gewählten und kurze Ansprache des neuen Bun­ despräsidenten, – Erklärung des Sitzungsleiters, dass die Bundesversammlung beendet ist. 29 Jahren Kaiser des Deutschen Reichs wurde. Selbst der Fall, dass Kinder in die Rolle des Fürsten gerieten, war in der Geschichte nicht selten. 63 S. auch Burkiczak, JuS 2004, 278 (280 f.). 64 Steht der amtierende Bundestagspräsident selbst zur Wahl – so 1979 bei der Wahl von Carstens zum Bundespräsidenten – oder ist er aus anderen Gründen verhindert, übernimmt der zuständige Vertreter des Bundestagspräsidenten (§ 7 Abs. 6 GOBT) die Sitzungsleitung. 65 v. Arnauld, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 54, Rn. 23; Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 54, Rn. 32. 66 Vgl. stenographische Berichte der bisherigen Bundesversammlungen, abrufbar über https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/bundesversammlung/bundesversammlungen_ seit_1949 (letzter Abruf 24.08.2020). 67 An dieser Stelle folgen – das sind durch das Fernsehen wohl die bekanntesten Bilder von der Bundesversammlung – persönliche Glückwünsche vieler namhafter Politiker und die Übergabe von Blumensträußen.

B. Wahl des Bundespräsidenten

357

Die Wahl des Bundespräsidenten findet ohne Aussprache über die Kandidaten statt. Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG entspricht insoweit der Regelung zur Bundeskanzler­ wahl in Art. 63 Abs. 1 GG. Während dort aber der Verzicht auf die Aussprache in erster Linie, jedenfalls aber auch dem Schutz des Bundespräsidenten als Vor­ schlagsberechtigtem zu dienen bestimmt ist (s. § 7 Rn. 49), tritt hier, bei der Prä­ sidentenwahl, ein zweiter Aspekt in den Vordergrund: Der Verzicht auf eine Per­ sonaldebatte soll die Integrität und Autorität des schließlich Gewählten schützen und eine Diskussion über dessen inhaltliche Vorstellungen ausschließen. Dieser Schutzzweck erfasst nicht nur die Aussprache über die Kandidaten, sondern ver­ bietet auch, dass die Kandidaten selbst sich gegenüber der Bundesversammlung vorstellen.68

52

Im Wesentlichen ist deshalb der Bundestagspräsident als Sitzungsleiter die einzige Person, die zur Bundesversammlung spricht. Über die schon aus der Position als Sitzungsleitung ge­ botene Unparteilichkeit hinaus, muss der Bundestagspräsident deshalb zurückhaltend bei inhaltlichen Äußerungen über die bevorstehende Wahl sein. Jedenfalls offene Parteinahme für oder gegen bestimmte Kandidaten muss ihm untersagt sein, wenn auch sonst niemand sich zu den Personen äußern darf. Allgemeine Kritik oder Appelle – etwa gegen populistische oder extremistische Strömungen – wird man ihm aber in einem gewissen Rahmen zugestehen müssen, selbst wenn sich dadurch Teile der Bundesversammlung angegriffen fühlen sollten. Anderenfalls müsste sich der Bundestagspräsident wohl vorsichtshalber auf Erläuterungen ausschließlich zum formalen Ablauf der Bundesversammlung beschränken, was der Würde und Bedeutung der Bundesversammlung abträglich wäre.

53

Der Verzicht auf eine Aussprache über die Kandidaten ist – wie auch bei der Bundeskanz­ lerwahl (s. § 7 Rn. 49, 58, 64) – nicht sehr demo­kratisch und erscheint kaum noch zeitgemäß. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass das Verfassungsrecht vor intensiver Diskussion im Vorfeld der Kandidatenkür ohnehin nicht schützen kann.69 Mit dem sich abzeichnenden Trend zu kleinen Bundespräsidenten-„Wahl­kämp­fen“ – jedenfalls sofern sich nicht alle größeren Par­ teien vorab auf einen Kandidaten einigen – wird das demokratische Defizit aber zumindest teil­ weise durch eine „mediale Aussprache“ im Vorfeld der Bundespräsidentenwahl kompensiert. Es erscheint aber als problematisch, die politische Diskussion aus den verfassungsrechtlichen Institutionen heraus zu verlagern.

54

Deshalb ist es rechtspolitisch erwägenswert, den Ausspracheverzicht aus Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG zu streichen. Das könnte das Geschehen in der Bundesversammlung auch für die Öffentlichkeit interessanter machen.

55

Die näheren Schritte des Wahlverfahrens werden verfassungsrechtlich von Art. 54 Abs. 6 GG und einfachgesetzlich von § 9 BPräsWahlG vorgegeben. Da­ nach können bis zu drei Wahlgänge stattfinden. Zunächst soll versucht werden, in höchstens zwei Wahlgängen den Bundespräsidenten mit (einfacher) Mitglieder­ mehrheit zu bestimmen. Nur wenn dies nicht gelingt, entscheidet die Meiststim­ menmehrheit in einem dritten Wahlgang über die Besetzung des Amts des Bun­

56

68 69

BVerfGE 136, 277 (109 f.) – Bundesversammlung. Kunig, Jura 1994, 217 (218).

358

§ 5 Bundespräsident

despräsidenten (vgl. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.).70 Die Wahl erfolgt mit verdeckten Stimmzetteln (§ 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG), also geheim. Das ist verfassungsrechtlich nicht geboten (jedenfalls nicht ausdrücklich), aber nach h. M. auch nicht verboten (s. näher § 1 Rn. 73). 57

Es folgt dann die Erklärung des Gewählten über die Annahme der Wahl. Nimmt der Gewählte die Wahl nicht innerhalb einer Frist von zwei Tagen an, so gilt die Wahl als abgelehnt (§ 9 Abs. 4 S. 2 BPräsWahlG).

58

Nimmt er die Wahl dagegen an, so wird die Bundesversammlung für beendet erklärt (§ 9 Abs. 5 BPräsWahlG). Bisher haben alle Bundespräsidenten unmittelbar im Anschluss an ihre Wahl die Annahme erklärt, das heißt die Bundesversamm­ lung endete stets noch am Tag ihres Zusammentretens.

III. Eidesleistung 59

Bei seinem Amtsantritt muss der Bundespräsident vor den versammelten Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats (also nicht vor der Bundesver­ sammlung) den in Art. 56 S. 1 GG festgelegten Eid schwören. Für die Übernahme des Amts des Bundespräsidenten ist die Eidesleistung aber nicht konstitutiv.71 Ent­ gegen der herrschenden Auffassung72 und abweichend von der Staatspraxis sollte auch bei einer anschließenden Wiederwahl der Eid erneut geleistet werden.73 Der Eid kann gemäß Art. 56 S. 2 GG auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. Bisher hat aber kein Bundespräsident auf die religiöse Beteuerung verzichtet.74

60

Die Eidesformel des Art. 56 GG ist auch die des Eides von Bundeskanzler und Bundesministern (Art. 64 Abs. 2 GG, s. dazu § 7 Rn. 88 ff.). Ihr Text ist beinahe

70

Bislang wurden nur die Bundespräsidenten Heinemann, Herzog und Wulff im dritten Wahlgang gewählt, die anderen Bundespräsidenten erlangten die erforderliche Mehrheit bereits im ersten, spätestens aber im zweiten Wahlgang – vgl. die Übersicht bei Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 76. 71 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 56, Rn. 14; Heun, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2015, Art. 56, Rn. 7. Die Formulierung „bei seinem Amtsantritt“ in Art. 56 GG ist insofern etwas irreführend. 72 Heun, in: Dreier,  GG, 3. Aufl. 2015, Art. 56, Rn. 8; ebenso Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 56, Rn. 6; v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 56, Rn. 8. 73 Dafür spricht nicht nur die Regelung in § 11 BPräsWahlG, die sich auf jede Bundesprä­ sidentenwahl bezieht – auch auf Wiederwahlen. Auch der Vergleich mit dem Bundeskanzler, der nach der Staatspraxis im Fall der Wiederwahl erneut vereidigt wird, legt das nahe. In der Sache ist es angebracht, dass nach der Erneuerung der Legitimation (Wiederwahl durch eine neue Bundesversammlung) auch der Eid erneuert wird. 74 Vgl. die entsprechenden Plenarprotokolle des Deutschen Bundestages vom 12.9.1949 (Heuss), 15.9.1959 (Lübke), 1.7.1969 (Heinemann), 1.7.1974 (Scheel), 1.7.1979 (Carstens), 1.7.1984 (Weizsäcker), 1.7.1994 (Herzog), 1.7.1999 (Rau), 1.7.2004 (Köhler), 2.7.2010 (Wulff), 23.3.2012 (Gauck) und 22.3.2017 (Steinmeier).

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten

359

wortgleich mit dem Eid, den der Reichspräsident nach Art. 42 WRV vor dem Reichstag zu leisten hatte. Unterschiede zum Eid des Reichspräsidenten nach Art. 42 WRV bestehen insofern, als der Reichspräsident nur schwören musste, die Verfassung und die Gesetze des Reiches zu wahren, während der Bundespräsident schwört, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun­ des zu wahren und verteidigen. Außerdem betont Art. 56 GG im Unterschied zu Art. 42 WRV neben dem demokratischen auch das bundesstaatliche Prinzip, denn der Eid ist vor den ver­ sammelten Mitgliedern sowohl des Bundestags als auch des Bundesrats zu leisten. Auch ist im Gegensatz zu Art. 42 WRV die religiöse Beteuerung grundsätzlich Teil des Eides, d. h. das Regel-Ausnahme-Verhältnis wurde insofern umgekehrt.

61

Der Präsidenteneid begründet keine Rechte und Pflichten. Es handelt sich um einen sogenannten promissorischen Eid (versprechenden Eid), mit dem der Bundespräsident gelobt, seinen Amtspflichten gerecht zu werden. Die Amtspflich­ ten, insbesondere die Pflicht zur Beachtung der Verfassung und der Gesetze, tref­ fen ihn aber unabhängig von der Eidesleistung. Dem Eid des Bundespräsidenten kommt somit in erster Linie Symbolcharakter zu. Indem der Bundespräsident vor den Mitgliedern des Bundestags als Vertreter des ganzen Volkes (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und den Mitgliedern des Bundesrats als Vertreter der Bundesländer sein Versprechen in Feierlichkeit und Öffentlichkeit75 abzulegen hat, wird ferner deut­ lich, dass auch der Bundespräsident nur ein Verfassungsorgan unter anderen Ver­ fassungsorganen ist.76

62

Von den promissorischen Eiden sind die assertorischen Eide (versichernden Eide) zu unter­ scheiden, mit denen die Wahrheit einer Aussage bekräftigt wird (z. B. vor Gericht). An diese können durchaus Rechtsfolgen geknüpft sein (etwa die Strafbarkeit des Meineids, § 154 StGB).

63

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten I. Status, Besoldung Wie die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, die Mitglieder der Bundesre­ gierung und des Bundesrats hat der Bundespräsident ein öffentliches Amt eigener Art inne, ohne Beamter zu sein. Er erhält aus dem Bundeshaushalt insbesondere Bezüge, Aufwandsentschädigung und eine nachträgliche Versorgung als Altbun­ despräsident (Ehrensold).77 Ihm steht zur organisatorischen Aufgabenbewältigung 75

Nach Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 56, Rn. 7 ff., ist nicht der Inhalt, sondern die Form des Versprechens der entscheidende Sinn der Eidesleistung. 76 Dies unterscheidet den republikanischen Eid des Bundespräsidenten von den bloßen Selbstverpflichtungen der Monarchen in den paktierten Verfassungen; vgl. Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 54. 77 Der Rücktritt von Wulff 2012 hat eine breite mediale Diskussion über den sogenannten Ehrensold der Bundespräsidenten ausgelöst. Vgl. aus juristischer Sicht dazu Wagner, DÖV 2012, 517; Aßmann, Die Besoldung und Versorgung des Bundespräsidenten, 2014. Rechts­ grundlage für die Versorgung der Altbundespräsidenten ist das Gesetz über die Ruhebezüge

64

360

§ 5 Bundespräsident

das Bundespräsidialamt zur Verfügung (s. u. Rn. 100 ff.). Er verfügt entsprechend seiner nichtregierenden Funktion innerhalb der Exekutive (s. Rn. 7) über keine Weisungsbefugnis gegenüber anderen Teilen der Exekutive.

II. Amtszeit und Amtsdauer 65

Im Normalfall beginnt die Amtszeit des Bundespräsidenten mit Ablauf der Amtszeit des Vorgängers; findet die Wahl ausnahmsweise erst nach dem Amtsende des Vorgängers statt (etwa weil dieser zurückgetreten oder verstorben ist), beginnt die Amtszeit mit Annahme der Wahl durch den Gewählten (§ 10 BPräsWahlG). Der Beginn der Amtszeit hängt damit insbesondere nicht von der Ablegung des Eides nach Art. 56 GG ab (s. o. Rn. 59).78

66

Die Amtszeit des Bundespräsidenten beträgt gemäß Art. 54 Abs. 2  GG fünf Jahre, eine anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig. Da sich die Be­ schränkung des Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG nur auf die „anschließende“ Wiederwahl bezieht, ist es möglich und rechtlich zulässig, wenn ein Bundespräsident sein Amt fünf oder zehn Jahre innehat, es dann an einen oder mehrere Nachfolger abgibt und im Anschluss daran noch einmal gewählt wird. Dies ist aber bisher noch nie geschehen.79

67

Es stellt sich aber die Frage, ob zwischen der zweiten und der dritten Amtszeit eine volle Amtsperiode des anderen Präsidenten liegen muss. Sowohl die Forderung nach der vollen Amtszeit wie auch deren Ablehnung können ein gewisses Missbrauchspotenzial enthalten.80 Ist die Frage auch in hohem Maße theoretisch, wird man doch den baldigen Verzicht eines „Stroh­ mannes“, der die dritte Amtszeit ermöglichen soll, als einen Missbrauch ansehen müssen.

68

Der Reichspräsident der Weimarer Republik wurde demgegenüber für sieben Jahre in direkter Wahl vom ganzen Volk gewählt, die Möglichkeit seiner Wiederwahl war nicht be­ schränkt (Art. 41, 43 WRV). Der damit gegenüber der Legis­laturperiode des Reichstags von vier Jahren antizyklische Rhythmus sollte eine kontinuierliche Führung der Staatsgeschäfte sicherstellen.81 Dieser Gedanke kommt bei der fünfjährigen Amtszeit des Bundespräsidenten nur noch ansatzweise zum Tragen. Denn angesichts der gegenüber dem Reichspräsidenten be­ schränkten Befugnisse des Bundespräsidenten sind dessen Amtsgeschäfte nur selten für das des Bundespräsidenten v. 17.06.1953 (BGBl. III 1100–2), zul. geänd. d. Gesetz v. 5.2.2009 (BGBl. I S. 160). 78 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 56, Rn. 14; Heun, in Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 56, Rn. 7. Die Formulierung „bei seinem Amtsantritt“ in Art. 56 GG ist insofern etwas irreführend. 79 Wohl aber etwa in Russland, wo Präsident Putin 2008 durch die Verfassung an einer an­ schließenden weiteren Amtszeit gehindert war und deshalb das Präsidentenamt bis zu seiner erneuten Wahl 2012 seinem Vertrauten Medwedew überließ. 80 Vgl. Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 54 Abs. 2, Rn. 33. Denn die Forderung nach einer vollen Amtsperiode des zwischenzeitlichen Präsidenten gibt diesem die Möglichkeit, durch vorzeitigen Rücktritt eine Wiederwahl des Vorgängers zu verhindern. 81 Vgl. etwa Anschütz, WRV, 14. Aufl. 1933, S. 243 f.

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten

361

Funktionieren des Staats unerlässlich – etwas anderes mag hinsichtlich der Reservefunktionen (s. o. Rn. 35 f.) gelten. Vielmehr geht es der im Vergleich zur Legislaturperiode des Bundestags um ein Jahr längeren Amtszeit des Bundespräsidenten darum, die Präsidentenwahl von der parteipolitisch geprägten Parlamentswahl und Regierungsbildung zeitlich zu trennen und so die Wahl aus dem Kampf um Regierungsmehrheiten herauszuhalten. Gleichwohl könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber auch in der Bundesrepublik Deutsch­­land die Amtszeit des Bundespräsidenten verlängern, verkürzen oder auch nur die Voraussetzun­gen der Wiederwahl verändern. Demgegenüber wäre es angesichts der repu­ blikanischen Staatsstruktur, die als Teil des Art. 20 GG den besonderen Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG genießt, unzulässig, einen Bundespräsidenten auf Lebenszeit zu wählen.82

69

Unabhängig von der konkreten Länge der Amtszeit des Bundespräsidenten ist darauf hinzuweisen, dass auch mit einer von der Legislaturperiode des Bundestags abweichenden Dauer der Amtszeit des Bundespräsidenten nur im Regelfall die Entzerrung der Wahlen des Bundespräsidenten und des Bundestags gewährleistet ist. Denn die normativen Vorgaben berücksichtigen nicht die Auflösungen des Bundestags als Folge einer negativ beantworteten Vertrauensfrage oder die bspw. durch Tod oder Rücktritt des amtierenden Bundespräsidenten notwendig gewordene vorzeitige Wahl eines neuen Bundespräsidenten (vgl. Art. 54 Abs. 4 S. 1 Alt. 2 GG). Sollte es einmal zu terminlichen Überschneidungen kommen, ist es dem politi­ schen Gespür (und dem Ermessen) des Bundesratspräsidenten, der als Vertreter des Bundes­ präsidenten gemäß § 16 BWahlG den Tag für die Bundestagswahlen bestimmt, und des Bun­ destagspräsidenten, der die Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG einzuberufen hat, überlassen, die Termine aufeinander abzustimmen und dadurch insbesondere festzulegen, ob die Mitglieder des alten oder des neuen Bundestages der Bundesversammlung angehören.

70

Das Amt des Bundespräsidenten endet regulär mit Ablauf der Amtszeit ipso iure, also nicht etwa schon mit der Wahl des neuen Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung und auch nicht erst mit dessen Vereidigung vor den versam­ melten Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat. Allerdings findet die Vereidi­ gung des jeweils neuen Bundespräsidenten in der Staatspraxis regelmäßig an dem Tag statt, an dem die Amtszeit des vorherigen ausläuft.

71

Zu einem vorzeitigen Ende kam die Amtszeit des Bundespräsidenten in der poli­ tischen Praxis bisher ausschließlich durch Rücktritt (s. dazu auch § 1 Rn. 91 ff.). Der Rücktritt ist rechtlich nicht normiert, seine Möglichkeit versteht sich aber von selbst und wird auch vom einfachen Gesetzgeber vorausgesetzt (etwa in § 51 BVerfGG).83 Anders als bei den Bundesministern (s. § 7 Rn. 170) oder dem Bun­ deskanzler (s. § 7 Rn. 119) ist der Rücktritt des Bundespräsidenten kein Ersuchen um Entlassung, sondern erfolgt durch einseitige Erklärung (schon weil kein Organ in Betracht kommt, das den Bundespräsidenten entlassen könnte). Im Interesse der Rechtsklarheit muss diese Erklärung gegenüber einem geeigneten Adressaten erfolgen. Prädestiniert dafür erscheint der Bundesratspräsident, dem dann durch die Rücktrittserklärung gewissermaßen die Führung der Amtsgeschäfte übergeben

72

82 83

Kunig, Jura 1994, 217 (218). Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 59.

362

§ 5 Bundespräsident

wird.84 Auch eine Erklärung gegenüber einer breiten Öffentlichkeit (wie etwa im Fall Köhler) wird man rechtlich aber als genügend ansehen müssen. Die Erklärung des Rücktritts kann aus beliebigen Gründen erfolgen und ist bedingungsfeindlich.85 Gegen eine aufschiebende Befristung („Rücktritt zum …“) spricht dagegen nichts. Wenn der Rücktritt auch aus beliebigem Grund erfolgen kann, so kann der Rück­ trittsgrund für den Ehrensold doch relevant sein.86 73

Abgesehen vom Rücktritt kann die Amtszeit des Bundespräsidenten auch etwa durch Tod oder in Folge einer Präsidentenanklage nach Art. 61 GG (s. u. Rn. 194 ff.) vorzeitig enden. Auch eine strafrechtliche Verurteilung87 oder die Be­ stellung eines Betreuers kann zu einem nachträglichen Entfall der Wählbarkeit und damit zu einem vorzeitigen Amtsende führen (s. o. Rn. 46). Alle diese Fälle sind bisher nicht eingetreten.

74

Eine Abwahl (durch die – bis dahin ohnehin aufgelöste – Bundesversammlung) oder Absetzung (etwa durch den Bundestag oder andere Verfassungsorgane) ist nicht möglich.

III. Inkompatibilitäten 75

Die neutrale Stellung des Bundespräsidenten wird zur Sicherung der von ihm wahrzunehmenden verfassungsrechtlichen Funktionen durch verschiedene Re­ gelungen zur In­kompatibilität gesichert (übergreifend zur Inkompatibilität § 1 Rn. 80 ff.).

76

Der Gewaltenteilung, der Trennung von Exekutivfunktionen und der präsiden­ tiellen Repräsentationsfunktion sowie der präsidentiellen Neutralität dient die Inkompatibilitätsvorschrift des Art. 55 Abs. 1 GG.88 Diese Norm untersagt dem Bundespräsidenten zunächst, Regierungsämter und Parlamentsmandate innezuha­ ben. Er darf keiner der beiden gesetzgebenden Körperschaften des Bundes, also weder dem Bundestag noch dem Bundesrat,89 angehören und auch kein Mitglied der Bundesregierung sein. Seinem Schutzzweck entsprechend umfasst das Verbot auch die Bekleidung entsprechender Ämter in den Bundesländern.90

84

So auch Schaefer, DÖV 2012, 417 (420). Hebeler, DVBl 2011, 317 (318). 86 § 1 des Gesetzes über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten (s. oben Fn. 77) fordert bei einem vorzeitigen Ende politische oder gesundheitliche Gründe. Beim Rücktritt des Bundes­ präsidenten Wulff wurde dies zum Teil angezweifelt, vgl. dazu Wagner, DÖV 2012, 517. 87 Diese würde allerdings eine Aufhebung der Immunität voraussetzen, s. dazu Rn. 84 f. 88 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 55, Rn. 3. 89 Insofern knüpft die Regelung teilweise an Art. 44 WRV an, der allerdings nur die Inkom­ patibilität mit der Mitgliedschaft im Reichstag normierte. 90 Nach h. M. ist auch eine Mitgliedschaft in kommunalen Vertretungen oder Verwaltungen nicht zulässig, vgl. nur Domgörgen, in: Hömig, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 55, Rn. 3. 85

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten

363

Demgegenüber wird die rechtsprechende Gewalt – selbst im Hinblick auf das Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht  – von Art. 55 Abs. 1 GG ausge­ spart. Auch fehlt eine ausdrückliche Regelung in Bezug auf etwaige Ämter in den Organen der Europäischen Union. In diesen Fällen greifen aber meist Art. 55 Abs. 2 GG („anderes besoldetes Amt“, dazu sogleich) oder Inkompatibilitätsrege­ lungen für die anderen Organe (etwa § 3 Abs. 4 BVerfGG, s. § 8 Rn. 157). Ergibt sich auch daraus keine Inkompatibilität – vorstellbar etwa bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit als Landesverfassungsrichter –, so ist noch zu erwägen, ob aus dem all­ gemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz der Gewaltenteilung eine Inkompatibilität zu folgern ist.

77

Über die Inkompatibilität mit den Ämtern in anderen Verfassungsorganen hi­ naus normiert Art. 55 Abs. 2 GG auch die Unvereinbarkeit des Amts des Bundes­ präsidenten mit der Ausübung jedes anderen besoldeten Amtes, mit der Ausübung eines Gewerbes oder eines Berufes sowie der Zugehörigkeit zur Leitung oder zu einem Aufsichtsrat eines auf Erwerb ausgerichteten Unternehmens. Die Aus­ übung eines Ehrenamtes ist hingegen von Art. 55 Abs. 2 GG nicht erfasst. Mit Blick auf die anderen besoldeten Ämter teilt Art. 55 Abs. 2 GG die Stoßrichtung von Abs. 1 (Gewaltenteilung), indem er (nicht-ehrenamtliche) Tätigkeiten auch in Rechtsprechung und Verwaltung (oder etwa auch in Organen der EU) ausschließt. Die übrigen Regelungen von Art. 55 Abs. 2 GG (Gewerbe, sonstiger Beruf, Mit­ wirkung an Unternehmen) dienen eher der Interessentrennung.91 Eine dem Art. 55 Abs. 2 GG entsprechende Regelung trifft das Grundgesetz in Art. 66 GG für den Bundeskanzler und die Bundesminister (s. § 7 Rn. 92 ff.).

78

Nicht übersehen werden darf in Art. 55 GG die Differenzierung zwischen der Ausübung und dem Innehaben bestimmter Ämter und Positionen: Bei allen in Abs. 1 genannten Organen sowie bei der Leitung bzw. dem Aufsichtsrat von auf Erwerb gerichteten Unternehmen ist schon das bloße Angehören verboten (Art. 55 Abs. 1, Abs. 2 Hs. 2 GG). Entsprechende Ämter bzw. Positionen müssen also nie­ dergelegt werden. Im Übrigen ist bei besoldeten Ämtern, bei Gewerben und Be­ rufen nur die Ausübung verboten (Art. 55 Abs. 2 Hs. 1 GG), nicht aber die Inne­ habung; es genügt insofern das Ruhenlassen aller Rechte und Pflichten.92

79

Art. 55 GG begründet Pflichten des Bundespräsidenten, die er mit dem Amts­ antritt zu beachten hat. Ein Verstoß gegen diese verfassungsrechtliche Pflicht kann nur im Wege der Präsidentenanklage gemäß Art. 61 GG rechtlich gerügt werden (was davon unabhängig mediale Schelte nicht ausschließt). Der Amtsantritt des Bundespräsidenten bewirkt regelmäßig kein automatisches Ausscheiden aus den genannten Ämtern.93 Die entgegengesetzte Meinung, sämtliche der von Art. 55 GG

80

91 Vgl. die treffende Unterscheidung der beiden Zwecke von Art. 55 GG von Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. V, (54. Ergänzungslieferung, Januar 2009), Art. 55, Rn. 3. 92 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 55, Rn. 2. 93 Anders verhält es sich, wenn Ämter kraft Gesetzes erlöschen, vgl. bspw. § 3 Abs. 3 S. 2 BVerfGG, der das Amt des Bundespräsidenten aber gerade nicht erfasst.

364

§ 5 Bundespräsident

für unvereinbar erklärten Ämter erlöschten im Interesse der auch institutionellen Unabhängigkeit des Amts des Bundespräsidenten ipso iure mit dem Amtsantritt des Bundespräsidenten,94 verkennt nicht nur den Wortlaut des Art. 55 Abs. 2 GG, sondern übersieht auch, dass der Norm keine derogierende Kraft im Hinblick auf die vielgestaltigen vertrags- und gesellschaftsrechtlichen Formvorschriften zu­ kommen soll.95 81

Sämtliche Inkompatibilitäten gelten nur während der Amtszeit des Bundespräsidenten, nicht aber für Kandidaten96 oder über die Amtszeit hinaus.97 Zwar ließe sich aus der Gewährung des Ehrensolds nach Ablauf der Amtszeit, welche den nachwirkenden Status des Altpräsidenten deutlich zum Vorschein bringt, eine Weitergeltung der politischen und wirtschaftlichen Enthaltenspflichten ableiten. Diese Beschränkung ist indes nicht zwingend im Rechtssinne, sondern vielmehr eine Frage des persönlichen Taktgefühls und des politischen Gespürs, die der Er­ haltung der politischen und wirtschaftlichen Integrität des Amts im moralischen Sinne geschuldet sind.

IV. Immunität 82

Ist der Bundespräsident auch zivil- und strafrechtlich uneingeschränkt verant­ wortlich,98 genießt er doch für die Dauer seiner Amtszeit die auch für Abgeord­ nete geltende strafrechtliche Verfolgungsfreiheit (Immunität). Denn nach Art. 60 Abs. 4 GG finden die Absätze 2 bis 4 des Artikels 46 GG (vgl. § 2 Rn. 295 ff.) auf den Bundespräsidenten entsprechende Anwendung.99

83

Wie die Immunität bei den Bundestagsabgeordneten der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu dienen bestimmt ist, zielt der Schutz auch beim Bundespräsidenten nur auf dessen Amt, nicht dagegen auf die Person. Aus dieser Schutzrichtung folgt nicht nur, dass im Vertretungsfall auch der Bundesratspräsident Immunität genießt, sondern vor allem, dass die Immunität des Bundespräsidenten ipso iure mit dem Ende der Amtszeit entfällt.

84

Ob während der Amtszeit die Immunität des Bundespräsidenten aufgehoben werden kann, lässt Art. 60 Abs. 4 GG auf den ersten Blick ebensowenig erkennen wie das etwaige Organ, das zu einer solchen Aufhebung befugt sein sollte. In der

94

So bspw. Versteyl, in: Schneider / Zeh, Parl. Praxis, § 14, Rn. 25. So ausdrücklich Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 55, Rn. 6. 96 Dazu BVerfGE 128, 278 (280 f.). 97 Kunig, Jura 1994, 217 (224). 98 Indemnität i. S. v. Art. 46 Abs. 1 GG hat der Bundespräsident nicht. 99 Die Immunität der Abgeordneten hebt der Bundestag generell durch Beschluss am An­ fang jeder Legislaturperiode auf und stellt nur bestimmte Maßnahmen unter parlamentarischen Genehmigungsvorbehalt, vgl. Anlage 6 der Geschäftsordnung des Bundestages. 95

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten

365

Literatur wird davon ausgegangen, dass der Bundestag zu einer Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten befugt sei.100 Zwar finde Art. 46 Abs. 2 GG, nach dem der Bundestag für die Aufhebung der Immunität der Bundestagsabgeordneten zuständig ist, gemäß Art. 60 Abs. 4 GG nur „entsprechende“ An­ wendung, so dass die Zuständigkeit des Bundestags keinesfalls zwangsläufig sei.101 Die Bun­ desversammlung als das Organ, das den Bundespräsidenten gewählt hat, komme aber schon deshalb nicht in Frage, weil es kein permanentes Verfassungsorgan sei. Mag diese Überlegung auch zutreffend sein, spricht doch einiges dafür, die Immunität des Bundespräsidenten nicht allein in die Hände des Bundestags zu legen, sondern auch von der Zustimmung des Bundesrats abhängig zu machen.102 Denn der Bundespräsident ist das Verfassungsorgan, das in besonderer Weise den Gesamtstaat, also den Bund und die Länder, zu verkörpern hat. Das er­ gibt sich nicht nur aus der Zusammensetzung der Bundesversammlung, sondern auch aus der Verpflichtung des Bundespräsidenten, seinen Eid vor den versammelten Mitgliedern sowohl des Bundestags als auch des Bundesrats zu leisten. Insofern sollte auch der Bundesrat über die Aufhebung der Immunität mitzuentscheiden haben. Ebenfalls bedenkenswert erscheint der rechtspolitische Vorschlag, die Entscheidung über die Aufhebung der Immunität dem Bundes­ verfassungsgericht aufzugeben.103

85

Unabhängig von solchen Fragen ihrer Aufhebung schützt die Immunität den Bundespräsidenten auch während seiner Amtsdauer nicht vor der Präsidentenanklage (dazu Rn. 194 ff.). Abgesehen davon, dass diese kein strafrechtliches Ver­ fahren darstellt, ist Art. 61 GG jedenfalls insofern Spezialnorm gegenüber Art. 60 Abs. 4 GG.104

86

Von der verfassungsrechtlichen, innerstaatlichen Immunität nach Art. 60 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 46 Abs. 2 GG zu unterscheiden ist die völkerrechtliche Immunität des Staatsoberhaupts gegenüber der Staatsgewalt fremder Staaten, die auf der Souveränität der Staaten gründet.105 Sie wird jedoch im Bereich des Völ­ kerstrafrechts zunehmend durchbrochen.106

87

100

Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art 60, Rn. 33; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 60, Rn. 59; Reimer, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (172.  Ak­ tualisierung, 2015), Art. 60, Rn. 90; v. Arnauld, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 60, Rn. 18. 101 So etwa Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 60, Rn. 59; weniger differen­ ziert auch Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 60 Rn. 33. 102 A. A. etwa Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 60, Rn. 32. 103 Hömig, ZRP 2012, 110 (113). 104 So auch Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 60, Rn. 33. 105 v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 60, Rn. 18; relativ ausführlich Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 60, Rn. 60 ff. 106 Beispielhaft sei hier der umstrittene Fall des ehemaligen chilenischen Diktators Pinochet genannt, in dem das britische House of Lords eine Berufung auf die völkerrechtliche Immuni­ tät grundsätzlich abgelehnt hat (es ging um ein Auslieferungsgesuch Spaniens, wo Pinochet vor nationalen Gerichten angeklagt werden sollte). Davon zu unterscheiden ist der Fall der Anklage vor internationalen Gerichten, etwa dem Internationalen Strafgerichtshof (vgl. nur Art. 27 IStGH-Statut). Hier greift die völkerrechtliche Immunität schon nicht, weil ein ent­ sprechendes Urteil nicht fremde Staatsgewalt, sondern ein Akt der Völkergemeinschaft ist.

366

§ 5 Bundespräsident

V. Vertretung des Bundespräsidenten 1. Bundesratspräsident als Vertreter 88

Im Falle der tatsächlichen oder rechtlichen Verhinderung des Bundespräsi­ denten wird er gemäß Art. 57 GG vom Präsidenten des Bundesrats vertreten.107 Außerdem nimmt der Bundesratspräsident die Befugnisse des Bundespräsidenten wahr, wenn sich das Amt des Bundespräsidenten vorzeitig erledigt hat (dazu oben Rn. 72 ff.). Mit dieser – zuletzt vor allem mit den Rücktritten von Horst Köhler und von Christian Wulff aktuell gewordenen – Vertretungsregelung wird sichergestellt, dass die Funktionen des Amts auch in Zeiten der Verhinderung oder Vakanz er­ füllt werden können.

89

Dass die Stellvertretung dabei vom Bundesratspräsidenten wahrzunehmen ist, erscheint in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen geht mit dieser Regelung die Absage an das Amt eines Vizebundespräsidenten einher, der un­ abhängig von einer Verhinderung des Bundespräsidenten regelmäßig oder im Auf­ trage neben dem Bundespräsidenten tätig würde. Zum anderen betont die Vertre­ tungsregelung das bundesstaatliche Prinzip, und zwar nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern vor allem auch in seinen praktischen Auswirkungen. Denn be­ rücksichtigt man, dass der Vorsitz des Bundesrats entsprechend dem sogenannten Königsteiner Abkommen vom 30. August 1950 (s. dazu § 3 Rn. 110 ff.) jeweils zum 1. November in vorbestimmter, an der Bevölkerungszahl orientierter Reihenfolge zwischen den einzelnen Bundesländern wechselt, können im Laufe einer (norma­ len) Amtszeit des Bundespräsidenten mindestens fünf verschiedene Personen aus fünf verschiedenen Ländern mit seiner Vertretung betraut sein.

90

Allerdings ist anzumerken, dass die „Verbeugung vor dem bundesstaatlichen Prinzip“108 wohl eher ein willkommener Nebeneffekt denn entscheidendes Motiv im Parlamentarischen Rat war. Denn die jeweiligen Präsidenten bzw. Spitzen der anderen Verfassungsorgane ka­ men noch weniger in Betracht – der Bundeskanzler wegen seiner besonderen Interdependenz zum Bundespräsidenten (s. o. Rn. 41), der Bundestagspräsident vor allem wegen der Befug­ nis des Bundespräsidenten, die vom Bundestag beschlossenen Gesetze auszufertigen (s. u. Rn. 136 ff.), und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts wegen möglicher Konflikte in Fällen des Organstreitverfahrens und der Präsidentenanklage (s. u. Rn. 194 ff.).109 107 Auch hierin unterscheidet sich die Bestimmung des Grundgesetzes von der WRV. Nach Art. 51 Abs. 1 S. 2 WRV wurde der Reichspräsident im Falle seiner Verhinderung grundsätz­ lich durch den Reichskanzler vertreten. Nur sofern die Verhinderung voraussichtlich längere Zeit dauern würde, sollte die Vertretung gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 WRV durch Gesetz geregelt werden – ein Fall, der nach dem Tode Friedrich Eberts am 28.2.1925 aktuell wurde. Auch in der Regelung des Art. 51 WRV kommt das besondere Vertrauensverhältnis zwischen dem Reichspräsidenten einerseits und dem Reichskanzler andererseits zum Ausdruck. In rechtli­ cher Hinsicht war der Reichskanzler dem Reichspräsidenten allerdings nicht verantwortlich für die Wahrnehmung seiner Vertretungsbefugnisse (vgl. Anschütz, WRV, 14. Aufl. 1933, Art. 51, Anm. 2). 108 So Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 57, Rn. 7. 109 Vgl. die Ausführungen von Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 57, Rn. 7.

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten

367

Im Übrigen ergibt sich aus dem Gebot der Funktionentrennung wie aus § 7 Abs. 1 S. 2 GOBR, dass der Bundesratspräsident für die Zeit der Vertretung des Bun­ despräsidenten an der Führung der Geschäfte des Bundesrats gehindert ist, so dass Interessenkonflikte zumindest formal vermieden werden. Die Geschäfte des Bundesrats werden in dieser Zeit deshalb entsprechend der Vertretungsregelung des § 7 Abs. 1 S. 1 GOBR „nach Maßgabe ihrer Reihenfolge“ von den Vizepräsi­ denten des Bundesrats geleitet, die auch den Bundespräsidenten vertreten, wenn der Bundesratspräsident seinerseits verhindert ist.

91

2. Voraussetzungen der Vertretung Voraussetzung der Vertretung ist die Verhinderung des Bundespräsidenten oder die vorzeitige Erledigung seines Amtes. Die vorzeitige Erledigung des Amts trat in der politischen Praxis bisher ausschließlich durch Rücktritt ein, ansonsten kommen aber etwa auch der Tod, der nachträgliche Entfall der Wählbarkeit und (end­gültige) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über eine Präsidenten­ anklage nach Art. 61 GG in Betracht (dazu oben Rn. 72 f.). Bei den Verhinderungsgründen besteht eine größere Vielfalt: Hier kann unterschieden werden zwischen tatsächlichen Verhinderungsgründen wie Krankheit, Freiheitsverlust (z. B. durch Entführung), Auslandsaufenthalt oder auch nur Terminüberschneidungen110 und rechtlichen Verhinderungsgründen, etwa Befangenheit oder einstweilige Anord­ nungen des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren nach Art. 61 GG.

92

Die Entscheidung über die Verhinderung trifft der Bundespräsident man­ gels näherer Angaben in der Verfassung selbst. Regelmäßig kann nur er entschei­ den, ob er etwa im Urlaub Amtsgeschäfte fortführen will und ob eine Krankheit ihn tatsächlich an der Wahrnehmung seiner Befugnisse hindert. Nach wohl h. M. geht die Feststellungsbefugnis aber auf den Bundesratspräsidenten als seinen Ver­ treter über, wenn der Bundespräsident zu einer Feststellung aus objektiven oder subjektiven Gründen (z. B. wegen Geisteskrankheit, Entführung etc.) nicht in der Lage ist.111 Sofern es über die Frage zu einem Rechtsstreit kommen sollte, wäre das Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren zu einer Entscheidung befugt112

93

110 Dies ist freilich umstritten, da dadurch eine Nebenvertretung entstehen könnte: für eine eng begrenzte Vertretung bei unaufschiebbaren Dienstgeschäften Fink, in: v.  Man­ goldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 57, Rn. 14; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 57, Rn. 17; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 57, Rn. 6; v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 57 Rn. 6; gegen die Möglichkeit der Vertretung bei Terminkollisionen: Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 57, Rn. 5; Waldhoff / Grefrath, in: Friauf / Höfling, GG, 27. Lfg. 2009, Art. 57, Rn. 6; Pitschas, Der Staat 12 (1973), 183 (200). 111 Meiertöns / Ehrhardt, Jura 2011, 166 (167); Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 57, Rn. 9; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 54, Rn. 22; v. Arnauld, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 57, Rn. 8. 112 Bei der Wahrnehmung der Befugnisse des Bundespräsidenten ist der Bundesratspräsident ein oberstes Bundesorgan im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG.

368

§ 5 Bundespräsident

und könnte bei entsprechender Eilbedürftigkeit auch eine einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG erlassen.113 3. Umfang der Vertretung 94

Der zeitliche Umfang der Vertretung ist im Fall der vorzeitigen Erledigung des Amts durch Art. 54 Abs. 4 S. 1 Alt. 2 GG begrenzt. Diese Vorschrift ordnet an, dass die Bundesversammlung innerhalb von 30 Tagen wenn auch noch nicht zu wählen, so doch zumindest zusammenzutreten hat. Diese Regelung ist erforderlich, weil der Bundesratspräsident nicht über die gleiche demokratische Legitimation wie der Bundespräsident verfügt und deshalb nicht längerfristig dessen Amt über­ nehmen soll. Im Fall der Verhinderung ist die Vertretung auf die Dauer des Ver­ hinderungsgrundes beschränkt und damit regelmäßig nur vorübergehender Natur. Es besteht aber theoretisch auch die Möglichkeit einer längerfristigen Vertretung, etwa wenn der Bundespräsident durch Krankheit ohne merkliche Besserungsaus­ sicht verhindert ist, aber einen Rücktritt ablehnt.

95

Die Vertretung durch den Bundesratspräsidenten ist als Ersatzvertretung, nicht als Nebenvertretung ausgestaltet. Das bedeutet zum einen, dass im Vertretungs­ fall alle verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten auf den Bundesratspräsidenten übergehen. Insbesondere steht dem Bundesratspräsidenten auch die Befugnis zu, unter den Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG bzw. des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG den Bundestag aufzulösen. Dies folgt nicht nur aus der Natur der Ersatzvertretung, sondern wird auch unterstrichen durch einen Umkehr­ schluss aus Art. 136 Abs. 2 S. 2 GG, der dem Bundesratspräsidenten diese Befugnis nur bis zur Wahl des ersten Bundespräsidenten entzogen hat.114

96

Zum anderen folgt aus der Qualifizierung der Vertretung des Bundespräsiden­ ten durch den Bundesratspräsidenten als Ersatzvertretung, dass eine vereinbarte Arbeitsteilung zwischen Präsident und Vertreter ebenso unzulässig ist wie eine Stellvertretung kraft Auftrags.115 Der Bundespräsident darf den Bundesratspräsi­ denten also nicht mit der Wahrnehmung einzelner seiner Befugnisse beauftragen oder ihm einen konkreten Einzelfall anvertrauen. Vielmehr rückt der Bundesrats­ präsident in den vom Grundgesetz genannten Fällen voll in die Funktion des Bun­ despräsidenten ein und unterliegt daher auch nicht dessen Weisungen.116

113

Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 15 Rn. 10. Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 136, Rn. 1; Klein, in: Maunz / Dürig, GG, 80. Lfg. 2017, Art. 136, Rn. 7; Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 136, Rn. 3; Dörr, in: BeckOK GG, 19. Ed. 2013, Art. 136, Rn. 2. 115 Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 56. 116 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 210; Pernice, in: Dreier,  GG, 2. Aufl. 2006, Art. 57, Rn. 9; a. A. etwa Herzog, in: Maunz / Dürig,  GG, 54. Lfg. 2009, Art. 57, Rn. 25. 114

C. Rechtsstellung des Bundespräsidenten

369

Von der Vertretung zu trennen ist die Übertragung von Präsidialbefugnissen insbesondere bei der Ernennung von Bundesbeamten, Soldaten und Bundesrich­ tern bzw. beim Begnadigungsrecht (Art. 60 Abs. 2 GG). Der Bundespräsident kann vertretbare Handlungen delegie­ren. Davon hat er etwa hinsichtlich der Ernen­ nung von Soldaten Gebrauch gemacht (bis auf wenige Führungsposten), wobei er das Ernennungsrecht auch wieder an sich ziehen kann.117

97

Auch wenn der Bundesratspräsident als Ersatzvertreter nicht an Weisungen des Bundespräsidenten gebunden ist, wird die Freiheit des Bundesratspräsidenten bei der Vertretung des Bundespräsidenten durch den Grundsatz der Verfassungsorgantreue (s. § 1 Rn. 158 ff.) begrenzt.118 Dieser Grundsatz verpflichtet ihn, die Amtsgeschäfte im Sinne des Bundespräsidenten zu führen und insbesondere die Kontinuität zu wahren und abrupte Änderungen zu vermeiden. Gleichwohl be­ rühren etwaige Verstöße gegen diesen Grundsatz die Rechtswirksamkeit der vor­ genommenen Maßnahmen nicht. Wenn der Bundesratspräsident also entgegen dem erklärten Willen des Bundespräsidenten während eines Auslandsaufenthalts des Bundespräsidenten einen Bundesminister ernennt, so bleibt die Ernennung rechtswirksam, selbst wenn der Bundesratspräsident dadurch den Grundsatz der Organtreue verletzt haben sollte.

98

In der Ausfüllung präsidialer Kompetenzen liegt allerdings keine (vorüber­ gehende) Amtsübernahme, weshalb der Bundesratspräsident auch keinen präsidialen Amtseid zu leisten hat.119 Auch die Art. 55 GG und 61 GG sind auf den Bundesratspräsidenten als Stellvertreter des Bundespräsidenten nicht anwendbar.

99

VI. Bundespräsidialamt Zur Unterstützung der Aufgaben des Bundespräsidenten besteht ein Bun­ despräsidialamt.120 Es berät den Bundespräsidenten in allen Fragen seines Amts, informiert den Bundespräsidenten über innen- und außenpolitische, wirtschaftli­ che, soziale und kulturelle Entwicklungen, bereitet die Entscheidungen des Bun­ despräsidenten vor, führt die Aufträge des Bundespräsidenten aus oder leitet diese an die zuständigen Ministerien und Behörden weiter. Eigenständige Befugnisse stehen dem Bundespräsidialamt nicht zu, vielmehr ergeben sich seine Aufgaben ausschließlich aus den verfassungsrechtlichen Befugnissen des Bundespräsidenten. Entsprechend dem Prinzip des hierarchischen Verwaltungsaufbaus kann der Bun­ despräsident sachliche und organisatorische Fragen im Binnenbereich des Bundes­ präsidialamts jederzeit durch Einzelweisungen, Erlasse, Anordnungen usw. regeln. 117 Anordnung des Bundespräsidenten über die Ernennung und Entlassung von Soldaten in der Fassung v. 17.3.1972 (VMBl. S. 119). 118 Kritisch hierzu Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 60. 119 Vgl. etwa Domgörgen, in: Hömig, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 57, Rn. 2. 120 Vgl. umfassend dazu Spath, Das Bundespräsidialamt, 5. Aufl. 1993.

100

370

§ 5 Bundespräsident

101

Das Bundespräsidialamt ist eine oberste Bundesbehörde, an deren Spitze unter­ halb dem Bundespräsidenten ein Staatssekretär als Chef des Bundespräsidialam­ tes steht.121 Dieser ist gemäß § 23 Abs. 1 GOBReg befugt, an den Sitzungen der Bundesregierung teilzunehmen, um sich über die Arbeit der Bundesregierung zu informieren.

102

Die Binnengliederung des Bundespräsidialamts hat folgende Gestalt: Neben den drei Ab­ teilungen des Bundespräsidialamts (Inland, Ausland, Zentrale Angelegenheiten) ist dem Bun­ despräsidenten das sogenannte Persönliche Büro zugeordnet, das in erster Linie die Aufgaben eines persönlichen Sekretariats des Bundespräsidenten wahrnimmt. Schließlich steht dem Bun­ despräsidenten ein vom Bundesminister der Verteidigung abgeordneter Verbindungsoffizier zur Verfügung, der ihn in allen Fragen der Sicherheitspolitik berät, als Mittler zur Bundeswehr und ausländischen Streitkräften fungiert und auch protokollarische Aufgaben wahrnimmt.

103

Das Bundespräsidialamt hat ca. 220 Mitarbeiter.122 Zum Vergleich: Selbst das Bundes­ gesundheitsministerium, eines der kleinsten Bundesministerien, hat über 850 Mitarbeiter.123 In Folge des Umzugs des Bundespräsidenten von Bonn nach Berlin (s. o. Rn. 22) ist auch das Bundespräsidialamt nach Berlin gezogen: Seit 1998 befindet es sich in einem eigens errichte­ ten Neubau neben dem Schloss Bellevue in Berlin.

D. Aufgaben und Befugnisse I. Übersicht 104

Die wesentlichen Akzentuierungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten liegen im Bereich eher „weicher“ Handlungsformen wie öffentliche Reden, Gespräche, öffentliche Empfehlungen und Warnungen sowie Staatsbesuche und sonstige offizielle Reisen. Diese Handlungsformen – die vor allem der Repräsentations- und Integrationsfunktion (s. dazu Rn. 26 ff.) zuzuordnen sind – lassen sich rechtsdog­ matisch nur schwer näher charakterisieren. Zutreffend wird diesbezüglich darauf hingewiesen, dass solche dem Bundespräsidenten zustehenden Handlungen nicht „gültig“ oder „ungültig“ sein können, sondern nur überzeugend oder weniger über­ zeugend124 – obwohl natürlich auch hier rechtliche Grenzen zu beachten sind (s. etwa Rn. 32; insbesondere ist der Bundespräsident natürlich auch an die Grund­ rechte gebunden).

105

In diesem Abschnitt soll es primär um die rechtlichen Aufgaben und Befugnisse gehen. Diese sind überwiegend der staatsnotariellen Funktion und der Re­ 121 Vgl. dazu Butzer, VerwArch 82 (1991), 497 (508 f.); Spath, Das Bundespräsidialamt, 5. Aufl. 1993, S. 39. 122 http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Bundespraesidialamt/bundes​ praesidialamt-node.html (letzter Abruf 24.08.2020). 123 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/karriere/ausbildung-beruf. html (letzter Abruf 24.08.2020). 124 Kunig, Jura 1994, 217 (222).

D. Aufgaben und Befugnisse

371

servefunktion des Bundespräsidenten (s. dazu Rn. 34 ff.) zuzuordnen. Dabei sind die verfassungsrechtlichen Befugnisse von den einfachgesetzlichen Regelungen (s. Rn. 107, 168 ff.) zu trennen. Im Grundgesetz finden sich folgende verfassungsrechtlichen Befugnisse des Bundespräsidenten: – das Einberufungsverlangen gegenüber dem Präsidenten des Bundestages (Art. 39 Abs. 3 GG),125 – die Ausfertigung der vom Bundestag (unter Mitwirkung des Bundesrates) be­ schlossenen Gesetze (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG), – der Kanzlervorschlag (Art. 63 Abs. 1 GG im Friedensfall; im Verteidigungsfall nach Art. 115 h Abs. 2 S. 1 GG), – die Ernennung und Entlassung von Regierungsmitgliedern, Staatssekretären (Art. 63 Abs. 1, 2 S. 2 u. Abs. 4 S. 2, Art. 64 Abs. 1, Art. 67 Abs. 1 S. 2 GG) so­ wie der Bundesrichter, Bundesbeamten, Offiziere und Unteroffiziere (Art. 60 Abs. 1 GG), – die Genehmigung der Geschäftsordnung der Bundesregierung (Art. 65 S. 4 GG), – das Ersuchen der Regierungsmitglieder um Weiterführung ihrer Amtsgeschäfte (Art. 69 Abs. 3 GG), – die Auflösung des Bundestags bei gescheiterter Kanzlerwahl (Art. 63 Abs. 4 S. 3 Alt.  2 GG) oder im Fall einer negativ beantworteten Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG), – die Ausübung des Gnadenrechts für den Bereich der Bundesgerichtsbarkeit (Art. 60 Abs. 2 GG),126 – die allgemeine völkerrechtliche Vertretung des Bundes gegenüber anderen Staa­ ten und Völkerrechtssubjekten (Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG), – die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge (Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG), – die Akkreditierung und der Empfang der ausländischen Botschafter und Gesand­ ten in Deutschland (Art. 59 Abs. 1 S. 3 GG), – die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines Organstreitver­ fahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, – die Verkündung (nicht aber die Feststellung) des Verteidigungsfalles (Art. 82 i. V. m. Art. 115 a Abs. 3, Abs. 4 S. 2 GG) und – die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes (Art. 81 Abs. 1 GG). 125 Hiernach kann der Bundestagspräsident auch gegen den Willen der Parlamentsmehrheit verpflichtet werden, die Parlamentssitzung zu einem bestimmten Termin anzuberaumen. 126 Vgl. BVerfGE 25, 352; 30, 108.

106

372

§ 5 Bundespräsident

107

Hinzu treten verfassungsgewohnheitsrechtliche und einfachgesetzliche Zuständigkeiten. Zu nennen ist etwa die offizielle Bestimmung des Termins für die Wahlen zum Bundestag nach § 16 BWahlG, die Ernennung und Entlassung der Parlamentarischen Staatssekretäre nach §§ 2, 4 ParlStG, die Berufung einer Sach­ verständigenkommission zur Parteienfinanzierung nach § 18 Abs. 6 PartG oder die Ernennung der Mitglieder des Bundespersonalausschusses nach § 120 Abs. 3 BBG (s. a. Rn. 168 ff.). Zählt man die Bundesverfassungsrichter nicht zu den Bundesrich­ tern im Sinne von Art. 60 Abs. 1 GG, so ist ihre Ernennung durch den Bundesprä­ sidenten nur einfachgesetzlich in § 10 BVerfGG verankert.

108

Die genannten Befugnisse des Bundespräsidenten lassen sich auf unterschied­ lichste Weise zusammenfassen und systematisieren. Im Folgenden soll eingegan­ gen werden auf seine Rolle in der Außenvertretung (II.), in der Regierungsbildung und Regierungsarbeit des Bundes (III.), in der Gesetzgebung des Bundes (IV.) so­ wie im Verteidigungsfall (V.). Darüber hinaus ist auf sein Recht zur Entlassung von Bundesrichtern, Bundesbeamten etc. (VI.) und auf sein Begnadigungsrecht (VII.) gesondert einzugehen. Abschließend sollen seine Befugnis zur Festsetzung von Staatssymbolen (VIII.), seine gesetzlich zugewiesenen Befugnisse (IX.) sowie seine prozessuale Rechtsstellung (X.) behandelt werden.

II. Außenvertretung 1. Allgemeines 109

Eine wichtige Befugnis des Bundespräsidenten zur Außenvertretung ergibt sich aus Art. 59 Abs. 1 GG. Danach vertritt er die Bundesrepublik Deutschland völ­ kerrechtlich und schließt in ihrem Namen die Verträge mit auswärtigen Staaten, beglaubigt und empfängt die Gesandten.127 Daraus folgt allerdings keine Kompetenz des Bundespräsidenten zur eigenständigen Außenpolitik. Denn Art. 59 Abs. 1 GG regelt nur die völkerrechtliche Vertretungsmacht im Außenverhältnis, nicht aber die diesbezügliche innerstaatliche Willensbildung. Zwar liegt die Zuständigkeit zur „Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten“ gemäß Art. 32 Abs. 1 GG beim Bund. Damit ist jedoch nur die Verbandskompetenz des Bundes, hingegen noch nicht die Organkompetenz, das heißt die Bestimmung des zuständigen Bundesorgans geregelt. Diese liegt vielmehr grundsätzlich bei der Bundesregierung, wobei innerhalb der Bundesregierung vor allem der Außenmi­ nister (entsprechend seiner Ressortkompetenz) und der Bundeskanzler (im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz) die Außenpolitik bestimmen. Soweit es um inhalt­ liche Verhandlungen geht, treten dementsprechend auf der internationalen Bühne in erster Linie die Bundesregierung bzw. deren Unterhändler auf. 127

S. zur Rolle des Bundespräsidenten in der Außenvertretung auch Kloepfer, Verfassungs­ recht, Bd. I, 2011, § 35 Rn. 133 ff.

D. Aufgaben und Befugnisse

373

Dem Bundespräsidenten kommt demgegenüber im Bereich der Außenvertre­ tung in erster Linie eine lediglich repräsentative und „notarielle“ Funktion zu (Erteilung von Vollmachten, feierliche Unterzeichnung von Verträgen o. ä.). Das heißt zum einen, dass der Bundespräsident in diesem Bereich nicht gegen den Willen der Bundesregierung tätig werden darf. Dies ergibt sich aus dem Text des Grundgesetzes, nämlich aus dem Gegenzeichnungserfordernis (Art. 58 GG, dazu unten Rn. 177 ff.).

110

Über den Text des Grundgesetzes hinaus besteht aber sogar ein Anspruch der Bundesregierung, dass der Bundespräsident entsprechende Handlungen vor­ nimmt, wenn sein Mitwirken erforderlich ist (etwa einen völkerrechtlichen Ver­ trag zu ratifizieren, selbst wenn der Bundespräsident ihn für politisch falsch hält). Vereinzelt wird aber für Ausnahmefälle ein politisches Weigerungsrecht des Bun­ despräsidenten gefordert.128 Zulässig ist nach allgemeiner Auffassung aber eine Weigerung des Bundespräsidenten aus rechtlichen Gründen (etwa wenn ein er­ forderliches Zustimmungsgesetz nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist).

111

Der Umfang der Außenvertretung durch den Bundespräsidenten ergibt sich aus Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG. Demnach steht dem Bundespräsidenten die gesamte völker­ rechtliche Vertretung129 des Bundes zu, d. h. er hat die umfassende Befugnis zur Abgabe völkerrechtserheblicher Erklärungen für die Bundesrepublik Deutsch­ land. Die Sätze 2 (Abschluss völkerrechtlicher Verträge)  und 3 (Beglaubigung und Empfang von Gesandten) betreffen demgegenüber nur Unterfälle von Satz 1. 

112

Trotz dieser umfassenden Vertretungsbefugnis des Bundespräsidenten ist es in der Staatspraxis (vor allem im Bereich der Regierungs- und Ressortabkommen so­ wie bei den einseitigen Erklärungen) nicht selten, dass der Bundespräsident überhaupt nicht mitwirkt, sondern die maßgeblichen Erklärungen unmittelbar von Mitgliedern der Exekutive bzw. deren Vertretern abgegeben werden. Bisweilen wird dies durch die (fragwürdige) Auslegung gerechtfertigt, Art. 59 Abs. 1 GG räume dem Bundespräsidenten zwar eine umfassende, aber nicht ausschließliche Befug­ nis zur Außenvertretung ein.130 Ein weiterer Ansatz geht dagegen in diesen Fällen von einer (ggf. stillschweigenden oder gewohnheitsrechtlichen) Delegation auf die Bundesregierung aus.131 Andere halten diese Praxis schlicht für verfassungs­

113

128 So von Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 59 Rn. 53, wenn außen­ politische Vorhaben „erkennbarer und zweifelsfreier Weise gemeinwohlunverträglich sind“ oder wenn von ihnen „erhebliche schädliche Auswirkungen für das Ansehen des Staates zu erwarten sind“. 129 Der Begriff der Vertretung ist freilich nicht i. S. v. § 164 BGB zu verstehen. Zum einen handelt der Bundespräsident als Organ der Bundesrepublik Deutschland, nicht als deren Ver­ treter. Zum anderen gibt er mangels inhaltlicher Gestaltungs- und Entscheidungsbefugnisse in der Außenpolitik auch keine „eigene“ Willenserklärung ab. 130 So wohl Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 59, Rn. 40 ff.; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 23. 131 Geiger, Staatsrecht III, 7. Auflage 2018, S.118; Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975, S. 212; Pieper, in: Epping / Hillgruber, GG, 2. Aufl. 2013, Art. 59, Rn. 11; BVerfGE 68, 1,82.

374

§ 5 Bundespräsident

widrig.132 Jedenfalls zeigt sich auch hier einmal wieder, dass bei den Regelungen zum Bundespräsidenten der Verfassungstext die Verfassungswirklichkeit nur be­ grenzt widerspiegelt (s. schon Rn. 3 f.). 114

Der Begriff der völkerrechtlichen Vertretung legt es nahe, den Anwendungs­ bereich des Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG auf völkerrechtserhebliche Erklärungen zu be­ schränken und die sonstige Repräsentation nach außen als Teil der ungeschrie­ benen Repräsentationsfunktion (s. o. Rn. 26 ff.) anzusehen.133 Im Ergebnis kann diese Frage offen bleiben. Jedenfalls hat der Bundespräsident im Rahmen seiner Repräsentationsfunktion auch unterhalb der Schwelle der Völkerrechtserheblich­ keit den Bund nach außen zu repräsentieren. Dazu zählen insbesondere der Emp­ fang bedeutender Gäste aus anderen Staaten, Staatsbesuche und Reden im Ausland, Interviews mit ausländischen Medien etc.

115

Dass Art. 59 Abs. 1 GG die Formulierung „Bund“ statt „Bundesrepublik Deutschland“ verwendet, darf nicht im Sinne eines dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs gedeutet werden. Wie schon allgemein zur Repräsentationsfunktion festgestellt, bezieht sich im Rahmen des zutreffenden zweigliedrigen Bundesstaatsbegriffs insbesondere auch die völkerrechtliche Vertretung auf die Bundesrepublik Deutschland (als Gesamtheit von Bund und Ländern) und nicht auf eine vermeintliche eigene staatsrechtliche Ebene „Bund“ (s. o. Rn 28).

2. Völkerrechtliche Verträge 116

Der wichtigste Unterfall der völkerrechtlichen Vertretung betrifft den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG. Der Bundespräsident hat dabei aber keinen inhaltlichen Einfluss (s. schon Rn. 109 ff.). Der Begriff der völker­ rechtlichen Verträge in Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG erfasst alle völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen mit anderen Völkerrechtssubjekten (auch wenn sich der Verfassungstext auf auswärtige Staaten beschränkt).134 Erfasst ist aber nur der Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen, die Kündigung oder andere auf einen Vertrag bezogene Gestaltungserklärungen fallen unter Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG. 132

Rojahn, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art 59, Rn. 8; Hartwig, in: Umbach / Cle­ mens, GG, 2002, Art. 59, Rn. 24; Kempen, in: Mangoldt / K lein / Starck GG, 7.  Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 17 f.; Rauschning, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 143. Akt. 2009, Art. 59, Rn. 25 ff.; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 23. 133 So auch Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 2; Rojahn, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 59, Rn. 5; für ein Verständnis als allgemeine Repräsen­ tationsbefugnis Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 16 und Streinz, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 12. 134 Geiger, Staatsrecht III, 7. Aufl. 2018, S. 117; D. Seidel, Der Bundespräsident als Träger der auswärtigen Gewalt, 1972, S. 54; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 20; Butzer / Haas, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofman / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 59 Rn. 11 f.; Jarass, in: ders.  / ​ Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 4; Rojahn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 59, Rn. 13; Streinz, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 14; selbst wenn man das nicht so sähe, er­ gäbe sich die Befugnis des Bundespräsidenten aus Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG.

D. Aufgaben und Befugnisse

375

Auch wenn das Völkerrecht bestimmte gewohnheitsrechtliche Grundsätze zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge kennt (die mit der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 (WVK)135 auch kodifiziert wurden), macht es keine genauen Vorgaben zum Ablauf des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge. Theoretisch sind sogar mündlich geschlossene völ­ kerrechtliche Verträge möglich. Gleichwohl läuft der Vertragsabschluss in der Praxis meist wie folgt ab: Unterhändler der Regierung handeln einen Text aus, den sie nach Abschluss der Verhandlungen paraphieren. Darauf folgt die Unterzeichnung des Vertrags. Stellt diese be­ reits die völkerrechtlich bindende Erklärung dar, so spricht man vom einphasigen Verfahren.

117

Im Unterschied dazu erfolgt im sogenannten mehrphasigen Verfahren die Unterzeichnung unter Ratifikationsvorbehalt, das heißt die Unterzeichnung geschieht noch ohne unmittelbaren Rechtsbindungswillen. Erst nach erfolgreichem Abschluss eines innerstaatlichen Verfahrens (i. d. R. Zustimmung des nationalen Parlaments) kommt es mit der Ratifikation zur völkerrecht­ lich verbindlichen Erklärung. Diese erfolgt regelmäßig durch den Austausch sogenannter Rati­ fikationsurkunden bzw. durch die Hinterlegung bei einem Verwahrer (vgl. Art. 76 ff. WVK).

118

Die Einbindung des Bundespräsidenten erfolgt im mehrphasigen Verfahren insbesondere beim formalen Abschluss, der Ratifikation (freilich ohne inhalt­ lichen Einfluss). Aber auch für die Vertragsverhandlungen erteilt er regelmäßig gesonderte Vollmachten.136 In der Literatur ist umstritten, inwieweit letzteres ver­ fassungsrechtlich geboten ist: Der „Abschluss“ völkerrechtlicher Verträge lässt sich eng verstehen, nämlich als nur die Abgabe der völkerrechtlichen Willens­ erklärung (hier dann der Ratifikation).137 Nach einem weiten Verständnis kommt es hingegen auch auf die dahin führenden Schritte an.138 Auch Abkommen, die im einphasigen Verfahren abgeschlossen werden, fallen eigentlich in die Zuständig­ keit des Bundespräsidenten nach Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG. Soweit in der Praxis etwa bei Regierungs- und Ressortabkommen der Bundespräsident nicht eingeschaltet wird, muss die Befugnis insofern von ihm auf die Bundesregierung delegiert wor­ den sein (dazu Rn. 113).

119

3. Beglaubigung und Empfang der Gesandten Art. 59 Abs. 1 S. 3 GG weist das aktive und passive Gesandtschaftsrecht dem Bundespräsidenten zu. Der Begriff „Gesandter“ ist dabei als allgemeine Be­zeichnung für diplomatische Vertreter gemeint.139 Beglaubigung bedeutet die 135

Wiener Übereinkommen vom 23.5.1969 über das Recht der Verträge, BGBl. 1985 II, S. 926. Streinz, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 14. 137 Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 59, Rn. 78 ff. 138 Rauschning, in: BK, 143. Akt. 2009, Art. 59, Rn. 59. 139 JöR n. F. 1 (1951), S. 414. Er entspricht dem völkerrechtlichen Begriff des Missionschefs in Art. 14 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD), wobei um­ stritten ist, ob auch die niedrigste Klasse der Missionschefs, die Geschäftsträger, umfasst sein sollen (dagegen etwa Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 59, Rn. 85 m. w. N.). Er ist jedenfalls nicht gleichzusetzen mit dem engeren völkerrechtlichen Begriff des Gesandten in Art. 14 Nr. 1 lit. b WÜD. 136

120

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§ 5 Bundespräsident

verbindliche Benennung deutscher diplomatischer Vertreter gegenüber einem Völkerrechtssubjekt durch Ausstellen einer Beglaubigungsurkunde (aktives Ge­ sandtschaftsrecht). Der Empfang von Gesandten ist das Gegenstück dazu: Hier nimmt der Bundespräsident die Beglaubigungsurkunde von fremden Diplomaten entgegen und führt so deren Akkreditierung herbei (passives Gesandtschafts­ recht). Beide Akte, die Beglaubigung der deutschen wie der Empfang der auslän­ dischen Gesandten, stellen die verfassungsrechtliche Einbindung in den völker­ rechtlichen Rahmen dar, der im Wesentlichen durch das Wiener Über­ein­kommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961140 vorgegeben wird. Nach dessen Art. 4 ist der Beglaubigung das sog. Agrément vorgeschaltet, mit welchem der Empfangsstaat dem Entsendestaat bekundet, dass ihm der betreffende Ge­ sandte genehm ist. Umgekehrt hat der Bundespräsident auch beim Empfang von ausländischen Gesandten zu überprüfen, ob die Bundesregierung der betreffenden Person ihr Agrément erteilt hat. Auch insofern erfüllt der Bundespräsident also nur eine staatsnotarielle Funktion. 4. Sonstige völkerrechtliche Vertretung 121

Alle sonstigen völkerrechtlichen Erklärungen, insbesondere einseitige völ­ kerrechtliche Erklärungen, fallen unter Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG, der insofern den Charakter eines Auffangtatbestandes hat. Beispielhaft zu nennen sind etwa die Kündigung eines Vertrages, die Unterwerfungserklärung, die Anerkennung, der Protest, der Verzicht, das Versprechen oder die Kapitulation.141

III. Einbindung in die Regierungsbildung und Regierungsarbeit 122

Von besonderer Bedeutung sind die Funktionen, die der Bundespräsident in Be­ zug auf die Bildung und den Fortbestand der Bundesregierung wahrzunehmen hat. In diesem Bereich kommt ein großer Teil der Reservebefugnisse des Bundes­ präsidenten zum Tragen. 1. Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers

123

Gemäß Art. 63 Abs. 2 S. 2, Abs. 4  GG hat der Bundespräsident den Bundes­ kanzler zu ernennen und umgekehrt auch zu entlassen (s. a. § 7 Rn. 51, 60, 65, 177). Sind diese Akte wegen ihrer konstitutiven Wirkung für das Amtsverhältnis von großer rechtlicher Bedeutung, vollzieht der Bundespräsident mit ihnen doch 140 BGBl. 1964 II, S. 958, abgedruckt z. B. in Schwartmann, Völker- und Europarecht, 11. Aufl. 2018, Nr. 20. 141 Vgl. näher dazu Schweitzer, Staatsrecht III, 11. Aufl. 2016, Rn. 530 ff.

D. Aufgaben und Befugnisse

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keine eigenen Entscheidungen, sondern gießt lediglich eine anderweitig, nämlich vom Bundestag getroffene Entscheidung in die verfassungsrechtlich dafür vorge­ sehene Form. Den Bundespräsidenten trifft insofern grundsätzlich eine Pflicht zur Ernennung, soweit der Gewählte die Annahme der Wahl nicht verweigert, die Wahl ordnungsgemäß erfolgte und die Wählbarkeitsvoraussetzungen vorliegen (Prüfungsrecht des Bundespräsidenten).142 Insofern offenbart sich einmal mehr seine Funktion als „Staatsnotar“ (s. Rn. 34). Nur im Fall, dass kein Kandidat die Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“) erringen konnte, steht es gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG im politischen Ermessen des Bundespräsidenten, ob er den Kan­ didaten mit den meisten Stimmen ernennt oder den Bundestag auflöst. In dieser Situation der politischen Krise (unklare Mehrheitsverhältnisse) wird also eine der Reservebefugnisse (s. Rn. 35 f.) des Bundespräsidenten aktuell. Der Bundespräsident schließt die Wahl des Bundeskanzlers nicht nur durch die Ernennung ab, sondern er leitet sie auch ein. Die erste Wahlphase beginnt gemäß Art. 63 Abs. 1 GG mit dem Vorschlag eines Kandidaten durch den Bundespräsidenten. In der Praxis ist das regel­ mäßig der Kandidat, für den sich in den (verfassungsrechtlich nicht normierten, aber politisch besonders wichtigen) Koalitionsverhandlungen eine Mehrheit herauskristallisiert hat (s. a. § 7 Rn. 98 ff.). Verfassungsrechtlich geboten ist das aber nicht, der Bundespräsident ist insofern in seiner Entscheidung frei. Darin ist aber keine mit nennenswertem Gestaltungspotential verbundene Befugnis des Bundespräsidenten zu sehen. Denn in der zweiten und dritten Wahlphase geht das Vorschlagsrecht auf den Bundestag über. Das heißt der Bundespräsident kann einen Bundeskanzler nicht dadurch verhindern, dass er sich weigert, ihn vorzuschlagen.

124

2. Ernennung und Entlassung der Bundesminister Wie schon beim Bundeskanzler trifft den Bundespräsidenten auch hinsichtlich der vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Bundesminister grundsätzlich eine Ernennungspflicht. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 64 Abs. 1 GG. Auch hier steht die Ernennungspflicht unter dem Vorbehalt des Prüfungsrechts des Bundespräsidenten, das heißt er kann (und muss) die Ernennung insbesondere dann verweigern, wenn rechtliche Ernennungsvoraussetzungen (dazu § 7 Rn. 86) nicht vorliegen.143

125

Interessanter als die Befugnis zur rechtlichen Kontrolle ist die Frage nach einem sachlichen bzw. politischen Ablehnungsrecht des Bundespräsidenten bei der Be­ setzung der Ministerposten (etwa wegen fehlender Eignung oder einer belasteten Vergangenheit).144 Eine Ansicht im Schrifttum räumt dem Präsidenten die Befug­ nis ein, ungeeignete oder gar unhaltbare Vorschläge des Bundeskanzlers gemäß Art. 64 Abs. 1 GG abzulehnen.145 Jedenfalls in für das Staatswohl untragbaren Ex­

126

142

Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 27. Statt vieler Epping, in: BeckOK GG, 26. Ed. 2015, Art. 64, Rn. 8. 144 Ausführlich hierzu Stein / Frank, Staatsrecht, 21. Aufl. 2010, S. 102 ff. 145 Knöpfle, DVBl. 1966, 721; Menzel, DÖV 1965, 593. 143

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tremfällen solle eine Weigerung zulässig sein.146 Unter Verweis auf den Wortlaut dieser Vorschrift und die nichtregierende Stellung des Bundespräsidenten gegen­ über dem vorschlagenden Kanzler wird diese politische Kompetenz allerdings überwiegend – zutreffend – verneint.147 Das bedeutet nicht, dass er seine Bedenken gegen einen Kandidaten nicht äußern dürfte. Dringt er mit seinen Argumenten aber nicht durch, so muss er sich dem Willen des Bundeskanzlers beugen.148 In die Nähe eines (partiellen) sachlichen Ablehnungsrechts kommt man aber, wenn man die Verfassungstreue zur rechtlichen Ernennungsvoraussetzung macht (s. zu dieser umstrittenen Frage § 7 Rn. 38 f., 86). Dogmatisch gesehen wäre eine Wei­ gerung des Bundespräsidenten, einen (vermeintlich) verfassungsfeindlichen Kan­ didaten zu ernennen dann aber Ausdruck der in Rn. 125 umrissenen rechtlichen Prüfungsbefugnis des Bundespräsidenten und nicht (nur) des hier angesprochenen sachlichen Ablehnungsrechts. 3. Befugnisse in Regierungskrisen 127

Was den Fortbestand der Bundesregierung in Regierungskrisen betrifft, ist der Bundespräsident sowohl in das Verfahren des konstruktiven Misstrauensvotums nach Art. 67 GG als auch in das der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG eingebunden (s. dazu ausführlich § 7 Rn. 120 ff., 136 ff.).

128

Im Falle des erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotums, im Falle also der in der Wahl eines neuen Bundeskanzlers zum Ausdruck kommenden Abwahl des amtierenden Bundeskanzlers durch den Bundestag, kommt dem Bundesprä­ sidenten eine eigenständige Entscheidungsbefugnis allerdings nicht zu. Deutlich formuliert Art. 67 Abs. 1 S. 2 GG: „Der Bundespräsident muß dem Ersuchen [des Bundestages] entsprechen und den Gewählten ernennen“ – also auch den bisherigen Bundeskanzler entlassen. Er wird hier also nur „staatsnotariell“ tätig. Ihm steht hier dasselbe formelle Prüfungsrecht zu wie bei der regulären Wahl des Bundes­ kanzlers (s. o. Rn. 123). 146

So wohl: Degenhart, Staatsrecht I, 34. Aufl. 2018, Rn. 744; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 262; Schröder, in: Iseensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, § 65 Rn. 34. 147 Erichsen, Jura 1985, 373 (377); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 52. Lfg. 2008, Art. 64, Rn. 14; Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64, Rn. 27; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 78; Epping, in: BeckOK GG, 26. Ed. 2015, Art. 64, Rn. 8. 148 So versuchte etwa Lübke (CDU) erfolglos, seinen Nachfolger im Amt des Landwirt­ schaftsministers, Werner Schwarz (CDU), sowie den (nicht mit dem späteren Bundeskanzler zu verwechselnden) Außenminister Gerhard Schröder (CDU) zu verhindern. Demgegenüber brachte Heuss (FDP) den damaligen Bundeskanzler Adenauer (CDU) erfolgreich dazu, 1953 von einer erneuten Ernennung Thomas Dehlers (FDP) als Justizminister Abstand zu nehmen. Begründung dafür waren Konflikte zwischen Dehler und dem Bundesverfassungsgericht. Vgl. hierzu von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl. 2016, S. 342 f.

D. Aufgaben und Befugnisse

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Demgegenüber steht es (wie schon nach einer gescheiterten Bundeskanzlerwahl, Art. 63 Abs. 4 S. 3 Alt. 2 GG, s. o. Rn. 123) nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage (Art. 68 GG) im Ermessen des Bundespräsidenten, ob er den Bundes­ tag auflöst oder nicht (s. dazu § 7 Rn. 146 ff.). Die Auflösung des Bundestags nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage ist die bisher praktisch relevanteste Reservebefugnis des Bundespräsidenten. Bislang hat sich der Bundespräsident nach jeder negativ beantworteten Vertrauensfrage (1972: Brandt, 1982: Kohl, 2005: Schröder) für eine Auflösung des Parlaments entschieden. Neben der Reservefunk­ tion kommt auch hier die „staatsnotarielle“ Funktion des Bundespräsidenten zum Tragen: Er muss prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen der Vertrauensfrage erfüllt sind (dazu, insbesondere zum Prüfungsumfang bei der sog. auflösungsge­ richteten Vertrauensfrage, näher § 7 Rn. 147 ff.).

129

4. Genehmigung der Geschäftsordnung der Bundesregierung Gemäß Art. 65 S. 4 GG muss die von der Bundesregierung beschlossene Ge­ schäftsordnung der Bundesregierung vom Bundespräsidenten genehmigt werden. Eine umfassende Autonomie – wie z. B. dem Bundestag oder dem Bundes­ rat  – steht der Bundesregierung also nicht zu. Der Genehmigungsvorbehalt in Art. 65 S. 4 GG lässt sich wohl nur als anachronistisches Relikt aus der Weimarer Verfassung (vgl. Art. 55 WRV) erklären, in der die Regierung noch dem Präsiden­ ten verantwortlich war.149

130

Aus der Wortwahl „genehmigt“ und aus einer Gegenüberstellung mit der an ver­ gleichbaren Stellen verwendeten Terminologie (Art. 82 GG) lässt sich schließen, dass dem Bundespräsidenten eine umfassende, insbesondere auch die materiellrechtliche Komponente umfassende Prüfungsbefugnis und -pflicht bezüglich der Geschäftsordnung zukommt. Eine verfassungswidrige Geschäftsordnung darf der Bundespräsident nicht genehmigen.

131

Keiner Genehmigung des Bundespräsidenten bedarf die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), die als Verwaltungsvorschrift und nicht als Geschäftsordnung i. S. v. Art. 65 S. 4 GG einzustufen ist (s. § 7 Rn. 188).150

132

5. Informationen durch die Bundesregierung Nach § 5 GOBReg unterrichtet der Bundeskanzler den Bundespräsidenten lau­ fend über seine Politik und die Geschäftsführung der einzelnen Bundesminister, indem er ihm wesentliche Unterlagen zukommen lässt, über Angelegenheiten von 149 Schmidt, AöR 128 (2003), 609 (620 f.); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 52. Lfg. 2008, Art. 65 GG, Rn. 114. 150 Epping, in: BeckOK GG, 26. Ed. 2015, Art. 65, Rn. 19.3.

133

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besonderer Bedeutung Bericht erstattet oder bei Bedarf sogar persönlich vorträgt. Es geht hier maßgeblich um eine exekutivinterne informationelle Einbeziehung des Staatsoberhaupts. 134

Dieser nur in der Geschäftsordnung niedergelegten Unterrichtungspflicht der Bundesregierung entspricht ein Informationsrecht des Bundespräsidenten, dem trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung im Grundgesetz verfassungsrechtlicher Charakter zukommt. Bei den Informationspflichten handelt es sich um Ausprägungen der Verfassungsorgantreue.151 Der Bundespräsident ist für die Erfül­ lung der ihm von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben auf Informationen ange­ wiesen, die er nur von der Bundesregierung erhalten kann.152 Dieser Informations­ beschaffung dient auch das in § 23 Abs. 1 GOBReg festgelegte Recht des Chefs des Bundespräsidialamts, an den Sitzungen der Bundesregierung teilzunehmen.

IV. Einbindung in die Gesetzgebung 1. Übersicht 135

Der Bundespräsident ist auch in die Gesetzgebung des Bundes eingebunden, al­ lerdings nur in den Erlass von Parlamentsgesetzen. Rechtsverordnungen153 werden ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten erlassen. Im Einzelnen sind seine Befug­ nisse im „normalen“ Gesetzgebungsverfahren und im Fall des Gesetzgebungsnot­ stands (dazu Rn. 148) zu unterscheiden. Stets beschränken sich die Mitwirkungsbe­ fugnisse des Bundespräsidenten auf die Endphase des Gesetzgebungsverfahrens. Ein Recht zur Gesetzesinitiative steht ihm dagegen nicht zu, wiewohl er frei ist, den politischen Anstoß für ein Gesetz zu geben oder ein Gesetzgebungsverfahren inhaltlich zu beeinflussen.154 2. Einbindung in das normale Gesetzgebungsverfahren a) Ausfertigung und Verkündung der Gesetze

136

Der Bundespräsident hat gemäß Art. 82 Abs. 1 GG – als „Staatsnotar“ – die vom Bundestag unter Mitwirkung des Bundesrats verabschiedeten Gesetze auszuferti­ gen und die Verkündung zu veranlassen. Die Ausfertigung, also die Unterzeichnung (der Originalfassung) des Gesetzes durch den Bundespräsidenten, ist unbe­ dingte Voraussetzung dafür, dass das Gesetz verkündet wird und in Kraft treten kann. Sie bekundet nicht nur, dass das Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß 151

S. § 1 Rn. 158 ff. Vgl. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 79. 153 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 301 ff. 154 Vgl. dazu auch Kunig, Jura 1994, 217 (219). 152

D. Aufgaben und Befugnisse

381

durchgeführt wurde, sondern auch, dass der anschließend verkündete, verbind­ liche Gesetzestext mit dem vom Gesetzgeber beschlossenen Inhalt des Gesetzes übereinstimmt. Deshalb hat der Bundespräsident in jedem Fall die Authentizität des jeweiligen Gesetzestextes zu überprüfen. Die Verkündung erfolgt im Bundesgesetzblatt.155 Im Verteidigungsfall kann sie gemäß Art. 115d Abs. 3 GG i. V. m. Art. 115a Abs. 3 S. 2 GG auch in anderer Weise erfolgen. Die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt muss allerdings nachgeholt werden. b) Umfang der Prüfungsbefugnis des Bundespräsidenten Über diese Authentizitätsprüfung hinaus hat der Bundespräsident ausweis­ lich des Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG auch zu prüfen, ob das Gesetz tatsächlich „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommen“ (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG) ist.156 In dieser Prüfung kommt seine staatsnotarielle Funktion besonders deutlich zum Ausdruck. Welchen Maßstab er bei dieser Prüfung zugrunde zu legen hat, ist im Schrifttum nach wie vor umstritten:

137

Einigkeit herrscht diesbezüglich darüber, dass dem Bundespräsidenten ein Recht zukommt und auch die Pflicht trifft, die formelle Verfassungsmäßigkeit der auszufertigenden Gesetze zu überprüfen.157 Deshalb hat er die auszufertigenden Gesetze nicht nur im Hinblick auf die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes zu überprüfen,158 sondern auch auf die Einhaltung der Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren (ordnungsgemäße Gesetzesinitiative, Mehrheit im Bundestag, ordnungsgemäße Beteiligung des Bundesrats usw.159).

138

Nach wie vor heftig umstritten ist, ob der Bundespräsident auch zu einer materiellen Prüfung des auszufertigenden Gesetzes berechtigt oder gar verpflichtet ist, ob er also das Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten und den sonstigen materiellen verfassungsrechtlichen Anforderungen (insbesondere mit den Staatsstrukturprinzipien) überprüfen darf (und muss).

139

155

Hierzu näher Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 260 ff. Aus der Formulierung des Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG wird deutlich, dass Gegenstand des Prü­ fungsrechts jedenfalls nicht die Einhaltung von Europarecht sein kann; anderer Auffassung ist aber Schladebach, JA 2016, 355. 157 Vgl. nur Battis / Gusy, Einführung in das Staatsrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 285; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 82, Rn. 3; Nierhaus / Mann, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 82, Rn. 6; v. Lewinski, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 162. Akt. 2013, Art. 82, Rn. 117; gegen eine Unterscheidung von formeller und materieller Prüfung Linke, DÖV 2009, 434 (437). 158 Deutlich verlangt BVerfGE 32, 9 (23), dass der Bundespräsident „kein Gesetz ausfertigen [darf], für dessen Erlaß in diesem Augenblick keine Zuständigkeit des Bundes gegeben war.“ 159 S. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren im Ein­ zelnen Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 167 ff. 156

382

§ 5 Bundespräsident

140

Ursächlich für den Streit ist der insofern offene Wortlaut des Art. 82  GG: Betonen lässt sich einerseits die Formulierung „zustande gekommen“, was den Prüfungsumfang auf die Genese des Gesetzes beschränken könnte,160 ander­ seits umfassen die „Vorschriften dieses Grundgesetzes“ eben auch und gerade die Grundrechte sowie andere materiell-rechtliche Vorgaben. Angesichts dieses offenen Wortlauts werden von den Vertretern beider Auffassungen verschiedene weitere Argumente bemüht.

141

Gegen ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten wird zunächst eine fehlende Notwendigkeit hierfür ins Spiel gebracht. Denn mit der Gegenzeichnung durch ein Mitglied der Bundesregierung gemäß Art. 58 GG und den regierungsinternen Verfassungskonformi­ tätsprüfungen durch das Bundesinnenministerium und durch das Bundesjustizministerium, vor allem aber mit der möglichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht sei hinreichend sichergestellt, dass nur solche Gesetze dauerhaft Geltung erlangten, die auch in materiell-rechtlicher Hinsicht verfassungskonform seien. Darüber hinaus lasse sich ein ma­ terielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten mit dem dem Bundesverfassungsgericht vom Grundgesetz zugewiesenen „Gesetzesverwerfungsmonopol“ (s. dazu § 8 Rn. 467 ff.) nicht ver­ einbaren. Ebenso stünde seine Anerkennung im Widerspruch zu der enumerativen Regelung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 BVerfGG, wonach dem Präsidenten gerade keine An­ tragsbefugnis zur abstrakten Normenkontrolle zugestanden werde.161

142

Allerdings gibt es überzeugende Kritik an diesen Argumenten gegen ein materielles Prüfungsrecht: Mehrfachkontrollen seien dem Rechts­staat nicht fremd, die verfassungs­ gerichtliche Kontrolle sei insofern nur die letzte Stufe.162 Und das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts werde schon deshalb nicht durch ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten unterlaufen, weil es im Wege des Organstreitverfahrens zumindest die Verfassungswidrigkeit der Weigerung des Bundespräsidenten, das entsprechende Gesetz auszufertigen, feststellen könne. Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung werde durch die des Bundespräsidenten insofern weder vorweggenommen noch präjudiziert. Auch die man­ gelnde Antragsbefugnis des Präsidenten zu einer abstrakten Normenkontrolle spreche nicht zwingend gegen eine Überprüfung durch den Präsidenten selbst. Im Ergebnis wirke er näm­ lich bereits innerhalb des Entstehungsprozesses des Gesetzes mit, während die gerichtliche Kontrolle die Rechtmäßigkeit des Gesetzgebungsakts erst nachträglich kontrollieren könne. Zudem könne die Kontrolle des Bundespräsidenten regelmäßig zeitnäher ansetzen als die des Bundes­verfassungsgerichts; das Bundesverfassungsgericht kann das Inkrafttreten nur aus­ nahmsweise (durch einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG) verhindern.

143

Können die gegen ein materielles Prüfungsrecht sprechenden Argumente auch widerlegt werden, so sprechen freilich auch wenig zwingende Argumente für ein materielles Prüfungs­ recht. Zwar stützen sich Vertreter dieser Auffassung163 zum Teil auf den Text des vom Bun­ despräsidenten zu leistenden Amtseids, nach dem er das Grundgesetz zu wahren und zu

160 Linke, DÖV 2009, 434 (440) spricht sich gegen ein weitgehendes Prüfungsrecht in mate­ rieller und formeller Hinsicht aus. 161 Erichsen, Jura 1985, 424 (425 f.); Friesenhahn, in: FS Leibholz, Bd. II, 1966, S. 678 ff. 162 Kunig, Jura 1994, 217 (220). 163 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 58, Rn. 16, unter Verweis auf Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Bd. V, (1960), Art. 82, Rn. 2; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepu­

D. Aufgaben und Befugnisse

383

verteidigen hat. Auch wird die nach Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG bestehende Grund­ rechts- und Gesetzesbindung (auch) des Bundespräsidenten herangezogen, deren vorsätzliche Missachtung eine Präsidentenanklage gemäß Art. 61 GG nach sich ziehen kann. Unabhängig davon, dass der Amtseid aber gerade keine rechtlichen Pflichten des Bundespräsidenten kon­ stituiert (s. o. Rn. 62), setzen all diese Vorschriften bereits einen bestimmten Inhalt des Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG voraus, determinieren ihn aber nicht ihrerseits.164 Außerdem kann die präsi­ diale Bindung nach Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG gerade keine Kompetenzinhalte vermitteln, sondern diesen allenfalls Schranken setzen.

Insgesamt ist jedenfalls von einer Befugnis des Bundespräsidenten zur Verwei­ gerung der Ausfertigung eines Gesetzes bei dessen evidenter materieller Verfassungswidrigkeit auszugehen. Es ist vor dem Hintergrund von Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG schwer einzusehen, warum der Bundespräsident verpflichtet sein soll, offensichtlich verfassungswidrigen Gesetzen zur Geltung zu verhelfen.165 Angesichts der Kompliziertheit vieler verfassungsrechtlicher Fragen und der be­ sonderen interpretatorischen Offenheit des Verfassungsrechts dürften evidente materielle Verfassungsverstöße aber relativ selten sein.

144

In der ständigen Staatspraxis wird von einem formellen und materiellen Prüfungsrecht ausgegangen.166 Dabei ist aber die Zurückhaltung des Bundespräsidenten bemerkenswert: Von 1949 bis Ende 2019 wurden nur acht Gesetze vom jeweiligen Bundespräsidenten nicht ausgefertigt. Theodor Heuss konnte sich bei seiner Entscheidung im Jahre 1951, das Gesetz zur Durchführung des Art. 108 Abs. 2 GG nicht auszufertigen, auf ein – damals noch mögli­ ches – Gutachten des Bundesverfassungsgerichts (s. § 8 Rn. 220) stützen. 1961 fertigte Heinrich Lübke das Gesetz gegen den Betriebs- und Belegschaftshandel nicht aus, weil es gegen Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG verstoße. Im Jahr 1969 verweigerte Gustav Heinemann die Ausfertigung eines Änderungsgesetzes zum Ingenieurgesetz, weil Letzteres zwischenzeitlich vom Bundesverfas­ sungsgericht aufgrund fehlender Gesetzgebungskompetenz für nichtig erklärt worden war.167 Diese rechtliche Wertung des Bundesverfassungsgerichts zu den Gesetzgebungskompetenzen legte er ein Jahr später auch bei der Verweigerung der Ausfertigung des Architektengesetzes zugrunde. Walter Scheel verweigerte 1976 seine Unterschrift unter eine Wehrpflichtnovelle, die seiner Ansicht nach der Zustimmung des Bundesrats bedurft hätte. 1991 lehnte Richard v. Weizsäcker es ab, ein Gesetz zur formellen Privatisierung der Flugsicherung zu unterzeich­ nen – hoheitliche Befugnisse müssten in der Regel durch Beamte ausgeübt werden. Schließlich hat Horst Köhler 2006 die Ausfertigung eines Gesetzes zur materiellen Privatisierung der Flug­

145

blik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 322; ausführlich und mit weiteren Nachweisen Friauf, in: FS Carstens, Bd. II, 1984, S. 548. 164 So wörtlich Kunig, Jura 1994, 217 (220), unter Verweis auf Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 82, Rn. 7. 165 So auch v. Lewinski, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 162. Akt. 2013, Art. 82 Rn. 164. 166 Vgl. dazu etwa die Aufzählung bei Butzer, in: Maunz / Dürig, 73. Lfg. 2014, Art. 82, Rn. 117 ff.; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 82, Rn. 2, Anhang; Schoch, ZG 2008, 209 (211 f.); ausführlich v. Lewinski, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, Art.  82, Rn. 84 ff. 167 Insofern handelt es sich hier weniger um eine Ausfertigungsverweigerung aufgrund ver­ fassungsrechtlicher Bedenken, vielmehr hatte sich das Änderungsgesetz durch die Nichtigkeit des Stammgesetzes erledigt.

384

§ 5 Bundespräsident

sicherung (wegen Verstoßes gegen den inzwischen geänderten Art. 87d GG168) sowie des Ver­ braucherinformationsgesetzes in der damaligen Fassung (aus Kompetenzgründen) verweigert.

146

Insgesamt wurde also bis Ende 2019 in fünf Fällen aus formellen Gründen und in drei Fällen aus materiellen Gründen die Zustimmung verweigert. Angesichts der vielen Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht Gesetze für – formell oder materiell – verfassungswidrig befunden hat, ist diese Zahl erstaunlich klein. Es ist deshalb statistisch gesehen unplausibel, dass der Bundespräsident nur Gesetze ausfertigt, die er explizit für verfassungskonform hält. Auch und gerade hinsichtlich des nach weitgehend unbestrittener Auffassung unbeschränkten formellen Prüfungsrechts ist es unwahrscheinlich, dass jedes der vielen vom Bundesverfas­ sungsgericht für formell verfassungswidrig erklärten Gesetze vom Bundespräsidenten zuvor für formell verfassungsgemäß befunden wurde. Jedenfalls die Verfassungspraxis legt daher ein Verständnis nahe, in dem der Bundespräsident zwar zur Ausfertigungsverweigerung berechtigt ist, die Frage, ob er ein Gesetz näher auf seine Verfassungsmäßigkeit prüft und entsprechende Konsequenzen daraus zieht, aber in seinem Ermessen liegt. Ob das mit der „staatsnotariellen“ Rolle des Bundespräsidenten sowie Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls bei evidenter Verfassungswidrigkeit wird man eine Pflicht zur Ausfertigungsverweigerung fordern müssen.

147

Ob der Bundespräsident zu Recht die Ausfertigung verweigert, kann – theoretisch – im Wege des Organstreitverfahrens überprüft werden. Insofern hat konzeptionell das Bundes­ verfassungsgericht stets das letzte Wort in der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Faktisch wurde aber – soweit ersichtlich – in keinem der acht Fälle ein Organstreitverfahren beschritten. Das Prüfungsrecht sollte in seiner machtpolitischen Bedeutung also nicht unter­ schätzt werden. Eine selbstbewusstere Prüfungspraxis der Bundespräsidenten könnte die Position des Amts im Verfassungsgefüge in sinnvoller Weise aufwerten. Freilich dürfte der Nimbus der präsidentiellen Ausfertigungsverweigerung schwinden, wenn zu häufig davon Gebrauch gemacht wird: Die anderen Verfassungsorgane wären dann vermutlich eher bereit, ein Organstreitverfahren anzustrengen. Dies wäre insbesondere wohl dann zu erwarten, wenn hinter den verfassungsrechtlichen Einwänden (partei-)politische Motive des Präsidenten ver­ mutet würden (Art. 81 Abs. 2 S. 1 GG).

3. Funktionen im Gesetzgebungsnotstand 148

Im Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) wachsen die Befugnisse des Bundes­ präsidenten über das Ausfertigungsrecht hinaus.169 Denn die für den Gesetzge­ bungsnotstand neben den engen materiellen Voraussetzungen konstitutive Erklärung des Gesetzgebungsnotstands nach Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG steht im Ermessen des Bundespräsidenten. Hierin liegt eine der wenigen echten (Reserve-)Befugnisse des Bundespräsidenten (dazu oben Rn. 35 f.). Anders als beim Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten der Weimarer Republik nach Art. 48 Abs. 2 WRV kann der 168

Infolge der Entscheidung Weizsäckers hatte man 1992 den Art. 87d Abs. 1 S. 2 GG ge­ schaffen, der eine formelle Privatisierung ausdrücklich für zulässig erklärte. Nach Auffassung Köhlers war eine materielle Privatisierung aber weiterhin ausgeschlossen. Art. 87d Abs. 1 S. 2 GG entfiel 2009. 169 S. zum Gesetzgebungsnotstand Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 281 ff.

D. Aufgaben und Befugnisse

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Bundespräsident beim Gesetzgebungsnotstand nicht eigenständig tätig werden: Sein Ermessen wird nur dann aktuell, wenn die Bundesregierung einen Antrag auf Erklärung des Gesetzgebungsnotstands stellt und der Bundesrat zustimmt. Wesent­ liche Rechtsfolge des Gesetzgebungsnotstands ist (verkürzt gesagt), dass ein Gesetz statt durch Mehrheit im Bundestag durch Mehrheit im Bundesrat beschlossen wird. (Art. 81 Abs. 2 S. 1 GG)

V. Kompetenzen im Verteidigungsfall Die Verkündung der Feststellung des Verteidigungsfalls ist nach Art. 115a Abs. 3 S. 1 GG Aufgabe des Bundespräsidenten. Die Feststellung des Verteidigungs­ falls, die vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats (Art. 115a Abs. 1 GG) oder – bei Verhinderung des Bundestags – vom Gemeinsamen Ausschuss (Art. 115a Abs. 2 GG) getroffen wird,170 wird von ihm entsprechend Art. 82 GG ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Im Hinblick auf die besonderen Umstände im Verteidigungsfall kann die Verkündung nach Art. 115a Abs. 3 S. 1 GG freilich auch in anderer Weise erfolgen. In diesen Fällen ist die Verkündung im Bundes­ gesetzblatt aber nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen. Hinsichtlich der Voraussetzungen der Feststellung des Verteidigungsfalls hat der Präsident ein for­ melles und materielles Prüfungsrecht.171 Hat der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats den Verteidigungsfall für beendet erklärt, so hat der Bundespräsident auch dies zu verkünden, Art. 115l Abs. 2 S. 1 GG.

149

Ist der Bundespräsident aufgrund der Umstände außerstande, die Feststellung des Ver­ teidigungsfalls zu verkünden, so greift zunächst die übliche Vertretungsregelung nach Art. 57 GG. Sind auch die Vertreter (Bundesratspräsident und dessen Vertreter) zur Verkün­ dung des Verteidigungsfalls außerstande, so hilft nur die Feststellungs- und Verkündungsfiktion des Art. 115a Abs. 4 GG (Angriffsbeginn) weiter, wobei eine Bekanntgabe des Ver­ teidigungsfalls sobald wie möglich nachzuholen ist (Art. 115a Abs. 4 S. 2 GG).

150

Nach Art. 115a Abs. 5 GG kann der Bundespräsident völkerrechtliche Erklärungen über das Bestehen des Verteidigungsfalls172 abgeben. Bei dieser Befugnis handelt es sich um einen Spezialfall der völkerrechtlichen Vertretung (Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG; s. Rn. 112), allerdings mit dem expliziten Erfordernis einer Zustimmung durch den Bundestag bzw. – bei Verhinderung des Bundestags – durch den Gemeinsamen Ausschuss.

151

170

Hierzu näher § 4 Rn. 31 ff.; sowie Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 29, Rn. 49 f. Epping, in Maunz / Dürig, GG, 64. Lfg. 2012, Art. 115a, Rn. 104; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 115 a, Rn. 15. 172 Eingehend zur Frage, welche völkerrechtlichen Erklärungen hierunter fallen können, Epping, in: Maunz / Dürig, GG, 64. Lfg. 2012, Art. 115a, Rn. 117 ff. m. w. N. 171

386

§ 5 Bundespräsident

VI. Ernennung der Bundesrichter, Bundesbeamten, Offiziere, Unteroffiziere 152

Art. 60 Abs. 1 GG gibt dem Bundespräsidenten die Ernennungs- und Entlas­ sungskompetenz für die Bundesrichter, die Bundesbeamten sowie für Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr.173 Diese Befugnis steht im Unterschied zu den Regelungen in Art. 63 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 64 Abs. 1 GG aber unter einfachem Gesetzesvorbehalt. Dieser Gesetzesvorbehalt wird von mehreren Geset­ zen ausgefüllt:

153

In allgemeiner Form nimmt § 12 Abs. 1 BBG diese grundgesetzliche Bestimmung für die Bundesbeamten auf und konkretisiert sie in den weiteren Vorschriften dann zum Teil. So kann der Bundespräsident nach § 54 BBG die politischen Bundesbeamten jederzeit in den einstwei­ ligen Ruhestand versetzen. Er kann, wenn er dies nicht auf andere Stellen delegieren will, die Bestimmungen über die für die Ausübung des Amts übliche oder erforderliche Dienstkleidung erlassen (§ 74 BBG). Wichtiger (u. a. für die daran anknüpfende Besoldung) dürfte dagegen die Befugnis des Bundespräsidenten sein, die Amtsbezeichnungen der Beamten festzusetzen (§ 86 Abs. 1 BBG).

154

Die Ernennung und Entlassung besonderer Bundesbediensteter durch den Bundespräsi­ denten ist in speziellen Gesetzen geregelt. So ernennt und entlässt der Bundespräsident auch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (§ 11 Abs. 1 S. 2 BDSG) sowie den Präsidenten und die anderen Mitglieder des Bundesrechnungshofs (§ 5 Abs. 2 BRHG). Die Befugnis und die Pflicht des Bundespräsidenten, die Richter des Bundes­ verfassungsgerichts zu ernennen bzw. auf ihren jederzeit möglichen Antrag zu entlassen, wird einfachgesetzlich in § 10 bzw. § 12 BVerfGG bestimmt. Nach § 8 ParlStG kann der Bundes­ präsident einem Parlamentarischen Staatssekretär auf Antrag des Bundeskanzlers das Recht verleihen, die Bezeichnung Staatsminister zu führen.

155

Für den Wissenschaftsrat beruft der Bundespräsident ferner 32 der 54 Mitglieder,174 die allerdings keine Bundesbediensteten sind.

156

Art. 60 Abs. 1 GG gibt dem Bundespräsidenten keine grundsätzliche Personal­ hoheit. Teilweise ergibt sich eine Pflicht des Bundespräsidenten zur Ernennung schon aus der Verfassung, soweit diese Personalentscheidungen bestimmten Stellen zuweist (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 95 Abs. 2 GG). Aber auch in den Bereichen, in denen das Grundgesetz nicht klar regelt, wer das Personal auswählt, liegt die Auswahlentscheidung nicht beim Bundespräsidenten, sondern bei anderen Stel­ len.175 Dem Bundespräsidenten steht zwar – wie stets bei seinen „staatsnotariellen“ Befugnissen – eine Rechtskontrolle zu, im Übrigen muss er aber die von anderen 173

Der Bundespräsident hat diese Befugnisse jedoch weitgehend an andere Behörden delegiert, s. dazu z. B. Anordnung des Bundespräsidenten über die Ernennung und Entlassung der Beam­ tinnen und Beamten, Richterinnen und Richter des Bundes vom 23. Juni 2004 (BGBl. I S. 1286). 174 Art. 4 Abs. 3 Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung des Wissenschaftsrates v. 5.9.1957 in der Fassung ab 1.1.2008. 175 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 60, Rn. 1; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 60, Rn. 18.

D. Aufgaben und Befugnisse

387

Stellen getroffenen Auswahlentscheidungen nachvollziehen. Aus dem Verfassungs­ text geht das nur unzureichend hervor. Analog zur Ernennung der Bundesminister (s. o. Rn. 126) wird auch hier über ein Weigerungsrecht im Falle evidenter Unwür­ digkeit oder Ungeeignetheit diskutiert.176

VII. Begnadigung Nach Art. 60 Abs. 2 GG übt der Bundespräsident im Einzelfall für den Bund – nicht für die Länder – das Begnadigungsrecht aus. Angesichts des geringen Um­ fangs des Gnadenrechts des Bundes sowie weitreichender Delegationen auf andere Stellen (s. u. Rn. 160), ist diese Zuständigkeit des Bundespräsidenten von eher geringer Bedeutung.177 Begnadigung bedeutet die Anordnung des teilweisen oder vollständigen Verzichts auf die Vollstreckung einer rechtskräftig ausgesproche­ nen Strafe oder strafähnlichen Sanktion. Rechtscharakter, Justiziabilität (s. u. Rn. 161 ff.) und die grundsätzliche Berechtigung von Gnadenentscheidungen in einem modernen Rechtsstaat sind im Einzelnen umstritten.178

157

Die Begnadigung ist von verwandten Instituten zu unterscheiden. So ist eine „Abolition“ auf die Niederschlagung eines noch anhängigen Verfahrens gerichtet – sie ist nach dem Grund­ gesetz unzulässig. Eine „Amnestie“ betrifft über einen Einzelfall hinausgehend stets eine größere Personengruppe, wobei sie sowohl auf den Verzicht der Durchführung von Strafver­ fahren wie auch auf den Verzicht der Vollstreckung von Strafurteilen gerichtet sein kann. Eine Amnestie ist verfassungsrechtlich nicht schlechthin ausgeschlossen, bedarf aber als generelle und noch dazu wesentliche Regelung eines formellen Bundesgesetzes.179 In der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland kam es 1949 und 1954 zu Amnestiegesetzen, die unter anderem auch NS-Tätern zugutekamen.180

158

Das Begnadigungsrecht umfasst über reine Strafurteile hinaus insbesondere auch Disziplinarstrafen und andere Sanktionen mit strafähnlichem Charakter. Dazu zählen grundsätzlich auch Bußgelder im Ordnungswidrigkeitenrecht.181 Ihm unterfallen hingegen nicht die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 63–70b StGB). Dabei handelt es sich um Maßregeln, die auch gegen schuldun­ fähige Täter verhängt werden können und dem Schutz der Allgemeinheit dienen.

159

176

Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 60, Rn. 1. Wird das Gnadenrecht des Bundespräsidenten doch einmal relevant, handelt es sich dafür oft um wichtige und vielbeachtete Fälle – etwa des RAF-Terroristen Christian Klar. Eine teil­ weise Übersicht über die Zahl der von den Bundespräsidenten Scheel, Carstens, Weizsäcker, Herzog, Rau und Köhler entschiedenen Gnadengesuche findet sich bei Pieper, in: BeckOK GG, 41. Ed. 2018, Art. 60, Rn. 20.1: Demnach wurde von diesen Bundespräsidenten über ins­ gesamt 97 Strafgnadengesuche und 898 Disziplinargnadengesuche entschieden. 178 Umfassend dazu etwa Blaich, System und rechtsstaatliche Ausgestaltung des Gnaden­ rechts, 2012; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, 1996; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, 1978. 179 Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 15, Rn. 16. 180 Vgl. dazu BVerfGE 2, 213 (220); 10, 234 (238). 181 Blaich, System und rechtsstaatliche Ausgestaltung des Gnadenrechts, 2012, S. 121, 137 f. 177

388

§ 5 Bundespräsident

160

Die praktische Bedeutung des Begnadigungsrechts des Bundespräsidenten darf nicht überschätzt werden. Denn zum einen ist das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten auf den Bund beschränkt, so dass es nur auf Strafen anwendbar ist, die von einem Bundesgericht in erster Instanz verhängt werden. Nach derzei­ tiger, aber in den verfassungsrechtlichen Grenzen wandelbarer Gerichtsverfassung reduziert sich das Begnadigungsrecht derzeit auf Strafurteile der Oberlandesgerichte in Staatsschutzsachen, weil die Oberlandesgerichte trotz ihres Charakters als Landesgerichte insoweit als Bundesgerichte tätig werden (Art. 96 Abs. 5 GG, §§ 120 Abs. 6, 142a GVG). Das Gnadenrecht in Strafsachen ist deshalb derzeit fast ausschließlich Sache der Länder.182 Zum anderen ist das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten in den anderen Fällen, also insbesondere in Disziplinarange­ legenheiten und im Ordnungswidrigkeitenrecht, vielfältig nach Art. 60 Abs. 3 GG auf andere Instanzen delegiert.183

161

Die Ausübung des Begnadigungsrechts steht in freiem Ermessen des Bundes­ präsidenten. Es besteht also keine Pflicht des Bundespräsidenten, die Gnadenakte zu erlassen, die ihm von der Bundesregierung vorgelegt werden. Es handelt sich damit um den seltenen Fall einer echten rechtlichen Befugnis, die aber nicht auf eine krisenhafte Situation beschränkt ist, also nicht zu den Reservebefugnissen des Bundespräsidenten zählt. Allerdings unterliegt die Begnadigung der Gegen­ zeichnung nach Art. 58 GG; der Bundespräsident kann also nicht gegen den Willen der Bundesregierung eine Begnadigung aussprechen.184 Die Gnadenentscheidung des Bundespräsidenten ist – nach herrschender Auffassung185 – nicht gerichtlich überprüfbar. Art. 19 Abs. 4 GG findet auf das Begnadigungsrecht keine Anwen­ dung. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: 182 In den meisten Bundesländern übt der Ministerpräsident das Begnadigungsrecht aus: Art. 52 Abs. 1 LV-BW, Art. 47 Abs. 4 LV-Bay, Art. 92 LV-Bbg, Art. 109 Abs. 1 LV-He, Art. 49 Abs. 1 LV-MV, Art. 36 Abs. 1 LV-Nds, Art. 59 Abs. 1 LV-NRW, Art. 103 Abs. 1 LV-RP, Art. 67 Abs. 1 LV-Sac, Art. 85 Abs. 1 LV-LSA, Art. 39 Abs. 1 LV-SH, Art. 78 Abs. 2 LV-Th. In den Stadtstaaten, also in den Ländern Berlin, Bremen und Hamburg steht das Begnadigungsrecht dem Senat zu: Art. 81 LV-Bln, Art. 121 Abs. 1 LV-Bre und Art. 44 Abs. 1 LV-Hbg. Die saar­ ländische Verfassung überlässt mit Art. 93 S. 1 LV-Saa die Festlegung der Zuständigkeiten im Gnadenrecht von vorneherein dem einfachen Gesetzgeber. Angesichts der großen Zahl an Fällen, die dem Gnadenrecht der Länder unterfallen, wird dessen Ausübung in der Praxis allerdings zu großen Teilen an andere Stellen (etwa an die Lan­ desjustizministerien oder an die Staatsanwaltschaften) delegiert und das Gnadenverfahren durch Gnadenordnungen (i. d. R. im Rang von Verwaltungsvorschriften) näher ausgestaltet. 183 Vgl. dazu die Anordnung des Bundespräsidenten über die Ausübung des Begnadigungs­ rechts des Bundes vom 5.10.1965 (BGBl. I S. 1573), zuletzt geändert durch Anordnung vom 3.11.1970 (BGBl. I S. 1513). Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass der Rechtsschutz in Disziplinarangelegenheiten auch für Bundesbeamte vor den Verwaltungsgerichten – also in erster und zweiter Instanz vor Landesgerichten – stattfindet (§ 45 S. 1 BDG). Zu diesem Pro­ blem Weiß, ZRP 2014, S. 117. 184 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 60, Rn. 8, 37; a. A. Pieper, in: BeckOK GG, 41. Ed. 2018, Art. 58, Rn. 12, der zwar von einer Gegenzeichnungsbedürftigkeit ausgeht, dem Bundespräsidenten aber insofern einen Anspruch auf Gegenzeichnung einräumen will. 185 Vgl. zum Streitstand Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, 1996, S. 157 ff.

D. Aufgaben und Befugnisse

389

„Art. 60 Abs. 2 GG begründet eine eigene Befugnis [des Bundespräsidenten], da helfend und korrigierend einzugreifen, wo die Möglichkeiten des Gerichtsverfahrens nicht genügen. Das hat zur Folge, daß der Gnadenakt … in jedem Fall einen Eingriff der Exekutive in die rechtsprechende Gewalt bedeutet, wie er sonst dem Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist. Das Grundgesetz hat jedoch dadurch, daß es das Begnadigungsrecht in dem geschicht­ lich überkommenen Sinne über­nom­men und auf ein Organ der Exekutive übertragen hat, die Gewaltenteilung modifiziert und im Bereich der Einzelbegnadigung dem Träger des Gnadenrechts eine Gestaltungsmacht besonderer Art verliehen. Das Gnadeninstitut kann daher nicht den Sicherungen, den Gewaltenverschränkungen und -balancierungen unterlie­ gen, die gewährleisten sollen, daß Übergriffe der Exekutive durch Anrufung der Gerichte abgewehrt werden können. Aus dem System und dem Gesamtgefüge des Grundgesetzes ergibt sich, daß Art. 19 Abs. 4 GG für Gnadenentscheidungen nicht gilt.“186

Der Widerruf einer Gnadenentscheidung ist dagegen gerichtlich überprüfbar.187 Durch den Gnadenerweis werden dem Verurteilten Freiheitspositionen ein­ geräumt, auf die er sich verlassen kann, solange er seine Verpflichtungen erfüllt.188

162

Im Interesse der Rechtsstaatlichkeit sollten Gnadenakte heute zurückhaltend gehandhabt werden, da das geltende Recht verschiedene Möglichkeiten einer vorzeitigen Entlassung aus der Haft vorsieht. Zudem stellen Gnadengesuche längst vergangene Straftaten wieder ins Licht der Öffentlichkeit und können aufgrund einer erneuten Diskussion über die Person des Täters die Versöhnung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft gefährden.

163

VIII. Festsetzung der Staatssymbole, Ordensverleihung Als höchster Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland hat der Bundesprä­ sident die ungeschriebene Verfassungskompetenz zur Festsetzung von Staats­ symbolen189, soweit sich diese nicht – wie die Bundesflagge und die Bundeshaupt­ stadt (Art. 22 GG) – bereits aus der Verfassung ergeben. Ob diese Kompetenz nur insoweit besteht, als der einfache Gesetzgeber keine Festlegungen zu den Staats­ symbolen getroffen hat (das hieße, dass der Gesetzgeber diese Kompetenz an sich ziehen kann), ist ungeklärt. Dafür spricht aber vieles.

164

In Anknüpfung an die verfassungsrechtlich festgelegten Farben der Bundes­f lagge bestimmt die Anordnung des Bundespräsidenten über die deutschen Flaggen die im internationalen Verkehr und zur nationalen Repräsentation dienenden Ho­ heitszeichen der Bundesrepublik Deutschland.190 Demgegenüber ist die Führung der Bun­desflagge durch die deutschen See- und Binnenschiffe gesetzlich geregelt.191

165

186

BVerfGE 25, 352 (361 f.). Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 60, Rn. 30. 188 BVerfGE 30, 108 (110 f.). 189 S. zu den Staatssymbolen auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 1, Rn. 60 ff. 190 Anordnung über die deutschen Flaggen v. 13.11.1996, (BGBl. I, S. 1729), zul. geänd. d. Anord. v. 22.11.2005, (BGBl. I, S. 3181). 191 Flaggenrechtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 4.7.1990, (BGBl. I, S. 1342), zul. geänd. d. Gesetz v. 18.7.2016 (BGBl. I, S. 1666). 187

390

§ 5 Bundespräsident

166

Die Nationalhymne wurde durch einen zweimaligen Briefwechsel zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten festgelegt.192

167

Dem Bundespräsidenten kommt darüber hinaus die ungeschriebene (aber nicht ausschließliche) verfassungsrechtliche Kompetenz zur Verleihung von Orden, Ti­ teln und Ehrenzeichen der Bundesrepublik Deutschland zu.193 Dies ist im Schrift­ tum freilich umstritten.194 Der Streit dürfte von nur geringer praktischer Relevanz sein, da sich die wichtigsten Einzelheiten aus dem Ordensgesetz ergeben, das in seinem § 2 Abs. 1 S. 1 den Grundsatz aufnimmt, nach dem Titel durch den Bun­ despräsidenten verliehen werden, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Orden und Ehrenzeichen der Bundesrepublik Deutschland können gemäß § 3 Or­ denG nur vom Bundespräsidenten oder mit seiner Genehmigung gestiftet und verliehen werden.

IX. Gesetzlich zugewiesene Befugnisse 168

Neben den verfassungsrechtlich normierten Befugnissen sind dem Bundesprä­ sidenten einzelne Aufgaben auch durch einfache Gesetze zugewiesen.

169

Zu nennen sind zunächst die Befugnisse nach dem Bundeswahlgesetz: Der Bundespräsident ernennt nach § 3 Abs. 2 BWahlG eine ständige Wahlkreiskom­ mission, welche die Aufgabe hat, über Änderungen der Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet zu berichten und darzulegen, ob und welche Änderungen der Wahl­ kreiseinteilung sie im Hinblick auf diese Änderungen für erforderlich hält. Auch bestimmt der Bundespräsident gemäß § 16 BWahlG den Wahltag, der auf einen Sonntag oder einen gesetzlichen Feiertag fallen muss. Ebenso legt er, sofern eine Wahl im Wahlprüfungsverfahren für das ganze Bundesgebiet für ungültig erklärt wurde, den Tag der Wiederholungswahl (§ 44 Abs. 3 S. 3 BWahlG) fest.

192

Die Festlegung der Nationalhymne erfolgte (mangels präsidialem Verordnungsrecht nach Art. 80 GG) durch einen Briefwechsel zwischen Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer im April 1952. Ein zweiter Briefwechsel zwischen Kohl und Weizsäcker erfolgte 1991 und legte für das wiedervereinigte Deutschland die dritte Strophe des Deutschlandliedes, geschrieben von Hoffmann von Fallersleben zur Musik von Joseph Haydn („Kaiserquartett“) als Nationalhymne fest. 193 Präsidial gestiftete Orden und Ehrenzeichen sind unter anderem der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland (Bundesverdienstkreuz), das Silberne Lorbeerblatt für sportliche Leistungen oder der Orden „Pour le mérite“. Die Kategorie der Titel ist bisher gegenstandslos, da ein dafür gem. § 2 Abs. 1 S. 2 OrdenG notwendiges Gesetz bisher nicht erlassen wurde. 194 Eine ungeschriebene Kompetenz bejaht Klein, in: Isensee / K irchhof, HbStR II, 3. Aufl. 2004, § 17, Rn. 21; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 54, Rn. 69 f.; Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 8; a. A. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 13; Kimminich, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 23. Lfg. 1970, Vorbem. z. Art. ­54–61, Rn. 22 ff.; zur Streitdarstellung: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 20.

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten

391

Auch in den politisch wie rechtlich schwierigen Bereich der Parteienfinanzierung ist der Bundespräsident eingebunden: Er kann gemäß § 18 Abs. 6 PartG die sogenannte Parteienfinanzierungskommission einberufen.

170

Über die im Grundgesetz vorgesehenen Ernennungs- und Entlassungszuständigkeiten des Bundespräsidenten (Art. 60 Abs. 1, 63, 64 Abs. 1, 67 GG) hi­ naus ernennt der Bundespräsident auch die Parlamentarischen Staatssekretäre (§§ 2, 4 ParlStG) und einen Teil der Mitglieder des Bundespersonalrats (§ 120 Abs. 3 BBG).

171

Auf die im Ordensgesetz geregelte Befugnis des Bundespräsidenten, Orden und Ehrenzeichen zu verleihen, wurde bereits hingewiesen (s. o. Rn. 167).

172

X. Prozessuale Rechtsstellung Der Bundespräsident ist als oberstes Bundesorgan möglicher Antragsteller und -gegner im Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Soweit ersicht­ lich, hat bisher jedoch noch kein Bundespräsident ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betrieben. Als Antragsgegner kommt der Bundes­ präsident hingegen etwa in Betracht, wenn er den Bundestag nach einer unechten Vertrauensfrage auflöst. Horst Köhler ließ sich in einem entsprechenden Verfahren vertreten und erschien nicht selbst in Karlsruhe.195 Auch die Weigerung, ein Gesetz auszufertigen, ist ein naheliegender – wenn auch bisher noch nicht eingetretener – Fall eines Organstreits gegen den Bundespräsidenten.196

173

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten I. Allgemeines Der Bundespräsident ist weder dem Bundestag noch dem Bundesrat gegenüber verantwortlich. Es gibt keine Möglichkeit, den Bundespräsidenten vor Ende seiner Amtszeit aus politischen Gründen abzuwählen. Es bleibt lediglich als ultima ratio die Möglichkeit der Präsidentenanklage nach Art. 61 GG, also eines Amts­ enthebungsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht aufgrund rechtlicher Verfehlungen (s. u. Rn. 194 ff.).

195

BVerfGE 114, 121 (123 f.). Eingetreten ist hingegen der umgekehrte Fall: 1957 leitete der Bundesrat ein Organ­ streitverfahren gegen den Bundespräsidenten ein. Ziel war die Feststellung, dass der Bundes­ präsident das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Preußischer Kulturbesitz“ nicht hätte ausfertigen dürfen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in anderer Sache das Gesetz für verfassungsgemäß befunden hatte, nahm der Bundesrat den Antrag zurück. Vgl. näher dazu Butzer, in: Maunz / Dürig, GG, 73. Lfg. 2014, Art. 82, Rn. 122 f. 196

174

392

§ 5 Bundespräsident

175

Als Ausgleich (partielles funktionelles Äquivalent) für die fehlende parlamen­ tarische Verantwortung sind die meisten rechtlichen Befugnisse des Bundespräsi­ denten an das Erfordernis der Gegenzeichnung (s. u. Rn. 177 ff.) durch ein Mit­ glied der Bundesregierung (welche ihrerseits dem Parlament verantwortlich ist) gekoppelt. Diese Gegenzeichnung nach Art. 58 GG ist nicht nur Rechtmäßigkeits-, sondern sogar Wirksamkeitsvoraussetzung für Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten.

176

Soweit dem Bundespräsidenten im Rahmen seiner Reservebefugnisse (s. Rn. 35 f.) ausnahmsweise eigene Entscheidungsspielräume zustehen, sind diese regelmäßig in ein Verfahren eingebunden, an dem auch mindestens ein anderes Verfassungs­ organ des Bundes beteiligt ist, das häufig sogar von den Entscheidungen mehrerer anderer Bundesorgane abhängig ist. So ist der Bundespräsident entweder nur an­ trags- oder aber nur entscheidungsbefugt, er kann mit anderen Worten eigenständig keine konstitutiven Entscheidungen treffen. Besonders deutlich wird dies am Verfahren des Gesetzgebungsnotstandes nach Art. 81 GG (s. Rn. 148).

II. Gegenzeichnungserfordernis 1. Geschichte und Funktionen des Gegenzeichnungserfordernisses 177

Das Erfordernis der Gegenzeichnung entstammt der Gedankenwelt der kon­ stitutionellen Monarchie (s. o. Rn. 10). Der Monarch war dem Parlament gegen­ über zwar nicht verantwortlich, seine Regierungsakte bedurften aber zur Wirk­ samkeit der Gegenzeichnung durch den zuständigen Minister. Dadurch konnte der Monarch zwar nicht mehr nach freiem Gutdünken agieren, weil aber Fortbe­ stand und Zusammensetzung der Regierung in der Hand des Monarchen lagen, bedeutete das keine nennenswerte Beschränkung der überkommenen Machtfülle des Monarchen. Zwar waren die Minister in gewissem Maße auch dem Parlament verantwortlich. Dessen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Minister waren aber so gering, dass nur eine schwache demokratische Kontrolle des Monarchen über den Umweg der Gegenzeichnung stattgefunden haben dürfte.197

178

In der Weimarer Republik blieb der rechtliche Mechanismus der Gegen­ zeichnung erhalten (Art. 50 WRV), die Bedeutung hat sich aber angesichts eines grundlegend gewandelten Verfassungsgefüges verschoben: Der Reichspräsident als „Ersatz-Monarch“ war jetzt selbst unmittelbar demokratisch legitimiert (s. o. Rn. 12), unterlag aber weiterhin der Gegenzeichnung durch die (schwächer legi­ timierte) Reichsregierung. Die Regierung hing zudem weiterhin maßgeblich von der Billigung des Reichspräsidenten ab (Art. 53 WRV), konnte jetzt aber auch vom Parlament zum Rücktritt gezwungen werden (Art. 54 WRV). Die Gegenzeichnung hatte in der Weimarer Republik also zumindest ein gewisses Potential indirekter 197

Vgl. näher Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 58, Rn. 3.

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten

393

parlamentarischer Kontrolle des Staatsoberhauptes, das aber durch die Abhängig­ keit der Regierung vom Reichspräsidenten begrenzt war. Heute verfolgt die Pflicht zur Gegenzeichnung von Anordnungen und Verfügun­ gen des Bundespräsidenten ein doppeltes Ziel. Zum einen soll verhindert werden, dass der Bundespräsident bei der Ausübung seiner „harten“ rechtlichen Befugnisse eine eigene Politik verfolgt. So wird ein einheitliches Auftreten der Exekutive des Bundes gewährleistet.198 Hierin spiegelt sich die Rede vom Bundespräsiden­ ten als „Staatsnotar“, dessen Mitwirken in verschiedenen Verfahren zwar vom Grund­gesetz vorgesehen ist, der aber – das stellt das Gegenzeichnungserfordernis sicher – nicht gegen den Willen der Regierung handeln darf. Das heißt allerdings nicht, dass der Bundespräsident im Rahmen seiner „weichen“ Handlungsformen (Reden, öffentliche Auftritte etc.) nicht auch eigene – der Linie der Bundesregie­ rung gegebenenfalls auch widersprechende – politische Akzente setzen darf, so­ lange er dabei das Gebot der Neutralität achtet (Einzelheiten sind streitig, dazu sogleich Rn. 183 f.; zur Neutralität oben Rn. 30).

179

Zum anderen soll die Gegenzeichnungspflicht verhindern, dass es politische Handlungen eines Staatsorgans gibt, für die niemand dem Parlament politisch verantwortlich ist. Denn in politischer Hinsicht trägt der Präsident keine par­ lamentarische Verantwortung und er kann auch nicht politisch verantwortlich gemacht werden.199 Mit der Gegenzeichnung übernimmt also die Bundesregierung die politische Verantwortung für die Handlung des Bundespräsidenten, bei dem aber gleichwohl eine rechtliche Verantwortung verbleibt, welche u. a. im Rahmen einer Präsidentenanklage (s. u. Rn. 192) oder der Amtshaftung relevant werden kann. Entgegen der wohl herrschenden Auffassung begründet die Gegenzeich­ nung aber zusätzlich auch eine rechtliche Verantwortung der Bundesregierung.200

180

Der Text des Grundgesetzes, der sich im Wesentlichen darauf beschränkt, dem Bundespräsidenten bestimmte Befugnisse einzuräumen (etwa die völkerrechtli­ che Vertretung, Art. 59 Abs. 1 GG, oder das Personalwesen des Bundes, Art. 60 Abs. 1 GG), die dann nach Art. 58 GG dem Gegenzeichnungserfordernis unter­ fallen, macht nicht deutlich, was nach herrschender Auffassung und auch in der Verfassungspraxis die entscheidende Rolle des Bundespräsidenten ist. Denn die Gegenzeichnung entspricht zunächst einmal nur einem Veto der Bundesregierung, das heißt die Bundesregierung kann nur verhindern, dass der Bundespräsi­ dent bestimmte Anordnungen und Verfügungen trifft. Hingegen geht nicht aus dem Verfassungstext hervor, dass die Bundesregierung über das Gegenzeichnungserfor­

181

198

Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 4. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 212, 213; v. ­L ewinski, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 162. Akt. 2013, Art. 82, Rn. 66. 200 Zutreffend Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 14; anders aber v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 58, Rn. 5; Pieper, in: BeckOK GG, 41. Ed. 2018, Art. 58, Rn. 8; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 12. 199

394

§ 5 Bundespräsident

dernis hinaus (und diesem vorgelagert) regelmäßig auch vom Bundespräsidenten verlangen kann, dass er seine Befugnisse in einer bestimmten Weise ausübt (einen von ihr ausgewählten Beamten ernennt, einen von ihr ausgehandelten völkerrecht­ lichen Vertrag ratifiziert usw.; s. Rn. 111, 156). In der Verfassungspraxis vollzieht der Bundespräsident im Bereich seiner rechtlichen Befugnisse (abgesehen von seinen Reservebefugnissen) deshalb in aller Regel nur die Entscheidungen nach, die andere Organe bereits in der Sache getroffen haben. Das Kontrollelement der Gegenzeichnung wird dann zum bloßen Formalismus.201 Es verhält sich sogar an­ dersherum: Der Bundespräsident darf in gewissem Umfang die Sachentscheidun­ gen dritter Organe, die er nachvollziehen soll, einer Rechtskontrolle unterziehen (s. dazu Rn. 34). De facto kontrolliert also weniger die Bundesregierung den Bun­ despräsidenten, sondern vielmehr der Bundespräsident die Regierung (im Fall der Ausfertigung von Gesetzen sogar den Gesetzgeber, s. Rn. 136 ff.). Dieser Tausch von Kontrolleur und Kontrolliertem hat in der verfassungsrechtlichen Literatur zur sogenannten Umpolungsthese geführt:202 Eigentlich hat  – bei funktionaler Betrachtung – die Mitwirkung des als „Staatsnotar“ eingebundenen und in gewis­ sem Umfang zur Rechtskontrolle befugten Bundespräsidenten den Charakter der Gegenzeichnung von Akten der Regierung bzw. des Gesetzgebers. Dieser Beob­ achtung ist im Ergebnis zuzustimmen; der Text des Grundgesetzes spiegelt diese Rollenverteilung allerdings nicht wider. 2. Gegenzeichnungspflichtige Anordnungen und Verfügungen 182

Welche Maßnahmen des Bundespräsidenten unter die „Anordnungen und Ver­ fügungen“ im Sinne von Art. 58 GG fallen, ist im Einzelnen durchaus umstritten. Einigkeit dürfte darin bestehen, dass (jedenfalls) alle rechtswirksamen Handlungen des Bundespräsidenten zu den gegenzeichnungspflichtigen Maßnahmen zählen. Das gilt unabhängig davon, ob die Maßnahme auf einer einfachgesetzli­ chen oder verfassungsrechtlichen Befugnis beruht.

183

Darüber hinausgehend wird vertreten, alle politisch relevanten Handlungen und Äußerungen des Präsidenten (insbesondere auch offizielle Reden) seien vom Erfordernis der Gegenzeichnung erfasst.203 Denn der Zweck des Art. 58 GG, eine 201 Das wird deutlich etwa an der Regelung des § 29 Abs. 2 GOBReg, wonach die Anord­ nungen und Verfügungen, die dem Bundespräsidenten zur Unterzeichnung vorgelegt werden, bereits vorab durch die Regierung gegengezeichnet werden. 202 Herzog, in: FS Gebhard Müller, 1970, S. 117 (128 f.); ders. in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 58, Rn. 14; kritisch Heun, in: Dreier, GG, 3. Auf. 2015, Art. 58, Rn. 6; Maurer, in: FS Carstens II, 1984, S. 701 (709 ff.); vermittelnd Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 22. 203 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 213; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 15, Rn. 27; Hemmrich, in: v. Münch / Kunig, GG, 5. Aufl. 2001, Art. 58, Rn. 4 (anders jetzt aber v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 58 Rn. 8).

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten

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ein­heitliche Politik der Exekutive zu ermöglichen und zu wahren (s. o. Rn. 179), könne nur in vollem Umfang verwirklicht werden, wenn auch und gerade die außer­ rechtlichen Handlungen des Bundespräsidenten, vor allem also dessen Reden und Interviews, der Gegenzeichnungspflicht unterfielen. Diese Auffassung kann sich auf die deutsche Verfassungstradition berufen: In der Weimarer Republik – und wohl auch schon im Kaiserreich – ging die herrschende Meinung davon aus, dass auch Realakte des Staatsoberhaupts (soweit sie der Amtsausübung zuzuordnen sind) grundsätzlich dem Gegenzeichnungserfordernis unterfallen.204 Schon angesichts des gewandelten institutionellen Kontexts des Instruments der Gegenzeichnung sollte an dieses hergebrachte Verständnis nicht unbesehen ange­ knüpft werden. Eine derart enge Bindung des Präsidenten an den Willen der Regie­ rung („Totalüberwachung“205) würde dessen Integrationskraft und ausgleichende Wirkung empfindlich beschränken. Deshalb besteht kein pau­­schales Gegenzeichnungserfordernis für sämtliche politische Tätigkeiten des Bundespräsidenten, was auch der Staatspraxis entspricht. Das bedeutet aber nicht, dass der Bundesprä­ sident in diesen Fällen nicht auf die Bundesregierung Rücksicht nehmen müsste. Eine solche Rücksichtnahmepflicht folgt zwar nicht aus Art. 58 GG, wohl aber aus dem allgemeinen Prinzip der Verfassungsorgantreue (s. dazu § 1 Rn. 158 ff.). Insbesondere folgt daraus, dass sich der Bundespräsident bei wichtigen Anlässen informell mit der Bundesregierung abzustimmen hat (etwa Abstimmung mit dem Bundeskanzler und / oder Außenminister bei Auslandsbesuchen). Im Regelfall wird man so zu einer gemeinsamen Linie finden; zumindest können Meinungsverschie­ denheiten angesprochen werden. Im Fall der Uneinigkeit kann die Bundesregie­ rung aber Realakte des Bundespräsidenten, mit denen sie nicht einverstanden ist, mangels Gegenzeichnungserfordernis nicht einseitig unterbinden.

184

Unabhängig von diesen Streitfällen sind von der Verfassung einige Maßnah­ men des Bundespräsidenten von der Gegenzeichnungspflicht ausgenommen und damit als persönliche Kompetenzen des Präsidenten gleichsam reserviert (Art. 58 S. 2 GG). Zu diesen geschriebenen Ausnahmen gehören im Einzelnen die Ent­ scheidung über die Ernennung oder Entlassung des Bundeskanzlers und über die Auflösung des Parlaments nach erfolgloser Kanzlerwahl (s. Rn. 123) sowie das Ersuchen eines ausgeschiedenen Regierungsmitglieds um Weiterführung der Ge­ schäfte (dazu § 7 Rn. 173 ff.). Als ungeschriebene Ausnahmen von der Gegen­ zeichnung kommen hinzu die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Organ­ streitverfahren, weil der Bundespräsident hiermit eigene Rechte geltend macht, sowie die Einberufung des Bundestags nach Art. 39 Abs. 3 S. 2 GG, da das Recht

185

204

Vgl. zum Kaiserreich Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 3. Aufl. 1988, S. 814; anders aber die Darstellung bei Herzog, in: FS Gebhard Müller, 1970, S. 117 (134 f.). Zur Weimarer Republik Marschall v. Bieberstein, in: Anschütz / T homa, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, S. 531. Soweit (zum Beispiel mangels Schriftlichkeit) eine schriftliche Gegenzeichnung nicht möglich war, musste zumindest vorab die Billigung des zuständigen Regierungsmitglieds eingeholt werden. 205 So die pointierte Formulierung von Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 58, Rn. 10.

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§ 5 Bundespräsident

des Bundespräsidenten neben dem des Bundeskanzlers sonst keinen Eigenwert hät­ te.206 Auch das Vorschlagsrecht für die Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 1, Art. 115h Abs. 2 S. 1 GG) ist von der Gegenzeichnung ausgenommen, weil für den Wahlvorschlag dasselbe wie für die Ernennung des Bundeskanzlers gelten muss.207 186

Umstritten ist die Gegenzeichnungsbedürftigkeit verschiedener Akte, denen ohnehin ein vorheriger Antrag der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers vo­ rausgehen muss. Das ist der Fall bei der Auflösung des Bundestags nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 GG),208 bei der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG)209 und bei der Erklärung des Verteidigungsfalls (Art. 115a Abs. 3 GG)210. Da es in diesen Fragen keine Spielräume hinsichtlich des „Wie“ des beantragten Akts gibt, erscheint ein Er­ fordernis der doppelten Billigung durch die Bundesregierung (Antrag und spätere Gegenzeichnung) durchaus redundant. Letztlich geht es hier um die Frage, ob die Bundesregierung die Möglichkeit haben soll, es sich noch einmal „anders zu über­ legen“, indem sie die Gegenzeichnung einer ursprünglich von ihr selbst beantragten Maßnahme verweigert. Dafür spricht zunächst der Wortlaut des Art. 58 GG, aber auch, dass es sich jeweils um weitreichende Entscheidungen handelt, die wichtige Schutzmechanismen der Verfassung relativieren. Zusätzliche Kontrollfilter sind deshalb im Zweifel wünschenswert. Bei der Bundestagsauflösung nach einer ge­ scheiterten Vertrauensfrage spricht ferner die relativ lange Frist von 21 Tagen für die Möglichkeit des Bundeskanzlers, sich umzuentscheiden. Deshalb ist im Er­ gebnis in allen drei Fällen von einem Gegenzeichnungserfordernis auszugeben.

187

Bezüglich der Ausübung des Begnadigungsrechts (Art. 60 Abs. 2 GG) sind keine tragfähigen Gründe ersichtlich, aus denen – abweichend von dem Grundsatz 206

So Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (173. Aktualisierung, 2015), Art. 58, Rn. 87; ihm folgend Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 58, Rn. 22. 207 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 3. 208 Für ein Gegenzeichnungserfordernis BVerfGE 62, 1 (34 f.)  – Bundestagsauflösung I; Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, BK, 173. Akt. 2015, Art. 58, Rn. 76; Fink, v. Mangoldt  / ​ Klein / Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 27 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 58, Rn. 34; v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 58, Rn. 19; dagegen: Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 15; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hof­ mann / Henneke, GG, Art. 58, Rn. 23 ff.; Nettesheim, in Isensee / K irchhof, HbStR III, 3. Aufl. 2005, § 62 Rn. 31; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 58, Rn. 22; Waldhoff / Grefrath, in: Friauf / Höfling, GG, 27. Lfg 2009, Art. 58, Rn. 20. 209 Für ein Gegenzeichnungserfordernis Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 28 ff.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art.  58, Rn. 26; dagegen: Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 58 Rn. 22; Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 14; Waldhoff / Grefrath, in: Friauf / Höfling, GG, 27. Lfg 2009, Art. 58, Rn. 20. 210 Für ein Gegenzeichnungserfordernis v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 58, Rn. 17; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, Art.  58, Rn.  27; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 58, Rn. 39a; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 58 Rn. 21; Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 43 f.; da­ gegen Waldhoff / Grefrath, in: Friauf / Höfling, GG, 27. Lfg 2009, Art. 58, Rn. 18.

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten

397

des Art. 58 S. 1 GG – die Gegenzeichnungspflicht entfallen sollte. Also bedürfen auch Begnadigungen durch den Bundespräsidenten der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder den zuständigen Bundesminister.211 Auch wenn das in der Literatur vereinzelt vertreten wurde, sind Unterlassungen des Bundespräsidenten (auch die erklärte Weigerung, eine bestimmte Handlung vorzunehmen) nicht gegenzeichnungsbedürftig.212 Dementsprechend bietet das Gegenzeichnungsrecht der Bundesregierung keine Handhabe der Regierung gegen die Verweigerung der Ausfertigung eines Bundesgesetzes. Denn die Nichtunter­ zeichnung ist ein bloßes Unterlassen und keine Anordnung oder Verfügung des Bundespräsidenten.

188

Schließlich sind nur solche Akte gegenzeichnungsbedürftig, die eine gewisse Außenwirkung haben. Daran fehlt es insbesondere bei Weisungen des Bundes­ präsidenten innerhalb des Bundespräsidialamts.213 Ähnliches gilt für Hand­ lungen des Bundespräsidenten, die sich auf seine eigene Amtsstellung beziehen – etwa die Erklärung des Amtsverzichts („Rücktritt“  – s. o. Rn. 72) oder die An­ nahme seiner Wiederwahl.

189

3. Person des Gegenzeichnenden Wer die Maßnahmen des Bundespräsidenten im Einzelnen gegenzeichnen muss, bestimmt sich nach der allgemeinen Geschäftsverteilung innerhalb der Bundesregierung, maßgeblich also nach Art. 65  GG (s. § 7 Rn. 296 ff.). Soweit die allgemeinen Richtlinien der Politik von Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten betroffen sind, muss deshalb der Bundeskanzler selbst die Gegenzeichnung vornehmen. In den übrigen Fällen ist der jeweilige Fachminister zuständig. Eine etwas konkretere Regelung findet sich in § 29 GOBReg, dessen Abs. 1 etwa festlegt, dass bei (formellen) Gesetzen sowohl die betroffenen Fach­ minister als auch der Bundeskanzler gegenzeichnen.

190

4. Form der Gegenzeichnung Die Form der Gegenzeichnung folgt grundsätzlich der Form des gegenzuzeich­ nenden Aktes.214 Dementsprechend erfolgt die Gegenzeichnung in aller Regel schriftlich. Dass das vom Verfassungsgeber als Regelfall gedacht war, legt schon der Begriff der „Zeichnung“ nahe. In  – verfassungsrechtlich wohl unbedenkli­ 211

Vgl. auch Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 58, Rn. 20. Vgl. Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 74 ff. m. w. N. 213 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 58 Rn. 28. 214 Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 58, Rn. 15; Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 22. Es spricht allerdings nichts dagegen, dass ein mündlicher Akt schriftlich gegengezeichnet wird. Schriftliche Akte müssen aber schriftlich gegengezeichnet werden. 212

191

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§ 5 Bundespräsident

cher – Abweichung von Art. 58 GG erfolgt die Gegenzeichnung in der Praxis nicht zeitlich nach der Unterschrift des Bundespräsidenten, sondern vorher (Vorzeich­ nung). So werden dem Bundespräsidenten bspw. die bereits gegengezeichneten Gesetze zur Ausfertigung vorgelegt und eigentlich auch deutlich gemacht, wer in der Regel der Sache nach wen kontrolliert (dazu oben Rn. 181).215 5. Rechtswirkungen der Gegenzeichnung 192

Die Gegenzeichnung bewirkt zunächst, dass die Bundesregierung für die in Frage stehende Maßnahme des Bundespräsidenten die politische und rechtliche Verantwortung gegenüber dem Parlament übernimmt, wobei aber zugleich auch der Bundespräsident rechtlich verantwortlich bleibt (s. o. Rn. 180). Der Bundes­ präsident kann sich also einer Präsidentenanklage (s. u. Rn. 194 ff.) nicht mit der bloßen Berufung auf die erfolgte Gegenzeichnung entziehen.

193

Darüber hinaus ist die Gegenzeichnung Wirksamkeitsvoraussetzung für die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten. Wird also eine Gegen­ zeichnung nicht vorgenommen, so erlangt die Maßnahme des Bundespräsidenten nach dem insofern deutlichen Wortlaut des Art. 58 GG keine Gültigkeit – sie ist unwirksam.

III. Präsidentenanklage 1. Allgemeines 194

Art. 61 GG gibt dem Bundestag und dem Bundesrat die – bisher glücklicher­ weise theoretisch gebliebene – Möglichkeit, den Bundespräsidenten wegen vor­ sätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen. Die Präsidentenanklage ermöglicht also den antragsberechtigten Organen, ein Amtsenthebungsverfahren aufgrund (vorsätzlicher) rechtlicher Verfehlungen auf den Weg zu bringen.216 Die Begriffe „Anklage“ und „schuldig“ in Art. 61 GG sowie die einfachrechtliche Ausgestal­ 215

Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 58, Rn. 24 („Vorzeichnung“). Vergleichbar ist das „impeachment“ der US-Verfassung (Art. II Abschnitt 4). Dieses Ver­ fahren ist auf die Amtsenthebung gerichtet. Richard Nixon trat zurück, als sich abzeichnete, dass wegen der Watergate-Affäre die erforderlichen Mehrheiten erreicht würden. Das (er­ folglose) Verfahren gegen Bill Clinton (wegen Meineids in der Lewinsky-Affäre) hat jedoch auch gezeigt, dass unabhängig von der Person das Amt Schaden nehmen kann. Zuletzt sorgte 2016 die Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff wegen angeblicher Verstöße bei der Führung der Staatsfinanzen für internationales Aufsehen. Ein wesentlicher Unterschied dieser Fälle zur Präsidentenanklage nach Art. 61 GG ist, dass dort – problemati­ scherweise – politische Gremien (die zweiten Kammern der Parlamente) über rechtliche Vorwürfe zu befinden hatten. 216

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten

399

tung in §§ 49 ff. BVerfGG machen die starke Anlehnung des Verfahrens an das Strafrecht deutlich. Gleichwohl hat die Präsidentenanklage keinen strafrechtlichen, sondern einen verfassungsrechtlichen Charakter.217 Die auf Amtsenthebung ge­ richtete Präsidentenanklage ist dabei stets ultima ratio – grundsätzlich vorrangig bei verfassungsrechtlichen Konflikten mit dem Bundespräsidenten sind die übli­ chen Mechanismen und Verfahren (etwa die Verweigerung der Gegenzeichnung oder die Einleitung eines Organstreitverfahrens). Art. 61 GG knüpft an Art. 59 S. 1 WRV an. Danach konnte der Reichstag (nicht aber der Reichsrat) neben dem Reichskanzler und den Reichsministern auch den Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof anklagen, schuldhaft (also im Unterschied zur Regelung in Art. 61 GG nicht nur vorsätzlich, sondern auch fahrlässig) die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt zu haben. Gewisse strukturelle Ähnlichkeiten bestehen zwischen der Präsidentenan­ klage und der Richteranklage nach Art. 98 Abs. 2, 5 GG, § 13 Nr. 9 BVerfGG.218

195

2. Verfahren Als ultima ratio der Möglichkeiten zur Kontrolle des Bundespräsidenten steht die Präsidentenanklage bereits verfassungsrechtlich unter mehreren erschwerenden Voraussetzungen. So ist für den Antrag auf Anklageerhebung zwar schon ein Viertel der Mitglieder des Bundestags bzw. des Bundesrats ausreichend, um auch politischen Minderheiten dieses Instrument offen zu halten (Art. 61 Abs. 1 S. 2 GG). Der Beschluss, dass tatsächlich Anklage gegen den Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben wird, erfordert dann aber doch die Mehrheit von zwei Dritteln der Bundestagsmitglieder bzw. der Stimmen des Bun­ desrats (Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG).

196

Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben werden vom BVerfGG aufgenommen und ausgestaltet. So gibt etwa § 52 Abs. 1 BVerfGG den antragstellenden Körper­ schaften die Möglichkeit, den Antrag bis zur Verkündung eines Urteils durch das Bundesverfassungsgericht jederzeit zurückzunehmen. Diese Vorschrift bringt deutlich zum Ausdruck, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Präsidenten­ anklage – anders als etwa bei der abstrakten Normenkontrolle – nicht Herr des Verfahrens ist. Vielmehr ist die Präsidentenanklage insofern von der Dispositionsmaxime geprägt. Dies erscheint insbesondere in den Fällen sinnvoll, in denen die Gründe für die Anklage während des Verfahrens wegfallen, etwa weil der Bundes­ präsident seine Haltung ändert.219 In Ergänzung der verfassungsrechtlichen Vor­

197

217

Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 61, Rn. 5; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 61, Rn. 7. 218 Das wird etwa daran deutlich, dass § 58 Abs. 1 BVerfGG für die Richteranklage verschie­ dene Vorschriften zur Präsidentenanklage für anwendbar erklärt. Ähnlichkeiten bestehen auch zur Entlassung von Bundesverfassungsrichtern nach § 105 Abs. 2 Nr. 2 BVerfGG. Dort wird in § 105 Abs. 3 BVerfGG auf einige Vorschriften zur Präsidentenanklage verwiesen. 219 Krehl, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 52, Rn. 1.

400

§ 5 Bundespräsident

gaben bestimmt § 50 BVerfGG darüber hinaus im Interesse der Rechtssicherheit, dass die Anklage nur innerhalb von drei Monaten, nachdem der ihr zugrunde­ liegende Sachverhalt der antragsberechtigten Körperschaft bekannt wurde, erho­ ben werden kann. 3. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 198

Voraussetzung für den Amtsverlust des Bundespräsidenten (genauer: die Amtsverlustigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht) nach Art. 61 Abs. 2 S. 1 GG ist zunächst die vom Bundesverfassungsgericht zu treffende Fest­ stellung einer vorsätzlichen Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes. Der zulässige Gegenstand der Anklage wird insofern eindeutig auf Bundesrecht begrenzt. Die Verletzung von Landesrecht, auch von Landesver­ fassungsrecht, berechtigt also nicht zur Präsidentenanklage. Darüber hinaus wird die Formulierung „andere Bundesgesetze“ eng interpretiert, so dass die Präsiden­ tenanklage nur mit der Verletzung von formellen Bundesgesetzen, nicht dagegen mit der Verletzung von Rechtsverordnungen begründet werden kann.220

199

Von Art. 61 GG erfasst sind nur Handlungen, die der Bundespräsident in Ausübung seines Amts vornimmt; private Handlungen vermögen den Amtsverlust grundsätzlich nicht zu begründen.221

200

Die Verletzung muss der Bundespräsident auch vorsätzlich begangen haben, bloße Fahrlässigkeit genügt also anders als noch in Art. 59 S. 1 WRV nicht. Über die genaue Reichweite des Begriffs des Vorsatzes besteht in der Literatur keine Einigkeit. Zu Recht wird aber vor einer un­differenzierten Übertragung der straf­ rechtlichen Dogmatik gewarnt. So muss sich anders als im modernen strafrechtli­ chen Deliktsaufbau der Vorsatz nicht nur auf die tatsächlichen Umstände, sondern auch auf die Rechtswidrigkeit erstrecken. Inwieweit und mit welchen Modifikatio­ nen sonstige Strafrechtsdogmatik (Schuldfähigkeit, Schuld- bzw. Strafausschlie­ ßungsgründe, Irrtumsdogmatik, Rechtfertigungsgründe etc.) zu übertragen ist, ist im Einzelnen ungeklärt.222

201

Liegen diese Voraussetzungen vor, steht es im Ermessen des Bundesverfassungsgerichts, ob es den Amtsverlust des Bundespräsidenten ausspricht oder nicht. Dabei ist insbesondere das Übermaßverbot zu berücksichtigen.223 Ist eine Amtsenthebung – die nur ultima ratio sein soll – unverhältnismäßig, so stellt das 220

H. M., vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 61, Rn. 15; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 61, Rn. 9; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 61, Rn. 10. 221 H. M., vgl. nur Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 61, Rn. 10 m. w. N. 222 Vgl. dazu aber etwa die in der Darstellung relativ stark an strafrechtlichen Kategorien orientierten Ausführungen von Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 61, Rn. 11 ff. 223 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 61, Rn. 62 f.

E. Kontrolle des Verhaltens des Bundespräsidenten

401

Bundesverfassungsgericht lediglich den Rechtsverstoß fest (vgl. § 56 BVerfGG). Andere, auch mildere Sanktionen darf das Bundesverfassungsgericht nicht anord­ nen.224 Die Entscheidung muss gemäß § 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG mit zwei Dritteln der Stimmen des Senats getroffen werden. Eine über die Vorsätzlichkeit hinausgehende qualifizierte Verletzung verlangt Art. 61 GG nicht, was in der Literatur aber z. T. anders gesehen wird.225 Der da­ mit einhergehenden Gefahr, dass der Bundespräsident bereits wegen eines nur unbedeutenden Verstoßes seines Amts verlustig erklärt werden könnte, wird aus­ reichend begegnet durch das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit in der antrag­ stellenden Körperschaft, durch den Ermessensspielraum des Bundesverfassungs­ gerichts auf der Rechtsfolgenseite und durch die Anwendung des Übermaßverbots.

202

Sofern das Bundesverfassungsgericht tatsächlich bestimmt, dass der Bundesprä­ sident sein Amt nicht weiter ausüben darf, kommt zum einen die Vertretungsregelung des Art. 57 GG zum Tragen (s. dazu Rn. 88 ff.), zum anderen greift Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG, so dass spätestens 30 Tage nach der Entscheidung des Bundesver­ fassungsgerichts die Bundesversammlung zusammenzutreten hat.

203

4. Möglichkeit der einstweiligen Anordnung Sollte die Rechtsverletzung des Bundespräsidenten so schwerwiegend sein, dass eine Fort­ führung bis zu einer endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht tragbar erscheint, etwa weil sie dem Amt des Bundespräsidenten oder dem Wohl der Bundesrepublik Deutschland schwer schaden würde, gibt Art. 61 Abs. 2 S. 2 GG, § 53 BVerfGG dem Bundes­ verfassungsgericht die Möglichkeit, dem Bundespräsidenten im Wege der einstweiligen Anord­ nung zu untersagen, sein Amt auszuüben. Entsprechend der Vertretungsregel des Art. 57 GG nähme der Präsident des Bundesrats in einem solchen Fall der rechtlichen Verhinderung die Befugnisse des Bundespräsidenten wahr. Setzt die einstweilige Anordnung auch voraus, dass eine Anklage vom Bundestag bzw. vom Bundesrat erhoben wurde, ist ihr Erlass doch unabhän­ gig von einem gesonderten Antrag.226 Das heißt, das Bundesverfassungsgericht kann in einem laufenden Verfahren auch von sich aus zu dem Entschluss kommen, eine einstweilige Anord­ nung zu erlassen. Insofern wird die Dispositionsmaxime von der Offizialmaxime verdrängt. Bei seiner Entscheidungsfindung wird das Bundesverfassungsgericht die Erfolgsaussichten dergestalt zu berücksichtigen haben, dass es die Folgen einer einstweiligen Amtsenthebung bei späterer Rückführung in das Amt gegen die Beschädigung des Amts durch unterlassene Suspendierung bei späterem Amtsverlust gegeneinander abwägt. 224

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, 54. Lfg. 2009, Art. 61, Rn. 63; Heun, in: Dreier,  GG, 3. Aufl. 2015, Art. 61, Rn. 17. 225 Gegen eine weitere Qualifikation des Rechtsverstoßes: v. Arnauld, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 61, Rn. 8; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 61, Rn. 2; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 61, Rn. 11; Nettesheim, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 61, Rn. 69. Dafür: Brinktrine, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (190.  Ak­ tualisierung, 2018), Art. 61, Rn. 106; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 61 Rn. 10 ff.; Nierhaus, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 61, Rn. 8. 226 Fink, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 61, Rn. 34.

204

402

§ 5 Bundespräsident

F. Ausblick 205

Das Amt des Bundespräsidenten ist das vornehmste der Republik, unter den obersten Staatsorganen ist es aber auch mit Abstand das blasseste. Diese vor­ nehme Blässe beruht zum einen auf der im Wesentlichen repräsentativen Stellung des Staatsoberhaupts, aber wohl auch auf der Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland sich bisher in keiner wirklichen Verfassungskrise befunden hat, in welcher der Bundespräsident über seine Rolle als „Staatsnotar“ hinauswachsen und im Rahmen seiner Reservefunktion eine wichtige eigenständige politische Rolle hätte spielen können. Zu kritisieren ist jedenfalls, dass für die einzige Reservebe­ fugnis, die bisher wirklich aktuell wurde – die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG – die politischen Handlungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten durch rechtliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zusätzlich eingeschränkt wurden.227 Im Falle einer Krise sollte – im Sinne eines wirksamen Krisenmanagements – sein Handeln möglichst wenigen zusätzlichen verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen sein.

206

Die Vorschriften des Grundgesetzes über den Bundespräsidenten haben sich nur begrenzt bewährt. In der Absicht, aus der Vergangenheit, d. h. aus der (zu) starken Rolle des Reichspräsidenten in der Weimarer Reichsverfassung zu lernen, hat das Grundgesetz die Entmachtung des Staatsoberhaupts zu weit getrieben und ihm den eigenständigen Zugang zur substantiellen politischen Gestaltung des Landes wei­ testgehend versagt. Das Grundgesetz weist dem Bundespräsidenten insgesamt eher eine Nebenrolle zu. Es nimmt daher nicht Wunder, dass in das Amt des Bundes­ präsidenten in der Vergangenheit häufig keine Politiker der ersten Reihe, sondern nur solche der zweiten oder auch dritten Reihe gelangten. Insgesamt ist das Amt des Bundespräsidenten relativ bedeutungslos für den politischen Kurs der Bundes­ republik Deutschland. Man kann sich tatsächlich fragen, ob die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland merklich anders gelaufen wäre, wenn es überhaupt keinen Bundespräsidenten gegeben hätte und die Aufgaben des Staatsoberhaupts gleichzeitig vom Regierungschef – wie z. B. in den Bundes­ländern – wahrgenom­ men worden wären. Der Rang als protokollarisch höchstes Amt im Staat und die geringe Macht des jeweiligen Amtsinhabers führen insgesamt nicht zu einer über­ zeugenden inneren Stimmigkeit der verfassungsrechtlichen Konstruktion des Ver­ fassungsorgans Bundespräsident.

207

Hinzu kommt, dass sich die Rolle des Bundespräsidenten, wie sie sich in der Verfassungs­ praxis etabliert hat und von der herrschenden juristischen Auffassung auch verfassungsrecht­ lich eingefordert wird, im Text des Grundgesetzes so nicht widerspiegelt (s. o. Rn. 3 f.). Bei unbefangener Lektüre des Verfassungstexts liegt der Schluss nahe, dass der Bundespräsident im Rahmen seiner Befugnisse Entscheidungen trifft, die dann aber unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Bundesregierung in Form der Gegenzeichnung (Art. 58 GG) stehen. Tat­ sächlich geht man aber bei fast allen rechtlichen Befugnissen des Bundespräsidenten darüber hinaus sogar von einem – von Ausnahmen abgesehen: ungeschriebenen – Anspruch anderer 227

BVerfGE 114, 121 (127 f.) – Bundestagsauflösung I.

F. Ausblick

403

Organe gegen den Bundespräsidenten aus, die von ihnen getroffenen Entscheidungen nach­ zuvollziehen (vorbehaltlich einer Rechtskontrolle).

Es besteht also doppelter Anlass für eine Reform des Amts des Bundespräsiden­ ten. Hier sind im Wesentlichen zwei Stoßrichtungen denkbar: Einerseits könnte man das Amt abschaffen.228 Die staatsnotariellen Funktionen sind oft verzicht­ bar (gerade angesichts immer lückenloser werdender (verfassungs-)gerichtlicher Kontrolle) oder ließen sich auf andere Organe übertragen. Schwieriger wäre schon die Frage, was mit den Reservekompetenzen geschehen soll. Ferner würde die – je nach Persönlichkeit des Amtsinhabers mal stärkere, mal schwächere – Repräsen­ tations- und Integrationswirkung des Bundespräsidenten verloren gehen. Deshalb spricht vieles für den gegenteiligen Ansatz, nämlich das Amt stärker zu machen.

208

Denkbar wäre etwa, das Grundgesetz beim Wort zu nehmen und den Bundespräsidenten im Bereich seiner rechtlichen Befugnisse eigene Entscheidungen treffen zu lassen, zu denen dann im Nachhinein die Bundesregierung entscheidet, ob sie ein Veto (Verweigerung der Gegenzeichnung) einlegt. So könnte zum Beispiel der Bundespräsident im Rahmen von Art. 60 Abs. 1 GG ein echtes Mitspracherecht in der Personalpolitik des Bundes erhalten. Ein neut­ ral angelegtes Organ wie der Bundespräsident könnte so die – gerade in der Ministerialbüro­ kratie, aber zunehmend auch in der Justiz – oft problematische Bevorzugung nach Parteibuch zurückdrängen und dadurch dem Leistungsprinzip des Art. 33 Abs. 2 GG stärkere Beachtung verschaffen. Noch weitergehend wäre die grundsätzliche Abschaffung des Gegenzeichnungs­ rechts, die im Übrigen ja Zustimmungserfordernisse im Einzelfall nicht verhindern würde.

209

Ein Dauerbrenner in der Diskussion ist schließlich die Volkswahl des Bundespräsidenten.229 Eine unmittelbare demokratische Legitimation könnte zu seiner politischen Stärkung und einer selbstbewussteren Wahrnehmung des Amts beitragen. Sie sollte aber einhergehen mit einer substantiellen Stärkung des Bundespräsidenten in anderen Bereichen. Denn Wahl­ akten, die letztlich weitgehend folgenlos bleiben, droht nicht nur eine sehr niedrige Wahlbe­ teiligung, sondern sie bergen auch die Gefahr einer allgemeinen Minderung des Vertrauens in demokratische Wahlen.

210

Was wird nun die politische Zukunft für das Amt des Bundespräsidenten bringen? Bei aller Kritik besteht kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Ein tiefer­ gehender Eingriff in das bisher im Großen und Ganzen ordentlich funktionierende Institutionengefüge des Grundgesetzes birgt die Gefahr einer Verschlechterung. Zudem sind die Bundespräsidenten im Allgemeinen auch relativ populär. Im Üb­ rigen dürften der Bundeskanzler sowie anderes Führungspersonal der ersten Reihe jedenfalls an der Option Stärkung des Bundespräsidenten wenig interessiert sein. Deshalb wird es wohl auf absehbare Zeit bei dem aktuellen verfassungsrechtlichen Rahmen für das Amt des Bundespräsidenten bleiben.

211

228

Die Abschaffung wurde schon bei der Staatsrechtslehrertagung 1966 diskutiert, vgl. etwa Henke, DVBl. 1966, 723 ff. Aus jüngerer Zeit etwa Isensee, NJW 1994, 1329 ff.; van Ooyen, RuP 2010, S. 129; Gehrlein, DÖV 2007, S. 280; Nierhaus, in: FS Betghe, 2009, S. 39 ff. m. w. Nachw. 229 Vgl. Kloepfer, Herrschaft auf Zeit – das Amt des Bundeskanzlers, FAZ v. 18.02.2016, S. 6; Ipsen, in: FS Schneider, 2008, S. 197 ff.

404

§ 5 Bundespräsident

212

So erscheint eine Stärkung des Bundespräsidentenamts unter dem geltenden Verfassungsrecht eher dadurch erreichbar zu sein, dass wirklich einmal Politiker der ersten Reihe (etwa der – noch – amtierende Bundeskanzler) für dieses Amt gewonnen werden. Der Bundespräsident selbst kann sein politisches Gewicht nach geltendem Verfassungsrecht vor allem durch öffentliche Auftritte vergrößern, wie das insbesondere v. Weizsäcker gelungen ist. Hierbei kann der Bundespräsident immerhin geistige, wenn auch nicht wirklich politische Führung erlangen.

213

Die Beliebtheit des Bundespräsidenten ist regelmäßig recht hoch. Dahinter steht in Deutschland möglicherweise ein vages Gefühl der „schmutzigen“ Partei­ politik. Je selbstbewusster ein Bundespräsident gegenüber den anderen Verfas­ sungsorganen auftritt, desto mehr dürfte er allerdings selbst als Akteur „der Poli­ tik“ wahrgenommen werden, worin durchaus auch eine Gefahr für das Ansehen des Bundespräsidenten liegen könnte. Gerade die Integrations- und Repräsenta­ tionsfunktion leben vom Nimbus des Überparteilichen. Für den Bundespräsidenten ist es eine schwierige Gratwanderung zwischen nötigenfalls beherztem Eingreifen in den politischen Prozess einerseits und Neutralität andererseits (s. o. Rn. 30).

214

Eine weitere Lösung von den monarchischen Wurzeln stünde dem Amt des Bundespräsidenten in einer Verfassungsreform wohl an. Dazu gehört eine beherzte Beschränkung des Gegenzeichnungsrechts (Art. 58 GG), aber andererseits auch die Beseitigung altertümlicher Ehrerbietungen durch das Protokoll („Aufstehen“ einer Versammlung bei dem zuletzt eintretenden Bundespräsidenten). Der „Ehrensold“ (s. Rn. 64) erscheint in seiner bisherigen Konzeption eher überlebt. Auf jeden Fall sollten zusätzliche Einkünfte künftig auf den „Ehrensold“ angerechnet werden. Besser noch wäre es, Art. 55 GG (Nebentätigkeiten, Berufsverbot) auch auf die Zeit nach der Beendigung des Bundespräsidentenamts auszudehnen und den Ge­ setzesbegriff „Ehrensold“ (§ 1 BPräsRuhebezG) durch „Ruhebezüge“ zu ersetzen. Folgerichtig sollte dann aber auch Art. 66 GG entsprechend ausgedehnt werden, also sowohl dem Bundeskanzler als auch den Bundesministern ein Berufsverbot auferlegt werden und ihnen ebenfalls über die bisherigen Ruhegehaltsregelungen hinaus Ruhebezüge zustehen. Schrifttum: Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl. 2016; Blaich, System und rechtsstaatliche Ausgestaltung des Gnadenrechts, 2012; Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975; Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955; Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278 ff.; Butzer, Der Bundespräsident und sein Präsidialamt, VerwArch 82 (1991), 497 ff.; ders., Im Streit: Die Äußerungsbefugnisse des Bundespräsidenten, ZG 2015, 97 ff.; Constant, De la na­ ture du pouvoir royal dans une monarchie constitutionnelle, in: Principes de Politique, Oeuv­ res, 1957, S. 1078 ff.; Erichsen, Der Bundespräsident, Jura 1985, 373 ff.; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956; Friauf, Zur Prüfungszuständigkeit des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung der Bundesgesetze, in: FS Carstens, Bd. II, 1984, S. 545 ff.; Friesenhahn, Zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, in: FS Leibholz, 1966, Bd. II, S. 679 ff.; Gehrlein, Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten?, DÖV 2007, S. 280 ff.; Hebeler, Der Rücktritt von öffentlichen Ämtern, DVBl 2011, 317 ff.; Henke, Die Bundesrepublik ohne Staatsober­

Schrifttum

405

haupt, DVBl. 1966, 723 ff.; Hömig, Angemessener Immunitätsschutz für den Bundespräsi­ denten?, ZRP 2012, 110 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 1003; Hull, in: Röhl (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, 1991, S. 3; Ipsen, Volkswahl des Bundespräsidenten, in: FS Schneider, 2008, S. 197 ff.; Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329 ff.; Kimminich, Das Staatsober­ haupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 ff.; Kloepfer, Respekt im Gemeinwesen und im Recht, VerwArch 2019, 419 ff.; Knöpfle, Das Amt des Bundespräsiden­ ten in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 1966, 721 ff.; Köhne, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2008, 95 ff.; Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217 ff.; Leisner, Der Staatspräsident als demokratischer Führer, in: FS Broermann, 1982, S. 433 ff.; ders., Nach der Bundespräsidentenwahl: Volkswahl des Staatsoberhauptes – ein Weg in die Präsidialdemo­ kratie?, NJW 2009, 2938 ff.; Linke, Der Bundespräsident als Staatsnotar oder das vermeintli­ che „formelle“ und „materielle“ Prüfungsrecht, DÖV 2009, 434 ff.; Lörler, Das Für und Wider einer Direktwahl des Bundespräsidenten, ZRP 2014, 209 ff.; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010; Meiertöns/Litt/Ehrhardt, Der Präsident des Bundesrates als Vertreter des Bundespräsidenten, Jura 2011, 166 ff.; Menzel, Ermessensfreiheit des Bundespräsidenten bei der Ernennung der Bundesminister?, DÖV 1965, 581 ff.; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, 1978; Mickisch, Die Gnade im Rechts­ staat, 1996; Nierhaus, Entscheidung, Präsidialakt und Gegenzeichnung, 1973; ders., Braucht die Bundesrepublik ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: FS Bethge, 2009, S. 39 ff.; van Ooyen, Der Bundespräsident als „Integrationsfigur“?, JöR 57 (2009), 235 ff.; ders., Das Amt des Bundespräsidenten. Mehr Streit oder gar Abschaffung täte der Demokratie gut – zu einem weit verbreiteten Fehlverständnis über seine Funktion im parlamentarischen Regierungssys­ tem, RuP 2010, S. 129; Pernthaler, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokra­ tie, VVDStRL 25 (1967), 151 ff.; Pflüger, Von Heuss bis Weizsäcker: Hüter des Grundkon­ senses, in: FS Bracher, 1987, S. 383 ff.; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten: Sehnsucht nach präsidentieller Obrigkeit?, ZParl 2013, 276 ff.; Schaefer, Die Vakanz an der Spitze des Bundes: Zur verfassungsrechtlichen Schwebelage nach dem Rücktritt des Bundespräsiden­ ten, DÖV 2012, 417 ff.; Schmidt, Die Geschäftsordnung der Verfassungsorgane als individu­ ell-abstrakte Regelung des Innenrechts, AöR 2003, 609 ff.; Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 2. Aufl. 1969; Schoch, Prüfungsrecht und Prüfungspflicht des Bundespräsidenten bei der Ge­ setzesausfertigung, ZG 2008, 209 ff.; O. Seidel, Der Bundespräsident als Träger der auswärti­ gen Gewalt, 1975; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KJ 1995, 238 ff.; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; Spath, Das Bundespräsidialamt, 5. Aufl. 1993; Stein, Der Bundespräsident als „pouvoir neutre“?, ZaöRV 2009, 249 ff.; Triepel, Die Reichsaufsicht, 1917; Vilain/Wendel, in: Marsch/Vilain/Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungs­ recht, 2015, S. 121 ff., Wiegand, Zum Begriff des Staatsoberhaupts, AöR 133 (2008), 475 ff.

§ 6 Bundesversammlung Übersicht A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 B. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 C. Ablauf der Bundespräsidentenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

A. Allgemeines 1

Die Bundesversammlung ist das einzige nicht ständige Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland. Ihre alleinige Aufgabe ist die Wahl des Bundesprä­ sidenten, sie ist also ein reines Kreationsorgan. Sie konstituiert sich zum Zweck der Wahl und endigt im Anschluss an diese. Die Qualifizierung als Verfassungs­ organ (s. dazu auch § 1 Rn. 17 ff.) ist allgemein anerkannt.1 Aus ihr folgt – auch wenn § 63 BVerfGG etwas anderes nahelegt – die Beteiligtenfähigkeit der Bundes­ versammlung im Organstreitverfahren (s. § 8 Rn. 363).2

2

Schon früh stand  – in bewusster Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung – fest, dass es unter dem Grundgesetz keine Direktwahl des Präsidenten geben sollte. Nachdem bei Erarbeitung des Herrenchiemsee-Entwurfs zunächst noch eine Wahl durch Bundestag und Bundesrat erwogen worden war,3 einigte man sich im Parlamentarischen Rat schnell auf einen demgegenüber verbreiterten Wahlkörper in Form eines gesonderten Wahlorgans.4 So sollte wohl auch der Weg­ fall der Direktwahl des Präsidenten gegenüber der Weimarer Reichsverfassung ein Stück weit abgefedert werden.

3

Die letztlich mit Art. 54 Abs. 3 GG gefundene Lösung der hälftigen Zusam­ mensetzung der Bundesversammlung aus den Bundestagsabgeordneten und den von den Landesparlamenten gewählten Vertretern sucht nicht nur einen bundes­ 1

BVerfGE 136, 277 (314) – Bundesversammlung; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E 13; Nettesheim, in: HbStR, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 63 Rn. 1; Burkiczak, JuS 2004, 278 (279); mit näherer Begründung insb. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 1980, 29 I 1. 2 BVerfGE 136, 277 (299) – Bundesversammlung. 3 Vgl. Abs. 1 Satz 1 der Bundesrats-Variante von Art. 75 des Herrenchiemsee-Entwurfes: „Der Bundespräsident wird durch übereinstimmenden Beschluß des Bundestages und des Bundesrats gewählt.“ 4 Vgl. näher zum Verlauf der Beratungen: JöR N. F. 1 (1951), 400 ff.

A. Allgemeines

407

staatlichen Ausgleich zwischen Bundes- und Länderinteressen, sondern hebt vor allem – im Vergleich zu einer Wahl durch Bundestag und Bundesrat – die demo­ kratische Legitimation der Bundespräsidentenwahl auf ein relativ hohes Niveau: Denn so geht der Einfluss der Länder auf die Wahl nicht von den im Bundesrat maßgeblichen Landesregierungen aus, sondern von den unmittelbar legitimierten Länderparlamenten. Insbesondere werden so auch die Oppositionsfraktionen in den Länderparlamenten an der Wahl des Bundespräsidenten beteiligt (s. u. Rn. 9). Allerdings stellt sich die Frage, ob die besondere Legitimation des Bundespräsidenten durch ein eigenes Wahlorgan angesichts der insgesamt doch relativ machtarmen Ausgestaltung des Präsidentenamtes wirklich angemessen ist. Zu einer besonderen politischen Unabhängigkeit des Bundespräsidenten hat die Wahl durch die Bundesversammlung jedenfalls nicht geführt – schon deshalb, weil die im Bundestag vertretenen Parteien längst die Mechanismen der Bundespräsiden­ tenwahl dominieren (s. u. Rn. 13).

4

Wesentliche Rechtsgrundlage für die Bundesversammlung ist – neben Art. 54  GG – das Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (BPräsWahlG).5 Die Rechtsstellung der Mitglieder der Bundesversammlung ent­ spricht verfassungsrechtlich nicht der von Bundestagsabgeordneten,6 auch wenn sie einfachrechtlich zum Teil daran angelehnt ist (§ 7 BPräsWahlG) und die Bun­ desversammlung bisweilen als „parlamentsähnliches Gremium“7 bezeichnet wird.

5

Als Geschäftsordnung findet die Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) entsprechende Anwendung, sofern die Bundesversammlung nicht etwas anderes beschließt (§ 8 S. 2 BPräsWahlG). Bisher wurde im Wesentlichen stets an der Gel­ tung der GOBT festgehalten.8

6

Die Bundesversammlung ist seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 16-mal zusammengetreten. In den Jahren 1954–1969 (zweite bis fünfte Bundes­ versammlung) wurde als Tagungsort bewusst aus symbolischen Gründen – und gegen Proteste der DDR und der Sowjetunion – (West-)Berlin gewählt. Im Vier­ mächteabkommen von 19719 wurde der Sache nach vereinbart, diese Praxis zu beenden, sodass die Bundesversammlung in den folgenden Jahren  – wie schon

7

5

Gesetz vom 25.4.1959, BGBl. I S. 230, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 12.7.2007 (BGBl. I S. 1326). 6 BVerfGE 136, 277 (309 ff.) – Bundesversammlung; s. hierzu auch die Besprechungen von Hillgruber, JA 2014, 950 und Prenzel, MIP 2016, 126. 7 So Hemmrich, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 54 Rn. 1. 8 Allerdings wird seit 2009 stets folgender Zusatz zur GOBT beschlossen: „Geschäfts­ ordnungsanträge und andere Anträge können nur schriftlich gestellt werden. Eine mündliche Begründung und eine Aussprache finden nicht statt.“ 9 Abkommen zwischen Frankreich, der Sowjetunion, den USA und dem Vereinten König­ reich vom 3.9.1971, abgedruckt bei Mahnke (Hrsg.), Dokumente zur Berlin-Frage 1967–1986, 1987, S. 190 ff. Die Bezeichnung „Viermächteabkommen“ geht auf die Übersetzung der Bun­ desrepublik Deutschland (vgl. Beilage zum BAnz. Nr. 174 v. 15.9.1972) zurück, in der DDR lautete die Übersetzung „Vierseitiges Abkommen“.

408

§ 6 Bundesversammlung

1949 – in Bonn tagte. Seit der Wiedervereinigung (erstmals 1994) wird die Bun­ desversammlung jeweils in Berlin abgehalten. 8

Die Bundesversammlung tagt regelmäßig nur alle fünf Jahre und das auch nur wenige Stunden lang. Auch wenn sie in der übrigen Zeit juristisch als Verfassungs­ organ nicht existiert, gibt es in der Realität natürlich dauerhafte administrative Strukturen, welche die Geschäfte der Bundesversammlung (etwa Aktenaufbe­ wahrung, Haushaltsmittelbewirtschaftung10, Vorbereitung der nächsten Bundes­ versammlung) erledigen. Das geschieht bisher durch Stellen in der Bundestags­ verwaltung. Diese organisatorische Abhängigkeit vom Bundestag ist angesichts des nichtständigen Charakters der Bundesversammlung sinnvoll. Dass gerade der Bundestag die Geschäfte führt, entspricht der gesetzlich angelegten engen Anleh­ nung an den Bundestag (vgl. §§ 1, 7 ff. BPräsWahlG).

B. Zusammensetzung 9

Die Zusammensetzung der Bundesversammlung spiegelt die beiden bundesstaatlichen Ebenen: Sie besteht zur einen Hälfte aus den Abgeordneten des Bun­ destags, die andere Hälfte der Mitglieder wird von den Länderparlamenten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl bestimmt (Art. 54 Abs. 3 GG). Nachdem der 2017 gewählte Bundestag 709 Mitglieder hat, würde eine in dieser Legislaturpe­ riode abgehaltene Bundesversammlung also mehr als 1.400 Mitglieder umfassen. Durch die Verhältniswahl in den Ländern soll sichergestellt werden, dass auch die dortigen parlamentarischen Minderheiten die Zusammensetzung der Bundesver­ sammlung mitbestimmen.11 Allerdings kann dies dazu führen, dass Bundespräsi­ denten auch mit den Stimmen von Extremisten gewählt werden.12

10

Während alle Bundestagsabgeordnete Mitglieder von Amts wegen in der Bun­ desversammlung sind, legen die §§ 2, 4 BPräsWahlG für die andere Hälfte, d. h. für die Wahl der von den Ländern zu bestimmenden Mitglieder, folgendes Ver­ fahren fest: Deren Gesamtzahl (die aktuelle Mitgliederzahl des Bundestags) ist nach dem Verhältnis der jeweils aktuellen Bevölkerungszahlen auf die Länder zu verteilen (wobei nur Deutsche i. S. v. Art. 116 Abs. 1 GG zu berücksichtigen sind13). Die konkreten Zahlen der von den einzelnen Länderparlamenten zu bestimmenden 10

Die Bundesversammlung hat  – anders als die anderen Verfassungsorgane, abgesehen vom Gemeinsamen Ausschuss (s. § 1 Rn. 111) – keinen eigenen Einzelplan im Bundeshaushalt, sondern wird als Posten im Einzelplan des Bundestags geführt. 11 So bereits die Überlegung des Parlamentarischen Rates, vgl. JöR N. F. 1 (1951), 403. 12 Dies spielte eine Rolle bei der Wahl Roman Herzogs, der es deshalb zur Bedingung für die Annahme der Wahl machte, dass er auch ohne die Stimmen von Rechtsextremen eine Mehrheit erlangte. 13 Insofern besteht ein bemerkenswerter Unterschied zum Bundesrat: Dort wird für die Ermittlung der Stimmenverteilung auf die Wohnbevölkerung der Länder abgestellt, d. h. es werden auch Ausländer berücksichtigt (s. dazu § 3 Rn. 80).

B. Zusammensetzung

409

Mitglieder sind nach dieser Vorgabe von der Bundesregierung rechtzeitig festzu­ stellen und im Bundesgesetzblatt bekannt zu machen (§ 2 BPräsWahlG). Danach hat gemäß § 4 BPräsWahlG in den Landesparlamenten unverzüglich eine Wahl nach Vorschlagslisten zu erfolgen. In einigen Ländern erfolgt diese Wahl nach getrennten Listen (in der Regel eine Liste pro Fraktion), in anderen ist es üblich, dass die Fraktionen sich auf einen gemeinsamen Wahlvorschlag einigen, der dann einstimmig oder mit nur ver­ einzelten Gegenstimmen angenommen wird. Die letztgenannte Praxis sieht sich in der jüngeren Vergangenheit zum Teil der Kritik einer rechtswidrigen „Blockwahl“ ausgesetzt.14

11

Die von den Landesparlamenten gewählten Vertreter dürfen, aber müssen we­ der Abgeordnete des Landtags noch Mitglieder der jeweiligen Landesregierung sein. Einzige Voraussetzung ist die Wählbarkeit zum Bundestag (§ 3 BPräsWahlG, s. dazu § 2 Rn. 150). Häufig bestimmen die Landtage Landtagsabgeordnete zu Mitgliedern der Bundesversammlung. Regelmäßig werden von den Landesparla­ menten aber auch Kommunalpolitiker oder nicht aus der Politik stammende „Prominente“ aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen nominiert (z. B. Schauspieler oder Sportler). Letzteres führt als Nebeneffekt zu interessanten Bildern für das Fernsehen. Ob damit dem Ziel einer volksnahen Präsidentenwahl näher gekommen wird, ist jedoch zweifelhaft.

12

Trotz dieser verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich normierten Einflussmöglichkeiten der Länderparlamente auf die Wahl des Bundespräsidenten wird an der derzeitigen Praxis zum Teil kritisiert, dass der Einfluss der Bundestagsfraktionen auf die Präsidentenwahl zu groß sei und die Vertreter der Länderparlamente und damit das föderale Element zu stark zurücktrete. Diese nicht ganz von der Hand zu weisende Feststellung tritt aber ohnehin hinter der dominierenden Rolle der Parteien bei der Präsidentenwahl zurück. Anhand der Sitzver­ teilung im Bundestag und in den Landtagen zeichnet sich in der Regel ab, auf welche Partei wie viele Mitglieder der Bundesversammlung entfallen werden. Davon ausgehend wird regelmäßig zwischen den Parteien (insbesondere zwischen den Parteispitzen) über Kandidaten verhandelt. Die Mitglieder der Bundesversammlung stimmen erfahrungsgemäß ganz überwiegend nach Parteiloyalität und weniger nach Länderinteressen oder eigenen Überzeugungen ab. Die ge­ ringe Zahl von Nicht-Politikern, die in die Bundesversammlung entsandt werden, ändert daran wenig. Faktisch ist deshalb die Wahl des Bundespräsidenten oft schon vor Zusammentreten der Bundesversammlung durch die Parteien entschieden (oft als Teil eines größeren politischen „Deals“ bzw. größerer „Personalpakete“). Allenfalls im Fall knapper Mehrheiten manifestiert sich noch so etwas wie ein politischer Selbststand der Bundesversammlung. Wenn sich auch die

13

14

Zutreffend zur Vereinbarkeit der gemeinsamen Wahlvorschläge mit § 4 BPräsWahlG Pieper, in BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 54, Rn 22.1. Auch in Hinblick auf Art. 54 Abs. 3 GG („nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“) ist diese Praxis im Ergebnis nicht als verfassungswidrig einzustufen. Denn die nach den Geschäftsordnungen der Land­ tage zur Stellung eines Wahlvorschlags Berechtigten können sich stets einem gemeinsamen Vorschlag verweigern und eine eigene Liste zur Wahl stellen. Dem Bundesverfassungsgericht lag diese Frage zur Entscheidung vor, der entsprechende Antrag wurde aber insoweit als un­ zulässig verworfen, vgl. BVerfGE 136, 277 (303 ff.) – Bundesversammlung.

410

§ 6 Bundesversammlung

partiell föderale Konstruktion der Bundesversammlung nur wenig auswirkt, so darf doch nicht übersehen werden, dass sich bei der parteiinternen Meinungsfindung über die Rückbindung an die Landesverbände und deren Vorsitzende („Landesfürsten“) doch wieder ein gewissermaßen „föderales“ Moment findet (s. auch die Ausführungen zum Parteienbundesstaat, § 3 Rn. 56).

C. Ablauf der Bundespräsidentenwahl 14

Die Wahl des Bundespräsidenten ist die einzige sinngebende Funktion der Bundesversammlung. S. zu deren Ablauf die Ausführungen zur Wahl des Bundes­ präsidenten (§ 5 Rn. 44 ff.). Schrifttum: Burkiczak, Die Bundesversamm­lung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278 ff.; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950 ff.; Prenzel, Rederecht in der Bundesversamm­ lung: Ist das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs 1 GG noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126.

§ 7 Bundesregierung Übersicht A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414



II. Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415



III. Verfassungsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419



IV. Parlamentarische Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

B. Konstituierung der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

I. Wahl des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 2. Wählbarkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 3. Reguläre Kanzlerwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 a) Erste Wahlphase (Art. 63 Abs. 1, 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 b) Zweite Wahlphase (Art. 63 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 c) Dritte Wahlphase (Art. 63 Abs. 4 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 4. Sonstige Wahlverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433



II. Bestimmung der Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 1. Organisationsgewalt des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2. Personalgewalt über die Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 3. Ernennungsvoraussetzungen, Ablauf der Ernennung . . . . . . . . . . . . . . . . . 438



III. Eidesleistung der Regierungsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439



IV. Inkompatibilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439



V. Koalitionsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 1. Inhalt und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 2. Rechtliche Qualifikation und Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

C. Amtszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

I. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446



II. Ende der Amtszeit des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 1. Reguläres Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 2. Tod, Wegfall der Wählbarkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 3. Rücktritt des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 4. Abwahl durch konstruktives Misstrauensvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 a) Allgemeine Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448

412

§ 7 Bundesregierung b) Verfahrensvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 c) Bedeutung für den neugewählten Bundeskanzler . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 d) Andere Missbilligungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 5. Vertrauensfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 a) Allgemeine Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 b) Antrag des Bundeskanzlers und Abstimmung im Bundestag . . . . . . . . 454 c) Rechtsfolgen der Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 d) Zur Bundestagsauflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 6. Kommissarische Amtsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458



III. Ende der Amtszeit der Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 1. Bundestagskonstituierung, Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers . . . 461 2. Entlassung auf Wunsch des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 3. Entlassung auf eigenen Wunsch (Rücktritt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 4. Tod, Wegfall der Ernennungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 5. Kommissarische Amtsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463



IV. Beendigung oder Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

D. Organisationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466

I. Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466



II. Geschäftsordnung der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 1. Beschluss und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 2. Wesentliche Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468



III. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien . . . . . . . . . . . . . . . . . 469



IV. Rechtliche und politische Stellung der Regierungsmitglieder . . . . . . . . . . . . . 470 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 2. Persönliche Rechtsstellung der Regierungsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . 470 3. Stellung des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 a) Allgemeine Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 b) Stellvertretung des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 c) Bundeskanzleramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 4. Stellung der Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 a) Doppelrolle zwischen Regierung und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . 476 b) Stellvertretung der Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 c) Verhältnis zum Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 d) Verfassungsgarantierte Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481



V. Sonstige Beteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 2. Staatssekretäre und Staatsminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 a) Beamtete Staatssekretäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

§ 7 Bundesregierung

413

b) Parlamentarische Staatssekretäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 c) Staatsminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 3. Ministerialbürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 4. Beauftragte der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 a) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 b) Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit . 494 c) Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 d) Beauftragter für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung . . . . . . . . . . . 498 5. Beratungsgremien der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499

VI. Interne Zuständigkeitsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 2. Kanzlerprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 b) Richtlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 c) Geschäftsleitungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 3. Ressortprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 4. Kabinetts- oder Kollegialprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 5. Verhältnis der Prinzipien zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510

E. Aufgaben und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511



II. Ausdrücklich zugewiesene Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513



III. Nicht ausdrücklich zugewiesene Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 1. Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 2. Europapolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 3. Öffentlichkeitsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

F. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520

414

§ 7 Bundesregierung

A. Allgemeines I. Begriff 1

Die Bundesregierung im staatsorganisationsrechtlichen Sinne ist nach Art. 62 GG das Verfassungsorgan, das sich aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern zusammensetzt. Diese Regelung gewinnt aus der Binnen- wie aus der Außenperspektive Bedeutung: Art. 62 GG impliziert eine Mehrpersonen­ regierung, begründet also ein Kollegialorgan1 (s. § 1 Rn. 142) und beschränkt den Kreis der in der Regierung Stimmberechtigten auf Kanzler und Minister.2

2

In einer weiter gefassten Verwendung des Begriffs können mit „Bundesregie­ rung“ im organisatorischen Sinne aber auch alle ihre institutionellen Bestandteile gemeint sein (Regierungskollegium, Kanzler, Minister, Ministerien, Kabinetts­ ausschüsse etc.). Wird in diesem Sinne von Aufgaben, Befugnissen, Funktionen etc. der Bundesregierung gesprochen, so folgt in einem nachgelagerten Schritt die Frage, welche konkreten Stellen innerhalb der Regierung dafür zuständig sind. Oft wird die weite Variante des organisatorischen Regierungsbegriffs in eher untechnischer Weise verwendet. Bei der Gesetzesauslegung sollte unter dem Rechtsbegriff „Bundesregierung“ hingegen grundsätzlich das Kollegialorgan ver­ standen werden.3 Art. 62 GG hat insofern den Charakter einer Legaldefinition.4 In der Literatur finden sich aber auch Stimmen, die eine Auslegung des Rechtsbe­ griffs „Bundesregierung“ zulassen, die das (von ihnen so genannte) Gesamtorgan meint, also die Gesamtheit aus Kanzler, Ministern und Kollegialorgan.5 Relevant wird diese Frage insbesondere bei Art. 86 GG (allgemeine Verwaltungsvorschriften und Einrichtung der Behörden in der bundeseigenen Verwaltung), bei dem umstritten ist, inwieweit neben dem Regierungskollegium auch die Minister tätig werden dürfen (s. a. Rn. 316).6

3

Von dem organisatorischen Zugriff zu unterscheiden ist der funktionelle Begriff der Bundesregierung. Er bezeichnet die Aufgaben oder die Funktionen einer Regierung. Das lässt sich auf zwei Weisen auffassen:7 In einem formalen Sinne kann man darunter die Aufgaben verstehen, die von dem Verfassungsorgan Bun­ 1 Im Gegensatz etwa zur „monokratisch“ organisierten Regierung nach der Reichsverfas­ sung von 1871 (s. näher Rn. 8). 2 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 62, Rn. 5 f. 3 Vgl. ausführlich Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 137 ff. 4 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 62, Rn. 6. Das Bundesverfassungsgericht formuliert zurückhaltender, dass mit der Bundesregierung im Zweifel das Kollegium gemeint sei, BVerfGE 11, 77 (85). 5 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 137 f. (insb. Fn. 40), 179 ff.; Hoffmann(-Riem), Rechtsfragen der Währungsparität, 1969, S. 146. 6 Zum Streit bzgl. Art. 86 GG vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 98; Ibler, in: Maunz / Dürig, GG, (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 86, Rn. 130 ff. m. w. N. 7 Vgl. Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Auflage 2018, Art. 62, Rn. 13; ausführlicher Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 2 ff., 13 ff.

A. Allgemeines

415

desregierung (einschließlich ihrer Teilorgane wie Kanzler, Minister usw.8) wahr­ genommen werden. Diese Aufgaben sind zum Teil administrativer Natur und zum Teil staatsleitender, gubernativer9 Natur. Das materielle Verständnis des funktionalen Regierungsbegriffs korres­ pondiert hingegen mit den Begriffen der Gubernative und der Staatsleitung. Der materielle Zugriff ist problematisch, weil die Trennung zwischen den Staats­ organen im gewaltenverschränkten System der Bundesrepublik Deutschland nicht kongruent ist mit der Teilung der Staatsfunktionen. Die Staatsfunktionen sind nicht derart institutionalisiert, dass ihnen jeweils ein einzelnes Verfassungsorgan zugewiesen werden könnte. Die Bundesregierung steht zwar im Zentrum der poli­ tischen Staatsleitung. Ihre Aufgaben erstrecken sich aber einerseits darüber hin­ aus auf administrative Tätigkeiten. Andererseits sind in die Staatsleitung auch die anderen Verfassungsorgane maßgeblich eingebunden (s. § 1 Rn. 45 f., 64, 165). Die verfassungsrechtliche Staatsorganisation des Grundgesetzes ist gerade nicht durch eine strikte Gewaltenteilung, sondern durch eine Gewaltenverschränkung im Sinne von „checks and balances“ gekennzeichnet.

4

Anstelle des Terminus Bundesregierung wird häufig auch der Begriff Bundeskabinett ver­ wendet. Mit Kabinett ist ursprünglich ein kleiner Raum gemeint, der v. a. zur Arbeit bzw. zur Beratung gebraucht wurde. Davon ausgehend übertrug sich der Begriff auf die Ministerrunde und löste sich von der ursprünglichen Bedeutung. Häufig wird der Begriff des Kabinetts ver­ wendet, um deutlich zu machen, dass die Regierung als Kollegialorgan gemeint ist und nicht in dem weiten Sinne von Rn. 2.

5

Insgesamt wird der Begriff der Regierung im deutschen Sprachgebrauch und insbesondere in der deutschen Rechtssprache eher eng verstanden, verglichen etwa mit dem englischen Begriff des „government“. Während im Gebrauch des Begriffs „Regierung“ regelmäßig die Abgrenzung zur Verwaltung einerseits und zur Legislative und Judikative andererseits mit­ schwingt, existieren im englischen Sprachraum Wendungen wie „three branches of govern­ ment“ oder „Biden administration“. Auch die Rede vom „local government“ findet im Deut­ schen keine Entsprechung. Treffende Übersetzung von „to govern“ ist eher „herrschen“ als „regieren“.

6

II. Geschichte In den deutschen Einzelstaaten setzte sich im 19. Jahrhundert für die Zentralver­ waltung das Ministerialsystem durch. Zumindest in den größeren Staaten war die Verwaltung dabei auf mindestens fünf eigenständige Ministerien aufgeteilt (Inne­ res, Äußeres, Justiz, Krieg, Finanzen), die wiederum in einem Kollegium zusammengefasst waren (Staatsministerium, Gesamtministerium, Ministerrat o. ä.).10 8

Gemeint ist hier der organisatorische Begriff in seiner weiten Variante (Rn. 2). Nach gubernare = (lat.) steuern (eines Schiffes). 10 Meyer / Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 402 f.; vgl. auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1957, S. 338 f. 9

7

416

§ 7 Bundesregierung

8

Demgegenüber sah die Reichsverfassung von 1871 keine Reichsregierung im Sinne eines nach Ressorts gegliederten Kollegiums vor. In der Verfassung angelegt war nur der Reichskanzler als einziger Minister des Kaisers.11 Er stand an der Spitze der obersten Behörden des Reichs, der Reichsämter. Davon gab es zunächst zwei (Reichskanzleramt und Auswärtiges Amt), mit der Zunahme der Aufgaben des Reichs entstanden aber bald weitere.12 Die Geschäfte der Reichsämter wurden von Staatssekretären geleitet, deren rechtliche Stellung nicht der von Ministern gleichkam. Faktisch entstand mit der Zunahme der Reichsämter und ihrer Auf­ gaben aber eine gewisse Selbständigkeit der Staatssekretäre, die Ausdruck etwa im sogenannten Stellvertretungsgesetz von 187813 fand. So entwickelten sich die Staatssekretäre bis 1919 immer mehr zu Quasi-Ministern.14 Rechtlich gesehen nahmen sie ihre Geschäftsbereiche aber nicht eigenverantwortlich wahr. Sie unter­ lagen einem umfassenden Weisungsrecht des Reichskanzlers, der auch jederzeit Amtshandlungen an ihrer Stelle vornehmen konnte (§ 3 Stellvertretungsgesetz). Die Regierungsstruktur im Kaiserreich war in ihrer rechtlichen Konstruktion monokratisch,15 es galt weder ein Ressort- noch ein Kollegialprinzip (dazu unten Rn. 310 ff.).

9

Die faktische Entwicklung eigenständiger Ressorts lässt sich an dem Reichskanzleramt und der Reichskanzlei illustrieren:16 1871 bestanden zunächst – übernommen aus dem Nord­ deutschen Bund – nur zwei Reichsämter, nämlich das Reichskanzleramt (davor Bundeskanzler­ amt) und das Auswärtige Amt. Das Bundes- bzw. Reichskanzleramt war bei seiner Gründung noch mit einer umfassenden Zuständigkeit für die Bundes- bzw. Reichsverwaltung gedacht. Mit der Zunahme der Reichsämter wurde es aber immer mehr zu einem Ressort unter vielen. So wurde es 1879 schließlich zum Reichsamt des Innern, einem institutionellen Vorläufer des heu­ tigen Bundesministeriums des Innern. 1878 schuf Bismarck die Reichskanzlei, die sich um den Verkehr des Reichskanzlers mit den Reichsämtern und anderen Staatsorganen kümmerte. Der Reichskanzlei entspricht funktional eher das heutige Bundeskanzleramt (s. dazu Rn. 208 ff.).

10

Die Weimarer Reichsverfassung setzte die tatsächliche Entwicklung zu einer zwar vom Reichskanzler dominierten, aber auch nach eigenverantwortlichen Res­ sorts gegliederten, kollegial organisierten Regierung in Verfassungsrecht um: In 11 Die Stellung als Minister ergab sich aus Art. 17 S. 2 RV. Diese sogenannte lex Bennigsen (ihre Aufnahme noch in die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde von dem national­ liberalen Abgeordneten Rudolf von Bennigsen initiiert) regelte die Gegenzeichnung von Akten des Kaisers durch den Reichskanzler. Mit der Vorgabe der Gegenzeichnung (s. dazu auch § 5 Rn. 177 ff.) als typischem Instrument ministerieller Verantwortung war damit gesagt, dass der Reichskanzler (einziger) Minister des Kaisers ist. Vgl. Meyer / Anschütz, Lehrbuch des Deut­ schen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 523 f., 527; Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 69 f. 12 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 1963, S. 833 ff. 13 Gesetz, betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers v. 17.3.1878, RGBl. S. 7. 14 Vgl. Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 75; Huber, Deutsche Verfas­ sungsgeschichte, Bd. 3, 1963, S. 825. 15 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 275. 16 Vgl. hierzu auch Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 70 f.; Busse / Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 7. Aufl. 2019, S. 5.

A. Allgemeines

417

den Art. 52 ff. WRV wurde die auch unter dem Grundgesetz im Wesentlichen fortbe­ stehende Mischung aus Kanzler-, Ressort- und Kollegialprinzip (s. u. Rn. 296 ff.) verfassungsrechtlich festgeschrieben.17 Neu war vor allem, dass die Verantwort­ lichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament mit dem (destruktiven) Misstrau­ ensvotum nach Art. 54 WRV deutlich gestärkt wurde. In der Reichsverfassung von 1871 war die Verantwortlichkeit der Regierung zwar angedeutet (Art. 17 S. 2 RV), fand aber keine nähere Ausgestaltung.18 Der Kanzler wurde aber auch unter der Weimarer Reichsverfassung weiterhin vom Reichspräsidenten bestimmt (der als „Ersatzkaiser“ jedenfalls insofern an die Stelle des Kaisers getreten war) und nicht vom Reichstag. Das von der Weimarer Verfassung geschaffene Institutionengefüge hat sich – allerdings unter insgesamt sehr ungünstigen Gesamtumständen – nicht bewährt. Das Regierungssystem war insgesamt instabil, was zu 13 verschiedenen Reichs­ kanzlern mit 21 verschiedenen Kabinetten in nur 14 Jahren (1919–1933) geführt hat. Das entspricht einer durchschnittlichen Amtszeit der Reichskanzler von ca. 13 Monaten.

11

Das nationalsozialistische Regime nahm seinen Anfang 1933 formal innerhalb der Strukturen der Weimarer Republik und zwar mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und der Überleitung der Gesetzgebungsbefugnisse auf die Reichs­ regierung durch das Ermächtigungsgesetz19. Die Herrschaftsstrukturen lösten sich aber bald von der verfassungsrechtlichen Institution Reichsregierung: Das Kabinett trat ab 1935 nur noch im Abstand mehrerer Monate zusammen, 1938 fand die letzte Kabinettssitzung statt.20 Es gab zwar noch Reichsminister und Reichsministerien. Daneben traten aber immer mehr Sonderorganisationen und partikulare Führungs­ apparate, welche die überkommene Staatsverwaltung und die Reichsregierung zu­ nehmend zersetzten.21 Der dominante Einfluss der nationalsozialistischen Ideo­ logie lies die Idee einer dem Sachverstand verpflichteten Exekutive immer mehr in den Hintergrund treten.

12

Durch das Grundgesetz ergaben sich, was Aufbau und innere Organisation der Bundesregierung (Art. 62, 65 GG) angeht, keine wesentlichen Änderungen zur Rechtslage unter der Weimarer Reichsverfassung (Art. 52, 55 ff. WRV). Geän­ dert hat sich vor allem das Verhältnis der Regierung zu den anderen Verfassungs­ organen: Der Bundeskanzler ist jetzt nicht mehr sowohl vom Vertrauen des Prä­

13

17 Dabei mag in der Regierungspraxis die Gewichtung dieser Prinzipien von der Intention der Verfassung abgewichen sein. Insbesondere wurde wohl der kollegiale Charakter stärker betont als in der Verfassung angelegt, vgl. Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 111 f. Dieser Befund lässt sich aber auch auf die Regierungsorganisation unter dem Grund­ gesetz übertragen, vgl. insofern unten Rn. 319. 18 Vgl. zur Verfassungspraxis im Kaiserreich Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 1963, S. 898 ff. 19 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich v. 24.3.1933, RGBl. I, S. 141. 20 Broszat, Der Staat Hitlers, 15. Aufl. 2000, S. 350. 21 Broszat, Der Staat Hitlers, 15. Aufl. 2000, S. 379.

418

§ 7 Bundesregierung

sidenten als auch des Parlaments abhängig, sondern wird vom Bundestag gewählt und kann nur von diesem wieder abgewählt werden. Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung sind Miss­trauensvoten nur bei gleichzeitiger Wahl eines neuen Kanzlers möglich (konstruktives Misstrauensvotum, Art. 67 GG) und können sich nicht mehr gegen einzelne Minister richten. Zusammen mit anderen Änderungen (Fünfprozenthürde, erschwerte Parlamentsauflösung, schwacher Präsident; s. dazu § 2 Rn. 167 ff., 214 ff., § 5 Rn. 15 ff.) sollte so das Regierungssystem unter dem Grundgesetz stabiler werden. Das ist auch eingetreten: In über 70 Jahren gab es insgesamt acht Bundeskanzler (inklusive einer Bundeskanzlerin) mit 24 verschie­ denen Kabinetten. Das entspricht einer durchschnittlichen Amtsdauer der Bundes­ kanzler von ca. 8,8 Jahren. 14

Erster der bisherigen Bundeskanzler war, gestützt auf verschiedene Mehr­ heiten, 1949–1963 Konrad Adenauer (CDU). Er wurde abgelöst durch seinen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU), der bis 1966 Kanzler blieb. Diesem folgte 1966–1969 Kurt-Georg Kiesinger (CDU) an der Spitze der ersten Großen Koalition. Daran schlossen sich bis 1974 unter Willy Brandt (SPD) und bis 1982 unter Helmut Schmidt (SPD) mehrere sozialliberale Koalitionen an. Helmut Kohl (CDU) regierte 16 Jahre (1982–1998) mit einer schwarz-gelben Koalition. Darauf folgten 1998–2005 unter Gerhard Schröder (SPD) zwei rot-grüne Bundesregierun­ gen. Seit 2005 ist Angela Merkel (CDU) Kanzlerin, mit drei Großen Koalitionen (2005–2009 und 2013–2021) und zwischenzeitlich einem schwarz-gelben Bünd­ nis (2009–2013). Sie will bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr als Kanzler­ kandidatin antreten.

15

Die Verfassungen der DDR sahen als Regierung den Ministerrat vor (Art. 91 ff. VerfDDR 1949, Art. 78 ff. VerfDDR 1968, Art. 76 ff. VerfDDR 1974). Er bestand aus dem Vorsitzenden des Ministerrats (bis 1964 Ministerpräsident genannt), des­ sen Stellvertretern und den Ministern. In der politischen Praxis war der Ministerrat aber weder ein zentrales Organ der Staatsleitung noch wirklich der Volkskammer verantwortlich, auch wenn die Verfassungen der DDR beides nahelegten. Maß­ geblich waren vielmehr die Machtstrukturen der SED: Das Politbüro der SED bestimmte faktisch den Kurs der DDR-Regierung. Dementsprechend war der Generalsekretär 22 des Zentralkomitees der SED, dem der Vorsitz im Politbüro zustand, so etwas wie der faktische Regierungschef (1950–1976: Walter ­Ulbricht, ­1976–1989: Erich Honecker, 1989: Egon Krenz). Der Ministerrat vollzog die im Politbüro der SED getroffenen Entscheidungen als Regierungsbeschlüsse nach, sodass sie in der Folge von den Ministerien umgesetzt werden konnten. In der Nachwende-DDR war Vorsitzender des Ministerrats zunächst Hans Modrow (SED / PDS), gewählt noch von der letzten unfrei gewählten Volkskammer, auf den 1990 Lothar de Maiziere (CDU) als erster und einziger wirklich demokratisch gewählter Ministerpräsident der DDR folgte.

22

In den Jahren 1953–1976 trug die Position den Namen „Erster Sekretär“.

A. Allgemeines

419

III. Verfassungsposition Die Bundesregierung ist ein Verfassungsorgan (s. § 1 Rn. 44 ff.) von zentraler Bedeutung für das politische System Deutschlands. Ihr wird ein eigener Abschnitt im Grund­gesetz zuteil, der VI. Abschnitt (Art. 62–69 GG), der insbesondere die wesentlichen Regelungen zu Konstituierung und innerer Organisation des Verfas­ sungsorgans Bundesregierung trifft. Darüber hinaus finden sich über das gesamte Grundgesetz verstreut zahlreiche Regelungen, die sich auf die Bundesregierung beziehen. Vor allem die konkreten Zuständigkeiten und Aufgaben der Bundesre­ gierung sind verteilt über die anderen Abschnitte des Grundgesetzes (s. u. Rn. 330).

16

Entsprechend der logischen Abfolge in der verfassungsrechtlichen Zuständig­ keitsordnung setzt die Organzuständigkeit der Bundesregierung die Verbands­ zuständigkeit des Bundes voraus. Nur wenn die Verbandszuständigkeit des Bundes bejaht wird, stellt sich die Frage nach der Organzuständigkeit der Bun­ desregierung. Deshalb sagen die Vorschriften des VI. Abschnitts nichts über das Verhältnis zwischen Bund und Ländern oder über das Maß der Mitwirkung der Länder an der Verwaltung des Bundes aus.23

17

Verfassungsrechtliche Bestimmungen über die Funktionen der Bundesregierung – wie etwa Art. 50 GG für den Bundesrat – oder über die Mitwirkung an der politischen Staatsführung als herausragende Aufgabe der Bundesregierung enthält das Grundgesetz nicht.24 Deshalb lässt sich die Rolle der Bundesregierung erst in der Gesamtschau der verfassungsrechtlichen Normen beschreiben: in Abgren­ zung zu den Legislativ- und Judikativkompetenzen in der Horizontalen und an­ hand der vertikalen Abgrenzung der Regierung als Exekutivspitze gegenüber der vollziehenden Verwaltung. Letztlich knüpft der VI. Abschnitt des Grundgesetzes an ein ungeschriebenes kryptonormatives Vorverständnis der Regierung und ihrer Funktionen an, welches das Grundgesetz nicht in Worte fasst.

18

Die Bundesregierung ist ein Teil der Exekutive, nicht aber mit ihr gleichzu­ setzen. Ein anderer Teil der Exekutive ist die Verwaltung. Während die Kernaufgabe der Regierung die politische Staatsleitung ist, stellt der Vollzug der Gesetze den Kernauftrag der Verwaltung dar. Das Grundgesetz fasst Regierung und Verwaltung als „vollziehende Gewalt“ zusammen, obwohl es sich um recht unterschiedliche Funktionen handelt. In föderaler Sicht thematisiert das Grund­ gesetz allerdings nur die Verbandszuständigkeit des Bundes im Bereich der Ver­ waltung (Art. 83 ff. GG), nicht aber für die Regierung.

19

Die Verfassungslage wird noch unübersichtlicher, weil einerseits die Staatsleitung auch durch andere Staatsgewalten bzw. Staatsorgane wahrgenommen

20

23

BVerfGE 1, 299 (310 f.) – Wohnungsbauförderung. Auch unter der Weimarer Reichsverfassung beruhte die Beteiligung von Reichskanzler und -ministern an der obersten Regierungsgewalt auf einer „unausgesprochenen Zuständig­ keitsvermutung“, vgl. Anschütz, WRV, 14. Aufl. 1933, S. 255 f. 24

420

§ 7 Bundesregierung

wird (insbesondere Gesetzgebung, Bundespräsident, teilweise auch Verfassungs­ gerichtsbarkeit; s. § 1 Rn. 46),25 vor allem aber, weil die Bundesregierung sowohl die Aufgabe der Staatsleitung wie auch zentrale Verwaltungsaufgaben wahrnimmt. Die Bundesregierung ist als Staatsleitungsorgan und als Verwaltungsorgan freilich recht unterschiedlich verfassungs- und grundrechtsgebunden.

IV. Parlamentarische Verantwortlichkeit 21

Die grundgesetzlichen Normen über die Konstituierung der Bundesregierung (s. u. Rn. 30 ff.) und ihre innere Kompetenzverteilung (s. u. Rn. 296 ff.) sind maß­ geblich vom Prinzip der parlamentarischen Verantwortung der Bundesregierung geprägt. Wenn das Grundgesetz davon spricht, dass der Kanzler und die (ressort­ gebundenen) Minister für ihre politischen Entscheidungen „Verantwortung“ tra­ gen (Art. 65 S. 1 und S. 2 GG), dann ist damit die Verantwortung gegenüber dem Parlament26 gemeint. Dies folgt aus dem Prinzip der parlamentarischen Demo­ kratie, nach dem die Exekutive sich maßgeblich durch Wahlen der Volksvertretung konstituiert und jederzeit durch eine parlamentarische Mehrheit wieder gestürzt werden kann. Die Regierung ist mithin dem Parlament als demjenigen Verfas­ sungsorgan verantwortlich, von dem sie in ihrer Existenz selbst abhängig ist.27 Die Stellung des Parlaments im Hinblick auf die Bundesregierung ist die eines politi­ schen Kreations-, Überwachungs- und Revokationsorgans.28

22

Dementsprechend sind auch die Kontrollrechte ausgestaltet, die dem Parlament zur Verfügung stehen (s. dazu auch § 2 Rn. 89 ff.). Zu nennen sind zunächst die Zitier- und Interpellationsrechte, die nach Art. 43 Abs. 1 GG dem Bundestag als Organ, in Gestalt von Frage- und Informationsrechten, darüber hinaus aber auch dem einzelnen Abgeordneten im Rahmen seiner durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG in den Verfassungsrang gehobenen Wahrnehmungsrechte zukommen. Ihnen ent­ sprechen Anwesenheits-, allgemeine Berichts- und konkrete Antwortpflichten der Bundesregierung.

25 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 37 f. Zum Beitrag der rechtsprechenden Gewalt zur Staatsleitung ausführlich Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 24 ff. 26 Noch ausdrücklich Art. 56 WRV: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Poli­ tik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung“. Jeder Reichsminister leitet seinen Geschäftszweig selbständig „und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichs­ tag“. 27 Eine in vielen Verfassungen anzutreffende Alternativkonstruktion ist die selbständige Konstitution und Legitimation einer Exekutive, die nicht in ihrer Existenz, sondern allein in ihrem Gestaltungsspielraum auf die Legislative angewiesen ist. Beispiel hierfür ist etwa das Verhältnis des französischen Präsidenten zur Nationalversammlung oder auch das des Präsi­ denten der USA zum Kongress. 28 BVerfGE 68, 1 (72) – Atomwaffenstationierung.

A. Allgemeines

421

Das politisch bedeutsamste Kontrollinstrument des Bundestages ist sein Untersuchungsrecht, das er mit weitreichenden Befugnissen vor allem durch Untersu­ chungsausschüsse wahrnehmen kann. Hierbei hat er allerdings einen Kernbereich der Exekutive zu achten (s. dazu Rn. 328, § 2 Rn. 104 f.).

23

Schließlich bleibt dem Parlament als rechtlich ausgestaltete, in politischer Hin­ sicht sicherlich aber als ultima ratio zu bewertende Maßnahme die Möglichkeit, dem Bundeskanzler gemäß Art. 67 GG das (konstruktive) Misstrauen auszuspre­ chen. Auch die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers spiegelt in besonderem Maße seine Verantwortung gegenüber dem Parlament wider.

24

Parlamentarische Verantwortlichkeit ist unter dem Grundgesetz als politische Verantwortlichkeit ausgestaltet. Das heißt, dass die Bundesregierung ihr Handeln gegenüber dem Bundestag in politischer Hinsicht rechtfertigen, mindestens aber er­ klären muss und politisch hierfür einzustehen hat.29 Einwirkungen des Parlaments auf die Regierung sind unabhängig davon, ob der Regierung – wie auch immer qualifizierte – Rechtsverstöße anzulasten sind. Nicht vorgesehen sind im Grund­ gesetz Instrumente einer rechtlichen Verantwortlichkeit der Regierungsmitglie­ der in Form der sogenannten Ministeranklage. Das Grundgesetz vertraut darauf, dass rechtserhebliches Fehlverhalten vom Parlament im Rahmen der politischen Verantwortlichkeit geahndet wird. Unberührt bleiben rechtliche Konsequenzen anderer Art etwa im Rahmen von Organstreitverfahren beim Vorliegen der ein­ schlägigen Voraussetzungen (zu diesen § 8 Rn. 360 ff.).

25

Demgegenüber sah die Weimarer Reichsverfassung noch ein Nebeneinander von politischer Verantwortlichkeit und Ministeranklage vor: Nach Art. 59 WRV konnte der Reichs­ tag Anklage vor dem Staatsgerichtshof gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister wegen schuldhafter Verletzung der Verfassung oder der Gesetze erheben. Das Grundgesetz sieht ein entsprechendes „Impeachment“-Verfahren nur für den Bundesprä­ sidenten mit der Präsidentenanklage vor (Art. 61 GG, s. § 5 Rn. 194 ff.). Das wird dem Umstand gerecht, dass der Bundespräsident nicht abgewählt werden kann.

26

Wenn auch grundsätzlich die gesamte Regierung parlamentarisch verantwort­ lich ist, muss im Einzelnen doch nach dem Maß dieser Verantwortung differen­ ziert werden. In erster Linie ist der Bundeskanzler dem Bundestag gegenüber parlamentarisch verantwortlich. Das ergibt sich bereits aus seiner Wahl durch den Bundestag sowie materiell aus Art. 65 S. 1 GG und spiegelt sich vor allem in den Instrumenten wider, die dem Bundestag zur Durchsetzung dieser Verantwortung zur Verfügung stehen. Als äußerstes Mittel kann nach Art. 67 GG der Bundestag den Bundeskanzler abwählen (s. näher Rn. 120).

27

Demgegenüber fehlen dem Bundestag bezüglich der parlamentarischen Ver­ antwortung der Bundesminister solche scharfen Sanktionsmöglichkeiten: Anders als der Reichstag unter der Weimarer Reichsverfassung (Art. 54 S. 2 WRV) kann er nicht einzelne Minister unmittelbar zum Rücktritt zwingen. Das heißt aber –

28

29

Vgl. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, Kap. E, Rn. 108.

422

§ 7 Bundesregierung

wie sich bereits aus Art. 65 S. 2 GG ergibt – nicht, dass die Minister für ihr Res­ sort nicht dem Parlament verantwortlich wären (s. a. Rn. 226 ff.). Einerseits kann der Bundestag durch seine Kontrollrechte, etwa sein Untersuchungsrecht oder die Zitierungs- oder Interpellationsrechte nach Art. 43 Abs. 1 GG, unmittelbaren politischen Druck auf die Bundesminister ausüben. Andererseits sind die Bun­ desminister – entsprechend dem Wege ihrer Ernennung – auch mittelbar über den Bundeskanzler vom Vertrauen des Parlaments abhängig. 29

Im Übrigen darf auch nicht verkannt werden, dass die öffentliche Verantwortung von Poli­ tikern und speziell der Regierung eine erhebliche Bedeutung hat. Die Berichterstattung der Medien spielt z. B. bei einem Ministerrücktritt regelmäßig eine größere Rolle als die Möglich­ keiten des Bundestags, Minister zur Verantwortung zu ziehen. Medien werden gerade aus den politischen Lagern über mögliche Enthüllungen informiert. Der übliche Verlauf einer „Affäre“ ist, dass die Fakten Stück für Stück ans Licht kommen, so dass dem Thema eine lange mediale Aufmerksamkeit sicher ist. Allerdings kann die mediale Verantwortlichkeit sich auch über rechtliche Instrumente vollziehen, wie beispielsweise die Vernehmung im Untersuchungsaus­ schuss. Die öffentliche Verantwortung der Bundesregierung wird heute auch zunehmend über die sogenannten sozialen Medien eingefordert.

B. Konstituierung der Bundesregierung 30

Die Bundesregierung ist ein Kollegialorgan, das aus dem Bundeskanzler einer­ seits und den Bundesministern andererseits besteht.30 Zentraler Organteil (§ 1 Rn. 39) der Bundesregierung ist der Bundeskanzler.31 Er allein wird unmittelbar vom Bundestag gewählt und nur auf seinen Vorschlag hin ernennt und entlässt der Bundespräsident die Bundesminister. Dies hat zur Beschreibung der Bundes­ republik Deutschland als „Kanzler-Demokratie“ geführt (s. a. Rn. 197 ff., 352).

31

Die Konstituierung des Organs Bundesregierung vollzieht sich in zwei Schritten: In einem ersten Schritt wird der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt und vom Bundespräsidenten ernannt (im Normalfall nach Art. 63 GG). In einem zweiten Schritt bestimmt der Bundeskanzler sodann die einzelnen Bundesminis­ ter, die ebenfalls vom Bundespräsidenten ernannt werden (Art. 64 GG). Faktisch ist es freilich in der Regel so, dass in den Koalitionsverhandlungen (dazu unten Rn. 98 ff.) die Ministerposten ressortweise bereits zwischen den Koalitionsparteien aufgeteilt werden und diese schon vor Regierungsbildung jeweils „ihre“ Minister personell bestimmt haben. Rechtlich vollzieht sich die Regierungsbildung aber in den genannten zwei Schritten.

30

Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 62, Rn. 10. Anders die Wertung von Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regie­ rung, 2. Aufl. 1998, S. 295 f., der die Bundesregierung als Kollegialorgan in den Vordergrund stellt. 31

B. Konstituierung der Bundesregierung

423

I. Wahl des Bundeskanzlers 1. Übersicht Für die Wahl eines Bundeskanzlers durch den Bundestag kann es verschiedene Anlässe geben. Der Normalfall ist die Wahl nach Art. 63 GG aufgrund einer ­Vakanz des Amtes (vor allem nach dem Zusammentritt eines neuen Bundestags, aber z. B. auch nach dem Rücktritt oder dem Tod des bisherigen Bundeskanzlers). Es kann zur Wahl eines Bundeskanzlers aber auch durch ein konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG, dazu Rn. 120 ff.) oder im Anschluss an eine gescheiterte Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG, dazu Rn. 136 ff.) kommen. Im Verteidigungsfall können sich aus Art. 115h Abs. 2 GG Modifikationen für die Kanzlerwahl ergeben.

32

Damit ein gewählter Kandidat Bundeskanzler wird, bedarf es der für die Amts­ übernahme konstitutiven Ernennung durch den Bundespräsidenten. Hat ein Kandidat im Bundestag die Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“, s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.) erhalten, so ist der Bundespräsident zur Ernen­ nung verpflichtet. Nur im Fall des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG kann es zu einer Kons­ tellation kommen, in welcher der Bundespräsident sich zwischen der Ernennung des Kandidaten mit der Meiststimmenmehrheit und der Auflösung des Bundes­ tags entscheiden kann. Von diesem  – ausnahmsweisen  – politischen Ermessen des Bundespräsidenten ist seine generelle, „staatsnotarielle“ Pflicht und Befugnis zur rechtlichen Kontrolle zu unterscheiden (s. a. § 5 Rn. 34, 123): Liegen etwa bei dem Gewählten nicht alle Wählbarkeitsvoraussetzungen (s. u. Rn. 35 ff.) vor oder kam es bei der Wahl zu (hinreichend gewichtigen) Verfahrensverstößen, so kann (und muss) der Bundespräsident die Ernennung des Gewählten verweigern – selbst wenn dieser die Kanzlermehrheit erreicht hat.

33

Auf die Ernennung eines Bundeskanzlers folgt die Eidesleistung vor dem Bun­ destag (Art. 64 Abs. 2 GG, s. dazu Rn. 88 ff.).

34

2. Wählbarkeitsvoraussetzungen Das Grundgesetz enthält keine Norm, die ausdrücklich Voraussetzungen für die Wählbarkeit des Bundeskanzlers statuiert. Auch das Gesetz über die Rechts­ verhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung32, das vom Gesetzgeber (zu) kurz als Bundesministergesetz (BMinG) bezeichnet wird und gleichwohl auch auf den Bundeskanzler Anwendung findet, stellt keine Wählbarkeitsvoraussetzungen auf. Anzuwenden sind aber (im Wege der Analogie)  die Wählbarkeitsvorausset­ zungen für Bundestagsabgeordnete („passives Wahlrecht“, Art. 38 Abs. 2 GG, 32

In der Fassung v. 27.7.1971 (BGBl. I, S. 1166), zul. geänd. d. G. v. 19.06.2020 (BGBl. I, S. 1328).

35

424

§ 7 Bundesregierung

§ 15 BWahlG).33 Denn wer nicht die rechtlichen Minimalvoraussetzungen für ein Bundestagsmandat mitbringt, darf erst recht nicht für das zentrale und machtpoli­ tisch dominierende Amt des Bundeskanzlers in Betracht kommen.34 36

Das bedeutet, dass der Bundeskanzler Deutscher i. S. d. Art. 116 GG und volljährig sein muss (Art. 38 Abs. 2 GG, § 15 Abs. 1 BWahlG). Ferner ergeben sich Einschränkungen der Wählbarkeit von Menschen, die unter Betreuung stehen, die durch Richterspruch35 vom akti­ ven oder passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind oder die nach §§ 63, 20 StGB in einem psy­ chiatrischen Krankenhaus untergebracht sind.

37

Weil das Amt des Bundespräsidenten faktisch-politisch sehr viel weniger bedeutend ist als das des Bundeskanzlers, wäre auch an einen Erst-recht-Schluss in Hinblick auf die Wählbarkeitsvoraussetzungen des Bundespräsidenten zu denken. Jedenfalls für die von Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG normierte Altersgrenze von 40 Jahren fehlt es aber an der für eine Analogie er­ forderlichen Vergleichbarkeit der Sachverhalte: Die Altersgrenze soll die charakterliche Reife der Kandidaten sicherstellen, die für das Amt des Bundespräsidenten von zentraler Bedeutung ist, beim Bundeskanzler hingegen nur einen von mehreren Aspekten der Geeignetheit eines Kandidaten darstellt. Bedenkenswert erscheint jedoch, das für die Wahl zum Bundespräsi­ denten geforderte aktive Wahlrecht zum Bundestag auch zur Voraussetzung der Wählbarkeit des Bundeskanzlers zu machen. Dann ergäben sich aus § 12 BWahlG zusätzliche Einschrän­ kungen für Kandidaten, die im Ausland leben oder gelebt haben.

38

Umstritten ist die Frage, ob die Verfassungstreue des Bundeskanzlers zur Vor­ aussetzung seiner Wählbarkeit erhoben werden soll.36 Gegen ein solches Kriterium spricht seine Unbestimmtheit. Bei Zweifeln an der Verfassungstreue des gewählten Kandidaten könnte es zu einer Art verkapptem Ermessen des Bundespräsidenten führen, der das Vorliegen der Wählbarkeitsvoraussetzungen zu überprüfen hat (s. Rn. 33; § 5 Rn. 34, 123).37 Das Grundgesetz sieht ein Ermessen des Bundespräsi­

33 Ganz h. M., vgl. etwa Hermes, in: Dreier,  GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 13; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63 Rn. 23; Mager, in: v.  Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 63, Rn. 6; Pieroth, in Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 63, Rn. 1. 34 Das heißt natürlich nicht, dass das Innehaben eines Mandats im Bundestag eine Wähl­ barkeitsvoraussetzung ist. Gleichwohl waren bisher alle Bundeskanzler zugleich Bundestags­ abgeordnete. Das ist aber weder rechtlich geboten noch durch die Inkompatibilitätsvorschriften (s. u. Rn. 92 ff.) rechtlich verboten. 35 Etwa als Nebenfolge im Strafrecht (§§ 45, 45a, 358 StGB) oder als Folge einer Grund­ rechtsverwirkung (§ 39 Abs. 2 BVerfGG). 36 Dafür Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 33.  Aufl. 2018, § 42, Rn. 23; M. Schröder, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 63, Rn. 1; ders., in: Isen­ see / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 65 Rn. 12; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63 Rn. 24; Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Auf­ lage 2018, Art. 63 Rn. 18; dagegen Hermes, in: Dreier,  GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 13; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 63, Rn. 1; Mager, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 63, Rn. 7; sowie noch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, § 18 Rn. 22 f. 37 Die Verweigerung der Ernennung steht natürlich unter dem Vorbehalt einer Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Aber selbst wenn dieses sich in einer derartigen Situa­ tion nicht – etwa durch Annahme eines Beurteilungsspielraums des Bundespräsidenten – einer

B. Konstituierung der Bundesregierung

425

denten aber nur im Fall des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG vor (kein Kandidat erreicht die Kanzlermehrheit). Außerdem stellt sich die Frage, ob eine solche Wählbarkeits­ voraussetzung wirklich geeignet wäre, verfassungsfeindlich gesinnte Personen vom Amt des Bundeskanzlers effektiv fernzuhalten. Im Idealfall stellen andere Mechanismen sicher, dass verfassungsfeindlich gesinnte Kandidaten nicht gewählt werden. Unter besonderer Betonung des Demokratieprinzips ist es in erster Linie Sache der Wähler und in zweiter Linie Sache des Bundestags, die Verfassungs­ treue eines potentiellen Bundeskanzlers zu beurteilen und bei ihren jeweiligen Wahlentscheidungen zu berücksichtigen.38 Andererseits entspräche eine derartige Wählbarkeitsvoraussetzung dem Kon­ zept der wehrhaften Demokratie.39 Auch wenn es zweifelhaft erscheint, ob der Bundespräsident die Nichternennung eines mit Kanzlermehrheit gewählten Kandi­ daten in der konkreten Situation politisch durchsetzen könnte: Diese Option wäre zumindest ein mögliches Hindernis für die Machtübernahme durch verfassungs­ feindliche Kräfte. Es entspräche auch der im Grundgesetz angelegten Rolle des Bundespräsidenten, im Normalfall zwar nicht in den politischen Prozess einzu­ greifen, in Situationen der (potentiellen) politischen Krise aber doch (sog. Reservefunktion des Bundespräsidenten, s. § 5 Rn. 35 f.). Die Wahl eines Bundeskanzlers, an dessen Verfassungstreue ernsthafte Zweifel aufkommen, kommt einer solchen Krise durchaus nahe. Auch dass die Verfassungstreue Ernennungsvoraussetzung für jeden Beamten ist, spricht dafür, dies erst recht für das sehr viel mächtigere Amt des Bundeskanzlers zu fordern.40 Deshalb ist die Verfassungstreue als Wähl­ barkeitsvoraussetzung für den Bundeskanzler im Ergebnis zu bejahen.

39

3. Reguläre Kanzlerwahl Die reguläre Kanzlerwahl ist in Art. 63 GG geregelt. Sie ist im Fall der Vakanz des Amtes des Bundeskanzlers einschlägig, d. h. das Amt des bisherigen Bundes­ kanzlers muss sich erledigt haben. Das ist insbesondere gemäß Art. 69 Abs. 2 GG nach dem Zusammentreten eines neuen Bundestages, also nach einer Neuwahl, der Fall. Aber auch ein Amtsende des Vorgängers etwa durch Rücktritt oder Tod löst eine Wahl nach Art. 63 GG aus.

40

Das Wahlverfahren nach Art. 63 GG ist in bis zu drei Phasen untergliedert, die sich im Einzelnen vor allem durch die Rolle des Bundespräsidenten sowie durch die erforderlichen Mehrheiten im Bundestag voneinander unterscheiden. So ist die

41

eigenen Beurteilung der Verfassungstreue entzieht: Es bleibt das Problem, dass der Bundes­ präsident bzw. das Bundesverfassungsgericht sich dann auf Grundlage eines wenig bestimm­ ten Rechtsbegriffs über einen demokratischen Wahlakt des unmittelbar gewählten Bundes­ tags hinwegsetzt. 38 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 13. 39 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 18, Rn. 22. 40 So auch Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, 5. Aufl. 2001, Art. 63, Rn. 7.

426

§ 7 Bundesregierung

erste Wahlphase (Art. 63 Abs. 1, 2 GG) durch das ausschließliche Vorschlags­ recht des Bundespräsidenten gekennzeichnet, während in der zweiten Wahlphase (Art. 63 Abs. 3 GG) der Bundestag in seiner Wahl auch insoweit frei ist. Beiden Durchgängen ist gemein, dass die Wahl des Kanzlers die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags („Kanzlermehrheit“) erfordert, während in der dritten Wahlphase (Art. 63 Abs. 4 GG) der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt (Meiststimmenmehrheit, s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). 42

Bisher wurde bei allen Kanzlerwahlen nach Art. 63 GG der vom Bundespräsidenten vor­ geschlagene Kandidat in der ersten Wahlphase gewählt. Hintergrund ist, dass vor der eigent­ lichen Kanzlerwahl bereits umfassend über die Regierungsbildung verhandelt wird und der jeweilige Bundespräsident bisher stets den Kandidaten vorgeschlagen hat, für den sich in den Verhandlungen eine Koalition herauskristallisiert hat (s. a. Rn. 98 ff.). Das muss aber nicht so bleiben – sei es, weil der Bundespräsident aus freien Stücken einen anderen Kandidaten nomi­ niert (was er darf, s. u. Rn. 44) oder sei es, weil sich überhaupt keine Koalition zusammenfindet.

a) Erste Wahlphase (Art. 63 Abs. 1, 2 GG) 43

aa)  Vorschlagsrecht. Die Regelungen zum ersten Wahlgang (Art. 63 Abs. 1, 2 GG) beginnen mit dem Vorschlag des Bundespräsidenten. Diesem in Art. 63 Abs. 1 GG angesprochenen Vorschlag des Bundespräsidenten gehen in der politi­ schen Realität umfangreiche Vorklärungen voraus. Nach einer Bundestagswahl finden stets ausführliche politische Gespräche in und ggf. zwischen den Parteien statt, um die Bildung und das Programm einer Bundesregierung für die neue Le­ gislaturperiode zu bestimmen. Dabei legen die (kommenden) Regierungsparteien regelmäßig auch die Personen des Bundeskanzlers und der verschiedenen Bun­ desminister fest. Bei Koalitionsregierungen kommt es fast immer zu vorherigen Unterzeichnungen von Koalitionsvereinbarungen (s. u. Rn. 98 ff.). Häufig wird die Zustimmung der beteiligten Parteien durch Sonderparteitage oder gar Mitglieder­ entscheide festgestellt.

44

In rechtlicher Hinsicht ist der Bundespräsident bei seinem Vorschlag nur inso­ fern gebunden, als der von ihm vorgeschlagene Kandidat die Wählbarkeitsvoraussetzungen erfüllen muss. Darüber hinaus besteht jedoch keine Rechtspflicht, den durch Koalitionsverhandlungen designierten Kanzler vorzuschlagen.41 Politisch freilich hat der Bundespräsident in aller Regel keine andere Wahl, als den Kan­ didaten vorzuschlagen, für den sich eine Mehrheit abzeichnet. Dementsprechend haben die Bundespräsidenten bisher ihr Vorschlagsrecht ausgeübt.42 41 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63 Rn. 18 m. w. N.; anders etwa Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (166. Aktuali­ sierung, März 2014), Art. 63, Rn. 95 ff.) der im Fall klarer Mehrheiten von einer Ermessens­ reduzierung hinsichtlich des Vorschlagsrechts ausgeht. 42 Zu dem Kontrast zwischen Verfassungstext und Verfassungspraxis: Ipsen, JZ 2006, 217 (219 ff.).

B. Konstituierung der Bundesregierung

427

Eine Weigerung des Bundespräsidenten, den designierten Kanzler vorzuschlagen, hat nicht den Effekt eines (absoluten) Vetos. Denn der Bundespräsident muss jedenfalls irgend­ einen Kandidaten vorschlagen.43 Stimmt der Bundestag gegen diesen Kandidaten, so kommt es zur zweiten und ggf. dritten Wahlphase, in der das Vorschlagsrecht nicht mehr beim Bun­ despräsidenten liegt.

45

So frei – im rechtlichen Sinne – die Auswahlentscheidung des Präsidenten beim Kanzler­ vorschlag grundsätzlich ist, darf er jedoch den Vorschlag eines Kandidaten nicht an politische Forderungen knüpfen (sogenannte „Präsentationskapitulation“44). Weil das Vorschlagsrecht nur in der ersten Wahlphase beim Bundespräsidenten liegt, hat er dafür ohnehin kein wirklich starkes Druckmittel in der Hand.

46

Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten gewinnt insbesondere in den Fällen an Gewicht, in denen die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag unklar sind und sich die Fraktionen deshalb nicht auf einen Kandidaten einigen können. In diesen Fällen soll der Vorschlag des Bundespräsidenten als der eines außenstehenden Dritten eine Kompromisslösung darstellen.

47

Eine Frist für den Vorschlag ist weder dem Grundgesetz noch dem einfachen Recht aus­ drücklich zu entnehmen. Der Bundespräsident wird aber spätestens dann einen Vorschlag ma­ chen müssen, wenn erkennbar die Verhandlungen über die Regierungsbildung abgeschlossen sind (sei es mit oder ohne Ergebnis). Denn es darf nicht sein, dass der Bundespräsident durch Untätigkeit die Regierungsbildung verhindern kann. Im Streitfall kann der Bundestag dies zum Gegenstand eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht machen. Umgekehrt folgt aber aus der Integrationsfunktion des Bundespräsidenten auch, dass er den Fraktionen bzw. Parteien ausreichend Zeit für Koalitionsverhandlungen lassen muss. Bei unangemessen langen Verhandlungen steht es dem Bundespräsidenten allerdings offen, durch sein Vorschlagsrecht Druck auf die Beteiligten aufzubauen.45

48

bb) Verfahren. Gemäß der verfassungsrechtlichen Vorgabe in Art. 63 Abs. 1 GG wird der Bundeskanzler ohne Aussprache gewählt. Weil es in der ersten Phase nur einen Kandidaten geben kann, hat sie weniger den Charakter einer Wahl als den einer Abstimmung.46 Das Ausspracheverbot soll zum einen die Autorität des Bundespräsidenten schützen.47 Zum anderen soll es auch dem Kandidaten selbst zugutekommen.48 Insbesondere sollen sachpolitische Inhalte und Zielvorstellungen

49

43

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63 Rn. 16 m. w. N. In einer veralteten Bedeutung meint der Begriff der „Kapitulation“ die über die normale Dienstzeit hinausgehende Verlängerung eines Beamtenverhältnisses, (mlat.) capitulum = ­Vertrag. 45 So kündigte etwa Bundespräsident Heinrich Lübke in Anbetracht der langen Dauer der Koalitionsgespräche im Jahr 1961 an, bei Ausbleiben eines Koalitionsvorschlags innerhalb einer bestimmten Frist Ludwig Erhard zur Wahl vorzuschlagen, vgl. Herzog, in: Maunz / Dü­ rig, GG, Bd. IV, (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63, Rn. 17, Fn. 1. 46 Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 63, Rn. 15; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63, Rn. 26. 47 Mager, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 63, Rn. 8; Schröder, in: v. Mangoldt / ​ Klein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 63, Rn. 32. 48 Str., s. Schröder, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 65, Rn. 15. Für einen Schutz des Bundespräsidenten etwa Hermes, in: Dreier,  GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 25; Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (166. Aktualisierung, März 44

428

§ 7 Bundesregierung

nicht im Vorfeld durch eine Diskussion über die Person in Frage gestellt werden. Das Ausspracheverbot kann dazu beitragen, den Kandidaten nicht zu beschädigen. Insgesamt erscheint das Verbot demokratisch zweifelhaft und in einer Medien­ demokratie auch längst überlebt (s. auch § 1 Rn. 71). Es sollte deshalb aufgehoben werden. 50

Die Abstimmung über den Vorschlag des Bundespräsidenten erfolgt gem. §§ 4, 49 GOBT mit verdeckten Stimmzetteln, ist also geheim. Das ist verfassungsrecht­ lich nicht geboten (jedenfalls nicht ausdrücklich), aber nach h. M. auch nicht ver­ boten (s. näher § 1 Rn. 73).

51

cc) Erforderliche Mehrheit und Ernennung. Der vom Bundespräsidenten vorge­ schlagene Kandidat ist nach Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG gewählt, wenn er die Stimmen der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags erhält (Mitgliedermehrheit, s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). Nach dem deutlichen Wortlaut des Art. 63 Abs. 2 S. 2 GG („ist […] zu ernennen“) folgt in diesem Fall – vorbehalt­ lich seiner rechtlichen Prüfungsbefugnis – eine Ernennungspflicht des Bundespräsidenten, dem insoweit also kein Ermessen zusteht (s. Rn. 33). Es wäre auch widersinnig, dem Bundespräsidenten in einem solchen Fall Alternativen einzu­ räumen, ist doch gerade der von ihm vorgeschlagene Kandidat vom Bundestag akzeptiert worden. Einer Gegenzeichnung bedarf die Ernennung gemäß Art. 58 S. 2 GG nicht.

52

Die für die Wahl des Bundeskanzlers erforderliche Mehrheit der gesetzlichen Abgeordneten des Deutschen Bundestags (Mitgliedermehrheit) wird – zwar nicht vom Grundgesetz, so doch im allgemeinen und politischen Sprachgebrauch – auch als „Kanzlermehrheit“ bezeichnet (s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). Dieser Begriff drückt aus, dass der Kanzler sich des Vertrauens der Mehrheit aller Bundestagsmitglieder sicher sein soll. Sie wird dementspre­ chend auch für die Beantwortung der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG (s. u. Rn. 144) und das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 67 GG (s. u. Rn. 130) verlangt.

b) Zweite Wahlphase (Art. 63 Abs. 3 GG) 53

Findet der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat in der ersten Wahl­ phase nicht die erforderliche Mehrheit im Bundestag, kommt es zu einer 14-tägigen zweiten Wahlphase. Dem Bundestag steht es gemäß Art. 63 Abs. 3 GG offen, in dieser Zeit einen Bundeskanzler zu wählen. Während dieser Zeit können beliebig viele Wahlgänge stattfinden (theoretisch auch gar keiner).49 Die zweite Wahlphase 2014), Art. 63, Rn. 116. Für einen Schutz des Kanzlerkandidaten etwa Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 63 Rn. 22. 49 Das Grundgesetz und die Geschäftsordnung begrenzen die Zahl der Wahlgänge nicht, so dass im Interesse des Zustandekommens einer absoluten Mehrheit beliebig viele Wahlgänge durchgeführt werden können (Mager, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 63, Rn. 12). Andererseits ist der Bundestag nach dem Wortlaut („kann“) von Verfassung wegen nicht verpflichtet, überhaupt einen zweiten Wahlgang durchzuführen. Daher zu weitgehend Schenke,

B. Konstituierung der Bundesregierung

429

endet entweder durch die erfolgreiche Wahl eines Bundeskanzlers oder durch den Ablauf der 14-Tages-Frist. Im letztgenannten Fall wird danach die dritte Wahlphase (s. u. Rn. 61 ff.) eingeleitet, die für den Bundestag die Möglichkeit und Gefahr der Auflösung durch den Bundespräsidenten birgt. aa) Vorschlagsrecht. Im entscheidenden Unterschied zur ersten Wahlphase steht in der zweiten Wahlphase dem Bundespräsidenten kein Vorschlagsrecht für einen Kanzlerkandidaten mehr zu.50 Art. 63 Abs. 3 GG lässt sich allerdings nicht entnehmen, wer in der zweiten Wahlphase einen Kandidaten vorschlägt. Wirklich in Betracht kommt aber nur, dass die Wahlvorschläge in irgendeiner Form von Mitgliedern des Wahlorgans, d. h. aus dem Bundestag heraus gemacht werden.

54

Eine Konkretisierung findet sich in § 4 S. 2 der Geschäftsordnung des Bundestags. Demnach bedarf es für die Nominierung eines Kanzlerkandidaten der Unterstützung mindestens eines Viertels der Bundestagsabgeordneten (oder einer entsprechend starken Fraktion). Dieses Quorum ist verfassungsrechtlich nicht unbedenklich.51

55

Es stellt sich die Frage, ob das erforderliche Quorum nicht die Rechte des einzelnen Abgeordneten verletzt, denn ein etwaiger individueller Vorschlag würde überhaupt nicht be­ rücksichtigt werden. Im Schrifttum wird diesbezüglich z. T. die Auffassung vertreten, der ver­ fassungsrechtliche Status des einzelnen Abgeordneten beinhalte auch ein Vorschlagsrecht für die Kanzlerwahl.52 Auch wenn man von einem solchen Recht ausgeht, wird man doch gewisse Einschränkungen für rechtfertigbar halten können. So spricht für eine gewisse Beschränkung der Kandidatenzahl die Übersichtlichkeit der Wahl, sowie dass sie eine Stimmenzersplitterung verhindern und so die Mehrheitsfindung erleichtern kann. Außerdem bedarf die Wahl eines Bundeskanzlers auch in dieser zweiten Phase noch der „Kanzlermehrheit“ im Bundestag, so dass Individualvorschläge einzelner Abgeordneter regelmäßig ohnehin nur geringe Erfolgs­ aussichten haben dürften. Ob allerdings die hohe Hürde von 25 % noch gerechtfertigt ist – mit der Folge, dass etwa die kleinen Fraktionen ihren Spitzenkandidaten nicht zur Wahl stellen können – erscheint sehr zweifelhaft. Angemessener wäre es, hier analog zur Mindestgröße von Fraktionen nur die Unterstützung von 5 % der Abgeordneten zu fordern.

56

in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommenta (166. Aktualisierung, März 2014), Art. 63, Rn. 134. 50 Man wird dem Bundespräsidenten aber als Folge seines Vorschlagsrechts in der ers­ ten Wahlphase zugestehen müssen, dass er sich in den anderen Wahlphasen weiterhin – ggf. auch öffentlich – für den ursprünglich von ihm vorgeschlagenen Kandidaten ausspricht, auch wenn das zu Reibungen mit dem Neutralitätsgebot für den Bundespräsidenten (dazu § 5 Rn. 5 f., 30 ff.) führt. 51 Gegen die Verfassungsmäßigkeit Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 30; Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 397 ff.; ebenfalls kritisch Epping, in: ­BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 63, Rn. 22.1; für die Verfassungs­ mäßigkeit etwa Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 63, Rn. 28; Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (166. Aktualisierung, März 2014), Art. 63, Rn. 133; Mager, in: Münch / Kunig, 6. Aufl. 2012 Art. 63 Rn. 12; Schröder, in: Isensee / K irch­ hof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 65, Rn. 18. 52 So etwa Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 30.

430

§ 7 Bundesregierung

57

Jedenfalls ist zu betonen, dass in der zweiten Wahlphase auch mehrere Kandidaten zur Wahl stehen können, denn im Unterschied zum Bundespräsidenten in der ersten Wahlphase ist der Bundestag bei der Ausübung seines Vorschlagsrechts nicht auf einen einzelnen Kandidaten beschränkt. Angesichts des Quorums von 25 % werden das praktisch allerdings höchstens drei Kandidaten sein.53

58

bb) Verfahren. Was das Verfahren in der zweiten Wahlphase betrifft, so ist um­ stritten, ob auch hier eine Aussprache über den bzw. die Kandidaten zu unterbleiben hat.54 Denn das Verbot der Aussprache ist in Art. 63 Abs. 1 GG normiert, der sich aber ausdrücklich nur auf die erste Wahlphase bezieht. Der die zweite Wahlphase betreffende Art. 63 Abs. 3 GG schließt eine Debatte dagegen nicht ausdrücklich aus. Der Schutz des Ansehens des Bundespräsidenten kann hier jedenfalls kein Argument für ein Ausspracheverbot sein. Es bleibt als potentielle Begründung nur, dass den Kanzlerkandidaten eine öffentliche Personaldebatte erspart bleiben soll. Da das Ausspracheverbot aber ohnehin wenig demokratisch ist und deshalb bes­ ser abgeschafft werden sollte (s. o. Rn. 49), sollte es jedenfalls nicht auf die zweite Wahlphase übertragen werden.

59

Wie schon in der ersten Wahlphase sind gemäß §§ 4, 49 GOBT auch alle Wahl­ gänge der zweiten Phase geheim. Das ist verfassungsrechtlich nicht geboten (jedenfalls nicht ausdrücklich), aber nach h. M. auch nicht verboten (s. näher § 1 Rn. 73).

60

cc)  Erforderliche Mehrheit und Ernennung. Zur Wahl eines Kandidaten ist nach Art. 63 Abs. 3 GG auch in der zweiten Wahlphase eine Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“) erforderlich.55 Wird diese Mehrheit erreicht, ist der Bundes­ präsident wie im ersten Wahlgang nach Art. 63 Abs. 2 S. 2 GG – vorbehaltlich seiner rechtlichen Prüfungsbefugnis – zur Ernennung des Gewählten verpflichtet (s. Rn. 33). Einer Gegenzeichnung bedarf die Ernennung gemäß Art. 58 S. 2 GG nicht. Verstreicht die Frist von 14 Tagen, ohne dass ein Kandidat gewählt wurde – sei es, dass niemand die Mitgliedermehrheit erreichte, sei es, dass überhaupt keine Wahl stattfand –, so beginnt die dritte Wahlphase. 53

Unter der Annahme, dass kein Abgeordneter mehrere Kandidaten unterstützen darf, sind rechnerisch auch vier Kandidaten möglich, was aber nur eine sehr theoretische Option ist. Hält man auch die Unterstützung mehrerer Kandidaten für zulässig, sind rechnerisch beliebig viele Kandidaten möglich. 54 Für die Möglichkeit einer Aussprache etwa Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 25, 31; Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (166. Aktualisierung, März 2014), Art. 63, Rn. 84. Für ein Verbot der Aussprache etwa Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63, Rn. 28; ders., in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 65, Rn. 19; Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 63, Rn. 22. 55 Die in Art. 63 Abs. 3 GG verwendete Formulierung „mit mehr als der Hälfte seiner Mit­ glieder“ ist eine nur einmal im Grundgesetz verwendete sprachliche Variante für die „Mehrheit der Mitglieder“ im Sinne der Art. 63 Abs. 2 S. 1, Art. 121 GG. S. zu den Mehrheitsbegriffen auch § 1 Rn. 115 ff.

B. Konstituierung der Bundesregierung

431

c) Dritte Wahlphase (Art. 63 Abs. 4 GG) Die dritte Wahlphase ist gegenüber der zweiten dadurch gekennzeichnet, dass hier erstens ein Wahlgang zwingend stattzufinden und zweitens für die Wahl des Bundeskanzlers keine Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“) mehr, sondern nur noch eine Meiststimmenmehrheit erforderlich ist (s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.).

61

Je nachdem, wie viele Wahlgänge in der zweiten Wahlphase stattgefunden ha­ ben (ggf. auch gar keiner), stellt die Wahl in der dritten Wahlphase den zweiten, dritten oder x-ten Wahlgang dar. Regelmäßig ist dieser Wahlgang auch der letzte. Nur ausnahmsweise, etwa im Fall von Stimmengleichheit oder bei Ablehnung der Wahl durch den Gewählten, können sich weitere Wahlgänge anschließen.56 Im Einzelnen stellt sich die dritte Wahlphase wie folgt dar:

62

aa) Vorschlagsrecht. Auch in dieser dritten Wahlphase kommen die Wahlvorschläge aus dem Bundestag (und nicht vom Bundespräsidenten), es gelten inso­ fern die Ausführungen zur zweiten Wahlphase (s. o. Rn. 54 ff.). Im Unterschied zur zweiten Wahlphase besteht eine Vorschlagspflicht des Parlaments.57

63

bb) Verfahren. Für das Verfahren in der dritten Wahlphase gelten keine anderen Bestimmungen als für das in der zweiten Wahlphase, insbesondere stellt sich auch hier die Frage der analogen Anwendung des Ausspracheverbots (s. o. Rn. 58). Auch hier sollte dies verneint werden, d. h. eine Aussprache über die Kandidaten verfassungsrechtlich möglich sein.

64

cc) Erforderliche Mehrheit und Ernennung. Erzielt ein Kandidat in der dritten Wahlphase die Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“), so muss der Bundes­ präsident – vorbehaltlich seiner rechtlichen Prüfungsbefugnis (s. Rn. 33) – nach der ausdrücklichen Anordnung in Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG diesen Kandidaten zum Bundeskanzler ernennen (s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). Der inter­

65

56

Theoretisch kann es im Fall eines verhärteten Stimmenpatts so zu beliebig vielen Wahl­ gängen kommen. In diesem Fall liegt es in der Hand des Bundespräsidenten, ob er mit dem Argument, für ihn komme bei keinem der stimmengleichen Kandidaten eine Ernennung zum Minderheitenkanzler in Betracht, den Bundestag auflöst (so zutreffend Herzog, in: Maunz / ​ Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63, Rn. 45). 57 Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 63, Rn. 30. Es stellt sich die Frage, wie die (praktisch äußerst unwahrscheinliche) Nichterfüllung dieser Pflicht sanktioniert wer­ den soll. Theoretisch kommt ein Organstreitverfahren des Bundespräsidenten gegen den Bun­ destag in Betracht, wobei allerdings die Antragsbefugnis des Bundespräsidenten problematisch wäre. Das Bundesverfassungsgericht kann aber keinen Kandidaten benennen, sondern nur den Pflichtverstoß feststellen. Sinnvoller erscheint es, dem Bundespräsidenten in einer Situation, die so verfahren ist, dass sich nicht einmal 25 % der Abgeordneten auf einen Kandidaten ei­ nigen können, die Auflösung des Bundestages auch ohne Durchführung eines Wahlganges zuzugestehen. Auch wenn diese Konstellation ohnehin schon äußerst unwahrscheinlich ist: Man könnte sie noch unwahrscheinlicher machen, indem das Quorum für das Vorschlagsrecht gesenkt wird.

432

§ 7 Bundesregierung

essantere und von den vorherigen Wahlphasen grundlegend verschiedene Fall ist der, dass kein Kandidat die Mitgliedermehrheit erzielt. Dann kommt nämlich eine der wenigen echten Entscheidungsbefugnisse des Bundespräsidenten zum Tragen, der jetzt binnen sieben Tagen zu entscheiden hat, ob er den Kandidaten ernennt, der die meisten Stimmen auf sich vereint (Meiststimmenmehrheit) oder ob er den Bundestag auflöst. Für die Ernennung ergeben sich  – abgesehen von der in Art. 63 Abs. 4 GG ausdrücklich angeordneten Frist von sieben Tagen – keine Unterschiede zu den ersten beiden Wahlphasen (insbesondere ist sie ebenfalls gegenzeichnungsfrei). 66

dd) Zur Entscheidungsbefugnis des Bundespräsidenten. Der Bundespräsident kann sein Entscheidungsrecht im Fall einer fehlenden „Kanzlermehrheit“ frei ausüben. Ihm kommt dabei ein (hoch-)politisches Ermessen zu. Er ist allerdings auf die zwei vom Grundgesetz vorgegebenen Optionen beschränkt (Bundestags­ auflösung oder Ernennung des Kandidaten mit Meiststimmenmehrheit) und darf nicht eine dritte, sonstige Entscheidung treffen. Er dürfte beispielsweise nicht wei­ tere Wahlgänge veranlassen oder über die Siebentagesfrist hinaus untätig bleiben.

67

In seine Entscheidung werden regelmäßig folgende politische Überlegungen einfließen: Entscheidet sich der Bundespräsident für die Ernennung des nur mit Meiststimmenmehrheit gewählten Kandidaten, so nimmt er in Kauf, dass der Bun­ deskanzler sich nur auf das Vertrauen einer Minderheit des Bundestages stützen kann und dementsprechend seine Regierung eher schwach und instabil sein wird.

68

In verfassungsrechtlicher Hinsicht unterscheidet sich eine solche Minderheitsregierung aber nicht von einer Regierung, deren Bundeskanzler von der absoluten Mehrheit des Bundes­ tags gewählt wurde; beiden stehen dieselben Kompetenzen zu.58 Die politische Stabilität und auch die Funktionsfähigkeit einer solchen Regierung wird sich aber immer dort beweisen müs­ sen, wo die Bundesregierung zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele auf Entscheidungen des Bundestags angewiesen ist, also vor allem in der Gesetzgebung und als deren Spezialfall beim Erlass des Haushaltsgesetzes, aber z. B. auch bei Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr. Trotz dieser nicht nur formellen, sondern auch instrumentellen Abhängigkeit der Bundesregierung vom Bundestag lassen sich die Überlebenschancen einer Minderheitsregie­ rung nicht abstrakt beurteilen. Denn es sind – wie viele ausländische Beispiele, aber auch Er­ fahrungen aus Deutschland (bisher allerdings nur aus den Ländern),59 zeigen – politische Kon­ stellationen vorstellbar, in denen eine Regierung auch mit wechselnden Mehrheiten oder bei in Stimmenenthaltung zum Ausdruck kommender Tolerierung längerfristig politisch agieren kann. Vernünftigerweise wird der Bundespräsident nicht ohne Prognose künftiger Mehr­ heitsbildungen im (aktuellen) Bundestag entscheiden. Er soll den Gewählten jedenfalls dann ernennen, wenn zu erwarten ist, dass dieser künftig eine (absolute) Mehrheit erreichen kann.

69

Die Auflösung des Bundestags bedeutet dagegen, dass innerhalb der von Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG gesetzten Frist von sechzig Tagen Neuwahlen stattzufin 58

Umfassend dazu Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, 1986. Vgl. als kurzen Abriss zu bisherigen Minderheitsregierungen in Deutschland Kloepfer, NJW 2018, 1799 (1799). 59

B. Konstituierung der Bundesregierung

433

den haben. Die Anordnung der Auflösung ist eine empfangsbedürftige Willens­ erklärung des Bundespräsidenten, die mit Zugang beim Bundestagspräsidenten wirksam wird.60 Nach einer gescheiterten Kanzlerwahl ist die Auflösungsanord­ nung nicht gegenzeichnungsbedürftig (Art. 58 S. 2 GG). Rechtsfolge der Auflösung ist nur das Vorziehen der nächsten Bundestagswahl. Auf den Bestand des aktuellen Bundestags hat die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten keine unmittelbare Wirkung. Der aufgelöste Bundestag besteht zunächst normal fort und ist rechtlich gesehen in seiner Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt.61 Er endet nach der allgemeinen Regelung des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG mit Zusammentritt des neuen, vorzeitig gewählten Bundestags. 4. Sonstige Wahlverfahren Ein Bundeskanzler kann neben dem regulären Wahlverfahren nach Art. 63 GG auch durch konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG) oder in Folge einer fehlgeschlagenen Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG) gewählt werden (s. dazu Rn. 127 ff. bzw. 148). Im Unterschied zum regulären Wahlverfahren nach Art. 63 GG gibt es bei diesen Wahlen noch einen amtierenden  – nicht nur ge­ schäftsführenden – Bundeskanzler. Die Wahl des neuen Bundeskanzlers ist damit zugleich die Abwahl des bisherigen Amtsinhabers.

70

II. Bestimmung der Bundesminister Im Anschluss an die Ernennung des Bundeskanzlers beginnt die zweite Phase der Regierungsbildung, die durch Art. 64 Abs. 1 GG beschrieben wird. Aufgrund der umfangreichen Vorabstimmungen (insbesondere aufgrund von Koalitions­ verhandlungen und daraus resultierenden Koalitionsvereinbarungen, s. Rn. 98 ff.) stehen der Zuschnitt der Bundesministerien, deren Aufteilung auf die Regierungs­ parteien und ihre personelle Besetzung zwar in der Regel faktisch schon vor der Wahl des Bundeskanzlers fest. Rechtlich umgesetzt werden diese Vorfestlegungen aber im Rahmen der Vorgaben von Art. 64 Abs. 1 GG.

71

Das Grundgesetz gewährt dem Kanzler in Art. 64 Abs. 1 GG ein ausschließliches Vorschlagsrecht für die Ernennung der Minister durch den Präsidenten (personelle Komponente). Dem vorgelagert und von Art. 64 Abs. 1 GG nicht aus­ drücklich geregelt ist die Frage, welche Ministerposten überhaupt zu vergeben sind (organisatorische Komponente), das heißt insbesondere die Zahl der Minister und die Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten. Verfassungsrechtlich gesehen liegen im Er­ gebnis beide Aspekte grundsätzlich in der Hand des Bundeskanzlers. Diesem steht

72

60 61

Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 68, Rn. 44. Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 68, Rn. 39.

434

§ 7 Bundesregierung

sowohl die Organisationsgewalt als auch der wesentliche Teil der Personalgewalt über die Bundesregierung zu. 1. Organisationsgewalt des Bundeskanzlers 73

Organisationsgewalt ist die Befugnis zur (Ab-)Schaffung, Veränderung und Zusammenordnung öffentlicher Handlungseinheiten und zur Bestimmung ihrer Aufgaben, ihrer inneren Gliederung sowie ihres Geschäftsgangs.62 Was die Or­ ganisationsgewalt für den Bereich der Bundesregierung angeht, ist zunächst fest­ zuhalten, dass diese grundsätzlich bei der Bundesregierung  – nicht etwa beim Bundespräsidenten oder beim Bundestag – liegt.63 Dem nachgelagert ist die Frage nach der Aufteilung der Organisationsgewalt innerhalb der Bundesregierung: Al­ leine in der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers liegt die Befugnis, über Anzahl und Zuschnitt der Ministerposten zu entscheiden.64 Das ist naheliegende Folge­r ung aus seinem personellen Vorschlagsrecht für die Bundesminister (Art. 64 Abs. 1 GG) und Ausfluss seiner Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG, dazu unten Rn. 302 ff.).65 Von vorneherein dem Bundeskanzler entzogen ist hingegen die innere Organisation der Ministerien, die nach dem Ressortprinzip (Art. 65 S. 2 GG, dazu unten Rn. 310 ff.) in der Organisationsgewalt der jeweiligen Minister liegt. Schließlich stehen manche Organisationsbefugnisse auch der Bundesregie­ rung als Kollegialorgan zu.66

74

Gewisse verfassungsrechtliche Einschränkungen der Organisationsgewalt ergeben sich aus der Nennung bestimmter Ressorts im Grundgesetz (verfassungsgarantierte Ministerien, s. näher dazu Rn. 229 ff.): Aus Art. 65a GG ergibt sich ein verfassungsrechtliches Gebot, einen Minister für Verteidigung einzusetzen, welcher (außerhalb des Verteidigungsfalls: Art. 115b GG) die Befehls- und Kom­ mandogewalt über die Streitkräfte innehat. Ausdrücklich ist in Art. 96 Abs. 2 S. 4 GG auch von dem Geschäftsbereich des Bundesjustizministers die Rede. Die Erforderlichkeit der Einrichtung eines Bundesministeriums für Finanzen impli­ zieren die finanz- und haushaltsverfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisungen in Art. 108 Abs. 3, 112 und 114 Abs. 1 GG. Die verfassungsrechtliche Garantie dieser

62

Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 29, 38; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 9. 63 Das ist hinsichtlich des Bundespräsidenten allgemein anerkannt. Die Ausübung der Orga­ nisationsgewalt durch den Bundestag würde einen organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt für den Bereich der Bundesregierung bedeuten. Dazu näher Rn. 78. 64 Statt vieler Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (170. Aktualisierung, Dezember 2014), Art. 64, Rn. 97. 65 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 140. 66 Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl.  2018, Art. 64, Rn. 27; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 17; Epping, in: BeckOK-GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 64, Rn. 3. Als Beispiel wird die Einrichtung von Kabinettsausschüssen genannt.

B. Konstituierung der Bundesregierung

435

Ministerien verhindert aber nicht, dass diese mit anderen Ressorts zusammen­gelegt werden können (s. näher Rn. 231). Neben diesen Beschränkungen durch die Verfassung stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße sich Beschränkungen der Organisationsgewalt aus einfachen Gesetzen ergeben können. Im Extremfall wäre etwa vorstellbar, dass der Gesetzgeber abschließend die Zahl der Ministerien sowie die Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten festlegt, wie das zum Beispiel in Österreich der Fall ist.67 Aber auch mildere Formen – etwa eine Höchstzahl der Ministerposten68 oder eine Ga­ rantie der Eigenständigkeit bestimmter Ressorts – sind denkbar.

75

Die im Schrifttum zu diesem Thema vertretenen Meinungen gehen überwiegend davon aus, dass ein bestimmter Kernbereich der Organisationsgewalt vor Eingriffen des Parlaments verfassungsrechtlich geschützt sei,69 so dass maximal punktuelle gesetzliche Vorgaben für die Regierungsorganisation zulässig seien (s. zur Frage von Kernbereichen der Regierung auch Rn. 327 ff.).70 Demnach würde etwa die gesetzliche Festlegung, dass jede Errichtung eines Ministeriums oder jegliche Zuständigkeitsänderung durch Gesetz erfolgen müsste, den Kern­ bereich der Organisationsgewalt verletzen.71 Wo diese Grenzen einschlägiger gesetzlicher Organisationsregelungen im Einzelnen verlaufen, wird damit aber nicht gesagt. Zutreffend ist deshalb davon auszugehen, dass dem Bundeskanzler bei der Ausübung seines Kabinettbil­ dungsrechts die notwendige organisatorische Flexibilität verbleiben muss. Andere Stimmen gehen demgegenüber davon aus, dass die Organisationshoheit nicht zwingend einen Kernbe­ reich der Regierung darstellt und der Gesetzgeber deshalb auch die Grobstruktur der Bundes­ regierung oder sogar die Zahl der Ministerien und ihre Aufgabengebiete festlegen dürfe.72

76

Die Nennung von Bundesressorts in Bundesgesetzen bedeutet keine Festschreibung ihrer Existenz. Werden solche Ministerien aufgelöst, ihnen bestimmte Aufgaben entzogen oder ihr Name verändert, treten die Ministerien an deren Stelle, in deren Geschäftsbereich diese Aufgaben jetzt fallen. Das folgt verfassungsrechtlich bereits aus der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers73 und wird einfachgesetzlich durch § 1 Zuständigkeitsanpassungsgesetz

77

67 Dass dies vom Gesetzgeber zu regeln ist, wird durch das österreichische Bundes-Verfas­ sungsgesetz allerdings auch ausdrücklich vorgegeben (Art. 77 Abs. 2 B-VG). D. h. dort liegt die Organisationsgewalt von vorneherein nicht beim Bundeskanzler. Gewisse Ähnlichkeiten dazu bestehen in manchen deutschen Ländern – etwa in Bayern, wo die Ernennung von Mi­ nistern sowie die Veränderung von Zahl und Zuschnitt der Ministerien unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Landtags (durch einfachen Beschluss) stehen, Art. 45, 49 LV-Bay. Die Personal- und Organisationsgewalt über die Landesregierung steht dort also dem Regierungs­ chef und dem Parlament gemeinsam zu. 68 So beschränkt etwa die Verfassung von Berlin (Art. 55 Abs. 2 LV-Ber) die Zahl der Lan­ desminister (Senatoren) auf höchstens zehn. 69 Vgl. bspw. Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 64, Rn. 29; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 286 ff. 70 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 64, Rn. 3. 71 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 287. 72 So Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 23; vgl. insb. auch die ausführliche Kritik von Baer, Der Staat 40 (2001), 525 (passim), mit umfassender Auswertung der Literatur zu dieser Frage. 73 Busse, Der Staat 45 (2006), 245 (250 f.).

436

§ 7 Bundesregierung

(ZustAnpG)74 klargestellt. § 2 ZustAnpG enthält dann auch die bemerkenswerte Ermächti­ gung, durch Rechtsverordnung entsprechende Korrekturen in den – eigentlich höherrangigen – Parlamentsgesetzen vorzunehmen.75 Dies könnte der Gesetzgeber vermeiden, wenn er nicht die aktuellen Ministeriumsbezeichnungen (z. B. Bundesminister für Wirtschaft…), sondern nur noch Funktionszuschreibungen vornehmen würde (z. B. das für Wirtschaft zuständige Bundesministerium).

78

Von der Frage des Zugriffs des Bundestags auf die Organisationsgewalt zu unterscheiden ist die Frage eines organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalts hinsichtlich der Bundesregierung. Das hieße, dass für die einem solchen Vorbe­ halt unterfallenden Aspekte die Organisationsgewalt schon im Ausgangspunkt vom Bundestag (mit-)ausgeübt wird. Ein organisationsrechtlicher Gesetzesvorbe­ halt im Bereich der Regierung wurde etwa – freilich für das dortige Landesver­ fassungsrecht – vom Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen für die Zusammenlegung der Ressorts Innen und Justiz aus der Wesentlichkeitstheorie gefolgert.76 Die herrschende Meinung steht der Annahme organisationsrechtlicher Gesetzesvorbehalte im Bereich der Regierung kritisch gegenüber.77

79

Die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers erstreckt sich auch darauf, Bundesminister für besondere Aufgaben, also ohne fest umgrenzten Geschäftsbe­ reich zur Ernennung vorzuschlagen (meist geschieht das für den Kanzleramtschef, s. Rn. 209 f.) oder auch gleichzeitig bestimmte Geschäftsbereiche als Bundeskanz­ ler selbst wahrzunehmen (s. a. Rn. 300). Mit den Bundesministern für besondere Aufgaben nicht verwechselt werden sollten die Staatsminister, die entgegen ihrer Bezeichnung gar keinen Ministerrang haben, sondern regelmäßig Parlamentari­ sche Staatssekretäre sind (s. Rn. 246 ff.). Die Position eines Ministers als Kanzlerstellvertreter78 nach Art. 69 Abs. 1 GG wird ressortunabhängig getroffen (s. a. Rn. 200 ff.).

80

Die Organisationsgewalt steht dem Bundeskanzler nicht nur in der Sache zu, er kann sie auch selbst ausüben. Darin liegt ein Unterschied zur Personalgewalt über die Bundesregierung, deren Ausübung stets einen Akt des Bundespräsidenten erfordert (dazu sogleich Rn. 82). Die Organisationsgewalt wird durch Organisationserlasse ausgeübt. Diese enthalten in der Praxis keine umfassende Regelung der Zuständigkeiten, sondern modifizieren die bis dahin gewachsene Struktur der

74 Zuständigkeitsanpassungsgesetz v. 16.8.2002 (BGBl. I S. 3165), das durch Artikel 7 der Verordnung vom 31.8.2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist. 75 Hierzu Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 386 ff. 76 NRWVerfGH, NJW 1999, 1243 f.; vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von Böckenförde, NJW 1999, 1235 (1235 f.); Sendler, NJW 1999, 1232 (1232 f.). 77 Vgl. die kritischen Anmerkungen zu dem vorgenannten Urteil von Böckenförde, NJW 1999, 1235 (1235 f.); Sendler, NJW 1999, 1232 (1232 f.); allgemeiner Butzer, Die Verwaltung 27 (1994), 157 (165 f.); Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 19 f.; Busse, Der Staat 45 (2006), 245 (250 f.). 78 Im allgemeinen Sprachgebrauch meist „Vizekanzler“ genannt.

B. Konstituierung der Bundesregierung

437

Bundesregierung.79 Organisationserlasse sind weder Gesetz noch Rechtsverord­ nung. Sie werden aber den wesentlichen Stellen im Bund zur Kenntnis gebracht,80 sind gem. § 1 Abs. 3 ZustAnpG im Bundesgesetzblatt zu bekannt zu machen81 und entfalten – weil sie bezüglich vieler einfachgesetzlicher Ermächtigungen zustän­ digkeitsbegründend bzw. -verlagernd wirken können – auch eine gewisse Außen­ wirkung gegenüber den Bürgern. 2. Personalgewalt über die Bundesregierung Dem Zuschnitt der Ministerposten gedanklich nachgelagert ist deren Beset­ zung mit konkreten Personen. Ernennung und Entlassung von Bundesministern lassen sich unter dem Begriff der Personalgewalt über die Bundesregierung zusammenfassen. Diese Personalgewalt über die Bundesregierung ist zu unter­ scheiden von der Personalgewalt innerhalb der Ressorts, also von der klassi­ schen Personalhoheit (über Beamte etc.) innerhalb der Bundesministerien (und im Bundeskanzleramt).

81

Aus Art. 64 Abs. 1 GG geht hervor, dass die Personalgewalt über die Bundes­ regierung von dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten gemeinsam ausgeübt wird. Dabei kommt dem Bundeskanzler durch sein Vorschlagsrecht die Entscheidung in der Sache zu (materielle Personalgewalt), während der Bundes­ präsident in seiner Funktion als „Staatsnotar“ formell den Akt der Ernennung bzw. Entlassung vornimmt (formelle Personalgewalt).

82

Der Bundeskanzler ist in seiner Entscheidung, wen er zur Ernennung oder Ent­ lassung vorschlägt, rechtlich gesehen frei (faktisch unterliegt er dabei natürlich regelmäßig erheblichen politischen Zwängen, s. Rn. 31). Der Bundespräsident ist an die Entscheidung des Bundeskanzlers rechtlich gebunden. In seiner Funktion als „Staatsnotar“ kann er zwar aus rechtlichen Gründen seine Mitwirkung verwei­ gern, wenn es an einer Ernennungsvoraussetzung (s. u. Rn. 86 f.) fehlt. Ein darüber hinausgehendes politisches Ablehnungsrecht steht dem Bundespräsidenten aber nicht zu. Zum Teil wird ein solches Recht in der Literatur allerdings für Extrem­ fälle gefordert (s. § 5 Rn. 126).

83

Personelle Änderungen in der Bundesregierung müssen also durch einen Akt des Bun­ despräsidenten herbeigeführt werden. Dieser darf wiederum nur tätig werden, wenn ein ent­ sprechender Vorschlag des Bundeskanzlers vorliegt. So ist dann etwa der scheinbar einfache Vorgang des Rücktritts eines Bundesministers rechtlich gesehen ein Ersuchen des Minis­

84

79

Busse, Der Staat 45 (2006), 245 (252). Busse, Der Staat 45 (2006), 245 (253). 81 Vgl. exemplarisch etwa den Organisationserlass der Bundeskanzlerin vom 17.12.2013 (als Ergebnis der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2013), BGBl. I S. 4310, und den Organisationserlass der Bundeskanzlerin vom 14.03.2018 (als Ergebnis der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017), BGBl. I S. 374. 80

438

§ 7 Bundesregierung

ters an den Bundeskanzler, dem Bundespräsidenten seine Entlassung vorzuschlagen (s. näher Rn. 170 f.).

85

Der Bundestag ist in die Ernennung und Entlassung der Bundesminister nicht eingebunden. Insofern unterscheidet sich die Regierungsbildung unter dem Grund­ gesetz von einigen Landesverfassungen, die das gesamte Kabinett82 oder jeden einzelnen Minister83 von der Zustimmung des Parlaments abhängig machen. Im Gegensatz zur Weimarer Republik (Art. 54 WRV) ist ferner die Abwahl einzel­ ner Minister durch das Parlament nicht vorgesehen. Auch auf das in der Weimarer Reichsverfassung noch vorhandene Instrument der Ministeranklage (s. Rn. 25 f.) verzichtet das Grundgesetz. Die Minister sind unmittelbar also alleine vom Vertrauen des Bundeskanzlers abhängig. Das heißt aber nicht, dass sie dem Par­ lament gegenüber gar nicht politisch verantwortlich wären (s. Rn. 21 ff., 226 ff.). 3. Ernennungsvoraussetzungen, Ablauf der Ernennung

86

Kandidaten für ein Ministeramt müssen unter anderem als rechtliche Ernennungsvoraussetzung das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzen. Das folgt aus dem selben Erstrechtschluss wie beim Bundeskanzler (s. o. Rn. 35). Analog zum Bundeskanzler spricht ferner manches für Verfassungstreue als Ernennungsvor­ aussetzung bei Ministern (s. Rn. 38 f.). Die Ernennung kann – anders als die Ent­ lassung – nicht gegen den Willen der zu ernennenden Person erfolgen (Grundsatz der Freiwilligkeit der Ämterübernahme).84 Schließlich ist auch das Vorliegen eines Ernennungsvorschlags des Bundeskanzlers zu den Ernennungsvoraussetzungen zu zählen. Keine Ernennungsvoraussetzung ist hingegen die Erfüllung der Inkompa­ tibilitätsvorschriften im Zeitpunkt der Ernennung (s. a. Rn. 96; § 1 Rn. 80). Auch Art. 33 Abs. 2 GG findet keine Anwendung auf die Ernennung von Ministern.85

87

An die Ernennungs- bzw. Entlassungsvorschläge des Bundeskanzlers be­ stehen keine Formanforderungen.86 Die vom Bundespräsidenten unterschrie­ benen Ernennungsurkunden (§ 2 BMinG) für die Bundesminister bedürfen der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler (s. dazu § 5 Rn. 182 ff.). Diese Not­ wendigkeit folgt verfassungsrechtlich aus Art. 58 S. 2 GG, der nur die Ernennung bzw. Entlassung des Bundeskanzlers von der Gegenzeichnungspflicht ausnimmt.

82

So etwa Art. 29 Abs. 3 LV-Nds. So etwa Art. 45 LV-Bay. 84 Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 64, Rn. 26; Mager, in: Münch / Kunig, 6. Aufl. 2012 Art. 64, Rn. 6. 85 Badura, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 33, Rn. 24. 86 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 64, Rn. 9. 83

B. Konstituierung der Bundesregierung

439

III. Eidesleistung der Regierungsmitglieder Gemäß Art. 64 Abs. 2 GG haben der Bundeskanzler und die Bundesminister bei ihrer Amtsübernahme den in Art. 56 GG für den Bundespräsidenten formulierten Eid zu leisten. Der Wortlaut des Eides ist:

88

„Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

Wie der Bundespräsident, so dürfen auch die Regierungsmitglieder den Eid ohne religiöse Beteuerung leisten (s. auch § 5 Rn. 59 ff.). Anders als beim Bundespräsi­ denten wird der Eid nur vor dem Bundestag geleistet, nicht vor den versammelten Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat.

89

Der Eidesleistung kommt keine eigene rechtliche Wirkung zu.87 Es handelt sich um einen sogenannten promissorischen Eid, mit dem die Regierungsmitglieder geloben, ihren Amtspflichten gerecht zu werden. Die Amtspflichten, insbeson­ dere die Pflicht zur Beachtung der Verfassung und der Gesetze, treffen sie aber unabhängig von der Eidesleistung. Die Funktion der Eidesleistung erschöpft sich darin, die Ableitung der Hoheitsgewalt vom alleinigen Inhaber der Staatsgewalt, dem Volk, zumindest gegenüber dessen Vertreter, dem Bundestag, symbolisch und feierlich zum Ausdruck zu bringen.88 Dass die symbolische Dimension in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte, zeigt sich unter anderem darin, wie medial präsent Aufnahmen von der Eidesleistung neuer Bundeskanzler und neuer Bundesminister sind. Auch wenn der Eid keine eigene rechtliche Bedeutung hat, so werden mit § 2 Abs. 2 BMinG, wonach das Amtsverhältnis eines Mitglieds der Bundesregierung spätestens mit der Vereidigung beginnt (s. a. Rn. 112), doch ge­ wisse Rechtsfolgen an die Eidesleistung geknüpft.

90

Von den promissorischen Eiden sind die assertorischen Eide (insbesondere Gerichtseide) zu unterscheiden, mit denen die Wahrheit einer Aussage bekräftigt wird. An diese sind Rechts­ folgen wie etwa die Strafbarkeit des Meineids, § 154 StGB, geknüpft.

91

IV. Inkompatibilitäten Die Ämter und Tätigkeiten, die mit dem Amt des Bundeskanzlers oder dem eines Bundesministers von Verfassung wegen unvereinbar sind, werden in Art. 66 GG aufgezählt (s. übergreifend zu Inkompatibilitätsvorschriften § 1 Rn. 80 ff.). Er ent­ spricht weitgehend Art. 55 Abs. 2 GG, der die beruflichen Inkompatibilitäten für 87

Vgl. nur Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 31; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 64, Rn. 30. 88 So auch die dem Eid vom Parlamentarischen Rat zugedachte Symbolfunktion, vgl. Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 32.

92

440

§ 7 Bundesregierung

das Amt des Bundespräsidenten normiert (s. dazu § 5 Rn.  78). Im Gegensatz zum Bundespräsidenten dürfen Mitglieder der Bundesregierung nach dem Grundgesetz aber dem Aufsichtsrat von auf Erwerb gerichteten Unternehmen angehören, so­ fern der Bundestag dem zustimmt. Diese Ungleichbehandlung des Grundgesetzes zwischen Mitgliedern der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten leuchtet nicht ein. Das Grundgesetz scheint hier nicht hinreichend harmonisiert zu sein. 93

Noch deutlicher ist die unterschiedliche Behandlung der Mitglieder der Bundes­ regierung und des Bundespräsidenten an anderer Stelle: Im Gegensatz zu Letzte­ rem sieht Art. 66 GG für die Mitglieder der Bundesregierung keine politischen Inkompatibilitäten vor.89 Ist es dem Bundespräsidenten nach Art. 55 Abs. 1 GG verwehrt, einer Regierung oder einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes anzugehören, steht dem für Mitglieder der Bundesregierung verfassungsrechtlich nichts entgegen. Immerhin verbietet aber das einfache Recht in § 4 BMinG die Mitgliedschaft von Mitgliedern der Bundesregierung in einer Landesregierung, was mittelbar auch die Mitgliedschaft im Bundesrat ausschließt. Möglich und verbreitet ist es aber, neben dem Regierungsamt auch ein Mandat im Bundestag oder in einem Landesparlament innezuhaben.

94

Die größere Strenge bei politischen Ämtern des Bundespräsidenten lässt sich mit dessen Neutralität (s. dazu § 5 Rn. 5 f., 30) erklären. Diese setzt eine gewisse Distanz zum (partei-) politischen Tagesgeschehen voraus, was dafür spricht, den Bundespräsidenten aus entspre­ chenden Organen herauszuhalten. Die Mitglieder der Bundesregierung stehen hingegen im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Eine gute Einbindung in verschiedene politisch be­ deutsame Gremien – gerade auch in das Parlament als zentralen Ort der Mehrheitsfindung – kann für eine effektive Regierungsarbeit hilfreich sein. Gleichwohl spricht einiges gegen die übliche Praxis von „Minister-Abgeordneten“, d. h. Ministern (oder Kanzlern), die zugleich ein Bundestagsmandat innehaben. Die oft zu beobachtende Unselbständigkeit des Bundestags gegenüber der Bundesregierung könnte durch eine gewisse personelle Entflechtung verrin­ gert und so die horizontale Gewaltenteilung gestärkt werden (s. dazu die rechtspolitischen Vorschläge in Rn. 356 f.).

95

Im Hinblick auf Funktionen in der Europäischen Union bestehen kaum Inkom­patibilitäten. Im Gegenteil: Zwei zentrale Organe der EU – der Rat und der Europäische Rat – setzten sich gerade im Wesentlichen aus Mitgliedern der nationalstaatlichen Regierungen zusammen. Dies ist insofern nicht ganz unpro­ blematisch, als die Bundesregierung dabei maßgeblich an der europäischen Ge­ setzgebung mitwirkt, die später von der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen ist. Es droht, dass in Deutschland unpopuläre Projekte über den Umweg „Brüssel“ betrieben werden, sodass am Ende auf die unionsrechtliche Umsetzungspflicht ver­ wiesen werden kann. Immerhin können Mitglieder der Regierungen der Mitglieds­

89

Anders aber Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 66, Rn. 27 ff. Dies wird aber dem systematischen Argument nicht gerecht, dass  – bei sonst sehr ähnlicher Formulierung – Art. 66 GG eine dem Art. 55 Abs. 1 GG entsprechende Regelung nicht enthält.

B. Konstituierung der Bundesregierung

441

staaten nicht zugleich Mitglieder des Europäischen Parlaments sein (Art. 7 Abs. 1 Direktwahlakt90). Die Inkompatibilitätsvorschriften greifen zeitlich erst ab der Ernennung des jeweiligen Regierungsmitglieds und nur bis zum Ausscheiden aus der Bundesregierung. Insbesondere ist die Niederlegung inkompatibler Stellungen keine Er­ nennungsvoraussetzung (s. a. Rn. 86; § 1 Rn. 80). Die Inkompatibilitätsvorschriften bewirken auch kein automatisches (ipso iure) Ausscheiden aus den inkompatiblen Stellungen.91 Kommt ein Regierungsmitglied seiner Pflicht nicht nach, alle inkom­ patiblen Stellungen aufzugeben, so sind ggf. der Bundeskanzler oder der Bundes­ tag verpflichtet, einen rechtmäßigen Zustand herzustellen (durch Vorschlag der Entlassung bzw. Abwahl).92

96

Das Problem von Interessenkonflikten bei Regierungsmitgliedern93 reicht freilich weiter als die groben Inkompatibilitätsvorschriften im Grundgesetz. Immerhin wurden einfach­ gesetzlich ergänzende nachamtliche Beschäftigungsbeschränkungen eingeführt.94 Nach §§ 6a ff. BMinG sind in den ersten 18 Monaten nach Ausscheiden aus der Bundesregierung Beschäftigungen außerhalb des öffentlichen Dienstes der Bundesregierung anzuzeigen. Diese kann – unter Einbindung eines speziellen Beratungsgremiums – die Tätigkeit untersagen, so­ weit öffentliche Interessen entgegenstehen. Nach diesen 18 Monaten ist es alleine eine Frage politischen Stils, inwieweit ehemalige Bundeskanzler oder Bundesminister bezahlte Tätig­ keiten aufnehmen, bei denen letztlich ihre verbliebenen Kontakte und Einflussmöglichkeiten für die Verwirklichung wirtschaftlicher Partikularinteressen „eingekauft“ werden. Um die Gefahr der „Versilberung“ von Regierungsämtern oder gar der Führung des Regierungsamts in Hinblick auf die Interessen potentieller zukünftiger Arbeitgeber zu verringern, sollte die Frist von 18 Monaten jedenfalls ausgedehnt (z. B. verdoppelt) werden.

97

V. Koalitionsvereinbarungen 1. Inhalt und Bedeutung Politische Parteien, die im Parlament vertreten sind und eine gemeinsame Regierung bilden wollen, schließen regelmäßig Koalitionsvereinbarungen. Eine Koalitionsvereinbarung im Sinne eines über informelle Absprachen hinausgehen­ 90 Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordne­ ten des Europäischen Parlaments vom 20.9.1976 (BGBl. 1977 II, S. 733/734), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 25.6.2002 und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II, S. 810; 2004 II, S. 520). 91 Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 67, Rn. 44. 92 Zutreffend Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 66, Rn. 14. 93 Vgl. hierzu etwa die Untersuchung von Krienke, Interessenkonflikte der Regierungsmit­ glieder des Bundes und der Länder, 2003. 94 Dazu näher, insb. zur Verfassungsmäßigkeit der Regelungen, Scheffczyk, ZRP 2015, 133; Greszick / Limanowski, DÖV 2016, 313.

98

442

§ 7 Bundesregierung

den, verschriftlichten und einheitlichen Dokuments gab es auf Bundesebene wohl erstmals 1961. Sie hatte nur wenige Seiten. Nach durchwachsenen Erfahrungen sah man in der Folge zunächst von weiteren expliziten Koalitionsvereinbarungen ab. Erst ab 1980 etablierte sich auf Bundesebene eine ständige Praxis von Koalitionsabkommen in der Form von immer länger und detaillierter werdenden Koalitions„verträgen“.95 99

Die Praxis von Koalitionsvereinbarungen bei der Regierungsbildung existiert auch auf Länderebene. Für das politische Geschehen auf Bundesebene sind in den Koalitionsvereinbarun­ gen auf Länderebene vor allem die Regelungen zum Abstimmungsverhalten im Bundesrat interessant. Hierzu wird regelmäßig vereinbart, dass sich das jeweilige Land der Stimme ent­ hält, falls zwischen den Koalitionspartnern keine Einig­keit besteht. Das hat vor allem bei Zu­ stimmungsgesetzen weitreichende Folgen, weil dann die Enthaltung den Charakter einer NeinStimme hat (s. § 3 Rn. 151). Ist eine Oppositionspartei auf Bundesebene zugleich an genügend Landesregierungen beteiligt, so kann daraus eine Blockadesituation im Bundesrat entstehen.

100

Koalitionsvereinbarungen haben verschiedene Funktionen:96 Zentral ist die Eini­gung auf ein grundsätzliches Sachprogramm der zu bildenden Bundesregie­ rung (programmatische Funktion) sowie über den Zuschnitt der Ministerien und ihre Verteilung auf die Koalitionspartner (machtverteilende Funktion). Sie sichern zumindest in politischer, nicht jedoch in rechtlicher Hinsicht die Mehrheit des Bundestags auch und gerade für die Wahl des Bundeskanzlers (mehrheitsbeschaffende Funktion). Koalitionsvereinbarungen enthalten regelmäßig Regelun­ gen dazu, wie die Zusammenarbeit der Koalitionspartner in den verschiedenen Verfassungsorganen abläuft (beispielsweise, dass man sich im Kabinett in grund­ sätzlichen Fragen nicht überstimmt, wie die Abstimmung zwischen Regierung und Fraktionen abläuft usw.97) und erfüllen so eine politikorganisierende Funktion. Da Koalitionsvereinbarungen inzwischen stets veröffentlicht werden,98 erfüllen sie zudem auch eine öffentlichkeitsbezogene Funktion. Je nachdem wie um­ stritten eine Koalition ist und welche Form der parteiinternen Zustimmung von den Parteien eingeholt wird,99 erfüllen Koalitionsvereinbarungen auch eine mehr oder weniger starke parteiinterne Funktion. Die öffentlichkeitsbezogene und die 95 Vgl. hierzu Saalfeld, in: Müller / Strøm (Hrsg.), Koalitionsregierungen in Westeuropa, 1997, S. 47 (72 ff.). Vgl. in diesem Band auch die anderen Beiträge mit Schilderungen zur Pra­ xis der Koalitionsvereinbarungen im westeuropäischen Ausland sowie die Zusammenfassung hierzu von Müller / Strøm, ebd., S. 705 (723 ff.). 96 Ausführlicher Kloepfer, NJW 2018, 1799 (1799 f.). 97 S. exemplarisch den Abschnitt „XIV. Arbeitsweise der Regierung und Fraktionen“ im Koalitionsvertrag der Großen Koalition 2018. 98 Das war allerdings nicht immer so und wird auch im Ausland unterschiedlich gehandhabt. So war etwa die Koalitionsvereinbarung von 1961 ursprünglich nicht zur Veröffentlichung be­ stimmt, wurde jedoch von der Presse veröffentlicht, vgl. Saalfeld, in: Müller / Strøm (Hrsg.), Koalitionsregierungen in Westeuropa, 1997, S. 47 (80). Zur Veröffentlichungspraxis im west­ europäischen Ausland Müller / Strøm, ebd., S. 705 (723 f.) 99 Die Praxis ist hier unterschiedlich und reicht von der Zustimmung durch den Partei­ vorstand über die Abhaltung von Sonderparteitagen bis hin zum (bisher seltenen) Entscheid durch die gesamte Parteibasis.

B. Konstituierung der Bundesregierung

443

parteiinterne Funktion machen deutlich, dass es verkürzt ist, Koalitionsverein­ barungen nur als wechselseitige Versprechen der Koalitionspartner zu begreifen. Sie sind auch ein Stück weit ein Versprechen an die Öffentlichkeit sowie an die jeweilige Parteibasis. Wer die Partner einer Koalitionsvereinbarung sind, ist Auslegungsfrage im Ein­ zelfall. In der bisherigen Praxis sind es primär die politischen Parteien.100 Eventu­ ell zählen auch die entsprechenden Fraktionen zu den Partnern der Koalitions­ vereinbarung.101 Sollten Parlamentsfraktionen eingebunden sein, geraten freilich neben den privatrechtlich verfassten Parteien auch öffentlich-rechtliche Strukturen in die Koalitionsvereinbarungen, sind Fraktionen doch (öffentlich-rechtliche) Teile eines öffentlich-rechtlichen Organs (s. § 2 Rn. 373).

101

Trotz ihrer großen praktischen Relevanz enthält das Grundgesetz keine unmit­ telbaren Aussagen zu Koalitionsvereinbarungen.102 Es verbietet sie nicht, sieht sie aber auch nicht ausdrücklich vor. Für ihre Zulässigkeit spricht aber insbesondere Art. 21 GG, nach dem Parteien zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung berufen sind. Deshalb sind Koalitionsvereinbarungen grundsätzlich zulässig, soweit sie nicht gegen sonstiges Verfassungsrecht verstoßen.

102

Sie können aber verfassungsrechtliche Vorgaben für die Staatsorgane nicht dero­gieren. So kann beispielsweise die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers aus Art. 65 S. 1 GG (dazu Rn. 302 ff.) nicht durch Koalitionsvereinbarungen aus­ geschlossen oder beschränkt werden. Gibt der Bundeskanzler Richtlinien vor, die klar gegen die Koalitionsvereinbarungen verstoßen, so sind die Minister gleichwohl an die Richtlinien des Bundeskanzlers gebunden. Das gilt auch dann, wenn man die Rechtsverbindlichkeit von Koalitionsvereinbarungen bejaht (s. zu dieser Frage Rn. 106 ff.). Die Durchsetzung der Koalitionsvereinbarungen kann letztlich nur politisch erfolgen (im Beispiel etwa: durch Drohung der Koalitionsfraktionen mit der Abwahl des Bundeskanzlers oder durch Beendigung der Koalition).

103

Der Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen, der Vorbereitung der laufen­ den Regierungstätigkeit und vor allem der Beilegung von Streitigkeiten dient der erstmals 1961 kurzzeitig und spätestens ab 1998 von den jeweiligen Koalitionen dauerhaft eingerichtete (informelle) Koalitionsausschuss.103 In ihm sind heraus­

104

100 Dafür sprechen Bezeichnungen wie „Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD“ (so bei der Großen Koalition 2018), die Unterzeichnung durch Parteivorsitzende und andere Parteifunktionäre sowie die Einholung der parteiinternen Zustimmung. 101 Vgl. zu dieser Frage auch von Schlieffen, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 49, Rn. 3 ff.; gegen die Einbeziehung der Fraktionen etwa v. Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsregierungen, 1993, 15 f.; eher dafür Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 427, 433; Peters, Der Staat 5 (1966), 256 (257). Für die Einbindung der Fraktionen spricht jedenfalls häufig, dass auch die Fraktionsvorsitzenden meist die Koalitionsvereinbarung mitunterzeichnen. 102 Vgl. dazu Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010 § 14, Rn. 23 ff. 103 Zu vergleichbaren Gremien schon vor 1998 vgl. Schreckenberger, ZParl 1994, 329.

444

§ 7 Bundesregierung

gehobene Träger von Partei- und Fraktionsämtern vertreten. Abhängig von der Machtverteilung in der jeweiligen Koalition kann dem Koalitionsausschuss eine erhebliche Bedeutung zukommen. Das zeigt sich besonders dann, wenn in einer Großen Koalition die Partner quasi auf „Augenhöhe“ verhandeln. 105

Wie oft im Staatsrecht zeigt sich, dass viele Entscheidungen, für die das Grundgesetz bestimmte Institutionen und Verfahrensweisen vorsieht, bereits durch Vorfestlegungen in anderen Gremien (Koalitionsausschuss, Parteigremien, Ministerkonferenzen etc.) faktisch feststehen. Die im Koalitionsausschuss zu bedeutenden und umstrittenen Angelegenheiten getroffenen Entscheidungen werden oftmals sofort medial verkündet, noch bevor Bundestag und Bundesregierung sich überhaupt mit den Ergebnissen befassen konnten. Stärker kann man Verfassungsinstitutionen kaum unterlaufen.

2. Rechtliche Qualifikation und Bindungswirkung 106

Zum rechtlichen Charakter von Koalitionsvereinbarungen bestehen seit langem unterschiedliche Auffassungen. Nach herrschender Meinung sind Koalitions­ vereinbarungen keine Verträge im Rechtssinne.104 Es finden sich aber auch Stimmen in der Literatur, die einen Vertragscharakter bejahen. Meist werden Koalitionsvereinbarungen dann näher als verfassungsrechtliche Verträge quali­ fiziert,105 vereinzelt aber auch als bürgerlich-rechtliche Verträge.106 Der Bundes­ gerichtshof ordnete die koalitionären Absprachen als verfassungsrechtlich ein, Nebenverein­barungen technischen Inhalts seien hingegen verwaltungsrechtlich.107 Hierbei sollten zwei Fragen getrennt werden – erstens die Zuordnung des Phäno­ mens Koalitionsvereinbarungen zu einem Rechtsgebiet (Privatrecht, Verwaltungs­ recht, Verfassungsrecht) und zweitens die Frage nach der Rechtsverbindlichkeit, also nach der Einordnung als Vertrag.

107

Für eine Zuordnung zum Privatrecht mag auf den ersten Blick sprechen, dass Koalitionsvereinbarungen regelmäßig zwischen politischen Parteien geschlossen werden und diese privatrechtlich verfasste Organisationen sind. Allerdings sind 104

Kloepfer, NJW 2018, 1799 (1802); Oldiges / Brinktrine in Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 65 Rn. 17; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rn. 178;  Badura, Staats­ recht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 95;  Herzog,  in:  Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 63, Rn. 11; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 430; Kewenig, AöR 90 (1965), 182 (186 ff.); Häberle, ZfP 1965, 293 (296); Schüle, Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts, 1964, S. 64 ff. 105 Sasse, JZ 1961, 719 (726); Friauf, AöR 88 (1963), 257 (308); v. Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsregierungen, 1993, S. 30; Weber / Timmermann, Der Koali­tionsvertrag, 1967, S. 102 f., 127; wohl auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 986. 106 So noch Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1. Aufl. 1964, S. 120, der aber in der Folge Abstand davon genommen hat, Koalitionsvereinbarungen Vertragscharakter beizumessen. 107 BGHZ 29, 187 (190, 192)  – Tonband-Affäre; ungenau die Darstellung bei v. Münch, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2000, Rn. 840, der die Einordnung des BGH auf das Verwaltungsrecht reduziert.

B. Konstituierung der Bundesregierung

445

Parteien – angesichts von Art. 21 GG und wegen ihrer großen Nähe zu Staat und Politik – eben trotz privater Rechtsform keine rein privaten Zusammenschlüsse sondern (auch) dem Bereich des Öffentlichen zuzuschlagen. Der Anlass (Regie­ rungsbildung) und die Inhalte von Koalitionsvereinbarungen (insb. Gesetzgebungs­ vorhaben, Abstimmungsverhalten in Bundestag und Bundesregierung etc.) haben unmittelbaren Bezug zum Verfassungsrecht. Dementsprechend sind Koalitions­ vereinbarungen grundsätzlich verfassungsrechtlicher Natur. Die Frage der Rechtsverbindlichkeit von Koalitionsvereinbarungen ist zu verneinen: Die Koalitionsparteien wollen keine gerichtliche Erzwingbarkeit der Koalitionsvereinbarungen, wie beispielsweise die „Schiedsfunktion“ des Koali­ tionsausschusses (s. Rn. 104) zeigt. Den beteiligten Parteien (ggf. auch Fraktionen) fehlt ein entsprechender Rechtsbindungswille, der für einen Vertrag immer er­ forderlich ist.108 Auch die ausdrückliche Bezeichnung einer Koalitionsvereinbarung als „Koalitionsvertrag“ ändert hieran nichts. Staatliche Gerichte wären ohnehin regelmäßig überfordert, wenn sie Verstöße gegen eine Koalitionsvereinbarung feststellen sollten. Der Bereich der Bildung politischer Mehrheiten und der Re­ gierungsbildung, aber auch die Frage der Befolgung von Koalitionsvereinbarun­ gen und der Koalitionstreue sollten nicht ohne Not juridifiziert werden. Verstöße gegen Koalitionsvereinbarungen sollten vielmehr zu politischen Konsequenzen, im äußersten Fall dem „Aufkündigen“ der Koalition führen (s. o. Rn. 103), nicht aber zu Rechtssanktionen.

108

Selbst wenn man Koalitionsvereinbarungen Vertragscharakter beimessen sollte, also deren Inhalte grundsätzlich für rechtlich verbindlich hielte, so wären sie jedenfalls nicht gerichtlich durchsetzbar. Die Inhalte von Koalitionsvereinba­ rungen sind weder einklagbar109 noch abstrakt mit Rechtsbehelfen – etwa aufgrund vermeintlich verfassungswidriger Zielsetzungen  – angreifbar.110 Denn der Ver­ waltungsgerichtsweg ist nicht gegeben, weil es sich um Streitigkeiten verfassungs­ rechtlicher Natur handelt (s. Rn. 107), das Bundesverfassungsgericht wiederum ist aber nicht zuständig, weil es nur nach dem Enumerationsprinzip tätig wird und ein Verfahren für Streitigkeiten über Koalitionsvereinbarungen im Grundgesetz und im BVerfGG nicht vorgesehen ist.111 Das würden wohl auch die meisten Vertreter der Einordnung von Koalitionsvereinbarungen als Verträge nicht bestreiten. Wo allerdings der Sinn eines rechtsverbindlichen, aber nicht durchsetzbaren Vertrags liegt, bleibt unklar, wo doch Wesensmerkmal von Verträgen gerade die Abgabe von rechtlich sanktionierten Versprechen ist. Befürworter der Vertragslösung weisen aber darauf hin, dass es auch anderswo in der Rechtsordnung Vorschriften gibt,

109

108

Vgl. ausführlich Kewenig, AöR 90 (1965), 182 (187 ff.). Vgl. nur Mager, in: v. Münch / Kunig, 6. Aufl. 2012, GG, Art. 65, Rn. 6. 110 Statt vieler Kewenig, AöR 90 (1965), 182, 201 f. m. w. N.; ebenso Sasse, JZ 1961, 719 (728). 111 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 15; zur fehlenden Angreifbarkeit durch Verfassungsbeschwerde BVerfG, BeckRS 2013, 59251; ein Organstreitverfahren scheidet aus, weil es der Durchsetzung von Rechten und Pflichten aus der Verfassung, nicht aus einem Ver­ trag dient. 109

446

§ 7 Bundesregierung

denen es an einem Durchsetzungsmechanismus mangelt (etwa „soft law“ im Völ­ kerrecht112 oder die sog. Naturalobligationen im Zivilrecht113). 110

Die fehlende Rechtsverbindlichkeit von Koalitionsvereinbarungen ändert aber nichts an ihrer großen faktisch-politischen Bedeutung. Diese zeigt sich etwa, wenn Begründungen zu Gesetzentwürfen der Koalitionspartner auf die Koali­ tionsvereinbarung verweisen oder die Gesetzesbegründung sich sogar am Text der Koalitionsvereinbarung orientiert. Dies ist gesetzgebungstechnisch schlechter Stil und vermag die Rechtsverbindlichkeit von Koalitionsvereinbarungen nicht zu begründen. Die Existenz einer Koalitionsvereinbarung als solche stellt keine sachliche Rechtfertigung für eine gesetzliche Regelung dar. Allerdings kann na­ türlich der Grund für eine Absprache in einer Koalitionsvereinbarung zugleich ein politischer Grund für eine entsprechende „vollziehende“ gesetzliche Regelung sein.

C. Amtszeit I. Übersicht 111

Wenn von der Amtsdauer der Bundesregierung gesprochen wird, so kann sich dies nur auf die Amtszeit der die Bundesregierung bildenden Amtswalter beziehen, denn die Bundesregierung ist im Unterschied zum Bundestag ein permanentes Organ.

112

Die Regelung zum Amtsbeginn (§ 2 Abs. 2 BMinG) ist identisch für den Bundes­ kanzler und die Bundesminister: Ihre Amtszeit beginnt mit Aushändigung der Urkunde durch den Bundespräsidenten (die im Falle der Bundesminister vom Bundeskanzler gegengezeichnet werden muss). Wird der Amtseid (s. o. Rn. 88 ff.) vorher geleistet, beginnt das Amtsverhältnis bereits mit der Vereidigung (§ 2 Abs. 2 BMinG).

113

Beim Amtsende ist im Weiteren zwischen dem Bundeskanzler und den Bundes­ ministern zu differenzieren. Die Amtszeit der Bundesminister (dazu näher unten Rn. 165 ff.) kann insbesondere jederzeit auf Wunsch des Bundeskanzlers durch Entlassung enden, endet aber jedenfalls mit dem Ende der Amtszeit des Bundes­ kanzlers (Art. 69 Abs. 2 GG). Die Amtszeit des Bundeskanzlers wiederum endet regulär mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestags, kann im Übrigen aber auch durch Rücktritt, durch Tod, durch Entfall der Wählbarkeitsvoraussetzungen, durch konstruktives Misstrauensvotum oder als (mittelbare114) Folge einer negativ beantworteten Vertrauensfrage enden. 112

Vgl. v. Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsregierungen, 1993, S. 30. Weber / Timmermann, Der Koalitionsvertrag, 1967, S. 132; Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, 5. Aufl. 2001, Art. 65, Rn. 6; kritisch zu diesem Vergleich Zivier, RuP 1998, 204 (204). 114 Die negativ beantwortete Vertrauensfrage hat rechtlich nicht unmittelbar den Amts­verlust des Bundeskanzlers zur Folge, kann aber im weiteren Verlauf der Dinge dazu führen, s. näher Rn. 145. 113

C. Amtszeit

447

II. Ende der Amtszeit des Bundeskanzlers 1. Reguläres Ende Ausgehend von dem Normalfall, dass der Bundeskanzler für die gesamte Legis­ laturperiode das Vertrauen des Bundestags genießt, bestimmt Art. 69 Abs. 2 GG das reguläre Ende der Amtszeit des Bundeskanzlers: Sie endet in jedem Fall mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestags. Dieses zeitliche Ende drückt die Abhängigkeit des Kanzlers vom unmittelbar demokratisch legitimierten Bundes­ tag aus. Das Amt des Bundeskanzlers endet also nicht etwa mit der Wahl seines Nachfolgers durch den neu zusammengesetzten Bundestag, sondern bereits mit dem Zusammentritt des neuen Bundestags. In Verbindung mit Art. 39 Abs. 2 GG folgt daraus, dass das Amt des Bundeskanzlers spätestens am dreißigsten Tag nach der Wahl zum neuen Bundestag enden muss.

114

Fast alle Verfassungen der Bundesländer enthalten vergleichbare Regelungen zur Koppe­ lung der Amtsdauer von Regierungsmitgliedern an den Zusammentritt eines neuen Landtags,115 auch wenn eine solche Regelung nicht von Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG bundesverfassungsrechtlich geboten ist116.

115

Da bei dem ersten Zusammentritt des neuen Bundestags noch nicht in jedem Fall ein neuer Bundeskanzler gewählt wird, würde dann jeweils ein Machtvakuum bis zur Neuwahl eintreten. Damit dieses Vakuum nicht eintritt, ermöglicht Art. 69 Abs. 3 GG für diese Zeit dem bisherigen Bundeskanzler bzw. Bundesminister unter bestimmten Voraussetzungen die vorläufige Fortführung der Geschäfte (s. u. Rn. 155 ff., 173 ff.).

116

2. Tod, Wegfall der Wählbarkeitsvoraussetzungen Das Amt des Bundeskanzlers endet (ipso iure)  mit dessen Tod sowie durch Entfall der Wählbarkeitsvoraussetzungen zum Bundeskanzler. Die Wählbarkeits­ voraussetzungen (dazu näher oben Rn. 35 ff.) können etwa entfallen, wenn der Bun­ deskanzler unter Betreuung gestellt wird, durch Richterspruch vom Wahlrecht 115 So endet in dreizehn Bundesländern das Amt des Ministerpräsidenten mit dem Zusam­ mentritt eines neuen Landtags, nämlich in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Ham­ burg, Hessen, Mecklenburg Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen (Art. 55 Abs. 2 LV-BW, Art. 85 Abs. 1 S. 1 LV-Bbg, Art. 107 Abs. 2 S. 1 LV-Bre, Art. 35 Abs. 1 LV-Hbg, Art. 113 Abs. 2 LVHe, Art. 50 Abs. 1 S. 1 LV-MV, Art. 33 Abs. 2 LV-Nds, Art. 62 Abs. 2 LV-NRW, Art. 87 Abs. 3 S. 1 LV-Saa, Art. 68 Abs. 2 LV-Sac, Art. 71 Abs. 1 S. 1 LV-LSA, Art. 34 Abs. 1 LV-SH, Art. 75 Abs. 2 S. 1 LV-Th). Die Verfassungen von Bayern, Berlin und Rheinland-Pfalz kennen – jeden­ falls ausdrücklich – keine derartige Regelung . 116 Vgl. BVerfGE 27, 44 (56) – Parlamentarisches Regierungssystem, zur damaligen Praxis des schleswig-holsteinischen Landtags, den (bereits in der jeweils vorhergehenden Legislatur­ periode amtierenden) Ministerpräsidenten im Amt zu belassen.

117

448

§ 7 Bundesregierung

ausgeschlossen wird oder nach §§ 63, 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird. Das ist freilich eher theoretischer Natur, denn falls entsprechende Verfahren gegen den Bundeskanzler eingeleitet werden, wird es sehr wahrscheinlich vor deren Abschluss zu einer Abwahl des Bundeskanzlers durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Bundestags (s. u. Rn. 120 ff.) kommen. 3. Rücktritt des Bundeskanzlers 118

Praktisch wichtig ist vor allem die Möglichkeit eines – politisch – freiwilligen, halbfreiwilligen oder „erzwungenen“ Rücktritts des Bundeskanzlers (s. übergrei­ fend zum Rücktritt von Verfassungsorganwaltern § 1 Rn. 91 ff.).117 Die Möglich­ keit eines Rücktritts wird vom Grundgesetz nicht ausdrücklich benannt. Von einer entsprechenden Regelung wurde – wie auch bei anderen Verfassungsorga­ nen  – abgesehen, weil die Möglichkeit des Rücktritts für selbstverständlich er­ achtet wurde.118

119

Der „Rücktritt“ ist kein gestaltender Rechtsakt wie z. B. die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses.119 Der Rücktritt ist vielmehr das Verlangen gegenüber dem Bundespräsidenten, aus dem Amt zu dem gewünschten Termin entlassen zu wer­ den. Rechtswirksam wird der Rücktritt dementsprechend mit der Wirksamkeit der Entlassung, d. h. im Normalfall mit der Aushändigung der Entlassungsurkunde (§ 10 S. 2 BMinG).120 Der Bundespräsident ist verpflichtet, dem Entlassungsersu­ chen nachzukommen,121 kann aber ggf. nach Art. 69 Abs. 3 GG die Weiterführung der Geschäfte verlangen (s. dazu Rn. 155 ff.). 4. Abwahl durch konstruktives Misstrauensvotum a) Allgemeine Bedeutung

120

Bei stabilen politischen Verhältnissen im Bundestag ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Amtszeit wenn auch nicht der gesamten Bundesregierung, so doch die des Bundeskanzlers mit der Legislaturperiode des Parlaments iden­ tisch ist. Kommt es dennoch – z. B. durch Zerbrechen einer Koalition – zu einer Regierungskrise durch Mehrheitsverlust, gibt Art. 67 GG mit dem konstrukti­ ven Misstrauensvotum dem Bundestag die Möglichkeit, den alten Bundeskanzler 117

Dazu Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, 1969, S. 22 ff. Hebeler, DVBl 2011, 317 (319). 119 Vgl. dazu auch Kloepfer, in: Scholz u. a. (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungs­ recht, 2008, S. 62 f. 120 Mager, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 17, mit Hinweis auch auf die später wohl aufgegebene Auffassung von Oldiges, DVBl 1975, 79 (80), der Rücktritt werde schon mit Zugang der Rücktrittserklärung wirksam. 121 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 67, Rn. 5. 118

C. Amtszeit

449

durch einen neuen zu ersetzen. Die Bezeichnung als „konstruktiv“ kommt daher, dass eine bloße Abwahl des Bundeskanzlers nicht möglich ist, sondern immer die Wahl eines Nachfolgers voraussetzt.122 Anders als Art. 67 GG normierte Art. 54 WRV: „Der Reichskanzler und die Reichsminis­ ter bedürfen zur ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zu­ rücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“

121

Abgesehen davon, dass der Reichstag nach dieser Vorschrift auch einzelnen Ministern das Misstrauen aussprechen und diese deshalb zum Rücktritt zwingen konnte, erlaubte die Norm dem Reichstag vor allem, einen amtierenden Reichskanzler zum Rücktritt zu verpflichten, ohne zugleich einen neuen wählen zu müssen. Wenn dabei kein Reichskanzler gewählt wurde, handelte es sich also bei der Vertrauensentziehung um ein destruktives Misstrauensvotum. Das alles steht in scharfem Kontrast zum Grundgesetz. Dessen bewusster Verzicht auf ein destruktives Misstrauensvotum ist historisch bedingter Ausdruck einer Art politischem „hor­ ror vacui“ (Angst vor der Leere).

122

Obwohl diese Regelung der Weimarer Reichsverfassung nur begrenzt für die Instabilität der Weimarer Republik verantwortlich gemacht werden kann,123 wurde der konstruktive Charakter des Misstrauensvotums nach Art. 67  GG vom Ver­ fassungskonvent von Herrenchiemsee und auch vom Parlamentarischen Rat aus einer bewussten Abkehr von der Regelung in der Weimarer Reichsverfassung begründet.124 Unabhängig von dieser historischen Betrachtung ist der theoretische Ansatz des nur in Verbindung mit einer Neuwahl auszusprechenden Misstrau­ ens jedenfalls überzeugend und hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auch schon in zwei Fällen behauptet.125 Gleichwohl sei darauf hinge­

123

122 Auch in den Bundesländern Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen kann der Ministerpräsident rechtswirksam nur durch konstruktives Misstrauensvotum abgewählt werden, d. h. indem der Landtag mit der Mehr­ heit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt (Art. 54 Abs. 1 LV-BW, Art. 86 Abs. 1 LV-Bbg, Art. 110 Abs. 1–3 LV-Bre, Art. 35 Abs. 3 S. 1 LV-Hbg, Art. 50 Abs. 2 LV-MV, Art. 32 LV-Nds, Art. 61 Abs. 1 LV-NRW, Art. 69 Abs. 1 LV-Sac, Art. 72 Abs. 1 LV-LSA, Art. 42 LV-SH, Art. 73 S. 1 LV-Th). In Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland hingegen kann der Landtag mit der Mehrheit seiner Stimmen dem Ministerpräsidenten ohne gleichzeitige Wahl eines Nach­ folgers das Misstrauen aussprechen, wobei in Hessen und Rheinland-Pfalz binnen zwölf Tagen (Art. 114 LV-He), bzw. vier Wochen (Art. 99 LV-RP) eine Neuwahl zu erfolgen hat, ansonsten wird der Landtag aufgelöst. Ähnlich muss in Bayern der Ministerpräsident zurücktreten, wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen (Art. 44 Abs. 3 LV-Bay), hierüber entscheidet der Verfassungs­ gerichtshof (Art. 64 LV-Bay). 123 Nur zweimal wurden Regierungen aufgrund des Art. 54 WRV gestürzt, nämlich das zweite Kabinett Luther im Frühjahr 1926 und das dritte Kabinett Marx im Dezember 1926, vgl. Anschütz, WRV, 14. Aufl. 1933, Art. 54, Anm. 4. 124 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 67, Rn. 2 m. w. N. 125 In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind bislang zwei Misstrauensvoten im Bundestag eingebracht worden: Am 27.4.1972 scheiterte der Versuch, dem Bundeskanzler Brandt das Misstrauen auszusprechen – der Antrag fand keine Mitgliedermehrheit („Kanz­ lermehrheit“, s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). Demgegenüber wurde der Bundes­

450

§ 7 Bundesregierung

wiesen, dass die stabilisierende Wirkung des Art. 67 GG im Schrifttum zum Teil recht deutlich bezweifelt wird.126 124

Gemeinsam ist den Regelungen in Art. 54 WRV und Art. 67 GG, dass sie Kenn­ zeichen eines parlamentarischen Regierungssystems sind, in denen die Regierung (bzw. der Bundeskanzler) vom Vertrauen des Parlaments abhängt. Die Möglich­ keit der Abwahl stellt sicher, dass die Regierung nicht nur bei der Wahl des Bundes­ kanzlers das Vertrauen des Parlaments genießen muss, sondern dass sie während ihrer gesamten Amtszeit vom Vertrauen des Bundestags abhängig bleibt. Rechts­ technisch wird dabei im Grundgesetz nur an den Bundeskanzler angeknüpft, mit dem allerdings die ganze Bundesregierung steht und fällt (s. Rn. 166).

125

Die Rede vom Vertrauen bzw. Misstrauen „des Bundestages“ meint dabei stets das Vertrauen bzw. Misstrauen einer Mehrheit der Abgeordneten im Bundes­ tag. Dementsprechend besagt der Begriff des Misstrauens in Art. 67 GG, dass die Mehrheit der Abgeordneten nicht mehr gewillt ist, den bisherigen Kanzler oder sein Regierungsprogramm parlamentarisch zu unterstützen oder wenigstens zu dulden. Einen Vorwurf mangelnder Pflichterfüllung enthält er darüber hinausgehend aber nicht.127 Insofern indiziert ein erfolgreiches Misstrauensvotum auch nicht die Ver­ letzung einer Amtspflicht im Sinne von Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB.

126

Das Verhältnis zwischen Art. 63, 67 und 68 GG bedarf der Klärung: Soweit Art. 67 GG die Wahl eines neuen Bundeskanzlers regelt, verdrängt er die Rege­ lungen des Art. 63 GG. Seinerseits wird Art. 67 GG durch Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG verdrängt, wenn im Anschluss an eine negativ beantwortete Vertrauensfrage ein neuer Bundeskanzler gewählt wird.128 b) Verfahrensvorgaben

127

Das Verfahren nach Art. 67  GG wird durch einen Antrag des Bundestags ausgelöst. Weil die Misstrauensbekundung gegenüber dem amtierenden Bundes­ kanzler zugleich mit der Wahl eines neuen Bundeskanzlers stattzufinden hat,129 bestimmt § 97 Abs. 1 S. 2 GOBT, dass mit dem Misstrauensantrag ein namentlich bekannter Kandidat als Nachfolger zur Wahl vorzuschlagen ist. Entsprechende Anträge müssen nach dieser Norm darüber hinaus von mindestens einem Viertel der Mitglieder (oder einer entsprechend starken Fraktion) des Bundestags einge­ kanzler Schmidt am 1.10.1982 dadurch „abgewählt“, dass Kohl mit Mitgliedermehrheit vom Bundestag zu seinem Nachfolger gewählt wurde. 126 Kritisch vor allem Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 635; vgl. auch Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 67, Rn. 11 m. w. N. 127 BVerfGE 62, 1 (38) – Bundestagsauflösung I. 128 Vgl. näher Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 68, Rn. 64. 129 Ipsen, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 31. Aufl. 2019, Rn. 452; ebenso Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 67, Rn. 13.

C. Amtszeit

451

bracht werden – ein verfassungsrechtlich nicht unbedenkliches Quorum, das auch bei der regulären Kanzlerwahl anzutreffen ist (s. o. Rn. 55 f.). Die von Art. 67 Abs. 2 GG genannte 48-Stunden-Frist, die zwischen der Ein­ bringung des Antrags und der Wahl verstreichen muss, soll übereilte Entscheidungen verhindern. Weil bei dieser Fristberechnung § 123 Abs. 1 Hs. 1 GOBT Anwendung finden dürfte,130 nach dem der Tag der Verteilung der entsprechenden Drucksache nicht eingerechnet wird, kann sich die Frist faktisch äußerstenfalls auf bis zu 72 Stunden verlängern. Nach seinem Wortlaut und seiner Schutzrichtung normiert Art. 67 Abs. 2 GG eine Mindestfrist, die nichts darüber aussagt, wann eine Wahl spätestens stattzufinden hat.

128

Die eigentliche Wahl findet im Unterschied zu Art. 63 GG in nur einem Wahlgang statt. Da eine Aussprache von Art. 67 GG nicht verboten wird und die ge­ samte politische Konstellation eher für als gegen eine Diskussion im Bundestag spricht (s. a. Rn. 58), ist sowohl den Befürwortern (insbesondere also den Antragstellern) wie auch den Gegnern des Misstrauensantrags Gelegenheit zur Aussprache zu geben. Die Abstimmung erfolgt – wie die reguläre Kanzlerwahl (s. o. Rn. 50, 59), aber anders als die Vertrauensfrage (s. Rn. 144) – mit verdeckten Stimmzetteln, also geheim (§ 97 Abs. 2 S. 1 GOBT). Das ist verfassungsrechtlich nicht geboten (jedenfalls nicht ausdrücklich), aber nach h. M. auch nicht verboten (s. näher § 1 Rn. 73).

129

Der neue Bundeskanzler ist gewählt (und dem alten das Misstrauen ausgespro­ chen), wenn der Antrag die Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“) im Bun­ destag findet (s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). Insofern besteht kein Unterschied zum ersten Wahlgang in der regulären Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG. Der Bundespräsident muss in diesem Fall den amtierenden Bundeskanzler entlassen und zugleich dessen Nachfolger ernennen. Sofern allerdings der neu gewählte Bundeskanzler die Wählbarkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt, darf der Bundespräsident ihn nicht ernennen. In diesem Fall hätte der konstruk­ tive Charakter des Misstrauensvotums zur Folge, dass der Bundeskanzler trotz des mehrheitlich ausgesprochenen Misstrauens im Amt bliebe, weil die Ernennung seines Nachfolgers rechtlich unzulässig ist.

130

Ist hingegen die Mitgliedermehrheit nicht zustande gekommen, d. h. der Misstrauensantrag gescheitert, wird der Bundespräsident überhaupt nicht in das Ver­ fahren einbezogen, er darf insbesondere nicht den amtierenden Bundeskanzler entlassen.

131

130

So jedenfalls auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 67, Rn. 26.

452

§ 7 Bundesregierung

c) Bedeutung für den neugewählten Bundeskanzler 132

Der im Rahmen eines Misstrauensantrags gewählte neue Bundeskanzler ist nicht nur formal einem nach Art. 63 GG gewählten Bundeskanzler gleichgestellt, er besitzt auch die gleiche demokratische Legitimität. Dies hat das Bundesver­ fassungsgericht festgestellt und dazu ausgeführt: „Auch der über Art. 67 GG gewählte Bundeskanzler besitzt wegen der Verfassungsmäßig­ keit seiner Wahl die volle demokratische Legitimität. … Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. Eine andere Auffassung rührt an dem Sinn des demokratischen Grundprinzips der freien Wahl und des repräsenta­ tiven freien Mandats der Abgeordneten im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG.“131

133

Ein Unterschied zum „regulär“, d. h. nach Zusammentritt eines neuen Bundes­ tags gemäß Art. 63 GG gewählten Bundeskanzler besteht nur hinsichtlich der noch verbleibenden Amtszeit, deren Ende an die Legislaturperiode des Bundestags ge­ koppelt bleibt. Gerade deshalb kann es für einen nach Art. 67 GG neu­gewählten Bundeskanzler aus politischen Gründen attraktiv erscheinen, im unmittelbaren Anschluss an seine Ernennung mittels der Vertrauensfrage Neuwahlen des Bun­ destags herbeizuführen und sich von diesem neugewählten Parlament als Bundes­ kanzler wieder wählen zu lassen.132 d) Andere Missbilligungsformen

134

Wenn das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 67  GG auch die einzige rechtlich sanktionierte Möglichkeit des Bundestags ist, dem Bundeskanzler das Vertrauen zu entziehen und damit seine Entlassung zu bewirken, schließt es an­ dere Formen der politischen Missbilligung doch nicht aus. Deshalb bleibt es dem Parlament unbenommen, die allgemeine Politik oder einzelne Entscheidungen des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung in Stellungnahmen, Entschließungen oder auch Beschlüssen zu kritisieren.133 Gleiches gilt für Miss­ billigungen des Verhaltens einzelner Minister, in welcher Form auch immer sie ausgesprochen werden. Rechtsfolgen ziehen solche Formen der Missbilligung allerdings nicht nach sich. Ihre Auswirkungen sind rein politischer Art, was ihre Effizienz aber nicht beeinträchtigen muss.

135

Wenn der Bundestag im Rahmen seines Budgetrechts die erforderliche Feststellung des Haushaltsplans (etwa für den Plan des Bundeskanzleramts) ablehnt, 131 BVerfGE 62, 1 (43)  – Bundestagsauflösung I.  Zeidler hält es in seiner abw. Meinung dagegen für plausibel, dass ein gemäß Art. 67  GG ins Amt berufener Bundeskanzler sich mit einem Glaubwürdigkeitsdefizit behaftet fühlen mag, das seine Amtsautorität mindert (BVerfGE 62, 1 (69) – Bundestagsauflösung I). 132 Diesen Weg wählte Bundeskanzler Kohl nach seiner ersten Wahl zum Bundeskanzler 1982. 133 Anderer oder doch differenzierender Ansicht etwa Sattler, DÖV 1967, 765 ff.; Mager, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 67, Rn. 12 ff.

C. Amtszeit

453

ist das zwar auch ein traditionelles Mittel politischer Missbilligung, das jedoch zugleich rechtliche Wirkungen hat (keine Ausgabenermächtigung, Ausgaben nur im Rahmen des Nothaushaltsrechts nach Art. 111 GG möglich). Demgegenüber ohne rechtliche Folgen bleibt es, wenn der Bundestag der Bundesregierung nach Vorlage der Rechnungslegung für das vorherige Jahr die Entlastung verweigert (Art. 114 Abs. 1 GG). 5. Vertrauensfrage Neben dem Misstrauensvotum des Bundestages nach Art. 67  GG sieht das Grundgesetz mit der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers in Art. 68 GG ein zwei­ tes Verfahren vor, um Regierungskrisen zu bewältigen. Im Unterschied zum Miss­ trauensvotum liegt die Initiative bei diesem Verfahren aber nicht beim Bundestag, sondern beim Bundeskanzler. Eine negativ beantwortete Vertrauensfrage hat zwar keine unmittelbaren rechtlichen Folgen für den Bestand der Bundesregierung, kann aber mittelbar zu deren Amtsende führen (s. u. Rn. 146).

136

a) Allgemeine Bedeutung Es sind zwei Formen der Vertrauensfrage zu unterscheiden: Die „echte“, mehrheitssichernde Vertrauensfrage war dazu gedacht, es dem Bundeskanzler zu ermöglichen, eine unsicher gewordene Mehrheit im Bundestag (zumindest kurz­ fristig) wieder hinter sich zu versammeln oder aber ihren Verlust offenkundig zu machen.134 Diese der Vertrauensfrage vom Grundgesetz zugedachte Zielsetzung ist klar: Der Bundeskanzler kann Abweichler in den eigenen Reihen unter Druck setzen, indem er es zum Schwur kommen lässt. Diese Abweichler müssen sich überlegen, ob ihr Unmut über die Politik der Regierung groß genug ist, um es auf einen Sturz ankommen zu lassen (und das Risiko einzugehen, ggf. bei Neuwahlen ihr bisheriges Mandat nicht wieder zu erlangen). Im Erfolgsfall geht der Bundes­ kanzler politisch gestärkt aus der Abstimmung hervor. Bei bedeutenden, aber um­ strittenen Sachfragen kann es für den Bundeskanzler klug sein, die Abstimmung im Bundestag an eine Vertrauensfrage zu koppeln (s. dazu Rn. 141, 144).

137

Daneben hat sich die Vertrauensfrage aber als „unechte“, auflösungsgerichtete Vertrauensfrage auch zu einem Mittel der Bundestagsauflösung entwickelt (zur Bundestagsauflösung s. a. Rn. 69, § 2 Rn. 214 ff.). Durch Zusammenwirken von Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident können auf diese Weise Neuwah­ len herbeigeführt werden. Die umständliche Konstruktion als beabsichtigterweise verlorene Vertrauensfrage ist nötig, weil das Grundgesetz ansonsten – von der ge­ scheiterten Kanzlerwahl (Art. 63 Abs. 4 GG) abgesehen – keine Möglichkeit für

138

134

Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 68, Rn. 7.

454

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eine vorzeitige Auflösung des Bundestages (insbesondere kein Recht auf Selbst­ auflösung) vorsieht (s. auch § 2 Rn.  214). 139

Von der Vertrauensfrage wurde in der Bundesrepublik Deutschland historisch bisher fünfmal Gebrauch gemacht. Brandt (1972) nutzte sie nach dem gescheiterten Misstrauens­ votum zugunsten Barzels genauso wie Kohl (1982) und Schröder (2005), um Neuwahlen herbeizuführen (auflösungsgerichtete Vertrauensfragen). Dagegen wollten Schmidt (1982) und Schröder (2001) sich tatsächlich des Rückhalts ihrer Koalitionsfraktionen versichern. Im Falle von Schmidt, der die Vertrauensfrage am 5. Februar 1982 stellte, ging dies dem Zerfall der sozial-liberalen Koalition voraus und war von der Auseinandersetzung um die sog. Nach­ rüstung mit Mittelstreckenraketen geprägt. Schröder verband 2001 die Vertrauensfrage mit der Entscheidung des Bundestages, ob deutsche Soldaten nach Afghanistan gesandt werden sollen und erreichte damit eine geschlossene Abstimmung der Koalitionsfraktionen. In den beiden letztgenannten Fällen handelte es sich also um mehrheitssichernde Vertrauensfragen.

b) Antrag des Bundeskanzlers und Abstimmung im Bundestag 140

Eingeleitet werden kann das Verfahren nach Art. 68 GG nur durch den Antrag des Bundeskanzlers.135 Ob und wann der Bundeskanzler dem Bundestag die Ver­ trauensfrage stellt, steht  – vorbehaltlich der besonderen Anforderungen an die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage (unten Rn. 150 ff.) – grundsätzlich in seinem freien Ermessen.136 Es bleibt ihm als Initianten und damit als Herrn des Verfahrens unbenommen, den Antrag bis zur Abstimmung auch wieder zurückzunehmen.137

141

Der Bundeskanzler kann die Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage verbinden, Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG.138 Bisher einziges Beispiel dafür ist die Vertrauens­ frage des Bundeskanzlers Schröder im Jahr 2001, die mit der Zustimmung zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan verbunden wurde. Streng genommen war das keine Kopplung an eine Gesetzesvorlage, wie von Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG an­ gesprochen. Es bestehen aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, auch andere vom Plenum des Bundestages zu entscheidende Sachfragen an eine Vertrauensfrage zu koppeln, solange es sich nicht um rein parlamentsinterne An­ gelegenheiten handelt.139

135 Ein entsprechender Antrag des Bundestages müsste deshalb wohl als an den Bundes­ kanzler gerichtete, rechtlich unverbindliche Aufforderung zum Stellen der Vertrauensfrage ausgelegt werden oder ggf. als Antrag nach Art. 67 GG. Führt der Bundestag ohne Antrag des Bundeskanzlers eine Vertrauensabstimmung durch, die mangels Gegenkandidat auch nicht unter Art. 67 GG subsumiert werden kann, so knüpfen sich daran jedenfalls keinerlei Rechts­ folgen. 136 A. A. Schenke, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (187. Aktualisierung, No­ vember 2017), Art. 68, Rn. 211 ff. 137 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 67, Rn. 21 m. w. N. 138 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 67, Rn. 19. 139 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 68, Rn. 27.

C. Amtszeit

455

Der nach Art. 69 Abs. 3 GG bloß geschäftsführende Bundeskanzler (s. u. Rn. 155 ff.) darf nach Sinn und Zweck der Vorschrift die Vertrauensfrage nicht stellen.140 Denn seine Stellung beruht auf dem Geschäftsführungsersuchen des Bundespräsidenten, nicht auf dem Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten.

142

Die Abstimmung im Bundestag darf gemäß Art. 68 Abs. 2 GG frühestens nach 48 Stunden stattfinden (zur Frist s. o. Rn. 128). Wie auch beim Misstrauensvotum (Art. 67 Abs. 2 GG), soll diese Mindestzeit vor übereilten Entscheidungen schützen. Der Bundestag darf die Abstimmung aber auch nicht hinauszögern. Führt er die Abstimmung nicht binnen angemessener Frist durch, so dürfen Bundeskanzler und Bundespräsident davon ausgehen, dass das der Antrag auf Ausspruch des Ver­ trauens abgelehnt wurde.141

143

Anders als bei der (regulären) Kanzlerwahl (s. o. Rn. 50, 59) und dem kon­ struktiven Misstrauensvotum (s. o. Rn. 129) schreibt die Geschäftsordnung des Bundestags für die Vertrauensfrage keine geheime Abstimmung vor. Erforder­ lich für den Ausspruch des Vertrauens ist eine (einfache)  Mitgliedermehrheit („Kanzlermehrheit“, s. zu den Mehrheitsbegriffen auch § 1 Rn. 115 ff.). Im Fall einer Verbindung von Sach- und Vertrauensfrage sprechen die besseren Argumente dafür, dass die Abgeordneten zwar ihre Stimme nur einheitlich abgeben können, die Mehrheitserfordernisse von Sach- und Vertrauensantrag aber getrennt zu be­ trachten bleiben. Das bedeutet, dass das Mehrheitserfordernis der Vertrauensfrage nicht die Sachfrage „infiziert“ (oder umgekehrt).

144

c) Rechtsfolgen der Abstimmung Erreicht der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, die notwendige Mitgliedermehrheit, so liegt darin eine „förmlich bekundete gegen­ wärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bun­ deskanzlers, mithin die förmliche Kundgabe der Bereitschaft, das zumindest in Umrissen vorgezeichnete Regierungsprogramm oder ein konkretes Verhalten, mit dem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verbindet, grundsätzlich zu unterstüt­ zen“142. Der Ausspruch des Vertrauens zeitigt aber als solcher keine Rechtsfolgen.

145

Juristisch interessant ist die negativ beantwortete Vertrauensfrage. Sie hat zunächst keine unmittelbare Konsequenzen für den Bestand der Bundesregierung oder des Bundestags, eröffnet aber verschiedene Handlungsoptionen für den Bundeskanzler. Dieser kann  – erstens  – untätig bleiben. Er bleibt dann Bun­ deskanzler, hat nach der verlorenen Vertrauensabstimmung aber gem. Art. 81

146

140

Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, 1969, S. 75 f.; Schenke, in: Kahl / ​ Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (187. Akltualisierung, November 2017), Art. 68, Rn. 112, dort auch zur a. A. 141 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 68, Rn. 33. 142 BVerfGE 62, 1 (37) – Bundestagsauflösung I.

456

§ 7 Bundesregierung

Abs. 1 GG die Möglichkeit, Gesetze im Wege des Gesetzgebungsnotstands durchzusetzen, sofern Bundespräsident und Bundesrat entsprechend mitwirken (s. a. § 3 Rn. 199 ff., § 5 Rn. 148). Der Bundeskanzler kann  – zweitens  – auf die Auflösung des Bundes­tages hinwirken (dazu Rn. 147 ff.). Bisher ist nach negativ beantworteten Vertrauensfragen stets diese Option gewählt worden. Sie führt zu Neuwahlen und damit mittelbar über Art. 69 Abs. 2 GG auch zum Amtsende des Bundeskanzlers. Schließlich kann der Bundeskanzler natürlich auch – drittens – zurücktreten und so eine Kanzlerwahl nach Art. 63 GG ermöglichen. Das kann er allerdings jederzeit tun und ist rechtlich nicht an die negative Beantwortung der Vertrauensfrage gebunden (s. zum Rücktritt oben Rn. 118 f.). Jedenfalls liegt die Entscheidung, welcher dieser Wege eingeschlagen wird, zunächst alleine im Ermessen des Bundeskanzlers. d) Zur Bundestagsauflösung 147

Entscheidet sich der Bundeskanzler nach einer negativ beantworteten Vertrau­ ensfrage dafür, auf die Auflösung des Bundestags hinzuwirken, so muss er diese dem Bundespräsidenten vorschlagen. Der Ball liegt dann im Feld des Bundes­ präsidenten, der für 21 Tage das Recht zur Bundestagsauflösung hat. Ob der Bundespräsident von seinem Auflösungsrecht Gebrauch macht, ist seine politische Entscheidung, liegt also grundsätzlich in seinem Ermessen. Es handelt sich inso­ fern um eine seiner wenigen echten (Reserve-)Befugnisse (s. zu den Reservebe­ fugnissen § 5 Rn. 35 f.).

148

Der Bundestag kann aber das Heft des Handelns dadurch zurückgewinnen, dass er einen neuen Bundeskanzler wählt,143 weil damit gem. Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG der Bundespräsident das Recht zur Bundestagsauflösung verliert. In der politischen Wirklichkeit wird es dem Bundestag in solchen Situationen allerdings regelmä­ ßig schwer fallen, sich binnen der relativ kurzen Zeit von einundzwanzig Tagen auf einen neuen Bundeskanzler zu einigen. Der Sache nach handelt es sich bei der „abwehrenden“ Kanzlerwahl nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG aber ohnehin schlicht um ein konstruktives Misstrauensvotum,144 das dem Bundestag nach Art. 67 GG auch sonst offensteht. Sollte sich nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage einmal abzeichnen, dass der Bundestag durch die Wahl eines anderen Kanzlers binnen 21 Tagen seine Auflösung abwehren will, so folgt aus dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue, dass der Bundespräsident den Bundestag nicht vorschnell auflösen darf.145 143 § 98 Abs. 2 GOBT verlangt hierfür wiederum den Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Gewählt wird – auch bei mehreren Wahlvorschlägen – in einem Wahlgang mit verdeckten Stimmzetteln – vgl. § 97 Abs. 2 GOBT. 144 Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 68, Rn. 35; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 68, Rn. 64; auch in der Geschäftsordnung wird auf die Vorschriften zum konstruktiven Misstrauensvotum verwiesen (§ 98 Abs. 2 GOBT). 145 Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 68, Rn. 49 m. w. N.

C. Amtszeit

457

Trotz der ausnahmsweise mit eigenem politischen Ermessen verbundenen Posi­ tion des Bundespräsidenten muss dieser nach wie vor auch seiner Rolle als „Staats­ notar“ gerecht werden, d. h. er muss prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen für eine Auflösungslage nach Art. 68 Abs. 1 GG überhaupt vorliegen. Das betrifft zunächst vor allem formelle Aspekte (Antrag des Bundeskanzlers, ordnungsge­ mäße Abstimmung, Einhaltung der Fristen etc.).

149

Nach herrschender Auffassung ist daneben in Art. 68 GG ein ungeschriebenes materielles Tatbestandsmerkmal hineinzulesen: Daraus, dass die Vertrauens­ frage in das Grundgesetz als Instrument der Mehrheitssicherung und -vergewis­ serung aufgenommen wurde (s. o. Rn. 137), wird abgeleitet, dass „Art. 68 GG stets eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundes­ tag voraussetzt und als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal erfordert, daß der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann“146. Das soll verhindern, dass eine an sich stabile Regierung mittels Vertrauensfrage aus wahltaktischen Erwägungen Neu­ wahlen herbeiführen kann. In Situationen politischer Instabilität bleibt eine auf­ lösungsgerichtete Vertrauensfrage dagegen zulässig.

150

Das so konstruierte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal wird im nächsten Schritt allerdings vom Bundesverfassungsgericht weitgehend entwertet, indem insoweit eine Einschätzungsprärogative des Bundeskanzlers postuliert wird. Diese wirkt sowohl gegenüber dem Bundespräsidenten als auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Die Einschätzung des Bundeskanzlers zur politischen Instabilität muss demnach zwar „auf Tatsachen gestützt sein. Die allgemeine poli­ tische Lage sowie einzelne Umstände müssen dabei allerdings nicht zwingend zur Einschätzung des Kanzlers führen, sondern sie lediglich plausibel erschei­ nen lassen. […] Tatsachen, die auch andere Einschätzungen als die des Kanz­ lers zu stützen vermögen, sind nur dann geeignet, die Einschätzung des Bundes­ kanzlers zu widerlegen, wenn sie keinen anderen Schluss zulassen als den, dass die Einschätzung des Verlusts politischer Handlungsfähigkeit im Parlament falsch ist.“147

151

Rechtsdogmatisch gesehen geht der Bundespräsident in zwei Schritten vor: Zuerst prüft er in seiner staatsnotariellen Funktion das Vorliegen einer formellen und materiellen Auflösungs­ lage, wobei er hinsichtlich der materiellen Auflösungslage durch die Einschätzungsprärogative des Bundeskanzlers beschränkt ist. Im zweiten Schritt übt er dann sein eigenes Ermessen aus. Faktisch gesehen wird der Bundespräsident durch die Einschätzungsprärogative nicht in seiner Entscheidungsmacht begrenzt. Hat er nämlich Zweifel am Vorliegen einer vom Bun­ deskanzler behaupteten politischen Instabilität, so kann er einfach auf der ersten Stufe dem Bundeskanzler folgen, sich dann aber im zweiten Schritt gegen eine Auflösung entscheiden. Insofern hätte das Bundesverfassungsgericht die Verringerung der Kontrolldichte auch von vorneherein auf die verfassungsgerichtliche Überprüfung beschränken können.

152

146 147

BVerfGE 62, 1 (42) – Bundestagsauflösung I (Hervorhebung von hier). BVerfGE 114, 121 (160 f.) – Bundestagsauflösung III.

458

§ 7 Bundesregierung

153

Unter Berufung auf die durch die Einschätzungsprärogative des Bundeskanzlers einge­ schränkte Kontrolldichte hat das Bundesverfassungsgericht die „inszenierten“ Auflösungen des Bundestages 1982148 und 2005149 im Ergebnis gebilligt. Damit bestehen in der Staatspraxis keine wirksamen Hindernisse gegen ein Zusammenwirken der Verfassungsorgane zur Auflösung des Bundestages. Dagegen bestehen im Ergebnis keine generellen Bedenken. Es gibt Situationen, in denen der Wunsch nach Neuwahlen nahezu zwingend, jedenfalls aber berechtigt und sinnvoll ist. Die Konstruktion eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals, das dann aber durch den weitgehenden Ausschluss verfassungsgerichtlicher Kontrolle kaum Wirkung entfaltet, ist aber dogmatisch unbefriedigend. Verfassungspolitisch sollte deshalb über einen saubereren Mechanismus für die (Selbst-)Auflösung des Bundestages nachgedacht werden (s. zur Diskussion auch § 2 Rn. 222 f.).

154

Zu Rechtsnatur und Rechtsfolgen der Auflösung des Bundestags s. o. Rn. 69. Umstritten ist allerdings, ob nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage für die Auflösung ein Gegenzeichnungserfordernis besteht. Das ist entgegen der h. M. zu verneinen.150 6. Kommissarische Amtsführung

155

Da nach Art. 69 Abs. 2 GG das Amt des Bundeskanzlers mit dem Zusammentritt des Bundestages endet, nimmt das Grundgesetz ein Machtvakuum auf Seiten der Bundesregierung insoweit in Kauf, als in der Zeit zwischen dem ersten Zusam­ mentritt des neu gewählten Bundestages und der Wahl des neuen Bundeskanzlers nach Art. 63 GG kein Bundeskanzler und somit auch keine Bundesregierung im Amt ist. Um dem zu begegnen, sieht Art. 69 Abs. 3 GG die Möglichkeit vor, dass der Bundespräsident den ausscheidenden Bundeskanzler um die Fortführung der Geschäfte, d. h. um eine kommissarische Amtsführung, ersuchen kann. Neben dem Amtsende des Bundeskanzlers durch Zusammentritt eines neuen Bundestags kommt eine kommissarische Amtsführung auch bei Erledigung seines Amts auf andere Weise (z. B. durch Rücktritt oder Tod) in Betracht.

156

In der Staatspraxis kommen geschäftsführende Bundesregierungen häufig vor. Insbeson­ dere entstehen sie fast zwangsläufig nach Neuwahlen, wenn die alte Bundesregierung durch Zusammentritt des neuen Bundestags ipso iure aus dem Amt ausscheidet, aber noch Zeit bis zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers vergeht. Die Dauer hängt maßgeblich von der Schwie­ rigkeit der Regierungsbildung ab. Setzten die bisherigen Regierungsparteien nach einer ge­ wonnenen Wahl ihre Regierung fort, so dauerte es bisher meist nur einige Tage bis zur Wahl des neuen Bundeskanzlers. Weil die Mehrheitsverhältnisse in der deutschen Politik aber zu­ nehmend komplizierter werden, erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit von länger währenden geschäftsführenden Bundesregierungen. So führte etwa der schwierige Regierungsbildungs­ prozess nach der Bundestagswahl 2017 dazu, dass die alte Bundesregierung fast sechs Monate kommissarisch im Amt blieb. 148

BVerfGE 62, 1 ff. – Bundestagsauflösung I. BVerfGE 114, 121 ff. – Bundestagsauflösung II. 150 Siehe zu diesem Streit die Nachweise in § 5 Rn. 186. 149

C. Amtszeit

459

Ein Automatismus besteht wegen des erforderlichen Geschäftsführungsersu­ chens des Bundespräsidenten aber nicht. Deshalb stellt sich die Frage, ob eine Pflicht des Bundespräsidenten besteht, von Art. 69 Abs. 3 GG Gebrauch zu ma­ chen, wenn das Amt des Bundeskanzlers vakant ist. Das ist entgegen der h. M. zu verneinen.151

157

Für eine derartige Pflicht des Bundespräsidenten spricht, dass das Grundgesetz (bspw. durch die Regelung des konstruktiven Misstrauensvotums) eine regierungs- oder zumindest kanzler­ lose Interimsphase vermeiden will. Andererseits soll ein sich neu konstituierender Bundestag möglichst schnell einen Bundeskanzler wählen. Wäre der Bundespräsident verpflichtet, den alten Bundeskanzler um die Fortführung der Geschäfte für die Interimszeit zu ersuchen, wäre der neu gewählte Bundestag keinem Druck ausgesetzt, einen neuen Bundeskanzler zu bestimmen.

158

Wenn der Bundespräsident den bisherigen Bundeskanzler um eine Fortführung seiner Geschäfte ersucht, so besteht eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des alten Bundeskanzlers, dem Ersuchen nachzukommen. Es ist aber weitgehend an­ erkannt, dass schwerwiegende objektive Gründe (z. B. schwere Krankheit) zu einer Verweigerung berechtigen.152 Umstritten ist die Frage, ob es für ein Weigerungsrecht auch genügt, dass der bisherige Bundeskanzler die weitere Amtsführung als politisch unzumutbar empfindet.153 Das ist zu verneinen. Die nach dem Wortlaut von Art. 69 Abs. 3 GG eindeutige Amtsfortführungspflicht („ist der Bundeskanzler […] verpflichtet“) würde anderenfalls weitgehend entwertet.

159

Zu Recht weisen die Befürworter eines weit verstandenen Weigerungsrechts aber darauf hin, dass die kommissarische Amtsführung durch eine Person, die das gar nicht will, einer effektiven Wahrnehmung der Amtsgeschäfte oft nicht dienlich ist. Dem sollte dadurch begegnet werden, dass der Bundespräsident in solchen Fällen auch andere Personen zur Amtsfortführung ersuchen darf. Vom Wortlaut des Art. 69 Abs. 3 GG ist das zwar nicht gedeckt.154 Es besteht aber in einigen Situa­

160

151 So auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019) Art. 69, Rn. 52; für eine Pflicht des Bundespräsidenten aber Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 69, Rn. 19; Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 29; Mager, in: Münch / ​Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 21; Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, 1969, S. 35 ff.; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, 1986, S. 92 f. 152 Statt vieler Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 30; Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 22; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergän­ zungslieferung, August 2019), Art. 69, Rn. 54. 153 Gegen ein Weigerungsrecht: Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 31; Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 22; Epping, in: v. Mangoldt / ​ Klein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 35; für ein weiter reichendes Weigerungsrecht etwa Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 69, Rn. 19; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 69, Rn. 54; Stern, Das Staatsrecht der Bundes­ republik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 256 (Fn. 303). 154 Das folgt, worauf zutreffend Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 37 hinweist, aus der Formulierung „die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nach­ folgers weiterzuführen“ in Art. 69 Abs. 3 GG.

460

§ 7 Bundesregierung

tionen (etwa bei Tod des bisherigen Bundeskanzlers) offensichtlich eine Notwen­ digkeit für die kommissarische Amtsübernahme durch andere Personen. Erkennt man das an, ist es kein großer Schritt mehr, dem Bundespräsidenten auch dann ein Ersuchen an andere Personen zu erlauben, wenn der bisherige Bundeskanzler kein Interesse an der kommissarischen Amtsführung hat (oder sonst zu befürchten ist, dass eine Fortführung des Amtes durch den bisherigen Bundeskanzler dem Staats­ wohl abträglich ist – etwa weil der bisherige Kanzler zuvor wegen eines Korrup­ tionsskandals zurückgetreten ist). 161

Es stellt sich dann die Frage, wen der Bundespräsident statt des bisherigen Kanz­ lers zur Amtsfortführung ersuchen darf. Jedenfalls sollten grundsätzlich nur Mitglieder der bisherigen Bundesregierung in Betracht kommen können. Denn die bisherigen Regierungsmitglieder haben noch am ehesten eine (mittelbare) parla­ mentarische Legitimation für die Übernahme von Regierungsaufgaben. Die wohl h. M. fordert darüber hinaus, dass sich der Bundespräsident innerhalb der bishe­ rigen Bundesregierung vorrangig an den Vizekanzler halten muss.155 Ungeklärt ist schließlich, was passiert, wenn kein Regierungsmitglied zur Amtsfortführung bereit oder in der Lage ist (z. B. Tod aller Regierungsmitglieder durch Anschlag oder Unfall).156

162

In der Staatspraxis kam die kommissarische Wahrnehmung der Kanzlergeschäfte durch den Vizekanzler bereits einmal vor: Willy Brandt bat in seinem Rücktrittsgesuch 1974 da­ rum, den Rücktritt unmittelbar wirksam werden zu lassen. Bundespräsident Gustav Heine­ mann kam dieser Bitte nach und ersuchte Vizekanzler Walter Scheel um die kommissarische Amtsführung.

163

Die rechtliche Stellung und die Befugnisse des kommissarischen Bundeskanz­ lers unterscheiden sich grundsätzlich nicht von denen eines regulären Bundes­ kanzlers. Abweichungen bestehen aber in folgenden Punkten: Der kommissarische Bundeskanzler kann nicht die Vertrauensfrage stellen (s. o. Rn. 142). Gegen ihn ist kein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG möglich (einschlägig ist vielmehr die reguläre Kanzlerwahl nach Art. 63 GG). Ferner ist seine Organisa­ tions- und Personalgewalt über die Bundesregierung (s. o. Rn. 71 ff.) durch das in Art. 69 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommende sogenannte Versteinerungsprinzip beschränkt (dazu näher Rn. 175).

164

Demgegenüber hat politisch gesehen der Interims-Bundeskanzler eine erheblich verringerte Legitimation. Diese bezieht er primär durch die Beauftragung durch den Bundespräsidenten. Allenfalls ein Stück weit wirkt noch die Legitima­ tion der ursprünglichen Wahl zum Bundeskanzler durch den Bundestag fort. In der 155 So etwa Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 23; Epping, in: v. Man­ goldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 39; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Er­ gänzungslieferung, August 2019) Art. 69, Rn. 59; Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, Art. 69, Rn. 32; a. A. Schemmel, NVwZ 2018, 105 (106); Nierhaus JR 1975, 265 (269 f.); Busse, in: Friauf /  Höfling, Art. 69, Rn. 17. 156 Näher zu der Diskussion darüber Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 42 m. w. N.

C. Amtszeit

461

Staatspraxis halten sich die geschäftsführenden Regierungen deshalb mit tiefgrei­ fenden Entscheidungen in der Regel zurück. Das ist aber weniger ein rechtliches Gebot, sondern eher eine Frage des politischen Feingefühls.

III. Ende der Amtszeit der Bundesminister Das Amtsverhältnis eines Bundesministers endet in vier Fällen: Erstens mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestags und jeder sonstigen Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers (Art. 69 Abs. 2 GG), zweitens durch Entlassung auf Wunsch des Bundeskanzlers (Art. 64 Abs. 1 GG), drittens durch Entlassung auf eigenes Verlangen, d. h. mit dem Rücktritt des Ministers und viertens mit jeder sonstigen Erledigung des Amtes des Bundesministers. Das spiegelt sich auch im einfachen Recht, nämlich in § 9 BMinG wider, wobei dort – wie auch im Grundgesetz – die vierte Fallgruppe nicht geregelt ist.

165

1. Bundestagskonstituierung, Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers Nach Art. 69 Abs. 2 GG, § 9 BMinG endet das Ministeramt mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestags (Art. 69 Abs. 2 GG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 BMinG)157 sowie mit jeder sonstigen Erledigung des Amts des Bundeskanzlers (s. dazu Rn. 114 ff.). Das umfasst insbesondere die Ablösung des Kanzlers durch ein kons­ truktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG, § 9 Abs. 1 Nr. 1 BMinG) sowie die Neu­ wahl eines Bundeskanzlers nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG). Der Sturz des Kanzlers bedeutet also stets den Sturz der gesamten Regierung. Bei jedem regulären wie vorzeitigen Ende der Amtszeit des Bundeskanzlers endet auch die Amtszeit aller Bundesminister. Das geschieht ipso iure, d. h. es bedarf keiner Entlassung durch den Bundespräsidenten. Diese Akzessorietät des Ministeramts zum Amt des Bundeskanzlers ist eines der Funda­ mente des Regierungssystems nach dem Grundgesetz.

166

2. Entlassung auf Wunsch des Bundeskanzlers Aufgrund seiner (materiellen) Personalgewalt über die Bundesregierung (s. o. Rn. 81 ff.) ist der Bundeskanzler rechtlich gesehen frei, jederzeit die Entlassung von Ministern zu veranlassen (Art. 64 Abs. 1 GG, § 9 Abs. 2 BMinG). Dazu schlägt er dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vor (s. a. 157

Diese Regelung zählt allerdings nicht zu den verbindlichen Grundsätzen des demokra­ tischen Rechtsstaates, so dass landesverfassungsrechtliche Vorschriften hiervon nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG abweichen können, BVerfGE 27, 44 (56) – Parlamentarisches Regierungs­ system.

167

462

§ 7 Bundesregierung

Rn. 86 f.). Der Bundespräsident hat diesem „Vorschlag“ zu entsprechen, er darf dem Bundeskanzler die Entlassung eines Bundesministers weder verweigern noch diese an die Ernennung eines bestimmten anderen Ministers koppeln. 168

Die Bundesminister sind also vom Vertrauen des Bundeskanzlers abhängig. Faktisch ist der Bundeskanzler aufgrund der vielfältigen (partei-)politischen Zwänge, denen er sich ausgesetzt sieht, aber bei weitem nicht so frei in seinen Personalent­ scheidungen, wie er es rechtlich gesehen ist. Denn oftmals wissen die Minister selbst politische Macht hinter sich (z. B. die eines Landesverbandes ihrer Partei). Außerdem erwarten die Koalitionsfraktionen (und die dahinter stehenden Par­ teien), bei Personalentscheidungen eingebunden zu werden. Durch allzu eigen­ mächtige Entscheidungen in diesem Bereich würde der Bundeskanzler seine eigene Machtbasis gefährden.

169

Kehrseite der Akzessorietät des Ministeramtes zum Amt des Bundeskanzlers (s. Rn. 166) ist nach der Konzeption des Grundgesetzes, dass der Bundestag keine rechtliche Möglichkeit zur Abwahl einzelner Bundesminister hat.158 D. h. anders als der Bundeskanzler sind die Bundesminister nicht unmittelbar auf das Vertrauen des Bundestages angewiesen. Das heißt aber nicht, dass die Bundesminister nicht parlamentarisch verantwortlich wären oder dass dem Bundestag keine Mittel zur Verfügung stünden, um politischen Druck auf einzelne Bundesminister aufzubauen (s. näher Rn. 28 f., 226 ff.).

3. Entlassung auf eigenen Wunsch (Rücktritt) 170

§ 9 Abs. 2 S. 2 BMinG normiert etwas, was verfassungsrechtlich vorausgesetzt, aber nicht ausdrücklich im Text des Grundgesetzes verankert ist: Jeder Minister kann jederzeit seine Entlassung verlangen. Der Gesetzestext drückt juristisch präzise aus, was in der umgangssprachlichen Formulierung bisweilen untergeht: Ein Bundesminister kann nicht in dem Sinne zurücktreten, dass er (wie bei einer arbeitsrechtlichen Kündigung) durch einseitige, rechtsgestaltende Erklärung sein Amtsverhältnis beendet (s. auch oben Rn. 119). Ein Minister kann nur ein Entlas­ sungsgesuch einreichen. Weil die Personalgewalt über die Bundesregierung von 158

Anders der Reichstag in der Weimarer Republik. Nach Art. 54 WRV konnte der Reichstag neben dem Reichskanzler auch einzelne Reichsminister abwählen, was deren Stellung gegen­ über dem Reichstag schwächte, gegenüber dem Reichskanzler hingegen stärkte. Auch in den Bundesländern stellt sich die Situation zum Teil anders dar. In Baden-Württem­ berg (Art. 56 LV-BW) muss der Ministerpräsident auf Beschluss von zwei Dritteln der Mitglie­ der das Landtags ein Mitglied der Regierung entlassen; in Berlin, Bremen und dem Saarland genügt der Entzug des Vertrauens durch die Mehrheit der Abgeordneten (Art. 57 Abs. 2 und 3 LV-Bln, Art. 110 Abs. 1 bis 3. LV-Bre, Art. 88 LV-Saa). Demgegenüber eröffnen die Verfassun­ gen von Bayern, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thü­ ringen den Landesparlamenten keine Möglichkeit, einzelne Minister abzuwählen; sie entspre­ chen insofern dem Grundgesetz. In Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland benötigt der Ministerpräsident jedoch zur Abberufung eines Ministers die Zustimmung des Landtags (Art. 45 LV-Bay, Art. 112 LV-He, Art. 98 Abs. 2 S. 4 LV-RP, Art. 87 Abs. 1 S. 2 LV-Saa).

C. Amtszeit

463

Bundeskanzler und Bundespräsident gemeinsam ausgeübt wird (s. o. Rn. 82), han­ delt es sich dabei um ein Ersuchen des Ministers an den Bundeskanzler, dem Bun­ despräsidenten seine Entlassung vorzuschlagen. Der Bundeskanzler muss – was teilweise allerdings bestritten wird159 – diesem Ersuchen nachkommen, weil nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit der Ämterübernahme sowie nach § 9 Abs. 2 S. 2 BMinG ein Rücktritt möglich sein muss.160 Der Bundespräsident muss ohnehin stets den Entlassungsvorschlägen des Bundeskanzlers nachkommen. Vom Rücktrittsgesuch zu unterscheiden ist das Angebot des Rücktritts. Wäh­ rend mit ersterem der definitive Wille ausgedrückt wird, aus dem Amt zu scheiden, wird bei letzterem „das Amt zur Verfügung gestellt“, d. h. hier liegt die Entschei­ dung beim Bundeskanzler.

171

4. Tod, Wegfall der Ernennungsvoraussetzungen Wie beim Bundeskanzler (s. o. Rn. 117) endet das Amt von Bundesministern ipso iure mit deren Tod sowie bei nachträglichem Entfall der rechtlichen Ernen­ nungsvoraussetzungen (s. zu den Ernennungsvoraussetzungen Rn. 86).

172

5. Kommissarische Amtsführung Wie schon der Bundeskanzler (s. o. Rn. 155 ff.) können gem. Art. 69 Abs. 3 GG auch die Bundesminister nach Amtsende zu einer kommissarischen Amtsführung verpflichtet werden. Allerdings kann das dafür notwendige Geschäftsführungser­ suchen sowohl vom Bundespräsidenten als auch vom Bundeskanzler ausgehen, was die Frage nach deren Verhältnis zueinander aufwirft. Die dazu vertretenen Auffassungen sind äußerst vielfältig.161 Nach der hier vertretenen Auffassung soll­ ten zwei Fälle unterschieden werden:

173

Erstens können individuelle Vakanzen einzelner Ministerämter auftreten (z. B. durch den Tod oder den Rücktritt eines Ministers), bei denen der Rest der Regie­ rung (insbesondere der Bundeskanzler) noch regulär im Amt ist. Weil die Organi­

174

159 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 64, Rn. 51; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 64, Rn. 30. 160 So auch Mager, in: von Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Bd. 1, Art. 64, Rn. 6; Hebeler, DVBl. 2011, 317 (319). Falls ein Minister „zur Unzeit“ zurücktritt, hat der Bundeskanzler nach Art. 69 Abs. 3 GG ohnehin die Möglichkeit, ihn nach seiner Entlassung zur Weiterführung der Amtsgeschäfte zu verpflichten. Im Ergebnis besteht dann kein großer Unterschied zur Wei­ gerung des Kanzlers, die Entlassung durch den Bundespräsidenten zu veranlassen. Es kommt aber zum Ausdruck, dass der Minister sein Amt nicht mehr aus eigenem Willen, sondern auf­ grund der Verpflichtung aus Art. 69 Abs. 3 GG wahrnimmt. 161 Ein Überblick über das aktuellere Schrifttum zu dieser Frage findet sich bei Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 25 f.; zu älteren Stimmen vgl. Lutz, Die Ge­ schäftsregierung nach dem Grundgesetz, 1969, S. 52 ff.

464

§ 7 Bundesregierung

sationsgewalt und die materielle Personalgewalt über die Bundesregierung beim Bundeskanzler liegt (s. o. Rn. 71 ff.), sollte es auch dessen Entscheidung sein, ob er um eine kommissarische Amtsführung ersucht (oder etwa gleich die Ernennung eines Nachfolgers nach Art. 64 Abs. 1 GG veranlasst, das Ressort auflöst etc.).162 Nur ausnahmsweise sollte ein Ersuchen durch den Bundespräsidenten zulässig sein – etwa wenn der Kanzler nicht fähig oder willens ist, eines der verfassungs­ garantierten Ressorts (s. Rn. 74, 229 ff.) zu besetzen.163 175

Zweitens können alle Regierungsämter vakant sein (z. B. nach Zusammentre­ ten eines neuen Bundestags). Dann muss zunächst der Bundespräsident tätig wer­ den, denn nur er kann einen kommissarischen Bundeskanzler berufen. Man wird ihm die Wahl zugestehen können, entweder nur einen kommissarischen Kanzler zu benennen, oder auch gleichzeitig die bisherigen Minister um eine Amtsfort­ führung zu ersuchen.164 Der so gekorene kommissarische Bundeskanzler kann dann, soweit noch Ministerämter vakant sind, eigene Geschäftsführungsersuchen formulieren. Eine Ernennung von ordentlichen Ministern nach Art. 64 Abs. 1 GG kann er aber nicht veranlassen.165 Aus der Beschränkung des Art. 69 Abs. 3 GG auf den Kreis der bisherigen Bundesregierung wird in der Literatur das sogenannte Versteinerungsprinzip abgeleitet, nach dem Kabinettsumbildungen allenfalls sehr begrenzt möglich sein sollen.166 Allerdings wird man dem geschäftsführenden Bundeskanzler eine eingeschränkte Personalgewalt über die Bundesregierung insofern zugestehen müssen, als er geschäftsführende Minister auch wieder aus dieser Position entfernen kann (auch und gerade wenn das Ersuchen dazu vom Bundespräsidenten kam).167 Aus dieser (eingeschränkten) Personalgewalt des kom­ missarischen Bundeskanzlers ist dann auch abzuleiten, dass der Bundespräsident nach dem initialen Geschäftsführungsersuchen (an den Bundeskanzler und ggf. 162

So auch Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8.Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 34, Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 69, Rn. 21; Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 29; a. A. etwa Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, ­August 2019), Art. 69, Rn. 51, der bei Art. 69 Abs. 3 GG hinsichtlich der Ersuchen an Bundes­ minister generell eine gleichrangige Konkurrenz der beiden annimmt. 163 Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 29. 164 In der Staatspraxis ist beides bereits vorgekommen, s. die Darstellung von Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 30 (in den Fußnoten). Epping hält Geschäftsführungsersuchen des Bundespräsidenten an Bundesminister aber grundsätzlich für unzulässig. Wie hier wohl Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 34. 165 Schemmel, NVwZ 2018, 105 (108); Lutz, Die Geschäftsregierung unter dem Grundgesetz, 1969, S. 77. Dass neben einem geschäftsführenden Bundeskanzler kein ordentlicher Minister existieren kann, ist logische Folgerung aus der in Art. 69 Abs. 2 verankerten Akzessorietät des Ministeramts zum Amt des Bundeskanzlers (dazu oben Rn. 166). 166 Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 26, 28; Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 39; deutlich abgeschwächt auch Epping, in: v. Mangoldt / ​ Klein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 46; a. A. Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 69, Rn. 23. 167 So in der Sache auch Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 31.

C. Amtszeit

465

gleichzeitig an bisherige Bundesminister) nur noch in Ausnahmefällen kommis­ sarische Minister berufen darf (analog zu Rn. 174). Wie beim Kanzler stellen sich einige weitere umstrittene Fragen, die analog zu beantworten sind (s. Rn. 159 ff.): Ein Weigerungsrecht der zur Geschäftsführung Ersuchten besteht nur bei schwerwiegenden objektiven Gründen (z. B. schwere Krankheit), ist ansonsten aber abzulehnen. Der Ersuchende (Bundeskanzler oder Bundespräsident) muss sich mit dem Geschäftsführungsersuchen primär an den bisherigen Amtsinhaber halten, kann aber auch andere Personen ersuchen, falls der bisherige Minister das Amt nicht fortführen will oder das dem Staatswohl abträglich wäre (s. Rn. 160 f.). In Betracht kommen dabei – das ist Ausdruck des Versteinerungsprinzips – aber grundsätzlich nur Minister der bisherigen Bundes­ regierung. Soweit ausnahmsweise doch die Geschäftsführung durch Nicht-Regie­ rungsmitglieder notwendig sein sollte (z. B. Tod der gesamten Bundesregierung durch Anschlag) stellt sich nicht nur wie beim Bundeskanzler die Frage, wer als geschäftsführender Minister in Betracht kommt, sondern auch, ob sich diese un­ geschriebene außerordentliche Kompetenz eher an Art. 69 Abs. 3 GG anlehnen soll oder an Art. 64 Abs. 1 GG.168

176

IV. Beendigung oder Entlassung Beim Amtsende des Bundeskanzlers und der Bundesminister ist zu unterschei­ den, ob das Amt ipso iure endet (Beendigung) oder ob noch ein konstitutiver Akt des Bundespräsidenten (Entlassung) erforderlich ist. Beendigungsgründe sind der Zusammentritt eines neuen Bundestages, der Tod des Amtsinhabers sowie der Entfall der Wählbarkeits- bzw. Ernennungsvoraussetzungen. Im Übrigen be­ darf es der konstitutiven Mitwirkung des Bundespräsidenten. Bei den Urkunden, die Regierungsmitglieder zu ihrem Amtsende vom Bundeskanzler ausgehändigt bekommen (§ 10 BMinG), ist dementsprechend zwischen deklaratorischen Beendigungsurkunden und konstitutiven Entlassungsurkunden zu unterscheiden.

168 Eine Anlehnung an Art. 64 Abs. 1 GG – vertreten etwa von Wahl, Stellvertretung im Ver­ fassungsrecht, 1971, S. 261; Schemmel, NVwZ 2018, 105 (108) – würde die dortige Aufteilung der Personalgewalt (Vorschlag durch den Kanzler, Ernennung durch den Bundespräsidenten) auch auf die Ernennung geschäftsführender Minister übertragen. Dafür spricht, dass dann der Bundespräsident auch für diese „Neulinge“ in der Bundesregierung seiner staatsnotariellen Funktion gerecht werden kann, d. h. insb. das Vorliegen aller Ernennungsvoraussetzungen prüfen kann.

177

466

§ 7 Bundesregierung

D. Organisationsstruktur I. Entscheidungsverfahren 178

Während das Grundgesetz die Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregie­ rung relativ ausführlich regelt (s. u. Rn. 296 ff.), fallen die verfassungsrechtlichen Regelungen zum Entscheidungsverfahren und zur Rechtsstellung der Regierungs­ mitglieder eher spärlich aus. Immerhin verweist es in Art. 65 S. 4 GG auf die Ge­ schäftsordnung der Bundesregierung (dazu Rn. 182 ff.), d. h. die Organisation des Verfassungsorgans Bundesregierung obliegt zu weiten Teilen seiner Geschäftsordnungsautonomie.169

179

Zusätzlich hierzu lassen sich dem Grundgesetz bestimmte organisatorische Vor­ gaben von Verfassungsrang entnehmen. So ist die Bundesregierung vom Grundge­ setz als Kollegialorgan ausgestaltet. Das bedeutet, dass sich das Verfassungsorgan Bundesregierung aus mehreren Personen zusammensetzt und seine rechtlichen Be­ fugnisse grundsätzlich nur durch gemeinsamen Beschluss ausüben kann.

180

Das wirft die Frage auf, wann von einem gemeinsamen Beschluss der Regie­ rungsmitglieder gesprochen werden kann, d. h. welche Beschlüsse der Bundesregierung zuzurechnen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu drei Min­ destanforderungen postuliert:170 Erstens muss jedes Mitglied der Bundesregierung vor einer zu treffenden Entscheidung informiert und auf Verlangen gehört werden (Information). Zweitens müssen Entscheidungen der Bundesregierung von einer bestimmten Mindestzahl ihrer Mitglieder getroffen werden (Quorum). Schließlich kann drittens eine verbindliche Entscheidung der Bundesregierung nur mehrheit­ lich getroffen werden (Mehrheit).

181

Näher ausgestaltet wird das Entscheidungsverfahren in der Geschäftsordnung der Bundesregierung, die zwischen der Beschlussfassung in gemeinschaftlicher Sitzung und der Beschlussfassung im Umlaufverfahren unterscheidet (s. u. Rn. 186). Die Regelungen dort müssen den eben (Rn. 180) geschilderten verfas­ sungsrechtlichen Maßstäben für die Zurechnung von Beschlüssen gerecht werden.

II. Geschäftsordnung der Bundesregierung 1. Beschluss und Rechtsnatur 182

Nach Art. 65 S. 4 GG wird die Geschäftsordnung der Bundesregierung (­GOBReg) von der Bundesregierung beschlossen und vom Bundespräsidenten genehmigt. Das wirft die Frage auf, ob bei Zusammentritt einer neuen Bundesregierung die bishe 169 170

BVerfGE 89, 121 (124). BVerfGE 91, 148 (169) – Umlaufverfahren.

D. Organisationsstruktur

467

rige Geschäftsordnung weitergilt, oder ob analog zum Bundestag (s. § 2 Rn. 210) das Prinzip der Diskontinuität Anwendung findet. In der Staatspraxis geht man von Ersterem aus: So gilt nach wie vor und ohne ausdrückliche Übernahmebeschlüsse die Geschäftsordnung der Bundesregierung vom 11. Mai 1951171 fort (freilich mit Änderungen172). Das Bundesverfassungsgericht und die ganz herrschende Mei­ nung billigen diese Praxis.173 Der Vorbehalt der Genehmigung durch den Bundespräsidenten in Art. 65 S. 4 GG lässt sich wohl nur als anachronistisches Relikt aus der Weimarer Ver­ fassung (vgl. Art. 55 WRV) erklären, in der die Regierung noch dem Präsidenten verantwortlich war.174 Verfassungspolitisch könnte er ohne Schaden entfallen und sollte durch Verfassungsänderung beseitigt werden. Aus der Wortwahl „ge­ nehmigt“ und aus einer Gegenüberstellung mit der an vergleichbaren Stellen ver­ wendeten Terminologie (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG) lässt sich schließen, dass dem Bundespräsidenten bei der Genehmigung der Geschäftsordnung eine umfassende rechtliche Prüfungsbefugnis und -pflicht zukommt. Formell oder materiell ver­ fassungswidrige Änderungen der Geschäftsordnung darf der Bundespräsident nicht genehmigen.175 Aus der nichtregierenden und „staatsnotariellen“ Stellung des Bun­ despräsidenten (s. § 5 Rn. 7, 34) folgt aber auch, dass seine politische Bewertung der von der Bundesregierung erlassenen Geschäftsordnung für die Genehmigung außer Betracht bleiben muss.

183

Wie die rechtliche Qualifizierung der GOBT (s. § 2 Rn. 335 ff.), so ist auch die Rechtsnatur der GOBReg im Schrifttum umstritten.176 Während sie zum Teil als autonome Satzung, zum Teil auch als Verfassungssatzung bewertet wird, erkennen andere in ihr ein Norm eigener Art (s. a. § 1 Rn. 101). Für die Rechtspraxis kommt diesem Streit nur geringe Bedeutung zu. Fest steht jedenfalls, dass ihr für den

184

171

GMBl S. 137. Zuletzt durch Bek. v. 22.10.2002 (GMBl S. 848). 173 BVerfGE 91, 148 (167) – Umlaufverfahren, mit dem unklaren Argument, die Bundes­ regierung sei im Gegensatz zum Bundestag kein „sich selbst konstituierendes Organ“ (vgl. die treffende Kritik an der Argumentation des BVerfG bei Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 65 Rn. 111). Im Ergebnis ebenfalls gegen eine Diskontinuität: Honnacker / Grimm, Geschäftsordnung der Bundesregierung, 1969, S. 27, Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 65 Rn. 22; M. Schröder, in: v. Mangoldt / ​ Klein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 65 Rn. 41; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 65 Rn. 49; ­Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018 Art. 65 Rn. 39. A. A. BVerwGE 89, 121 (125). Die Vertreter einer Diskontinuität müssen sich dann entweder mit Konstrukten wie konkludenten Übernahmebeschlüssen behelfen oder die aktuelle Geltung der GOBReg bestreiten. 174 T. Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (620 f.); Herzog, in Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungs­ lieferung, August 2019), Art. 65 GG, Rn. 114. 175 Ein –rein hypothetisches – Beispiel wäre etwa ein in der GOBReg verankertes Recht der Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien im Bundestag, an den Sitzungen der Regierung mit Stimmrecht teilzunehmen. 176 Vgl. hierzu die ausführliche Übersicht bei T. Schmidt, AöR 128 (2003), 608 (609 ff.). 172

468

§ 7 Bundesregierung

Binnenbereich ein verbindlicher Charakter zukommt. Allerdings lassen Verstöße gegen die Geschäftsordnung die entsprechenden Beschlüsse der Bundesregierung nicht generell unwirksam werden.177 2. Wesentliche Inhalte 185

Die §§ 1–8 GOBReg enthalten Regelungen zu Stellung, Aufgaben und Befugnissen des Bundeskanzlers innerhalb der Bundesregierung sowie zu dessen Stellvertretung. Insbeson­ dere wird in diesen Vorschriften die Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG, § 1 GOBReg, s. u. Rn. 302 ff.) und die Geschäftsleitungskompetenz (Art. 65 S. 4 GG, § 6 GOBReg, s. u. 308 f.) des Bundeskanzlers näher ausgestaltet. Entsprechend regeln die §§ 9–14a GOBReg Stellung, Aufgaben und Befugnisse der einzelnen Bundesminister sowie deren Stellvertretung.

186

Die restlichen Regelungen beziehen sich im Wesentlichen auf die Bundesregierung als Kollegialorgan: Mit welchen Angelegenheiten sie überhaupt befasst wird (sog. Kabinettsvor­ lagen), geht insb. aus den §§ 15–18 GOBReg hervor. Die Beschlussfassung der Bundesregie­ rung findet gem. § 20 Abs. 1 GOBReg in der Regel in gemeinschaftlicher Sitzung statt. Der Ablauf der Sitzungen ist in den §§ 21–27 GOBReg geregelt. Insbesondere legt § 24 GOBReg fest, wann die Bundesregierung beschlussfähig ist (Anwesenheit der Hälfte der Regierungs­ mitglieder) und dass ein Beschluss der „Stimmenmehrheit“178 bedarf, wobei die Stimme des Vorsitzenden (§ 22 Abs. 1 GOBReg) bei Stimmengleichheit ausschlaggebend ist. Ebenfalls möglich ist die Beschlussfassung im Umlaufverfahren, falls „die mündliche Beratung einer Angelegenheit nicht erforderlich [ist]“ (§ 20 Abs. 2 GOBReg). Nähere Ausgestaltung findet das Umlaufverfahren zwar nicht in der Geschäftsordnung, aber zumindest in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Dieses hat die damalige Staatspraxis für verfassungswidrig befunden, nach der das Schweigen im Umlaufverfahren als Zustimmung gewertet wurde.179 Seitdem hat das Umlaufverfahren an Bedeutung verloren.180

177 So auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 307; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 126; anders wohl BVerwGE 89, 121 (125), wonach jedenalls die Verletzung „wesentlicher Verfahrensvor­ schriften“ grundsätzlich zur Unwirksamkeit führt. 178 Was das genau bedeutet bleibt aber unklar. Nach Busse, Geschäftsordnung Bundesre­ gierung, 3. Aufl. 2018, § 24 Rn. 2 heißt dies, dass die Mehrheit der anwesenden Mitglieder zustimmen muss. Demnach handelt es sich um eine (einfache) Anwesendenmehrheit, bei der sich Enthaltungen wie Neinstimmen auswirken (vgl. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.). Der Wortlaut lässt aber auch eine Auslegung als (einfache) Abstimmendenmehrheit zu. Fak­ tisch ist diese Frage ohne große Bedeutung, weil es selten zu kontroversen Abstimmungen im Kabinett kommt, sondern Meinungsverschiedenheiten in der Regel im Vorfeld ausgeräumt werden (vgl. Busse, aaO). 179 BVerfGE 91, 148 (171) – Umlaufverfahren. 180 So jedenfalls Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 3. Aufl. 2018, § 20 Rn. 2 f. mit Beschreibung des sog. „TOP-1-Verfahrens“, das sich stattdessen etabliert hat.

D. Organisationsstruktur

469

III. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Von der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) ist die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) zu unterscheiden.181 Sie nor­ miert Organisationsgrundsätze für alle Bundesministerien (Kapitel 2) und gibt auch deren grundsätzlichen Aufbau vor (Kapitel 3). Danach sind die einzelnen Ministerien in Abteilungen, gegebenenfalls in Unterabteilungen und in Referate gegliedert. Auch stellt sie Regeln für die Führung und den Arbeitsablauf in den einzelnen Ministerien auf (Kapitel 4).

187

Bereits diese Inhalte lassen erkennen, dass die GGO sich auf Dienstanweisungen für den internen Verwaltungsbetrieb beschränkt und insofern – im Unterschied zur GOBReg – als allgemeine Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren ist.182 Die Geltung der GGO geht also nicht auf Art. 65 S. 4 GG zurück, sondern fußt als Verwaltungsvorschrift auf der Befugnis von Behördenleitern, dienstliche und or­ ganisatorische Anordnungen zu treffen.183 Sie ist damit keine einheitlich Geltung beanspruchende Regelung, sondern eine Mehrzahl von Rechtsakten identischen Inhalts, deren Geltung von den Ministern jeweils für ihr Ressort angeordnet wurde. Das gilt auch für die weiteren Regelungsgegenstände, also für die Regeln über die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, dem Bundestag, dem Bundesrat und dem Vermittlungsausschuss sowie mit sonstigen Stellen (Kapitel 5) und über die Vorbereitung von Gesetzesentwürfen bzw. den Erlass von Rechtsverordnun­ gen (Kapitel 6).

188

Die Vorschriften in Kapitel 6 zur Rechtsetzung sind durchaus bemerkenswert. Weil in der Bundesrepublik Deutschland zwar der Bundestag (zusammen mit dem Bundesrat) die Ge­ setze beschließt, aber das Machen der Gesetze in der Praxis weitgehend der Bundesregierung überlässt, findet sich hier ein zumindest teilweises Bild des sogenannten „inneren Gesetzgebungsverfahrens“184 in der Bundesrepublik Deutschland. So werden dort neben Vorschrif­ ten zu Aufbau und Formatierung von Gesetzentwürfen der Bundesregierung (§ 42 Abs. 1, 2, 6 GGO) weitreichende Begründungspflichten auferlegt (§ 43 GGO) und – insb. in Hinblick auf die öffentlichen Haushalte sowie Bürokratiekosten – eine Abschätzung der Gesetzesfol­ gen gefordert (§ 44 GGO). Ferner ist in erheblichem Umfang der Sachverstand anderer Stellen einzubinden. Das umfasst insbesondere die Einbindung des Nationalen Normenkontrollrates (§ 45 Abs. 1 GGO), verschiedener Beauftragter (§ 45 Abs. 3 GGO), des Bundesministeriums für Justiz (§ 42 Abs. 5, § 45 Abs. 1, § 46 GGO) sowie – praktisch besonders bedeutsam – der Verbände (§ 47 GGO).

189

Die GGO geht auf die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien aus den 1920er Jahren zurück. Deren Zweiteilung in einen allgemeinen Teil

190

181 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung v. 26.7.2000, GMBl. S. 526, zul. geänd. durch Beschluss v. 1.9.2011, GMBl S. 576. 182 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 92. 183 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Bundesregierung, 2. Aufl. 1998, S. 128. 184 Zu diesem etwas schillernden Begriff Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 828 ff.

470

§ 7 Bundesregierung

(GGO I) und einen besonderen Teil (GGO II) hatte lange Bestand und wurde erst mit der umfassenden Novelle der GGO vom 26. Juli 2000185 beseitigt.

IV. Rechtliche und politische Stellung der Regierungsmitglieder 1. Allgemeines 191

Hinsichtlich der rechtlichen und politischen Stellung der Regierungsmitglieder ist zu unterscheiden zwischen Organ und Organwalter. Der Bundeskanzlers und die Bundesminister als Organe mit ihren abstrakt umschriebenen Befugnissen, Pflichten, Funktionen usw. bestehen unabhängig von den Organwaltern, also den natürlichen Personen, welche die Rolle des jeweiligen Organs (vorübergehend) aus­ füllen (s. a. § 1 Rn. 32 ff.). Die persönliche Rechtsstellung der Regierungsmitglieder, also die Rechtsstellung der jeweiligen Organwalter (dazu sogleich 2.) unterscheidet sich zwischen Bundeskanzler und Bundesministern nur in einigen Punkten. Bei der politischen und rechtlichen Stellung der jeweiligen Organe gibt es hingegen erhebliche Unterschiede zwischen dem Bundeskanzler (dazu 3.) und den Bundes­ ministern (dazu 4.). 2. Persönliche Rechtsstellung der Regierungsmitglieder

192

Über die persönliche Rechtsstellung der Regierungsmitglieder, also die Rechtsstellung der natürlichen Personen, welche die Rolle des Bundeskanzlers bzw. eines Bundesministers (vorübergehend) ausfüllen, lassen sich dem Grund­ gesetz nur wenige Vorgaben entnehmen. Immerhin finden sich Anhaltspunkte zum Beginn der Amtsverhältnisse (Wahl bzw. Ernennung, Art. 63, 64, 67 Abs. 1 S. 2 GG), zum Ende der Amtsverhältnisse (Art. 69 Abs. 2 GG) sowie die Regelung zu den Inkompatibilitäten (Art. 66 GG).

193

Einzelheiten zur persönlichen Rechtsstellung der Regierungsmitglieder enthält das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz – BMinG; s. schon Rn. 35). Nach § 1 BMinG stehen die Mit­ glieder der Bundesregierung in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis zum Bund. Dieses Amtsverhältnis der Regierungsmitglieder ist kein Beamtenverhält­ nis, sondern ein öffentlich-rechtliches Amtsverhältnis eigener Art. Insbesondere können Normen des Beamtenrechts nicht ohne Weiteres auf Regierungsmitglieder angewendet werden.

194

Das Bundesministergesetz trifft aber nur eher fragmentarische Regelungen. Es fehlt etwa eine allgemeine Umschreibung der Pflichten, vergleichbar den §§ 33 ff. BeamtStG im Beamtenrecht (Anhaltspunkte liefert hier aber der Amtseid, § 3 185

GMBl. 2000, S. 526 ff.

D. Organisationsstruktur

471

BMinG, Art. 56 GG). Es fehlen auch Regelungen zu Urlaubsansprüchen sowie zu Mutterschutz und Elternzeit. Disziplinarverfahren werden nach § 8 BMinG aus­ drücklich ausgeschlossen. Recht detailliert geregelt sind die Amtsbezüge (§ 11 BMinG), die Ansprüche auf Amtswohnung und Entschädigungen (§ 12 BMinG) und die Versorgung nach Beendigung des Amtsverhältnisses (§§ 13 ff. BMinG). Fer­ ner finden sich Regelungen zum genauen Beginn und Endes des Amtsverhältnisses (§§ 2 Abs. 2, 9 BMinG), zur Verschwiegenheit (§ 6 BMinG) sowie zu Inkompa­ tibilitäten (§ 5 BMinG) und zu nachamtlichen Beschäftigungsverboten (§§ 6a ff. BMinG). Die Amtsbezüge gehören zu den wenigen Punkten, bei denen zwischen Bundeskanz­ ler und Bundesministern unterschieden wird. Die Regelung zum Amtsgehalt knüpft an das Besoldungsrecht der Beamten an: Nach § 11 Abs. 1 lit. a BMinG erhält der Bundeskanzler einzweidrittel der Besoldungsgruppe B11 und die Bundesminister jeweils eineindrittel der Besoldungsgruppe B11. Stand 2020 entspricht das einem jährlichen Grundgehalt von ca. 296.000 Euro für den Bundeskanzler bzw. 237.000 Euro für die Bundesminister. Das ist für den öffentlichen Dienst viel, aber im Vergleich zur Bezahlung von Führungskräften in der Wirtschaft relativ wenig. Zum Grundgehalt hinzu kommen noch verschiedene Entschädi­ gungen bzw. Zuschläge sowie die in ihrem Gesamtumfang nicht zu unterschätzenden nach­ amtlichen Bezüge (insbesondere Übergangsgeld, § 14 BMinG, und Ruhegehalt, § 15 BMinG).

195

In staatshaftungsrechtlicher Hinsicht üben auch die Mitglieder der Bundes­ regierung ein öffentliches Amt i. S. v. Art. 34 GG aus, so dass der Staat grund­ sätzlich die Haftung für die aus Amtspflichtverletzungen resultierenden Schäden übernimmt.186

196

3. Stellung des Bundeskanzlers a) Allgemeine Stellung Der Bundeskanzler ist üblicherweise die politisch stärkste Figur in der Bun­ desrepublik Deutschland, die deshalb (aber auch im Hinblick auf die Kompetenz­ ausstattung des Bundeskanzlers) oft als Kanzlerdemokratie bezeichnet wird. Er nimmt sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch im Verhältnis zum Bun­ destag eine herausgehobene Stellung ein. Innerhalb der Regierung folgt die be­ sondere Stellung des Kanzlers aus seiner Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG), aus der Akzessorietät der Ministerämter zum Amt des Kanzlers (Art. 69 Abs. 2 GG) sowie daraus, dass die Ernennung und Entlassung der Minister inhaltlich in seiner Hand liegt (Art. 64 Abs. 1 GG). Die besondere Stellung gegenüber dem Parlament ergibt sich daraus, dass er als einziges Mitglied der Bundesregierung unmit­ telbar vom Vertrauen des Bundestags abhängig ist: Nur der Bundeskanzler (nicht: einzelne Minister oder das Kabinett als „Paket“) wird vom Bundestag gewählt 186

Vgl. BGHZ 14, 319 (321).

197

472

§ 7 Bundesregierung

(Art. 63 GG), nur der Bundeskanzler (nicht: einzelne Minister) kann vom Bun­ destag abgewählt werden und nur der Bundeskanzler kann die Vertrauensfrage stellen (Art. 68 GG). 198

Das Bundesverfassungsgericht hat die Stellung des Bundeskanzlers im Grundgesetz und die entsprechenden Unterschiede zur Stellung des Reichskanzlers nach der WRV wie folgt zusammengefasst: „Das Grundgesetz hat ein parlamentarisches Regierungssystem nor­ miert, das stärker ausgeprägt und zugleich mehr auf Stabilität der Regierung angelegt ist als unter der Weimarer Reichsverfassung. Die Bestimmung des Bundeskanzlers ist, anders als die des Reichskanzlers unter der Bismarck’schen wie unter der Weimarer Reichsverfassung, grundsätzlich in die Hände des Parlaments gelegt (Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG); die Abberufung des Kanzlers ist nicht einfach als Sturz, sondern nur als Ersetzung, wiederum nur durch das Parlament (Art. 67 GG) möglich; die Stellung des Bundeskanzlers ist weiterhin gestärkt durch sein Recht, die Minister nach seiner Wahl dem Bundespräsidenten zur Ernennung oder Ent­ lassung vorzuschlagen (Art. 64 GG). Keine dieser Bestimmungen entspricht der Weimarer Reichsverfassung.“187

199

Die Bezeichnung „Kanzler“ stammt bereits aus dem Mittelalter und wurde im 19. Jahrhundert als Bezeichnung für den leitenden Minister gebraucht. So kam er in die Reichsverfassungen von 1871 und 1919 und schließlich in das Grundgesetz.188 Allgemein verweist der Begriff Kanzler auf Verwaltungstätigkeiten und z. T. den Umgang mit Urkunden. Er wird verwaltungsrechtlich heute teilweise noch etwa für den Leiter der Universitätsverwaltung oder den Leiter der Verwaltung einer Auslandsvertretung gebraucht. b) Stellvertretung des Bundeskanzlers

200

Nach Art. 69 Abs. 1 GG ernennt der Bundeskanzler einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter (Vizekanzler). Aus der Vorschrift ergibt sich erstens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Kanzlers zur unverzüglichen189 Ernennung eines Vizekanzlers, zweitens eine Begrenzung auf nur einen Stellvertreter und drittens, dass als Stellvertreter nur ein Bundesminister in Betracht kommt. Innerhalb dieser Vorgaben liegt das Amt des Vizekanzlers – rechtlich gesehen – völlig in der Hand des Bundeskanzlers: Er kann selbst die Bestellung und Entlassung seines Stell­ vertreters vornehmen, ohne dass dazu wie bei Art. 64 Abs. 1 GG die Mitwirkung des Bundespräsidenten nötig wäre. Auch der Bundestag oder die Bundesregierung als Kollegialorgan sind rechtlich in keiner Weise eingebunden. Vorschriften zur Form der Ernennung – vergleichbar dem § 2 BMinG bei Ministern – finden sich für den Vizekanzler nicht.

187

BVerfGE 62, 1 (40) – Bundestagsauflösung I. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 14, Rn. 5. 189 Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 6. 188

D. Organisationsstruktur

473

Wenn auch nicht rechtlich vorgegeben, wird das Amt des Vizekanzlers – von Ausnahmen abgesehen190 – üblicherweise der zweitstärksten Kraft in der Koalition überlassen. Damit er­ folgt eine zumindest symbolische Beteiligung des kleineren Koalitionspartners an der Regie­ rungsleitung. Zugleich wird der Koalitionspartner auch versuchen, für den Vizekanzler eines der besonders wichtigen und prestigeträchtigsten Ministerämter zu sichern. Zu diesen Minis­ terämtern zählt nach verbreiteter Wahrnehmung vor allem das des Außenministers, weshalb Vizekanzler oft der Außenminister ist. Gerade in den Anfangszeiten der Bundesrepublik Deutschland sowie in den letzten Jahren waren aber auch andere Fachminister Vizekanzler.191

201

Hinsichtlich Art, Umfang und Anlass der Vertretung durch den Vizekanzler enthält das Grundgesetz keine näheren Regelungen. Gem. § 8 S. 1 GOBReg tritt der Vertretungsfall nach Art. 69 Abs. 1 GG jedenfalls dann ein, wenn der Bundes­ kanzler „allgemein verhindert“ ist. Damit ist der Fall der sogenannten Ersatzvertretung angesprochen, bei welcher der Vertretene insgesamt an der Wahrnehmung seiner Geschäfte gehindert ist (z. B. durch Krankheit, Entführung, längeren Erho­ lungsurlaub o. ä.) und der Vertreter umfassend in seine Position eintritt.

202

Daneben kann gem. § 8 S. 2 GOBReg „im übrigen“ der Bundeskanzler den Um­ fang seiner Vertretung näher bestimmen. Damit ist die Möglichkeit der sog. Nebenvertretung angesprochen, d. h. die punktuelle Beauftragung mit der Stellvertretung zu bestimmten Fragen oder Anlässen. Teilweise wird eine solche Nebenvertretung nur hinsichtlich des Vizekanzlers für zulässig gehalten.192 Überwiegend wird § 8 S. 2 GOBReg aber wohl so verstanden, dass auch andere Bundesminister mit einer Nebenvertretung beauftragt werden können. Um insofern nicht in Konflikt mit der Vorgabe des Art. 69 Abs. 1 GG zu kommen, dass es nur einen Stellvertreter des Kanzlers geben darf, soll die Beauftragung anderer Minister aber bei hoheitlichen Befugnissen des Bundeskanzlers ausgeschlossen sein und es soll einen grundsätz­ lichen Vorrang des Vizekanzlers bei der Nebenvertretung geben.193

203

Der Umfang der Vertretung ergibt sich im Fall einer zulässigen Nebenvertre­ tung durch Auslegung der Beauftragung durch den Bundeskanzler. Bei der Ersatz­ vertretung umfasst die Stellvertretung grundsätzlich alle Befugnisse des Bundes­ kanzlers. Ausgeschlossen ist aber wegen der Höchstpersönlichkeit des Vorgangs,

204

190 Unter Bundeskanzler Konrad Adenauer fiel 1957–1963 die Position des Vizekanzlers nicht den Koalitionspartnern DP bzw. FDP zu, sondern wurde von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard wahrgenommen. 191 So wurde in der Zeit vor der ersten Großen Koalition (1966–1969) der Minister für den Marshallplan (1949–1957), der Wirtschaftsminister (1957–1963) bzw. der Minister für Ge­ samtdeutsche Fragen (1963–1966) vom jeweiligen Bundeskanzler zu seinem Stellvertreter ernannt. In jüngerer Zeit gab es mit dem Arbeitsminister Franz Müntefering (2005–2007), den Wirtschaftsministern Philipp Rösler (2011–2013) sowie Sigmar Gabriel (2013–2018) und dem Finanzminister Olaf Scholz (ab 2018) ebenfalls Vizekanzler, die nicht zugleich Außen­ minister waren. 192 Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69 Rn. 8. 193 Vgl. etwa Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 69 Rn. 16; Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 3. Aufl. 2018, § 8 Rn. 15.

474

§ 7 Bundesregierung

dass der Vizekanzler den Rücktritt des Kanzlers (s. o. Rn. 118 f.) erklärt. Umstritten ist, ob der Vizekanzler die Vertrauensfrage stellen kann und ob er die Entlassung und Ernennung von Ministern veranlassen kann.194 205

Schließlich stellen sich bei der Ersatzvertretung Fragen zum Verhältnis von Vertreter und Vertretenem: Nämlich erstens ob der „allgemein verhinderte“ Bun­ deskanzler grundsätzlich seine Befugnisse im Außenverhältnis behält, d. h. ob er weiterhin in bestimmten Fragen selbst tätig werden kann (z. B. „vom Krankenbett aus“),195 und zweitens inwieweit der Vizekanzler im Innenverhältnis an Weisun­ gen des Bundeskanzlers, dessen bisherige Richtlinien oder gar dessen mutmaß­ lichen Willen gebunden ist.196

206

Für ein Verständnis, in dem Befugnisse des Bundeskanzlers im Innen- wie im Außenver­ hältnis durch die Ersatzvertretung ausgeschlossen sind, spricht die Schaffung klarer Verhält­ nisse in der Regierungsleitung. Dagegen spricht aber, dass dann für abgestufte Vertretungskonzepte wenig Raum bleibt: Der Fall, dass ein Bundeskanzler wirklich vollständig verhindert ist (z. B. durch Entführung, Koma) dürfte nicht die Regel sein. In den meisten Fällen wird der Bundeskanzler in der Lage sein, sich sehr wichtigen Angelegenheiten auch aus dem Urlaub, Krankenhaus etc. zu widmen. Es ist nicht ersichtlich, warum es ihm verwehrt sein soll, trotz der grundsätzlich umfassenden Ersatzvertretung durch den Vizekanzler bestimmte Fragen – sei es im Innen- oder im Außenverhältnis – an sich zu ziehen.

207

Zu beachten ist das Zusammenspiel der verschiedenen Absätze in Art. 69 GG: Die Vertretungsregelung aus Art. 69 Abs. 1 GG bezieht sich nur auf vorübergehende Verhinderungen des Bundeskanzlers. Sie ist nicht anwendbar bei Erledigung des Amts des Bundeskanzlers, denn nach Art. 69 Abs. 2 GG enden damit auch die Ämter aller Minister, d. h. es kann dann auch keinen Vizekanzler mehr geben. Art. 69 Abs. 1 GG unterscheidet sich damit wesentlich von der Vertretungs­ regelung beim Bundespräsidenten (Art. 57 GG, s. § 5 Rn. 88 ff.), die gerade auch die Vakanz des Amts abdecken soll. Diese Funktion wird in Art. 69 GG durch Rege­ lungen zur geschäftsführenden Bundesregierung in Abs. 3 (s. o. Rn. 155 ff.) erfüllt. Die Stellung als Vizekanzler – wenn auch nach Art. 69 Abs. 2 GG zusammen mit dem Ministeramt erloschen – wirkt aber nach verbreiteter Auffassung in der Weise fort, dass falls ein Geschäftsführungsersuchen an den bisherigen Bundeskanz­ ler ausscheidet, vorrangig der bisherige Vizekanzler darum ersucht werden soll (s. o. Rn. 161).

194

Dafür etwa Epping, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 12; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 62, Rn. 17; Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 69, Rn. 9. Dagegen Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 69, Rn. 20; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, 15. Aufl. 2018, Art. 69, Rn. 1a. 195 Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 65, Rn. 8 f.; dagegen Wahl, Stellvertre­ tung im Verfassungsrecht, 1971, S. 186. 196 Mager, in Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 65, Rn. 8 ff. Nur für eine eingeschränkte inhaltliche Bindung des Vizekanzlers (an die „politischen Grundziele“ und das Regierungs­ programm des Kanzlers) Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 186 f.

D. Organisationsstruktur

475

c) Bundeskanzleramt Dem Bundeskanzler steht zur Vorbereitung und auch zur Ausübung seiner Auf­ gaben und Befugnisse das Bundeskanzleramt zur Verfügung, das im Grundgesetz freilich nicht erwähnt wird. Im politischen Alltag ist es von hoher Bedeutung, denn es nimmt nicht bloß die Aufgaben eines Sekretariats oder einer Geschäfts­ stelle wahr, sondern ist eine den Bundesministerien vergleichbare politische Führungszentrale, die über organisatorische Aufgaben hinaus auch inhaltlichpolitische Unterstützungsarbeit leistet.197

208

Von besonderer Bedeutung ist der Chef des Bundeskanzleramts. Entsprechend seiner Leitungsfunktion bekleidet er grundsätzlich das Amt eines Staatssekretärs, das insbesondere seine Weisungsgebundenheit vom Bundeskanzler zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus steht er nicht nur dem Bundeskanzleramt vor, sondern nimmt gemäß § 7 Abs. 1 GOBReg zugleich die Geschäfte eines Staatssekretärs der Bundesregierung wahr. Dementsprechend hat er – nach näherer Anweisung durch den Bundeskanzler – die Sitzungen der Bundesregierung vorzubereiten.

209

Unabhängig von seiner Funktion und unabhängig auch von der Bezeichnung in § 7 GOBReg ist es zu einer politischen Praxis geworden, den Chef des Bundes­ kanzleramts nicht als Staatssekretär, sondern zum Bundesminister für besondere Aufgaben („Kanzleramtsminister“) zu ernennen und ihn mit der Leitung des Bundeskanzleramts zu betrauen. Diese Praxis begegnet mehreren verfassungsrechtlichen Bedenken: Zum einen erlangt der Chef des Bundeskanzleramts mit dem Amt eines Bundesministers eine gleichberechtigte Stellung innerhalb der Re­ gierung und kann, obwohl funktional den Weisungen des Bundeskanzlers unter­ stellt, somit bei Kollegialentscheidungen auch gegen den Bundeskanzler stimmen. Mag dieses Problem auch theoretischer Natur bleiben, weil der Bundeskanzler­ amtsminister in besonderem Maße vom Vertrauen des Bundeskanzlers abhängig ist und dementsprechend wohl regelmäßig nicht gegen diesen stimmen wird, erge­ ben sich gerade aus diesem besonderen Vertrauensverhältnis weitere verfassungs­ rechtliche Zweifel. Nicht nur, dass der Bundeskanzleramtsminister durch dieses besondere Vertrauen eine – wenn auch nicht rechtliche, so doch immerhin poli­ tische – Sonderstellung gegenüber den anderen Bundesministern einnimmt. Vor allem kann der Bundeskanzler sein Stimmengewicht innerhalb der Regierung durch die Ernennung des Chefs des Bundeskanzleramts zum Bundesminister fak­ tisch verdoppeln.

210

Von diesen verfassungsrechtlichen Bedenken und etwaigen politischen Zielsetzungen ein­ mal abgesehen hat die Ernennung des Kanzleramtschefs zum Bundesminister in erster Linie historische Gründe: Bundeskanzler Ludwig Erhard wollte seinen Leiter des Bundeskanzler­ amts Ludger Westrick behalten, der aber als beamteter Staatssekretär 1964 aus Altersgründen

211

197

Vgl. Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 62, Rn. 17; ausführlich zu den Funktionen des Bundeskanzleramts Busse / Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 7. Aufl. 2019, S. 48 ff., 109 ff.

476

§ 7 Bundesregierung

hätte ausscheiden müssen. Deshalb ersuchte er den Bundespräsidenten um Ernennung des Kanzleramtschefs zum Bundesminister.198 Der Ministerrang des Kanzleramtschefs etablierte sich zwar nicht sofort als Staatspraxis, setzte sich aber letztlich durch: Seit 1984 waren – ab­ gesehen von Frank-Walter Steinmeier (1999–2005) – alle Kanzleramtschefs Minister für be­ sondere Aufgaben.

4. Stellung der Bundesminister a) Doppelrolle zwischen Regierung und Verwaltung 212

Die Bundesminister haben eine Doppelrolle: Als Kabinettsmitglied einerseits und Leiter eines Ministeriums andererseits bilden sie die „Gelenkstelle“ zwischen Regierung und Verwaltung, sind also sowohl staatsleitend-gubernativ tätig als auch verwaltend. Die Zugehörigkeit des Ministers zu einer der Rollen ist nicht immer ganz einfach zu bestimmen.

213

Die gubernative Dimension des Ministeramts äußert sich vor allem in seiner Teilhabe an der Entscheidungsfindung im Kollegialorgan Bundesregierung. In­ nerhalb eines Ressorts besteht sie insbesondere in der Erarbeitung von Gesetzent­ würfen und Rechtsverordnungen der Bundesregierung sowie in der Möglichkeit zum Erlass von Rechtsverordnungen, soweit dazu gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG unmittelbar ein Ministerium ermächtigt wurde. Allerdings sieht § 19 Abs. 1 GGO regelmäßig eine Abstimmung mit anderen sachlich betroffenen Ministerien sowie grundsätzlich auch mit dem Bundeskanzler vor. Die Bedeutung der Ministerien in der Gesetzgebung darf nicht unterschätzt werden. Die Gesetze werden zwar von Bundestag und Bundesrat beschlossen, sie werden aber zum größten Teil von der Ministerialbürokratie gemacht. Und selbst wenn es im weiteren Gesetzgebungs­ verfahren zu wesentlichen Änderungen kommt (was nicht selbstverständlich ist), bleibt meist zumindest die Struktur und Regelungstechnik des ursprünglichen Entwurfs erhalten.

214

Als exekutive Aufgaben besitzen die jeweiligen Bundesminister bzw. Bundes­ ministerien als oberste Dienst- und Aufsichtsbehörden gegenüber den nachgeord­ neten Dienststellen des Bundes (u. U. aber auch gegenüber Landesverwaltungen) umfassende Weisungsbefugnisse.

215

Gestützt auf Erwägungen der demokratischen Legitimation wird gefordert, dass es grundsätzlich keinen Verwaltungsbereich (des Bundes) ohne Bundes­m inister als Ressortchef geben darf.199 Dies wird gerne mit der plastischen Formel um­ schrieben, innerhalb der Verwaltung dürfe es keine „ministerialfreien Räume“ ge­ 198

Vgl. den Nachweis bei Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 14, Rn. 15. Ibler, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 86 Rn. 57; die Bundestagsverwaltung ist selbst eine oberste Bundesbehörde und untersteht keinem Bundes­ minister. 199

D. Organisationsstruktur

477

ben, in denen Verwaltungstätigkeit ohne ministerielle Kontroll- und Bestimmungs­ befugnisse stattfinden könnte. Bei diesem Verbot ministerialfreier Räume geht es letztlich im Sinne der von Böckenförde geprägten Theorie der Legitimationsketten darum, jede Entscheidung der Verwaltung rückzubinden an einen Minister, der wiederum dem Bundeskanzler und dem Bundestag verantwortlich ist (s. zur parlamentarischen Verantwortlichkeit Rn. 21 ff., 226 ff.). Andernfalls bestehe die Gefahr, dass „unkontrollierte und niemand verantwortliche Stellen Einfluß auf die Staatsverwaltung gewinnen würden“200. Dieses Grundverständnis einer hierarchischen Verwaltungsorganisation, in der alle exekutiven Maßnahmen auf eine Spitze zurückzuführen sind, die einen prinzipiell umfassenden Durchgriff auf alle Einzelentscheidungen hat, wurzelt – trotz der heute demokratietheoretischen Einkleidung – ein Stück weit wohl auch in einer absolutistisch-monarchischen Gedankenwelt, in der die gesamte, ungeteilte Staatsgewalt theoretisch beim Monarchen lag.201

216

Jedenfalls sei erwähnt, dass der Gedanke eines Verbots ministerialfreier Räume in anderen Verfassungsrechtsordnungen nicht so stark betont wird. So gibt es etwa auf der Bundesebene in den USA eine Vielzahl – zum Teil sehr mächtiger – sogenannter „independent agencies“, die keinem „executive department“, also keinem Ministerium unterstellt sind. Auch das Euro­ parecht kennt unabhängige Behörden und fordert – insb. im Bereich des Regulierungsrechts und beim Datenschutz – mitunter die Einrichtung unabhängiger nationalstaatlicher Behörden und gerät so potenziell in Konflikt mit dem deutschen Verfassungsrecht.202

217

Allerdings wird auch im deutschen Verfassungsrecht das Verbot ministerial­ freier Räume nicht absolut gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht betont, es sei „nicht gesagt, daß es keinerlei ‚ministerialfreien Raum‘ auf dem Gebiet der Ver­ waltung geben dürfe und daß von der Regierung unabhängige Ausschüsse für be­ stimmte Verwaltungsaufgaben in jedem Fall unzulässig seien“. Ausnahmen vom so genannten Verbot ministerialfreier Räume bilden jedenfalls die Bundesbank (§ 12 S. 1 BBankG), der Bundesrechnungshof (§ 1 S. 1 BRHG), die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (§ 19 Abs. 4 JuSchG), der Bundesbeauftragte für den Datenschutz (§ 10 BDSG), der Bundespersonalausschuss (§ 119 Abs. 2 BBG), die Vergabekammern beim Bundeskartellamt (§ 157 Abs. 1 GWB) und zum Teil die Bundesnetzagentur203. Faktisch praktiziert, aber rechtlich nicht ausdrücklich gere­ gelt wird die Unabhängigkeit der Beschlussabteilungen beim Bundeskartellamt.204

218

200

BVerfGE 9, 268 (282) – Bremer Personalvertretung. Ausführlich und differenzierter zur Geschichte des hierarchischen Verwaltungsmodells Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 36 ff. 202 Vgl. Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger europäischer und nationaler Agenturen, 2016, S. 30 ff., 50. 203 Deren Unabhängigkeit ist im deutschen Recht nicht ganz deutlich geregelt, ergibt sich aber jedenfalls für den Bereich Strom und Gas aus dem Unionsrecht; s. näher Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger europäischer und nationaler Agenturen, 2016, S. 358 ff. 204 Eingehend zur Unabhängigkeit des Bundeskartellamts aus politikwissenschaftlicher Sicht Döhler, Die politische Steuerung der Verwaltung, 2007, S. 260 ff. 201

478

§ 7 Bundesregierung

Weiterhin sind – vornehmlich auf Landesebene – die Rundfunkanstalten des öf­ fentlich-rechtlichen Rundfunks zu nennen, sowie der Bereich der kommunalen und funktionalen Selbstverwaltung. 219

Bei diesen Ausnahmen fällt auf, dass der Wegfall des Weisungsrechts oft ein­ her geht mit einer Kollegialisierung der entscheidenden Stellen: An die Stelle des weisungsabhängigen, in eine bis zum Minister zu denkende Verwaltungshierarchie eingegliederten Beamten tritt ein – zum Teil betont plural oder sachverständig be­ setztes – Gremium.205 Im Kartell- und Regulierungsrecht findet sich daneben eine justizförmige Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens.206 Für den Bereich der Selbstverwaltung sind ausgeprägte binnendemokratische Strukturen typisch. Die Verfassungsmäßigkeit ministerialfreier Räume hängt maßgeblich davon ab, ob der Wegfall der Legitimationskette zur Regierung ausreichend durch andere Legitimationsmechanismen kompensiert wird. b) Stellvertretung der Bundesminister

220

Zur Vertretung der Bundesminister findet sich keine Regelung im Grund­ gesetz. Zumindest gibt es eine Regelung in der Geschäftsordnung der Bundesregie­ rung, nämlich in § 14 GOBReg, die allerdings wenig geglückt ist. Im Wesentlichen sind dabei zwei Fälle zu unterscheiden: Die Vertretung durch Ministerkollegen und die Vertretung durch (beamtete oder Parlamentarische) Staatssekretäre.

221

Die Stellvertretung durch einen Ministerkollegen erfolgt gem. § 14 Abs. 1 GO­ BReg „in der Regierung“, während die Staatssekretäre nach § 14 Abs. 3 GOBReg als Stellvertreter des Ministers in seiner Funktion „als Leiter einer obersten Bundesbehörde“ zum Zuge kommen. Die genauen Anwendungsbereiche dieser zwei Arten der Stellvertretung sind unklar. Der Wortlaut legt nahe, dass die Abgrenzung danach zu erfolgen hat, ob der Gegenstand der Vertretung gubernativen oder administrativen Charakter hat. Dieses Begriffspaar hat zwar seine Berechtigung bei der (deskriptiven) Beschreibung der Doppelrolle der Bundesminister (s. Rn. 212 ff., 325 ff.), ist aber so unscharf, dass man damit nur schwer (Stellvertretungs-)Zustän­ digkeiten (normativ) von einander abgrenzen kann. Als Abgrenzung klarer wäre eine Unterscheidung zwischen Stellvertretung im Innenbereich und Stellvertretung nach außen.207 Den Staatssekretären obläge dann die „hausinterne“ Ver­ tretung, d. h. die Stellvertretung bei Angelegenheiten, deren unmittelbare Wirkung sich auf den Innenbereich des jeweiligen Ministeriums und der nachgelagerten Behörden beschränkt (z. B. Erteilen von Weisungen, Personalfragen, interne Or­ 205 Eine Typologie kollegialer Verwaltungsstrukturen und ihrer Funktionen findet sich bei Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltung, 1999, S. 63 ff., 105 ff. 206 Vgl. etwa §§ 54 ff. GWB, §§ 65 ff. EnWG. 207 Vgl. etwa Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 62 Rn. 27 ff.; ders., in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 65a Rn. 70 f., der zwischen „interner“ und „externer“ Stellvertretung unterscheidet.

D. Organisationsstruktur

479

ganisationsfragen). Zur Vertretung durch die Ministerkollegen käme es hingegen für Angelegenheiten, die den Innenbereich des jeweiligen Ressorts verlassen (etwa Gegenzeichnung einer Maßnahme des Bundespräsidenten, Erlass einer Rechtsver­ ordnung, Erlass eines Verwaltungsakts o. ä.). Eine Ausnahme von der Stellvertretung durch einen Ministerkollegen regelt § 14 Abs. 2 GOBReg, nach dem für Erklärungen vor dem Bundestag, dem Bundesrat und in Sitzungen der Bundesregierung die Stellvertretung durch den Parla­ mentarischen Staatssekretär (in Einzelfällen auch den beamteten Staatssekretär) erfolgt. Dies ist aber mit Vorsicht zu genießen: Bei Äußerungen im Zusammenhang mit dem Zitier- und Fragerecht nach Art. 43, 53 GG müssen sich der Bundestag bzw. der Bundesrat nicht auf einen Parlamentarischen Staatssekretär verweisen lassen.208 Ebenso wenig ist wegen Art. 62 GG die Stimmabgabe im Kabinett hierunter zu fassen, d. h. die Stimme eines verhinderten Ministers im Kabinett wird nicht durch einen seiner Staatssekretäre, sondern durch den zur Vertretung zuständigen Ministerkollegen abgegeben.209

222

Liegt ein Fall der Vertretung durch einen Ministerkollegen nach § 14 Abs. 1 GOBReg vor, so ist im Weiteren zu bestimmen, welcher Minister der Stellvertreter ist. Eine entsprechende Regelung trifft die Bundesregierung in der Staatspraxis jeweils nach der Regierungsbildung durch einen gemeinsamen Beschluss, der im Bundesanzeiger veröffentlicht wird.210 Dabei werden jeweils zwei Ressorts ein­ ander gegenseitig zur Vertretung zugeordnet.211 Die Frage, inwieweit der vertre­ tende Minister an die inhaltlichen Vorgaben des vertretenen Ministers gebunden ist, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet.212

223

Die Regelung in der Geschäftsordnung zur Stellvertretung durch einen Staatssekretär geht davon aus, dass es einen beamteten und einen Parlamentarischen Staatssekretär gibt. Soweit die Staatssekretäre zur Vertretung berufen sind, wird

224

208 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 69 Rn. 25 f.; Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 69 Rn. 28.2; Natürlich kann sich aber der Bundestag oder der Bundesrat damit einverstanden erklären, dass „nur“ ein Parla­ mentarischer Staatssekretär für einen verhinderten Minister Rede und Antwort steht. 209 Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 267 f.; Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 3. Aufl. 2018, § 14 Rn. 7; Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 69 Rn. 28.2. 210 Vgl. etwa für die im März 2018 gebildete Regierung Merkel / Scholz BAnz AT 16.03.2018 B1. 211 Falls beide einander zugeordneten Minister verhindert sind, greift eine Auffangregelung: „Ist das nach dieser Regelung zur Vertretung berufene Mitglied der Bundesregierung eben­ falls verhindert, nimmt das in der Dienstaltersliste auf den zu Vertretenden folgende Mit­ glied die Vertretung wahr. Ist jedoch ein dienstjüngeres Mitglied nicht vorhanden oder nicht erreichbar, so übernimmt die Vertretung das jeweils erreichbare Mitglied mit dem gegenüber dem zu Vertretenden nächsthöheren Dienstalter.“ (Kabinettsbeschluss v. 16.3.2018, BAnz AT 16.03.2018 B1.) 212 Für eine Weisungsabhängigkeit des Stellvertreters Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 62 Rn. 28.1; dagegen Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 268; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 69 Rn. 34.

480

§ 7 Bundesregierung

diese (grundsätzlich umfassend)  dem beamteten Staatssekretär zugewiesen, es sei denn, sie fällt in den Aufgabenbereich des Parlamentarischen Staatssekretärs oder dieser wurde im Einzelfall dazu bestimmt (§ 14 Abs. 3 GOBReg; in Abs. 2 sind die Rollen von Parlamentarischem und beamtetem Staatssekretär genau um­ gekehrt). Da viele Bundesministerien inzwischen mehr als einen beamteten und einen Parlamentarischen Staatssekretär haben, läuft die darin angelegte Auffang­ zuständigkeit oder Zuständigkeitsvermutung „des“ beamteten (bzw. Parlamentari­ schen) Staatssekretärs ins Leere. Zuständig ist schlicht der Staatssekretär (ob nun Parlamentarisch oder beamtet), in dessen Zuständigkeitsbereich die Angelegen­ heit nach der internen Zuständigkeitsverteilung des Ministeriums fällt (oder der ggf. im Einzelfall vom Minister zur Stellvertretung angewiesen wurde). Die innere Organisation der Ministerien, also auch die Zuständigkeitsverteilung unter den Staatssekretären, ist nach dem Ressortprinzip grundsätzlich Sache der jewei­ ligen Minister (s. Rn. 310 ff.). 225

Da Staatssekretäre ohnehin generell an die Weisungen ihres Ministers gebunden sind, ist ihre Weisungsgebundenheit im Vertretungsfall selbstverständlich.213 c) Verhältnis zum Parlament

226

Die Bundesminister sind nicht unmittelbar vom Vertrauen des Bundestags abhängig.214 Denn das Parlament kann – anders als unter der Weimarer Reichs­ verfassung (Art. 54 S. 2 WRV) – nach der Konstruktion des Grundgesetzes nur den Bundeskanzler (s. Rn. 120 ff.), aber nicht einzelne Minister aus dem Amt entfernen. Auch das Instrument der Ministeranklage (s. Rn. 25 f.), mit dem einzelne Minister zumindest wegen bestimmter Rechtsverstöße aus dem Amt entfernt werden konn­ ten, wurde nicht ins Grundgesetz übernommen.

227

Das heißt aber nicht, dass die Minister gar nicht dem Parlament verantwortlich wären. Insbesondere muss jeder Minister nach Art. 43 Abs. 1 GG dem Bundestag Rede und Antwort stehen (Zitations- und Interpellationsrecht des Bundestags, s. a. § 2 Rn. 96 ff.). Darauf basiert die insbesondere für die Oppositionsarbeit wich­ tige Möglichkeit kleiner und großer Anfragen (§§ 100 ff. GOBT). Ferner können Angelegenheiten aus dem Ressort eines Ministers zum Gegenstand eines Untersuchungsausschusses gemacht werden (Art. 44 GG, dazu § 2 Rn. 443 ff.). Daneben bestehen andere Möglichkeiten des Bundestags, politischen Druck auf einzelne Bundesminister auszuüben, z. B. durch öffentliche Äußerungen von Abgeordneten oder Missbilligungs-, Tadels- und Entlassungsanträge215 gegen einen Minister. 213

Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 269. Vgl. zur Verantwortlichkeit auch Wuttke, Die Verantwortlichkeit von Regierungsmitglie­ dern in Deutschland und Frankreich, 2006, S. 6 f. 215 Dabei handelt es sich um Anträge, durch Beschluss des Bundestags das Verhalten eines Bundesministers zu missbilligen, ihn zu tadeln oder vom Bundeskanzler seine Entlassung zu fordern. Rechtliche Folgen hat all das nicht, politisch wäre eine förmlich als Mehrheits­ 214

D. Organisationsstruktur

481

Vor allem aber ist zu betonen, dass faktisch wegen der Abhängigkeit des Bundes­ kanzlers vom Vertrauen des Bundestags auch eine mittelbare Verantwortlichkeit der Bundesminister entsteht. Weigert sich der Bundeskanzler aber beharrlich, die Entlassung eines Ministers zu veranlassen und will der Bundestag dennoch dessen Amtsende erzwingen, ist er verfassungsrechtlich auf den Sturz der ganzen Regie­ rung, also auf ein Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler angewiesen.

228

d) Verfassungsgarantierte Bundesminister aa)  Übersicht. Durch die Zuweisung bestimmter Befugnisse verleihen das Grundgesetz und die Geschäftsordnung der Bundesregierung einzelnen Ministern besondere Aufgaben. Solche „Vorzugsrechte“216 sind vor allem die Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers in Art. 65 a GG sowie die Wider­ spruchsbefugnis des Finanz-, Innen- und Justizministers nach § 26 GOBReg. Dabei handelt es sich aber nur um ein aufschiebendes (suspensives) Veto, das überstimmt werden kann (mit strengerem Mehrheitserfordernis).

229

Liegen die Ausübung der Organisationsgewalt und der (materiellen) Personalgewalt über die Bundesregierung grundsätzlich im freien Ermessen des Bundes­ kanzlers (s. Rn. 71 ff.), so ergeben sich hinsichtlich derjenigen Bundesminister, die in der Verfassung erwähnt und damit garantiert sind (Finanzen, Verteidigung, Justiz) doch Beschränkungen in Form einer Existenzgarantie. Die Reichweite dieser Beschränkung der Organisationsgewalt hängt davon ab, ob man diese ver­ fassungsgarantierten Ministerien in einem formellen oder in einem funktionalen Sinne versteht. Im ersten Fall wäre der Bundeskanzler gezwungen, die entspre­ chenden Ministerien nicht nur zu schaffen, sondern sie auch gemäß der verfas­ sungsrechtlichen Vorgabe zu bezeichnen. Im zweiten Falle würde es ausreichen, wenn der Bundeskanzler dafür Sorge trägt, dass die genannten Befugnisse von einem Minister wahrgenommen werden. Letzteres dürfte verfassungsrechtlich ausreichen.

230

Die Nennung im Grundgesetz bedeutet insoweit eine Einschränkung der Or­ ganisations- bzw. Personalgewalt des Bundeskanzlers, als er diese Ressorts nicht ersatzlos auflösen und nicht unbesetzt lassen darf. Falls eines dieser besonde­ ren Ressorts unbesetzt bleibt, kann im Zweifel der Bundespräsident nach Art. 69

231

beschluss festgehaltene Missbilligung aber wohl von großem Gewicht. Entsprechende Anträge werden in der Staatspraxis zwar gelegentlich gestellt (bis 2010: 0–6 Anträge pro Legislatur­ periode), wurden aber nie mit Mehrheit vom Bundestag beschlossen (vgl. zur Statistik Feldkamp, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1990 bis 2010, S. 611 ff., 1620 ff. (Kap. 6.15 und 23), auch online abrufbar unter https://www.bundestag.de/dokumente/ parlamentsarchiv/datenhandbuch (zuletzt abgerufen am 19.8.2020)). 216 Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983; Schröder, in: Isensee / Kirchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 64, Rn. 23.

482

§ 7 Bundesregierung

Abs. 3 GG einen geschäftsführenden Minister dafür berufen (s. o. 174). Ferner folgt aus der Nennung im Grundgesetz, dass diese Ressorts nicht „auseinandergerissen“ werden dürfen, d. h. etwa es können keine separaten Ministerien für die Teil­ streitkräfte der Bundeswehr oder für Steuern bzw. Haushalt geschaffen werden.217 Hingegen folgt aus der Existenzgarantie grundsätzlich kein Verbot der Zusammenlegung mit anderen Ressorts (z. B. Finanz- und Wirtschaftsministerium oder Innen- und Justizministerium).218 232

bb) Bundesfinanzminister. Dem politisch traditionell wichtigen Bundesfinanz­ minister kommt eine herausgehobene Rolle vor allem im Finanz- und Haushaltsverfassungsrecht zu.219 So modifiziert Art. 108 Abs. 3 GG in verwaltungs­ organisatorischer Hinsicht die Regelungen des Art. 85 Abs. 3 und 4 GG. Soweit demnach die Landesfinanzbehörden in Bundesauftragsverwaltung tätig sind, kann der Bundesfinanzminister anstelle der Bundesregierung im Rahmen der Bundes­ aufsicht Bericht und Vorlage der Akten verlangen und Beauftragte zu allen Fi­ nanzbehörden entsenden (Art. 85 Abs. 4 S. 2 GG) bzw. in für dringend befunden Fällen veranlassen, dass Weisungen auch an nachgeordnete Landesbehörden erteilt werden (Art. 84 Abs. 3 S. 2 GG).

233

Darüber hinaus bedürfen überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben nach Art. 112 S. 1  GG der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen.220 Diese Zuständigkeit ist aber in Beziehung mit Art. 65 GG (dazu Rn. 296 ff.) zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat das in einer Entscheidung aus dem Jahr 1977 getan und die in Art. 112 S. 1 GG angelegte Sonderrolle des Bundesfinanzmi­ nisters eher relativiert: Laut Bundesverfassungsgericht ergibt sich aus Art. 112 GG „keine Kompetenz, die die Kompetenz des kollegialen Verfassungsorgans Bun­ desregierung und die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 65 GG) zu beeinträchtigen imstande wäre.“221

234

Gewisse Einschränkungen der Prinzipien aus Art. 65 GG erkennt das Bundesverfassungs­ gericht dann aber wohl doch an, wenn es etwa ausführt: „Die Bundesregierung kann […] den Bundesminister der Finanzen in keinem Fall ‚zwingen‘, d. h. mit rechtlicher Bindungswirkung anweisen, einer Ausgabe im Wege des Art. 112 GG zuzustimmen“222. Denn soweit über die Verweigerung der Zustimmung Streit mit dem betroffenen Fachminister entsteht, läge die Entscheidung darüber nach dem Kabinettsprinzip (Art. 65 S. 3 GG, dazu unten Rn. 315 ff.) eigentlich bei der Bundesregierung als Kollegialorgan. Ob der Finanzminister auch nicht vom 217

Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Bundesregierung, 2. Aufl. 1998, S. 200 f. 218 Zur vormals beabsichtigten Zusammenlegung von Innen- und Justizministerium in NRW s. o. Rn. 78. Zu betonen ist, dass auch die dazu ergangene und in der Literatur viel kritisierte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen kein Verbot der Zusammenlegung postulierte, sondern nur einen Gesetzesvorbehalt. 219 Vgl. dazu ausführlich Seikel, DÖV 2000, 525 ff. 220 Vgl. Kloepfer, VerfR I, § 26 Rn. 294 ff.; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 14, Rn. 15 ff. 221 BVerfGE 45, 1 (47) – Haushaltsüberschreitung. 222 BVerfGE 45, 1 (49) – Haushaltsüberschreitung.

D. Organisationsstruktur

483

Bundeskanzler im Rahmen von dessen Richtlinienkompetenz zur Erteilung der Zustimmung gezwungen werden kann,223 erörtert das Bundesverfassungsgericht nicht. Die Sonderstellung des Finanzministers wird vom Bundesverfassungsgericht aber auch ganz entscheidend eingeschränkt, wenn dieses die Erteilung der Zustimmung von der Zu­ stimmung der Bundesregierung als Kollegialorgan abhängig macht, sofern es um Ausgaben von erheblichem Umfang geht.224 In der Literatur wird dies als nicht mit dem Willen des Ver­ fassungsgebers vereinbar kritisiert.225

235

Der besonderen Berechtigung im Haushaltswesen entspricht die in Art. 114 Abs. 1 GG niedergelegte Verpflichtung des Bundesfinanzministers, dem Bundes­ tag und dem Bundesrat über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Ver­ mögen und die Schulden im Laufe des nächsten Rechnungsjahres zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung zu legen.

236

cc) Bundesverteidigungsminister. Der Bundesminister für Verteidigung wird in Art. 65a GG ausdrücklich erwähnt. Demnach hat er die Befehls- und Kommando­ gewalt über die Streitkräfte, allerdings nur zu Friedenszeiten. Ist dagegen der Ver­ teidigungsfall im Verfahren nach Art. 115a GG festgestellt worden, geht die Be­ fehls- und Kommandogewalt gemäß Art. 115b GG auf den Bundeskanzler über. Aus dem Zusammenhang beider Vorschriften folgt zugleich, dass es dem Bundes­ kanzler während Friedenszeiten verboten ist, das Bundesministerium für Verteidi­ gung selbst zu führen.226 Die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte umfasst alle mit der Führung und Organisation der Streitkräfte zusammen­ hängenden Angelegenheiten, soweit sie den spezifisch militärischen Sachbereich (im Unterschied zum Wehrverwaltungsbereich) betreffen.227

237

Die Inkompatibilitätsvorschrift des Art. 66 GG verbietet, dass der Bundesminis­ ter für Verteidigung zugleich aktiver Soldat ist. Deshalb, aber auch aus allgemei­ nen verfassungspolitischen und historischen Gründen, spielen in der Bundesrepu­ blik Deutschland im Gegensatz zu anderen Staaten aktive Soldaten bisher kaum eine nennenswerte Rolle in der Politik.

238

dd)  Bundesjustizminister. Ausdrückliche Erwähnung im Grundgesetz findet schließlich auch der Bundesjustizminister. In seinen Geschäftsbereich fallen ge­ mäß Art. 96 Abs. 2 S. 4 GG Wehrstrafgerichte, die der Bund für die Streitkräfte als Bundesgerichte errichten kann. Insgesamt wird hier nur eine Randzuständigkeit des Bundesjustizministers in der Verfassung erwähnt. Weitaus wichtigere Funk­

239

223

Ablehnend Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 14, Rn. 20. BVerfGE 45, 1 (47 ff.) – Haushaltsüberschreitung. 225 Kube, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 112 Rn. 68 m. w. N.; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, § 14, Rn. 23. 226 Epping, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 65a Rn. 16 m. w. N. Demgegenüber kam nach Art. 47 WRV dem Reichspräsidenten der Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reichs zu, ähnlich wie schon zuvor dem Kaiser nach Art. 63 Abs. 1 RV 1871. Insofern äußert sich wieder einmal die Rolle des Reichspräsidenten als „Ersatz­kaiser“ (s. a. § 5 Rn. 12). 227 Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 65a, Rn. 9 u. 11. 224

484

§ 7 Bundesregierung

tionen des Bundesjustizministers sind: die Vorbereitung von Justizgesetzen, die verfassungsrechtliche (§ 26 Abs. 2 GOBReg, § 45 Abs. 1 S. 3 GGO) und legistische (§§ 42 Abs. 5 S. 3, 46 GGO) Prüfung von Gesetzes- und Verordnungsentwürfen, sowie der Einfluss in den Bundesrichterwahlen (Art. 95 Abs. 2 GG)228 einschließ­ lich der Dienstaufsicht über die obersten Gerichtshöfe des Bundes. 240

Interessant ist, dass auch die Landesjustizminister im Grundgesetz ausdrücklich genannt werden. Nach Art. 98 Abs. 4 GG können die Länder bestimmen, dass über die Anstellung der Richter in den Ländern der Landesjustizminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss entscheidet. Inwieweit das Kabinettbildungsrecht der Ministerpräsidenten dadurch beschränkt wird, ist umstritten.

V. Sonstige Beteiligte 1. Übersicht 241

Die Bundesregierung als Kollegialorgan ist personell durch Art. 62 GG ab­ schließend beschrieben: Sie besteht nur aus dem Bundeskanzler und den Bundes­ ministern. Neben den Regierungsmitgliedern im engeren Sinne wirken aber an der Regierungsarbeit auch eine Vielzahl sonstiger Beteiligter mit. Unmittelbar unter der Ebene der Regierungsmitglieder sind das zunächst die Staatssekretäre. Bei diesen ist zu differenzieren zwischen der hergebrachten Position des beamteten Staatssekretärs und den vergleichsweise neueren Parlamentarischen Staatssekretären, welche die Minister vor allem in der gubernativen Dimension ihres Amts unterstützen sollen. Eher symbolischer Natur – und begrifflich verwirrend – ist das Recht mancher Parlamentarischer Staatssekretäre, sich Staatsminister zu nennen (s. u. Rn. 256 ff.).

242

Unterhalb der Staatssekretäre öffnet sich das breite Feld der Ministerialbürokratie des Bundes. Mit fast 19.700 Beschäftigten229 ist sie gewissermaßen das Rückgrat der Bundesregierung, das beileibe nicht nur administrativ tätig ist, son­ dern ohne dessen Zuarbeit auch die gubernative Arbeit der Regierungsmitglieder nicht vorstellbar wäre. Daneben wurden über die Jahrzehnte immer mehr Beauftragte und Beratungsgremien der Bundesregierung geschaffen. 228

Dort findet der Bundesjustizminister allerdings keine Erwähnung, sondern nur der „zu­ ständige Bundesminister“. Derzeit liegt in der Ressortzuständigkeit des Bundesjustizministers der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesfinanzhof. Für das Bun­ desarbeitsgericht und das Bundessozialgericht ist der Bundesminister für Arbeit und Soziales zuständig (s. a. Kloepfer, Verfassungsrecht, § 23 Rn. 59 f.). 229 Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin-Umzug und den BonnAusgleich zum Sachstand der Umsetzung des Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands vom 26. April 1994 (Berlin / Bonn-Gesetz), 2017, Anlage 6, S. 39. https://www.bmu.de/fileadmin/ Daten_BMU/Download_PDF/Gesetze/berlin-bonn_statusbericht_bf.pdf (zuletzt abgerufen am 19.8.2020).

D. Organisationsstruktur

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2. Staatssekretäre und Staatsminister a) Beamtete Staatssekretäre Beamtete Staatssekretäre sind die ranghöchsten Beamten in ihrem Ministe­ rium. Sie gehören zu den traditionellen Strukturen von Ministerien und dienen einerseits dazu, unterhalb der politischen Spitze dem Ministerium als Verwaltungs­ organisation eine Führungskraft zu geben. Wegen ihrer herausgehobenen Stellung und ihrer Rolle als Vertreter des Ministers (§ 14 Abs. 3 GOBReg, s. o. Rn. 224) sind sie andererseits auch stark in die politischen Funktionen des Ministers einge­ bunden – auch wenn diese Rolle grundsätzlich heute eher dem Parlamentarischen Staatssekretär zukommen soll (s. u. Rn. 246).

243

Entsprechend der Stellung als Beamte pflegen die beamteten Staatssekretäre in Rhetorik und Sprachgebrauch meist ein vorsichtigeres und „technokratischeres“ Auftreten als die Minister und die Parlamentarischen Staatssekretäre. Das ermöglicht ihnen, auch die Nachfolger im Ministeramt glaubwürdig zu unterstüt­ zen.230 Gleichwohl ist die Position des beamteten Staatssekretärs so wichtig und so politisch, dass häufig mit dem Ministerwechsel auch die beamteten Staatsse­ kretäre gegen Personal ausgetauscht werden, das fachlich, politisch und persön­ lich das Vertrauen des neuen Ministers genießt (oder jedenfalls das „passende“ Parteibuch mitbringt). Möglich ist das, weil beamtete Staatssekretäre gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 BBG als sogenannte politische Beamte jederzeit in den einst­ weiligen Ruhestand versetzt werden können.

244

Die Stellung des (beamteten) Staatssekretärs existiert nicht nur in den Ministerien. In der Bundesregierung gibt es sie auch im Bundeskanzleramt (teilweise war auch der Chef des Bundeskanzleramts beamteter Staatssekretär, s. o. Rn. 209 ff.) sowie im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Außerhalb der Regierung stehen auf Bundesebene auch der Direktor beim Bundestag (Chef der Bundestagsverwaltung), der Direktor des Bundesrats und der Chef des Bundespräsidialamts im Rang eines (beamteten) Staatssekretärs.

245

b) Parlamentarische Staatssekretäre Parlamentarische Staatsekretäre sind regelmäßig Berufspolitiker (fast immer Bundestagsabgeordnete) und dienen vorrangig dazu, die politische Vernetzung des Ministeriums insb. im Parlament zu pflegen und zu verbessern. Eingeführt wurden sie 1967 durch das (1974 neu gefasste) Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre (ParlStG).231 230 Mit gewissen Abstrichen noch heute zutreffend die Beschreibung bei Wahl, Stellvertre­ tung im Verfasungsrecht, 1971, S. 218 ff. 231 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre (ParlStG) v. 24.7.1974 (BGBl. I, S. 1538), zul. geänd. d. G. v. 17.7.2015 (BGBl. I, S. 1322). Dieses löste das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der parlamentarischen Staatsekretäre v. 6.4.1967 (BGBl. I, S. 396) ab.

246

486

§ 7 Bundesregierung

247

Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Regelung über Parlamentarische Staatssekretäre. Bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat war die Frage, ob man neben beamteten auch Parlamentarische Staatssekretäre schaffen sollte, streitig232 und blieb unentschieden. Die Parlamentarischen Staatssekretäre werden jedoch in der Rechtswissenschaft als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen.233

248

Personalpolitisch dienen sie auch dazu, „Beförderungsposten“ für Abgeord­ nete zu schaffen (wie z. B. auch Ausschussvorsitzende, herausgehobene Stellun­ gen in den Fraktionen etc.). Dies kommt im Weitblick dem jüngeren politischen Führungsnachwuchs zugute, der so die Chance erhält, sich zu profilieren und zu bewähren. Oft dienen derartige Beförderungsposten aber auch als Verhand­ lungs- und Rangiermasse für personalpolitische „Deals“ oder als Abstellgleis für verdiente Abgeordnete ohne größere politische Zukunft. Bedauerlich ist die mit den Parlamentarischen Staatssekretären verbundene Bürokratieaufblähung, die Schwächung der beamteten Staatssekretäre, die Verfestigung der demokratiefernen Prestige-Suprematie der Regierung und vor allem die neuerliche Durchbrechung der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung (s. a. Rn.  356 f.). Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zeigt, dass die Existenz von Parlamentarischen Staatssekretären nicht unverzichtbar ist. Das werden die Betroffenen aber wahrscheinlich anders sehen.

249

Die Parlamentarischen Staatssekretäre müssen gemäß § 1 Abs. 1 Hs. 2 ParlStG grundsätzlich Mitglieder des Bundestages sein. Eine Ausnahme gilt nur für Par­ lamentarische Staatssekretäre beim Bundeskanzler (sog. „lex Naumann“).234 Zu den Aufgaben der Parlamentarischen Staatssekretäre, die gemäß § 14a GOBReg im Einzelnen durch den jeweiligen Bundesminister festgelegt werden, gehört ins­ besondere die Vertretung des Bundesministers vor dem Bundestag, dem Bundesrat und in den Sitzungen der Bundesregierung (§ 14 Abs. 2 GOBReg, dazu näher Rn. 224). Parlamentarische Staatssekretäre arbeiten also vornehmlich an der Schnittstelle zwischen dem Bundestag einerseits und der Bundesregierung anderer­ seits. Daraus erklärt sich die grundsätzliche Koppelung an ein Bundestagsmandat. 232

Vgl. Klein, DÖV 1965, 862; Schäfer, DÖV 1969, 38. Vgl. v. Münch, Die Bundesregierung, 1954, S. 200 ff.; Partsch, VVDStRL 16 (1958), 105; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 232 ff.; Laufer, Der Parlamentarische Staatssekretär, 1969, S. 21 ff., 27 ff.; Statt, Die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre, 1970, S. 21 ff. 234 Um den vom damaligen Bundeskanzler Schröder favorisierten Michael Naumann – der kein Bundestagsmandat innehatte  – zum Kulturbeauftragten des Bundes im Range eines parlamentarischen Staatssekretärs machen zu können, wurde § 1 Abs. 1 ParlStG um eine ent­ sprechende Ausnahme für Parlamentarische Staatssekretäre beim Bundeskanzler ergänzt; vgl. näher Luy, Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, 2019, S. 91 f. Diese Änderung wirft zwar sowohl im Hinblick auf die in solchen Fällen irreführende Bezeichnung „Parlamentarischer Staatssekretär“ als auch hinsichtlich des in Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG nor­ mierten Verbots des Einzelfallgesetzes verfassungsrechtliche Fragen auf, ist letztlich aber als verfassungsgemäß einzustufen. 233

D. Organisationsstruktur

487

In theoretischer wie in praktischer Hinsicht kann die Zuständigkeitsverteilung zwischen den beamteten und den Parlamentarischen Staatssekretären streitig werden. Letztlich ist das Sache des Ministers, aus dessen Ressortkompetenz auch die Organisationsgewalt über sein Ministerium folgt. Der Minister legt die Zuständigkeitsverteilung in seinem Ministerium abstrakt fest. Im Fall konkreter Streitigkeiten über die hausinterne Zuständigkeit kann er ein­ zelfallbezogen entscheiden oder etwa auch die abstrakte Zuständigkeitsverteilung klarstellend nachjustieren. Grundidee ist aber, dass den beamteten Staatssekretären eine umfassende Zu­ ständigkeit für das ganze Ministerium oder (im Fall mehrerer beamteter Staatssekretäre pro Ministerium) einen großen Teil des Ministeriums zukommt, die insbesondere ein umfassendes Weisungsrecht einschließt. Demgegenüber sollen die Parlamentarischen Staatssekretäre nur in besonders zugewiesenen Aufgabenfeldern tätig werden (vgl. § 14a GOBReg), und zwar vorwiegend im politischen Bereich.235

250

Parlamentarische Staatssekretäre werden – auf Vorschlag des Bundeskanzlers in Einvernehmen mit dem zuständigen Minister – vom Bundespräsidenten ernannt (§ 2 ParlStG). Bei ihrer Ernennung haben sie vor dem zuständigen Mitglied der Bundesregierung gemäß § 3 ParlStG einen Eid zu leisten, der dem Wortlaut des Art. 56 GG entspricht. Die Parlamentarischen Staatssekretäre stehen zum Bund in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis (§ 1 Abs. 3 ParlStG), sind aber keine Beamten.

251

Das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs ist doppelt akzessorisch: Es ist nach § 4 ParlStG sowohl an das Amt des jeweiligen Bundesministers als auch an das eigene Bundestagsmandat gekoppelt. Entfällt eines der beiden, so endet das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs grundsätzlich ipso iure. Allerdings können Parlamentarische Staatssekretäre auch unter einem geschäftsführenden Minister im Amt bleiben, sofern sie nicht (etwa durch Zusammentritt eines neuen Bundestags nach Neuwahlen) ihr Bundestagsmandat verloren haben (vgl. § 4 S. 3, 4 ParlStG).

252

Parlamentarische Staatssekretäre können gemäß § 4 S. 1 ParlStG jederzeit entlassen werden und jederzeit zurücktreten. Der Rücktritt ist (ähnlich dem Mi­ nisterrücktritt, s. o. Rn. 170) rechtlich konstruiert als Ersuchen gegenüber dem Bundeskanzler, im Einvernehmen mit dem jeweiligen Bundesminister dem Bun­ despräsidenten die Entlassung vorzuschlagen. Zu einem Amtsende führt ferner der Tod des Amtsinhabers. Andere Gründe in der Person des Parlamentarischen Staatssekretärs (z. B. familienrechtliche Bestellung eines Betreuers infolge ein­ geschränkter Geschäftsfähigkeit) führen dann zum Amtsende, wenn sie auch zu einem Entfall des Abgeordnetenmandats führen (vgl. § 46 BWahlG und dort insb. Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. §§ 13,15 BWahlG). Dieser Mechanismus greift allerdings nicht, wenn ein Parlamentarischer Staatssekretär gar kein Abgeordnetenmandat hat. In diesem Fall ist im Wege der Analogie die gleiche Rechtsfolge herzustellen (d. h. Amtsende eines Parlamentarischen Staatssekretärs bei Gründen, die auch ein hypothetisches Abgeordnetenmandat entfallen lassen würden).

253

235

Vgl. dazu auch Wahl, Der Staat 8 (1969), 327 (333 f.).

488

§ 7 Bundesregierung

254

Parlamentarische Staatssekretäre sind  – ebenso wie die beamteten Staatsse­ kretäre – keine Kabinettsmitglieder. Die Legaldefinition der Bundesregierung in Art. 62 GG schließt aus, dass Parlamentarische Staatssekretäre Mitglieder der Regierung sein können, wenn sie keine Bundesminister sind.236 Ihnen kann ein Recht zur Teilnahme an Kabinettssitzungen, keinesfalls aber ein Stimmrecht ein­ geräumt werden.

255

Stets sind die Parlamentarischen Staatssekretäre weisungsgebunden: Art. 65 S. 2 GG und das grundsätzliche Verbot „ministerialfreier Räume“ (s. o. Rn. 215 ff.) schließen aus, dass die Parlamentarischen Staatssekretäre innerhalb des einem Bundesminister zustehenden Geschäftsbereichs nichtweisungsgebundene selbstän­ dige Aufgaben haben, denn für diese Aufgaben könnte sonst der Minister nicht die Verantwortung gegenüber dem Bundeskanzler und dem Bundestag übernehmen. c) Staatsminister

256

Will der Bundeskanzler einen Parlamentarischen Staatssekretär in besonderer Weise hervorheben, kann er – gegebenenfalls im Einvernehmen mit dem zustän­ digen Bundesminister – dem Bundespräsidenten vorschlagen, dem Betroffenen für die Dauer seines Amtsverhältnisses oder für die Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe das Recht zu verleihen, die Bezeichnung „Staatsminister“ zu führen (§ 8 ParlStG). Praktisch wird vor allem den Parlamentarischen Staatssekretären im Bundeskanzleramt sowie im Auswärtigen Amt dieses Privileg zugestanden, wohl aufgrund ihrer vielfältigen internationalen und repräsentativen Verpflichtungen.237

257

Die Bezeichnung als „Staatsminister“ kann zur symbolischen Zurücksetzung des beamteten Staatssekretärs führen, der eben kein „Minister“ ist. Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch bei Staatsministern („nur“) um Parlamentarische Staatssekretäre handelt. Das bedeutet zweierlei: Zum einen sind auch Staatsminister weisungsabhängig, zum anderen gehören sie nicht zur Bundesregierung und sind in dieser deshalb auch nicht stimmberechtigt.

258

Das Recht, sich Staatsminister zu nennen, endet mit dem Amt des Parlamenta­ rischen Staatssekretärs bzw. ggf. mit Erledigung der „bestimmten Aufgabe“, für die es eingeräumt wurde. Zur Aufhebung dieses Rechts verhält sich § 8 ParlStG im Übrigen nicht. Weil aber schon das zugrunde liegende Amt als Parlamentari­ scher Staatssekretär jederzeit beendet werden kann (§ 4 S. 1 ParlStG), ist erst recht

236 Anders bspw. nach Art. 43 Abs. 2 LV-Bay, der den Staatssekretären Sitz und Stimme in der Staatsregierung verleiht. 237 Busse, ParlStG, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 1. In der 2018 gebildeten Bundesregierung Merkel  / ​ Scholz wurde den vier Parlamentarischen Staatssekretären im Bundeskanzleramt sowie den drei Parlamentarischen Staatssekretären im Auswärtigen Amt das Recht verliehen, die Be­ zeichnung „Staatsminister“ zu führen, vgl. BAnz AT 16.03.2018 B1.

D. Organisationsstruktur

489

davon auszugehen, dass auch das Recht, sich Staatsminister zu nennen, jederzeit entzogen werden kann.238 3. Ministerialbürokratie Dem jeweiligen Minister untersteht sein Ministerium mit dem nachgeordneten Verwaltungsunterbau. Die Größe des Hauses hängt vom Ressort und dem Um­ fang der Verwaltungsaufgaben ab sowie von der organisatorischen Frage, welche Aufgaben in nachgeordnete Behörden ausgegliedert werden. Kleinere Ressorts wie Justiz, Gesundheit oder Familie haben ca. 700–900 Mitarbeiter, am größten sind das Auswärtige Amt (ca. 12.000 Beschäftigte239) und das Verteidigungsministe­ rium (ca. 2.500 Beschäftigte, ohne Soldaten). Sehr unterschiedlich sind auch die Haushalte der Ministerien. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat seit langem den größten Etatansatz, darauf folgen das Verteidigungsministerium und das Verkehrsministerium.240

259

An der Spitze des Ministeriums steht – wie erwähnt – der Minister. Der lau­ fende Verwaltungsbetrieb wird vom beamteten Staatssekretär geleitet, während der Parlamentarische Staatssekretär insbesondere die Verbindung zum Parlament wahrnimmt, so weit ihm nicht andere Aufgaben übertragen worden sind. Intern gliedert sich das Ministerium in Abteilungen, Unterabteilungen und Referate.

260

Die Ministerialverwaltung verkörpert regelmäßig einen relativ hohen Sachverstand, der allerdings durch ein Übermaß an parteipolitischer Protektion gefährdet werden kann, und steht für Kontinuität des Staatshandelns (Minister vergehen, Bürokratien bestehen). Angesichts der Häufigkeit von Wechseln im Ministeramt ist der Wert dieser inhaltlichen Kontinuität jedenfalls nicht gering zu schätzen. Sie kann allerdings auch einen demokratischen Machtwechsel teilweise um seine Wirkung bringen, wenn eine widerwillige Ministerialbürokratie einen missliebi­ gen, vom Minister vorgegebenen Kurswechsel sabotiert.241

261

Die Ministerialverwaltung nimmt viele Verwaltungsaufgaben wahr, ist aber ge­ rade auf Bundesebene auch stark mit gubernativen Aufgaben, insbesondere mit der Gesetzesvorbereitung befasst. Bei der Erarbeitung von Gesetzesvorlagen der Bun­ desregierung vertritt sie regelmäßig im „politischen Geschäft“ die Argumente des

262

238

Verfehlt insoweit Busse, ParlStG, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 2, der eine Aufhebung des Staats­ ministerprivilegs als Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts einstuft und die strengen Voraussetzungen des § 49 Abs. 2 VwVfG anwenden will. 239 Das schließt die Mitarbeiter in den Auslandsvertretungen mit ein; aber auch die Zentrale in Deutschland ist für sich genommen mit ca. 3.100 Mitarbeitern das größte Ministerium. 240 Im Haushaltsjahr 2019 hatte bei einem Gesamtumfang von 356 Mrd. Euro das Bundes­ ministerium für Arbeit und Soziales den größten Etatansatz (145 Mrd. Euro, 41 % des Bun­ deshaushalts), gefolgt vom Bundesverteidigungsministerium (43 Mrd. Euro, 12 %) und vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (29 Mrd. Euro, 8 %). 241 Nach dem Ministerialdirektoren-„Volks“mund: „Wer unter mir Minister ist, ist egal“.

490

§ 7 Bundesregierung

Sachverstands, während die Politiker die Mehrheit organisieren und deshalb z. B. Kompromisse suchen müssen. Häufig kommt es auch zu „Fachbrüderschaften“ mit den entsprechenden Beamten in den Landesministerien, aber auch zu engen Arbeitsbeziehungen zu den Mitgliedern der einschlägigen Bundestagsausschüsse sowie zu vielfältigen Verbindungen mit Interessenvertretern der jeweils betroffenen Kreise (z. B. aus Industrieverbänden, Umweltverbänden, Gewerkschaften usw.). 263

Trotz ihrer qualifizierten und fachlich regelmäßig breit aufgestellten Mitarbei­ ter sind die Ministerien immer auch auf externen Sachverstand angewiesen.242 Dieser wird etwa durch Beteiligung der Verbände, durch Sachverständigenanhö­ rungen, durch organisatorisch verstetigte sachverständige Beratungsgremien (dazu Rn. 290 ff.) oder durch die Veranstaltung von Fachtagungen eingebunden. Noch weiter geht die Einbindung externen Sachverstands, wenn Mitarbeiter von an­ deren öffentlichen oder privaten Stellen vorübergehend direkt in Ministerien tätig sind. Umgekehrt kann der Rückgriff auf externen Sachverstand auch den Charak­ ter einer Arbeitsauslagerung haben, nämlich bei der zunehmenden Vergabe von externen Gutachten-, Forschungs- und Beratungsaufträgen.

264

Die Vergabe von Gutachten-, Forschungs- und Berateraufträgen geschieht in unter­ schiedlichster Form und aus verschiedensten Motiven. Es kann um sehr komplexe oder spe­ zielle Fragen gehen, für die es in den Ministerien keine Experten gibt oder die einer aufwän­ digen eingehenden Untersuchung bedürfen. Es kann um einen zweiten Blick von außen auf bestimmte Fragen gehen. Mitunter helfen solche Aufträge aber auch dabei, personelle Eng­ pässe bzw. Spitzen im Arbeitsaufkommen der Ministerien vorübergehend abzufangen. All das kann durchaus sinnvoll sein und ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Problematischer wird es, wenn der in Anspruch genommene externe Sachverstand nicht nur in die Arbeit der Ministerialbürokratie einfließt, sondern diese schon zu großen Teilen vorwegnimmt. Diese Gefahr besteht insbesondere beim sogenannten Gesetzgebungsoutsourcing, d. h. bei der Be­ auftragung externer Stellen (etwa Anwaltskanzleien) mit der Erstellung fertiger Gesetzent­ würfe.243 Neu oder generell problematisch ist freilich auch die Beauftragung externer Stellen mit der Erarbeitung von Gesetzentwürfen nicht: Man denke etwa an die mit der Erarbeitung des BGB betrauten Kommissionen.

265

Auch die Beschäftigung externen Personals in Ministerien hat Tradition, insbesondere in Form der Abordnung von Beschäftigten aus anderen Bereichen des öffentlichen Diensts (vor allem aus Behörden und Gerichten) an Bundesministerien. Diese bringen dort Erfahrungen aus der Praxis ein und bekommen umgekehrt die Gelegenheit, sich für höhere Weihen zu empfeh­ len. Deutlich problematischer – aber übliche Praxis – ist die vorübergehende Beschäftigung von Personal aus der Privatwirtschaft, aus Verbänden oder anderen privaten Institutionen. Hier wird zwar wertvoller Sachverstand eingebunden, der aber nicht selten interessengefärbt 242 Vgl. zur sachverständigen Beratung des Staates auch ausführlich Voßkuhle, in: Isensee / ​ Kirchhof, HbdStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 43. 243 Hierzu Battis, ZRP 2009, 201; Kloepfer, NJW 2011, 131; Kloepfer (Hrsg.), Gesetzge­ bungsoutsourcing, 2011; Woiki, Gesetzgebungsoutsourcing unter dem Grundgesetz, 2016; aus politikwissenschaftlicher Perspektive Döhler, PVS 2012, 181. Aktuell wurde dieses Vor­ gehen insb. in der Finanzkrise 2008/2009, vor allem weil man damals die Notwendigkeit sehr schnellen gesetzgeberischen Handelns sah.

D. Organisationsstruktur

491

sein dürfte. Gegenüber anderen Interessenvertretern, die nur „von außen“ auf die Ministerial­ bürokratie einwirken können, werden so einzelne Interessen durch den Zugriff „von innen“ besonders privilegiert. Um den mit dem Einsatz externer Beschäftigter verbundenen Risiken zu begegnen, wurde immerhin eine allgemeine Verwaltungsvorschrift mit verschiedenen ein­ schränkenden Vorgaben erlassen.244

4. Beauftragte der Bundesregierung a) Übersicht Die Bundesregierung hat eine Vielzahl von Beauftragten und Koordinatoren für verschiedenste Sachgebiete oder Aufgaben (wobei zwischen dem Begriff des Beauftragten und dem des Koordinators regelmäßig kein inhaltlicher Unterschied besteht). Sie dienen der Bündelung bestimmter Interessen in die Bundes­regierung hinein sowie der durchaus parteiischen Kommunikation dieser Themen in die Öf­ fentlichkeit. Nicht zuletzt sind sie Ansprechpartner der von ihrem Arbeitsgebiet betroffenen Gruppen. Oftmals haben die Beauftragten zugleich eine Quasi-Om­ budsmannfunktion245 wie auch eine thematische Lobbyfunktion. Sie haben, wenn ihnen nicht gesetzlich spezielle Befugnisse zugewiesen werden, lediglich koordinative, repräsentative und informierende Funktionen. Nicht zu den politischen Beauftragten im hier gemeinten Sinne gehört der in jedem Bundesministerium zu bestellende Beauftragte für den Haushalt (§ 9 Abs. 1 BHO).

266

Der Politik ermöglicht die Einrichtung oder Aufwertung von Beauftragten, eine politische Schwerpunktsetzung erkennbar zu machen (man denke etwa an die 2005 erfolgte Aufwertung der Integrationsbeauftragten zur Staatsministerin im Bundeskanzleramt). Durch die Beauftragten wird bestimmten politischen Themen ein „Gesicht“ gegeben. Viele Beauftragte sind Parlamentarische Staatssekretäre (bzw. Staatsminister), Bundestagsabgeordnete, sonstige (ehemalige) Politiker oder Ministerialbeamte.

267

Besonders hervorzuheben unter den Beauftragten auf Bundesebene sind der Wehrbeauf­ tragte246 (s. § 2 Rn. 588 ff.), der Bundesdatenschutzbeauftragte247 (unten Rn. 275 ff.), der Stasi-

268

244

Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Einsatz von außerhalb des öffentlichen Dienstes Beschäftigten (externen Personen) in der Bundesverwaltung vom 17. Juli 2008, abrufbar unter https://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de (zuletzt aufgerufen am 19.8.2020). Die auf Art. 86 S. 1 GG gestützte Verwaltungsvorschrift verbietet u. a., Externe für die Formulie­ rung von Gesetzesentwürfen und anderen Rechtsetzungsakten einzusetzen (Ziff. 2.5). Soweit die Verwaltungsvorschrift Regelungen zur gubernativen Tätigkeit in Bundesministerien trifft, erscheint Art. 86 S. 1 GG als Grundlage jedoch zweifelhaft. 245 Der Begriff des Ombudsmanns stammt aus Schweden und bezeichnet einen unabhängi­ gen Vertreter der Regierung, der eine Schiedsfunktion wahrnimmt. 246 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, Art. 45b GG. 247 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, §§ 8 ff. BDSG.

492

§ 7 Bundesregierung

Unterlagenbeauftragte248 (unten Rn. 284 ff.), der Integrationsbeauftragte249, der Patientenbe­ auftragte250, der Behindertenbeauftragte251 sowie der Konversionskassenbeauftragte252, deren Ämter gesetzlich vorgeschrieben sind. Der Wehrbeauftragte ist allerdings  – als einziger echter Parlamentsbeauftragter – organisatorisch Teil des Bundestages und nicht der Bundes­ regierung (s. näher § 2 Rn. 587 ff.). Der Datenschutzbeauftragte war zwar traditionell bei der Bundesregierung angesiedelt, wurde aber 2016 so weit verselbständigt, dass er als eigene oberste Bundesbehörde nunmehr weder der Bundesregierung noch sonst einem Verfassungs­ organ zuzuordnen ist.

269

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass der Bundestag der Bundesregierung die Ein­ richtung von Beauftragten vorschreibt, statt einfach (nach dem Vorbild des Wehrbeauftrag­ ten) eigene Parlamentsbeauftragte einzusetzen. Die Funktion eines Beauftragten ist der eher monistischen Organisation der Exekutive aber weitaus gemäßer als dem stets mitgliedschaft­ lich-pluralistisch agierenden Parlament (s. näher § 2 Rn. 585 f.).

270

Die bei weitem größte Zahl von Beauftragten wurde bisher ohne gesetzliche Vorgaben durch regierungsinterne Organisationsakte geschaffen. Im Einzelnen handelt es sich um:253 den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, den Sonderbeauftragten Sofortprogramm saubere Luft, den Beauf­ tragten der Bundesregierung für Digitalisierung, den Beauftragten für die Nachrichtendienste des Bundes, den Koordinator der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechts­ setzung, den Beauftragten der Bundesregierung für Mittelstand und für die neuen Bundes­ länder, den Beauftragten der Bundesregierung für Tourismus, den Koordinator der Bundes­ regierung für die Deutsche Luft- und Raumfahrt, den Koordinator der Bundesregierung für die maritime Wirtschaft, den Beauftragten der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle, den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Leitung der Umset­ zung der Extractive Industries Transparency Initiative, den Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, den Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit, den Koordinator für die deutsch-polnische zwi­ schengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit, den Koordinator für die transatlan­ tische, zwischengesellschaftliche, kultur- und informationspolitische Zusammenarbeit, den Koordinator für die zwischengesellschaftspolitische Zusammenarbeit mit Russland, Zentral­

248

Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, §§ 35 ff StUG. 249 Beauftragter der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, §§ 92 ff. AufenthG. 250 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, § 140h SGB V. 251 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, §§ 17 f. BGG. 252 Bundesbeauftragter für die Behandlung von Zahlungen an die Konversionskasse, § 37 Gesetz zur Ausführung des Abkommens v. 27.2.1953 über deutsche Auslandsschulden (i. d. Fassung BGBl. III 7411–1, zul. geänd. durch Art. 301 d. Verordnung v. 31.8.2015 (BGBl. I S. 1474)). 253 Vgl. die vom Bundesinnenministerium gem. § 21 Abs. 3 GGO zu führende Liste der Be­ auftragten, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/​ ministerium/beauftragte-der-bundesregierung.pdf?__blob=publicationFile&v=18 (Stand 22.1.2020, letzter Abruf 19.8.2020).

D. Organisationsstruktur

493

asien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, den Sonderbeauftragten der Bundesregie­ rung für Afghanistan und Pakistan, den Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfra­ gen und nationale Minderheiten, den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, den Beauftragten der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit, den Beauftragten der Bundesregierung für Informationstech­ nik, den Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, den Beauftragten der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen von terroristischen Straftaten im Inland, den Unabhängigen Beauftrag­ ten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, den Beauftragten der Bundesregierung für Drogenfragen, den Bevollmächtigten der Bundesregierung für Pflege, den Koordinator der Bundesregierung für Güterverkehr und Logistik, den Beauftragten der Bundesregierung für den Schienenverkehr, den Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich, den Bundes-Energiebeauftragten, den Persönlichen Afrika-Beauftragten der Bundeskanzlerin, den Persönlichen Beauftragten der Bundeskanzlerin für G7-/G20-Gipfel sowie den Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung.

Soweit Beauftragte gesetzlich vorgeschrieben sind, findet sich in den jeweili­ gen Gesetzen nicht selten eine detaillierte Ausgestaltung ihres Amtes. Besonders deutlich ist das bei §§ 35 ff. StUG und §§ 8 ff. BDSG, die etwa Ernennungsvoraus­ setzungen, Amtsdauer, Inkompatibilitäten, Unabhängigkeit usw. regeln. Davon abgesehen handelt es sich bei der Mehrzahl der Beauftragten aber nicht um juris­ tisch besonders ausgeformte Ämter, sondern mehr um eine symbolisch heraus­ gehobene Betrauung mit bestimmten Aufgaben. Rechtsfolgen werden vor allem von § 21 GGO an den Begriff des Beauftragten geknüpft: Nach dieser Vorschrift sind die Beauftragten in alle Vorhaben der Ministerien in ihrem Aufgabenbereich (etwa auch die Gesetzgebung, § 45 Abs. 3 GGO) frühzeitig einzubinden.

271

Im Grundgesetz taucht der Begriff des Beauftragten zwar häufig auf,254 damit dürften im Regelfall aber keine Beauftragten in dem hier relevanten Sinne gemeint sein. Einzig Art. 45b GG betrifft mit dem Wehrbeauftragten einen Beauftragten im hiesigen Sinne, der allerdings beim Bundestag angesiedelt ist.

272

Das Recht der Bundesregierung, Beauftragte zu ernennen, ergibt sich aus ihrer Organisationsgewalt. Regelmäßig werden Beauftragte durch Kabinettsbeschluss eingerichtet, manchmal aber auch durch Organisationserlass des Bundeskanzlers oder eines Ministers.255 Die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, insbesondere die Wesentlichkeitstheorie steht dem nicht entgegen. Soweit Gesetze die Bestel­ lung eines Beauftragten bei der Bundesregierung vorschreiben, liegt hierin eine (zulässige) Beschränkung der Organisationsgewalt der Bundesregierung durch den Gesetzgeber (vgl. Rn. 75 f.).

273

254 Art. 37 Abs. 2, 43 Abs. 2, 45b, 52 Abs. 4, 61 Abs. 1 S. 4, 84 Abs. 3 S. 2, 85 Abs. 4 S. 2, 115i Abs. 1 GG. 255 Vgl. die vom Bundesinnenministerium gem. § 21 Abs. 3 GGO zu führende Liste der Be­ auftragten, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/​ ministerium/beauftragte-der-bundesregierung.pdf?__blob=publicationFile&v=18 (Stand 22.1.2020, letzter Abruf 3.2.2020).

494 274

§ 7 Bundesregierung

Umstritten war die Einrichtung eines Kulturbeauftragten auf Bundesebene durch Gerhard Schröder,256 da der Bund im Bereich der Kultur kaum Verbands­ kompetenzen hat.257 Nach mehr als zwanzig Jahren ist es jedoch trotz der frag­ würdigen Kompetenzgrundlage weithin akzeptiert, dass auch auf Bundesebene die Kultur einen herausgehobenen Fürsprecher braucht. Dieser gehört organisa­ torisch zum Kanzleramt. Im Gegensatz zu den übrigen Beauftragten hat der Bun­ desbeauftragte (bzw. Staatsminister) für Kultur und Medien ministeriumstypische Leitungsfunktionen inne, die ihn sein Zuständigkeitsgebiet im Bundeskanzleramt quasi als eigenständiges Fast-Ministerium führen lassen.258 Insofern dient die Be­ zeichnung als „Beauftragter“ hier eher der Verschleierung der verfassungsrechtlich zweifelhaften Kompetenzausstattung des Kulturstaatsministers. Auch wenn die bisherigen Amtsinhaber durchaus respektable Leistungen erbracht haben, bleiben die verfassungsrechtlichen Bedenken. b) Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit

275

Das Amt eines Bundesbeauftragten für den Datenschutz ist seit Inkrafttreten des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) im Jahre 1978 gesetzlich vorgesehen. Zunächst noch an das Bundesinnenministerium angegliedert, zählt er spätestens seit 2016 eigentlich nicht mehr zu den Beauftragten der Bundesregierung, sondern ist eine organisatorisch von der Bundesregierung losgelöste oberste Bundesbe­ hörde (s. u. Rn. 280). Der Bundesbeauftragte dient dem im ursprünglichen Vollti­ tel des Gesetzes259 zum Ausdruck kommenden Ziel, Schutz vor dem Missbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung zu gewähren, als externe Kontroll­instanz. Das Bundesverfassungsgericht misst dem Amt und den Aufgaben des Datenschutzbeauftragten erhebliche Bedeutung „für einen effektiven Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ bei.260

276

Die Notwendigkeit, das Amt eines Datenschutzbeauftragten einzurichten, er­ gibt sich heute unmittelbar aus dem Europarecht, nämlich aus Art. 51 ff. der EUDatenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO)261. Auf europäischer Ebene sind die 256

Organisationserlass v. 27.10.1998, BGBl. I, 3288. S. zur Kompetenzlage eingehend Lenski (jetzt Schönberger), Öffentliches Kulturrecht, 2013, S. 94 ff., insb. S. 121 ff. 258 Vgl. Luy, Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, 2019, S. 116 ff., 172; zu dem breiten Aufgabenfeld auch Busse / Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundes­ regierung, 7. Aufl. 2019, S. 121 ff. 259 Gesetz zum Schutz vor Missbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung (Bundesdatenschutzgesetz) vom 27.1.1977, BGBl. I, S. 201. 260 BVerfGE 65, 1 (46) – Volkszählung. 261 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl. Nr. L 119 S. 1, ber. Nr. L 314 S. 72. 257

D. Organisationsstruktur

495

Datenschutzbeauftragten im Europäischen Datenschutzausschuss zusammenge­ schlossen (Art. 68 ff. EU-DSGVO, §§ 17 ff. BDSG). Die Verpflichtung zur Bestellung von Datenschutzbeauftragten gilt für alle öf­ fentliche Gewalt in ihrer föderalen Gliederung. Die bundesrechtlichen Regelungen zum Bundesdatenschutzbeauftragten finden sich in §§ 8 ff. BDSG. Aber auch jedes Bundesland verfügt über einen Datenschutzbeauftragten und demgemäße landesrechtliche Rechtsgrundlagen. Die Beauftragten von Bund und Ländern arbeiten in einer ständigen, halbjährlich tagenden Kommission, der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, zusammen.

277

Seit dem Inkrafttreten des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) im Jahr 2005262 ist der Datenschutzbeauftragte des Bundes auch mit Belangen der Informationszugangsfreiheit gegenüber der öffentlichen Gewalt betraut (§ 12 IFG). Das Amt des Informationsfreiheitsbeauftragten ist aber nicht europarechtlich vorgeschrieben.

278

Der Bundesbeauftragte ist zuständig für die umfassende Kontrolle des Daten­ schutzes bei allen öffentlichen Stellen des Bundes (§ 9 BDSG). Die Kontrolle ist einerseits Rechtskontrolle, andererseits Perspektivkontrolle: Der Datenschutz­ beauftragte prüft nicht nur Verstöße gegen das geltende Recht, sondern hat eine Vielzahl weiterer informierender, gestaltender und genehmigender Aufgaben (vgl. Art. 57 EU-DSGVO). Dazu sind dem Beauftragten umfassende Befugnisse eingeräumt (Art. 58 EU-DSGVO). Jährlich ist ein Tätigkeitsbericht zu erstellen (Art. 59 EU-DSGVO).

279

Die Autorität des Amts speist sich vor allem aus seiner unabhängigen Rechtsstellung (Art. 52 EU-DSGVO, § 10 BDSG): Die Datenschutzbeauftragten unterlie­ gen „weder direkter noch indirekter Beeinflussung von außen und ersuchen weder um Weisung noch nehmen sie Weisungen entgegen“ (Art. 52 Abs. 2 EU-DSGVO). Unabhängigkeit bedeutet über die Freiheit von inhaltlichen Weisungen hinaus auch organisatorisch-personelle Unabhängigkeit. Deshalb ist der Bundesdaten­ schutzbeauftragte seit 2016 – in Reaktion auf ein entsprechendes Urteil des euro­ päischen Gerichtshofs263  – organisatorisch nicht mehr an das Bundesinnenmi­ nisterium angegliedert und auch nicht mehr dessen Dienstaufsicht unterstellt.264 Auch wenn er damit zu einer obersten Bundesbehörde geworden ist (§ 8 Abs. 1 S. 1 BDSG) und einen eigenen Haushaltstitel hat, handelt es sich mangels namentlicher Nennung in der Verfassung und mangels hinreichenden Bezugs zur Staatsleitung um kein Verfassungsorgan (s. auch § 1 Rn. 60 ff.).

280

Die Person des Bundesbeauftragten wird gemeinsam durch die Bundesregie­ rung (Vorschlagsrecht) und den Bundestag (Wahl) bestimmt und vom Bundes­ präsidenten ernannt (§ 11 BDSG). Für die Wahl im Bundestag ist mit der Mit­

281

262

Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheits­ gesetz) vom 5.12.2005, BGBl. I, S. 2722. 263 EuGH, Urt. v. 09.03.2010, Rs. C-518/07, Slg. 2010, I-1885. 264 Näher v. Lewinski, ZG 2015, 228; Thomé, VuR 2015, 130.

496

§ 7 Bundesregierung

gliedermehrheit („Kanzlermehrheit“, s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.) ein gesteigertes Mehrheitserfordernis vorgeschrieben. Die Amtszeit des Daten­ schutzbeauftragten ist wie die des Wehrbeauftragten von der Legislaturperiode entkoppelt: Seine Wahl erfolgt für fünf Jahre, eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Mit dem Amt sind weitreichende Inkompatibilitätsvorschriften verbun­ den (§ 13 Abs. 1 BDSG). 282

Rechtsgeschichtlich ist der Datenschutzbeauftragte „Kind des Parlaments“.265 Die Einrichtung des Amts im ursprünglichen Bundesdatenschutzgesetz ging al­ leine aus Initiativen innerhalb der parlamentarischen Beratung entgegen dem Re­ gierungsentwurf hervor. Dabei stand das Vorbild des Wehrbeauftragten ersichtlich Pate. Die Aufgaben des Datenschutzbeauftragten sind funktionell denen des Par­ laments durchaus ähnlich. Über die Kontrolle, die er gegenüber den öffentlichen Stellen des Bundes übt, unterstützt er das Parlament in der Ausübung seiner Kon­ trollfunktion. Vermittels der Evaluation der gegenwärtigen und der Empfehlungen für künftige Datenschutzgesetzgebung wirkt der Datenschutzbeauftragte als ex­ ternalisierter Sachverstand des Parlaments an der Entwicklung der Rechtssetzung mit (Legislativunterstützungsfunktion).

283

Die gemeinsame Bestellung des Beauftragten durch die Bundesregierung (Vor­ schlagsrecht) und den Bundestag (Wahl mit „Kanzlermehrheit“) und seine Be­ zeichnung als Bundesbeauftragter geben allerdings dem Umstand Ausdruck, dass Datenschutz ein die staatlichen Gewalten übergreifender Belang ist. Die weit­ gehende Digitalisierung des täglichen Lebens, aber auch aller Behördenvorgänge und die Sammlung und Auswertung riesiger Datenmengen durch private Unternehmen ebenso wie durch die öffentliche Hand werden das Gewicht des Daten­ schutzbeauftragten in der Zukunft weiter wachsen lassen. Doch bleibt fraglich, ob der Datenschutzbeauftragte einer Entwicklung wird Einhalt gebieten werden können, in der die virtuelle Selbstentblößung im Internet weiter Raum greift und die Veröffentlichung alles Privaten weiter voranschreitet. Die eigentlich höchst ak­ tuelle Aufgabe des Datenschutzes mutet angesichts der Sorglosigkeit der Bürger im Umgang mit ihren Daten in mancherlei Hinsicht schon etwas anachronistisch an. c) Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen

284

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe­ maligen DDR ist die Zentralfigur in der Aufarbeitung der rechtsstaatswidrigen Seiten der einstigen DDR. Ihm sind einfachgesetzlich die Hinterlassenschaften der ehemaligen DDR-Staatssicherheit, soweit sie noch bestehen, anvertraut. Dem Unter­ lagenbeauftragten obliegen die Bewahrung, Verwaltung und auch die Auswertung dieser Unterlagen mit dem doppelten Ziel, einerseits möglichen Betroffenen von

265

Dammann, in: Simitis, BDSG, 8. Aufl. 2014, § 22 Rn. 1.

D. Organisationsstruktur

497

Maßnahmen der Staatssicherheit Auskunft über die in den Akten verzeichneten Vorgänge geben zu können und andererseits insgesamt ein Bild von der Arbeitsund Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes zu erstatten (§ 37 Abs. 1 StUG). Der Unterlagenbeauftragte kann sich jederzeit an den Bundestag wenden, erstattet diesem mindestens alle zwei Jahre Bericht und erstellt auf Anfrage Gutachten und Berichte für den Bundestag oder die Bundesregierung (§ 37 Abs. 3 StUG). Die Rechtstellung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ist im Stasi-Unterlagen-Gesetz266 ausgestaltet worden. Er wird auf Vorschlag der Bun­ desregierung mit gesteigertem Mehrheitserfordernis (Mitgliedermehrheit bzw. „Kanzlermehrheit“, s. zu den Mehrheitsbegriffen § 1 Rn. 115 ff.) vom Bundestag gewählt (§ 35 Abs. 2 StUG). Seine einmalige Wiederwahl ist möglich (§ 35 Abs. 4 S. 2 StUG). Mit seinem Amt sind einige Inkompatibilitäten verbunden, so darf er beispielsweise kein anderes besoldetes Amt bekleiden und auch nicht Bundestagsoder Landtagsabgeordneter sein. Er genießt eine richtergleiche Unabhängigkeit. Der Unterlagenbeauftragte ist ressortmäßig dem Geschäftsbereich der für Kultur und Medien zuständigen obersten Bundesbehörde zugeordnet. Derzeit ist dies das Bundeskanzleramt bzw. dort der Beauftragte für Kultur und Medien. Weil die Lagerung, Verwaltung und Erforschung erhebliche Personalressourcen beanspru­ chen, ist der Beauftragte für die Stasi-Unterlagen als eigene Bundesoberbehörde mit Außenstellen in Berlin und den neuen Bundesländern eingerichtet worden. Es ist daher im Volksmund üblich geworden, untechnisch nicht von dem Beauf­ tragten, sondern von einer Behörde zu sprechen, die aber nach dem jeweiligen Beauftragten benannt wird (früher „Gauck-Behörde“, „Birthler-Behörde“, heute „Jahn-Behörde“).

285

Die politische Bedeutung der Arbeit des Beauftragten für Stasi-Unterlagen ist erheblich, was insbesondere durch den Umstand unterstrichen wird, dass es dem ehemaligen Unterlagenbeauftragten Joachim Gauck 2012 gelang, Bundespräsi­ dent zu werden. Ende 2020 beschloss der Bundestag die schon länger diuskutierte Überführung der Stasi-Unterlagen in das Bundesarchiv.267 Die Zugangsvor­ aussetzungen zu den Stasi-Akten richten sich weiter nach dem StUG, das inso­ fern nicht aufgehoben wird. Der Stasi-Unterlagenbeauftragte wird jedoch zum Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundes­ tag weiterentwickelt und wird damit zu einem bei Bundestag angesiedelten Par­ lamentsbeauftragten (s. dazu § 2 Rn. 583 ff.). Die Regelungen zu seinem Amt im StUG werden aufgehoben und stattdessen das neue SED-Opferbeauftragtengesetz (OpfBG) geschaffen.

286

266

Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen De­ mokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz – StUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.2.2007, BGBl. I, 2271, zul. geänd. d. G. v. 19.6.2020, BGBl. I, 1328. 267 Vgl. BT-Drs. 19/23709 und 19/24484.

498

§ 7 Bundesregierung

d) Beauftragter für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung 287

Der Bundesbeauftragte für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung geht historisch auf die Weimarer Tradition eines Reichssparkommissars zurück268 und über diese auch nicht hinaus. Seine Errichtung wird nicht im Gesetz, sondern lediglich untergesetzlich in einer Richtlinie der Bundesregierung geregelt.269 Nach dieser wirkt der Beauftragte „durch Vorschläge, Gutachten oder Stellungnahmen auf eine wirtschaftliche Erfüllung der Bundesaufgaben und eine dementsprechende Orga­ nisation der Bundesverwaltung einschließlich ihrer Sondervermögen und Betriebe hin“. Die Prüfung erfolgt auf Antrag entweder der Bundesregierung als ganzer oder eines Bundesministers, des Bundestags oder des Bundesrats. Das Amt des Beauf­ tragten wird – auch dies entspricht der Weimarer Tradition – grundsätzlich vom Präsidenten des Bundesrechnungshofs in Personalunion wahrgenommen. Dem Amt sind keine eigenen Mitarbeiter zugeordnet; der Beauftragte ist daher auf die Unterstützung der Mitarbeiter des Bundesrechnungshofs angewiesen.

288

Obschon das Paradigma einer wirtschaftlichen Verwaltung modern ist und dem deregulatorischen Zeitgeist entspricht, mutet der Bundesbeauftragte für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung eher wie ein verfassungsgeschichtliches Fossil270 an. Anders als der Rechnungshof der Weimarer Republik verfügt der Bundesrechnungshof heute über eine umfassende Prüfkompetenz der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes sowie darüber hinaus über eine Beratungskompetenz gegenüber allen Organen, die auch die Unterstützung des Bundesbeauftragten in Anspruch nehmen können (§ 88 BHO). Eine gewisse eigen­ ständige Aufgabe des Bundesbeauftragten bei dieser Sachlage kann sich allenfalls daraus ergeben, dass die Beratungstätigkeit des Bundesrechnungshofs „auf Grund von Prüferfahrungen“ erfolgen muss. Der Bundesrechnungshof leistet insoweit nur eine nachvollziehende Beratung, während der Bundesbeauftragte eine prospektive und von konkreten Prüfverfahren losgelöste Beratung bieten kann. Für die Praxis bedeutsam erscheint zudem, dass der Bundesbeauftragte „gewolltermaßen mehr im Verborgenen“271 wirkt und daher, anders als der Bundesrechnungshof, unter Verzicht auf Öffentlichkeit die Arkantradition der Exekutive pflegt. Dies ist den Beteiligten regelmäßig recht.

289

Eine gewisse eigenständige Berechtigung hat der Bundesbeauftragte für Wirt­ schaftlichkeit in der Verwaltung im Gesetzgebungsverfahren. Wie alle Beauf­ tragten ist der Wirtschaftlichkeitsbeauftragte grundsätzlich bereits in einem frü­ hen Stadium eines jeden Gesetzentwurfs der Bundesregierung – noch während der Ressortabstimmung – zu beteiligen (§ 45 Abs. 3 GGO), so dass er Wirtschaftlich­ 268 Zur Geschichte v. Pfuhlstein, in: FS Hans Schäfer, 1975, S. 375 ff.; Treuner, DVBl. 1992, 421 ff. 269 Krit. v. Pfuhlstein, in: FS Hans Schäfer, 1975, S. 375 (400). 270 Richtig Hufeld, in: Isensee / K irchhof, HbStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 56 Rn. 57. 271 Affirmativ Franz, DÖV 2008, 1042.

D. Organisationsstruktur

499

keitsbedenken bereits vor der Einbringung des Entwurfs in das Bundeskabinett äußern kann. Diese Aufgabe einer ständigen legislatorischen ex-ante-Beratung verlässt den Rahmen der grundsätzlich als ex-post-Kontrolle angelegten Tätigkeit des Bundesrechnungshofs so weit, dass die nominelle Unterscheidung beider Funk­ tionen gerechtfertigt erscheint, nicht aber die Personalunion, in der sie wahrgenom­ men werden.272 Allerdings hat die legislatorische Funktion wiederum erhebliche Überschneidungen mit dem Nationalen Normenkontrollrat (dazu unten Rn. 294). 5. Beratungsgremien der Bundesregierung Neben der eigentlichen Ministerialbürokratie und den Beauftragten stehen der Bundesregierung zahlreiche  – teils aufgrund eines Gesetzes, teils lediglich regierungsintern eingerichtete  – aus Fachleuten gebildete Beratungsgremien zur Verfügung. Ihre Aufgabe besteht regelmäßig darin, die Bundesregierung auf einem bestimmten Gebiet mit besonderem Sachverstand zu beraten273 und zu be­ stimmten Themen oder periodisch Stellungnahmen und Berichte anzufertigen. Dabei kommt es bisweilen auch zu inhaltlichen Konflikten mit der Bundesregie­ rung, was durchaus auch positiv als Beleg für die Unabhängigkeit des jeweiligen Beratungsgremiums gewertet werden kann. Neben primär sachverstandsorientier­ ten Gremien gibt es auch solche, die betont plural zusammengesetzt sind, in der Hoffnung, so Kompromisse mit breitem gesellschaftlichem Rückhalt zu finden.274 Unter den Beratungsgremien der Bundesregierung sind die Folgenden besonders hervorzuheben:

290

Das für das politische Geschehen in Deutschland bedeutsamste Beratungs­ gremium der Bundesregierung war lange Zeit wohl der – auch von der medialen Öffentlichkeit viel beachtete – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dieser aufgrund des SachvRatG275 seit 1964 bestehende Rat der fünf „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung hat vornehm­ lich die Aufgabe, die jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare

291

272

Zu in den 1960er Jahren unternommenen rechtspolitischen Versuchen, die beiden Ämter voneinander zu trennen, vgl. v. Pfuhlstein, in: FS Hans Schäfer, 1975, S. 375 (387). 273 Zur sachverständigen Beratung des Staates ausführlich Voßkuhle, in: Isensee / K irchhof, HbdStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 43. 274 So wurde beispielsweise die 2018 eingerichtete Kommission zum Kohleausstieg neben Vertretern der Wissenschaft und der Politik auch mit Vertretern von Umweltverbänden, Ge­ werkschaften und aus der Wirtschaft besetzt. Aber auch bei klassischen Sachverständigen­ gremien wird regelmäßig darauf geachtet, dass die Mitglieder eine gewisse Pluralität der Standpunkte abbilden. So wird beispielsweise im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (dazu sogleich) traditionell ein Mitglied auf Vorschlag der Arbeitgeber und ein Mitglied auf Vorschlag der Arbeitnehmer berufen. 275 Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirt­ schaftlichen Entwicklung i. d.  i. BGBl III, Gl.-Nr. 700-2, veröff. Fassung, zuletzt geänd. durch Art. 216 d. V. v. 19.6.2020 (BGBl. I S. 1328).

500

§ 7 Bundesregierung

Entwicklung in periodischen Gutachten darzustellen (§§ 1 Abs. 1, 2 S. 1 SachvRatG). In diesen Jahresgutachten, die er der Bundesregierung an jedem 15. November eines Jahres zuzuleiten hat (§ 6 SachvRatG) soll der Sachverständigenrat „unter­ suchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Sta­ bilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können“ (§ 2 S. 2 SachvRatG), dabei jedoch „keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen“ (§ 2 S. 6 SachvRatG). Der Rat, der über das Jahresgutachten hinaus Gutachten auf Auftrag der Bundes­ regierung oder im Falle der Gefährdung einer der genannten gesamtwirtschaft­ lichen Ziele zu erstatten hat (§ 6 Abs. 2 S. 1 und 2 SachvRatG), ist vom Gesetz relativ politikfern ausgestaltet: die Kandidaten, die vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt werden (§ 7 Abs. 1 SachvRatG), und die über besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen verfügen müssen (§ 1 Abs. 2 SachvRatG) dürfen während des letzten Jahres vor ihrer Berufung kein öffentliches Amt (mit Ausnahme desjenigen eines Hochschullehrers) ausgeübt haben (§ 1 Abs. 3 SachvRatG). In der politischen Praxis der Benennung der „Wirtschaftsweisen“ ist es üblich, dass die Ernennung jeweils eines der Mitglieder in (enger) Abstimmung mit den Arbeitnehmerverbänden bzw. den Gewerkschaften erfolgt.276 292

Dem Sachverständigenrat in seinem Aufbau und seiner Rechtsstellung im We­ sentlichen nachgebildet277 und ebenfalls von hervorgehobener wirtschaftspoli­ tischer Bedeutung ist die aufgrund der §§ 44–47 GWB errichtete Monopol­ kommission. Diese wurde zusammen mit der Einführung der Fusionskontrolle 1974 geschaffen, um diese durch eine Beratungs- und Kontrollinstanz wissen­ schaftlich zu begleiten.278 Zentrale Aufgabe der Monopolkommission ist es, alle zwei Jahre ein Gutachten zu erstellen, „in dem sie den Stand und die absehbare Entwicklung der Unternehmenskonzentration in der Bundesrepublik Deutsch­ land beurteilt, die Anwendung der Vorschriften über die Zusammenschlusskon­ trolle würdigt sowie zu sonstigen aktuellen wettbewerbspolitischen Fragen Stel­ lung nimmt“ (§ 44 Abs. 1 S. 1 GWB). Daneben erstellt sie Gutachten im Auftrag der Bundesregierung oder aus eigenem Ermessen (§ 44 Abs. 1 S. 2 und 3 GWB). Besondere Bedeutung hat darüber hinaus die Einbindung in die Erteilung von Ministererlaubnissen: Vor der Entscheidung über einen Antrag auf Ministererlaub­ nis einer vom Bundeskartellamt untersagten Fusion muss der Bundeswirtschafts­ minister gem. § 42 Abs. 5 S. 1 GWB die Stellungnahme der Monopolkommission einholen. Die Bundeswirtschaftsminister sind den Vorschlägen der Kommission

276

Sträfling, in: Falk / Rehfeld / Römmele / T hunert (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, 2006, S. 353. 277 Thomas, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, 6. Auflage 2020, § 44, Rn. 8. 278 Haucap, in: Loewenheim / Meessen / R iesenkampff u. a., Kartellrecht, 4. Auflage 2020, §§ 44–47 GWB, Rn. 1.

D. Organisationsstruktur

501

auch oft – wenigstens zum Teil – gefolgt.279 In den 1990er Jahren sind die gesetz­ lichen Aufgaben der Monopolkommission deutlich erweitert worden, indem ihr die Erstellung weiterer sektorenspezifischer Sondergutachten zugewiesen wurde (§ 121 Abs. 2 TKG, § 78 ERegG, § 62 EnWG, § 44 PostG i. V. m. § 121 Abs. 2 TKG). Als Beratungsgremium für die Bundesregierung (und den Bundestag) in biopoli­ tischen und -bioethischen Fragen arbeitet der Deutsche Ethikrat. Vorläufer dieses Gremiums war der Nationale Ethikrat, der im Zuge der damals kontrovers disku­ tierten Frage der Nutzung embryonaler Stammzellen für Forschungszwecke auf Beschluss der Bundesregierung 2001 eingerichtet worden war.280 Dieser wurde im Jahr 2007 aufgelöst und durch den aufgrund Gesetzes281 eingerichteten Deutschen Ethikrat abgelöst. Seine Aufgabe ist es, „die ethischen, gesellschaftlichen, natur­ wissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussicht­ lichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebens­ wissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben“ zu verfolgen (§ 1 Abs. 1 EthRG). Er erarbeitet Stellungnahmen sowohl aus eigenem Ermessen wie auch im Auftrag der Bundesregierung oder des Bundestags (§ 2 Abs. 3 EthRG) und erstellt diesen beiden Verfassungsorganen einen Jahresbericht „über seine Aktivi­ täten und den Stand der gesellschaftlichen Debatte“ (§ 2 Abs. 4 EthRG).

293

Unter der Großen Koalition Merkel / Müntefering wurde im Jahr 2006 ein Nationaler Normenkontrollrat beim Bundeskanzleramt mit Amtssitz in Berlin ein­ gerichtet. Nähere Regelungen enthält das Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates vom 14.8.2006 (NKRG).282 Der Normenkontrollrat hat die „Aufgabe, die Bundesregierung bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen auf den Gebieten des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtsetzung zu unterstützen“ (§ 1 Abs. 2 NKRG). Eine obligatorische Prüfung durch den Normenkontrollrat ist nur für Gesetzesentwürfe der Bundesministerien vor deren Vorlage an das Bundes­ kabinett vorgesehen (§ 4 Abs. 3 S. 1 NKRG).283 Das erklärt auch die Konstruktion als ein organisatorisch bei der Regierung angesiedeltes Gremium. Es mag merk­ würdig erscheinen, dass ein Gremium für bessere Rechtsetzung ausgerechnet bei der Regierung ansetzt, statt bei den Legislativorganen: Bundesrat und vor allem Bundestag. Der Ansatz wird den Realitäten der technokratischen, durch die Mi­

294

279 Anders verhielt es sich aber etwa 2016 bei der Übernahme der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann durch die Edeka-Gruppe, für die entgegen der Stellungnahme der Monopolkom­ mission eine Ministererlaubnis erteilt wurde. 280 Kritisch zu dieser Form exekutiver Institutionalisierung Schröder, NJW 2001, 2144. Siehe zur Arbeit des Deutschen Ethikrates auch Ahlswede, Der Nationale und der Deutsche Ethikrat: Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Einflüsse unabhängiger Politikberatung auf die staatliche Entscheidungsbildung, 2009. 281 Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats (Ethikratgesetz – EthRG) vom 16.7.2007 (BGBl. I, S. 1385). 282 BGBl. I, S. 1866, zul. geänd. durch Art. 8 d. V. v. 19.6.2020 (BGBl. I S. 1328). 283 Siehe exemplarisch für die Arbeit des Normenkontrollrates im Rahmen des UGB 2009 Schön, in: Kloepfer (Hrsg.), Das Projekt eines Umweltgesetzbuches 2009, 2009, S. 121 ff.

502

§ 7 Bundesregierung

nisterialbürokratie dominierten Gesetzgebung in Deutschland aber durchaus ge­ recht. Immerhin steht der Normenkontrollrat aber auch Bundestag und Bundesrat (fakultativ) zur Verfügung (§ 4 Abs. 3 S. 2 und 3, § 6 Abs. 3 NKRG). Im Übrigen lässt das NKRG sowohl die Prüfungskompetenz des Bundesrechnungshofs als auch des Bundesbeauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung (zu diesem s. o. Rn. 287 ff.) unberührt (§ 4 Abs. 4 NKRG). Insgesamt ist der Einfluss des Normenkontrollrats doch recht überschaubar geblieben. Das mag damit zu­ sammenhängen, dass die verschiedenen Bundesregierungen dem Ziel des Büro­ kratieabbaus trotz entgegenlautender Beteuerungen insgesamt keine politische Priorität eingeräumt haben. 295

Darüber hinaus existieren insbesondere noch die folgenden Beratungsgremien der Bundesregierung: Bereits 1971 wurde durch Erlass zunächst des Bundesinnen­ ministers284 nunmehr des Bundesumweltministers285, der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) zur „periodischen Begutachtung der Umweltsituation und Umweltbedingungen der Bundesrepublik Deutschland und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen umweltpolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“ (§ 1 SRU-Erlass) gebildet.286 Er erstellt alle vier Jahre ein Gutach­ ten über die „jeweilige Situation der Umwelt und deren Entwicklungstendenzen“ und auf besonderen Auftrag des BMU (§§ 3, 7 Abs. 2 SRU-Erlass); er ähnelt dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Rechtsstellung und Aufbau. Die Deutsche Wissenschaftliche Kommission für Meeresforschung (DWK) berät die Bundesregierung in Fragen der nationalen und internationalen Meeres- und Fischereiforschung und koordiniert die Zusammen­ arbeit mit dem Internationalen Rat für Meeresforschung (§ 2 DWK-Satzung). Der auf Kanzlerinitiative (zuerst von Schröder 2001, erneut von Merkel im Jahr 2007) berufene Rat für Nachhaltige Entwicklung soll der Fortentwicklung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, der Benennung konkreter Handlungsfelder und Projekte sowie der Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens in der Gesellschaft dienen. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) wurde 1992 im Vorfeld der Rio-Konferenz durch gemeinsamen Erlass des Bundesumweltministers und des Bundesministers für Forschung und Technologie ins Leben gerufen;287 der Beirat aus unabhängigen Experten „legt der Bundesregierung jährlich zum 1. Juni ein Gutachten vor, in dem zur Lage der globalen Umweltveränderungen und ihrer Folgen eine aktualisierte Situations­ beschreibung gegeben, Art und Umfang möglicher Veränderungen dargestellt und eine Analyse der neuesten Forschungsergebnisse vorgenommen werden“ 284 Erlass über die Einrichtung eines Rates von Sachverständigen für Umweltfragen bei dem Bundesminister des Inneren vom 28. Dezember 1971 (GMBl. 1972, S. 27). 285 Erlass über die Einrichtung eines Sachverständigenrates für Umweltfragen bei dem Bun­ desministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom 1.3.2005 (GMBl., S. 662). 286 Zu diesem auch Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 3 Rn. 208 und § 5 Rn. 1300 f. 287 Gemeinsamer Erlass zur Errichtung des WBGU vom 8.4.1992, https://www.wbgu.de/de/ der-wbgu/errichtungserlass (letzter Abruf 19.8.2020).

D. Organisationsstruktur

503

(§ 2 Abs. 1 WBGU-Erlass). Der 2007 eingerichtete288 Beirat für Biodiversität und genetische Ressourcen (Beirat-GR) hat die Aufgabe, „das BMELV bei all­ gemeinen und grundsätzlichen Fragen der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt, insbesondere der genetischen Ressourcen für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als Teil der biologischen Vielfalt sowie bei entspre­ chenden Maßnahmen auf nationaler, EU- und internationaler Ebene, zu beraten“ (§ 1 Nr. 2 Beirat-GR-Erlass). Die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK)289 berät das BMU in den Angelegenheiten der Sicherheit von kerntechnischen Anlagen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle (§ 2 RSK-Satzung). Entsprechende Aufgaben in ihren jeweiligen Fachbereichen haben die Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit (ZKBS),290 der Ausschuss für Produktsicherheit (AfPS)291 und die Tierschutzkommission.292 Zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der Digitalisierung wurden 2018 ein zehnköpfiger Digitalrat und eine sechzehn­ köpfige Datenethikkommission geschaffen.

VI. Interne Zuständigkeitsverteilung 1. Übersicht Die allgemeine Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Bundesregierung wird von Art. 65 GG vorgenommen. Diese Vorschrift stellt drei verschiedene Prinzi­ pien auf, nämlich das Kanzler-, das Ressort- und das Kollegialprinzip. Kürzer als es der merklich an Art. 55–57 WRV orientierte Art. 65 GG tut, lassen sich diese Prinzipien kaum schildern: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwor­ tung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung.“ 288

Erlass über die Errichtung eines Beirates für Biodiversität und genetische Ressourcen beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 20.3.2007, online abrufbar unter https://www.genres.de/fachgremien/wissenschaftlicher-beirat-fuerbiodiversitaet-und-genetische-ressourcen/errichtungserlass/ (letzter Abruf 19.8.2020). 289 Eingerichtet durch die Satzung der Reaktor-Sicherheitskommission vom 22.12.1998, BAnz. 1999, S. 201. 290 Eingerichtet aufgrund von § 4 GenTG und der Verordnung über die Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit (ZKBS-Verordnung – ZKBSV) vom 30.10.1990, in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.8.1996 (BGBl. I, S. 1232), zuletzt geändert durch Artikel 2 der Verordnung vom 12.8.2019 (BGBl. I S. 1235). 291 Eingerichtet nach § 33 ProdSG. Ehemals Ausschuss für technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte (AtAV) nach § 13 Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GSPG). 292 Eingerichtet aufgrund von § 16  b Abs. 2 TierSchG und der Verordnung über die Tier­ schutzkommission beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau­ cherschutz (Tierschutzkommissions-Verordnung) vom 23.6.1987 (BGBl.  I, S. 1557), zuletzt geändert durch Artikel 393 der Verordnung vom 31.8.2015 (BGBl. I S. 1474).

296

504

§ 7 Bundesregierung

297

Bereits der Wortlaut dieser Norm zeigt, dass mit der Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Regierung regelmäßig auch die Verantwortung für das Regierungshandeln (primär gegenüber dem Bundestag) zugewiesen wird. Insofern kommt Art. 65 GG eine gewisse Bedeutung auch für das Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander zu, wobei allerdings die Zuweisung politischer Verantwortung erst durch Mitdenken der entsprechenden Kontroll- und Sanktionsmechanismen wirk­ lichen Gehalt entwickelt (s. näher Rn. 21 ff., 226 ff.).

298

Im Übrigen handelt es sich bei Art. 65 GG aber um eine Regelung des Innen­ verhältnisses der Regierung. Durch die Vorschrift werden keine Befugnisse im Verhältnis zu den anderen obersten Bundesorganen begründet, sondern sie be­ stimmt lediglich die innere Organisationsstruktur der Regierung.293 2. Kanzlerprinzip a) Allgemeines

299

Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und leitet die Regie­ rungsgeschäfte (Art. 65 S. 1 und 4 GG). Der Bundeskanzler ist mithin für die politischen Grundsätze und Ziele der Regierungstätigkeit verantwortlich. Er trifft die grundlegenden und richtungsweisenden Entscheidungen. Die Dominanz des Kanzlers innerhalb der Regierung, die durch dessen Wahl und Abwahl (Art. 63, Art. 67, 68 Abs. 1 S. 2 GG) und die Ministerauswahl in personeller Hinsicht vor­ gezeichnet ist, wird durch seine Richtlinien- und Geschäftsleitungskompetenz sachlich ausgefüllt. Er ist trotz seiner Einbindung in das Kollegialorgan Bundes­ regierung gerade kein „primus inter pares“,294 sondern genießt eine grundsätz­ liche Vorrangstellung.

300

Konzeptionell ist das Amt des Bundeskanzlers „ressortfrei“ angelegt, ein be­ stimmter Geschäftsbereich ist ihm also nicht zugewiesen. Das heißt aber nicht, dass der Bundeskanzler nicht doch bestimmte Gebiete selbst wahrnehmen dürfte (s. a. Rn. 79). Das kann entweder dadurch geschehen, dass per Organisationserlass be­ stimmte Zuständigkeiten dem Bundeskanzler(amt) zugeschlagen werden. Oder aber der Zuschnitt der Ministerien bleibt unverändert, der Kanzler steht aber in Personalunion zugleich an der Spitze eines Ministeriums. Gegen beides bestehen keine prinzipiellen verfassungsrechtlichen Bedenken, solange die Konzentration beim Bundeskanzler nicht so weit getrieben wird, dass der kollegiale Charakter der Bundesregierung gefährdet wird. Aus Art. 65a, 115b GG folgt allerdings, dass eine Wahrnehmung des Verteidigungsressorts durch den Bundeskanzler ausge­ schlossen ist.295 293

BVerfGE 1, 299 (310 f.) – Wohnungsbauförderung; a. A. Sellmann, Der schlichte Parla­ mentsbeschluß, 1966, S. 61 f. 294 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungsieferung August 2019), Art. 62, Rn. 8 f. 295 Epping, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 65a Rn. 16.

D. Organisationsstruktur

505

Beispielsweise nahm Konrad Adenauer in seinem ersten Kabinett die Außenpolitik selbst wahr. Dies war in der Sache nachvollziehbar, da der junge westdeutsche Staat ohnehin (noch) keine eigenständige Außenpolitik im eigentlichen Sinne führen konnte, bei den Verhandlungen mit den Alliierten aber gleichwohl wichtige Grundsatzentscheidungen zu treffen oder vorzu­ bereiten waren (Westintegration, Europäische Einigung, Wiederbewaffnung etc.).

301

b) Richtlinienkompetenz In Anknüpfung an Art. 56 WRV bestimmt Art. 65 GG in seinem ersten Satz schlicht: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt ­dafür die Verantwortung“. Bei der Ausübung der Richtlinienkompetenz besteht keine rechtliche Bindung an parteipolitische oder an koalitionäre Vorgaben.296 Faktisch bestehen solche Bindungen freilich in erheblichem Maße (insbesondere an Koali­ tionsvereinbarungen, s. o. Rn. 98 ff.), ist der Kanzler doch auf das Vertrauen der Mehrheit im Parlament und auch auf politische Mitstreiter im Bundesrat angewiesen.

302

Weil Art. 65 GG primär eine Regelung des Innenverhältnisses der Bundesre­ gierung ist (s. Rn. 298), kommt den Richtlinien des Kanzlers außerhalb der Re­ gierungstätigkeit keine rechtliche Wirkung zu. Die Formulierung „Richtlinien der Politik“ in Art. 65 S. 1 GG ist also nur auf die Politik der Bundesregierung zu beziehen, nicht etwa auf die der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Die Richtlinienkompetenz hat also keine Außenwirkung. Aus Art. 65 S. 1 GG folgt kein Recht des Bundeskanzlers auf politische Führung gegenüber den anderen Verfassungsorganen.297

303

Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers ist auf Ausfüllung durch die Ressortkompetenz der Minister angelegt. Das heißt, den Ministern müssen so­ wohl organisatorisch als auch sachlich nennenswerte Spielräume zur Gestaltung ihres Ressorts verbleiben. Daraus folgt aber nicht, dass sich die Richtlinienkom­ petenz nur auf abstrakte und generelle Vorgaben beschränkt, sondern sie kann richtungsbestimmende Einzelentscheidungen mit umfassen.298

304

Die Minister sind zwar an diese einzelfallbezogenen Richtlinien gebunden, es besteht aber kein „Selbsteintrittsrecht“ des Bundeskanzlers.299 Das heißt der Bundeskanzler darf weder im Innenbereich eines Ministeriums (Erteilung von Weisungen an Ministerialbeamte, organisatorische Maßnahmen etc.) noch gar im Außenverhältnis selbst Maßnahmen des Ministers vornehmen. Die Wahrneh­ mungskompetenz in seinem Ressort bleibt beim Minister, es sei denn der Bundes­

305

296

Vgl. dazu auch Roth, Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat, 2009, S. 147 f. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 65 Rn. 29 ff. 298 Zu dieser h. M. statt vieler Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 65 Rn. 20 m. w. N.; a. A. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 642. 299 Zu dieser h. M. statt vieler Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65 Rn. 25; a. A. wohl Herzog, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), in: Maunz / Dürig, Art. 65 Rn. 8. 297

506

§ 7 Bundesregierung

kanzler zieht die Zuständigkeit für den einschlägigen Themenbereich per Organi­ sationserlass an sich (s. Rn. 300). 306

Die konkrete Steuerungskraft von Richtlinien des Kanzlers hängt maßgeblich von seiner Person und den Machtverhältnissen in Regierung und Parlament ab. Insgesamt dürfte die Frage der Richtlinienkonformität ministeriellen Handelns kaum jemals Gegenstand verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen werden. Gegen entsprechende Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsge­ richt spricht rechtlich zwar nichts. Dem Bundeskanzler steht aber ohnehin das viel schärfere Schwert der Entlassung von Ministern zur Verfügung. Das Missachten der Richtlinien durch einen Minister führt deshalb in aller Regel zu politischen, nicht aber zu rechtlichen Sanktionen.

307

Im Fall einer geschäftsführenden Bundesregierung (s. o. Rn. 155 ff., 173 ff.) nach einer Bundestagswahl ist aber durchaus vorstellbar, dass Reichweite und Durchsetzung der Richt­ linienkompetenz zur verfassungsrechtlichen Streitfrage werden. Denn in diesem Fall fehlt einerseits regelmäßig die Koalition, deren Fortbestandssicherung normalerweise die Betei­ ligten dazu motiviert, in strittigen Punkten einvernehmliche Lösungen zu finden. Anderer­ seits kann der geschäftsführende Kanzler seine Vorstellungen schwer mit der Drohung der Ministerentlassung bzw. dem Entzug bestimmter Zuständigkeiten durchsetzen. Denn seine Personal- und Organisationsgewalt ist – je nach dazu vertretener Auffassung – durch das Ver­ steinerungsprinzip mehr oder weniger stark beschränkt (s. o. Rn. 175). Schon deshalb ist es unrichtig, der Richtlinienkompetenz ihre rechtliche Relevanz durchweg abzusprechen und sie als bloßen politischen Mythos abzutun.300

c) Geschäftsleitungskompetenz 308

Art. 65 S. 4 GG weist dem Bundeskanzler die Aufgabe der Geschäftsleitung (nach den Maßgaben der GOBReg, s. dazu Rn. 182 ff.) zu. Dies ist in einem eher formal-administrativen Sinne zu verstehen, d. h. der Bundeskanzler (bzw. prak­ tisch das Bundeskanzleramt und der Kanzleramtschef) nimmt gewissermaßen die Aufgabe eines Sekretariats, einer Geschäftsstelle der Bundesregierung wahr. Die Geschäftsleitungskompetenz bezieht sich auf die Geschäfte der Bundesregierung als Kollegialorgan, nicht auf die Geschäftsabläufe in den Ressorts. Letztere liegen nach dem Ressortprinzip grundsätzlich in der Zuständigkeit der jeweiligen Minis­ ter, auch wenn aus § 2 GOBReg folgt, dass der Kanzler auch auf eine einheitliche Geschäftsführung der Ministerien hinwirken soll (was praktisch allerdings eher durch die GGO, oben Rn. 187 ff., sichergestellt wird).

309

§ 6 GOBReg wiederholt den Grundsatz, dass dem Bundeskanzler die Geschäftsleitung in der Bundesregierung zusteht, während die nähere Ausgestaltung der Geschäftsleitungskompetenz dann insb. in § 7 (Einbindung des Kanzleramtschefs301), § 17 Abs. 2 (Vorabbesprechung 300

So aber Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65, Rn. 18a. Die GOBReg verwendet noch die bis 1964 gebräuchliche Bezeichnung als Staatssekretär des Bundeskanzleramts, meint aber den Chef des Bundeskanzleramts, selbst wenn dieser Mi­ 301

D. Organisationsstruktur

507

strittiger Vorlagen), § 20 Abs. 2 (Entscheidung über Durchführung des Umlaufverfahrens), § 21 (Festlegen der Sitzungen, Einladungen, Tagesordnung, Empfang und Verteilung der Vorlagen), § 22 Abs. 1 S. 1 (Vorsitz in den Kabinettssitzungen), § 28 Abs. 1 (Zuleitung von Vorlagen an Bundestag und Bundesrat) GOBReg erfolgt.

3. Ressortprinzip Innerhalb der politischen Richtlinien leitet nach Art. 65 S. 2 GG jeder Bundes­ minister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Kann man Art. 62 GG entnehmen, dass die Bundesregierung ein Kollegial­ organ ist, so ergänzt Art. 65 S. 2 GG das Erfordernis einer nach Sachbereichen (Ressorts) gegliederten und abgegrenzten Aufgabenerfüllung durch die einzel­ nen Minister. Zugleich wurzelt im Ressortprinzip302 die Grundlage für eine um­ fassende Leitungsbefugnis und damit die Verantwortlichkeit jedes Ministers für seinen Geschäftsbereich.

310

Die Ressortkompetenz der Minister bedeutet in sachlicher Hinsicht grund­ sätzlich Selbständigkeit und Weisungsfreiheit sowohl gegenüber der Bundes­ regierung als auch gegenüber dem Bundeskanzler. Dieser Grundsatz wird aber sowohl durch die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers als auch durch das Kollegialprinzip relativiert: Die Minister dürfen und sollen zwar eigene sachpoliti­ sche Programme und Agenden entwickeln. Diese müssen sich aber in den Rahmen einfügen, der durch die Richtlinien des Bundeskanzlers vorgegeben ist. Soweit es sich um richtungsbestimmende Einzelentscheidungen handelt (s. o. Rn. 304), kann eine Richtlinie des Bundeskanzlers sogar durchaus den Charakter einer Weisung annehmen. Aus dem Kollegialprinzip können sich Einschränkungen der Ressort­ kompetenz dann ergeben, wenn Meinungsverschiedenheiten über eine Frage be­ stehen, welche die Geschäftsbereiche verschiedener Ministerien betrifft (dazu unten Rn. 320 ff.).

311

Den verfassungsgarantierten Ressorts kommt innerhalb der Bundesregierung eine he­ rausgehobene Stellung zu (s. o. Rn. 229 ff.). Jedenfalls soweit dies auf der Einräumung be­ sonderer Befugnisse durch das Grundgesetz beruht, wirft das die Frage auf, ob insofern die Ressortkompetenz stärkeren Schutz vor Beschränkungen durch die Richtlinienkompetenz des Kanzlers und das Kollegialprinzip genießt. Für die Befugnisse des Bundesfinanzminis­ ters nach Art. 112 GG (Zustimmung zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben) hat sich das Bundesverfassungsgericht dazu schon geäußert (s. o. Rn. 233 ff.).

312

Unabhängig von den inhaltlichen Entscheidungen leiten die Minister ihr Mi­ nisterium auch in organisatorischer Hinsicht selbständig und unter eigener Ver­ antwortung. Das heißt, sie können die organisatorische Gliederung ihres Minis­ teriums, die Arbeitsabläufe, den Einsatz ihres Personals etc. grundsätzlich selbst

313

nisterrang hat (s. o. Rn. 209 f.), vgl. Busse, Geschäftsordnung Bundesregierung, 3. Aufl. 2018, § 6, Rn. 1. 302 Zur Geschichte vgl. Koch, Das Ressortprinzip, 2005, S. 37 f.

508

§ 7 Bundesregierung

regeln. Allerdings haben sich die Ministerien für viele Grundfragen in diesen Bereichen einheitliche Regeln in Form der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) gegeben (s. o. Rn. 187 ff.). 314

Gegenüber den Bediensteten des Ministeriums steht dem Minister ein Auf­ sichts- und Weisungsrecht zu, gleichzeitig treffen ihn die Verantwortlichkeiten eines obersten Dienstherrn. 4. Kabinetts- oder Kollegialprinzip

315

Nach dem Kollegial- oder gleichbedeutend auch Kabinettsprinzip sind be­ stimmte Entscheidungen von der Bundesregierung als Kollegialorgan zu treffen (zum Modus der Beschlussfassung s. o. Rn. 180 f.). Hier sind im Wesentlichen zwei Konstellationen zu unterscheiden: Zum einen gibt es originäre Kompetenzen des Kollegialorgans Bundesregierung (z. B. das Gesetzesinitiativrecht nach Art. 76 Abs. 1 GG). Zum anderen können eigentlich dem Ressortprinzip unterfallende Fragen nach Art. 65 S. 3 GG vom Kabinett zu entscheiden sein, wenn Uneinigkeit unter den Ministern besteht (konfliktentscheidende Funktion des Kabinetts).

316

Originäre Kompetenzen können sowohl durch das Grundgesetz (s. dazu die Auflistung in Rn. 330) als auch durch einfaches Recht zugewiesen werden. Gegen einfachgesetzliche Kompetenzzuweisungen an die Bundesregierung als Kolle­ gialorgan spricht grundsätzlich nichts.303 Bei der Auslegung von Aufgaben- und Kompetenzvorschriften ist stets darauf zu achten, ob die Zuweisung an die Bundesregierung (also das Kollegialorgan) oder an den zuständigen Minister erfolgt (bzw. evtl. an den Kanzler).304 Das Grundgesetz unterscheidet insofern meist sehr genau, auch wenn sich vereinzelt (insbesondere bei Art. 86 GG) die Frage stellt, ob wirklich das Regierungskollegium oder nicht nur die Bundesregierung „als Ganzes“ (als „Gesamtorgan“) gemeint ist (also die Gesamtheit aus Regierungs­ kollegium, Kanzler und Ministern, ohne Festlegung regierungsinterner Zustän­ digkeiten; s. dazu auch Rn. 2).

317

Ergibt die Auslegung, dass eine Kompetenz oder Aufgabe dem Kollegialorgan zugewiesen ist, so kann sie nicht an einen Minister delegiert werden. So führt das Bundesverfassungsgericht etwa zu Verordnungsermächtigungen der Bundes­ regierung aus: 303

Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65, Rn. 29 mit Nachweisen zur a. A. in der älteren Literatur. Man mag darin einen Eingriff in die Organisationsgewalt der Bundesre­ gierung bzw. des Bundeskanzlers sehen. Solche Beschränkungen sind aber auch nicht per se unzulässig (s. o. Rn. 75 f.). Oldiges / Brinktrine weisen a. a. O. zutreffend darauf hin, dass dem Regierungskollegium keine zu umfangreichen Aufgaben zugewiesen werden dürfen, die nur mit Rückgriff auf einen Verwaltungsunterbau erledigt werden können. Denn das Kabinett hat ressortfrei zu bleiben. 304 S. dazu etwa Art. 85 Abs. 3 und 4 i. V. m. Art. 108 Abs. 3 S. 2 GG.

D. Organisationsstruktur

509

„Wenn das Parlament die Rechtsetzungsbefugnis nicht einem einzelnen Bundesminister, sondern der Bundesregierung insgesamt überträgt, trifft es damit nicht nur eine formale Zuständigkeitsbestimmung, sondern auch eine materielle Qualitätsentscheidung. Der Ver­ ordnung sollen diejenigen Vorteile zugute kommen, die mit einer Kollegialentscheidung im Unterschied zur Einzelentscheidung verbunden sind.“305

Zu diesen Vorteilen der Kollegialentscheidung zählt das Bundesverfassungs­ gericht „die Vermehrung der entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und Argu­ mente, die erhöhte Berücksichtigung von Entscheidungsfolgen und die gesteigerte wechselseitige Kontrolle.“306

318

Bedeutsam und problematisch ist die Geschäftsordnungsvorschrift des § 15 ­ OBReg, nach der Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung sowie beG stimmte Personalentscheidungen generell der Bundesregierung zur Beratung und Beschlussfassung zu unterbreiten sind. Diese Vorschrift wird einerseits der politi­ schen Praxis gerecht, nach der wichtige Fragen in der Regel nicht im Alleingang vom Bundeskanzler (als Richtlinienentscheidung) oder vom zuständigen Bundes­ minister entschieden werden, sondern darüber Konsens im Kabinett hergestellt wird. Sie steht aber im Konflikt mit Art. 65 S. 2 und 3 GG, wonach Ressortange­ legenheiten eben nur im Fall von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bun­ desministern zu Kabinettsangelegenheiten werden sollen.307 In der Literatur findet sich deshalb der sinnvolle Vorschlag, § 15 GOBReg insofern verfassungskonform auszulegen, als dadurch nur politische Abstimmung ermöglicht wird, aber durch Beschlüsse zu entsprechenden Vorlagen grundsätzlich keine verfassungsrecht­ liche Bindung der zuständigen Minister oder des Bundeskanzlers (hinsichtlich des Erlasses entgegenstehender Richtlinien) entsteht.308

319

Die Konfliktentscheidungsfunktion des Kabinetts nach Art. 65 S. 3 GG er­ fasst einerseits Kompetenzkonflikte zwischen den Ministern und andererseits inhaltliche Fragen, bei denen sich verschiedene Ressorts nicht einig sind.309 Ent­ sprechend wird das Kabinett einen kompetenziellen oder inhaltlichen Beschluss fassen, der für die Minister bindend ist. Über den Wortlaut hinaus ist zu fordern, dass der Meinungsstreit zwischen Ministern besteht, deren Geschäftsbereich von einer Frage ernsthaft betroffen ist. Ist beispielsweise der Familienminister mit einer Neuregelung des Tempolimits auf Autobahnen nicht einverstanden, kann er deswegen nicht über Art. 65 S. 3 GG eine verbindliche Entscheidung des Ka­ binetts erzwingen.

320

305

BVerfGE 91, 148 (166) – Umlaufverfahren. BVerfGE 91, 148 (166) – Umlaufverfahren. 307 Für eine Verfassungswidrigkeit von § 15 GOBReg etwa Böckenförde, Die Organisations­ gewalt im Bereich der Regierung, 2. (unveränd.) Aufl. 1998, S. 209 f. 308 Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 65, Rn. 12; Oldiges / Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65, Rn. 31; ders., Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 467. 309 Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 65, Rn. 35. 306

510

§ 7 Bundesregierung

321

Art. 65 S. 3 GG findet nach seinem klaren Wortlaut, der nur die Bundesminister erwähnt, keine Anwendung auf Meinungsverschiedenheiten mit dem Bundeskanzler. Teilweise wird deshalb auf einen generellen Vorrang der Richtlinienkompetenz vor dem Kollegialprinzip geschlossen.310 Richtigerweise ist insofern aber zu differenzieren: Dem Kanzler steht es offen, (hinreichend bedeutsame) inhaltliche Fragen durch Richtlinie zu entscheiden. Tut er das, so ist dies bindend für die betroffenen Minister und es besteht bei normativer Betrachtung kein Raum mehr für die von Art. 65 S. 3 GG vorausgesetzten Meinungsverschiedenheiten zwi­ schen ihnen. Insoweit kann der Kanzler tatsächlich durch die Richtlinienkompetenz gewisse Fragen der Entscheidung des Kollegiums entziehen. Allerdings handelt es sich dabei dogmatisch weniger um einen Vorrang als um eine Frage des tatbestandlichen Anwendungsbereichs von Art. 65 S. 3 GG.

322

Bei originären Zuständigkeiten des Regierungskollegiums hat das Kanzlerprinzip aber nach zutreffender (und wohl herrschender) Auffassung keinen Vorrang.311 Denn diese sind bereits im Ausgangspunkt dem Kollegialorgan zugewiesen und sollen auch die Vorteile einer Kollegialentscheidung (s. o. Rn. 318) genießen. An­ ders gewendet bedeutet dies, dass Richtlinien des Kanzlers die Minister nur als Leiter ihres Ressorts binden, aber nicht in ihrem Abstimmungsverhalten als Mit­ glieder des Kollegialorgans Bundesregierung.312 5. Verhältnis der Prinzipien zueinander

323

Weder das Kanzler-, noch das Ressort- oder das Kollegialprinzip sind im Grund­ gesetz in Reinform ausgestaltet.313 Auch ist kein generelles Rangverhältnis der drei Prinzipien auszumachen. Gleichwohl stehen sie in einem Spannungsverhält­ nis zueinander. Viele vermeintliche Konflikte zwischen den einzelnen Prinzipien lassen sich aber durch sinnvolle Abgrenzung ihrer Anwendungsbereiche und ihrer Rechtsfolgen lösen (s. zu Richtlinienkompetenz vs. Ressortkompetenz Rn. 304 f., 311, 322; zu Richtlinienkompetenz vs. Kollegialprinzip Rn. 321 f.; zu Ressort­ kompetenz vs. Kollegialprinzip Rn. 311, 320). Potential für Konflikte bleibt aber bestehen. Was gilt etwa, wenn eine unter den Ministern strittige Frage zunächst per Kabinettsbeschluss verbindlich entschieden wird und dem Kanzler kurz da­ rauf einfällt, dass er doch im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz verbindlich entscheiden will? 310

Mager, in: Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 65, Rn. 9; Böckenförde, Die Organisa­ tionsgewalt im Bereich der Regierung, 2. (unveränd.) Aufl. 1998, S. 173; Schenke, in: Kahl / ​ Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar (195. Aktualisierung, Dezember 2018), Art. 65, Rn. 99 ff. 311 Epping, in: BeckOK GG (42. Edition Stand: 01.12.2019), Art. 65, Rn. 13; Pieroth, in: Jarass / ​Pieroth, 15. Aufl. 2018, Art. 65, Rn. 3; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 65, Rn. 26; Oldiges / Brinktrine, in Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65, Rn. 36 f. 312 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, 15. Aufl. 2018, Art. 65, Rn. 3. 313 Überlegungen, wie sich diese Prinzipien in Reinform darstellen würden, finden sich etwa bei Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 39 ff.

E. Aufgaben und Befugnisse

511

Solchen Fragen sollten vor allem nach dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue314 (dazu § 1 Rn. 158 ff.) sowie dem Prinzip der praktischen Konkordanz315 gelöst werden. Daraus folgt, dass keines der Prinzipien so gehandhabt werden darf, dass ein anderes Prinzip marginalisiert wird. Es ist ein optimierender Ausgleich zwischen den Richtlinien des Kanzlers, dem Ressortprinzip und dem kollegialem Entscheidungsmodus anzustreben. Insgesamt gibt es eine ungeschriebene verfas­ sungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung und ihrer Mitglieder zu einer inhalt­ lich geschlossenen und solidarischen Kompetenzwahrnehmung.316

324

E. Aufgaben und Befugnisse I. Allgemeines Die Aufgaben der Bundesregierung lassen sich schwer abschließend definie­ ren, aber zumindest allgemein umschreiben. Die Bundesregierung ist sowohl Teil der vollziehenden Gewalt als auch der Staatsleitung (s. schon Rn. 3 f., 19 f.). Vollziehende Aufgaben ergeben sich insbesondere aus der Stellung der Bundes­ regierung (genauer: der Bundesminister) an der Spitze der Bundesverwaltung. Den Bundesministern bzw. ihren Ministerien steht die Dienst- und Fachaufsicht über die Bundesbehörden zu. Daraus ergibt sich insbesondere auch die Befugnis, diesen Weisungen zu erteilen, egal ob genereller Natur (Verwaltungsvorschriften) oder Einzelfallweisungen. Selbst gegenüber der Landesverwaltung geben Art. 84, 85 GG der Bundesregierung gewisse Aufsichts- und Einwirkungsmöglichkeiten. Aber die Bundesregierung ist weit über diese administrativen Aufgaben hinaus vor allem für die politische Staatsführung verantwortlich, also mit sog. gu­ bernativen Aufgaben betraut. Zu dieser „politischen Leitungsaufgabe“ gehört in den Worten des Bundesverfassungsgerichts die „Bestimmung der Ziele der Poli­ tik, die Aufstellung des Regierungsprogramms und die Verwirklichung dieses Programms.“317

325

Weil die Aufgaben der Bundesregierung, insbesondere ihre „politische Leitungs­ aufgabe“, unbestimmt sind und offen für zukünftige Entwicklungen bleiben sollen, werden sie zum Teil auch nur negativ definiert: Der Bundesregierung (einschließ­ lich der ihr nachgelagerten Behörden) oblägen nach diesem Ansatz alle staatlichen Aufgaben des Bundes, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der gesetzgebenden Organe oder der Rechtsprechung fallen.318 Die darin liegende Zuständigkeits­

326

314

Vgl. dazu Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 53 f. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff. 316 Kloepfer / T hull, JuS 1986, 394 (397). 317 BVerfGE 45, 1 (132) – Haushaltsüberschreitung. 318 Kassimatis, Der Bereich der Regierung, 1967, S. 59. 315

512

§ 7 Bundesregierung

vermutung für die Bundesregierung319 mag zwar für Verwaltungsaufgaben sachge­ mäß sein,320 kann in einem parlamentarischen System für die Staatsleitung aber nicht ohne Weiteres akzeptiert werden. Denn die Bundesregierung teilt sich die Staatslei­ tung mit den anderen Verfassungsorganen (insbesondere mit dem Bundestag) und hat nur eine mittelbare, vom Parlament abgeleitete demokratische Legitimation. 327

Eine andere Frage ist die nach dem Zugriff anderer Organe auf den Bereich der Regierung. Das betrifft einerseits den Einblick in die Regierungsarbeit (In­ formationsansprüche, Zugriff auf interne Akten, E-Mails, Besprechungsprotokolle usw.), der für die Kontrolltätigkeit des Bundestags und der Gerichte oft unerlässlich ist. Andererseits werden der Regierung ggf. in bestimmten Bereichen inhaltliche Vorgaben gemacht. Beide Fälle führen zu der Frage, ob es Kernbereiche der Regierung gibt, die vor dem Zugriff durch andere Organe besonders geschützt sind. Dabei müssen informationelle (Rn. 328) und etwaige sachliche Kernbereiche (Rn. 329) unterschieden werden.

328

Der Einblick anderer Organe in Regierungsinterna war bereits mehrfach Gegen­ stand verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen, nämlich hinsichtlich der Reichweite von Informationsansprüchen des Parlaments (insb. von Untersuchungs­ ausschüssen) gegenüber der Regierung. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei einen informationellen Kernbereich der Regierung bejaht, den von ihm so ge­ nannten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (s. a. § 2 Rn. 104). Dem­ nach gibt es einen „grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich“321 der Regierung. Geschützt wird durch das Ausforschungs­ verbot vor allem die Willensbildung innerhalb der Regierung, die gewisse Arkanbereiche benötigt, in denen die an einer Entscheidung Beteiligten offen ihre Einschätzung äußern können, ohne befürchten zu müssen, dass diese in die Öf­ fentlichkeit getragen wird. Dies schließt insbesondere der Ausforschung laufender Entscheidungsprozesse der Bundesregierung aus, kann aber auch bei abgeschlossenen Sachverhalten einem Auskunftsanspruch entgegenstehen. In diesen Fällen kommt das Bundesverfassungsgericht letztlich zu einer Abwägung zwischen dem Interesse der Regierung an Vertraulichkeit (umso schutzwürdiger, je näher an der gubernativen Entscheidung) und dem Informationsinteresse des Bundestags (besonders schutzwürdig bei Aufklärung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb der Regierung).322 Auch wenn der infor­ mationelle Kernbereich der Regierung bisher primär gegenüber dem Bundestag relevant wurde, ist er der Sache nach auch auf die Kontrolltätigkeit der Gerichte zu übertragen (s. § 8 Rn. 124). 319

Genau gesagt geht es um eine etwaige Vermutung der Organzuständigkeit der Bundes­ regierung. Die davon streng zu trennende Frage der Verteilung der Verbandszuständigkeiten ist hier nicht Thema. 320 So etwa Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 62, Rn. 29; M.  Schröder, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 64 Rn. 10. 321 BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss. 322 BVerfGE 124, 78 (122 f.) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse.

E. Aufgaben und Befugnisse

513

Ein sachlicher Kernbereich der Regierung würde bedeuten, dass die Bundesre­ gierung bei bestimmten Regierungsaufgaben und -befugnissen besonderen Schutz vor inhaltlichen Vorgaben durch andere Organe genießt. Das könnte etwa bedeuten, dass der Gesetzgeber in diesen Bereichen keine oder nur zurückhaltende Regelun­ gen treffen darf und / oder dass die (verfassungs-)gerichtliche Kontrolle zumindest in ihrer Kontrolldichte zurückgenommen ist (s. zu Letzterem auch § 8 Rn. 120 ff.). Ein Kandidat für einen solchen sachlichen Kernbereich wäre die Außenpolitik, in der das Bundesverfassungsgericht sowohl seine eigene Kontrolldichte als auch die Möglichkeit inhaltlicher Vorgaben durch den Bundestag einschränkt (s. u. Rn. 334 ff.). Auch der Kernbereich der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers (s. o. Rn. 76) passt hierzu. Für die Annahme sachlicher Kernbereiche sprechen Überlegungen der Organadäquanz (die Bundesregierung ist für bestimmte Auf­ gaben besser geeignet) und der Gewaltenteilung. Jedenfalls ist die Regierung nicht lediglich „Exekutivausschuss des Parlaments“.323 Regieren ist auch nicht nur Ver­ fassungs- und Gesetzesvollzug. Dennoch ist die Annahme sachlicher Kernbereiche kritisch zu sehen, jedenfalls sofern diese sich nicht auf den Innenbereich des Ver­ fassungsorgans Bundesregierung beziehen (wie im Fall der Organisationsgewalt). So spricht das Demokratieprinzip dafür, dass es dem Bundestag offen stehen muss, etwa bestimmte außenpolitische Grundsätze gesetzlich zu regeln. Ebenso ist es rechtsstaatlich unbefriedigend, wenn die Berührung außenpolitischer Belange zu einer reduzierten grundrechtlichen Kontrolldichte führt.

329

II. Ausdrücklich zugewiesene Befugnisse Ausgangspunkt für die Bestimmung der Aufgaben der Bundesregierung sind die Befugnisse, die ihr vom Grundgesetz ausdrücklich zugewiesen sind. Im Einzel­ nen sind hier zu nennen: – die Mitwirkung im Bereich der Gesetzgebung, namentlich bei der Einbrin­ gung von Gesetzesinitiativen (Art. 76 Abs. 1 GG, Art. 110 Abs. 3 GG, Art. 115d Abs. 2  GG), bei der Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 S. 4 GG), und bei finanzwirksamen Gesetzen (Art. 113 GG), – der Erlass von Rechtsverordnungen (Art. 80 GG, Art. 119 GG, Art. 129 Abs. 1 S. 2 GG),324 – der Erlass der Geschäftsordnung der Bundesregierung (Art. 65 S. 4 GG), – viele Angelegenheiten im Verwaltungsbereich, etwa der Erlass von Verwal­ tungsvorschriften (Art. 84 Abs. 2 GG, Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG325) sowie Angele­ 323

Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 131; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 62, Rn. 8. 324 Vgl. dazu insb. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 261 ff. 325 Vgl. hierzu BVerfGE 100, 249 – Allgemeine Verwaltungsvorschriften.

330

514

§ 7 Bundesregierung

genheiten der Aufsicht über den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder (Art. 84 Abs. 3 bis 5 GG, Art. 85 Abs. 2 bis 4 GG, Art. 87 b Abs. 2 GG), – die Organisationsgewalt im Bereich der bundeseigenen Verwaltung (Art. 86 GG) sowie im Bereich der Finanzverwaltung (Art. 108 Abs. 2 S. 3 u. Abs. 7 GG), – die Befugnis zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 und 4 GG, auch in den Fällen der Art. 18, 21 und 126 GG), – die Anwendung von Bundeszwang (Art. 37 GG), – die Genehmigung der Herstellung, Beförderung und Inverkehrbringung von Kriegswaffen (Art. 26 Abs. 2 GG), – die Genehmigung von Verträgen der Bundesländer mit ausländischen Staaten (Art. 32 Abs. 3 GG) und – die Ausübung vieler Befugnisse im Not-, Spannungs-, Notstands- oder Ver­ teidigungsfall (Art. 35 Abs. 3  GG, Art. 53a Abs. 2  GG, Art. 80a Abs. 3  GG, Art. 81 GG, Art. 87a Abs. 4 GG, Art. 91 Abs. 2 GG, Art. 115a Abs. 1, Art. 115 f., Art. 115i Abs. 2 GG – s. dazu § 28). 331

Schon bei diesem Überblick fällt auf, dass der Bundesregierung nicht nur vollziehende, sondern zum Teil auch rechtsetzende Aufgaben zugewiesen oder doch zumindest entsprechende Mitwirkungsbefugnisse eingeräumt werden. So ist die Bundesregierung am formellen Gesetzgebungsverfahren beteiligt und kann durch ihr Initiativrecht die Gesetze auch inhaltlich stark beeinflussen. Besonders deut­ lich wird die Überantwortung gesetzgebender Aufgaben (im materiellen Sinne) an die Bundesregierung durch die Befugnis zum Erlass von Rechtsverordnungen.

332

Wird insofern die horizontale Gewaltenteilung gelockert, tangieren die Auf­ sichts- und Weisungsrechte der Bundesregierung im Bereich des Landesvollzugs von Bundesgesetzen auch die vertikale föderalistische Gewaltenteilung. Diese Durchbrechungen bilden aber die Ausnahme – die Bundesregierung hat davon ab­ gesehen regelmäßig keine Einwirkungsmöglichkeiten auf die Staatstätigkeit in den Ländern. Der in der politischen Realität gleichwohl wahrzunehmende Ein­ fluss der Bundesregierung auf die Länder rührt in erster Linie von der bundes­ weiten Ausrichtung der politischen Parteien her.

III. Nicht ausdrücklich zugewiesene Aufgaben 333

Neben diesen normierten Zuständigkeiten ergeben sich weitere, nicht aus­ drücklich zugewiesene Regierungskompetenzen aus dem Gefüge der grundgesetzlichen Organisationsvorschriften, von denen drei im Folgenden exem­ plarisch skizziert werden sollen: die Außenpolitik, die Europapolitik und die Öffentlichkeitsarbeit.

E. Aufgaben und Befugnisse

515

1. Außenpolitik Die Bundesregierung nimmt die dominierende Rolle bei der Wahrnehmung der sogenannten auswärtigen Gewalt326 des Bundes ein. Das hat damit zu tun, dass Außenpolitik traditionell Domäne der Exekutive ist, wird vom Bundesverfas­ sungsgericht aber auch mit Erwägungen der Organadäquanz untermauert.327 Dementsprechend neigt das Bundesverfassungsgericht im Bereich der auswärti­ gen Gewalt des Bundes328 einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Bundesregierung zu und spricht von einem „für außenpolitisches Handeln gewollten Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit“329 (vgl. auch Rn. 329).

334

Gleichwohl wirken natürlich auch andere Organe an der Außenpolitik des Bundes mit. Teilweise sieht das Grundgesetz eine Mitwirkung anderer Organe ausdrücklich vor, etwa in Art. 59 Abs. 1 GG (Bundespräsident) sowie in Art. 24 Abs. 1 GG und in Art. 59 Abs. 2 GG (Bundestag und Bundesrat). Art. 45a Abs. 1 GG schreibt dem Bundestag ausdrücklich die Ein­ richtung eines Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten vor.330 Darüber hinaus betreiben die anderen Verfassungsorgane auch in gewissem Maße Außenpolitik in Form des Empfangs ausländischer Gäste und Delegationen, durch eigene Reisen ins Ausland, durch Resolutionen und Reden mit Auslandsbezug etc.

335

Mit dem Erfordernis parlamentarischer Zustimmung zu Auslandsein­sätzen der Bundeswehr hat das Bundesverfassungsgericht sogar einen ungeschriebenen Mitwirkungstatbestand zugunsten des Bundestags geschaffen.331 Doch selbst in diesem Zusammenhang betont das Bundesverfassungsgericht das P ­ rimat der Bundesregierung in der Außenpolitik. Ausdrück­ lich wird hervorgehoben, dass der Bundestag nur von der Bundesregierung vorgeschlagene Auslandseinsätze der Bundeswehr ermöglichen oder unterbinden kann, aber weder Einfluss auf die näheren Modalitäten hat, noch die Regierung zu einem Einsatz verpflichten kann.332

335a

Es werden dem Bundestag also nur kontrollierende, aber keine gestaltenden Mitwirkungsbefugnisse eingeräumt. Ähnliches äußerte das Bundesverfassungsgericht schon zu der auf die bloße Ja-Nein-Entscheidung festgelegte Rolle des Gesetzgebers beim Abschluss völ­ kerrechtlicher Verträge:

336

326

Kritisch zum Begriff der auswärtigen Gewalt Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 15. 327 BVerfGE 68, 1 (87) – Atomwaffenstationierung: „Die grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive beruht auf der Annahme, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äu­ ßere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen.“ 328 Angesprochen wird hier also die Frage einer Vermutung der Organzuständigkeit. Davon streng zu trennen und hier nicht Thema ist die Frage der Verteilung der Verbandszuständig­ keiten im Bereich der auswärtigen Gewalt. 329 BVerfGE 90, 286 (389) – Auslandseinsätze der Bundeswehr. 330 Vgl. hierzu Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwir­ kung des Parlaments an der auswärtigen und internationalen Politik, 2008, S. 64 ff. 331 BVerfGE 90, 286 (383 ff.) – Auslandseinsätze der Bundeswehr. 332 BVerfGE 90, 286 (389) – Auslandseinsätze der Bundeswehr.

516

§ 7 Bundesregierung

„Gewiß räumt Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG … dem Bundestag in bestimmtem Umfang Mitwir­ kungsbefugnisse an der Willensbildung für die Vornahme von Akten im Bereich der aus­ wärtigen Beziehungen ein. … Gleichwohl beschränkt Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG diese Mitwir­ kung sowohl gegenständlich auf Verträge als auch inhaltlich auf eine bloße Zustimmung in der Form eines Bundesgesetzes. So kann der Bundestag kraft Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG weder verhindern oder erzwingen, dass die Bundesregierung Vertragsverhandlungen unterläßt, aufnimmt oder abbricht oder Vertragsentwürfe bestimmten Inhalts gestaltet, noch kann er erzwingen, daß ein Vertrag, zu dem ein Zustimmungsgesetz im Sinne des Art. 59 Abs. 1 S. 2 GG ergangen ist, von der Exekutive auch abgeschlossen oder nach seinem Abschluß völkerrechtlich beendet oder aufrecht erhalten wird. … Über die Befugnis hinaus, die Exe­ kutive in Gesetzesform verfassungsrechtlich zum Abschluss von Verträgen der genannten Art zu ermächtigen oder nicht zu ermächtigen, verleiht Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den gesetz­ gebenden Körperschaften keine Initiativ-, Gestaltungs- oder Kontrollbefugnis im Bereich der auswärtigen Beziehungen.“333

337

Bei der Ausübung der auswärtigen Gewalt wird der Bundesregierung (wie auch den anderen insoweit zu politischem Handeln berufenen staatlichen Organen) im außenpolitischen Bereich ein breiter Raum politischen Ermessens einge­ räumt.334 Das heißt bei außenpolitischen Maßnahmen oder Unterlassungen besteht häufig eine reduzierte (verfassungs-)gerichtliche Kontrolldichte. So sind auch etwaige völkerrechtlich fehlerhafte Rechtsauffassungen der Organe nur dann als Ermessensfehler zu bewerten, wenn sie sich zugleich als Willkür gegenüber dem Bürger darstellten335 oder wenn die völkerrechtliche Beurteilung der Rechtslage Deutschlands durch die zuständigen Organe offensichtlich völkerrechtswidrig336 bzw. wenn die Einschätzung der Bundesregierung nicht mehr als pflichtgemäß anzusehen wäre.337 2. Europapolitik

338

Ähnlich wie auf dem Feld der Außenpolitik besteht auch bei der deutschen Europapolitik eine dominierende Stellung der Bundesregierung. Das ergibt sich schon daraus, dass die beiden Organe, in denen sich der mitgliedstaatliche Legiti­ mationsstrang der Europäischen Union verwirklicht – Rat und Europäischer Rat – 333

BVerfGE 68, 1 (85 f.) – Atomwaffenstationierung. BVerfGE 40, 141 (178) – Ostverträge; 55, 349 (365) – Hess; 84, 90 (127) – Bodenreform I; 94, 315 (327) – Zwangsarbeit. Das Bundesverfassungsgericht begründet das damit, „dass die Gestaltung auswärtiger Verhältnisse und Geschehensabläufe nicht allein vom Willen der Bun­ desrepublik Deutschland bestimmt werden kann, sondern vielfach von Umständen abhängig ist, die sich ihrer Bestimmung entziehen. Um es zu ermöglichen, die jeweiligen politische Ziele der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des völkerrechtlich und verfassungsrechtlich Zu­ lässigen durchzusetzen, gewährt das Grundgesetz den Organen der auswärtigen Gewalt einen sehr weiten Spielraum in der Einschätzung außenpolitisch erheblicher Sachverhalte wie der Zweckmäßigkeit möglichen Verhaltens“ (BVerfGE 55, 349 (367) – Hess). 335 BVerfGE 55, 349 (368) – Hess. 336 BVerfGE 77, 137 (167) – Teso. 337 BVerfGE 84, 90 (127) – Bodenreform I; 94, 12 (35) – Zwangsarbeit. 334

E. Aufgaben und Befugnisse

517

aus Regierungsmitgliedern der Mitgliedstaaten bestehen (s. Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Hier besteht eine gewisse Parallele zur Einbindung der Länderregierun­ gen in die Bundespolitik über den Bundesrat, wobei jedoch Rat und Europäischer Rat in der EU eine ungleich höhere Bedeutung haben als der Bundesrat im Bund. Der europapolitischen Dominanz der Bundesregierung versucht Art. 23 Abs. 1a–6 GG etwas entgegenzuwirken, der die Beteiligung des Bundestags und der Länder über den Bundesrat regelt. Einfachgesetzlich konkretisiert wird dies durch das Gesetz zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG)338, durch das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro­ päischen Union (EUZBBG)339 sowie durch das Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG)340.

339

Für die Bundesregierung ergeben sich daraus vor allem Unterrichtungspflichten gegenüber dem Bundestag und dem Bundesrat sowie eine Pflicht zur Berücksichtigung von Stellungnahmen dieser Organe zu Vorhaben der Europäischen Union. Für ihr (Abstimmungs-)Verhalten auf europäischer Ebene sind diese Stel­ lungnahmen im Normalfall nicht verbindlich.341 Strengere Maßstäbe gelten aber etwa nach dem Integrationsverantwortungsgesetz oder wenn im Schwerpunkt die Länder betroffen sind (Art. 23 Abs. 5 S. 2 GG: „maßgeblich zu berücksichtigen“). Mitunter wird die Bundesrepublik Deutschland auf europäischer Ebene sogar durch einen vom Bundesrat bestellten Vertreter der Länder vertreten (Art. 23 Abs. 6 GG), statt wie üblich durch ein Mitglied der Bundesregierung. Für weitere Details sei auf § 3 Rn. 289 ff. verwiesen.

340

3. Öffentlichkeitsfunktion Zu den ungeschriebenen, gleichwohl aber wichtigen Aufgaben der Bundes­ regierung gehört ihre Öffentlichkeitsarbeit.342 Diese ist ein Teilbereich der umfang­ reichen informationellen Tätigkeit des Staates.343 So hat das Bundesverfassungs­ gericht anerkannt, „daß Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden 338

G. v. 12.3.1993 (BGBl. I, S. 313), zul. geänd. d. G. v. 22.9.2009 (BGBl. I, S. 3031). G. v. 4.7.2013 (BGBl. I S. 2170). 340 Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz – IntVG) v. 22.9.2009 (BGBl. I, S. 3022), zul. geänd. d. G. v. 1.12.2009 (BGBl. I, S. 3822). 341 Scholz, in Maunz / Dürig, GG (88. Ergänzungslieferung, August 2019), Art. 23 Rn. 159, 167 ff. 342 Nachweise zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung allgemein etwa Leisner, Öffentlich­ keitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966, S. 10 ff; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, 1992, S. 53 f.; Häberle, JZ 1977, 361 (362); zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Umweltbereich s. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 5, Rn. 1355 ff. 343 Vgl. etwa zu den umfangreichen informationellen Instrumenten des Staates im Umwelt­ recht Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 5, Rn. 1272 ff. 339

341

518

§ 7 Bundesregierung

Körperschaften nicht nur zulässig, sondern auch notwendig ist, um den Grund­ konsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten.“344 342

Es ist deshalb zulässig, „daß Regierung und gesetzgebende Körperschaften – bezogen auf ihre Organtätigkeit – der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Maßnah­ men und Vorhaben sowie die künftig zu lösenden Fragen darlegen und erläutern. Eine verantwortliche Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung des Volkes setzt voraus, dass der Einzelne von den zu entscheidenden Sachfra­ gen, von den durch die verfassten Staatorgane getroffenen Entscheidungen, Maß­ nahmen und Lösungsvorschlägen genügend weiß, um sie beurteilen, billigen oder verwerfen zu können.“345

343

Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung ist von zum Teil gegenläufigen Maximen geprägt: Einerseits entspricht es demokratischen Anforderungen, die Tätigkeit der Regierung so transparent wie möglich offenzulegen.346 Andererseits ist Demokratie Willensbildung von unten nach oben; die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung ist wiederum im Kern „Demokratie von oben“.347 Schließlich sind be­ stimmte Geheimhaltungsinteressen der Bundesregierung anzuerkennen, nament­ lich im sicherheits- und außenpolitischen Bereich.

344

Weitere Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit ergeben sich  – vor allem aus dem in Art. 21 GG verankerten Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien  – im Hinblick auf negative Äußerungen über politische Konkurrenten. Dies war in jüngerer Vergangenheit vermehrt Gegenstand verfassungsrechtlicher Auseinan­ dersetzungen.348 Selbst wenn die Bundesregierung von politischen Gegnern direkt attackiert wird (auch unsachlich oder diffamierend), muss sie sich auf möglichst sachliche Zurückweisung der Kritik beschränken, hat aber kein „Recht auf Gegen­ schlag“, darf sich also nicht herabsetzend über den Urheber des Angriffs äußern.349 Das Bundesverfassungsgericht legt dabei für Regierungsmitglieder einen strenge­ ren Maßstab an als für den Bundespräsidenten (s. a. § 5 Rn. 32), weil letzterer sich außerhalb des Parteienwettbewerbs bewegt.350

345

Umgekehrt ist auch die zulässige Eigendarstellung der Regierung im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit abzugrenzen von unzulässiger Wahlwerbung.351 Das Ge­ bot der parteipolitischen Neutralität verpflichtet die Bundesregierung insofern zur Zurückhaltung, und zwar insbesondere in der Zeit vor Wahlen. „In dieser Phase 344

BVerfGE 63, 230 (242 f.). BVerfGE 44, 125 (147) – Öffentlichkeitsarbeit, z. T. unter Verweis auf BVerfGE 20, 56 (100) – Parteienfinanzierung; Hervorhebung von hier. 346 Zu den Zielen vgl. Bumke, Die Verwaltung 37 (2004), 3 (8 f.). 347 Dazu, ausgearbeitet am Beispiel der Umweltpolitik, Vierhaus, Umweltbewusstsein von oben, 1994. 348 Vgl. die Übersicht bei Eder, „Rote Karte“ gegen „Spinner“?, 2017, S. 23 ff.; BVerfGE 138, 102 – Wahlkampfäußerungen von Regierungsmitgliedern; BVerfGE 140, 225 – Rote Karte. 349 BVerfGE 148, 11 (30) – Chancengleichheit politischer Parteien. 350 BVerfGE 138, 102 (113 ff.) – Wahlkampfäußerungen von Regierungsmitgliedern. 351 S. dazu Studenroth, AöR 125 (2000), 257 f. 345

E. Aufgaben und Befugnisse

519

tritt die Befugnis der Regierung, den Bürger auch über zurückliegenden politische Tatbestände, Vorgänge und Leistungen sachlich zu informieren, zunehmend hin­ ter das Gebot zurück, die Willensbildung des Volkes vor den Wahlen nach Mög­ lichkeit von staatlicher Einflußnahme frei zu halten.“352 Das gilt vor allem für die Bundestagswahl, kann aber auch auf Inhalte der Öffentlichkeitsarbeit der Bundes­ regierung übertragen werden, die sich auf Europa-, Landtags- und Kommunal­ wahlen auswirken könnten. Unzulässig wäre es etwa, wenn die Bundesregierung ihre Öffentlichkeitsarbeit gezielt in einem Bundesland intensiviert, in dem bald Landtagswahlen anstehen. Schließlich unterfällt die Öffentlichkeitsarbeit auch den üblichen Grenzen öffentlicher Gewalt. Sie ist in organisationsrechtlicher Hinsicht also auf den der Bundesregierung vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich begrenzt353 und muss darüber hinaus auch die individuellen Grundrechte achten.354 Dabei ist es nicht überzeugend, in der Organzuständigkeit des Art. 65 S. 2 GG zur Richtlinienbestimmung durch den Bundeskanzler den Nach­ weis der Verbandszuständigkeit des Bundes oder eine Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe zu sehen.355 Dies gilt namentlich bei Warnungen, aber auch Empfehlungen.356 Andererseits können sich aber auch und gerade aus den Grund­ rechten Informationspflichten zur Erfüllung von Schutzpflichten ergeben. Im Ein­ zelfall hat eine Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten zu erfolgen.

346

Bei der Öffentlichkeitsarbeit von Regierungsmitgliedern ist stets zu klären, ob diese überhaupt der amtlichen Sphäre zuzurechnen ist oder ob es sich nicht um „private“ Äußerungen eines Politikers im politischen Meinungskampf handelt. Nur wenn ersteres bejaht werden kann, gelten die beschriebenen rechtlichen Be­ schränkungen. Anderenfalls greifen nicht nur diese rechtlichen Schranken nicht, sondern entsprechendes Verhalten der „Privatperson“ Politiker ist sogar durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 21 GG besonders geschützt. Diese Abgrenzung ist oft schwierig, weil in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen dem Politiker als Amtsträger und dem Politiker als „privatem“ Teilnehmer am politischen Wett­ streit kaum sauber unterschieden wird. Die Unterscheidung ist aber rechtlich not­ wendig und lässt sich durchaus an einigen Umständen festmachen – etwa an der (Nicht-)Nutzung von Staatssymbolen, Hoheitszeichen, Amtsräumen, offiziellen Internetseiten amtlicher Stellen usw. Entscheidend ist letztlich, ob eine spezifische Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der mit ihm verbundenen Ressourcen stattgefunden hat.357

347

352

BVerfGE 63, 230 (244). BVerfGE 63, 230 (244). 354 S. auch EGMR, NVwZ 2010, 177 (179). 355 Anders BVerfGE 87, 37 (51) – Glykol; 105, 279 (301) – Osho; BVerwG NJW 2006, 1303 (1304). 356 BVerfGE 105, 279 (305 ff.) – Osho. 357 Ausführlich BVerfGE 138, 102 (118 f.) – Wahlkampfäusserungen von Regierungsmitglie­ dern. mit einer Vielzahl von Kriterien und Erörterung verschiedener Fallgruppen (Talkrunden, Zeitungsinterviews, Veranstaltungen, Pressemitteilungen usw.). 353

520 348

§ 7 Bundesregierung

Für ihre Öffentlichkeitsfunktion steht der Bundesregierung insbesondere das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zur Verfügung. Diese Be­ hörde, die sich im Geschäftsbereich des Bundeskanzlers befindet,358 bereitet einer­ seits (nach innen) die Berichterstattung der Medien für die Bundesregierung auf und betreibt andererseits (nach außen) auch die Öffentlichkeitsarbeit für die Bun­ desregierung. Der Chef des Presse- und Informationsamts ist regelmäßig beamteter Staatssekretär und fungiert zugleich als Sprecher der Bundesregierung. Darüber hinaus hat sich die 1949 gegründete Bundespressekonferenz als wichtigstes Fo­ rum für Pressekonferenzen der Bundesregierung erwiesen. Dabei ist die Bundespressekonfe­ renz keine staatliche Einrichtung. Sie ist vielmehr ein privatrechtlicher Verein, dem Journalis­ ten angehören, die hauptsächlich über die Bundespolitik berichten. Die Gründung des Vereins und vor allem sein Anspruch, keine Zeitung bzw. keinen Sender von der Berichterstattung über die Bundespolitik auszuschließen, ist als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückzuführen: Die Medien sollten nicht wieder staatlich gelenkt werden können. Die Er­ fahrung mit der unfreien Staatspresse der DDR hat die Richtigkeit dieses Ansatzes nach 1949 immer wieder bestätigt.

349

Die gesamte Bedeutung der Bundespressekonferenz ergibt sich aber nicht nur aus der Sicht der informationssuchenden Journalisten, sondern auch aus der Sicht der informationsanbietenden Bundesregierung: Zu den dreimal wöchentlich stattfindenden Pressekonferenzen der Bundesregierung schicken alle Ministerien regelmäßig einen Vertreter, der nicht nur Termine und Themen bekannt gibt, sondern sich auch Fragen stellen muss, die thematisch nicht ein­ gegrenzt sind. Insofern lässt sich die Bundespressekonferenz ein Stück weit als institutionali­ sierte Kontrolle der Bundesregierung durch die „vierte Gewalt“, d. h. die Medien, verstehen.

350

Daneben bietet das Internet zunehmend neue Formen der Öffentlichkeitsarbeit. Das fängt beim Internetauftritt des Bundeskanzlers bzw. der Ministerien an und reicht bis zu Beiträgen der Regierungsmitglieder in sozialen Medien wie Face­ book, Twitter etc. Die Nutzung der sozialen Medien durch Regierungsmitglieder ist verfassungspolitisch nicht unproblematisch, weil die Regierung auf diese Weise tief in den gesellschaftlichen Bereich eindringt. Andererseits liegen hier durchaus auch Potentiale für eine wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und mehr Bürgernähe, die im Idealfall zu mehr politischer Partizipation führen könnte. Ein ungelöstes Problem der Nutzung sozialer Medien ist auch die Macht der Internetkonzerne, die durch die Sperrung von Konten etc. faktisch erhebliche Teile der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung blockieren könnten.

F. Ausblick 351

Die Bundesregierung ist das politische Gravitationszentrum der Bundesrepu­ blik Deutschland. An ihren Einfluss und ihre öffentliche Wahrnehmung kommt in der politischen Realität der Deutsche Bundestag nicht annähernd heran. Dies 358

Organisationserlass des Bundeskanzlers v. 18.1.1977 (BGBl. I S. 128).

F. Ausblick

521

verweist letztlich auch die – für eine Demokratie so essentielle – Opposition regel­ mäßig zu einer Existenz außerhalb des Zentrums der öffentlichen Aufmerksam­ keit. Die Sinne der Medien fesselt die Opposition am ehesten als „Regierung in spe“ mit entsprechenden Personalspekulationen. Die durch eine gewisse Exekutiv­ seligkeit der Deutschen noch geförderte Dominanz der Regierung ist nicht geeig­ net, die demokratischen Strukturen in Deutschland zu stärken. Die eigentliche Gegenmacht zur Regierung liegt heute weniger im Parlament als vielmehr in den oppositionellen politischen Parteien (nicht selten aber auch in politischen Gegen­ strömungen innerhalb der Regierungsparteien), aber vor allem in den Medien und in den großen Interessenverbänden und in den („oppositionellen“) Regierungen der Länder. Schließlich muss die Bundesregierung auch auf die Entscheidungen der Europäischen Kommission achten und u. U. auf ausländische Regierungen Rücksicht nehmen. Im Ergebnis erfolgt also eine nicht unwesentliche „Macht­ beschränkung“ der Bundesregierung durch andere Exekutiven (der Länder wie der ausländischer Staaten). Die demokratischen Probleme einer politisch beherrschenden Exekutive werden nun noch durch die machtvolle Stellung des Bundeskanzlers verstärkt. Schon die gängige Charakterisierung der Bundesrepublik Deutschland als „Kanzlerdemo­ kratie“ bezeichnet dieses Dilemma. So wie „Präsidialdemokratie“ auch negative Konnotationen haben kann, gilt dies entsprechend auch für die „Kanzlerdemo­ kratie“. Sie ist eben nicht ein Demokratietyp neben anderen, sondern eine Regie­ rungsform mit Demokratielimitierungen. Das Mindeste wäre es angesichts dessen, für das Amt des Bundeskanzlers eine Amtszeitbeschränkung einzuführen, wie es sie sogar für den Bundespräsidenten gibt (Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG) und wie sie für so zentrale Staatsämter auch in vielen ausländischen Verfassungen üblich ist.359

352

Wenn also das Parlament gegenüber dem Bundeskanzler kein besonders starker Gegenspieler mehr ist, hätte es an sich doch nahegelegen, den Mechanismus der Machtmäßigung der Exekutive durch die Exekutive wenigstens im Verhältnis zwi­ schen Bundeskanzler und Bundespräsident zu betonen. Gerade hiervon will das Grundgesetz aber nichts wissen. Die Gestaltungsinitiative innerhalb der Exekutive liegt beim Bundeskanzler und der Bundesregierung, nicht beim Bundespräsiden­ ten. Nur wenn der Kanzler ohnehin geschwächt ist – insbesondere bei der geschei­ terten Vertrauensfrage nach Art. 68 GG – erweitert das Grundgesetz die Entschei­ dungsmöglichkeiten des Bundespräsidenten. Insgesamt überzieht das Grundgesetz mit seiner akzentuierten Abkehr von Weimar die essentielle Schwächung der Prä­ sidentenrolle. Realistische Chancen für eine verfassungsrechtliche Neujustierung des Kräfteverhältnisses zwischen dem Bundeskanzler als Regierungschef und dem Bundespräsidenten bestehen aber derzeit wohl nicht.

353

359

Vgl. dazu auch Kloepfer, Herrschaft auf Zeit  – das Amt des Bundeskanzlers, FAZ v. 18.02.2016, S.6.

522

§ 7 Bundesregierung

354

Auch eine politische Stärkung der Bundesminister gegenüber dem Bundeskanz­ ler mit Mitteln des Verfassungsrechts (z. B. durch parlamentarische Befugnisse zur Ministerwahl bzw. -entlassung) erscheinen derzeit weder realistisch noch würden sie zu einer entscheidenden Verbesserung der Position der Bundesminister führen; im Gegenteil: Ein Recht des Bundestags, die Entlassung der Bundesminister vor­ zuschlagen, könnte deren Position eher schwächen, es sei denn, man wollte gleich­ zeitig das Recht des Bundeskanzlers nach Art. 64 Abs. 1 GG beseitigen, jederzeit den Vorschlag zur Entlassung eines Ministers zu machen. Dies ginge allerdings an dem Erfordernis vorbei, dass für eine sinnvolle Zusammenarbeit im Kabinett ein Vertrauensverhältnis zwischen Kanzler und Ministern essentiell ist. Eine Stär­ kung der Bundesminister dürfte insgesamt eher außerhalb des institutionellen Ver­ fassungsgefüges zu erreichen sein, etwa auf der Ebene der Parteien. Solange ein Bundesminister Parteichef einer kleinen Koalitionspartei oder aber Landeschef einer größeren Partei oder Exponent eines einflussreichen Parteiflügels ist, kann für den Bundeskanzler die Position des Ministers nahezu unantastbar werden, will dieser nicht seine eigene Machtbasis gefährden.

355

Der Schlüssel für eine Machtmäßigung des Bundeskanzlers und der Bundes­ regierung könnte beim Bundestag liegen, und zwar im Wesentlichen auch ohne verfassungsrechtliche Änderungen. Es muss entscheidend darum gehen, dass die Vertreter der Regierungsfraktionen sich primär nicht als „Repräsentanten“, Zu­ arbeiter und Unterstützer der Bundesregierung fühlen und entsprechend agieren, sondern als Vertreter des Volkes bzw. des Parlaments als dem ersten Verfassungs­ organ. Hier könnte man manches von den politischen Strukturen der USA lernen. Um den Selbststand des Parlaments gegenüber der Bundesregierung zu stärken, würde es schon ein erheblicher Fortschritt sein, wenn Gesetzesentwürfe der Bun­ desregierung hin und wieder keine parlamentarischen Mehrheiten finden würden, ohne dass dies gleich als „Treuebruch“ oder als konkludente Misstrauenserklärung missverstanden werden müsste.

356

Auf jeden Fall sollten aber die personellen Verbindungen zwischen Parlament und Regierung durchtrennt werden, um auf diese Weise den Gedanken der Ge­ waltentrennung stärker zu realisieren und die Exekutivlastigkeit des bundesdeut­ schen politischen Systems zu reduzieren. Im Vordergrund steht die Forderung nach einer Inkompatibilität zwischen einem Amt in der Bundesregierung und der Wahrnehmung eines Bundestagsmandats, d. h. die Abschaffung des „MinisterAbgeordneten“ (s. dazu § 2 Rn. 613), mit dem der Gedanke der Gewaltenteilung offenkundig verletzt wird. Die Abschaffung der „Minister-Abgeordneten“ sollte auf verfassungsrechtlicher Ebene durch eine entsprechende Ausweitung der In­ kompatibilitäten in Art. 66 GG erfolgen. Möglicherweise könnte aber auch eine Vorschrift im BMinG ausreichen, welche die Bestellung eines Abgeordneten zum Minister von dessen Mandatsniederlegung abhängig machen würde. Dass die ­Figur des „Minister-Abgeordneten“ der Bundesregierung die Integration von Regie­ rungs- und Parteiarbeit erleichtern kann, soll gar nicht bestritten werden. Dies ist aber – bei Lichte betrachtet – eher ein Argument für die Abschaffung solcher Äm­

F. Ausblick

523

terhäufungen, weil Machthemmnisse gegenüber der Exekutive für das politische System der Bundesrepublik Deutschland durchaus sinnvoll sein können. Konsequent wäre es dann auch, die Position des Parlamentarischen Staatssekretärs wieder zu beseitigen. Sie hat  – ebenso wie die Figur des „MinisterAbgeord­neten“ – nicht zu einer Stärkung der Rolle des Parlaments in der Regie­ rung, sondern umgekehrt zu einer Stärkung der Rolle der Regierung im Parlament geführt. Zudem haben die Parlamentarischen Staatssekretäre den administrativen Sachverstand in den Ministerien – repräsentiert durch die beamteten Staatssekre­ täre – bisweilen erheblich relativiert und zudem den ohnehin erdrückenden Ein­ fluss der politischen Parteien in den Leitungsbereichen der Ministerien weiter verstärkt. Schließlich symbolisiert die Position des Parlamentarischen Staatsse­ kretärs besonders stark die (demokratietheoretisch) zweifelhafte Vorstellung, der Schritt eines Abgeordneten in die Regierung sei ein entscheidender Sprung seiner politischen Karriere. In einem föderalistischen System muss man nicht potentiel­ len Ministernachwuchs auch durch Posten des Parlamentarischen Staatssekretärs für jüngere Abgeordnete heranzüchten, sondern man kann sich auch aus politisch entsprechend besetzten Landeskabinetten bedienen.

357

Ausgesprochen defizitär ist die Regelung des Grundgesetzes zu den allgemeinen Regierungsbefugnissen der Bundesregierung (insbesondere, aber nicht nur bei der Öffentlichkeitsarbeit). Hier ist die Konstruktion solcher Befugnisse über die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers eine letztlich unzureichende Notkons­ truktion. Die Bundesregierung ist auch als Gremium der Staatsleitung jedenfalls nicht von vornherein immun gegenüber etwaigen gesetzlichen Anforderungen an die Regierungsarbeit. Umgekehrt lässt sich die politische Gestaltungsaufgabe der Regierung nur schwer formulieren und auf keinen Fall abschließend aufzählen. Gleichwohl bleibt es erwägenswert, eine allgemeine, weit formulierte Befugnis­ norm für die Bundesregierung in das Grundgesetz aufzunehmen.

358

Letztlich hängt die Problematik der Regelung der Regierungsbefugnisse mit einer entscheidenden Strukturschwäche der Verfassung zusammen: Das Grundge­ setz fasst unter dem Begriff der „vollziehenden Gewalt“ (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2, 3 GG) die Regierung mit ihren Aufgaben der politischen Staatsleitung und die Verwaltung (vor allem, aber nicht nur mit Aufgaben des Gesetzesvollzugs) zusam­ men (s. o. Rn.  20). Das bedeutet, dass der Abschnitt über die Bundesregierung im Grundgesetz sowohl von einem politischen, staatsleitenden Handlungszentrum wie vom zentralen Träger administrativer Entscheidungen handelt. In der Wirklichkeit von Ministerien geht beides nicht selten unmerklich ineinander über.

359

Seit langem ist es ein Missstand, dass Mitglieder der Bundesregierung ihr Amt und dessen Ausstattung auch dazu nutzen, ausschließlich oder vorrangig partei­ politische Funktionen wahrzunehmen. Die Fahrt eines Bundesministers im Dienst­ wagen zu Wahlkampfveranstaltungen sollte (auch faktisch) von den Parteien ge­ zahlt werden. Das Führen von Koalitionsverhandlungen in Behördengebäuden (z. B. Landesvertretungen) sollte nur bei Anmietung durch die politischen Parteien

360

524

§ 7 Bundesregierung

erlaubt sein. Die für eine Demokratie essentielle Aufgabe der Trennung von Regierungsfunktionen und Parteiaufgaben ist vor allem im Wahlkampf stärker als bisher zu beachten. Schrifttum: Baer, Vermutungen zu Kernbereichen der Regierung und Befugnissen des Parla­ ments, Der Staat 40 (2001), 525; Battis, Outsourcing von Gesetzentwürfen?, ZRP 2009, 201 ff.; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. (unveränd.) Aufl. 1998; ders., Organisationsgewalt und Gesetzesvorbehalt, NJW 1999, 1235 ff.; v. Bogdandy, Guber­ native Rechtsetzung, 2000; Brandner, Gesetzesänderung, 2004; ders. / Uwer, Organisations­ erlasse, DÖV 1993, 107 ff.; Broszat, Der Staat Hitlers, 15. (unveränd.) Aufl. 2000; Bumke, Pu­blikumsinformation, Die Verwaltung 37 (2004), 3 ff.; Busse, Organisation der Bundes­ regierung und Organisationsentscheidung der Bundeskanzler in ihrer historischen Entwick­ lung und im Spannungsfeld zwischen Exekutive und Legislative, Der Staat 2006, 245 ff.; ders. / Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 7. Aufl. 2019; Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltung 27 (1994), 157 ff.; Döhler, Die politische Steuerung der Verwaltung, 2007; Döhler, PVS 2012, 181 ff.; Dreier, Hierarchische Verwaltung im demo­ kratischen Staat, 1991; Eder, „Rote Karte“ gegen „Spinner“?, 2017; Friauf, Zur Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrages, AöR 88 (1963), 257 ff.; Friesenhahn, Parlament und Re­ gierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), 9 ff.; Greszick / Limanowski, Nachamtliche Berufsverbote für Politiker, DÖV 2016, 313 ff.; Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltung, 1999; Häberle, Die Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts, ZfP 1965, 293 ff.; ders., Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, 361 ff.; Hebeler, Der Rücktritt von öffentlichen Ämtern, DVBl 2011, 317 ff.; Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1. Aufl. 1964; Ipsen, Regierungsbildung im Mehrpar­ teiensystem, JZ 2006, 217 ff.; Kassimatis, Der Bereich der Regierung, 1967; Kewenig, Zur Rechtsproblematik der Koalitionsvereinbarungen, AöR 90 (1965), 182 ff.; Klein, Grundge­ setz und Parlamentarische Staatssekretäre, DÖV 1965, 862 ff.; Kloepfer / T hull, Der Abgeord­ nete als Minister, JuS 1986, 394 ff.; Kloepfer, Verfassungsverstöße und öffentliche Meinung, in: Scholz u. a. (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, S. 55 ff.; Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebungsoutsourcing, 2011; ders., Gesetzgebungsoutsourcing – Die Erstellung von Gesetzentwürfen durch Rechtsanwälte, NJW 2011, 131 ff.; ders., Koalitionsvereinbarun­ gen – unverbindlich, aber rechtlich relevant, NJW 2018, 1799 ff.; Knöpfle, Inhalt und Grenzen der „Richtlinien der Politik“ des Regierungschefs, DVBl. 1965, 857 ff.; Koch, Das Ressort­ prinzip, 2005; Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217 ff.; Krienke, Interessenkonflikte der Regierungsmitglieder des Bundes und der Länder, 2003; Laufer, Der Parlamentarische Staatssekretär, 1969; Lechner / Hülshoff, Parlament und Regierung, 3. Aufl. 1971; Lenski (jetzt Schönberger), Öffentliches Kulturrecht, 2013; Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966; v. Lewinski, Unabhängigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, ZG 2015, 228 ff.; Liesegang, Zur verfassungsrechtlichen Pro­ blematik der Bundestagsauflösung, NJW 1983, 147 ff.; Linck, Geheime Wahlen der Minis­ terpräsidenten – eine Sünde wider den Geist des Parlamentarismus, DVBl. 2005, 793 ff.; Löwer, Inszeniertes Misstrauen, DVBl. 2005, 1102 ff.; Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, 1969; Luy, Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, 2019; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000; Müller / Strøm (Hrsg.), Koalitionsregierungen in Westeuropa, 1997; v. Münch, Die Bundesregierung, 1954; ders., Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsregierungen, 1993; Nierhaus, Verfassungsrechtliche Probleme des Kanzlerrücktritts, JR 1975, 265 ff.; Oldiges, Die interemistische Weiterführung der Amtsge­

Schrifttum

525

schäfte des Bundeskanzlers durch den Vizekanzler, DVBl. 1975, 79 ff.; ders., Die Bundesregie­ rung als Kollegium, 1983; Partsch, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), 98 ff.; Peters, Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts, Der Staat 5 (1966), 256 ff.; Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mit­ wirkung des Parlaments an der auswärtigen und internationalen Politik, 2008; Podworny, Die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage, 2008; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, 1986; Roth, Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat, 2009; Sasse, Koali­ tionsvereinbarung und Grundgesetz, JZ 1961, 719 ff.; Sattler, Vertrauensfrage-Ersuchen und Art. 67 GG, DÖV 1967, 765 ff.; Schäfer, Der Parlamentarische Staatssekretär im deutschen Regierungssystem, DÖV 1969, 38 ff.; Scheffczyk, „Karenzzeit“ für Bundesminister und Par­ lamentarische Staatssekretäre, ZRP 2015, 133 ff.; Schemmel, Die geschäftsführende Bun­ desregierung, NVwZ 2018, 105 ff.; Schenke, Die Bildung der Bundesregierung, Jura 1982, 57 ff.; ders., Verfassungsorgantreue, 1977; T. Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfas­ sungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, AöR 128 (2003), 608 ff.; Schneider / Z eh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989; Schüle, Koalitionsvereinbarun­ gen im Lichte des Verfassungsrechts, 1964; Schreckenberger, Informelle Verfahren der Ent­ scheidungsvorbereitung zwischen der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen – Koali­ tionsgespräche und Koalitionsrunden, ZParl 1994, 329; Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, 1992; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975; Seikel, Der Finanzminister bei der outputorientierten Haushaltssteuerung, DÖV 2000, 525 ff.; Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, 1966; Sendler, Vom schönen Schein des bösen Scheins – Oder: Alle Macht den Richtern!, NJW 1999, 1232 ff.; Statt, Die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre, 1970; Studenroth, Wahlbeeinflussung durch staatli­ che Funktionsträger, AöR 125 (2000), 257 ff.; Thomé, Die Unabhängigkeit der Bundesdaten­ schutzaufsicht, VuR 2015, 130 ff.; Vierhaus, Umweltbewusstsein von oben, 1994; Wahl, Die Institution der parlamentarischen Staatssekretäre, Der Staat 8 (1969), 327 ff.; ders., Stellver­ tretung im Verfassungsrecht, 1971; Weber / Timmermann, Der Koalitionsvertrag, 1967; Weißgärber, Die Legitimation unabhängiger europäischer und nationaler Agenturen, 2016; Woiki, Gesetzgebungsoutsourcing unter dem Grundgesetz, 2016; Wuttke, Die Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder in Deutschland und Frankreich, 2006; Zivier, Der Koalitionsvertrag – rechtlich oder „nur“ politisch bindend?, RuP 1998, 204 ff..

§ 8 Bundesverfassungsgericht Übersicht A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530

I. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530



II. Historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland . . . . 531 1. Historische Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . 531 2. Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 3. Sitz des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 4. Entwicklung der Rechtsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . 536

B. Aufgaben und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542

I. (Un-)Antastbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542



II. Bundesverfassungsgericht als Gericht und Verfassungsorgan . . . . . . . . . . . . . 543 1. Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 a) Gerichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 b) Bindungskraft der Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 2. Verfassungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545



III. Bundesverfassungsgericht und politischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 1. Politik durch das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 2. Verfassungsgericht und Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 a) Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht? . . . . . . . . . . . . . . 550 b) Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . 552 c) Judicial self-restraint zur Schonung gesetzgeberischer Gestaltungsmacht 553 d) Schonung der Normexistenz; verfassungskonforme Auslegung . . . . . . 557 3. Verfassungsgericht und Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560



IV. Bundesverfassungsgericht und andere Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 1. Verhältnis zu den Fachgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 2. Verhältnis zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 3. Verhältnis zum EuGH und zum EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566



V. Bundesverfassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . 566

D. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568

I. Status und Wahl der Bundesverfassungsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568

§ 8 Bundesverfassungsgericht

527

1. Rechtsstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 2. Wählbarkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 3. Inkompatibilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 4. Wahl durch den Bundestag und den Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 a) Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 b) Politische Praxis der (Aus-)Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

II. Beendigung des Amtes des Bundesverfassungsrichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577



III. Spruchkörper und Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . 579 1. Senate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 2. Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 3. Beschwerdekammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 4. Plenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 5. Präsident, Vizepräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 6. Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 7. Wissenschaftliche Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

E. Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 F. Allgemeine Verfahrensregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591



II. Antragserfordernis und Prozessvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592



III. Keine umfassende Dispositionsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595



IV. Untersuchungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596



V. Grundsatz der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597



VI. Grundsatz der Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597



VII. Mehrheitserfordernisse, Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598



VIII. Unterscheidung von Zulässigkeit und Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600



IX. Beurteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601



X. Angemessene Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601



XI. Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603



XII. Bindung und Gesetzeskraft der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606



XIII. Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610



XIV. Ausschluss und Befangenheit von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613



XV. Kosten, Gebühren, Auslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615

G. Einzelne Verfahren (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615

I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615



II. Organstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 1. Bedeutung und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 a) Beteiligtenfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618

528

§ 8 Bundesverfassungsgericht b) Antragsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 c) Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 d) Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 e) Form und Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 3. Begründetheitsvoraussetzungen und Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . 627



III. Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 1. Bedeutung und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 a) Antragsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 b) Antrags- bzw. Prüfungsgegenstand und -maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 c) Antragsgrund: „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“ . . . . . . . . . 633 d) Objektives Klarstellungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 e) Formerfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 f) Keine Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 3. Begründetheitsvoraussetzungen und Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . 636 a) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 b) Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637



IV. Kontrolle der Erforderlichkeit von Bundesgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 2. Kompetenzkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 3. Kompetenzfreigabeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640



V. Konkrete Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 1. Bedeutung und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 a) Vorlageberechtigung und Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 b) Verfahrensgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 c) Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 d) Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 e) Formerfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 3. Begründetheitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 4. Prozedurales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647



VI. Bund-Länder-Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 1. Bedeutung und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 2. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 b) Antragsteller und Antragsgegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 c) Streitgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 d) Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653

§ 8 Bundesverfassungsgericht

529

e) Form und Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 3. Begründetheitsvoraussetzungen und Entscheidungsinhalt . . . . . . . . . . . . . 654

VII. Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 1. Bedeutung, Funktion und Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 2. Subsidiarität und Annahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 3. Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 a) Beschwerdefähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 b) Prozessfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 c) Beschwerdegegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 d) Beschwerdebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 e) Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde . 663 f) Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 g) Form und Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 4. Begründetheitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665



VIII. Kommunalverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666



IX. Einstweilige Anordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667



X. Verhältnis der Verfahren zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670

H. Völker- und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671

I. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 1. Entscheidungen mit Völkerrechtsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 2. Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . 672



II. Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 2. Prozessuale Konstellationen mit EU-Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676 3. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677

J. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678

I. Erfolg, Qualität und Ansehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678



II. Schwächen, Herausforderungen und Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680

530

§ 8 Bundesverfassungsgericht

A. Allgemeines I. Bedeutung 1

Das Bundesverfassungsgericht ist längst zu einem prägenden Element des politi­ schen und rechtlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland geworden.1 Auch für die Verfassungsentwicklung in Deutschland ist das Bundesverfassungsgericht zum wahrscheinlich wichtigsten Faktor geworden (s. a. Rn. 643 ff.).2 Das Gericht hat das deutsche Verfassungsrecht wohl mehr beeinflusst als der mit seinen über 60 Verfassungsänderungen wahrhaft emsige verfassungsändernde Gesetzgeber. Vor allem hat das Bundesverfassungsgericht die Verankerung des Grundgesetzes im politischen System durchgesetzt. Deshalb ist sein Ansehen im In- und Aus­ land3 ungebrochen, was es allerdings nicht immun gegenüber Kritik im Einzel­ nen machen darf.

2

Die hervorragende Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsund Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland (s. u. Rn. 52 ff.) bedeutet frei­ lich auch ein latentes Risiko für den demokratischen Verfassungsstaat. Der Einfluss des Gerichts, welches sich selbst als „Hüter der Verfassung“ bezeichnet,4 macht nicht an der unscharfen Grenze von Recht und Politik halt5 und fordert so die Entscheidungsmacht des demokratisch (stärker) legitimierten Gesetzgebers heraus. Insgesamt gelang es freilich dem Gericht regelmäßig, die Entwicklung hin zu einem „Jurisdiktionsstaat“6 im Wesentlichen durch richterliche Selbstbeschrän­ kung zu verhindern (s. u. Rn. 89 ff.).

1

Deutlich etwa auch Landfried, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bun­ desverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 369. 2 S. a. Kloepfer, JZ 2003, 481 (482 ff.). 3 Dies führt bis hin zu Bezeichnungen wie „weltweit bedeutendste[s] Gericht“, so Wiefelspütz, DÖV 2012, 961. 4 BVerfGE 40, 88 (93) – Führerschein; kritisch etwa Heun, Funktionell-rechtliche Schran­ ken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 81 f.; zur Weimarer Diskussion um den „Hüter der Verfassung“ s. u. Rn. 11 f. 5 Zu dieser „Entgrenzung“ von Recht und Politik (und anderen Entgrenzungen, etwa von Recht und Moral, Rechtsprechung und Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissen­ schaft) C. Möllers, in: Jestaedt / Lepsius / ders. / C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 7 f. 6 Vgl. zum Begriff: Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 62; weitere Nennungen bei Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ​ ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 31, Rn. 8.

A. Allgemeines

531

II. Historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland 1. Historische Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts Die Idee, Inhalte einer Verfassungsurkunde im Wege höchstrichterlicher Ent­ scheidung durchzusetzen, ist in Deutschland früh entstanden, allerdings nicht mit dem herausragenden rechtsstaatlichen und rechtspolitischen Stellenwert, wie ihn die Verfassungsgerichtsbarkeit heute genießt.7 Unter den Gliedstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bestand insbesondere ein Bedürfnis danach, föderative Streitigkeiten durch einen Richterspruch zu entscheiden. Dabei spricht einiges dafür, bereits die Tätigkeit des Reichskammergerichts (seit 1495) und des Reichshofrates (seit 1518) als frühe Vorbilder einer Verfassungsgerichts­ barkeit im Sinne eines Staatsgerichtshofs zu nennen.8

3

Zwar handelte es sich hierbei nicht um eine organisatorisch und politisch neutrale, sondern vielmehr um eine kaiserliche Gerichtsbarkeit.9 Allerdings führte sie zu einer ersten Trans­ formation politischer Konflikte in gerichtlich zu entscheidende Rechtsfälle10 und somit zu einer frühen Verrechtlichung des Politischen.

4

Nach dem Untergang des (‚Alten‘) Deutschen Reiches (1806) gewährten die Verfassungen der Einzelstaaten ihren Untertanen teilweise Freiheiten, Eigen­ tum und Privilegien.11

5

Waren diese Garantien auch bereits rechtsförmig ausgestaltet, stand ihnen doch weitgehend (noch) keine gerichtsförmige Gewährleistung zur Seite, denn ein organisatorisch vom Sou­ verän getrenntes, politisch und materiell-rechtlich unabhängiges Gericht, vor dem diese Bür­ gerrechte hätten durchgesetzt werden können, existierte in den Einzelstaaten zunächst nicht. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es allerdings zur Einrichtung erster

6

7

Zur Verfassungsbeschwerde  – oder jedenfalls zum Rechtsschutz gegen Verletzungen durch die öffentliche Gewalt (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) – gab es frühe Vorläufer. Bereits ­Schlözer rühmte Deutschland als „das einzige Land der Welt, in dem man gegen seine Herrscher, ihrer Würde unbeschadet, im Wege Rechtens bei einem fremden, nicht ihrem eigenen Tribunal, aufkommen kann“ (Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, 1793, S. 107). 8 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 8, 11 ff. 9 Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 5: „Die höchsten Gerichte – Reichskammergerichte und Reichshofrat – waren seine [des Kaisers] Gerichte.“ 10 Stolleis, Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1988, S. 134; Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der deutschen Staatsge­ richtsbarkeit, in: Starck / Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, 1983, S. 149 (162 f.). Zögernd Spanner, Das Bundesverfassungsgericht, 1972, Einl., S. 10. Beachte aber den zutreffenden Hinweis von Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 5, auf die fehlende Macht zur Normenkontrolle durch das Reichskammergericht und den Reichshofrat und darauf, dass diese Spruchkörper nicht letztinstanzlich entschieden haben. Diese Aspekte unterscheiden Reichskammergericht und den Reichshofrat von modernen Ver­ fassungsgerichten. 11 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 45, Rn. 11 ff.

532

§ 8 Bundesverfassungsgericht

institutioneller Instrumentarien zur Gewähr der Landesverfassungen, etwa einer „Com­ promiß-Behörde“ in Mecklenburg ab 1817 oder eines Staatsgerichtshofs in Sachsen ab 1831.12

7

Auf der Ebene des Staatenbunds Deutscher Bund (1815 bis 1866)13 übernahm die Bundesversammlung (s. § 3 Rn. 5) auch vereinzelte Funktionen der Streitschlichtung, etwa bei Erbstreitigkeiten zwischen Bundesgliedern, bei Streitigkeiten zwischen Landständen und Lan­ desherrn oder im Falle der Anrufung wegen Justizverweigerung in einem Land.14 Von einem umfassenden verfassungsgerichtlichen Schutz kann bei den vereinzelten Zuständigkeiten der Bundesversammlung und ihrer institutionellen Ausgestaltung allerdings nicht die Rede sein.

8

Die – freilich nie in Kraft getretene – Paulskirchenverfassung15 suchte diese Lücke zu schließen und konzipierte einen (grundrechtlich und staatsorganisations­ rechtlich bedeutsamen) Zuständigkeitskatalog für das Reichsgericht. Dieser Ka­ talog enthielt in § 126 insbesondere die staatsbürgerliche Grundrechtsklage und sah Formen der föderalen Streitigkeit und der Organstreitigkeit vor; eine Normen­ kontrolle kannte er nicht.16

9

Die Bismarck’sche Reichsverfassung von 1871 kannte hingegen kein Verfas­ sungsgericht. In Art. 76 RV war die Entscheidung über Streitigkeiten zwischen einzelnen Bundesstaaten des Reichs vielmehr dem – institutionell nicht als Gericht ausgestatteten – Bundesrat vorbehalten.

10

Tatsächlich fand Verfassungsrechtsprechung durch eine gerichtliche Institu­ tion erst wieder seit 1921 vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich in der Weimarer Republik statt.17 Der Staatsgerichtshof war organisatorisch an das Reichsgericht mit Sitz in Leipzig angegliedert.18 Eine Organstreitigkeit auf Reichsebene gab es mit Ausnahme der Präsidenten-, Kanzler- und Ministeranklage (vgl. Art. 59 WRV) nicht. Wohl unter dem fortwirkenden Einfluss der – in dieser Hinsicht regressiven – Reichsverfassung von 1871 war insbesondere auch keine Grundrechtsklage (Verfassungsbeschwerde) vorgesehen.19 Der Staatsgerichtshof entschied hauptsächlich in Landesorganstreitigkeiten bzw. in Streitigkeiten zwi­ schen dem Reich und den Ländern (vgl. Art. 19 WRV). Daneben bestand die Zu­

12

Zu diesen und weiteren Beispielen Bönnemann, Die Beilegung von Verfassungskonflikten vor der Zeit des Grundgesetzes, 2007, S. 36 f. 13 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 19 f. 14 Vgl. Bönnemann, Die Beilegung von Verfassungskonflikten vor der Zeit des Grundge­ setzes, 2007, S. 27. 15 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 24 ff. 16 Der Zuständigkeitskatalog glich im Übrigen in bemerkenswerter Weise dem heutigen § 13 BVerfGG, vgl. Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 8. 17 Der Staatsgerichtshof wurde auf Grundlage des Art. 108 WRV durch das Gesetz über den Staatsgerichtshof v. 9.7.1921 (RGBl., S. 905) errichtet. 18 Vgl. Friesenhahn, in: Anschütz / T homa, HbDStR, Bd. II, 1932, S. 523 ff. 19 Vgl. dazu etwa Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 9; Scheuner, in: FG 25 Jahre BVerfG, Bd. I, 1976, S. 1 (50).

A. Allgemeines

533

ständigkeit des Reichsgerichts für Normenkontrollen hinsichtlich der Vereinbarkeit von landesrechtlichen Vorschriften mit dem Reichsrecht nach Art. 13 bs. 2 WRV.20 In die Zeit der Weimarer Republik fällt die grundsätzliche verfassungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“ auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Wien 1928 mit Referaten von Heinrich Triepel und Hans Kelsen.21 Hervorzuheben ist, dass Triepel in seinem Referat – in Abkehr von der tagungstitelgebenden Formulierung „Staatsgerichtsbarkeit“ und unter Verweis auf das Vorbild der damaligen österreichischen Bundesverfassung – den Begriff der „Verfassungs­ gerichtsbarkeit“ prägte.22 Im Übrigen wiesen die Referate – auf der grundlegenderen Ebene des sog. Weimarer „Methodenstreits“  – Unterschiede hinsichtlich ihres konträren Verfas­ sungsverständnisses (geisteswissenschaftlicher oder positivistischer Verfassungsbegriff) auf:23 Als Positivist betonte Kelsen die Aufgabe eines (idealtypischen24) Verfassungsgerichts, ver­ fassungsrechtswidrige Akte am Maßstab des geschriebenen Verfassungsrechts zu prüfen und für verfassungswidrig zu erklären.25 Demgegenüber stellte Triepel die Mitwirkung des Staatsgerichtshofs am staatlichen Integrationsprozess (weitgehend im Sinne Smends) heraus (s. u. Rn. 47).26

11

Kelsen trat später – in der Endphase der Weimarer Republik – in eine Debatte mit Carl Schmitt, die darüber geführt wurde, ob der Staatsgerichtshof (so Kelsen27) oder der – direkt demokratisch legitimierte28 – Reichspräsident (so Schmitt29) der ‚rechtmäßige‘ „Hüter der Verfassung“ sei.30

12

Nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur stellte der Staatsgerichtshof seine Arbeit im Jahr 1933 ein. Eine unabhängige Verfassungsrechtsprechung kannte und wollte das nationalsozialistische Regime als sog. ‚Führerstaat‘ nicht.

13

Nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 erfolgte im Jahr 1948 in den Westzonen die Einrichtung des Deutschen Obergerichts für das Ver-

14

20 Die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs wie auch die Normenkontroll-Entscheidungen des Reichsgerichts sind abgedruckt in der Sammlung von Lammers und Simons, Die Recht­ sprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Art. 13 Abs. 2 der Reichsverfassung, Band I–VI, 1929–1939. 21 Vgl. hierzu den Tagungsband mit den Beiträgen von Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2, und Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30. 22 Vgl. Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (4 f.). 23 Vgl. Stolleis, Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 194. 24 Mangels der Kompetenz, über Verfassungsbeschwerden und umfassende Normenkont­ rollverfahren zu entscheiden, war der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik kompetenziell freilich gerade nicht als ein solches idealtypisches Verfassungsgericht eingerichtet worden. 25 Vgl. Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (43 ff.). 26 Vgl. Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (7 f.). 27 Vgl. Kelsen, Die Justiz 6 (1931), 576. 28 Freilich stand für Schmitt wohl weniger der Aspekt der stärkeren demokratischen Legiti­ mation als vielmehr eine strategische Stärkung des Reichspräsidenten, gerade auch gegenüber dem – ebenfalls direkt demokratisch legitimierten – Reichstag im Vordergrund. 29 Vgl. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 158 f. 30 Zum Streit etwa Stolleis, Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 115 f., 118; Isensee, in: FS Kloepfer, 2013, S. 39 (40 f.).

534

§ 8 Bundesverfassungsgericht

einigte Wirtschaftsgebiet,31 welches u. a. für die erstinstanzliche Schlichtung von Streitigkeiten zwischen der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes und einem Lande oder zwischen zwei oder mehreren Ländern über die Anwendung oder Auslegung von Gesetzen zuständig war.32 Sitz des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet war Köln.33 Paralleles fehlte in der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR. 2. Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts 15

Traumatisiert von der jüngeren deutschen Geschichte (insbesondere ab 1933) hat das Grundgesetz bei der Schaffung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. insbes. Art. 92 ff. GG) großen Wert darauf gelegt, die effektive Geltung der Verfassung zu sichern.34 Dabei spielte auch das von der US-amerikanischen Besatzungsmacht ‚inspirierte‘ Vorbild des Supreme Court der USA eine bedeutende Rolle, obwohl dieser sich strukturell sehr erheblich vom Bundesverfassungsgericht unterscheidet; insbesondere deshalb, weil der U. S. Supreme Court – ähnlich wie das Schwei­ zerische Bundesgericht und auch der Gerichtshof der Europäischen Union35 – im Instanzenzug das oberste Gericht (grundsätzlich für alle Gerichtsbarkeiten) und nicht ein eigenständiges Verfassungsgericht ist. Als oberstes Gericht prüft der ­Supreme Court auch – aber eben nicht nur – die Vereinbarkeit von staatlichen Ein­ zelakten und auch Gesetzen mit der US-Verfassung und kann diese im Falle eines Verstoßes für nichtig erklären.36

16

Erst mit dem Erlass des von Art. 93 Abs. 3, 94 Abs. 2 GG vorgesehenen Geset­ zes, nämlich dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG)37 vom 12. März 195138, wurde das Bundesverfassungsgericht funktionsfähig. Das Gesetz ermöglicht die Anwendung der schon seit 1949 bestehenden Verfassungsvorschrif­ ten über das Bundesverfassungsgericht. Trotz seiner verfassungskonkretisieren­ den Funktion ist es freilich an die Verfassung gebunden. Deshalb ist es durchaus

31

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 83. Vgl. Proklamation Nr. 8 der US-amerikanischen Militärregierung v. 09.02.1948 und Ver­ ordnung Nr. 126 der britischen Militärregierung v. 09.02.1948; vgl. auch Entscheidungen des Deutschen Obergerichts für das vereinigte Wirtschaftsgebiet, 1951, herausgegeben von den Mitgliedern des Gerichts. 33 Vgl. Weisz / Kreikamp / Steger, Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, Band 4, 1983, S. 39. 34 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 4, Rn. 15 ff. 35 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 40, Rn. 101 ff. 36 Seit der Leitentscheidung Marbury v. Madison, 5 U. S. 137 (1803), übt der Supreme Court die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Hoheitsakten (judicial review) aus und ist so­ mit teilweise als funktionales Äquivalent zum deutschen Bundesverfassungsgericht anzusehen. 37 G. in der Fassung vom 11.8.1993 (BGBl. I, S. 1473), zuletzt geändert durch G v. 20.11.2019 (BGBl. I, S. 1724). 38 BGBl. I, S. 243. 32

A. Allgemeines

535

nicht ausgeschlossen, dass einzelne Vorschriften des BVerfGG verfassungswid­ rig sind. Als selbständiges und spezifisches Verfassungsgericht des Bundes nahm das Bundesverfassungsgericht am 7. September 1951 seine Tätigkeit in Karlsruhe auf; es arbeitet auf der Grundlage einer umfassenden Zuständigkeitsregelung mit einer – aus geschichtlicher und internationaler Sicht – ausgesprochen umfangrei­ chen Kompetenzliste.39

17

Gleichwohl hat das Grundgesetz inkonsequenterweise dem Bundesverfassungsgericht als einzigem Verfassungsorgan einen eigenen Verfassungsabschnitt versagt.40 Stattdessen wurden die Zuständigkeitsregelungen für das Gericht über das ganze Grundgesetz verstreut. Schwerpunktmäßig sind die Verfassungsregelungen über das Bundesverfassungsgericht (ins­ besondere Art. 93, 94 GG) in den ohnehin schlecht gegliederten IX. Abschnitt des Grundge­ setzes über „[d]ie Rechtsprechung“ eingefügt worden. Sie finden sich aber auch an anderen Stellen des Grundgesetzes (vgl. etwa Art. 18, 21 Abs. 2, 41 Abs. 2, 61, 84 Abs. 4 S. 2, 126 GG). Dadurch wird eher verhüllt, dass das Bundesverfassungsgericht Gericht und Verfassungsorgan zugleich ist (hierzu unten Rn. 57 ff.). Andererseits zeigt diese verfassungssystematische Auf­ fächerung der Kompetenzen die Bedeutung des Gerichts für die gesamte Verfassungsordnung des Grundgesetzes.

18

3. Sitz des Bundesverfassungsgerichts Als Sitz des Gerichts wurde Karlsruhe bestimmt (vgl. § 1 Abs. 2 BVerfGG41; s. auch § 1 Rn. 107), wo auch der Bundesgerichtshof (als Funktionsnachfolger des Reichsgerichts in Leipzig) platziert wurde.

19

Ein Grund für die Standortwahl muss gewesen sein, Baden-Württemberg zufriedenzustel­ len und den Bedeutungsverlust Badens und seiner früheren Residenzstadt Karlsruhe etwas zu kompensieren.42 Jedenfalls war die Entscheidung für Karlsruhe ein Element (von vielen) in der Verteilung von Bundesstellen über das damalige Bundesgebiet. Ob man hingegen davon sprechen kann, dass es üblich sei, Verfassungsgerichte (oder ihre partiellen funktionalen Äqui­

20

39

Vgl. nur Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 3. Das Grundgesetz weicht hier von seiner Systematik, welche zwischen Verfassungsorganen (Art. 38 ff. GG) und Staatsfunktionen (Art. 70 ff. GG) unterscheidet, ab. Freilich war bei Erlass des Grundgesetzes die Frage nach dem Verfassungsorganstatus des Bundesverfassungsgerichts nicht eindeutig geklärt (s. u. Rn. 60 ff.). Nach Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 15, m. w. N., sei die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, dem Bundesverfassungsgericht keinen eigenen Abschnitt zu geben, bewusst getroffen worden, um dessen Charakter als „echtes Gericht“ zu unterstreichen. 41 Die ursprüngliche Fassung des § 1 Abs. 2 BVerfGG (G. v. 12.03.1951, BGBl. I S. 243) lautete: „Der Sitz des Bundesverfassungsgerichts wird durch Gesetz bestimmt.“ Das Gesetz über den Sitz des Bundesverfassungsgerichts (G. v. 04.05.1951, BGBl. S. 288) bestimmte: „Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Sitz vorerst in Karlsruhe.“ Erst durch das Vierte Ände­ rungsgesetz zum BVerfGG (G. v. 21.12.1970, BGBl. I S. 1765) wurde Karlsruhe unmittelbar in § 1 Abs. 2 BVerfGG und ohne den Zusatz „vorerst“ als Sitz festgeschrieben. 42 Vgl. auch Roellecke, NJW 2001, 2924 (2927). 40

536

§ 8 Bundesverfassungsgericht

valente) außerhalb der Hauptstadt zu platzieren (vgl. etwa das Schweizerische Bundesgericht in Lausanne und den Niedersächsischen Staatsgerichtshof in Bückeburg)43, ist angesichts der zahlreichen Gegenbeispiele in größeren Verfassungsstaaten fragwürdig (vgl. etwa die USA, Spanien, Italien, Frankreich oder Polen).

21

Ob die geografische und die vereinzelt diagnostizierte mentalitätssoziologische Distanz zur ‚Berliner Republik‘ problematisch44 – oder aber gar zweckmäßig – ist, harrt näherer – freilich nicht rechtsdogmatischer – Untersuchung.

22

Bei der Standortentscheidung für Karlsruhe blieb es auch nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Zwar wurde in der Folgezeit u. a. auch der Vorschlag diskutiert, den Sitz des Bun­ desverfassungsgerichts nach Potsdam45 zu verlegen. Das erwies sich allerdings mit dem Besitz­ schutzdenken der (v. a. südlichen) alten Bundesländer (etwa in der Person von Klaus Kinkel) unvereinbar. Auch eine Mehrheit der Richterinnen und Richter des Gerichts sprach sich im Jahr 2000 gegen einen Umzug aus.46 Das Bundesverfassungsgericht ist somit das einzige Ver­ fassungsorgan, dessen Sitz in Folge der Wiedervereinigung nicht zumindest teilweise (nach Berlin) verlegt wurde.47 Insoweit hat die Wiedervereinigung bisher keine institutionellen Spu­ ren beim Bundesverfassungsgericht hinterlassen.

4. Entwicklung der Rechtsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts 23

Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Bundesverfassungsgerichts sind seit Inkrafttreten des Grundgesetzes wiederholt geändert worden.

24

So war die (Individual-)Verfassungsbeschwerde zunächst nur im BVerfGG, nicht aber im Grundgesetz geregelt (§§ 90 ff. BVerfGG). Erst im Jahre 1969 erfolgte die verfassungsrechtli­ che Absicherung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.48 Ebenfalls 1969 wurde in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG die Kommunalverfassungsbeschwerde eingeführt. Mit der ebenso auf die Verfassungs­ änderung von 1969 zurückgehenden Einfügung von Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG wurde zudem das bereits seit 1956 (in § 91a BVerfGG a. F.) einfachgesetzlich vorgesehene Annahmeverfahren (s. Rn. 539 ff.) verfassungsrechtlich legitimiert.

25

Im Jahre 1994 wurde Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG als Spezialform der abstrakten Normenkontrolle eingeführt,49 wonach  – anders als in der Grundnorm für die abstrakte Normen­ kontrolle in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – neben den Landesregierungen auch der Bundesrat oder 43

Vgl. aber Classen, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), GG, Bd. III, Art. 22, Rn. 4. Vgl. etwa C. Schönberger, in: Jestaedt / Lepsius / C. Möllers / ders., Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 9 ff. (63 f.): „[Es] fehlt den deutschen Verfassungsrichtern eine zwanglose gesellschaft­ liche Vertrautheit mit der politischen Elite.“ 45 Andere, wohl weniger konkrete Vorschläge betrafen etwa Weimar und Berlin. 46 Vgl. die Berichte in der FAZ v. 05.12.2000 („Das letzte Wort hat der Gesetzgeber“) und im Tagesspiegel v. 06.12.2000 („Bundesverfassungsgericht: Karlsruhe bleibt ‚Residenz des Rechts‘“); Näheres bei Umbach, in: ders. / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 1, Rn. 40; Burkiczak, in: ders. / Dollinger / Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 1, Rn. 95. 47 Einen Sonderfall stellt die Bundesversammlung dar, die – wie auch seit der Wiederver­ einigung – bereits in den 1950er und 1960er Jahren in Berlin, dann aber in den 1970er und 1980er Jahren in Bonn getagt hatte. 48 G. v. 29.1.1969 (BGBl. I, S. 97). 49 G. v. 27.10.1994 (BGBl. I, S. 3146). 44

A. Allgemeines

537

die Landes­parlamente die Einhaltung des Grundgesetzes überprüfen lassen können, wenn über die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG50 gestritten wird (s. u. Rn. 453 ff.). Im Jahr 2006 wurde im Rahmen der Föderalismusreform I durch die Einführung des Art. 93 Abs. 2 GG eine weitere spezielle Form der abstrakten Normenkontrolle – oder ein der abs­ trakten Normenkontrolle systematisch zumindest nahestehendes Verfahren51 – normiert (sog. Kompetenzfreigabeverfahren, s. a. Rn. 458 ff.).52 Danach kann das Bundesverfassungsgericht auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder einer Volksvertretung eines Landes feststellen, ob im Falle des Art. 72 Abs. 4 GG die Erforderlichkeit für ein Bundesgesetz nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Art. 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden könnte.

26

Durch eine – den Vertrag von Lissabon53 flankierende – Verfassungsänderung54 wurde im Jahr 2009 das Quorum, welches zur Anstrengung einer abstrakten Normenkontrolle durch die Mitglieder des Bundestages nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG erforderlich ist, (von vormals einem Drittel) auf ein Viertel der Mitglieder des Bundestags abgesenkt.55

27

Im Jahr 2012 fügte der verfassungsändernde Gesetzgeber in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG die sog. „Nichtanerkennungsbeschwerde“ ein.56 Mit diesem Rechtsbehelf können Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei vor einer Bundestagswahl vorgehen (s. u. Rn. 378).

28

Im Nachgang des zweiten (erneut jedenfalls im Ergebnis gescheiterten) NPD-Verbotsver­ fahrens57 wurde im Jahr 2017 in Art. 21 Abs. 3, Abs. 4 GG eine neue Verfahrensart zum Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von staatlicher Finanzierung geschaffen.58 Aus verfassungsrechtspolitischer Perspektive war hierbei bemerkenswert, dass der verfassungs­ ändernde Gesetzgeber auch mit Blick auf eine vage Anregung des Bundesverfassungsgerichts tätig geworden ist (s. u. Rn. 84).59

29

Hinzu kamen erhebliche Änderungen des BVerfGG, von denen hier besonders wichtige Beispiele geschildert werden sollen.

30

Die ersten drei Änderungsgesetze60 betrafen Aspekte der Gerichtsorganisation wie Fragen der Aufgabenverteilung zwischen den Senaten, aber auch Regelungen zu einzelnen bundes-

31

50

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 74 ff. Die Einordnung des Art. 93 Abs. 2 GG als Spezialfall der abstrakten Normenkontrolle ist fragwürdig; s. u. Rn. 459 ff. 52 G. v. 28.8.2006 (BGBl. I, S. 2034). 53 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 39, Rn. 53 ff. 54 G. v. 18.10.2008 (BGBl. I, S. 1926). 55 Die Absenkung des Quorums soll den Gleichklang mit der im Rahmen derselben Verfas­ sungsänderung eingeführten Subsidiaritätsklage beim Europäischen Gerichtshof nach Art. 23 Abs. 1a S. 2 GG (hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 43, Rn. 79 ff.) sicherstellen (s. a. BT-Drs. 16/8488, S. 4 f.). 56 G. v. 11.7.2012 (BGBl. I, S. 1478). 57 BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren II. 58 G. v. 13.7.2017 (BGBl. I S. 2346); hierzu Kloepfer, NVwZ 2017, 913. 59 Zum obiter dictum des Bundesverfassungsgerichts Kloepfer, NVwZ 2017, 913 (917). Die Gesetzesbegründung der Regierungsfraktionen (BT-Drs. 18/12357, S. 1) nimmt das obiter dictum ausdrücklich in Bezug. 60 1. ÄndG v. 21.7.1956 (BGBl. I, S. 662); 2. ÄndG v. 26.6.1959 (BGBl. I, S. 297); 3. ÄndG v. 3.8.1963 (BGBl. I, S. 589). 51

538

§ 8 Bundesverfassungsgericht

verfassungsgerichtlichen Verfahren. So wurden bezüglich der konkreten Normenkontrolle die Vorschriften über die bundesverfassungsgerichtliche Anhörungsbefugnis gegenüber obersten Gerichtshöfen des Bundes und oberster Landesgerichte geschaffen (nunmehr § 82 Abs. 4 BVerfGG). Daneben wurde durch das 1. Änderungsgesetz das Vorprüfungsverfahren eingeführt (§ 91a BVerfGG), welches seit dem 3. Änderungsgesetz in § 93a BVerfGG geregelt ist und nunmehr als Annahmeverfahren bezeichnet wird (s. u. Rn. 539 ff.).

32

Mit dem 4. Änderungsgesetz vom 21. De­zember 197061 wurde dann bspw. die Möglichkeit des Sondervotums (s. u. Rn. 283 ff.) und Regelungen über Wirkung und Veröffentlichung von Normprüfungsentscheidungen eingeführt (s. u. Rn. 307 ff.). Später wurde z. B. eine Nichtannahmegebühr (§ 34 BVerfGG a. F.) gesetzlich festgelegt,62 die durch das 5. Änderungsgesetz allerdings wieder abgeschafft wurde.63 Heute gibt es in § 34 Abs. 2 BVerfGG eine Regelung über eine Missbrauchsgebühr (s. Rn. 344). Erst seit dem 5. Änderungsgesetz, welches das BVerfGG zugleich neu bekanntmachte, enthält das BVerfGG (für die Verfassungsbeschwerde) Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 93 Abs. 2 BVerfGG).

33

Als Ausnahme zur allgemeinen Regel des § 169 Abs. 1 S. 2 des Gerichtsverfassungsgeset­ zes wurden 1998 in § 17a BVerfGG Bestimmungen zu Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie zu Ton- und Filmaufnahmen während der mündlichen Verhandlung und bei der öffentlichen Verkündung von Entscheidungen eingeführt64 und 2017/18 teilweise erweitert (s. u. Rn. 272 ff.).65 Im Jahr 2011 wurden die §§ 97a ff. BVerfGG mit Regelungen über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren (sog. ‚Verzögerungsbeschwerde‘; s. u. Rn. 292 ff.) eingefügt.66 Im Jahr 2015 wurden die Vorgaben des § 6 BVerfGG zur Richterwahl präziser gefasst (s. u. Rn. 160 ff.).67 Weitere Änderungen des BVerfGG betrafen durch Grundgesetzänderungen notwendig gewordene Anpassungen oder waren Änderungen anderer Gesetze geschuldet.68

34

In seiner weiteren Entwicklung sieht sich das Bundesverfassungsgericht freilich mit zunehmender Konkurrenz konfrontiert, welche seine (rechtliche und fakti­ sche) Bedeutung schmälert (s. a. Rn. 619 ff., 629 ff.).69

35

Erwähnt sei zunächst, dass die Verletzung von landesverfassungsrechtlichen Grundrech­ ten durch Landesrecht häufig vor den Landesverfassungsgerichten geltend gemacht wird (s. Rn. 131 ff.).70 Das kann bei partiell inhaltsgleichen Bundes- und Landesgrundrechten in mehr­ poligen Grundrechtsverhältnissen zu Problemen führen (s. u. Rn. 132).

61

BGBl. I, S. 1765. G. v. 12.12.1985 (BGBl. I, S. 2226). 63 G. v. 2.8.1993 (BGBl. I, S. 1442). 64 G. v. 16.7.1998 (BGBl. I, S. 1823). 65 G. v. 8.10.2017 (BGBl. I S. 3546). 66 G. v. 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302). 67 G. v. 24.6.2015 (BGBl. I S. 973). 68 S. dazu Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, Einl, Rn. 7 ff. 69 Vgl. dazu Ludwigs, EuGRZ 2014, 273; Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 ff.; ders., EuGRZ 2014, 165. 70 Zur Verfassungsbeschwerde bei den Landesverfassungsgerichten, s. Schumann, in: Starck / Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. II, 1983, S. 149 ff. 62

B. Aufgaben und Funktionen

539

Vor allem findet aber eine Verfassungskontrolle auch durch die Fachgerichte statt. Dabei ist im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten, insbesondere zu den obersten Gerichtshöfen des Bundes, noch einiges ungeklärt (s. a. Rn. 125 ff.).71

36

Angesichts der Europäisierung der deutschen Rechtsordnung entscheidet immer häufiger der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) letztinstanzlich über die Vereinbarkeit von in Deutschland unmittelbar anwendbarem Recht – das kann Unionsrecht, aber auch nationales Recht sein, welches in Erfüllung unionsrechtlicher Pflichten ergeht – mit den (Unions-)Grund­ rechten (weil das Bundesverfassungsgericht insoweit ‚freiwillig‘ seine Prüfungskompetenz zurückgenommen hat, s. Rn. 631 ff.).

37

Zudem kann deutsches Recht auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf die Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) überprüft werden (s. Rn. 619 ff.).

38

Bisher ist kaum untersucht, inwieweit von anderen internationalen Gerichten als dem EGMR (z. B. dem Internationalen Strafgerichtshof, IStGH, ICC, oder der Gerichtsbarkeit der World Trade Organization, WTO) nennenswerte Auswirkungen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehen bzw. ausgehen können.72 Dabei dürfen auch internationale Schiedsgerichte nicht unterschätzt werden, wie sich z. B. beim Streit um die Entschä­ digung für den (im Jahr 2011 beschleunigten) Ausstieg aus der Kernkraft zeigte, wo vom Energieversorgungsunternehmen Vattenfall neben dem ‚Gang nach Karlsruhe‘73 auch der Weg zum Schiedsgericht nach Washington (zum International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID) eingeschlagen wurde.

39

B. Aufgaben und Funktionen Zentrale Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist die rechtsverbindliche Interpretation des Grundgesetzes. Das Gericht bezeichnet sich selbst als den „maßgebliche[n] Interpret[en] der Verfassung“.74 Damit ist weniger – oder jeden­ falls nicht allein – ein instanzieller Auslegungsvorrang des höchsten nationalen Gerichts gemeint. Hinter dieser Funktion steht vielmehr das Bestreben, die Verfas­ 71 Umfassend dazu Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006; ferner die Besprechung desselben bei Zuck, JZ 2007, 1036; sowie Papier, DVBl 2009, 473. 72 Vgl. aber – für entsprechende Ansätze – die Arbeiten von Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008; Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichts­ barkeit, 2014, S. 107 ff. 73 Vgl. BVerfGE 143, 246. 74 BVerfGE 40, 88 (93) – Führerschein. Diese Bedeutung von Verfassungsgerichtsbarkeit kennzeichnete für die Vereinigten Staaten von Amerika treffend ein Zitat des 11. Präsidenten des United States Supreme Court, Hughes: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is“, zitiert nach Spanner, Das Bundesverfassungsgericht, 1972, S. 1. Erfüllt werden damit Forderungen, welche auch schon die Verfassungsrechtslehrer zur Weimarer Republik aufstellten, vgl. die Forderungen auf dem 33. Deutschen Juristentag 1924 (Beiträge von Dohna und Triepel) bzw. auf dem 36. Deutschen Juristentag 1926 (Beiträge von Anschütz und Mende). Vgl. auch die Referate der Staatsrechtslehrertagung 1928 in Wien; hierzu oben Rn. 11.

40

540

§ 8 Bundesverfassungsgericht

sung zur positivrechtlichen, jedenfalls aber gedanklichen Grundlage des gesamten innerstaatlichen Rechts zu machen. 41

Das Bundesverfassungsgericht und nicht der Bundespräsident (s. dazu § 5 Rn. 5, 42) ist – wiederum jedenfalls gemäß einer Selbstbezeichnung des Gerichts75 – der eigent­ liche „Hüter der Verfassung“, wenngleich insgesamt die Sicherung der Verfas­ sung vielen Stellen in der Bundesrepublik Deutschland obliegt (s. auch § 1 Rn. 156).

42

Die herausgehobene Stellung des Bundesverfassungsgerichts bei der Interpretation des Grundgesetzes ist zunächst als deskriptiver Befund und vor allem auch als Selbstbild des Gerichts festzustellen.

43

Fraglich ist freilich, wie diese in der Verfassungswirklichkeit gegebene Stellung normativ einzuordnen ist. Als einfach-gesetzlicher Anhaltspunkt kann § 31 Abs. 1 BVerfGG herange­ zogen werden76, welcher bestimmt, dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder – einschließlich der gesetzgebenden Körper­ schaften – sowie alle Gerichte und Behörden binden (ausführlich unten Rn. 59, 314). Streit besteht hinsichtlich der Frage, ob dies lediglich für die Entscheidungsformel oder – so das Bundesverfassungsgericht77 – auch für die tragenden Gründe oder gar für alle geäußerten ver­ fassungsrechtlich relevanten Ausführungen (einschließlich obiter dicta) gilt (s. u. Rn. 319 ff.).78 Verfassungsrechtliche Argumente für die Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts hin­ sichtlich der Interpretation des Grundgesetzes sind vor allem den umfassenden Zuständigkei­ ten des Gerichts, insbesondere den Normenkontrollzuständigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 (u. ggf. funktionell Nr. 4a), sowie Art. 100 Abs. 1 GG zu entnehmen.

44

Ziel der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts ist jedenfalls die Sicherung der effektiven Geltung des Grundgesetzes („Verfassungseffektivität“79). Die Ver­ fassung muss effektiv sein und damit auch die Verfassungsrechtsprechung. Die Effektivität des Verfassungsrechtsschutzes be­deutet insbesondere, dass die Ent­ scheidungen des Bundesverfassungsgerichts faktisch umgesetzt, d. h. Teil der Ver­ fassungswirklichkeit werden. Dazu gehört die Befolgung und gegebenenfalls auch die Vollstreckung (s. u. Rn. 323 ff.) der Entscheidungen des Bundesverfassungsge­ richts, aber auch vorläufiger verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz (s. u. Rn. 597 ff.) und das Fehlen abschreckender Hemmnisse beim Zugang zum Verfassungsgericht. 75

BVerfGE 40, 88 (93) – Führerschein; kritisch etwa Heun, Funktionell-rechtliche Schran­ ken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 81 f.; zur Weimarer Diskussion um den „Hüter der Verfassung“ s. o. Rn. 12. 76 Vgl. nur Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 485 ff. Dazu, dass die Frage danach, wer „Hüter der Verfassung“ im Sinne eines Akteurs der Verfassungs­ gesetzgebung ist, allerdings letztlich nur durch das Verfassungsrecht selbst entschieden werden kann: Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 81. 77 Vgl. BVerfGE 1, 14 (37) – Südweststaat; E 20, 56 (87) – Parteienfinanzierung I; E 40, 88 (93) – Führerschein; kritisch Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungs­ gerichtlicher Entscheidungen, 1979, S. 42, 110 ff., 121 f.; Bettermann, DVBl 1982, 91 (94); Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 485 ff. 78 Hierzu umfassend Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 485 ff., m. w. N. 79 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 4, Rn. 15 ff.

B. Aufgaben und Funktionen

541

Teil der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die effektive Geltung des Grundgesetzes zu sichern, ist zunächst seine – originär gerichtliche – Kontrollfunktion. Das Gericht hat die Einhaltung der formellen und materiellen Verfas­ sungsmäßigkeit der Handlungen und Unterlassungen der anderen Verfassungs­ organe und ggf. sonstiger Akteure zu überprüfen. Dabei ist es freilich an die verfassungsmäßig und gesetzlich vorgesehenen Verfahrensarten und deren Zuläs­ sigkeitsvoraussetzungen gebunden (s. u. Rn. 348 ff.) – das Bundesverfassungsge­ richt hat kein Selbstbefassungsrecht (s. u. Rn. 58, 252, 288, 362, 389). Ihm werden die Fälle von Dritten unterbreitet.

45

Über eine bloße (negative)  Kontrolle hinaus verlangt effektiver Verfassungs­ rechtsschutz aber auch ein Maß an (positiver) Gestaltung. Dies liegt schon an der Ausfüllungsbedürftigkeit der grundsätzlich unbestimmten Verfassungssprache. Aufgrund der hierbei notwendigerweise auftretenden Kompetenzkonflikte mit dem demokratisch stärker legitimierten (einfachen und verfassungsändernden) Gesetzgeber sind einer politischen Gestaltungsfunktion des Bundesverfassungs­ gerichts freilich verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt (s. u. Rn. 65 ff.).

46

Schon zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung wurde über eine etwaige – mit politischer Gestaltung eng verbundene – Integrationsfunktion der (idealen) Verfassungsgerichtsbarkeit diskutiert (Triepel, Smend; s. o. Rn. 11).80 „Staatliche ‚Integration‘“ in diesem Sinne meint die Bündelung von Auffassungen und Handlungen in Verbindung „mit den höchsten, obersten, entscheidendsten Staatszwecken, […] was sich auf den Staat als schöpferische Macht bezieht“ (Triepel).81 Etwas einfacher kann Integration auch als politische ‚Einigung‘ (bzw. Einheitswer­ dung) des Volkes begriffen werden.82 Man wird die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die effektive Geltung des Grundgesetzes zu bewirken, durchaus als ‚Integration‘ der politischen Gemeinschaft hin auf die Werte des Grundgesetzes bezeichnen können. Die verfassungs­ rechtlichen Grenzen für aktive politische Gestaltung durch das Gericht – gerade im Verhält­ nis zum Gesetzgeber – bleiben aber bestehen. ‚Integration‘ ist letztlich Aufgabe aller Verfas­ sungsorgane innerhalb ihrer jeweiligen Zuständigkeiten (s. § 1 Rn. 156; § 2 Rn. 59; § 5 Rn. 29).

47

Das Gericht soll – in Entsprechung zu der Grundrechtsgeprägtheit des Grund­ gesetzes und in Umsetzung rechtsstaatlicher Fundamentalforderungen – auch die Gewährleistung eines Raumes verfassungsrechtlich geschützter und verbürgter Freiheiten sichern. Es schützt die Grundrechtssphäre des Bürgers insbesondere bei Verfassungsbeschwerden (s. u. Rn. 529 ff.). Das Bundesverfassungsgericht ist in der öffentlichen Wahrnehmung gerade auch ein Grundrechtsgericht.

48

Diese Funktion eines Verfassungsgerichts tritt zu der klassischen Funktion der Staatsgerichtsbarkeit hinzu: Hier liegt der Aufgabenschwerpunkt in der Kont­ rolle der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Regeln über die Legitimations­ akte, die Handlungen und die Besetzung der Staats- bzw. Verfassungsorgane, die maßgeblich über die Akzeptanz einer repräsentativen Demokratie durch das Volk

49

80

Vgl. Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (7 f.). Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (7). 82 Vgl. – kritisch – Roellecke, NJW 2001, 2924 (2929). 81

542

§ 8 Bundesverfassungsgericht

bestimmen. Außerdem sichert das Bundesverfassungsgericht die Gewaltenteilung verfassungsprozessual ab; bedeutendste Verfahrensart ist insoweit das Organstreit­ verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (s. u. Rn. 356 ff.). 50

Weiterhin ist die Gewährleistung des föderalen Grundkonsenses im Bundes­ staat zu nennen, zu dem das Verfassungsgericht durch eine zwischen Bund und Gliedstaaten ausbalancierende Rechtsprechung traditionell einen wesentlichen Beitrag zu leisten vermag.83 Für die Klärung föderalismusverfassungsrechtli­ cher Fragen stehen einerseits spezifisch föderalismusverfassungsrechtliche Ver­ fahrensarten, insbesondere der Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG (s. u. Rn. 495 ff.), die subsidiären Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var.  1 u. Var.  2 GG (s. u. Rn. 496, 500) sowie die explizit verbandskompetenzbezogenen Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a u. Abs. 2 GG (s. u. Rn. 453 ff.), zur Verfügung. Andererseits können föderalismusverfassungsrechtliche Fragen  – insbesondere zu strittigen Verbandskompetenzen – inzident im Rahmen von Normenkontrollen (s. u. Rn. 401 ff., 461 ff.), Verfassungsbeschwerden (s. u. Rn. 529 ff.) und anderen Verfahrensarten adressiert werden.

51

Schließlich übernimmt das Bundesverfassungsgericht eine Kontrollfunktion im Zusammenhang mit der Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der europäischen Integration (s. u. Rn. 629).

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung I. (Un-)Antastbarkeit? 52

Das Gericht hat – bereits dem Verfassungstext nach – eine hohe verfassungsrechtliche Stellung. Dies zeigt sich neben den zahlreichen Zuständigkeitszuschrei­ bungen etwa auch an Art. 115g GG, der die grundsätzliche Stellung des Gerichts auch in Kriegszeiten garantiert. Freilich bleibt andererseits der bereits erwähnte (s. o. Rn. 18) – aber wohl doch eher ‚formalistische‘ – Befund, dass das Bundes­ verfassungsgericht – anders als noch im Entwurf von Herrenchiemsee – als ein­ ziges Verfassungsorgan keinen eigenen Abschnitt im Grundgesetz erhalten hat.84 83

So ausdrücklich Süsterhenn auf der 2. Sitzung des Plenums des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, Sten. Ber., S. 25; zum Angewiesensein des Bundesstaates auf Verfassungs­ gerichtsbarkeit vgl. Korioth, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesver­ fassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 693 ff.; mit Blick auf die „Bundes­ treue“ als zentraler Figur des deutschen Bundestaatsrechts spricht Wittreck, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 18, Rn. 55, von „Bundestreue [als] Bundesverfassungs­ gerichtstreue.“ 84 Beachte jedoch Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 15, m. w. N., welcher darauf hinweist, dass die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, dem Bundesverfassungsgericht keinen eigenen Abschnitt zu geben, bewusst getroffen worden sei, um den Charakter als „echtes Gericht“ zu unterstreichen.

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

543

Es spricht manches dafür, jedenfalls die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes als solche der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG zu unterstellen, weil sie konstitutiver Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips des Grundgesetzes ist (s. a. § 1 Rn. 182).85 Dies schließt natürlich einzelne Verfassungsänderungen – etwa im Zu­ ständigkeitskatalog des Art. 93 Abs. 1 GG oder bezüglich der konkreten institu­ tionellen Ausgestaltung des Verfassungsgerichts, etwa seiner Binnenorganisation und Besetzung – nicht aus.86

53

Darüber hinausgehend werden von Teilen des Schrifttums als – durch Verfassungsände­ rung einsetzbare – institutionelle Alternativen zu einem eigenständigen Verfassungsgericht auf Bundesebene vor allem die auf die Verfassungsrechtsprechung ausgeweitete Fachge­ richtsbarkeit, aber auch ein „bewusst politisch besetzte[s] Kontrollorgan“ wie etwa der fran­ zösische Conseil Constitutionnel 87 für möglich gehalten.88 Für letzteres Modell gibt es in der deutschen Verfassungsgeschichte mit dem Bundesrat der Reichsverfassung von 1871, welcher gemäß Art. 76 RV 1871 föderative Verfassungsstreitigkeiten entschied, ein  – freilich sehr begrenztes – ‚Vorbild‘.

54

Freilich enthält auch das geltende Verfassungsrecht des Grundgesetzes einen Ansatz für eine (teilweise) institutionelle Alternative bzw. Ergänzung zum Bundesverfassungsgericht: Ge­ mäß Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG entscheidet der Bundesrat auf Antrag im sog. Mängelrügeverfahren (s. § 3 Rn. 229 f.), ob es bei der Ausführung der Bundesgesetze in den Ländern zu Rechts­ verletzungen durch ein Land gekommen ist. Allerdings sieht Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG vor, dass gegen den Beschluss des Bundesrats das Bundesverfassungsgericht angerufen werden kann.

55

II. Bundesverfassungsgericht als Gericht und Verfassungsorgan Das Bundesverfassungsgericht ist Gericht und Verfassungsorgan zugleich.89 Diese Aussage hat nicht nur politische oder politikwissenschaftliche Bedeutung, sondern führt auch zu unmittelbaren juristischen Konsequenzen (z. B. Geltung der Justizgrundrechte auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht einerseits und 85 Anders zum Teil das Schrifttum: Das Rechtsstaatsprinzip verlange nur, dass die Einhal­ tung der Verfassungsbestimmungen effektiv kontrolliert werden könne. Da diese Kontrolle grundsätzlich etwa auch durch Fachgerichte oder sonstige unabhängige Kontrollorgane erfol­ gen könne, garantiere Art. 79 Abs. 3 GG nicht den Bestand des Bundesverfassungsgerichts. S. dazu Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 79, Rn. 45, 48 m. w. N.; vgl. auch noch Kloepfer, DVBl. 2004, 676 (680). 86 Beispielsweise könnte die Verfassungsbeschwerde im Wege einer Verfassungsänderung abgeschafft werden, dazu Kloepfer, DVBl. 2004, 676 (680): „Sogar eine eigenständige Ver­ fassungsgerichtsbarkeit selbst stellt keinen unentbehrlichen Bestandteil des Rechtsstaats dar, wenngleich die Existenz des BVerfG für das politische Leben der Bundesrepublik Deutsch­ land faktisch von außerordentlich hohem Wert ist“; s. u. Rn. 664. 87 Rechtsvergleichend zum Streit um den Charakter des Conseil Constitutionnel als (auch) politisches Organ Mels, Bundesverfassungsgericht und Conseil constitutionnel, 2003, S. 197 ff. 88 Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 79, Rn. 48 m. w. N. 89 So auch die prägnante Selbstbeschreibung in BVerfGE 7, 1 (14)  – Berlin-Vorbehalt I: „[Das Bundesverfassungsgericht] ist als Gericht zugleich ein oberstes Verfassungsorgan.“ Zum Ganzen auch Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 15.

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organisatorische Unabhängigkeit von anderen Verfassungsorganen, insbesondere auch von der Bundesregierung andererseits). 1. Gericht a) Gerichtsqualität 57

Das Bundesverfassungsgericht ist gemäß § 1 Abs. 1 BVerfGG ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes. Es ist dabei auch im Hinblick auf sonstige Gerichte des Bundes selbst­ ständig. Mit diesem modernen Konzept des eigenständigen Verfassungsgerichts erteilt das Grundgesetz den Modellen anderer Staaten (insbesondere der USA90 und der Schweiz91) eine Absage, welche die Beurteilung der Verfassungsmäßig­ keit den obersten Gerichten überlassen, die auch für sonstigen Rechtsschutz letzt­ instanzlich zuständig sind.92

58

Gerichtseigenschaft und rechtsprechende Funktion des Bundesverfassungsge­ richts lassen sich nach allgemeiner Ansicht insbesondere aus seiner gerichtsförmigen Organisation und Verfahrensweise sowie aus der Antragsgebundenheit (d. h. dem Fehlen eines Selbstbefassungsrechts) und Nachträglichkeit seiner Entscheidungen herleiten.93 Seine Aufgabe ist im Gegensatz zur sonstigen Judikatur jedoch nicht nur die Streitentscheidung und Herstellung des Rechtsfriedens in einem konkreten Fall, sondern auch die Wahrung und Weiterentwicklung der Ver­ fassungsordnung (s. Rn. 40 ff.).94 b) Bindungskraft der Entscheidungen

59

Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die auf der unmittelbaren Aus­ legung und Anwendung von Verfassungsrecht beruhen, sind für alle Träger staatlicher Gewalt verbindlich (§ 31 Abs. 1 BVerfGG; s. u. Rn. 314). Die Entscheidung des Gerichts bindet also die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden – auch wenn sie nicht am Verfahren beteiligt waren. Hierin liegt ein Unterschied zu nur mit materieller Rechtskraft ausgestatteten Entscheidungen von Fachgerichten: Diese entfalten grundsätzlich lediglich für 90

S. dazu Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987. 91 Müller, EuGRZ 1988, 218 ff. 92 S. a. Tomuschat, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 245 ff. 93 Roellecke, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 67, Rn. 16, mit Verweis auf Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (114); zu den Zweifeln Schlaich / Korioth, Das Bundes­ verfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 36. 94 Differenzierend Kunig, VVDStRL 61 (2002), 34 (52 ff.).

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

545

die Verfahrensbeteiligten und das Gericht im Hinblick auf den konkreten Streit­ gegenstand eine Bindungswirkung (näher dazu Rn. 313 ff.), was eine weitgehende faktische Ausrichtung der rechtlichen Argumentation von Untergerichten auf die Entscheidungen höherer Gerichte freilich nicht ausschließt. 2. Verfassungsorgan Das Bundesverfassungsgericht ist nicht nur ein Gericht. Es ist, wie es § 19 seiner Geschäftsordnung formuliert, zugleich ein „oberste[s] kollegiale[s] Verfassungs­ orga[n]“ (s. a. § 1 Rn. 46). Neben dem Geschäftsordnungsrecht legt dies auch das einfache Gesetzesrecht in § 1 Abs. 1 BVerfGG mit der Formulierung nahe, dass „[d]as Bundesverfassungsgericht […] ein allen übrigen Verfassungsorganen gegen­ über selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes“95 sei.96

60

Als originär verfassungsrechtliche Frage kann der Status einer Institution als Verfassungsorgan freilich nur durch die Verfassung selbst bestimmt werden. Ob sich dem Grundgesetz entnehmen lässt, dass das Bundesverfassungsgericht ein Verfassungsorgan ist, wurde in den frühen Jahren des Gerichts teilweise be­ stritten und musste vom Gericht selbst in einer Denkschrift im Jahr 1952 vertei­ digt werden.97

61

Richtigerweise folgt die Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfas­ sungsorgan aus seinen umfänglichen verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten, einschließlich der Kompetenz, (als einziges Gericht) Parlamentsgesetze verwerfen zu können98 (s. u. Rn. 79 f.), aus seiner Selbständigkeit sowie aus seiner sachlichen und organisatorischen Unabhängigkeit.99 Insoweit rechtfertigt die verfassungs­ rechtliche Stellung des Gerichts die Qualifizierung als Verfassungsorgan: Die Merkmale der Konstituierung durch das Grundgesetz, der Weisungsfreiheit und der nicht unwesentlichen Einbindung in die ‚Staatsleitung‘ (im umfassenden Sinn) sind erfüllt (ausführlich § 1 Rn. 45 f.).

62

95

Hervorh. durch den Verf. Zur „aufschlussreichen“ Gesetzestechnik, die den Status als Gericht betont und die Verfassungsorganeigenschaft nur indirekt, aber doch eindeutig anerkennt: Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 1, Rn.  2. 97 Das Bundesverfassungsgericht, Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, JöR n. F. 6 (1957), 144; ausführlich zum Hintergrund und insbesondere zur Rolle von Gerhard Leibholz in der Debatte: Collings, in: Kaiser (Hrsg.), Der Parteienstaat. Zum Staatsverständnis von Gerhard Leibholz, 2013, S. 225 ff. 98 Zur Bedeutung dieser Kompetenz eines „negativen Gesetzgebers“ für die Frage nach der Verfassungsorganqualität Isensee, in: FS Kloepfer, 2013, S. 39 (43). 99 BVerfGE 7, 1 (14) – Berlin-Vorbehalt I; 8, 104 (114 f.) – Volksbefragung; dies wurde in der früheren Phase des Gerichts mitunter bestritten, vgl. Statusbericht des Bundesverfassungsge­ richts in JöR N. F. 6 (1957), 109 ff.; vgl. hierzu auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 343 m. w. N. 96

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63

Anders als die obersten Gerichtshöfe des Bundes100 ist das Bundesverfassungsgericht nicht dem Geschäftsbereich und dem Haushalt eines Bundesministeriums zugeordnet, sondern hat einen eigenen Haushalt (s. u. Rn. 229). Für seine finanziellen Mittel wird ein Einzelplan im Bundeshaushalt geführt. Die Verwaltung des Verfassungsgerichts ist keiner ministerialen Führung unterworfen und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist oberste Dienst­ behörde und oberster Dienstvorgesetzter der Beamten und Angestellten.101

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Obwohl das Bundesverfassungsgericht ein Verfassungsorgan ist, zählt es – an­ ders als alle anderen Verfassungsorgane (sowie einige weitere Akteure) – nicht zum Kreis der Antragsberechtigten eines Organstreitverfahrens (s. u. Rn. 362).

III. Bundesverfassungsgericht und politischer Prozess 1. Politik durch das Gericht 65

Der Aussagewert verfassungsgerichtlicher Urteile erschöpft sich nicht in der konkreten Rechtserkenntnis, sondern ist heute faktisch auch ein wesentlicher Bestandteil der politischen Willensbildung und der politischen Leitung im Staate.102 Dem Bundesverfassungsgericht kommt  – neben den anderen Verfas­ sungsorganen und im Rahmen seiner Kompetenzen – auch eine politische Gestal­ tungs- und Integrationsfunktion zu (s. o. Rn. 46 f.). Das Grundgesetz dient dabei als Ausgangspunkt und Argumentationsgrundlage, zwingende und exakte Vorgaben sind ihm jedoch häufig nicht zu entnehmen. Insoweit nimmt das Bundesverfas­ sungsgericht als Verfassungsorgan durchaus auch politische Führungsaufgaben wahr.

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Das muss keine Usurpation politischer Kompetenzen sein. Nur zu gerne überlässt die ‚Politik‘ die Entscheidung einer Streitfrage dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts. So werden oftmals grundlegende politische Meinungsverschiedenheiten, die von Politikern nicht gelöst wurden, durch ein Urteil des Verfassungsgerichts entschieden. Diese Entwicklung konnte schon in frühen Entscheidungen des Gerichts beobachtet werden und hat inzwischen weiter zugenommen. Die dem Bundesverfassungsgericht vorgegebene Form gerichtlicher Ent­ scheidungen kaschiert nicht selten deren politischen Entscheidungsgehalt.

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Andererseits sind verfassungsrechtlich zugeteilte Kompetenzen grundsätzlich nicht ver­ handelbar; sie stehen prinzipiell nicht in der Dispositionsfreiheit des jeweiligen Organs oder 100 Der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesfinanzhof sind im Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums, das Bundesarbeitsgericht und das Bun­ dessozialgericht in jenem des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die obersten Gerichtshöfen des Bundes sind anders als das Bundesverfassungsgericht – trotz grundgesetz­ licher Erwähnung in Art. 95 Abs. 1 GG – keine Verfassungsorgane, vgl. nur Jachmann, in: Maunz / Dürig, GG (Stand: 88. Ergänzungslieferung August 2019), Art. 95, Rn. 73. 101 Vgl. zum Ganzen Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutsch­ land, 20. Aufl. 1995, Rn. 670. 102 Das Verfassungsgericht ist eben auch ‚government‘. S. a. Hesse, Grundzüge des Verfas­ sungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 669.

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

547

Verbands.103 Daher entspricht es auch bei ‚Einverständnis‘ des Bundestags und der Bundesre­ gierung jedenfalls nicht dem ‚Geist‘ des Grundgesetzes, wenn das Bundesverfassungsgericht – über seine nach dem Bild des Grundgesetzes deutlich im Vordergrund stehende Kontrollfunktion (s. u. Rn. 45) hinausgehend – entscheidende politische Gestaltungsaufgaben übernimmt. Politisch brisante Entscheidungen ‚aus Karlsruhe‘104 schlossen etwa die Auseinander­ setzungen über den Auslandseinsatz der Bundeswehr ab,105 bestimmten das Verhältnis der Bun­desrepublik Deutschland zur damaligen DDR106 und das Maß der weiteren Integration Deutschlands in der Europäischen Union,107 beschäftigten sich mit der Wiedervereinigung Deutschlands und ihren Folgen,108 prägten die Diskussionen über die Strafbarkeit der Ab­ treibung109 bzw. über die Strafbarkeit ehemaliger DDR-Spione,110 bewerteten die Zulässigkeit von religiösen Symbolen („Kruzifixen“) in öffentlichen Räumen,111 skizzierten die rechtlichen Voraussetzung zur etwaigen (Wieder-)Einführung einer Vermögensteuer112 und ordneten das Familienrecht,113 einschließlich steuerrechtlicher Aspekte der Ehe und der eingetragenen Le­ benspartnerschaft,114 sowie das Erbrecht115 neu. Daneben entschied das Bundesverfassungs­ gericht bspw. über das Arbeitslosengeld II („Hartz IV“),116 das Verbot von politischen Parteien117 und ihre Stellung in der grundgesetzlichen Ordnung,118 über Volksbefragungen,119 über den 103

Für die Indisponibilität von Gesetzgebungskompetenzen (als Verbandskompetenzen im Bund-Länder-Verhältnis) siehe Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 21, Rn. 57. 104 Ein Überblick über die für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wichtigen (politischen) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet sich auch bei Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004. 105 BVerfGE 88, 173 (174 ff.) – Einsatz in Bosnien-Herzegowina; E 90, 286 ff. – Bundes­ wehreinsatz; später auch E 118, 244 ff. – Afghanistan-Einsatz; E 121, 135 ff. – Luftraumüber­ wachung Türkei. 106 BVerfGE 36, 1 (13 ff.) – Grundlagenvertrag. 107 BVerfGE 123, 267 ff. – Vertrag von Lissabon; zuvor: E 89, 155 (157 ff.) – Maastricht; dazu Streinz, EuZW 1994, 329 ff.; BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I; E 73, 339 (387) – Solange II; E 102, 147 (160 ff.) – Bananenmarkt; E 97, 350 ff. – Euro; zum Verhältnis der deutschen Rechtsordnung zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, s. BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – EGMR-Entschei­dungen. 108 BVerfGE 84, 90 ff. – Bodenreform I; E 84, 133 ff. – Abwicklung von DDR-Einrichtungen; E 94, 12 ff.; E 102, 254 ff. 109 BVerfGE 39, 1 ff. Schwangerschaftsabbruch I; E 88, 203 ff. – Schwangerschaftsabbruch II. 110 BVerfGE 92, 277 ff. – Spionage für die DDR. 111 BVerfGE 93, 1 ff. – Kruzifix; siehe auch E 108, 282 ff. – Kopftuch. 112 BVerfGE 93, 121 ff. – Einheitswerte II. 113 Z. B. BVerfGE 25, 167 ff. – Nichtehelichkeit; E 108, 82 ff. – Biologischer Vater; E 117, 202 ff. – Vaterschaftsfeststellung. 114 BVerfGE 124, 199 ff.  – Gleichbehandlung eingetragener Lebensgemeinschaft; E 126, 400 ff. – Steuerliche Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften; E 131, 239 ff. – Lebenspartnerschaft von Beamten; E 133, 377 ff. – Ehegattensplitting. 115 BVerfGE 112, 332 ff. – Pflichtteil. 116 BVerfGE 125, 175 ff. – Hartz IV; E 137, 34 ff. – Existenzsichernder Regelbedarf. 117 BVerfGE 2, 1 ff. – SRP-Verbot E 5, 85 ff. – KPD-Verbot; E 107, 339 ff. – NPD-Verbots­ verfahren. 118 BVerfGE 20, 56 ff. – Parteienfinanzierung I; E 73, 40 ff. – Parteispenden; E 85, 264 ff. – Parteienfinanzierung II; E 91, 262 ff. – Parteienbegriff I; E 91, 276 ff. – Parteienbegriff II; E 99, 69 ff. – Kommunale Wählervereinigungen; E 111, 54 ff. – Rechenschaftsbericht. 119 BVerfGE 8, 104 ff. – Volksbefragung; E 8, 122 ff. – Volksbefragung Hessen.

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§ 8 Bundesverfassungsgericht

bundesstaatlichen Finanzausgleich,120 über die Informationstätigkeit der Bundesregierung121 sowie über die vorzeitige Auflösung des Bundestags,122 das Wahlrecht,123 das Ausländer- und Migrationsrecht (Zuwanderungsgesetz),124 die „Ökologische Steuerreform“ (‚Ökosteuer‘),125 das Ladenschlussrecht,126 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung,126a das Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank,126b den ‚Berliner Mietendeckel‘126c und das Bundesklimaschutzgesetz.126d

69

Diese Aufzählung zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder hochpolitische Fragen mit Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben beantwortet hat. Dies liegt auch am anspruchsvollen Schutzkonzept der Grundrechte des Grundgesetzes, die nach dem Bundesverfassungsgericht eben auch eine „objektive Wertordnung“127 darstellen,128 und an der flankierenden verfassungsprozessualen Absicherung durch die Verfassungsbeschwerde.129

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Zwar hat die ausgedehnte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts si­ cherlich noch nicht die von Carl Schmitt – schon zu Zeiten der Weimarer Republik mit ihrer im Vergleich mit dem Grundgesetz kompetenzschwächeren Verfassungsbzw. Staatsgerichtsbarkeit (s. o. Rn. 11) – befürchtete breitflächige „Juridifizierung der Politik“ verwirklicht, in der die durch Verfassungs- und Gesetzgeber hinausgeschobenen politischen Fragen durch das Verfassungsgericht „mit seinem Schein der Justizförmigkeit“ entschieden würden.130

71

Es ist jedoch zumindest zweifelhaft, ob die Ausdehnung und Intensivierung verfassungsgerichtlicher Tätigkeit noch dem ursprünglichen Bild einer Verfassungsgerichtsbarkeit entspricht, wie es den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates vorschwebte.131 Bedenken 120

BVerfGE 72, 330 ff. – Finanzausgleich I; E 86, 148 ff. – Finanzausgleich II; E 101, 158 ff. – Finanzausgleich III; E 116, 327 ff. – Berliner Haushalt. 121 BVerfGE 105, 252 ff. – Glykol; E 105, 279 ff. – Osho. 122 BVerfGE 62, 1 ff. – Bundestagsauflösung I (zum Ende der sozialliberalen Koalition 1982); BVerfGE 114, 107 ff. – Bundestagsauflösung II, sowie E 114, 121 ff. – Bundestagsauflösung III (jeweils zum Ende der rot-grünen Koalition 2005). 123 BVerfGE 79, 169 ff. – Überhangmandate I; E 95, 335 ff. – Überhangmandate II; E 95, 408 ff. – Grundmandatsklausel; E 123, 39 ff. – Wahlcomputer; E 131, 316 ff. – Landeslisten (zum sog. negativen Stimmgewicht); E 135, 259 ff. – Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahl. 124 BVerfGE 106, 310 ff. – Zuwanderungsgesetz. 125 BVerfGE 110, 274 ff. – Ökosteuer. 126 BVerfGE 125, 39 ff. – Adventssonntage Berlin. 126a BVerfGE 153, 182 ff. – Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. 126b BVerfGE 154, 17 ff. – EZB-Staatsanleihekaufprogramm. 126c BVerfG, Beschl. v. 25.03.2021, 2 BvF 1/20 u. a. 126d BVerfG, Beschl. v. 25.03.2021, 1 BvR 2656/18 u. a. Zur Bedeutung von ‚Klimaklagen‘ bei der Wahrnehmung von Langzeitverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat  – neben primär maßgeblichen parlamentarischen Entscheidungen – Kloepfer / Neugärtner, in: Kahl / Weller (Hrsg.), Climate Change Litigation, 2021, S. 21 (40 f.), m. w. N. 127 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth. 128 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 48, Rn. 34 ff. 129 Vgl. auch Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, S. 159 ff., S. 187 ff. 130 C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. 1928, S. 118. 131 Zwar forderten der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und der Parlamentarische Rat einhellig ein mit umfassenden Kompetenzen ausgestattetes Verfassungsgericht; streitig war allein die Frage einer organisatorischen Eingliederung in die sonstige Bundesrechtspre­

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

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bestehen vor allem im Hinblick auf die mit der ausgedehnten und intensivierten Verfassungs­ gerichtsbarkeit verbundene Schwächung des demokratischen Elements in Form einer Staats­ willensbildung „von unten nach oben“ (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Denn durch die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts werden unter Umständen dem gesellschaftlichen Diskurs und der politischen Debatte, jedenfalls aber dem parlamentarischen Willensbildungsprozess er­ hebliche Verantwortlichkeiten abgenommen,132 und z. B. das parlamentarische Budgetrecht (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG)133 teilweise ausgehebelt. Mangels parlamentarischer Verantwortlichkeit und wegen (weitestgehend) fehlender Ab­ berufungsmöglichkeit von Bundesverfassungsrichtern (s. Rn. 188 f.) ist dieser Prozess aber auf demokratischem Wege ohne Verfassungsänderung nicht zu verhindern, solange das Bundesverfassungsgericht besteht. Einschlägige Klarstellungen im Grundgesetz dürften nicht realistisch sein. Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes auf einfach-gesetzlicher Ebene würden kaum effektiv sein, hätten sie doch die verfassungsrechtlichen Vorgaben ins­ besondere der Art. 93 ff. GG weiterhin zu beachten.134

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Freilich haben die politisch geprägten Verfassungsorgane (Regierung und Par­ lament) andere, indirekt wirkende Möglichkeiten, den Einfluss des Gerichts zu schwächen. Insgesamt bleibt die drohende Juridifizierung der Politik nicht fol­ genlos. ‚Die Politik‘ (also vor allem Regierung, Parlament und Parteien) lässt sich nicht ohne Weiteres Macht aus der Hand nehmen. Sie antwortet mit ganz unter­ schiedlichen Vermeidungs- und Gegenstrategien, von denen hier vier erwähnt werden sollen:

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Die erste Möglichkeit ist die Einschränkung von Interpretationsmöglichkeiten des Grundgesetzes für das Bundesverfassungsgericht durch (über-)detaillierte neue Verfassungs­ bestimmungen (z. B. Art. 13 Abs. 3–6, 16a Abs. 2–5 GG135); durch Überdetaillierungen soll nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht an die Leine gelegt werden.

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Die zweite Möglichkeit ist die (mehr oder weniger) subtile Gegenattacke: ‚Die Politik‘ ant­ wortet der Justiz durch unverhüllten (und unbegrenzten) Parteieneinfluss bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter (s. a. Rn. 170 ff., 177 ff.).136 Diese Einflussnahme ‚der Politik‘, also

75

chung im Gegensatz zur unabhängigen Institution einer dritten Gewalt auf Verfassungsebene, Bericht HChKonv., S. 45, 88. Der Parlamentarische Rat fasste dann den noch im Entwurf von Herrenchiemsee (als Art. 99, 100 HChE., nach Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung) konzipierten achten Abschnitt in den heutigen Art. 94 GG unter den Ab­ schnitt Rechtsprechung; vgl. dazu auch die Darstellung bei Stern, Das Staatsrecht der Bundes­ republik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 330 f. 132 Vgl. zum Ganzen Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (113 ff.); Burmeister, in: König / Rüf­ ner (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 33 ff.; vgl. auch das abweichende Votum von Böckenförde zu BVerfGE 93, 121 (149, 152) („autoritativer Praeceptor“) – Einheitswerte II. 133 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 26, Rn. 243 ff. 134 Beachte aber den Verweis von Britz, Jura 2015, 319 (324), auf die Möglichkeit des Gesetz­ gebers, über die Regelung der finanziellen Ausstattung des Gerichts die Arbeitsmöglichkeiten zu beeinflussen. 135 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 66, Rn. 29 ff., bzw. § 73, Rn. 54 ff. 136 Bettermann, in: FS Zweigert, 1981, S. 723 (745 f.); Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 271.

550

§ 8 Bundesverfassungsgericht

von Bundestag, Bundesrat und politischen Parteien auf die Kreation des Bundesverfassungs­ gerichts hat umgekehrt ein gewisses – obschon keinesfalls spiegelgleiches – Pendant in den Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts, den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Ausgestaltung des Bundestagswahlrechts und damit für die Kreation des Bundestags mitzu­ prägen (s. § 2 Rn. 50).

76

Außerdem erfolgt – drittens – nicht ganz selten ansehensschädigende, herabsetzende Kritik am Bundesverfassungsgericht durch Mitglieder der Bundesregierung oder Bundestags­ abgeordnete, wenn diese Akteure ein Verfahren ‚in Karlsruhe‘ verloren haben. Die ‚Sentenz‘ „Wir lassen uns doch von den Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputtmachen“, die manchmal Herbert Wehner oder Horst Ehmke zugeschrieben wird, ist hier ein besonders drastisches Beispiel für einen skandalösen Politikstil – für den sich freilich auch Beispiele aus anderen politischen Parteien finden ließen.137

77

Schließlich gibt es noch – viertens – die politisch gefährlichste und rechtsstaatlich grund­ sätzlich unhaltbare Möglichkeit: Desavouierung des Gerichts durch Nichtbefolgung seiner Entscheidungen bzw. durch bloße Teilbefolgung (s. u. Rn. 671).138

78

Diese Einflussmöglichkeiten von Regierung, Parlament und Parteien verdeut­ lichen, dass das Bundesverfassungsgericht auf lange Sicht auf ein rücksichtsvolles Zusammenwirken mit den anderen Verfassungsorganen angewiesen ist. Die gegen­ seitige Rücksichtnahme der Verfassungsorgane wird durch den Grundsatz der Verfassungsorgantreue zudem verfassungsrechtlich gefordert (s. § 1 Rn. 158 ff.). Dies betrifft vor allem das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Gesetz­ geber (ausführlich Rn. 85 ff.). Aber auch gegenüber politischen Entscheidungen der Regierung abseits ihrer Mitwirkung an der formellen Gesetzgebung schuldet das Verfassungsgericht u. U. Rücksichtnahme (s. u. Rn. 120 ff.). 2. Verfassungsgericht und Gesetzgeber a) Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht?

79

Besondere Spannungslagen von ‚Politik‘ und Verfassungsgerichtsbarkeit be­ stehen im Bereich der formellen Gesetzgebung. Sie ergeben sich vor allem aus der Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts gegenüber Parlamentsgesetzen, insbesondere bei Normenkontrollen und Verfassungsbeschwerden (vgl. 137

Vgl. Neukirch / Pfister, Politiker in Roben, DER SPIEGEL 40/2009, S. 28 f. Verfassungsvergleichend ist insoweit ein Blick auf die verfassungsrechtliche Stellung des U. S. Supreme Court in der frühen Phase der USA interessant: Während das Gericht seine Kompetenz zur verfassungsrechtlichen Normenkontrolle von Parlamentsgesetzen (‚judicial review‘) insbesondere in seiner Leitentscheidung Marbury v. Madison im Jahr 1803 begrün­ dete, war es mit der drohenden Gefahr konfrontiert, dass der US-Präsident und der Kongress seine Entscheidungen boykottieren würden. Das Gericht setzte sich durch, jedoch bleibt die Tatsache, dass insbesondere der Präsident mit seinem Einfluss auf den Verwaltungsapparat eine stärkere faktische Machposition hat, ein wiederkehrender Gedanke in Diskussionen um die Auslotung der Grenzen der Kompetenzen des U. S. Supreme Court. 138

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

551

Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4a GG, Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG, § 78 S. 1 BVerfGG, § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG). Die verfassungsgerichtliche Bestätigung und Verwerfung von Parlaments­ gesetzen ist in funktional-politischer Hinsicht den Entscheidungen des Gesetz­ gebers durchaus vergleichbar, auch wenn das Gericht nur ausnahmsweise selbst gesetzgeberisch-gestaltend, sondern grundsätzlich an sich nur rechtsprechend – eben bestätigend oder verwerfend – tätig sein kann. Daher rührt auch die Rede vom Bundesverfassungsgericht als „negativer Gesetzgeber“139 (vgl. auch Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG, § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zur teilweisen „Gesetzeskraft“ bundes­ verfassungsgerichtlicher Entscheidungen; ausführlich Rn. 322, 448).

80

Inwieweit das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus ausnahmsweise gesetzgeberischgestaltend – sozusagen als ‚positiver Ersatzgesetzgeber‘ – tätig werden kann, ist im Einzelnen umstritten und bisher nicht abschließend geklärt. Diese Frage tritt insbesondere im Zusam­ menhang mit der sog. Unvereinbarerklärung oder Verfassungswidrigerklärung einer Norm als – im Verhältnis zum Gesetzgeber – (scheinbar) milderes Mittel zur Nichtigerklärung eines Gesetzes auf (dazu unten Rn. 104, 309, 332 f.).

81

Das Verfassungsgericht urteilt am Maßstab des Verfassungsrechts, politische Zweckmäßigkeitserwägungen an sich haben ihm grundsätzlich fremd zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hat bisweilen aber sehr wohl die (sachlich-inhalt­ lichen) Konzeptionen künftiger Gesetzgebung vorgegeben (z. B. im Steuerrecht)140, u. a. auch um eine (erneut) verfassungswidrige Gesetzesregelung zu verhindern.

82

Beispielsweise hat das Bundesverfassungsgericht sehr detaillierte Vorgaben zur Neuregelung bestimmter steuerrechtlicher Vorschriften gemacht: So legte es Mitte der 1990er Jahre anlässlich einer (begründeten) konkreten Normenkontrolle zur Verfassungswidrigkeit des Vermögensteuergesetzes von 1990 ausführliche Leitlinien für die verfassungsmäßige Ausgestaltung einer Vermögensteuer dar.141 Bislang ist der Bundesgesetzgeber jedoch inso­ weit nicht erneut tätig geworden. Eine Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben, da das alte Vermögensteuergesetzes von 1990 verfassungswidrig ist und bisher keine neue Rechtsgrund­ lage geschaffen wurde.

83

Vereinzelt gelingt dem Bundesverfassungsgericht eine Anregung gesetzgeberischen Tätigwerdens, ggf. in Form eines obiter dictums: So hat der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 2017 auch mit Blick auf eine entsprechende (vage) Bemerkung des Gerichts im Urteil zum (zweiten) NPD-Verbotsverfahren142 in Art. 21 Abs. 3, Abs. 4 GG eine neue Verfahrens­

84

139 Vgl. etwa Bettermann, DVBl 1982, 95; Isensee, in: FS Kloepfer, 2013, S. 39 (43); kritisch zu dieser Formel C. Möllers, in: Jestaedt / Lepsius / ders. / C. Schönberger, Das entgrenzte Ge­ richt, 2011, S. 281 ff. (324); in der Weimarer Zeit schon – freilich nicht zum Bundesverfas­ sungsgericht – Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (56). 140 S. dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 439. 141 BVerfGE 93, 121; 93, 165 – Einheitswerte; hierzu kritisch das Sondervotum Böckenförde, BVerfGE 93, 121 (149 ff.); kritisch auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 439: „im Kontext der Normenkontrolle überflüssige Hinweise an den Ge­ setzgeber“. 142 BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren II (Rn. 527): „[Die] Schaffung von Möglich­ keiten gesonderter Sanktionierung im Fall der Erfüllung einzelner Tatbestandsmerkmale des

552

§ 8 Bundesverfassungsgericht

art zum Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von staatlicher Finanzierung (s. Rn. 29) geschaffen.143

b) Rücksichtnahmepflicht gegenüber dem Gesetzgeber 85

Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichtsgesetz verleihen dem Bundesver­ fassungsgericht einen starken rechtlichen Einfluss auf die Wirksamkeit par­ lamentarischer Entscheidungen. Spannungs- und Konfliktfälle sind hierdurch vorprogrammiert.144 Es gilt auch im Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Ver­ fassungsgerichtsbarkeit das Gebot der wechselseitigen Zurückhaltung der Ver­ fassungsorgane untereinander (sog. Verfassungsorgantreue, s. § 1 Rn. 158 ff.).145

86

Das Bundesverfassungsgericht ist zwar nach dem Grundgesetz insbesondere auch zur Kontrolle der Verfassungsbindung des Gesetzgebers berufen (vgl. etwa Art. 100 Abs. 1 GG). Diese Kontrolle muss allerdings in Respekt145a vor dem Gesetzgeber als allein unmittelbar demokratisch legitimierter Staatsgewalt erfolgen.

87

Unter Aufrechterhaltung des – freilich unter dem Grundgesetz ohnehin nicht absolut verwirklichten – Prinzips der funktionellen Gewaltentrennung darf sich die vom Grundgesetz bezweckte Kontrollmacht des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls nicht zu einer umfassenden Steuerungs- oder Bestimmungsmacht des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber auswachsen.

88

Im Zusammenhang mit dem unter der Geltung des Grundgesetzes gewachsenen Verständ­ nis von den Grundrechten als objektiven Grundsatznormen146 (s. o. Rn. 69) weist Böckenförde auf die neue Qualität der Verfassungsrechtsprechung hin, die als Konkretisierung von Verfas­ sungsnormen respektive Grundrechtsaussagen in Konkurrenz zur parlamentarischen Rechtset­ zung trete und aufgrund des höheren Rangs von Verfassungsrecht gegenüber den Parlaments­ gesetzen einen normativen Vorrang genieße. Dies erlaube es dem Bundesverfassungsgericht, anstelle des Parlaments Rechtsetzung zu betreiben, durch welche das gewaltenteilige Prinzip ausgehöhlt zu werden drohe.147

Art. 21 [Abs. 2] GG unterhalb der Schwelle des Parteiverbots, ist dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten.“ Bei der mündlichen Urteilsverkündung führte Bundesverfassungs­ gerichtspräsident Voßkuhle zu diesem Aspekt näher aus; vgl. Kloepfer, NVwZ 2017, 913 (917). 143 G. v. 13.7.2017 (BGBl. I S. 2346); zum obiter dictum des Bundesverfassungsgerichts Kloep­fer, NVwZ 2017, 913 (917). Die Gesetzesbegründung der Regierungsfraktionen (BT-Drs. 18/12357, S. 1) nimmt das obiter dictum ausdrücklich in Bezug: „In dem Urteil hat das Ge­ richt zugleich darauf hingewiesen, dass es dem verfassungsändernden Gesetzgeber freistehe, neben dem Parteiverbot weitere, abgestufte Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Parteien mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung zu schaffen […].“ 144 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 6, spricht hier von einem „be­ sonders prekären Verhältnis“. 145 BVerfGE 11, 102 ff. 145a Kloepfer, VerwArch 2019, 419 ff. 146 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 48, Rn. 34 ff. 147 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, S. 159 ff., S. 187 ff.

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

553

Seiner verfassungsrechtlich aus dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue (s. § 1 Rn. 158 ff.) und dem Prinzip der Gewaltenteilung148 geschuldeten Rücksichtnahme gegenüber dem Gesetzgeber kommt das Gericht konkret insbesondere da­ durch nach, dass es durch verfassungskonforme Interpretation die Normexistenz (hierzu Rn. 107 ff.) bzw. durch judicial self-restraint die Entscheidungsgewalt des Gesetzgebers schont (hierzu Rn. 90 ff.):

89

c) Judicial self-restraint zur Schonung gesetzgeberischer Gestaltungsmacht Aus verfassungsrechtlich gebotener Rücksichtnahme auf die Kompetenzsphäre des Gesetzgebers räumt das Bundesverfassungsgericht diesem einen Prognosespielraum ein. Die zu regelnden Lebensverhältnisse, ihre Entwicklung und die gegenwärtigen und künftigen Wirkungen der konkret getroffenen Maßnahmen unterliegen allein der Beurteilung durch den Gesetzgeber.

90

Im Hinblick auf die Prognose des Gesetzgebers beschränkt sich das Gericht auf eine eingeschränkte Prüfungsdichte. Bei bestimmten Entscheidungen erfolgt lediglich eine Evidenzkontrolle, die danach fragt, ob die Einschätzungen des Gesetzgebers nicht offensichtlich unhaltbar sind. Trifft allerdings die Prognose nicht zu, ist der Gesetzgeber nach Auffassung des Gerichts unter Umständen zur Nachbesserung verpflichtet. Bei anderen Entscheidungen kann die Kontrolldichte inhaltlich stärker zu einer Vertretbarkeitskontrolle oder sogar noch darüber hinaus verdichtet werden.149

91

Das Ausmaß des Beurteilungsspielraums und der korrespondierenden Einschränkung der Prüfungsdichte ist nach dem Bundesverfassungsgericht von verschiedenen Faktoren abhängig, insbesondere „von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter.“150 Demgemäß ist der Beurteilungsspielraum in der Außenpolitik beispielsweise größer als im Strafrecht.151Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist eben von Sachbereich zu Sachbereich verschieden.

92

Das Bundesverfassungsgericht tendiert bisweilen – gewissermaßen in teilwei­ ser Abkehr von diesen Grundsätzen – zu einer eher restriktiven Bestimmung der

93

148

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 10, Rn. 44 ff. Vgl. zum Ganzen BVerfGE 50, 290 (334, 336) – Mitbestimmung; Vorarbeiten im Schrift­ tum insbesondere bei Ossenbühl, FS 25 Jahre BVerfG, Band I, 1976, S. 484 ff.; zusammenfas­ send Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 532, welche diese Abstufung als „Drei-Stufen-Lehre“ bezeichnen. 150 BVerfGE 50, 290 (333) – Mitbestimmung. 151 Die Weite des Beurteilungsspielraumes ist je nach Regelungsgegenstand unterschiedlich groß, vgl. zur Außenpolitik: BVerfGE 4, 157 (168 ff.) – Saarstatut; 40, 141 (178) – Ostverträge; 55, 349 (365)- Subventionsbetrag; zur Wirtschaftspolitik: BVerfGE 50, 290 (336 ff.) – Mitbe­ stimmung; zur Sozialpolitik zuletzt: BVerfGE 125, 175 – Hartz IV. Im Bereich des Strafrechts ist dieser Spielraum eingeschränkt: BVerfGE 45, 187 (238) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 149

554

§ 8 Bundesverfassungsgericht

überprüfungseingeschränkten gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume oder findet Wege, trotz formaler Anerkennung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzge­ bers dessen Entscheidungen letztlich doch detailliert zu überprüfen.152 Die letzt­ genannte Modalität der Kontrolle gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume wird auch als indirekte Kontrolle nach Sekundärkriterien (Verfahren, Motive, Per­ spektiven) bezeichnet.153 94

Im Bereich der Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht ist diese Entwicklung verbun­ den mit der richterrechtlichen Herausbildung eines Erfordernisses der Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit (Kohärenz) bei der Ausgestaltung des einfachen Rechts durch den Ge­ setzgeber.154 So hat das Bundesverfassungsgericht etwa hinsichtlich der sog. Pendler­pauschale gefordert, dass „[b]ei der Ausgestaltung des steuerlichen Ausgangstatbestands […] die ein­ mal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umge­ setzt“ wird.155 Das Bundesverfassungsgericht misst den Gesetzgeber gewissermaßen an seinen eigenen gesetzgeberischen Systementscheidungen. Nach einer kritischen Auffassung in der Li­ teratur überschreitet das Gericht hierbei seine Kompetenzen, da es sich nicht am Prüfungsmaß­ stab des Verfassungsrechts, sondern an einem Maßstab aus dem einfachen Recht orientiere.156

95

Auch in der sog. Hartz IV-Entscheidung hat das Gericht den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Ergebnis eingeschränkt: Zwar hat das Gericht das Erfordernis einer zu­ rückhaltenden Kontrolle einfachgesetzl­icher Regelungen wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG) betont,157 zugleich allerdings seine Überprüfungskompetenz auf die Grundlagen (z. B. Tatsachenermittlung) und Methoden (z. B. Berechnungsverfahren) erstreckt, die der Ge­ setzgeber im Gesetzgebungsverfahren bei der Berechnung des staatlichen Leistungsumfangs zugrunde legt.158

96

An der Hartz IV-Entscheidung zeigt sich anschaulich die zunehmend zu beobachtende Tendenz159, dass das Bundesverfassungsgericht in bestimmten Konstellationen von einer ma­ teriellen Prüfung auf eine prozedurale Kontrolle des gesetzgeberischen Handelns umstellt160: Zwar könnten der Verfassung keine quantifizierbaren – und damit kaum materiell kontrol­ lierbare – Aussagen über die Mindesthöhe von Sozialleistungen entnommen werden, wohl 152 Vgl. Lepsius, JZ 2009, 260 (263); Dann, Der Staat 49 (2010), 630 (637); Petersen, Ver­ hältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 90 ff. 153 Vgl. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 100 ff. 154 Vgl. BVerfGE 105, 73 (125 f.) – Pensionsbesteuerung; E 107, 27 (46 f.)- Doppelte Haus­ haltsführung; E 116, 164 (180) – Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte; E 117, 1 (30) – Erbschaftssteuer; E 122, 210 – Pendlerpauschale; kritisch Schwarz, in: FS Isensee, 2007, 949 (957 f.); Lepsius, JZ 2009, 260 (263); Dann, Der Staat 49 (2010), 630 (633 f., 637). 155 BVerfGE 122, 210 (231) – Pendlerpauschale; kritisch dazu Lepsius, JZ 2009, 260; Dann, Der Staat 49 (2010), 630 (633 f., 637). 156 Lepsius, JZ 2009, 260 (262). 157 BVerfGE 125, 175 (222) – Hartz IV; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 11, Rn. 23 ff.; ders., Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 55, Rn. 30 f. 158 BVerfGE 125, 175 (226, 232 ff.) – Hartz IV. 159 Vgl. nach BVerfGE 125, 175 – Hartz IV, etwa auch BVerfGE 130, 263 (301) – W-Besol­ dung; hierzu auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 543. 160 Vgl. dazu ausführlich Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 101 ff.

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

555

aber sei das Verfahren, durch welches der Gesetzgeber zur Bemessung der Sozialleistungen gelangt sei, überprüfbar. Im Schrifttum wird diese Umstellung auf das „Erfordernis prozeduraler Rationalität“ mit einer „Pflicht zu einem technisch-prozedural optimierten Gesetzgebungsverfahren“161 ebenso wie das stärker materielle Gebot der Folgerichtigkeit (s. o. Rn. 94) teilweise kritisiert, da es auf Aspekte der Vernünftigkeit und Kohärenz rekurriere, welche sich nicht aus der Ver­ fassung ableiten ließen.162

97

Die vom Gericht praktizierte Schonung des politischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers als Mittel zum Abbau der Spannungen zwischen ‚Politik‘ und Verfassungsgerichtsbarkeit wird regelmäßig unter der Formel vom judicial selfrestraint diskutiert. Im US-amerikanischen Verfassungsrecht ist diese Formel nicht zuletzt in abweichenden Sondervoten beliebt.162a Das Bundesverfassungs­ gericht selbst beschreibt dieses Prinzip als „den Verzicht ‚Politik zu treiben‘, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.“163

98

Zu viel self-restraint sollte allerdings auch nicht sein, um die Kontrollbefugnisse des Bun­ desverfassungsgerichts nicht quasi durch verfassungsgerichtliche Selbstzensur zu stark zu verengen und auf diesem Wege zu einer unangemessenen „Kompetenzunterschreitung“ zu gelangen.164 Sinnvoll ist judicial (self-)restraint vor allem bei der Beurteilung von politischen Leit- und Grundsatzfragen.

99

Zum Teil werden so empfundene Übergriffe der Verfassungsgerichtsbarkeit in die Gesetz­ gebung oder in politische Entscheidungen bei juristisch nüchterner Betrachtung nichts ande­ res sein als die Wahrnehmung verfassungsrechtlich zugewiesener Kompetenzen durch das Bundesverfassungsgericht. Denn immerhin hat das Grundgesetz selbst das Bundesverfassungs­ gericht mit vielfältigen Zuständigkeiten ausgestattet, etwa mit der Entscheidungsbefugnis im abstrakten und im konkreten Normenkontrollverfahren oder im Streit zwischen den Organen bzw. den Ländern und dem Bund.

100

Die Formel vom judicial self-restraint ist begrifflich nicht unproblematisch, da sie sug­ geriert, das Gericht schränke sich – gewissermaßen in einer großzügigen Geste – in seiner

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161

Dann, Der Staat 49 (2010), 630 (636). Dann, Der Staat 49 (2010), 630 (637); Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 543; kritisch zum Gebot (materieller) Folgerichtigkeit Lepsius, JZ 2009, 260. Es bestehen insoweit Übergänge zur ebenfalls umstrittenen Frage der verfassungsrecht­ lichen Verankerung etwaiger Begründungspflichten des Gesetzgebers, vgl. hierzu Gartz, Be­ gründungspflicht des Gesetzgebers, 2015, S. 192 ff., der eine solche Pflicht letztlich jedoch anderweitig herleitet. 162a Vgl. etwa District of Columbia v. Heller, 554 U. S. 570 (2008), 680 (abw. Sondervotum Stevens; dort in Fußn. 39). Stevens kritisiert die Mehrheit des Gerichts dafür, dass diese mit Blick auf ein angebliches Individualgrundrecht auf Waffenbesitz abgewogene Entscheidungen des Gesetzgebers invalidierte. 163 S. etwa BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundlagenvertrag. 164 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 4, S. 135. 162

556

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Kompetenzausübung ein, ohne hierzu durch die Verfassung verpflichtet zu sein. Wie gezeigt, erfordern jedoch der Grundsatz der Verfassungsorgantreue und das Prinzip der Gewaltentei­ lung objektiv die Rücksichtnahme auf den Kompetenzraum des Gesetzgebers (s. o. Rn. 85 ff.).

102

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bei seinen Entscheidungen jedenfalls stets zu bemühen, die wegen der unmittelbaren demokratischen Legitimation he­ rausgehobene Stellung des Bundestages zu berücksichtigen, etwa dadurch, dass dem Gesetzgeber verschiedene Handlungsalternativen belassen werden.

103

So begnügt sich das Bundesverfassungsgericht bei (bloßen) Verstößen gegen den Gleichheitssatz häufig, die entsprechende Norm nicht für nichtig, sondern nur für unanwendbar zu erklären (s. a. Rn. 309 f.).165 Diese Entscheidungsmöglichkeit wird in § 31 Abs. 2 S. 2 u. S. 3, § 79 Abs. 1 BVerfGG vorausgesetzt. Dementsprechend kann sich der Gesetzgeber frei entscheiden, ob er den Gleichheitsverstoß dadurch beseitigt, dass er die zunächst schlechter behandelte Gruppe nunmehr besser behandelt, dass er die zunächst besser behandelte Gruppe nunmehr schlechter behandelt oder dass er beide Gruppen einer völlig neuen Regelung unter­ stellt (sog. modale Unbestimmtheit des allgemeinen Gleichheitssatzes166).

104

Eine solche sog. Unvereinbarerklärung einer Norm wegen eines Verstoßes gegen den all­ gemeinen Gleichheitssatz kommt im Verhältnis zum Gesetzgeber zunächst als milderes Mit­ tel im Vergleich zur Nichtigerklärung der Norm daher. Allerdings ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht eine Unvereinbarerklärung regelmäßig mit einem Appell in Form einer Rechtsetzungsdirektive verbindet167 (s. auch unten Rn. 312): Das Gericht fordert den Gesetzgeber dabei dazu auf, in einer mehr oder weniger bestimmten Art und Weise tätig zu werden und setzt hierfür ggf. eine Frist. Über diesen Umweg droht das Bundesverfassungs­ gericht sodann doch zum faktischen Ersatzgesetzgeber zu werden.

105

Ebenso verhindert der Verzicht auf die Nichtigerklärung bei finanzwirksamen Gesetzen, dass der Bund u. U. in eine fundamentale haushaltswirtschaftliche Krise gerät,168 weil die mit der Nichtigkeitserklärung einhergehende Rückwirkung solcher Entscheidungen ausbleibt.

106

Unbefriedigend ist, dass das Bundesverfassungsgericht finanzwirksame Entscheidungen vornehmen kann, ohne deren Finanzierbarkeit sicherzustellen bzw. sicherstellen zu können. Faktisch kann insoweit das parlamentarische Budgetrecht (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG)169 vom Bundesverfassungsgericht substantiell tangiert werden.

165

S. dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 394 ff., 421. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 244; s. a. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 59, Rn. 60 ff., 98 ff. 167 Vgl. nur Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungs­ lieferung 2019, § 78, Rn. 82. 168 BVerfGE 87, 153 (178 f.) – Grundfreibetrag. Kritik an dieser Sichtweise üben bspw. Seer, NJW 1996, 289 ff.; Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, S. 13 ff. 169 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 26, Rn. 243 ff. 166

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

557

d) Schonung der Normexistenz; verfassungskonforme Auslegung Der grundgesetzlich geforderte Respekt des Bundesverfassungsgerichts vor dem formellen Gesetzgeber zeigt sich auch in der schonenden Behandlung (v. a.170) formeller Gesetze als den im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes wichtigsten konkreten Produkten parlamentarischer Arbeit.171

107

Hält das Verfassungsgericht – unmittelbar in einem Normenkontrollverfahren oder mittelbar (inzident) im Rahmen eines sonstigen Verfahrens – ein Gesetz für verfassungswidrig, erklärt es die Norm nicht ohne Weiteres für nichtig oder un­ vereinbar mit dem Grundgesetz (§§ 31 Abs. 2, 78, 79 BVerfGG, s. u. Rn. 307 ff.), sondern sucht eine Auslegung des einfachen Rechts, die mit der Verfassung ver­ einbar ist.172 Es handelt sich im Kern um Normerhalt durch Norminterpretation.

108

Die verfassungskonforme Auslegung ist einer der selbstgeschaffenen Grundsätze in der Verfassungsgerichtsjudikatur. Bereits 1953 führte das Bundesver­ fassungsgericht aus: „[S]chon allgemein [gilt] der Grundsatz […], daß ein Gesetz nicht für nichtig zu erklären ist, wenn es im Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden kann; denn es spricht nicht nur eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sondern das in dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt auch im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes.“173

109

Die Anwendung der verfassungskonformen Auslegung setzt voraus, dass mehrere Auslegungen des Gesetzes möglich sind, von denen manche zur Verfas­ sungswidrigkeit führen, aber mindestens eine zu dem Ergebnis der Verfassungs­ mäßigkeit. Die verfassungskonforme Auslegung bzw. Auslegungsvariante muss dann gewählt werden.

110

Dabei ist das Verfassungsgericht auf die ‚möglichen Lesarten‘ des Gesetzes beschränkt. Die gesetzeserhaltende Interpretation muss sich allerdings noch im Rahmen der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung bewegen. Vor al­ lem darf die verfassungskonforme Auslegung zu keiner Methode und zu keinem Ergebnis führen, die vom Gesetzgeber – nach Wortlaut und Sinn – erkennbar nicht

111

170 Freilich können auch nur-materielle Gesetze wie Rechtsverordnungen verfassungskon­ form (sowie überdies gesetzeskonform) ausgelegt werden. 171 Diesem besonderen ‚Respekt‘ gegenüber formellen Gesetzen entspricht auch die Wer­ tung des Art. 100 Abs. 1 GG, welcher das Verwerfungsmonopol hinsichtlich formeller, nicht jedoch hinsichtlich bloß-materieller Gesetze (wie Rechtsverordnungen und Satzungen) auf das Bundesverfassungsgericht beschränkt. Doch selbst das Bundesverfassungsgericht schuldet bei der Ausübung seiner weitreichenden Befugnisse den formellen Gesetzen ‚Respekt‘. 172 Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966; (teilweise kritisch) Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung. Verfassungskonforme Aus­ legung oder vertikale Normendurchdringung?, 1966; Simon, EuGRZ 1974, 85 ff.; Zippelius, in: FG 25 Jahre BVerfG, Bd. II, 1976, S. 108 f.; Bettermann, Die verfassungskonforme Ausle­ gung – Grenzen und Gefahren, 1986; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 1, Rn. 172 ff. 173 BVerfGE 2, 266 (282) – Notaufnahmen.

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§ 8 Bundesverfassungsgericht

intendiert sind.174 Eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung, d. h. eine verfassungskonforme Auslegung contra legem ist nicht zulässig. Die Umformulierung eines Gesetzes zu dessen Rettung ist dem Bundesverfassungsgericht untersagt. 112

Worin aber liegt der Grund für das Erhaltenwollen gesetzlicher Regelungen? Warum kommt es zur Anwendung des milderen Mittels der Auslegung gegenüber dem Verdikt der Nichtigkeit? Laut Konrad Hesse liegt der Grund nur teilweise in dem Respekt174a vor der gesetzgeberischen Entscheidung. Der Grund liege vor allem im Prinzip der Einheit der Rechtsordnung,175 welches harmonisierende Normen­ interpretationen beförderte.176

113

Das Verhältnis von Verfassung und Gesetz lässt sich mit dem hierarchischen Bild der Normenpyramide und einer verdrängenden Kollisionswirkung nur unvollständig erklären. Geht man davon aus, dass durch das auszulegende einfache Gesetz Aussagen der Verfassung konkretisiert werden, dann beinhaltet die Auslegung des Gesetzes bis zu einem bestimmten Grad eine mittelbare Auslegung der Verfassung (teilweise in diese Richtung gehen die Vor­ stellungen von Leisner: „Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung“, und von Hesse: „gesetzeskonforme Auslegung der Verfassung“).177 Und in der Tat ist das Bundesverfassungsgericht in Normenkontrollverfahren nicht nur der Interpret der Verfassung, sondern notwendigerweise auch des einfachen Rechts, wenn auch unter dem Blickwinkel eines Verstoßes gegen das Verfassungsrecht. Die etwaigen Verstöße des Geset­ zes gegen die Verfassung bilden dabei die Berührungspunkte zwischen der Verfassung und dem einfachen Gesetz. Die Aussagen auf beiden Normebenen sind auslegungsfähig und aus­ legungsbedürftig. Vor dem Hintergrund einer einheitlichen Rechtsordnung erscheint in Zwei­ felsfällen eine wechselseitige Auslegung von Verfassung und Gesetz zulässig. Burmeister hat die Vorstellung einer „vertikalen Normendurchdringung“ – als teilweise Revision des Prinzips der verfassungskonformen Auslegung – geprägt: Burmeister unterscheidet zwischen der Kontrollfunktion und der Erschließungsfunktion der Verfassung. Die Kontrollfunktion der Verfassung gegenüber einfachem Recht sei in Kollisionsfällen relevant; hier erlange die normerhaltende verfassungskonforme Auslegung Bedeutung, was durchaus problematisch sei. Außerhalb solcher Kollisionsfälle stünde demgegenüber die Erschließungs- und Erkennt­ nisfunktion der Verfassung gegenüber dem einfachen Recht im Vordergrund; hier wirke die 174

BVerfGE 2, 380 (389) – Haftentschädigung; 8, 28 (34) – Besoldungsrecht; 18, 97 (111) – Zusammenveranlagung; 63, 131, (147 f.)  – Gegendarstellung; 70, 35 (63 f.). In § 79 Abs. 1 BVerfGG ist die Unvereinbarkeit (sprich: Verfassungswidrigkeit) einzelner Auslegungen einer Norm ausdrücklich genannt. 174a Dazu allgemeiner jetzt Kloepfer, VerwArch 2019, 419 ff. 175 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 10, Rn. 141. 176 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 81, der das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung als „materiellrechtliche Grund­ lage“ der verfassungskonformen Auslegung bezeichnet. Freilich verweist Hesse anschließend auch auf die „funktionellrechtliche“ Komponente der Schonung des gesetzgeberischen Gestal­ tungsspielraums (Rn. 83); vgl. zum Ganzen auch Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung. Verfassungskonforme Auslegung oder vertikale Normendurchdringung?, 1966. 177 Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 85; vgl. auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999.

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

559

„vertikale Normendurchdringung“ als hermeneutisches Prinzip.178 Anders als die normerhal­ tende verfassungskonforme Auslegung ist dieses hermeneutische Prinzip der „vertikalen Nor­ mendurchdringung“ also für die vorliegend interessierende Frage nach dem ‚Respekt‘ vor dem Gesetzgeber weniger einschlägig. Über die verfassungskonforme Auslegung i. e. S. hinaus ist vereinzelt ein – zeitlich länger­ fristig verlaufender – dynamischer Dialog von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit zu beobachten: Auf gesetzgeberische Gestaltungsentscheidungen antwortet das Bundes­ verfassungsgericht zuweilen mit veränderten Interpretationen der Verfassung, insbesondere der Grundrechte. Vor allem im Familien- und Eherecht (sowie im darauf Bezug nehmenden Steuerrecht) sind solche Dynamiken zu beobachten.179 Beispielsweise hat das Bundesverfas­ sungsgericht auf die gesetzgeberische Entscheidung zum Erlass des Lebenspartnerschafts­ gesetzes von 2001 reagiert, indem es  – zunächst gleichheitsrechtlich, dann aber auch frei­ heitsrechtlich  – den verfassungsrechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher Paare stärkte.180 Mit einer verfassungsgerichtlichen Schonung des Gesetzgebers durch Normenerhalt haben solche Vorgänge nichts mehr zu tun. Vielmehr unterstreichen sie, dass sich das Wechselspiel von Verfassungsauslegung und Gesetzgebung nicht in dem Prinzip der normerhaltenden ver­ fassungskonformen Auslegung erschöpft.

114

Als ein Sonderproblem stellt sich die verfassungskonforme Auslegung verfassungsändernder Gesetze dar181, welche zu einer grundsätzlichen Vermutung gegen das Vorliegen von ‚verfassungswidrigem Verfassungsrecht‘ (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG182) führt.

115

So hat das Bundesverfassungsgericht im sog. „Abhörurteil“ aus dem Jahr 1970183 einer­ seits den durch Verfassungsänderung eingefügten Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG und andererseits auch die – als Prüfungsmaßstab einschlägige – Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG selbst jeweils in einer solchen Weise ausgelegt, dass es im Ergebnis keinen Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG annahm.184

116

Uneinigkeit besteht hinsichtlich der Frage, ob und ggf. inwieweit die ver­ fassungskonforme Auslegung eine Besonderheit der Verfassungsgerichtsbarkeit darstellt. Nach Klaus Stern handelt es sich um ein „spezifisches Instrument der Verfassungsgerichte im Normenüberprüfungsverfahren.“185 Richtigerweise sind

117

178 Vgl. Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung. Verfassungskon­ forme Auslegung oder vertikale Normendurchdringung?, 1966, S. 26 ff. 179 Vgl. Britz, Jura 2015, 319 (324 f.). 180 Vgl. Britz, Jura 2015, 319 (325) mit Verweis auf BVerfGE 124, 199 – Gleichbehandlung eingetragener Lebensgemeinschaft; E 126, 400 – - Steuerliche Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften; E 131, 239 – Lebenspartnerschaft von Beamten; E 132, 179; E 133, 59 – Sukzessivadoption; E 133, 377 – Ehegattensplitting zum gleichheitsrechtlichen Schutz und BVerfGE 128, 109 (125) – Transsexuelle VI zum freiheitsrechtlichen Schutz. 181 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 80 in Fußn. 43. 182 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 1, Rn. 126 ff.; ders., Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 65, Rn. 36 f. 183 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 65, Rn. 37. 184 BVerfGE 30, 1 (17 ff.) – Abhörurteil; hierzu Häberle, JZ 1971, 145 (148). 185 Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 4, S. 136.

560

§ 8 Bundesverfassungsgericht

jedoch auch die Fachgerichte verfassungsrechtlich verpflichtet, im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegungsvariante des einfachen Rechts zu wählen.186 Erst wenn die Fachgerichte eine verfassungskonforme Auslegung nach den anerkannten Auslegungsregeln im konkreten Fall für unzulässig halten, haben sie die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfas­ sungsgericht vorzulegen (s. u. Rn. 461 ff.). 118

Richtig ist die Betonung der Sonderrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit mit Blick auf die verfassungskonforme Auslegung jedoch, wenn man fokussiert, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund seines Verwerfungsmonopols aus Art. 100 Abs. 1 GG einem Parlamentsgesetz anders gegenübersteht als ein Fachgericht: Nur das Bundesverfassungsgericht kann die Nichtigkeit von Parlamentsgesetzen feststellen; Fachgerichte hingegen müssen die Frage der Verfassungswidrigkeit von Parlamentsgesetzen dem Bundesverfassungsgericht im konkreten Normenkontrollverfahren vorlegen, falls sie ein entscheidungserhebliches Parlamentsgesetz für verfassungswidrig halten (ausführlich unten Rn. 461 ff.). Während das Bundesverfassungs­ gericht also durch die verfassungskonforme Auslegung die Nichtigerklärung des Gesetzes ‚verhindert‘, führt die verfassungskonforme Auslegung durch ein Fachgericht (lediglich) dazu, dass eine anderenfalls nötige Vorlage zum Bundesverfassungsgericht unterbleibt.

119

Die verfassungskonforme Auslegung wird zum Teil von der „verfassungsorientierten Auslegung“ unterschieden187: Diese beziehe sich auf Normen mit Inter­ pretationsspielraum (etwa unbestimmte Rechtsbegriffe wie „die guten Sitten“ in § 138 BGB), bei deren Konkretisierung im Einzelfall den Grundentscheidungen der Verfassung Beachtung zu verschaffen sei. Dies betrifft vor allem Fragen der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte.188 3. Verfassungsgericht und Regierung

120

Nicht nur das Verfassungsgericht und der Gesetzgeber, sondern auch das Ver­ fassungsgericht und die Regierung stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Verfassungsorgantreue (s. schon oben Rn. 78). Vom Grundsatz her ist es denkbar, das Konzept des judicial self-restraints entsprechend auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle gubernativer Handlungen zu übertragen. Hierbei ist freilich zu berück­ sichtigen, dass der Regierung eine andere Legitimation sowie andere Funktionen zukommen als dem Parlament, was auch zu anderen Grundsätzen der verfassungs­ gerichtlichen Rücksichtnahme im Verhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und der Regierung führt.

186

Vgl. nur Schlaich, JuS 1982, 337 (441); ders. / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 441. 187 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 448, m. w. N. Auch Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 4, S. 136, grenzt beide Begriffe ab, wohl aber aus einem anderen Grund. 188 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 50, Rn. 42 ff.

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

561

Aus der Verfassungsorgantreue folgt für das Bundesverfassungsgericht die grundsätzliche Pflicht der politikschonenden Kompetenzwahrnehmung auch gegenüber der Bundesregierung, insbesondere bei hochpolitischen Entscheidungen. Freilich darf eine solche politikschonende Kontrolle nicht zu Lasten der effektiven Durchsetzung bedeutsamer anderer Verfassungsgüter wie insbesondere der Grundrechte oder des Demokratieprinzips gehen.

121

Jedenfalls gibt es nach – zutreffender – überwiegender Auffassung unter dem Grundgesetz keinen pauschalen Ausschluss der verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit von Regierungshandeln, und zwar auch nicht etwa in bestimmten ‚regierungsnahen‘ Sachbereichen wie der auswärtigen Gewalt.189 Liegen die Sachentscheidungsvoraussetzungen für eine der gesetzlich vorgesehenen Verfah­ rensarten vor, so kann das Bundesverfassungsgericht etwa auch über die Verfas­ sungsmäßigkeit auswärtigen Regierungshandelns entscheiden. Dies ist aus verfas­ sungsvergleichender und verfassungsgeschichtlicher Perspektive durchaus keine Selbstverständlichkeit, kennen doch viele Verfassungsordnungen einen mehr oder weniger umfassenden Ausschluss der gerichtlichen Überprüfbarkeit in Spezial­ sachbereichen wie beispielsweise von Akten der auswärtigen Gewalt, so etwa in der US-amerikanischen political question doctrine.190

122

Bestimmte Sachbereiche der Regierungstätigkeit wie insbesondere die Außen­ politik und das Informationshandeln der Regierung sind allerdings dadurch ge­ kennzeichnet, dass die einschlägigen verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben eine geringe Dichte aufweisen. Gerade in solchen Bereichen kann sich aus dem Grundsatz des judicial self-restraints ergeben, dass das Bundesverfas­ sungsgericht die bestehenden Freiräume nicht durch (selbstgeschaffene)  unge­ schriebene Kontrollmaßstäbe ausfüllt, sondern der Regierung einen gewissen – nicht grenzenlosen – Raum freier politischer Gestaltung offen hält.191

123

Schließlich ist auf den Schutz des sog. „Kernbereichs exekutiver [oder: exekutivischer192] Eigenverantwortung“193 hinzuweisen. Dieser Schutzgrundsatz ist

124

189

Vgl. zur grundsätzlich gegebenen Justiziabilität der Akte der auswärtigen Gewalt nur Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 87 ff.; Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG (Stand: 88. Ergänzungslieferung August 2019), Art. 59, Rn. 233 ff., m. w. N. 190 Überblick über das schwer zu systematisierende Fallrecht zur political question doctrine in den USA bei Chemerinsky, Constitutional Law. Principles and Policies, 5. Aufl. 2015, S. 135 ff., m. w. N. Die dort behandelten Fallgruppen (u. a. bestimmte Wahlrechtsaspekte, auswärtige Gewalt, parlamentarische Selbstbestimmung, Verfassungsänderungen, Impeachment) zeigen, dass sich die political question doctrine nicht auf den Bereich ‚Gubernative‘ beschränkt. 191 Vgl. (zur auswärtigen Gewalt) Nettesheim, in: Maunz / Dürig, GG (Stand: 88. Ergänzungs­ lieferung August 2019), Art. 59, Rn. 235, unter Verweis auf BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundla­ genvertrag, E 55, 349 (355) – Hess-Entscheidung. 192 Scholz, Parlamentarischer Untersuchungsausschuß und Steuergeheimnis, AöR 105 (1980), S. 564 (598). 193 BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss.

562

§ 8 Bundesverfassungsgericht

zwar primär für das Verhältnis von Parlament und Regierung entwickelt worden und wird dort v. a. im Bereich des Untersuchungsausschussrechts als Beschrän­ kung des parlamentarischen Kontrollrechts relevant (s. § 2 Rn. 104 f., 287, 476).194 Demnach gebe es einen „nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Hand­ lungsbereich [… einschließlich der] Willensbildung der Regierung selbst [… in] laufende[n] Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen […].“195 Trotz seiner primären Bedeutung im Verhältnis von Regierung und Parlament muss der Kern­ bereichsschutz der Sache nach auch als Beschränkung der Kontrollfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit gelten.

IV. Bundesverfassungsgericht und andere Gerichte 1. Verhältnis zu den Fachgerichten 125

Im Gegensatz zu den Gerichten der Fachgerichtsbarkeit ist der Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts in den meisten Fällen – jedenfalls theoretisch – auf das Grundgesetz begrenzt.196 Dies ist insbesondere bei Verfassungsbeschwer­ den gegen staatliche gesetzesanwendende Einzelakte (Be­hördenentscheidungen, vor allem aber Urteile) zu bedenken (s. dazu auch Rn. 588 f.). Die normativen und inhaltlichen Interdependenzen zwischen Verfassungsrecht und Unterverfassungs­ recht machen es allerdings notwendig, dass die Verfassungsinterpretation häufig Vorgegebenheiten des einfachen Rechts und die Konsequenzen für das einfache Recht beachten muss.

126

Zunächst ist wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung die Verfassungsbe­ schwerde unmittelbar gegen eine Behördenentscheidung grundsätzlich unzulässig, wenn nicht zunächst der Rechtsweg gegen die Behördenentscheidung beschritten wird (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG; s. u. Rn. 537). Kommt es dann nach Rechtswegerschöpfung zu einer Verfassungs­ beschwerde, so prüft das Bundesverfassungsgericht die einfach-gesetzliche Rechtmäßigkeit der Behördenentscheidung grundsätzlich nicht voll nach, sondern beschränkt sich auf die Überprüfung der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts:

127

Das Bundesverfassungsgericht ist nach seiner Konzeption gerade keine letzte Instanz im Instanzenzug (s. o. Rn. 57) – es ist keine Superrevisionsinstanz –197 und hat daher bei Urteilsverfassungsbeschwerden die Auslegung des einfachen 194

Vgl. BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss. BVerfGE 67, 100 (139) – Flick-Untersuchungsausschuss. 196 S. dazu umfassend die Beiträge der Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staats­ rechtslehrer von Alexy, Kunig, Heun, Hermes, in VVDStRL 61, 7; Alleweldt, Bundesverfas­ sungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 22 f.; ferner Zuck, JZ 2007, 1036 (1040 ff.); Papier, DVBl 2009, 473 (478 f.); beachte allerdings den Hinweis auf die praktische Bedeutung der Kontrolle der Fachgerichte durch das Bundesverfassungsgericht bei Isensee, in: FS Kloep­ fer, 2013, S. 39 (52). 197 Der Begriff stammt von Röhl, JZ 1957, 105 (106). Zu seiner weiteren Entwicklung s. Herzog, in: FS Dürig, 1990, S. 431 (434 f.). 195

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

563

Gesetzes durch die Fachgerichte zu respektieren. Es kann in diesen Fällen daher nur tätig werden, wenn ein Gerichtsurteil auf Auslegungsfehlern beruht, denen eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts zugrunde liegt.198 Das Bundesverfassungsgericht überprüft also ausschließlich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.199 Geprüft wird gemäß der sog. Heck’schen ­Formel 200 nur, ob das Fachgericht die Einschlägigkeit von Grundrechten berücksichtigt hat, ob die Reich­weite der Grundrechte (insbesondere die des Beschwerdeführers) rich­ tig beurteilt wurde,201 aber auch, ob die Sachverhaltsermittlung willkürfrei erfolgte. Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich, ob das einfache Gesetz willkürlich falsch angewendet wurde.202

128

Das Bundesverfassungsgericht vollzieht bei der Überprüfung der Entscheidungen von Fach­ gerichten also einerseits eine Grundrechtskontrolle und andererseits eine Rechtsbindungskontrolle, welche grundsätzlich auf eine bloße Willkürkontrolle hinsichtlich der Anwendung des einfachen Rechts reduziert ist.203 Insbesondere der konkrete Gehalt der Rechtsbindungs­ kontrolle ist im Einzelnen jedoch fraglich.

129

Die Einschränkung der Prüfungsdichte bei der Kontrolle von fachgerichtlichen Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht sollte indessen nicht über die Bedeutung der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung für die Gesamtrechtsordnung, also gerade auch für das einfache Recht, hinwegtäuschen: Die Arbeitsteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten führt dazu, dass das Spezialistentum der Fachgerichte ‚gebändigt‘ und die Rechts­ ordnung wieder „auf ihre Mitte hin, die Verfassung“ zusammengeführt wird.204

130

2. Verhältnis zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit Da die landesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen auch Akte der öffent­ lichen Gewalt im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG sind, kann eine Urteilsver­ fassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht auch gegen eine Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts mit der Behauptung erhoben werden, durch das 198

BVerfGE 18, 85 (92 f.); 95, 96 (128) – Mauerschützen. Zu dieser Formel Papier, in: FG 25 Jahre BVerfG, Bd. I, 1976, S. 432 ff. 200 Nach dem Namen des Berichterstatters (Karl Heck) von BVerfGE 18, 85 – Spezifisches Verfassungsrecht, wo die Grundlagen der später weiter ausgeformten und teilweise ergänzten Formel gelegt wurden. 201 BVerfGE 7, 198 (207) – Lüth. 202 BVerfGE 57, 39 (42); 70, 93 (97). Nähere Differenzierungen bei Alleweldt, Bundesver­ fassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 278; zu diesem teilweise kritisch Zuck, JZ 2007, 1036 (1040 ff.). 203 Vgl. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 286 ff., wel­ cher im Bereich der Rechtsbindungskontrolle die Varianten der „Rechtsfortbildungskontrolle“ und der „Grundlagenkontrolle“ ergänzt; hierzu teilweise kritisch Zuck, JZ 2007, 1036 (1040 ff.). 204 Isensee, in: FS Kloepfer, 2013, S. 39 (52). 199

131

564

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Landesverfassungsgericht in den Grundrechten des Grundgesetzes verletzt zu sein.205 132

Darüber hinaus stehen die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und die der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander.206 Die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Landesverfassungsgerichte einerseits und des Bundesver­ fassungsgerichts andererseits lässt sich dabei weitgehend am Kriterium des Prü­ fungsmaßstabes vornehmen. Während das Bundesverfassungsgericht nämlich grundsätzlich die Einhaltung des Grundgesetzes und des Bundesrechts überprüft, wachen die Landesverfassungsgerichte über die jeweiligen Landesverfassungen. Das gilt auch dann, wenn buchstabengleiche Gewährleistungen im Grundgesetz und in den Landesverfassungen vorhanden sind. Verkompliziert wird das Ver­ hältnis von Bundesverfassungsrecht und Landesverfassungsrecht im Bereich der Grundrechte: Hier sieht Art. 142 GG vor, dass „Bestimmungen der Landesver­ fassungen auch insoweit in Kraft [bleiben], als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten“; es ist im Einzelnen umstritten, was „Übereinstimmung“ im Fall von mehrpoligen Grund­ rechtsverhältnissen zu bedeuten hat.207

133

Die Selbständigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes von der Lan­ desverfassungsgerichtsbarkeit führt dazu, dass bundes- und landesrechtliche Verfassungsbeschwer­den jeweils unabhängig voneinander erhoben werden können. Dementsprechend bestimmt § 90 Abs. 3 BVerfGG: Das Recht, eine Ver­ fassungsbeschwerde an das Landesverfassungsgericht nach Landesverfassungs­ recht zu erheben, bleibt unberührt. Zudem ist die Möglichkeit, eine Verfassungs­ beschwerde bei einem Landesverfassungsgericht zu erheben, kein Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG, der vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ausgeschöpft werden müsste. Das kann zu gleichzeitig laufenden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und den Landesverfassungs­gerichten führen.

134

Die Landesverfassungsgerichte sind – neben der jeweiligen Landesverfassung – auch an die Normen des Grundgesetzes gebunden.208 Die Unterscheidung der Ver­ fassungsräume von Bund und Ländern mit jeweils grundsätzlich selbstständiger Verfassungsgerichtsbarkeit führt dazu, dass das Bundesverfassungsgericht Urteile von Landesverfassungsgerichten nicht mit Blick auf die Auslegung von Landes­ verfassungsrecht, sondern lediglich hinsichtlich der Einhaltung von Bundes­ verfassungsrecht überprüft.209 205

BVerfGE 96, 231 (242) – Müllkonzept. Vgl. auch BVerfGE 60, 175 (209) – Startbahn West. 207 Überblick bei R. Kaiser / Lindner, DVBl 2017, 1329 ff., in kritischer Auseinandersetzung mit Hess. StGH, Urt. v. 10. Mai 2017,­P.St. 2545. 208 Eine weitergehende Frage ist, ob Bundesverfassungsnormen zugleich zum Landes­ verfassungsrecht gehören können, dazu Lerche, in: FS Zacher, 1998, S. 525 ff. 209 Vgl. BVerfGE 60, 175 (209) – Startbahn West; hierzu knapp C. Möllers, Staat als Argu­ ment, 2. Aufl. 2011, S. 356. 206

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

565

Da die Landesverfassungsgerichte bisweilen die Auslegung grundgesetzlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht bei ihren Entscheidungen berücksichtigen, bestimmt Art. 100 Abs. 3 GG, dass das Landesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen hat, wenn es von der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts (aber auch eines anderen Landesverfas­ sungsgerichts) abweichen will (sog. „Divergenzvorlage“210; vgl. auch § 85 BVerfGG). Denkbar ist dies u. a., wenn ein Landesverfassungsgericht das Grundgesetz aus­ legt, weil – wie im Falle der Art. 21 und 28 GG – das Grundgesetz in die Landesverfassung hineinwirkt 211 oder weil die Gesetzgebungskompetenz eines Landes durch die Auslegung des Grundgesetzes festgestellt werden soll. Die letztgenannte Konstellation – Streit um das Bestehen einer Landesgesetzgebungskompetenz – kann zu parallelen Verfahren vor dem betreffenden Landesverfassungsgericht und dem Bundesverfassungsgericht212 und zu Vorlagepflichten des Landesverfassungs­ gerichts nach Art. 100 Abs. 3 (und ggf. Abs. 1) GG führen.213

135

Ausnahmsweise kann das Bundesverfassungsgericht nach Art. 99 Var. 1 GG landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten entscheiden, wenn ihm die Streitigkeit durch ein Landesgesetz zugewiesen ist. Dabei handelt es sich um eine Organleihe, bei der das Bundesverfassungsgericht Aufgaben eines Landesorgans wahrnimmt.

136

Bis zur Einrichtung des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts im Jahr 2008 war dies für landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten innerhalb von Schleswig-Holstein der Fall. Heute wird das Bundesverfassungsgericht nicht mehr nach Art. 99 GG tätig.

137

Von der in Art. 99 Var. 1 GG i. V. m. Landesrecht geregelten Entscheidung von Landes­ verfassungsstreitigkeiten durch das Bun­desverfassungsgericht in Organleihe ist der Fall des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG zu unterscheiden, der eine originäre, wenngleich subsidiäre Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts (als Bundesorgan) für (nicht-verfassungsrechtliche) öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern, für Streitigkeiten zwischen Ländern („Länderstreitigkeiten“214) oder eben auch für Streitigkeiten innerhalb eines Landes („Landesstreitigkeiten“215) vorsieht (s. auch Rn. 377). Voraussetzung der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in diesen Fällen ist, dass kein anderer Rechtsweg gegeben ist.

138

210

Zur Terminologie: Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 100, vor Rn. 38; Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 85. 211 Vertiefend Lerche, in: FS Zacher, 1998, S. 525 ff. 212 Beispielsweise wurden gegen das Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln) v. 11.02.2020 – sog. ‚Berliner Mietendeckel‘ –, verschiedene Rechts­ behelfe vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof ein­ gelegt. Diese beziehen sich freilich nicht ausschließlich auf die umstrittene Gesetzgebungs­ kompetenzlage, sondern auch auf grundrechtliche Fragen. 213 Michaelis / Rind, in: Driehaus (Hrsg.), VvB, 4. Aufl. 2020, Art. 84, Rn. 17 f. 214 Zur Terminologie: Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, vor Rn. 65; ähn­ lich Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichts­ gesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 71, Rn. 72: „Zwischenländerstreitigkeit“. 215 Zur Terminologie: Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, vor Rn. 69; ähn­ lich Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichts­ gesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 71, Rn. 125: „Landesorganstreitigkeit“.

566

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Nähere Regelungen enthalten die §§ 13 Nr. 8, 71 f. BVerfGG; insbesondere wird dort der Kreis der Beteiligtenfähigen in den „Landesstreitigkeiten“ auf „oberst[e] Organe des Landes und die in der Landesverfassung oder in der Geschäftsordnung eines obersten Organs des Landes mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe“ beschränkt.

3. Verhältnis zum EuGH und zum EGMR 139

Neben den Landesverfassungsgerichten sieht sich das Bundesverfassungsge­ richt innerhalb eines stetig bedeutsamer werdenden internationalen und supranationalen (Verfassungs-)Gerichtsverbunds vor allem mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte konfrontiert (ausführlich unten Rn. 619 ff.).216

V. Bundesverfassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft 140

Zwar kein staatsorganisationsrechtliches oder verfassungsrechtliches, wohl aber ein wichtiges verfassungsrechtswissenschaftliches und verfassungsrechtsprak­ tisches Spannungsfeld besteht zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Verfassungsrechtswissenschaft (‚Staatsrechtslehre‘).217

141

Im Wissenschaftsvergleich218 wird oftmals die besondere Praxisnähe der deutschsprachigen (Verfassungs-)Rechtswissenschaft hervorgehoben,219 etwa im Vergleich zu Japan oder den USA.220

142

Das deutsche verfassungsrechtswissenschaftliche Schrifttum leistet insbeson­ dere wichtige Beiträge zur Systematisierung der Entscheidungen des Bundes­ verfassungsgerichts. Gericht und Wissenschaft wirken bei der Herausbildung von ‚Dogmatik‘ zusammen.

143

Wo Verfassungsrechtswissenschaft vordenken sollte, denkt sie heute vielfach aber nur nach: über die getroffenen Entscheidungen des Bundesverfassungsge­ richts. Seit Ende der 1980er Jahre wird immer wieder über „eine[n] die Staats­ 216

Vgl. Ludwigs, EuGRZ 2014, 273; Voßkuhle, EuGRZ 2014, 165; ders., NVwZ 2010, 1 (5 ff.); Lindner, Jura 2008, 401 ff. 217 Näher hierzu Kloepfer, FS Schmidt-Preuß 2018, 161 (162 f.). 218 Zum „Erkenntnispotential der Wissenschaftsvergleichung“: C. Schönberger, Der „Ger­ man Approach“. Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, 2015, S. 3 ff. 219 Vgl. Voßkuhle, in: G.  Kirchhof / Magen / Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des öffentlichen Rechts?, Tübingen 2012, S. 111 (113); Jestaedt, in: G. Kirchhof / Magen / Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des öffentlichen Rechts?, Tübingen 2012, S. 117 (117 f.). 220 Wenngleich in den USA im Bereich der Verfassungsrechtswissenschaft gegenüber der übrigen US-amerikanischen Rechtswissenschaft (insbesondere im Privatrechtsbereich) durch­ aus ein etwas stärkerer Praxisbezug ausgemacht werden kann, vgl. Kumm, I•CON 7 (2009), 401 (411).

C. Stellung in der Verfassungs- und Rechtsordnung 

567

rechtswissenschaft bestimmenden Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink)221 diskutiert: Hinter diesem Schlagwort liegt die Diagnose (und zumeist der Vorwurf), dass sich die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft zu stark an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiere und kaum (noch) eigenständige konzeptionelle Entwürfe des Verfassungsrechts vorlege. Gegenüber der eigenständigen Entwicklung von dogmatischen Problemlösungsangeboten der Wissenschaft stünde die Kommentierung und Systematisierung der Judikate des Bundesverfassungsgerichts (zu stark) im Vordergrund. Besonders problematisch kann eine zu enge Anbindung der Verfassungsrechtswissenschaft an die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts dann sein, wenn es sich um bloße obiter dicta – das heißt Äußerungen in einer Entscheidung des Gerichts, die nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung zählen – handelt (hierzu auch Rn. 321).222

144

Freilich gibt es durchaus  – zumeist ältere, aber noch immer wichtige  – Bei­ spiele für verfassungsrechtswissenschaftliche Innovationen im Bereich der Verfassungsrechtsdogmatik, die im Schrifttum erarbeitet und vom Bundesverfas­ sungsgericht aufgegriffen wurden: Man denke beispielsweise an die wissenschaft­ lichen Beiträge bei der Entwicklung der „praktischen Konkordanz“ (Hesse)223, des „Übermaßverbots“ (Lerche)224 oder der objektiven Grundrechtsfunktionen mit Drittwirkungs-, Schutz- und Leistungsgehalten225 (s. o. Rn. 69, 88).226 Ein weiteres Beispiel ist die Vorarbeit von Uber zur Dogmatik der Berufsfreiheit, wie sie dann vom Bundesverfassungsgericht im sog. Apothekenurteil aufgegriffen wurde.227

145

Der Befund des „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ hat sich zudem si­ cherlich durch die stärkere Theorielastigkeit der neueren Verfassungsrechtswissenschaft (z. B. Alexy, Grimm, Jestaedt, Lepsius, C. Möllers, C. Schönberger, etc.) etwas relativiert, wobei man freilich noch zwischen verfassungstheoretischen Arbeiten und eigenständigen verfassungsrechtsdogmatischen Entwürfen, die un­

146

221 Schlink, Der Staat 28 (1989), 161 (163); Reevaluationen der Formel bei Schlink, JZ 2007, 157 (162); Korioth, FS Schlink, 2014, 31 (38 ff.); C. Schönberger, FS Schlink, 2014, 41 (48 f.); Kloepfer, FS Schmidt-Preuß 2018, 161 (164). 222 Vgl. Bryde, in: FS Papier, 2013, S. 493 ff. (500) 223 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 1, Rn. 167. 224 Vgl. Lerche, Übermaßverbot und Verfassungsrecht, 1961; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 51, Rn. 85 ff. 225 Vgl. Dürig, in: FS Nawiasky, 1956, S. 157 ff.; Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961 – jeweils zur Drittwirkung; v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. I, 2. Aufl. 1957, S. 86 ff. – zu objektiven Grundrechtsgehalten; Dürig, in Maunz / ders., GG, Art. 1 Abs. 1, 1958, Rn. 1 ff. – zu Schutzpflichten; ferner die Staatsrechtslehrerreferate von Martens sowie Häberle, VVDStRL 30 (1972) – zu Leistungsgehalten von Grundrechten; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 48, Rn. 34 ff. 226 Vgl. Kloepfer, FS Schmidt-Preuß 2018, 161. 227 Vgl. BVerfGE 7, 377 (401) – Apotheken-Urteil, mit ausdrücklichem Verweis auf Uber, Freiheit des Berufs. Artikel 12 des Grundgesetzes. Nach e. rechtsgrundsätzlichen Betrachtung d. individuellen Freiheit, 1952.

568

§ 8 Bundesverfassungsgericht

mittelbar auf rechtspraktisch verwertbare Ergebnisse zielen, unterscheiden sollte. Im Bereich der verfassungsrechtsdogmatischen Eigenständigkeit der Wissenschaft besteht sicherlich weiterhin Verbesserungspotential. 147

Neben der beschriebenen funktionell-inhaltlichen Kooperation von Bundesver­ fassungsgericht und Verfassungsrechtswissenschaft besteht teilweise eine institutionell-personelle Verquickung von Verfassungsrichteramt und Staatsrechtsleh­ rertätigkeit: Zwar schließt § 3 Abs. 4 S. 1 BVerfGG die Ausübung einer weiteren beruflichen Tätigkeit neben dem Amt als Verfassungsrichter grundsätzlich aus (s. u. Rn. 159). Hiervon macht § 3 Abs. 4 S. 1 BVerfGG allerdings eine besondere Ausnahme – in Form von (Staats-)Rechtslehrersonderrecht – für die Tätigkeit als Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule. Außerdem treten Professoren häufig als Prozessvertreter vor dem Bundesverfassungsgericht auf. Umgekehrt werden nicht-professorale Bundesverfassungsrichter bisweilen zu Honorarprofessoren er­ nannt und immer wieder als begehrte Referenten zu Universitätsveranstaltungen eingeladen.

D. Zusammensetzung I. Status und Wahl der Bundesverfassungsrichter 1. Rechtsstellung 148

Die Bundesverfassungsrichter sind keine Bundesrichter wie ihre Kollegen an den obersten Gerichtshöfen des Bundes228, sondern stehen als Richter in einem besonderen Dienstverhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. Dieses besondere Dienstverhältnis ist im BVerfGG geregelt (§§ 3 f., 98 ff. BVerfGG), wobei teilweise auf die allgemeinen versorgungs- und beihilferechtlichen Vorschriften für Bundes­ richter verwiesen wird (insbesondere § 103 BVerfGG). Das Deutsche Richtergesetz ist auf Bundesverfassungsrichter grundsätzlich nicht (unmittelbar229) anwendbar.

149

Anders als das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (§§ 2 ff.) verwendet das Grundgesetz den Begriff des ‚Bundesverfassungsrichters‘ nicht; die Rede ist hier vielmehr von den „Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts“ (Art. 94 Abs. 1 GG; s. § 1 Rn. 35), obwohl das Gericht

228

Hierfür sprechen vor allem Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG, wonach das Bundesverfassungsgericht aus Bundesrichtern und „anderen Mitgliedern“ besteht, sowie die Aufzählung in Art. 92 GG, welche das Bundesverfassungsgericht neben den „in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bun­ desgerichte[n]“ gesondert erwähnt. Die Frage ist dennoch umstritten siehe dazu nur Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, (Stand: 88. Ergänzungslieferung August 2019), Art. 98, Rn. 30, welcher jedoch darauf hinweist, dass die Frage nicht von praktischer Relevanz sei, da die Anwend­ barkeit des Gesetzgebungsauftrags des Art. 98 Abs. 1 GG auf Bundesverfassungsgerichtsmit­ glieder wegen Art. 94 Abs. 2 GG entbehrlich sei. 229 Beachte jedoch den Verweis auf „die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz“ in § 3 Abs. 2 BVerfGG.

D. Zusammensetzung

569

bekanntlich nicht (i. e. S.) körperschaftlich organisiert ist.230 Dennoch ist auch aus verfassungs­ rechtlicher (und nicht lediglich aus einfach-gesetzlicher) Sicht anerkannt, dass die „Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts“ funktionell Richter im Sinne des Art. 97 GG sind und folg­ lich die verfassungsstarke Garantie der Unabhängigkeit genießen.231 Letztlich spiegelt sich in der Doppelstellung als „Mitglied des Bundesverfassungsgerichts“ und Richter die oben für das Bundesverfassungsgericht dargestellte Zwitterstellung zwischen Verfassungsorgan und Gericht (s. o. Rn. 56).

Die notwendige demokratische Legitimation, derer der Verfassungsrichter bedarf 232, kann, wenn nicht vom Volk selbst, nur durch andere – ihrerseits direkt oder indirekt demokratisch legitimierte – Verfassungsorgane vermittelt werden, und zwar durch Wahl und Ernennung der Richter durch diese Organe. Die Ver­ fassungsrichter sind dann nur mittelbar demokratisch legitimiert.

150

Eine unmittelbare Wahl (zur Wahl durch andere Organe, s. sogleich Rn. 160 ff.) der Bundesverfassungsrichter durch das Volk, die diesen eine höhere Legitimationsstufe und eine ge­ wisse Volksnähe vermitteln würde, ginge dagegen möglicherweise auf Kosten von Eignung und Qualifikation oder gar Unabhängigkeit der Richter.233

151

Auch bei einem vereinzelt diskutierten Kooptationsverfahren (Richter bestimmen Rich­ ter) überwögen die Nach­teile: Ein solches Verfahren der Selbstergänzung vermittelte keine hinreichende demokratische Legitimation und ginge zusätzlich mit der Gefahr einher, dass sich dogmatische Schulen und Denkrichtungen sowie persönliche Abhängigkeiten und Ver­ bundenheiten innerhalb der Richterschaft entwickeln könnten.234

152

Die Amtszeit der Richter des Bundesverfassungsgerichts beträgt  – seit einer Gesetzesänderung des BVerfGG im Jahr 1970235 – zwölf Jahre, längstens bis zum

153

230 Auch hinsichtlich der Besetzung andere Verfassungsorgane spricht das Grundgesetz von Mitgliedern, so beim Bundestag (vgl. etwa Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG), beim Bundesrat (vgl. etwa Art. 51 Abs. 3 S. 1 GG), bei der Bundesversammlung (vgl. etwa Art. 54 Abs. 3 GG) sowie bei der Bundesregierung (vgl. etwa Art. 53 S. 1 GG). 231 Vgl. BVerfGE 40, 356 (367) – Besetzung der Richterbank: „Unbeschadet ihres Status als Mitglieder eines obersten Verfassungsorgans sind die Mitglieder des Bundesverfassungsge­ richts zugleich Richter; sie haben deshalb teil an der Garantie der richterlichen Unabhängig­ keit, die von der Verfassung für jeden Angehörigen der Dritten Gewalt gewährleistet wird.“ 232 Den Zusammenhang zwischen Richterwahl und Legitimität der Verfassungsrechtspre­ chung betont Landfried, in: van Ooyen / M. H. W.  Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesver­ fassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 369 ff. (371). Aus verfassungs­ vergleichender Sicht Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern. Eine rechtsvergleichende Analyse am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts und des United States Supreme Court, 2016, S. 35 ff., 219 ff. 233 Eine Übersicht über sonstige Modelle der Verfassungsrichterwahl findet sich bei Majer, in: Jenny u. a. (Hrsg.), Die Schweizerische Rechtsordnung in ihren internationalen Bezügen, 1988, S. 177 (196); Stone Sweet, in: Rosenfeld / Sajó (Hrsg.), The Oxford Handbook of Com­ parative Constitutional Law, 2012, S. 816 (824). 234 Zur Kritik an einem Kooptationsverfahren, s. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Ge­ walt, 2006, S. 131 f., 662 ff.; Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 2. Aufl. 1998, S. 80 ff.; Papier, NJW 2002, 2858 ff.; Berlit, DRiZ 2003, 292 ff. 235 Durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v. 21.12.1970, BGBl. I S. 1765. Zuvor war hinsichtlich der Amtszeit differenziert worden zwi­

570

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren (§ 4 Abs. 1, 3 BVerfGG). Die relativ lange Befristung der Amtszeit (bei – heute – fehlender Wiederwählbarkeit – § 4 Abs. 2 BVerfGG) soll vor allem die Unabhängigkeit der Richter sichern. Ein – weniger attraktives – Alternativmodell zur Amtszeitbegrenzung stellt das Lebenszeitprin­ zip (wie beim U. S. Supreme Court) dar. 2. Wählbarkeitsvoraussetzungen 154

Richter am Bundesverfassungsgericht kann nur werden, wer zum Deutschen Bundestag wählbar (s. § 15 BWahlG, also insbes. Deutscher gemäß Art. 116 GG, s. dazu § 2 Rn. 150) ist, das 40. Lebensjahr vollendet hat und über die Befähigung zum Richteramt (nach dem Deutschen Richtergesetz) verfügt (§ 3 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Eine Öffnung (auch) für Nicht-Juristen wie bei Landesverfassungs­ gerichten236 ist beim Bundesverfassungsgericht – zu Recht – nicht vorgesehen.

155

Mit dem Mindestalter knüpft das Gesetz ersichtlich an Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG an, der ebenfalls die Vollendung des 40. Lebensjahres als Voraussetzung für die Wählbarkeit zum Bundespräsidenten normiert (s. § 5 Rn. 45 ff.; s. a. § 1 Rn. 77 ff.). Wie dort soll das Mindestalter wohl auch bei den Bundesverfassungsrichtern ge­ währleisten, dass die Personen über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung verfü­ gen. Auch hier erscheint das Erfordernis jedenfalls eines so hohen Mindestalters heute eher überholt. 3. Inkompatibilitäten

156

Es besteht eine umfassende Unvereinbarkeit (Inkompatibilität237) des Bundes­ verfassungsrichteramts mit dem Angehörigkeitsstatus in Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und entsprechenden Organen in den Ländern (Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG, § 3 Abs. 3 S. 1 BVerfGG). Ein Bundesverfassungsrichter darf schon aus Gründen der Gewaltenteilung keiner gesetzgebenden Körperschaft und keiner Re­ gierung des Bundes oder eines Landes angehören: Aus solchen Ämtern, die er bis schen Bundesverfassungsrichtern, die aus dem Kreis der Bundesrichter stammen, und den übrigen Mitgliedern (vgl. hierzu Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG): Erstere wurden bis zum Erreichen der Altersgrenze für Richter ihres ursprünglichen Bundesgerichts, die übrigen Mitglieder des Gerichts auf die Dauer von vier oder acht Jahren gewählt – allerdings mit der Möglichkeit einer auch mehrfachen Wiederwahl; vgl. Hömig, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 4, Rn. 1. 236 So beispielsweise in Berlin (vgl. Art. 84 Abs. 1 S. 1 BlnVerf), Brandenburg (vgl. Art. 112 Abs. 2 S. 2 BbgVerf) und Hamburg (vgl. Art. 65 Abs. 1 HmbVerf); diese Öffnungsklauseln für Nichtjuristen werden in der Praxis nur zurückhaltend genutzt; vergleichend zur Zusammenset­ zung von Landesverfassungsgerichten Leunig, Die Regierungssysteme der deutschen Länder, 2. Aufl. 2012, S. 169 f.; Reutter, in: ders. (Hrsg.), Landesverfassungsgerichte, 2017, S. 1 (9 ff.). 237 Allgemein zu Inkompatibilitäten: § 1, Rn. 80 f.

D. Zusammensetzung

571

zu seiner Wahl innehatte, scheidet er mit seiner Wahl zum Richter von Gesetzes wegen aus (§ 3 Abs. 3 S. 2 BVerfGG). Nicht ausdrücklich in den geschriebenen grundgesetzlichen und einfach-gesetzlichen In­ kompatibilitätsvorschriften für Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts aufgezählt wird das Amt des Bundespräsidenten. Die Unvereinbarkeit (der gleichzeitigen Wahrnehmung) beider Ämter ergibt sich aber jedenfalls aus Art. 55 Abs. 2 GG (Mitgliedschaft im Bundes­ verfassungsgericht als „anderes besoldetes Amt“; s. a. § 5 Rn. 77) und aus § 3 Abs. 4 BVerfGG (Bundespräsidentenamt als „andere berufliche Tätigkeit“).238 Schließlich kann Art. 61 GG (Präsidentenanklage vor dem Bundesverfassungsgericht; s. § 5 Rn. 194 ff.) als Argument für die Unvereinbarkeit der Ämter herangezogen werden.

157

Faktisch besteht offenbar eine gewisse Nähe zwischen den Ämtern des Bundesverfassungs­ richters und des Bundespräsidenten: Der frühere Bundesverfassungsgerichtspräsident Herzog (Amtszeit 1987–1994) war später Bundespräsident (Amtszeit 1994–1999). Regelmäßig zählen (amtierende oder frühere) Bundesverfassungsrichter zum Kreis der potentiellen Kandidaten für die Wahl zum Bundespräsidenten.

158

Die Ausübung einer weiteren beruflichen Tätigkeit neben dem Amt als Verfas­ sungsrichter ist nicht zulässig; eine besondere Ausnahme – in Form von (Staats-) Rechtslehrersonderrecht (s. o. Rn. 147) – besteht für die Tätigkeit als Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule; ihr gegenüber genießt die richterliche Aufgabe allerdings gesetzlichen Vorrang (§ 3 Abs. 4 BVerfGG). Die faktische Anzahl der Hochschullehrer am Bundesverfassungsgericht ist recht hoch.239

159

4. Wahl durch den Bundestag und den Bundesrat a) Rechtsgrundlagen Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG, § 5 Abs. 1 BVerfGG je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt.240 Von den – seit einer Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetz zum Jahr 1963241 – insgesamt sechzehn Mitgliedern des Gerichts werden drei in jedem Senat (hierzu Rn. 194 ff.) aus dem Kreis der Bundesrichter der obersten Gerichtshöfe des Bundes bestimmt (§ 2 Abs. 3 S. 1 BVerfGG). 238

So auch Hömig, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungs­ gerichtsgesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 3, Rn. 16, m. w. N. 239 Im Juli 2020 waren vier der acht Richterinnen und Richter des Ersten Senats Lehrstuhl­ inhaberinnen oder Lehrstuhlinhaber (sowie zwei weitere Richter Honorarprofessoren). Im Zweiten Senat gab es zum gleichen Zeitpunkt vier Lehrstuhlinhaberinnen und Lehrstuhl­ inhaber. 240 Zur Wahl der Bundesverfassungsrichter, s. a. Landfried, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 369 ff.; Limbach, in: FS Herzog, 2009, S. 273 ff.; Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, S. 22 ff. 241 Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21.07.1956, BGBl. I S. 662. In einer Übergangszeit vom 1.9.1956 bis zum 31.8.1963 gab es zehn Richter pro Senat; vor 1956 waren es zwölf Richter pro Senat.

160

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§ 8 Bundesverfassungsgericht

161

aa) Wahl durch den Bundesrat. Der Bundesrat wählt ‚seine‘ acht Richter in unmittelbarer Wahl mit Zweidrittelmehrheit. Das qualifizierte Mehrheitserfor­ dernis ist lediglich einfachgesetzlich in § 7 BVerfGG, nicht aber im Grundgesetz vorgesehen.

162

Informell hat die Ministerpräsidentenkonferenz einen nicht unerheblichen politischen Einfluss auf die (Aus-)Wahlentscheidungen des Bundesrats (hierzu § 3 Rn. 28, 265).

163

bb) Wahl durch den Bundestag. Der Bundestag wählt ‚seine‘ acht Richter – seit einer Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahr 2015242 – ebenfalls direkt, allerdings auf (praktisch maßgeblichen) Vorschlag eines Wahlausschusses (§ 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG), der aus zwölf Bundestagsabgeordneten besteht.

164

Bis 2015 bestimmte § 6 Abs. 1 BVerfGG a. F., dass die Wahl im Bundestag „indirekt“ erfolge. Nunmehr bestimmt § 6 Abs. 1 BVerfGG: „Die vom Bundestag zu berufenden Richter werden [vom Plenum des Bundestags] auf Vorschlag des Wahlausschusses […] ohne Ausspra­ che mit verdeckten Stimmzetteln gewählt.“

165

Noch vor Änderung von § 6 BVerfGG entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2012 anlässlich einer Besetzungsrüge, dass die „indirekte Wahl der Bundes­ verfassungsrichter durch den Deutschen Bundestag“, wie sie von § 6 BVerfGG a. F. vorgesehe­ nen wurde, verfassungsmäßig sei.243 Der Zweite Senat begründete seine Entscheidung – nicht überzeugend – zum einen mit einem bewussten Verzicht des verfassungsändernden Gesetz­ gebers, das Verfahren der Richterwahl in der Verfassung abweichend von § 6 BVerfGG als direkte Wahl durch das Plenum zu regeln.244 Zum anderen sah der Senat die Beeinträchtigung der Abgeordnetenrechte der nicht im Wahlausschuss vertretenen Abgeordneten als gerecht­ fertigt an, da der Gesetzgeber das legitime Ziel der Wahrung der Vertraulichkeit der Vorgänge der Richterauswahl zur Festigung des Ansehens des Gerichts und des Vertrauens in seine Un­ abhängigkeit verfolgen durfte.245

166

Dennoch änderte der (einfache) Gesetzgeber – laut des gemeinsamen Gesetzentwurfs aller Fraktionen aus „verfassungspolitischen“ (also aus Sicht des Gesetzgebers offenbar nicht aus zwingenden verfassungsrechtlichen) Gründen246 – im Jahr 2015 die Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zur Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts durch den Bundestag: Nach der Neufassung findet die Wahl im Plenum statt, während der Wahlausschuss jedoch zuvor einen Wahlvorschlag beschließt. Die Beibehaltung des Wahlausschusses solle „eine unerwünschte Politisierung des Bundesverfassungsgerichts“ verhindern.247

167

Die Gesetzesänderung von 2015 ist als (halber) Schritt in die richtige Richtung zu begrü­ ßen248; sie löst jedoch nicht die tiefer liegenden Probleme der unkontrollierten Parteipoliti 242

G. v. 24.06.2015 BGBl. I S. 973. BVerfGE 131, 230 – Bundesverfassungsrichterwahl; kritisch zur Begründung des Urteils Wiefelspütz, DÖV 2012, 961 (968 f.). 244 BVerfGE 131, 230 (234) – Bundesverfassungsrichterwahl. 245 BVerfGE 131, 230 (235 f.) – Bundesverfassungsrichterwahl. 246 BT-Drs. 18/2737, S. 1, 4. 247 BT-Drs. 18/2737, S. 4. 248 Kritischer M. Schröder, ZG 2015, 150 (167): „rein kosmetische Maßnahme“ mit „bloße[m] Schein von Repräsentation und zusätzlicher Legitimation“. 243

D. Zusammensetzung

573

sierung (s. u. Rn. 170 ff., 177 ff.) und des weitgehenden Ausschlusses der Öffentlichkeit (s. u. Rn. 171) beim Richterauswahlverfahren, welches der abschließenden Wahl im Plenum vor­ gelagert bleibt.

In jeder Legislaturperiode bildet der Bundestag nach den Maßstäben der Ver­ hältniswahl einen Wahlausschuss249 aus zwölf Bundestagsabgeordneten. Darin wird die Wahlentscheidung des Parlaments maßgeblich vorbereitet und faktisch (nicht rechtlich) sogar vorbestimmt. Mit einer Mehrheit von mindestens acht Stim­ men (also ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit) beschließt der Wahlausschuss einen Wahlvorschlag (§ 6 Abs. 5 BVerfGG). Seine Mitglieder sind über die Arbeit des Ausschusses zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 6 Abs. 4 BVerfGG).

168

Die abschließende Wahl der Richter als solche erfolgt dann seit 2015 im Plenum des Bundestags ohne Aussprache mit verdeckten Stimmzetteln (s. a. § 1 Rn. 73) und erfordert eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestags (§ 6 Abs. 1 S. 1 u. 2 BVerfGG). Wie das Mehrheitserfordernis für die Richterwahl im Bundesrat, ist auch diese Qualifizierung nicht verfassungsstark, sondern lediglich einfachgesetz­ licher Natur. Das einfach-gesetzliche Ausspracheverbot sollte durch Gesetzesän­ derung abgeschafft werden (ausführlich § 1 Rn. 71).

169

Die Wahlvorschläge für die Ausschussentscheidung werden ihrerseits in informellen „Arbeitsgruppen“250 der Parlamentsfraktionen beraten und vorbestimmt.251 Grundlage dessen sind seit Jahren wiederum feststehende Absprachen zwischen den Regierungsparteien und den Oppositionsparteien über die Verteilung der Richtersitze (s. a. Rn. 177).252 Solche – rechtlich unverbindlichen – Absprachen (häufig in Paketlösungen) sind wegen der für die Richterwahl notwendige Zweidrittelmehrheit erforderlich.

170

Durch diese „dreifache Mediatisierung“ der Verfassungsrichterwahl durch – erstens – Ver­ lagerung in den Ausschuss, zweitens Vorbestimmung durch fraktionelle Arbeitsgruppen und – drittens – quotale Parteiabsprachen verliert der Wahlvorgang nahezu jegliche Transparenz für die Öffentlichkeit, er wird entpersonalisiert. Die Weisungsfreiheit des Wahlausschusses wird durch die Absprachen im Vorfeld unterlaufen, die Beteiligung der Ausschussmitglieder parlamentarischer Minderheiten ist empfindlich eingeschränkt.

171

Rechtspolitisch wurde daher vor Änderung des § 6 BVerfGG im Jahr 2015 zu Recht die (Rück-)Verlagerung der Wahl in das Parlament gefordert.253 Durch die Gesetzesänderung von 2015 soll zwar sichergestellt werden, dass der Wahlausschuss lediglich einen Wahlvor­ schlag beschließt und der – aus formeller Sicht – maßgebliche Wahlakt schließlich im Plenum des Bundestags stattfindet. Dies ändert allerdings nichts daran, dass der Sache nach die we­

172

249

Die frühere Bezeichnung lautete „Wahlmännerausschuss“. Preuß, ZRP 1988, 389 (392). 251 S. dazu Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, S. 27 f., 36; Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 271. Beachte jedoch den Hinweis von Wiefelspütz, DÖV 2012, 961 (962), darauf, dass sich „Kandidaten“ für die Richterwahl seit 2010 auch in den Bundes­ tagsfraktionen in nichtöffentlichen Sitzungen „vorstellen“, mit Verweis auf FAZ v. 3.11.2010. 252 Wesel, Die Hüter der Verfassung, 1996, S. 20. 253 Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, S. 38; s. dazu auch Preuß, ZRP 1988, 389 ff. 250

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sentliche (Aus-)Wahlentscheidung weiterhin im Wahlausschuss und auf informellen Ebenen (Arbeitsgruppen, Parteiabsprachen) stattfindet. Politisch scheint die Forderung, Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die sachliche Auswahldiskussion stärker in das Plenum und auf diesem Wege in die Öffentlichkeit getragen wird, aber derzeit kaum durchsetzbar, da die das Verfah­ ren beherrschenden Parteien nicht geneigt sind, bestehende Möglichkeiten der Machtausübung durch eine Gesetzes- oder gar Verfassungsänderung zu begrenzen.254

173

Zur Wahl eines Richterkandidaten bedarf es – wie erwähnt – sowohl im Bun­ destag als auch im Bundesrat gemäß einfachen Rechts (nicht gemäß Verfassungs­ rechts) einer Zweidrittelmehrheit (§§ 6 Abs. 5, 7 BVerfGG).255 Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit sichert das bisherige System der Postenaufteilung zwischen den ([teilweise] ehedem) großen Parteien (s. u. Rn. 177), gewährleistet aber re­ gelmäßig immerhin auch, dass parteipolitische Eiferer bei Richterwahlen kaum Chancen haben.

174

cc) Kooperationsähnliches Verfahren. Kommt innerhalb von zwei Monaten nach dem Ablauf der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters die Wahl eines Nachfolgers nicht zustande, so steht dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts nach Aufforderung durch das älteste Mitglied des Wahlausschusses (bei Wahl durch den Bundestag) oder durch den Präsidenten des Bundesrats (bei Wahl durch den Bundesrat)256 ein Vorschlagsrecht für die Wahl eines Nachfolgers zu (§ 7a Abs. 1 bzw. Abs. 3 BVerfGG). Das kommt einem abgeschwächten Kooptationsverfahren (s. o. Rn. 152) nahe.

175

Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts beschließt mit einfacher Mehrheit, wer zur Wahl als Richter vorgeschlagen wird (§ 7a Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Der Richter, dessen Stelle neu zu besetzen ist, führt dabei seine Amtsgeschäfte bis zur Wahl des Nachfolgers fort (§ 4 Abs. 4 BVerfGG, s. a. Rn. 186). Soll nur ein Richter gewählt werden, so muss das Plenum des Gerichts drei Richter vorschlagen (§ 7a Abs. 2 S. 2 Hs. 1 BVerfGG). Muss mehr als eine Richterstelle besetzt werden, hat das Gericht immer doppelt so viele Richter vorzuschlagen, wie letztlich gewählt werden sollen (§ 7a Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BVerfGG). Auch zum Abschluss dieses Verfah­ rens muss allerdings der vorgeschlagene Kandidat eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag bzw. im Bundesrat auf sich vereinen. Bundestag bzw. Bundesrat sind im Übrigen nicht an den Kreis der vom Plenum des Bundesverfassungsgerichts Vorgeschlagenen gebunden (§ 7a Abs. 4 BVerfGG). Das Wahlverfahren nach § 7a BVerfGG ist also kein absolutes Kooptations­ verfahren (s. dazu auch Rn. 152), enthält aber Ingredienzien der Kooptation.

176

dd) Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten. Bundestag und Bundesrat wäh­ len im Wechsel den Gerichtspräsidenten und den Vizepräsidenten (§ 9 BVerfGG), wobei der Vizepräsident aus dem Senat zu wählen ist, dem der Präsident nicht an­ 254

Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, 1986, S. 43. Das beidseitig hohe Quorum von zwei Dritteln soll eine parteipolitisch vorbestimmte und zweckentfremdete Auswahl der Richter verhindern, vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundes­ verfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 45. 256 Die Regelungen des § 7a Abs. 1, 2 BVerfGG gelten für die durch den Bundesrat zu wählen­ den Richter mit der Maßgabe entsprechend, dass an die Stelle des ältesten Mitglieds des Wahl­ ausschusses der Präsident des Bundesrates oder sein Stellvertreter tritt (§ 7a Abs. 3 BVerfGG). 255

D. Zusammensetzung

575

gehört. Nachdem der derzeitige Präsident Harbarth im Jahr 2020 vom Bundestag zum Präsidenten gewählt wurde,257 wird der nächste Präsident wieder durch den Bundestag bestimmt. b) Politische Praxis der (Aus-)Wahl Im Ergebnis werden die Posten der Bundesverfassungsrichter – jedenfalls bis­ lang – regelmäßig zwischen CDU / CSU einerseits und SPD andererseits hälftig aufgeteilt, wobei bei ‚kleinen Koalitionen‘ oder entsprechenden politischen Lagern der Seniorpartner (CDU / CSU oder SPD) dem Juniorpartner (real: der FDP oder den Grünen) zumeist einen Posten ‚abgibt‘.258 Das Verfahren der ‚Halbteilung‘ der Richterposten zwischen CDU / CSU und SPD bzw. zwischen den Lagern Schwarz-Gelb und Rot-Grün verhindert – außer in Zeiten sog. großer Koalitionen – die völlige Machtübernahme der Regierungsparteien am Bundesverfassungsgericht und sichert so regelmäßig das für das Bundesverfassungsgericht wesentliche ‚Patt‘ zwischen den großen politischen Lagern, die in Zeiten ‚kleiner Koalitionen‘ regel­ mäßig zu einer hälftigen Besetzung durch die SPD- bzw. CDU-dominierte Oppo­ sition führt. Diese ‚Halbteilung‘ verhindert insbesondere auch Entwicklungen wie in den USA, wo der Supreme Court unter Umständen überwiegend oder ganz in die Hand eines politischen Lagers fallen kann.

177

Es bleibt abzuwarten, wie sich die zuletzt stärker werdende Tendenz zur Verbreiterung des parteipolitischen Spektrums zu einem Sechs-Parteiensystem bei gleichzeitigem Schwä­ cherwerden der ‚Volksparteien‘ CDU / CSU und SPD auf die künftigen Kompromisse bei Richterwahlen auswirken wird. Neue Koalitionsoptionen und -zwänge im Bundestag (etwa Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Grün[-Gelb]) und die Schwächung der CDU / CSU und SPD im Bundesrat werden den Einfluss der kleineren Parteien auf die Kompromisslösungen wohl stärken. Insbesondere über den Bundesrat steigt der Einfluss kleinerer Parteien, vor allem der Grünen, die gegen Ende der 2010er und zu Beginn der 2020er Jahre in einer nicht unerhebli­ chen Zahl von Landesregierungen mitwirken. Auf Dauer wird man nicht an der Erkenntnis vor­ beikommen, dass die legitimierenden Grundlagen für die ‚Halbteilung‘ zwischen CDU / CSU und SPD entfallen sind.

178

Der aktuelle Wahlmodus ermöglicht einen faktischen Ausschluss der ‚Randparteien‘ hinsichtlich der Auswahl der Verfassungsrichter: Bisher gab es keinen Richter oder Kan­ didaten der Linken, obwohl die Partei (in Thüringen) seit 2014 einen Ministerpräsidenten stellt. Abzuwarten bleibt, ob die AfD Einfluss auf die Verfassungsrichterwahlen bekommen wird. Verfassungsfeindliche bzw. verfassungsablehnende, aber nicht formell vom Bundes­

179

257 Zum Bundesverfassungsrichter war Harbarth bereits im Jahr 2018 durch den Bundestag gewählt worden. 258 So wurde etwa Brun-Otto Bryde auf Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen im Januar 2001 zum Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt. Susanne Baer wurde 2011 nach Vor­ schlag durch Bündnis 90/Die Grünen seine Nachfolgerin. Auf der anderen Seite des partei­ politischen Spektrums wurde im Jahr 2010 die Initiative der FDP für die Wahl von Andreas Paulus von der Union mitgetragen.

576

§ 8 Bundesverfassungsgericht

verfassungsgericht nach Art. 21 Abs. 2, 4 GG verbotene Parteien sind Parteien, die bei Ver­ fassungsrichterwahlen selbst dann nicht berücksichtigt werden müssen, wenn man von einer tendenziellen Orientierung am Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Besetzung des Bundes­ verfassungsgerichts einerseits und (partei-)politischen Kräfteverhältnissen im Bundestag bzw. im Bundesrat andererseits ausginge.259

180

Das geltende (Aus-)Wahlverfahren der Bundesverfassungsrichter ist insgesamt nach zutreffender Auffassung wohl schon verfassungswidrig,260 jedenfalls aber (verfassungs-)politisch anstößig. Es ist intransparent und missachtet durch die totale Parteipolitisierung nicht nur den hinter Art. 33 Abs. 2 GG stehenden Ge­ danken, welcher fordert, dass grundsätzlich „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung“ maßgeblich für die Besetzung von Ämtern zu sein haben261, sondern führt auch (weiterhin) zu einer nicht hinnehmbaren Benachteiligung der kleineren Parteien. Unerträglich wird dies dann, wenn die Wahlerfolge der großen Parteien tendenziell immer kleiner und die der kleinen Parteien immer größer werden.

181

Zu kritisieren ist diese Handhabung der Besetzung der Verfassungsrichterposten als ‚Haus­ gut‘ der beiden großen Parteien wegen des ungehinderten Einfließens parteipolitischer Überlegungen in die Richterwahlen.262 Bei manchen Kandidaten stand möglicherweise deren poli­ tische Nähe zu einer Partei und nicht deren fachliche Leistung im Vordergrund.

182

Problematisch kann auch der etwaige Einfluss gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen (z. B. der Kirchen und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten) auf 259

Zum Problem verfassungsfeindlicher, aber nicht formell verbotener Parteien Kloepfer, NJW 2016, 3003. 260 So auch – zum Verfahren nach § 6 BVerfGG in der bis 2015 geltenden Fassung – Kischel, in: HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 69, Rn. 48 ff.; Wieland, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 94, Rn. 15. 261 Selbst wenn man Art. 33 Abs. 2 GG (wie die wohl h. M. der Kommentatoren) für un­ anwendbar auf die Bundesverfassungsrichter(-aus-)wahl halten sollte (hierzu zusammenfas­ send M. Schröder, ZG 2015, 150 [158]), so kommt man nicht daran vorbei, dass hinter Art. 33 Abs. 2 GG ein gewichtiger Grundsatz eines demokratischen Rechtsstaats (und im Übrigen tendenziell und potentiell auch des Sozialstaats) niedergeschrieben ist, welcher gerade auch bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Verfahrens der Bundesverfassungsrichterwahl einen Aspekt unter anderen darstellt. 262 Fragwürdig war insbesondere die am Widerstand der CDU und CSU gescheiterte Nomi­ nierung von Horst Dreier zum Richter am Bundesverfassungsgericht im Jahre 2008. Dreier ist Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und SPD-Mit­glied. Freilich ging es bei der Verhinderung seiner Wahl aber (auch) um sachlich-inhaltliche Gründe: CDU und CSU sprachen sich hauptsächlich wegen umstrittener Kommentierungen Dreiers zur Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gegen Dreier als Bundesverfassungsrichter aus (vgl. etwa DIE ZEIT v. 07.02.2008). In den einschlägigen Kommentierungen offenbart Dreier zudem eine relativ liberale Haltung gegenüber der Biotechnologie und der Humangenetik (vgl. Dreier, in: ders., GG, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I, Rn. 77 ff., jetzt 3. Aufl. 2013, Rn. 79 ff.) und hält im Falle einer „Würdekollision“ einen Eingriff in die nach Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde eines Menschen zum Schutz der Menschenwürde eines anderen (als ultima ratio) für zulässig (Dreier, in: ders., GG, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I, Rn. 133, jetzt ausführlicher hierzu 3. Aufl. 2013, Rn. 133 ff.; zu dieser Problematik Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 55, Rn. 71).

D. Zusammensetzung

577

die Richterwahl sein. Die Intransparenz von Bundesverfassungsrichterwahlen lässt hier aber kein abschließendes Urteil zu. Der Einfluss landesmannschaft­licher Verbundenheit führt nicht zu einer Stärkung des Gedanks befähigungs- und leis­ tungsbezogener Auswahlentscheidungen. Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Bedenken besteht in der Verfassungswirklichkeit die Schwierigkeit, die Richter des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Wahlverfahrens zu bewegen, da alle Richter – ungeachtet ihrer fachlichen Qualität – ihre Wahl maßgeblich ihrer Zu­ gehörigkeit oder Nähe zu einer politischen Partei verdanken. Hinzu kommt die änderungswiderstrebende „‚normative Kraft‘ einer jahrelangen Praxis“ und die breite Akzeptanz des Gerichts, welches seit mehreren Dekaden durch das kriti­ sierte Verfahren besetzt wurde.263

183

Im Jahr 2012 entschied das Bundesverfassungsgericht zwar unter Vermeidung einer grundsätzlichen Hinterfragung des (Aus-)Wahlverfahrens eher ‚formalistisch‘, dass die damals noch in § 6 Abs. 1 BVerfGG a. F. vorgesehene „indirekte Wahl“ der Bundesverfas­ sungsrichter durch den Bundestag verfassungsmäßig sei (s. o. Rn. 165).264 Eine Auseinander­ setzung des Gerichts mit den tieferliegenden Problemen der Richter(-aus-)wahl erfolgte bis­ lang allerdings nicht.

184

II. Beendigung des Amtes des Bundesverfassungsrichters Nach zwölfjähriger Amtszeit265 oder mit Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren endet die Amtszeit der Richter (§ 4 Abs. 1 u. 3 BVerfGG). Eine Wieder­ wahl ist ausgeschlossen (§ 4 Abs. 2 BVerfGG).

185

Probleme ergeben sich wegen § 4 Abs. 4 BVerfGG dann, wenn bei Ablauf der gesetzlich bestimmten Amtszeit noch kein Nachfolger ernannt worden ist. In diesem Fall sieht die Vor­ schrift – wie erwähnt – vor, dass der betroffene Richter seine Amtsgeschäfte bis zur Ernennung des Nachfolgers fortführt (s. o. Rn. 175).266 Dies kann zum einen bewirken, dass die Wahlgre­

186

263

Vgl. Wiefelspütz, DÖV 2012, 961 (962). BVerfGE 131, 230 – Bundesverfassungsrichterwahl; kritisch zur Begründung des Urteils Wiefelspütz, DÖV 2012, 961 (968 f.). 265 Seit einer Gesetzesänderung des BVerfGG im Jahr 1970 durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v. 21.12.1970, BGBl. I S. 1765. Zuvor war hinsichtlich der Amtszeit differenziert worden zwischen Bundesverfassungsrich­ tern, die aus dem Kreis der Bundesrichter stammen, und den übrigen Mitgliedern (vgl. hierzu Art. 94 Abs. 1 S. 1 GG): Erstere wurden bis zum Erreichen der Altersgrenze für Richter ihres ursprünglichen Bundesgerichts, die übrigen Mitglieder des Gerichts auf die Dauer von vier oder acht Jahren gewählt – allerdings mit der Möglichkeit einer (auch mehrfachen) Wieder­ wahl; vgl. Hömig, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungs­ gerichtsgesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 4, Rn. 1. 266 Sinn und Zweck der Vorschrift ist, dass ein Senat möglichst immer in voller Besetzung und in weitgehender personeller Kontinuität arbeiten kann (Kischel, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 69, Rn. 59). 264

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§ 8 Bundesverfassungsgericht

mien keine Veranlassung zur Richterwahl sehen, weil die Amtsgeschäfte des Gerichts ohne­ hin erledigt werden, oder zum anderen dazu führen, dass die Wahl eines Nachfolgers bewusst herausgezögert wird, um die Entscheidung eines Verfahrens in einer bestimmten Besetzung zu ermöglichen.267 In beiden Fällen könnte eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gesehen werden.268 Zwingend ist eine solche Sichtweise nicht, denn § 4 Abs. 4 BVerfGG bestimmt ja gerade den gesetzlichen Richter: Es ist der Rich­ ter, dessen Nachfolger noch nicht bestimmt ist.269

187

Mit Erreichen der Altersgrenze (§ 4 Abs. 1 u. 3 BVerfGG) treten die Richter in den Ruhestand (vgl. § 98 Abs. 1 BVerfGG).

188

Die (altersgrenzenunabhängige) Versetzung in den Ruhestand und die Entlassung der Bundesverfassungsrichter sind abschließend in §§ 98 Abs. 2 u. 3, 105 BVerfGG geregelt. Die Versetzung in den Ruhestand setzt grundsätzlich die „dau­ ernde Dienstunfähigkeit“ voraus (§ 98 Abs. 2 BVerfGG; beachte aber die Ausnah­ men des § 98 Abs. 3 BVerfGG). Gründe für die Entlassung können (strafbare und zugleich) „entehrende Handlungen“ des Bundesverfassungsrichters, seine rechts­ kräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder eine so grobe Pflichtverletzung, die das Verbleiben im Amt ausschließt, sein (s. § 105 Abs. 1 BVerfGG).

189

Die Versetzung in den Ruhestand oder die Entlassung des Richters nimmt der Bundespräsident auf Ermächtigung von zwei Dritteln der Mitglieder des Gerichts vor (§ 105 Abs. 1, 4 BVerfGG). Insoweit handelt es sich um ein „Selbstreinigungsverfahren“270 unter formaler Beteiligung des Bundespräsidenten; der Bundespräsident hat kein Entscheidungsermessen (s. a. § 5 Rn. 156).271 Über die Einleitung des Verfahrens entscheidet das Plenum des Bun­ desverfassungsgerichts (§ 105 Abs. 2 BVerfGG; s. u. Rn. 215). Zur Einleitung des Verfahrens reicht die einfache Mehrheit im beschlussfähigen (s. dazu § 16 Abs. 2 BVerfGG; s. u. Rn. 280) Plenum aus. Zur Ermächtigung des Bundespräsidenten zur Versetzung in den Ruhestand oder zur Entlassung des Richters ist gemäß § 105 Abs. 4 BVerfGG allerdings eine Zweidrittelmehr­ heit erforderlich. Ein Antrag auf Richterentlassung nach Art. 98 Abs. 2 GG272 ist bei Bundes­ verfassungsrichtern nicht möglich.

267

Dies ist – sogar auf Bitten des Bundesverfassungsgerichts selbst – im Zusammenhang mit dem Asylverfahren in den Jahren 1995/1996 geschehen (s. dazu Pressemitteilung des Bundes­ verfassungsgerichts, Nr. 47/95 v. 23.11.1995); zu dieser Problematik, s. a. Höfling / Roth, DÖV 1997, 67 ff. 268 So Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 20, Rn. 19 m. w. N. 269 Sangmeister, NJW 1996, 2561 (2562 f.). Weitere Argumente gegen eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG finden sich bei Kischel, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 69, Rn. 62. 270 Kunze in: Umbach / Clemens / Dollingerm BVerfGG, 2. Aufl. 2005, Vor §§ 17 ff., Rn. 17. 271 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz / ders. / K lein / Bethge, BVerfGG, 5.  Ergänzungslieferung 1978, § 105, Rn. 13, billigt dem Bundespräsidenten ein politisches Ermessen unter der Vor­ aussetzung zu, dass sich nicht aus gesetzlichen Vorschriften die Pflicht zur Entlassung bzw. Zuruhesetzung ergibt (wie z. B. aus § 98 Abs. 2 BVerfGG: Pflicht zur Zuruhesetzung bei dau­ ernder Dienstunfähigkeit). 272 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 23, Rn. 66.

D. Zusammensetzung

579

III. Spruchkörper und Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts Beim Bundesverfassungsgericht lassen sich insgesamt vier verschiedene Arten von Spruch­körpern unterscheiden: die Senate, die Kammern, die Beschwerdekammer und das Plenum.

190

Alle diese Spruchkörper entscheiden als „das Bundesverfassungsgericht“ mit der Folge, dass grundsätzlich keine Rechtsbehelfe zwischen den einzelnen Spruchkörpern stattfinden.

191

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz enthält § 32 Abs. 3 i. V. m. § 93d Abs. 2 S. 3 BVerfGG: Gegen eine einstweilige Anordnung oder deren Ablehnung, die ohne mündliche Verhandlung und somit als Beschluss vor einer Kammer erlassen wird, kann Widerspruch erhoben werden, über den der zuständige Senat als „das Bundesverfassungsgericht“ in münd­ licher Verhandlung273 zu entscheiden hat.274 Eine weitere (besondere) Ausnahme stellt gewis­ sermaßen auch die Tätigkeit der Beschwerdekammer (s. u. Rn. 210 ff.) dar: Diese entscheidet im Rahmen von Verzögerungsbeschwerden über die Entschädigung und Wiedergutmachung bei unangemessener Dauer eines Verfahrens vor einem der anderen Spruchkörper (vgl. §§ 97a ff. BVerfGG; s. u. Rn. 298).

192

Hinsichtlich der Organisation des Bundesverfassungsgerichts sind neben den vier Spruchkörpern auch der Präsident und der Vizepräsident (s. u. Rn. 222 ff.), (sonstige) Akteure der Verwaltung des Gerichts (s. u. Rn. 227 ff.) sowie in einem gewissen Maße, wenngleich nicht (außen-)rechtserheblich auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter (s. u. Rn. 232 ff.) des Gerichts von Bedeutung.

193

1. Senate Nach § 2 Abs. 1 u. 2 BVerfGG besteht das Gericht aus zwei Senaten mit je acht Bundesverfassungsrichtern. Dem einen Senat sitzt der Präsident des Bundesver­ fassungsgerichts, dem anderen der Vizepräsident vor (§ 15 Abs. 1 S. 1 BVerfGG).

194

Beide Senate sind unabhängige Spruchkörper, weshalb das Gericht auch als Zwillingsgericht bezeichnet wird. Jeder Senat ist „das Bundesverfassungsgericht“.275 Da die beiden Senate grundsätzlich unabhängig voneinander entscheiden, darf kein Senat die Rechtsprechung des jeweils anderen Senats überprüfen.276

195

Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Rechtsprechung des jeweils anderen Senats abweichen, so muss er nach § 16 BVerfGG das Plenum des Bundes­ verfassungsgerichts zur Entscheidung anrufen. Solche Plenarentscheidungen sind aber sehr selten (s. dazu unten Rn. 216 ff.).

196

273 Ob in dieser Konstellation eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist umstritten: dagegen Graßhof, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge, BVerfGG, 20.  Ergänzungs­ lieferung 2001, § 93d, Rn. 36. 274 Vgl. Berkemann, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 32, Rn. 387. 275 BVerfGE 1, 14 (29) – Südweststaat; E 2, 79 (95) – Plenargutachten Heuß. 276 BVerfGE 7, 17 (18).

580

§ 8 Bundesverfassungsgericht

197

Die Zuständigkeit der Senate ist in § 14 BVerfGG geregelt. Während sich der Erste Senat mit Normenkontrollen zu Grundrechtsfragen und Verfassungsbeschwer­ den277 befasst (§ 14 Abs. 1 BVerfGG), ist der Zweite Senat überwiegend für die Entscheidung staatsorganisationsrechtlicher Streitigkeiten im Sinne eines Staats­ gerichtshofs278 zuständig, beispielsweise für Parteiverbotsverfahren, Wahlprü­ fungsverfahren, Präsidentenanklagen und insbesondere für Organstreitverfahren und Bund-Länder-Streitverfahren (§ 14 Abs. 2 BVerfGG). Auch Kommunalver­ fassungsbeschwerden und „Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Wahl­ rechts“, einschließlich der sog. ‚Integrationsverfassungsbeschwerden‘ bezüglich der (Grenzen der) europäischen Integration (s. u. Rn. 637), sind gesetzlich dem Zweiten Senat zugewiesen (§ 14 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Die meisten der ‚machtpolitisch‘ besonders bedeutsamen Entscheidungen des Bundesverfas­ sungsgerichts stammen deshalb vom Zweiten Senat, dem ‚Staatsrechtssenat‘. ‚Gesellschaftspolitisch‘ tritt hingegen der Erste Senat als ‚Grundrechtssenat‘ besonders in Erscheinung, wobei sich die Sphären der Machtpolitik und der Ge­ sellschaftspolitik nicht hermetisch trennen lassen, wie etwa die Entscheidung des Zweiten Senats zur Gesetzgebungskompetenzwidrigkeit des ‚Berliner Mieten­ deckels‘ im März 2021 zeigt278a.

198

Gemäß § 14 Abs. 4 BVerfGG ist das Plenum des Bundesverfassungsgerichts ermächtigt, die Senatszuständigkeiten im Falle von „nicht nur vorübergehender Überlastung eines Senats“ abweichend von den gesetzlichen Vorgaben zu regeln. Bereits 1959 und seitdem wiederholt hat das Bundesverfassungsgericht von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Insbesondere sind dem Zweiten Senat zur Ent­ lastung des mit den zahlreichen Verfassungsbeschwerden befassten Ersten Senats bestimmte Grundrechtssachen, einschließlich bestimmter Fragen der grund­ rechtsgleichen Rechte,279 übertragen worden.280 Insoweit ist dann also auch der Zweite Senat ein ‚Grundrechtssenat‘.

199

Zuletzt erfolgte die Zuständigkeitsübertragung durch das Plenum vor allem nach bestimmten „Rechtsbereichen“: So wurden Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollen in Rechtsmaterien wie Asyl-, Aufenthalts-, und Staatsangehörigkeitsrecht, öffentliches Dienst­ recht und Strafrecht (ohne meinungsäußerungsrelevante Straftaten) sowie zahlreiche kleinere Rechtsbereiche dem Zweiten Senat übertragen.281 277 Ausgenommen von der Zuständigkeit des Ersten Senats für Verfassungsbeschwerden sind Kommunalverfassungsbeschwerden und Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Wahlrechts. 278 Vgl. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 21. 278a BVerfG, Beschl. v. 25.03.2021 – 2 BvF 1/20 u. a. 279 Zur Kategorie der ‚grundrechtsgleichen Rechte‘ Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 46, Rn. 11. 280 Dies erfolgte durch Beschlüsse des Plenums des Bundesverfassungsgerichtes aufgrund § 14 Abs. 4 BVerfGG, vgl. BGBl. 1959 I, S. 673; BGBl. 1971 I, S. 14; BGBl. 1977 I, S. 37 sowie S. 2622; BGBl. 1978 I, S. 2095; BGBl. 1993 I, S. 2492; BGBl. 2016 I, S. 118. 281 Vgl. den Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 2015 gemäß § 14 Absatz 4 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, BGBl. 2016 I, S. 118,

D. Zusammensetzung

581

Über Zuständigkeitszweifel entscheidet nach § 14 Abs. 5 BVerfGG ein Ausschuss, der aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier Richtern besteht, von denen zwei von jedem Senat für die Dauer eines Geschäftsjahrs berufen sind.

200

2. Kammern Eine institutionelle Besonderheit des Bundesverfassungsgerichts, welche vor allem der Entlastung der Senate dient, ist die – vom einfachen Gesetzgeber ermög­ lichte – Einrichtung von Kammern mit jeweils drei Richtern (§ 15a Abs. 1 S. 1, 2 BVerfGG). Die Kammern werden von ihren Senaten besetzt und fungieren als vollwertige Spruchkörper, freilich mit begrenzten Zuständigkeiten.282

201

Vor Einführung der Kammern als vollwertige Spruchkörper im Jahr 1985283 gab es „Vorprüfungsausschüsse“, welche seit 1956284 zur Vorprüfung von Verfassungsbeschwerden ein­ gesetzt wurden, aber keine Sachentscheidungen trafen.

202

Die Kammern treffen grundsätzlich die Entscheidung über die Unzulässigkeit gerichtlicher Vorlagen im konkreten Normenkontrollverfahren (§ 81a S. 1 BVerfGG). Gemäß der Ausnahme des § 81a S. 2 BVerfGG entscheidet der zustän­ dige Senat über die (Un-)Zulässigkeit von Vorlagen der Landesverfassungsgerichte und obersten Gerichtshöfe des Bundes.

203

Aus praktischer Sicht besonders wichtig ist die Befugnis der Kammern, gemäß den §§ 93a bis 93d BVerfGG über die Annahme von Verfassungsbeschwerden zu entscheiden. Die gesetzliche Regelung über das Annahmeverfahren für Ver­ fassungsbeschwerden beruht verfassungsrechtlich auf der Ermächtigung in Art. 94 Abs. 2 S. 2 Var. 2 GG (Einzelheiten s. u. Rn. 539 ff.).

204

Eine Kammer kann die Annahme einer Verfassungsbeschwerde bei Unzulässigkeit oder offensichtlicher Unbegründetheit ablehnen. Der Senat kann ein Verfahren nicht gegen den Willen der Kammer an sich ziehen.285 Die Nichtannahme durch die Kammer ist die häufigste Entscheidungsform bei Verfassungsbeschwerden (ca. 95 % der Beschwerden).286

205

Eine Annahme hat nach § 93a Abs. 2 lit. a und b BVerfGG zu erfolgen, soweit der Be­ schwerde grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt oder es zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten angezeigt ist, z. B. wenn dem Antragstel­ ler durch die Versagung einer Entscheidung ein besonders schwerer Nachteil entstehen würde.

206

zuletzt geändert durch Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 3. De­ zember 2019. 282 Vgl. Hermes, in: FG 50 Jahre BVerfG, Bd. I, 2001, S. 725 (727 ff.). 283 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v. 12.12.1985., BGBl. I, S. 2226. 284 Die „Vorprüfungsausschüsse“ wurden 1956 durch das (Erste) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v. 21.07.1956., BGBl. I, S. 662, eingeführt. 285 Vgl. Hermes, in: FG 50 Jahre BVerfG, Bd. I, 2001, S. 725 (726); Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 40. 286 Vgl. Sperlich, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 93b, Rn. 17.

582

§ 8 Bundesverfassungsgericht

207

Im letzteren Fall kann die Kammer selbst (anstelle des zuständigen Senats) einer ange­ nommenen Beschwerde stattgeben, wenn die zugrundeliegende verfassungsrechtliche Frage bereits durch eine frühere Entscheidung des Verfassungsgerichts im Sinne der Beschwerde beantwortet worden ist und die Beschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c BVerfGG). Die Kammer übernimmt in diesen Fällen die individualrechtschützende und rechtsbefriedende Gerichtsfunktion des Verfassungsgerichts; sie hat dabei aber nicht die Kompetenz, inzident ein Gesetz für verfassungswidrig zu erklären (§ 93c Abs. 1 S. 3 BVerfGG).

208

Lehnt die Kammer die Annahme der Beschwerde nicht ab, entscheidet sie aber auch nicht gemäß § 93c BVerfGG selbst über die Beschwerde, so entscheidet gemäß § 93b S. 2 BVerfGG der Senat über die Annahme der Beschwerde.287

209

Die Kammern werden für die Dauer eines Geschäftsjahres von den Senaten ge­ bildet (§ 15a Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Zugleich entscheidet der Senat auch über die konkrete Zuständigkeitsverteilung der einzelnen Kammern (§ 15a Abs. 2 BVerfGG). Um eine „Versteinerung der Meinungsbildung“ in den Kammern zu verhindern,288 soll die personelle Zusammensetzung der Kammern dabei nicht länger als drei Jahre unverändert bleiben (§ 15a Abs. 1 S. 3 BVerfGG). 3. Beschwerdekammer

210

Mit Einführung der Verzögerungsbeschwerde nach §§ 97a ff. BVerfGG (s. u. Rn. 298) im Jahr 2011289 wurde in § 97c BVerfGG die Beschwerdekammer als wei­ terer Spruchkörper des Bundesverfassungsgerichts geschaffen. Die Beschwerde­ kammer entscheidet abschließend über Verzögerungsbeschwerden.290

211

Die Beschwerdekammer wird mit vier Richtern des Plenums besetzt, von denen zwei aus jedem Senat stammen (§ 97c Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Anders als die Kammern, die für bestimmte Vorentscheidungen bei Normenkontrollen und Verfassungsbeschwerden zuständig sind (s. o. Rn. 201 ff.), wird die Beschwerde­ kammer nicht durch einen der Senate, sondern senatsübergreifend und -paritätisch durch das Plenum berufen.

212

Die Amtszeit der Mitglieder der Beschwerdekammer beträgt gemäß § 97c Abs. 1 S. 2 BVerfGG, § 59 Abs. 1 S. 1, 2 GO-BVerfG – bei Ausschluss einer unmittelbar anschließenden Wiederwahl – regelmäßig zwei Jahre. Präsident und Vizepräsident des Bundesverfassungs­ gerichts können nicht als Mitglieder berufen werden.

213

Nach § 97c Abs. 2 BVerfGG besteht ein gesetzlicher Richterausschlusstatbestand für den Fall, dass der Berichterstatter des beanstandeten Verfahrens Mitglied der Beschwer­ 287

Vgl. Sperlich, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 93b, Rn. 30. BT-Drs. 10/2951, S. 9. 289 Vgl. Art. 2 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011, BGBl. I S. 2302. Die erste Amtszeit der Beschwerdekammer begann im Jahr 2012, vgl. § 59 Abs. 2 GO-BVerfG. 290 Vgl. Haratsch, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungs­ gerichtsgesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 97c, Rn. 2. 288

D. Zusammensetzung

583

dekammer ist. In einem Umkehrschluss lässt sich § 97c Abs. 2 BVerfGG entnehmen, dass an­ dere Mitglieder (als der Berichterstatter) des Spruchkörpers, der mit dem beanstandeten Ver­ fahren befasst ist, nicht von der Mitwirkung am Beschwerdeverfahren ausgeschlossen sind.291 § 97c Abs. 2 BVerfGG geht dem allgemeinen Ausschlusstatbestand in § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG (s. u. Rn. 340) vor.

4. Plenum Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts besteht aus allen sechzehn Mit­ gliedern des Gerichts.

214

Dem Plenum kommen insbesondere organisatorische und personelle Entscheidungsbefugnisse zu (s. a. Rn. 227 ff.). So wird die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (GO­-BVerfG)292 gemäß § 1 Abs. 3 BVerfGG vom Ple­ num erlassen. Gleiches gilt gemäß § 14 Abs. 4 BVerfGG für Abweichungen von der gesetzlichen Zuständigkeitsverteilung (s. o. Rn. 198). Bei Personalfragen erwächst dem Plenum im Ausnahmeverfahren des § 7a BVerfGG ein Vorschlagsrecht für die Wahl eines Bundesverfassungsrichters (s. o. Rn. 174 f.). Auch entscheidet es im ‚Selbstreinigungsverfahren‘ nach § 105 BVerfGG über die Ermächtigung des Bundespräsidenten zur Versetzung in den Ruhestand und Entlassung von Rich­ tern (s. o. Rn. 189).

215

Mit der Zielsetzung, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts zu gewährleisten, entscheidet das Plenum in der Sache nur, wenn ein Senat von der Rechtsauffassung des jeweils anderen Senats abweichen will (§ 16 Abs. 1 BVerfGG – Plenarentscheidung bei Rechtsprechungsdivergenz293 unter den Senaten).294

216

Solche Entscheidungen sind recht selten.295 Dies ist wohl insbesondere darauf zurückzu­ führen, dass die Senate das Risiko scheuen, mit ihrer Rechtsauffassung im Plenum zu schei­ tern. Zum Teil wird diesbezüglich vom „horror pleni“ gesprochen.296 Diese Zurückhaltung der Senate bei der Einleitung von Divergenzverfahren wirkt auf die Spruchpraxis der Senate

217

291 Vgl. Haratsch, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungs­ gerichtsgesetz, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 97c, Rn. 6. 292 Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts v. 19.11.2014, BGBl. 2015 I S. 286. 293 Vgl. Eschelbach, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 16, vor Rn. 1. 294 Vgl. hierzu BVerfGE 4, 27 ff. – Parteien im Organstreit; E 54, 277 ff. – § 554 b ZPO. 295 Die vier wichtigsten Plenumsentscheidungen sind: BVerfGE 4, 27 ff. – Parteien im Organ­ streit; E 54, 277 ff. – § 554 b ZPO; E 95, 322 ff. – Spruchgruppen; E 107, 395 ff. – Rechtschutz gegen den Richter I. – Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht auch in solchen Ver­ fahrensarten als Plenum entschieden, die es heute nicht mehr gibt; s. dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 39. 296 Vgl. etwa E. Klein, AöR 108 (1983), 561 (615); Niebler, in: FS Lerche, 1993, 801 (813), welcher den Grund für die Zurückhaltung freilich stärker darin sieht, „eine zusätzliche spür­ bare Belastung für alle 16 Richter“ zu vermeiden.

584

§ 8 Bundesverfassungsgericht

zurück: Im Zweifel wird Konfrontationen mit der Judikatur des jeweils anderen Senats durch konfliktvermeidende Verfassungsinterpretation aus dem Weg gegangen.297

218

Das Plenum ist nicht zur Selbstbefassung befugt. Vielmehr muss der Senat, der von der Rechtsprechung des anderen Senats abweichen will, das Plenum zur Entscheidung anrufen (§ 47 GO-BVerfG). Ob eine solche Vorlagepflicht im konkreten Fall besteht, kann im Einzel­ fall schwierig zu beurteilen sein.298

219

Die Entscheidung des Plenums tritt jedenfalls nicht an die Stelle der Senatsentscheidung, sondern stellt lediglich ein „Zwischenverfahren“ dar, in dem über die streitige Rechtsfrage, nicht aber über den Verfahrensgegenstand entschieden wird.299 Ergänzende Verfahrensbestim­ mungen enthalten die §§ 47, 48 GO-BVerfG.

220

Die frühere Kompetenz des Plenums, auf Antrag des Bundespräsidenten oder auf gemein­ samen Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung hin Rechtsgutachten über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage zu erstatten (§ 97 BVerfGG a. F.), wurde im Jahr 1956 durch Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes aufgehoben.300 Zuvor hatte auch das Gericht selbst darauf verwiesen, dass „[d]ie Erstattung von Rechtsgutachten […] grundsätz­ lich der richterlichen Funktion wesensfremd [sei]“ und zu Friktionen mit den Zuständigkeiten der Senate führen könne.301

221

Mangels gesetzlicher Ermächtigung ist es dem Bundesverfassungsgericht nunmehr folglich verwehrt, gutachterlich tätig zu werden. Seitdem ist die Erstellung von (allerdings völlig unverbindlichen) verfassungsrechtlichen Gutachten im Wesentlichen Sache von Professoren und Rechtsanwälten etc., aber auch des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, insbe­ sondere zur Vorbereitung von Bundesgesetzen oder Grundgesetzänderungen. Schon wegen der Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts wird es in absehbarer Zeit nicht zur Wiedereinführung von Gutachten des Bundesverfassungsgerichts kommen. Gutachten des Bundesverfassungsgerichts könnten zudem durch den politischen Einfluss des Gerichts zu unangemessenen Einfluss­nahmen auf den politischen Prozess führen. Umgekehrt kann es durchaus Sinn ergeben – etwa bei sehr langwierigen Verfahren – die Möglichkeit verfassungs­ gerichtlicher Vorabentscheidungen über abstrakte, aber fallrelevante Rechtsfragen zu schaffen.

297

Diese Vorwirkung des § 16 BVerfGG wird im Schrifttum unterschiedlich bewertet: grundsätzlich positiv etwa Hömig, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / Bethge (Hrsg.), Bun­ desverfassungsgerichtsgesetz, 48. Ergänzungslieferung 2016, § 16, Rn. 25, m. w. N. auch zu negativen Bewertungen. 298 Vgl. bspw. BVerfGE 96, 375 (403 ff.) – Sterilisation; 96, 409 ff.; dazu Brandner, HFR 1998, 1 ff. 299 Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, § 16, Rn. 7. 300 (Erstes) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v. 21.07.1956., BGBl. I, S. 662. 301 BVerfGE 2, 79 (86 ff.) – Plenargutachten Heuss; hierzu Niebler, in: FS Lerche, 1993, 801 (801 f.).

D. Zusammensetzung

585

5. Präsident, Vizepräsident Bundestag und Bundesrat wählen im Wechsel den Präsidenten302 und den Vize­ präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (§ 9 Abs. 1 BVerfGG). Präsident und Vizepräsident müssen aus unterschiedlichen Senaten stammen.

222

Das Wahlverfahren in Bundestag bzw. Bundesrat richtet sich gem. § 9 Abs. 3 BVerfGG nach den §§ 6, 7 BVerfGG, d. h. nach den allgemeinen Vorgaben für die Richterwahl (s. o. Rn. 160 ff.). Die Wahl „im Wechsel“ durch Bundestag und Bundesrat bezieht sich stets auf ein Amt (Präsident oder Vizepräsident), unabhängig davon, welches Organ das jeweils an­ dere Amt bestimmt hat. Aufgrund ggf. unterschiedlicher Amtszeiten (z. B. bei Ausscheiden eines Richters aus Altersgründen) kann es folglich dazu kommen, dass zeitweise Präsident und Vizepräsident durch dasselbe Wahlorgan (Bundestag oder Bundesrat) bestimmt werden.

223

Hinsichtlich der passiven Wahlberechtigung gilt: Zum Präsidenten oder Vizepräsidenten können auch Richter gewählt werden, die zu diesem Zeitpunkt bereits am Gericht tätig sind; dies ist in der Praxis – jedenfalls für das Amt des Präsidenten – sogar der Regelfall.303 Oftmals – aber keinesfalls immer – wird der Vizepräsident nach Ausscheiden des bisherigen Präsidenten zum neuen Präsidenten gewählt.304 Bundestag und Bundesrat können auch einen ursprüng­ lich vom jeweils anderen Organ gewählten Richter zum Präsidenten oder Vizepräsidenten wählen.305

224

Präsident und Vizepräsident haben jeweils zwei Funktionen: Sie führen  – erstens – jeweils den Vorsitz in ihrem Senat (§ 15 Abs. 1 S. 1 BVerfGG).306 Der Präsident ist – zweitens – zugleich Repräsentant des gesamten Gerichts, d. h. beider Senate, und verwaltet zudem gemeinsam mit dem Plenum das Bundesver­ fassungsgericht (vgl. § 1 GO-BVerfG; s. dazu sogleich Rn. 227 ff.). Der Vizepräsi­

225

302

Die bisherigen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts waren: H. Höpker-Aschoff (1951–1954), J. Wintrich (1954–1958), G. Müller (1959–1971), E. Benda (1971–1983), W. Zeidler (1983–1987), R. Herzog (1987–1994), J. Limbach (1994–2002), H.-J. Papier (2002–2010), A. Voßkuhle (2010–2020). Seit Juni 2020 ist S. Harbarth Präsident des Bundesverfassungs­ gerichts. 303 Eine Ausnahme stellt die Wahl von E. Benda zum Präsidenten des Bundesverfassungs­ gerichts im Jahr 1971 dar. Hier fielen die Wahl zum Richter und die Wahl zum Präsidenten zusammen. 304 Beispielsweise wurde im Jahr 2002 H.-J. Papier zum Präsidenten gewählt; zuvor war er bereits seit 1998 Vizepräsident. 2010 wurde nach Ausscheiden des bisherigen Präsiden­ ten Papier der bisherige Vizepräsident A. Voßkuhle zum Präsidenten gewählt. Im Jahr 2020 wiederholte sich dieses Schema in der Person von S. Harbarth, welcher seit 2018 Vizepräsi­ dent gewesen war. Wie Papier, Voßkuhle und Harbarth wurden auch die früheren Bundes­ verfassungsgerichtspräsidenten W.  Zeidler, R.  Herzog und J.  Limbach aus dem Vizepräsi­ dentenamt ins Präsidentenamt gewählt. Die früheren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten H. ­Höpker-Aschoff, J. Wintrich, G. Müller und E. Benda waren demgegenüber nicht zuvor Vize­präsidenten. 305 So wurde etwa im Jahr 2020 S. Harbarth durch den Bundesrat zum Präsidenten des Ge­ richts gewählt; seine Wahl zum Richter war bereits 2018 durch den Bundestag erfolgt. 306 Derzeit ist S. Harbarth Vorsitzender des Ersten Senats und Präsident des Gerichts und D. König Vorsitzende des Zweiten Senats und Vizepräsidentin des Gerichts.

586

§ 8 Bundesverfassungsgericht

dent vertritt den Präsidenten hinsichtlich der Repräsentation des Gerichts und der Verwaltungsaufgaben (§ 4 GO-BVerfG). 226

Hinsichtlich des Vorsitzes im Senat erfolgt eine Vertretung des Präsidenten bzw. Vizepräsidenten durch den jeweiligen dienstältesten (bzw. bei gleichem Dienstalter durch den lebensältesten anwesenden) Richter im Senat (§ 15 Abs. 1 S. 2 BVerfGG). 6. Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts

227

Entsprechend seiner Stellung als Verfassungsorgan hat sich das Bundesverfas­ sungsgericht von der anfänglichen Anbindung an das Bundesministerium für Justiz befreit und verwaltet sich nun weitgehend selbst (s. bereits oben Rn. 60 ff.; allgemein § 1 Rn. 94 ff.).307 Es hat auch einen eigenen Haushalt (s. o. Rn. 63; s. u. Rn. 229) Grundlage und Ausdruck der Selbstverwaltungs­kompetenz des Bundes­ verfassungsgerichts ist die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (GO-BVerfG), zu deren Erlass das Gericht  – wie erwähnt  – durch § 1 Abs. 3 BVerfGG ermächtigt wird und die als Satzung durch das Plenum aufgestellt wird.

228

Die Selbstverwaltung erfolgt regelmäßig in Zusammenarbeit des Präsidenten und des Plenums (§ 1 Abs. 1 GO-BVerfG). In Einzelfällen wie etwa in § 1 Abs. 3 GO-BVerfG ist die alleinige Zuständigkeit eines der Organe (meistens des Präsi­ denten) vorgesehen.308

229

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts repräsentiert das Bundesverfas­ sungsgericht als Verwaltungsbehörde. Das Verhältnis zwischen Präsidenten und Plenum ist dabei mit gebotener Vorsicht in gewisser Hinsicht mit dem zwischen Regierung und Parlament vergleichbar. Gemäß § 1 Abs. 2 GO-BVerfG entschei­ det das Plenum über den Haushaltsplan des Gerichts, regelt die den Status und die Arbeitsbedingungen der Richter unmittelbar betreffenden Fragen und – soweit er­ forderlich – die allgemeinen Grundsätze für die Verwaltung des Gerichts.309 Der Präsident führt dagegen die Beschlüsse des Plenums aus und führt die Geschäfte der laufenden Verwaltung (§ 1 Abs. 3 S. 1, 2 GO-BVerfG).

230

Dem Präsidenten nachgeordnet ist der Direktor beim Bundesverfassungsgericht, der bestimmte Verwaltungsgeschäfte erledigt (§§ 14 Abs. 1 S. 2, 15 Abs. 1 S. 1 GO-BVerfG). Nach der Neufassung der Geschäftsordnung von 2014 sind die zwei Präsidialräte, welche die Vorsitzenden der beiden Senate bei deren Aufgabenerfül­ lung unterstützten (vgl. § 12 GO-BVerfG a. F.) nicht mehr vorgesehen. Ihre Aufga­

307

S. dazu Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 274 ff. Freilich sind die Grenzen der Selbstverwaltungsautonomie von Verfassungsorganen zu berücksichtigen (hierzu § 1, Rn. 103 f.). 308 S. a. Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 159, m. w. N. 309 Zum sachlichen Umfang der Selbstverwaltungskompetenz, s. a. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 276 ff.

D. Zusammensetzung

587

ben werden nun von der Abteilungsleitung „Justizverwaltung“ wahrgenommen (§ 12 GO-BVerfGG n. F.). Unklar ist, inwiefern sich die Selbstverwaltungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts auch auf Regelungen mit Außenwirkung erstreckt. Während das Hausrecht (§ 6 GO-BVerfG) unbestritten von der Selbstverwaltungskompetenz des Gerichts erfasst ist,310 stellt sich die Frage, ob dies auch für Bestimmungen gilt, die wie etwa die Regelungen zum „allgemeinen Register“ (AR) des Bundesverfassungsgerichts (§§ 63 ff. GO-BVerfG) den Zugang zum gesetz­ lichen Bundesverfassungsrichter bei der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde verzögern oder gar vereiteln können.311 Hier wäre möglicherweise eine gesetzliche Regelung angebracht.312

231

7. Wissenschaftliche Mitarbeiter Die wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht313 tragen fak­ tisch einen sehr großen Teil der Arbeitslast des Gerichts. Wegen ihrer tatsächli­ chen Bedeutung werden sie auch – zumeist freilich „respektvoll-ironisch“314 – als „­Dritter Senat“315 bezeichnet.

232

Das Amt der wissenschaftlichen Mitarbeiter ist weder im BVerfGG noch im Grundgesetz erwähnt. Lediglich § 13 GOBVerfG enthält diesbezüglich einige Re­ geln. So beschreibt § 13 Abs. 1 GOBVerfG die Aufgaben des wissenschaftlichen Mitarbeiters folgendermaßen: „Die wissenschaftlichen Mitarbeiter unterstützen das Mitglied des Gerichts, dem sie zugewiesen sind, bei dessen dienstlicher Tä­ tigkeit. Sie sind dabei an dessen Weisungen gebunden.“ Sie haben somit keine richterlichen Befugnisse. Gleichwohl stammen faktisch große Teile der Entschei­ dungsbegründungen von den wissenschaftlichen Mitarbeitern (s. u. Rn. 236 ff.).

233

Derzeit stehen jedem Richter am Bundesverfassungsgericht bis zu vier wissen­ schaftliche Mitarbeiter zu.316 Diese Zahl lässt allerdings bisweilen Fragen an der Steuerbarkeit der Mitarbeiter durch effektive Weisungsausübung durch die einzel­ nen Verfassungsrichter aufkommen.

234

310

Wand, in: FS Müller, 1970, S. 563 (571). S. dazu Schlink, NJW 1984, 89 ff. 312 So auch Schlink, NJW 1984, 89 (91); Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 281. 313 S. dazu Bichelmeir, Der juristische Hilfsarbeiter an den obersten deutschen Gerichten, 1971, S. 5 ff.; Wieland, in: Ellermann u. a. (Hrsg.), Verfassungsgerichte im Vergleich, 1988, S. 258 ff.; Kischel, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 69, Rn. 85 f. 314 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 48. 315 Vgl. etwa Zuck, DÖV 1974, 305; sowie – als Ausdruck des Selbstbilds der wissenschaft­ lichen Mitarbeiter  – in der „Gedächtnisschrift“ für den fiktiven ersten wissenschaftlichen Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts, Friedrich Gottlob Nagelmann, den Beitragsti­ tel von A. Weber, Probleme des Familiennachzugs aus der Sicht des Dritten Senats, in: Um­ bach / Urban / Fritz / Böttcher / v. Bargen (Hrsg.), Das wahre Verfassungsrecht. Zwischen Lust und Leistung, 1984, S. 71; sowie den Rezensionsaufsatz (zum BVerfGG-Mitarbeiterkommentar) von Mückl, DÖV 2007, 87. 316 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 48. 311

588

§ 8 Bundesverfassungsgericht

235

Vom beruflichen Hintergrund sind viele wissenschaftliche Mitarbeiter Richter bzw. Ver­ waltungsbeamte, die befristet an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet werden.317 Rechts­ anwälte und Wirtschaftsjuristen sind unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern relativ selten zu finden. Eine Abordnung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundesverfassungs­ gericht kann auch eine besondere Wertschätzung durch die entsendende Stelle enthalten. Die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter fördert regelmäßig die weitere Karriere, die manche von ihnen – Jahre später – auch als Bundesverfassungsrichter nach Karlsruhe hat zu­ rückkehren lassen.318

236

Angesichts der maßgeblich von den wissenschaftlichen Mitarbeitern vorbereite­ ten gerichtsinternen Voten zu einzelnen Verfahren kommt der Arbeit der wissen­ schaftlichen Mitarbeiter eine nicht unbeträchtliche Filterfunktion319 zu.

237

Gegen diese faktisch bedeutsame Stellung der wissenschaftlichen Mitarbeiter werden teil­ weise verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. So wird z. B. hinsichtlich der fakti­ schen „Zwischenschaltung“ der wissenschaftlichen Mitarbeiter im Rahmen von Verfassungs­ beschwerden behauptet, dass darin eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG läge.320 Auch wird die Mitarbeit im Hinblick auf das Rechtspre­ chungsmonopol der Richter (Art. 92 GG) und die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG) kritisiert.321 Da letztendlich allerdings der Richter des Bundesverfassungsgerichtes die Ver­ antwortung für die Entscheidung trägt, die wissenschaftlichen Mitarbeiter zudem weder an Beratungen noch an Entscheidungen der Senate mitwirken und die Mitarbeiter angesichts der Flut von etwa 5500 Verfassungsbeschwerden jährlich die Funktionsfähigkeit des Gerichts sichern322, muss ihre Tätigkeit wohl hingenommen werden – jedenfalls solange das Gericht selbst nicht vergrößert wird.323

238

Der Einfluss der wissenschaftlichen Mitarbeiter auf die Entscheidungen des Gerichts ist unübersehbar. Für die Zitiergewohnheiten des Bundesverfassungsgerichts sind sie regelmä­ ßig verantwortlich. Da die Mitarbeiter typischerweise jünger als ihre ‚Chefs‘ sind, können sie auch neueste rechtswissenschaftliche Entwicklungen in die Entscheidungen einbringen. Der Einfluss der Mitarbeiter kann sich aber auch darin zeigen, dass die Entscheidungen häufig viel zu lang sind und teilweise fast fallunabhängige, lehrbuchartige Passagen enthalten. Pro­ blematisch wird der Einfluss der wissenschaftlichen Mitarbeiter jedenfalls dann, wenn sie die Entscheidungsgründe bei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen praktisch allein verfassen, also zum ‚ghost writer‘ des jeweiligen Bundesverfassungsrichters werden.

317

Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 48. So in jüngerer Zeit z. B. B. Sommer, R. Jaeger, S. Broß, W. Schluckebier, J. Masing. 319 Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 277. 320 Lamprecht, NJW 2001, 419 (419 f.). 321 Besonders drastisch die Kritik bei Roellecke, KritV 74 (1991), 74 (83 f.); s. dazu auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 48, m. w. N. 322 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 48. 323 Wohl im Sinne der Wesentlichkeitstheorie wird vorgeschlagen, die Tätigkeit der wissen­ schaftlichen Mitarbeiter statt in der GO-BVerfG (Satzung) im parlamentarisch verantworteten BVerfGG zu regeln (Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 275 f.). 318

E. Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts

589

E. Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts Anders als die Verwaltungsgerichte nach § 40 VwGO wird das Bundesverfas­ sungsgericht nicht aufgrund einer Generalklausel tätig, etwa in allen Streitigkei­ ten verfassungsrechtlicher Natur. Vielmehr bestimmt sich die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach dem Enumerationsprinzip. Danach ist die Zu­ ständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in den Vorschriften des Grundgesetzes und in § 13 BVerfGG abschließend geregelt. Es darf nur judizieren, wenn seine Zuständigkeit nach diesen Vorschriften gegeben ist.324

239

Weder folgt aus der annähernd gegebenen Verfahrenssouveränität des Bundesverfassungs­ gerichts, d. h. aus der Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, sein Verfahren in weitem Umfang frei zu gestalten, noch aus der – im Einzelnen unbestimmten – Aufgabe des Bundes­ verfassungsgerichts, ‚Hüter der Verfassung‘ (dazu auch Rn. 41) zu sein, dass das Gericht ein zugelassenes Verfahren über das Gesetz hinaus gegenständlich erweitern darf.325 Auch eine Ausdehnung seiner Kompetenzen über den gesetzlich gezogenen Rah­men hinaus – etwa in analoger Anwendung der Zuständigkeitsbestimmungen – ist unzulässig.326

240

Aus dem Fehlen einer solchen Generalklausel darf aber nicht geschlossen wer­ den, dass es sachlich-inhaltliche Bereiche staatlichen Handelns gäbe, die von vor­ neherein der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Bundesverfassungs­ gericht entzogen wären. Auch decken die enumerativ aufgezählten Zuständigkeiten in ihrer Summe die wesentlichen möglichen Verfassungskonflikte ab. Allerdings ist anzumerken, dass diese zuständigkeitsbegründenden Normen möglichen Ver­ fassungsänderungen nicht entzogen sind, wie umgekehrt auch die Einführung einer zuständigkeitsbegründenden Generalklausel nicht gegen den engen Maßstab der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verstieße.

241

Wichtige Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind in Art. 93 Abs. 1 und 2 GG (bzw. § 13 BVerfGG) festgelegt. So entscheidet das Bundes­ verfassungsgericht nach geltendem Verfassungs- und Gesetzesrecht insbesondere

242

– nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 im Organstreitverfahren (s. u. Rn. 356 ff.), – nach Nr. 2 über abstrakte Normenkontrollen (s. u. Rn. 401 ff.), – nach Nr. 2a über die Erforderlichkeit von Bundesgesetzen im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG (s. u. Rn. 453 ff.), – nach Nr. 3 über Bund-Länder-Streitigkeiten (s. u. Rn. 495 ff.), – nach Nr. 4 (subsidiär) über andere Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern (Var. 1) sowie zwischen und innerhalb von Ländern (Var. 2 bzw. 3),

324

So ausdrücklich BVerfGE 13, 54 (96)  – Neugliederung Hessen, unter Verweis auf BVerfGE 1, 396 (409) – Deutschlandvertrag. 325 BVerfGE 1, 396 (408) – Deutschlandvertrag. 326 BVerfGE 2, 341 (346).

590

§ 8 Bundesverfassungsgericht

– nach Nr. 4a über individuelle Verfassungsbeschwerden (s. u. Rn. 529 ff.), – nach Nr. 4b über kommunale Verfassungsbeschwerden (s. u. Rn. 590 ff.) – nach Nr. 4c über Parteinichtanerkennungsbeschwerden bei Bundestagswahlen (s. § 2 Rn. 195 ff.) und – nach Art. 93 Abs. 2 GG über die Kompetenzfreigabe327 nach Art. 72 Abs. 4 bzw. Art. 125a Abs. 2 S. 1 GG (s. Rn. 458 ff.). 243

Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 GG verweist auf die andernorts im Grundgesetz begrün­ deten Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts, vor allem auf die in – Art. 18 S. 2 GG (Verwirkung von Grundrechten328), – Art. 21 Abs. 2, Abs. 4 GG (Verfassungswidrigkeit von politischen Parteien329), – Art. 21 Abs. 3, Abs. 4 GG (Ausschluss verfassungsfeindlicher politischer Par­ teien von staatlicher Finanzierung330), – Art. 41 Abs. 2 GG (Wahlprüfung, s. § 2 Rn. 189 ff.), – Art. 61 GG (Präsidentenanklage, s. § 5 Rn. 194 ff.), – Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG (Bund-Länder-Streit um Ausführung von Bundesgeset­ zen durch die Länder nach einer Mängelrüge, s. u. Rn. 518, 524; § 3 Rn. 229 f.), – Art. 98 Abs. 2 GG (Rechtsverstöße von Bundesrichtern331), – Art. 99 GG (Verfassungsstreit innerhalb eines Landes, s. o. Rn. 136 ff.), – Art. 100 Abs. 1 GG (konkrete Normenkontrolle, s. u. Rn. 461 ff.), – Art. 100 Abs. 2  GG (Normverifikationsverfahren bezüglich Art. 25 GG, s. u. Rn. 617), – Art. 100 Abs. 3 GG (Divergenzvorlagen von Landesverfassungsgerichten, s. o. Rn. 135), – Art. 126 GG (Streit über das Fortgelten von Recht als Bundesrecht).

244

Außerdem ermächtigt Art. 93 Abs. 3 GG in Form einer ausschließlichen Bun­ desgesetzgebungskompetenz dazu, dem Bundesverfassungsgericht durch Bundesgesetz weitere „Fälle“ zur Entscheidung zuzuweisen. Die Erweiterung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts steht also nicht unter einem Verfassungsänderungsvorbehalt. 327

Hierzu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 21, Rn. 102 ff. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 28, Rn. 87 ff. 329 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 277 ff., sowie § 28, Rn. 91 ff. 330 Vgl. zur Rechtslage vor Schaffung von Art. 21 Abs. 3, Abs. 4 GG: Kloepfer, NVwZ 2017, 913. 331 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 23, Rn. 66 ff. 328

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

591

Einfachgesetzliche Zuständigkeitsbestimmungen bestehen in unterschiedlichen Sachbe­ reichen: Beispielsweise wird durch § 33 Abs. 2 PartG – in Ergänzung von Art. 21 Abs. 2 GG – die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung verbotener Ersatzorga­ nisationen nach einem Parteiverbot bestimmt. Nach § 36 Abs. 2 PUAG entscheidet das Bundesverfassungsgericht auch über Vorlagen des regelmäßig für Streitigkeiten aus dem PUAG zuständigen Bundesgerichtshofs hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von Einsetzungsbe­ schlüssen eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags (s. § 2 Rn. 497). Auf der Ermächtigung des Art. 93 Abs. 3 GG beruhen auch § 50 Abs. 3 VwGO und § 39 Abs. 2 S. 2 SGG, nach denen das Bundesverwaltungsgericht bzw. das Bundessozialgericht eine öffentlichrechtliche Streitigkeit, die sie für verfassungsrechtlich halten, dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Weitere Fälle einfachgesetzlicher Zuständigkeitsbestimmung des Bundesverfas­ sungsgerichts finden sich in §§ 97a ff. BVerfGG (Verzögerungsbeschwerde, s. u. Rn. 292 ff.), § 105 BVerfGG (Ruhestandversetzung und Entlassung von Mitgliedern des Bundesverfas­ sungsgerichts, s. o. Rn. 189), § 14 Abs. 4a EuWG (Parteinichtanerkennungsbeschwerde bei Wahlen zum Europäischen Parlament), § 26 Abs. 3 EuWG (Wahlprüfung bei Wahlen zum Europäischen Parlament) sowie im Gesetz über das Verfahren bei Volksentscheid, Volks­ begehren und Volksbefragung nach Artikel 29 Abs. 6 des Grundgesetzes (sog. „G Artikel 29 Abs. 6“; im Einzelnen: §§ 14 Abs. 3, 24 Abs. 5, 36 Abs. 4, 39 S. 1 G Artikel 29 Abs. 6).332

245

Nachdem das Bundesverfassungsgericht nach § 97 BVerfGG a. F. zunächst auch im Vorfeld konkreter Streitigkeiten um Gutachten ersucht werden konnte, ist diese Norm bereits 1956 gestrichen worden (s. bereits oben Rn. 220 f.).333

246

F. Allgemeine Verfahrensregelungen I. Allgemeines Das BVerfGG enthält nur eine unvollständige Ordnung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. § 17 BVerfGG bestimmt, dass hinsichtlich der Öffentlichkeit des Verfahrens, der Sitzungspolizei, der Gerichtssprache und der Beratung und Abstimmung die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG)334 entsprechend anzuwenden sind. Auch im Übrigen ist das BVerfGG be­ wusst lückenhaft gestaltet, um es dem Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen, den Besonderheiten des Verfassungsprozessrechts Rechnung zu tragen.

247

So führte das Bundesverfassungsgericht selbst aus: „Das BVerfGG enthält keine erschöpfende Verfahrensregelung, sondern beschränkt sich auf wenige, unbedingt erforderliche, den Be­son­der­hei­ten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens angepaßte Bestimmungen. Im Übrigen ist es dem Gericht überlassen, die Rechtsgrundlagen für eine zweckentsprechende Gestaltung seines Verfahrens im Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrens-

248

332

Vgl. die Aufzählung bei Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 2. (Erstes) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v. 21.07.1956., BGBl. I, S. 662. 334 G. v. 27.1.1877 (RGBl., S. 41), i. d. F. der Bekanntmachung v. 9.5.1975 (BGBl. I, S. 1077), zuletzt geändert durch G. v. 10.7.2020 (BGBl. I S. 1648). 333

592

§ 8 Bundesverfassungsgericht

recht zu finden.“335 So hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise einer Beschwerde­ führerin unter Rückgriff auf das allgemeine prozessrechtliche Institut des „Armenrechts“, d. h. der Prozesskostenhilfe, wie sie für den Zivilprozess etwa in §§ 114 ZPO ff. positiviert ist, einen Anwalt beigeordnet.336

249

Angesichts dessen hat sich das Bundesverfassungsgericht zwar (missverständ­ lich) als „Herr des Verfahrens“337 bezeichnet, sich dann aber doch im Wesentli­ chen auf die Lückenfüllung im Wege der Analogie beschränkt.

250

Gleichwohl wurde im Schrifttum die vorgebliche Verfahrensautonomie des Gerichts positiv aufgegriffen,338 die „Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts“ postuliert339 und damit die Lückenhaftigkeit des BVerfGG legitimiert. Dagegen lässt sich jedoch zu Recht anführen, dass erst ein vom Gesetzgeber festgelegtes Gerichtsverfahren Legitimation und Überzeu­ gungskraft zu schaffen vermag und deshalb eine präzisere, gesetzliche, den besonderen Er­ fordernissen der Verfassungsrechtsprechung aber dennoch Rechnung tragende Verfahrens­ ordnung vorzuziehen ist.340

251

War das Konzept des Bundesverfassungsgerichts als „Herr des Verfahrens“ in den frühen fünfziger Jahren angesichts geringer Erfahrungen mit der Verfassungsgerichtsbarkeit vielleicht noch akzeptabel gewesen, so erscheint dieses Konzept über 60 Jahre später – nach Entfaltung einer ausgedehnten Verfassungsrechtsprechung  – eher überlebt. Das Festhalten an diesem Konzept begünstigt heute letztlich eine Selbstüberschätzung des Bundesverfassungsgerichts gerade auch im Hinblick auf die enge Gesetzesbindung (an Gesetze des Prozessrechts) der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Es bleibt eine wichtige gesetzgeberische Aufgabe der Zukunft, die Verfahrensregelungen des BVerfGG – unter Berücksichtigung der Verfassungs­ organqualität und der Rechtsprechung des Gerichts – zu präzisieren, zu vervollständigen und gegebenenfalls zu korrigieren.

II. Antragserfordernis und Prozessvertretung 252

In § 23 BVerfGG ist das grundsätzliche Antragserfordernis normiert.341 Im Unterschied zu anderen Verfassungsorganen342 steht dem Bundesverfassungsge­ 335

BVerfGE 1, 109 (110 f.) (Hervorh. v. Verf.). BVerfGE 1, 109. 337 BVerfGE 13, 54 (94) – Neugliederung Hessen; 60, 175 (213) – Startbahn West; 36, 342 (357) – Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz; missverständlich ist eine derartige Be­ zeichnung deshalb, weil sie auch impliziert, dass das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich seiner Verfahrensordnung nicht an Recht und Gesetz gebunden ist. 338 Zembsch, Verfahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts, 1971, passim. 339 Häberle, JZ 1973, 451 ff.; ders., in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (24); ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 414. 340 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 57. 341 Zudem bestimmen Spezialnormen zu den einzelnen Verfahrensarten das Antragserfor­ dernis, vgl. etwa §§ 36, 43, 48, etc. BVerfGG. 342 Freilich müssen auch die anderen Verfassungsorgane die verfassungsrechtliche Zustän­ digkeitsverteilung beachten, also Verbands- und Organkompetenz für eine bestimmte Auf­ gabe besitzen. Allerdings ist etwa der Deutsche Bundestag freier in seinen Möglichkeiten der ‚Selbstbefassung‘, da seine Hauptaufgabe der (Bundes-)Gesetzgebung von vorneherein gestal­ 336

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

593

richt kein Selbstbefassungsrecht zu (s. o. Rn. 45, 56), es darf vielmehr nur auf Antrag tätig werden. Selbstverständlich darf das Gericht jedoch in internen Angelegenheiten, die lediglich seinen (Verfassungsorgan-)Status betreffen, selbstständig aktiv werden. So durfte das Gericht in den 1950er Jahren in einer Statusschrift seinen Verfassungsorganstatus behaupten (s. o. Rn. 60 ff.).343 Auch darf sich das Gericht, wie im November 2017 geschehen, Verhaltensleitlinien (zum Ver­ halten innerhalb und außerhalb des Amts sowie nach Ende der Amtszeit)344 geben, soweit diese nicht gegen Verfassungs- oder Gesetzesrecht verstoßen.

253

Mit dem Antrag wird das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einge­ leitet. Dabei begrenzen die Regelungen des Grundgesetzes und des BVerfGG den Kreis der möglichen Antragsteller in Abhängigkeit von dem jeweiligen konkre­ ten Verfahren (s. u. Rn. 356 ff.). Ist der tatsächliche Antragsteller zu dem von ihm gestellten Antrag ausweislich dieser Regelungen nicht berechtigt, wird der Antrag als unzulässig verworfen und nicht in der Sache entschieden.345

254

So hat das Bundesverfassungsgericht selbst festgestellt: „Die Bestimmung des Kreises der Antragsberechtigten hat nicht nur technische Bedeutung, [sondern] hängt eng mit den verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gehalten zusammen, die dem Bundes­ verfassungsgericht zur Entscheidung zugewiesen sind. Die Antragsberechtigung kann daher nicht im Wege der Analogie aus Gründen eines vermeintlichen Sachbedürfnisses erweitert werden. Das Gericht würde damit die der Verfassungsgerichtsbarkeit vom Grundgesetz ge­ zogenen Grenzen durch Zulassung neuer Verfassungsstreitigkeiten überschreiten und so von einer wichtigen Grundentscheidung des Verfassungsgebers abweichen.“346

255

Die formellen Anforderungen an den Antrag sind in § 23 Abs. 1 BVerfGG geregelt, der entsprechend seiner systematischen Stellung im Gesetz für alle Ver­ fahren Anwendung findet. Danach ist der Antrag schriftlich einzureichen und mit einer Begründung347 zu versehen. Etwaige Beweismittel sind anzugeben. Da die Begründung ein wesentlicher Bestandteil des Antrags ist,348 muss sie grundsätzlich innerhalb der für das konkrete Verfahren geltenden Antragsfrist erfolgen.

256

Unzulässige oder offensichtlich unbegründete Anträge können nach § 24 S. 1 BVerfGG (sog. a-limine-Abweisung) durch einstimmigen Beschluss des

257

tungsoffener ist als die Aufgabe der (Verfassungs-)Rechtsprechung und nicht den vorherigen Antrag anderer Akteure, etwa eine Petition von Bürgern, zwingend voraussetzt. 343 Statusbericht des Bundesverfassungsgerichts in JöR N. F. 6 (1957), 109 ff.; vgl. hierzu auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 343, m. w. N. 344 Vgl. „Verhaltensleitlinien für Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts“; abrufbar unter http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Richter/Verhaltensleitlinie/ Verhaltensleitlinien_node.html, letzter Abruf am 20.07.2020. 345 Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 178. 346 BVerfGE 21, 52 (53 f.) – Deutsche Friedensunion (Hervorh. v. Verf.); vgl. auch 68, 346 (349). 347 Zur Bedeutung der Begründungserfordernisses als Steuerungsmittel: Schorkopf, AöR 130 (2005), 465 ff. 348 BVerfGE 21, 359 (361); 24, 252 (259).

594

§ 8 Bundesverfassungsgericht

„­Gerichts“ (das heißt: regelmäßig des zuständigen Senats, s. o. Rn. 191, 194 ff.) verworfen werden. 258

Unzulässigkeit kann etwa folgende Fälle betreffen: fehlende Zuständigkeit des Bundes­ verfassungsgerichts, fehlende Beteiligtenfähigkeit des Antragstellers, formwidriger oder ver­ fristeter Antrag oder fehlendes Rechtsschutz- oder Klarstellungsinteresse. Offensichtliche Unbegründetheit ist nur dann anzunehmen, wenn kein Gesichtspunkt erkennbar ist, der dem Antrag zum Erfolg verhelfen könnte; dies kann sich auch erst bei gründlicher Prüfung erge­ ben, muss also nicht evident sein.349

259

Der Beschluss einer a-limine-Abweisung bedarf keiner weiteren Begründung, wenn der Antragssteller vorher auf die Bedenken gegen die Zulässigkeit oder die Begründetheit hin­ gewiesen wurde (§ 24 S. 2 BVerfGG). Ein solcher Hinweis auf Zulässigkeits- oder Begründetheitsbedenken erfolgt regelmäßig in einem sog. „Berichterstatterschreiben“ des Bericht­ erstatters an den Antragsteller.350

260

Für die Einreichung des Antrags besteht kein Anwaltszwang. Nicht zuletzt deshalb kann es vorkommen, dass die konkrete Verfahrensart vom Antragsteller falsch bezeichnet wird. Das Bundesverfassungsgericht ist an diese Formulierung aber nicht gebunden, sondern vielmehr gehalten, das Antragsbegehren dem zu­ grundeliegenden Sachverhalt zu entnehmen und selbst die rechtliche Zuordnung zu einem zulässigen Verfahren vorzunehmen.351

261

Nur in der mündlichen Verhandlung müssen sich die Beteiligten von einem Rechtsanwalt oder einem Rechtslehrer352 vertreten lassen – obligatorische Prozessvertretung (§ 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BVerfGG) –, im übrigen Verfahren darf ein Rechtsanwalt oder Rechtlehrer zur Vertretung herangezogen werden – fakultative Prozessvertretung (§ 22 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BVerfGG).

262

Sondervorschriften bestehen für „[g]esetzgebende Körperschaften und Teile von ihnen, die in der Verfassung oder in der Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet sind“, also etwa Fraktionen: Diese können sich auch durch ihre Mitglieder, also Bundestags- oder Landtagsabgeordnete bzw. Mitglieder des Bundesrats vertreten lassen (§ 22 Abs. 1 S. 2 BVerfGG). Der Bund (d. h. die Bundesrepublik Deutschland), die Länder und ihre Verfassungsorgane können sich außerdem durch ihre Beamten (mit Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst) vertreten lassen (§ 22 Abs. 1 S. 3 BVerfGG).

349

Vgl. Dollinger, in: Umbach / Clemens / ders., BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 24, Rn. 12 ff., 23, m. w. N. 350 Vgl. Dollinger, in: Umbach / Clemens / ders., BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 24, Rn. 28. 351 Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 180. 352 Zur genauen Abgrenzung dieses Begriffs v. Lewinski, in: FS Hartung, 2008, S. 93 (96 m. Fn. 17).

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

595

III. Keine umfassende Dispositionsmaxime Trotz des grundsätzlichen Antragserfordernisses besteht vor dem Bundesver­ fassungsgericht keine umfassende Dispositionsmaxime353, d. h. keine vollständige Verfügungsgewalt des Antragstellers über den Antragsgegenstand. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt der Antragsteller nicht Herr des Verfahrens, sondern initiiert dieses in der Regel nur.

263

Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass der Antragsteller mit dem einmal gestellten Antrag seine Dispositionsfähigkeit hinsichtlich des Antrags­ gegenstands jedenfalls dann verliert, wenn eine Entscheidung des Bundesverfas­ sungsgerichts im öffentlichen Interesse geboten ist. Es kann dann zu einer Ent­ scheidung des Gerichts trotz Antragsrücknahme kommen.354 In der Regel führt die Antragsrücknahme aber zur Beendigung des Verfahrens.

264

Bei Verfassungsbeschwerden ist dies z. B. der Fall, wenn „das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde vor Abschluß des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens nach § 93a BVerfGG im Hinblick darauf zur Entscheidung an­ge­nommen hat, daß die Beschwerde im Sinne des § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG von allgemeiner Bedeutung ist, wenn deswegen über sie mündlich verhandelt worden ist und wenn die allgemeine Bedeutung auch in der Zeit bis zur Urteilsverkündung nicht entfallen ist“.355 Eine solche Überbewertung der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde gegenüber ihrer individuellen Rechtschutzfunktion ist durchaus nicht unproblematisch.356

265

Der Tod des Beschwerdeführers bewirkt bei einer Verfassungsbeschwerde zur Durchset­ zung höchstpersönlicher Rechte grundsätzlich die Erledigung eines anhängigen Verfassungs­ beschwerdeverfahrens.357 Nach – problematischer – Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gilt dies allerdings nicht ausnahmslos.358 Im Einzelfall soll das Gericht auch nach dem Tod des Beschwerdeführers über die Vereinbarkeit eines Hoheitsakts mit den Grundrechten entschei­ den dürfen, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage künftig für eine Vielzahl von Personen oder Sachverhalten von Interesse ist und deshalb allgemeine verfassungsrechtliche Bedeutung hat.359 Ob es allerdings auch schon ausreicht, dass eine anhängige Sache entscheidungsreif ist, vom Senat bereits beraten wurde und dass das Verfahren unmittelbar vor dem Abschluss steht,360 kann bezweifelt werden.

267

353

S. dazu Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, Vor § 17, Rn. 8 ff. Vgl. zur Entscheidung trotz Antragsrücknahme etwa BVerfGE 1, 396 (414 f.) – Deutsch­ landvertrag (abstrakte Normenkontrolle); 24, 299 (300) – Organstreitverfahren; 98, 218 (242) – Rechtschreibreform (Verfassungsbeschwerde). 355 BVerfGE 98, 218 (242 f.) – Rechtschreibreform; Hervorh. d. Verf. 356 Zum Streit s. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 58; Wagner, NJW 1998, 2638 ff.; Hund, in: FS Faller, 1984, S. 63 ff.; der Rechtsprechung des Bun­ desverfassungsgerichts zustimmend: Cornils, NJW 1998, 3624 ff. 357 BVerfGE 6, 389 (442 f.) – Homosexuelle; 12, 311 (315); 109, 279 (304) – Großer Lausch­ angriff; BVerfGK 9, 62 (69). 358 BVerfGE 6, 389 (442) – Homosexuelle. 359 BVerfGE 124, 300 (318) – Wunsiedel. 360 So aber BVerfGE 124, 300 (318) – Wunsiedel. 354

596 268

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Auch im Hinblick auf den Umfang des Prüfungsgegenstands verliert der An­ tragsteller mitunter seine Dispositionsfähigkeit. So ist es dem Bundesverfassungs­ gericht bspw. nach § 67 S. 3 BVerfGG in einem Organstreit361 (s. u. Rn. 356 ff.) und – über § 69 BVerfGG – in einem Bund-Länder-Streit (s. u. Rn. 495 ff.) sowie nach § 78 S. 2 BVerfGG bei einer abstrakten Normenkontrolle (s. u. Rn. 401 ff.) möglich, eine über den Antrag hinausgehende Entscheidung zu treffen. Der zivilprozessuale Grundsatz ‚ne ultra petita‘ – ‚nicht über das (vom Antragsteller) Geforderte hinaus‘  – findet vor dem Bundesverfassungsgericht also nur einge­ schränkte Anwendung.362

IV. Untersuchungsgrundsatz 269

Die zur Erforschung der Wahrheit der erforderlichen Beweise sind gemäß § 26 Abs. 1 S. 1 BVerfGG vom Bundesverfassungsgericht zu erheben. Insofern unter­ liegt das Bundesverfassungsgericht dem Untersuchungsgrundsatz.363

270

Eine gewisse Erleichterung erfährt das Bundesverfassungsgericht durch § 33 Abs. 2 BVerfGG: Danach kann es in seiner Entscheidung den Sachverhalt eines rechtskräftigen Urteils zugrunde legen, sofern dieses unter der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes zustande gekommen ist.364 Auch sonst wird der Unter­ suchungsgrundsatz des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zu den Instanz­ gerichten365 (s. o. Rn. 125 ff.) und zum Gesetzgeber366 modifiziert.367

271

Der Untersuchungsgrundsatz hindert die Beteiligten nicht, bestimmte Tat­ sachenermittlungen anzuregen. Der Antragsteller soll sogar schon im Antrag bestimmte Beweismittel benennen (vgl. § 23 Abs. 1 S. 2 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht ist an solche Vorschläge aber nicht gebunden und muss entsprechende Einzelanträge auch nicht gesondert bescheiden. Der verfahrens­ einleitende Antrag (s. Rn. 252 ff.) muss allerdings insgesamt beschieden werden (s. a. Rn. 300 ff.). 361

Außerdem besagt Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, dass das Bundesverfassungsgericht konkrete Organstreitigkeiten zum „Anlaß“ nehmen kann, um über die „Auslegung [des] Grundgesetzes“ zu entscheiden; dazu unten Rn. 397. 362 Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 2, Rn. 36; Detterbeck, Streitgegen­ stand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 307, welcher die Begrenzt­ heit der Abweichungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts betont. 363 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 60, mit Verweis auf BVerfGE 15, 249 (253). 364 Vgl. insb. § 244 Abs. 2 StPO und § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO. 365 Zum Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Instanzgerichten, s.o Rn. 125, so­ wie Alleweldt, Bundesverfassungs­gericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006. 366 So unterliegen etwa die zu regelnden Lebensverhältnisse, ihre Entwicklung und die gegen­ wärtigen und künftigen Wirkungen der konkret getroffenen Maßnahmen in erster Linie der Beurteilung durch den Gesetzgeber. In diesem Bereich besteht also ein Gestaltungsspielraum, der nur eingeschränkt durch das Bundesverfassungsgericht untersucht werden darf. 367 Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, Vor § 17, Rn. 6 f.

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

597

V. Grundsatz der Öffentlichkeit Auch vor dem Bundesverfassungsgericht gilt der Grundsatz der Öffentlichkeit. Das folgt aus dem Verweis in § 17 BVerfGG auf die Titel 14 bis 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes und somit an sich auch auf § 169 GVG.

272

In Abweichung vom grundsätzlichen Verbot von audio-visueller Berichterstat­ tung aus dem Gerichtssaal (§ 169 Abs. 1 S. 2 GVG) lässt § 17a Abs. 1 BVerfGG Ton- und Filmaufnahmen in eingeschränktem Umfang zu, nämlich bis das Ge­ richt die Anwesenheit der Beteiligten festgestellt hat sowie bei der öffentlichen Verkündung der Entscheidungen.

273

Bis zum Jahr 2018 hatte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der partiellen Zulässig­ keit von audio-visuellen Aufnahmen eine Alleinstellung inne. Diese ließ sich auch aus seinem Charakter als Verfassungsorgan und der oftmals grundlegenden gesellschaftspolitischen Bedeutung der Entscheidungen rechtfertigen. Rechtspolitisch sind aber auch in den Fachge­ richtsbarkeiten Aufnahmeverbote bei entsprechenden Prozesssituationen nicht mehr zwingend. Für den Bundesgerichtshof besteht seit 2018 nach § 169 Abs. 3 GVG ebenfalls die grundsätz­ liche Möglichkeit der audio-visuellen Berichterstattung bei der Entscheidungsverkündung.

274

Für die eigentliche Verhandlung und nach § 17a Abs. 2 BVerfGG bei besonderer Schutzbedürftigkeit Beteiligter oder Dritter bleibt es aber auch beim Bun­ desverfassungsgericht grundsätzlich bei dem Verbot des § 169 Abs. 1 S. 2 GVG.368

275

Im Jahr 2018 wurde § 17a BVerfGG teilweise erweitert:369 Gemäß § 17a Abs. 3 S. 1 BVerfGG können nun (nicht-öffentliche) Tonaufnahmen der eigentlichen Verhandlung zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken durch Senats­ beschluss zugelassen werden, wenn es sich um ein Verfahren von herausragen­ der zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland handelt. Diese Tonaufnahmen sind allerdings nicht etwa für die mediale Berichterstattung bestimmt, sondern dem Bundesarchiv zur Prüfung, ob sie einen bleibenden Wert aufweisen, zu übergeben (§ 17a Abs. 3 S. 4 BVerfGG). Für die ordentliche Fach­ gerichtsbarkeit enthält § 169 Abs. 2 GVG eine entsprechende Parallelvorschrift.

276

VI. Grundsatz der Mündlichkeit Das Bundesverfassungsgericht trifft seine Entscheidungen gemäß § 25 Abs. 1 BVerfGG regelmäßig aufgrund einer mündlichen Verhandlung. Die Entschei­ dungen aufgrund mündlicher Verhandlung heißen Urteile, die ohne mündliche Verhandlung werden als Beschlüsse bezeichnet (§ 25 Abs. 2 BVerfGG).

277

Ausnahmen vom Grundsatz der mündlichen Verhandlung bestehen für die Ver­ fassungsbeschwerde nach § 94 Abs. 5 S. 2 BVerfGG – die mündliche Verhandlung

278

368 369

BVerfGE 103, 44 (62 ff.) – Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal II. G. v. 8.10.2017 (BGBl. I S. 3546), m. W.v. 18.4.2018.

598

§ 8 Bundesverfassungsgericht

ist hier praktisch die Ausnahme – sowie in den Verfahren über die Annahme von Verfassungsbeschwerden in den Kammern und vor dem Senat (§ 93d Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 93b BVerfGG). Gleiches gilt für die Vorverfahren im Zuge der Entschei­ dung über eine Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 S. 2 GG und über die Ver­ fassungswidrigkeit einer politischen Partei nach Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG, wie man der Formulierung „beschließt“ in den § 37 bzw. § 45 BVerfGG entnehmen kann (vgl. § 25 Abs. 2 BVerfGG). Weitere gesetzliche Ausnahmen von dem Grundsatz der Mündlichkeit sind für die Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfah­ rens im Zusammenhang mit der Richteranklage vorgesehen (§ 61 Abs. 2 BVerfGG) und für Verfahren nach dem Untersuchungsausschussgesetz (§ 66a BVerfGG). 279

Im Übrigen steht die mündliche Verhandlung zur gemeinsamen Disposition aller Beteiligten (§ 25 Abs. 1 a. E.  BVerfGG). Das gilt allerdings nicht für die Verfahren der Präsidentenanklage (§ 55 Abs. 1 BVerfGG) und der Richteranklage (§ 58 Abs. 1 i. V. m. § 55 Abs. 1 BVerfGG), der Amtsentfernung eines Bundesver­ fassungsrichters (§ 105 Abs. 3 i. V. m. § 55 BVerfGG) sowie über den Widerspruch gegen den Erlass bzw. die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 3 S. 3 BVerfGG), in denen die mündliche Verhandlung zwingend vorgeschrieben ist.

VII. Mehrheitserfordernisse, Sondervoten 280

Die Senate entscheiden grundsätzlich mit der „Mehrheit der an der Entscheidung mitwirkenden Mitglieder des Senats“ (§ 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG), d. h. der Mehrheit der bei einer Entscheidung abgegebenen Stimmen (Abstimmen­ denmehrheit; s. § 1 Rn. 118), wobei der Senat allerdings erst bei der Anwesenheit von sechs Richtern beschlussfähig ist (§ 15 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Die Beschluss­ fähigkeit des Plenums (s. o. Rn. 214 ff.) des Bundesverfassungsgerichts wird in § 16 Abs. 2 BVerfGG geregelt (Anwesenheit von jeweils zwei Dritteln der Richter jedes Senats).

281

Die Entscheidungen über eine Präsidentenanklage (s. § 5 Rn. 194 ff.), eine Rich­ teranklage370, eine Grundrechtsverwirkung371 oder ein Parteiverbot372 setzen indes ausnahmsweise eine Zwei­drittelmehrheit der Mitglieder im Senat voraus (qua­ lifizierte Mitgliedermehrheit; s. § 1 Rn. 131), falls für den Antragsgegner (Bundes­ präsident, Richter, Grundrechtsträger bzw. Partei) nachteilig entschieden werden soll (§ 15 Abs. 4 S. 1 BVerfGG).373 Diesen Entscheidungen ist gemeinsam, dass sie 370

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 23, Rn. 66 ff. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 28, Rn. 87 ff. 372 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 277 ff. 373 Bei Grundrechtsverwirkung und Parteiverbotsverfahren muss auch die Entscheidung im sog. ‚Vorverfahren‘, „ob die Verhandlung durchzuführen ist“ (vgl. §§ 37, 45 BVerfGG), im Falle einer dem Antragsgegner nachteiligen Entscheidung, d. h. im Fall der Durchführung des Verfahrens, mit Zwei-Drittel-Mehrheit getroffen werden; vgl. Waldhoff, in: Walter / Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 7. Ed. 2019, § 45, Rn. 7. 371

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

599

gewissermaßen strafprozessähnlich funktionieren und zu tiefgreifenden Folgen für konkrete Individuen bzw. Amtsträger führen.374 Ein Verstoß gegen die Verfassung oder gegen sonstiges Bundesrecht wird nicht festgestellt, wenn die Richter eines Senats mit Stimmengleichheit, d. h. mit vier gegen vier oder drei gegen drei Stimmen votieren (§ 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG). Dies ist häufig Anlass für eine Mitteilung der Stimmenverhältnisse nach § 30 Abs. 2 S. 2 BVerfGG.

282

Von der – seit Einfügung durch das Vierte Änderungsgesetz zum BVerfGG375 im Jahr 1970 nach § 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG i. V. m. § 55 GO-BVerfG bestehenden – Möglichkeit des einzelnen oder mehrerer Richter, ein Sondervotum376 (auch: dissenting opinion, dissenting vote) abzugeben, d. h. gesondert zu votieren und dies zu veröffentlichen, wurde in der Vergangenheit relativ rege Gebrauch gemacht. Der Richter muss allerdings seine abweichende Meinung schon in den Beratungen geltend gemacht haben.377 Die Abweichung kann sich auf die Entscheidung, d. h. das Ergebnis, oder auf die Begründung (concurring opinion) beziehen.378

283

Ein Sondervotum ist mehr als ein persönlicher und unverbindlicher Beitrag. Er signalisiert nicht selten eine entwicklungsoffene Verfassungsrechtsprechung. Mitunter lässt sich an ihrer Zahl, ihren Autoren und vor allem an ihren Argu­ menten ein Trend ablesen, der zu einer Wende in der Verfassungsrechtsprechung führt, sobald diese Stimmen die Mehrheitsmeinung im Senat hinter sich sammeln können.379

284

Sondervoten gehen maßgeblich auf das US-amerikanische Vorbild zurück, sind aber oder gerade deswegen eher Fremdkörper im deutschen Prozessrecht geblieben.380 Sie sind jeden­

285

374

Vgl. Eschelbach, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 15, Rn. 111. G. v. 21.12.1970, BGBl. I S. 1765. 376 Dazu Zierlein, DÖV 1981, 83 ff.; Mahrenholz, in: Hoppe u. a. (Hrsg.), Rechtspre­ chungslehre – 2. Internationales Symposium Münster 1988, 1992, S. 167 ff.; Geiger, Abwei­ chende Meinungen zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1989; Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 33 ff.; Roellecke, in: FG 50  Jahre BVerfG, Bd. I, 2001, S. 363 ff. 377 Dies ergibt sich unmittelbar aus der Formulierung des § 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG: „seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung.“ 378 Die ergibt sich unmittelbar aus der Formulierung des § 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG: „abwei­ chende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung.“ 379 So geschehen etwa bei den früheren Entscheidungen zur Unzulässigkeit der Parteien­ finanzierung, vgl. BVerfGE 73, 40 ff. – Parteienfinanzierung III (mit abweichender Meinung auf Seite 103 ff.) und die spätere Angleichung der Rechtsprechung an die frühere dissenting opinion in BVerfGE 85, 264 ff – Parteienfinanzierung VI. Eine ähnlich Entwicklung in der Abtreibungsrechtsprechung, vgl. BVerfGE 39, 1 ff. – Schwangerschaftsabbruch I (abweichende Meinung auf Seite 68 ff.); und die spätere Angleichung der Rechtsprechung an diese abwei­ chende Meinung in BVerfGE 88, 203 ff. – Schwangerschaftsabbruch II. 380 Eingehend zu beiden Aspekten (angloamerikanischer Einfluss und Fremdkörpercharakter im deutschen Recht) Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007, S. 480 ff. 375

600

§ 8 Bundesverfassungsgericht

falls in aller Regel nicht geeignet, die Überzeugungskraft der Entscheidung zu steigern381 und können dazu führen, die Kompromisssuche bei den Beratungen zu früh zu beenden. Dagegen stand die hehre Vorstellung, dass die Unterschiedlichkeit rechtlicher Auffassungen und die mögliche Pluralität der Ansichten nach außen dokumentiert werden sollten.382 Letztlich wird in gewisser Hinsicht mit dem dissenting vote die Person (des Richters) über die Institution ge­ stellt. Es kann auch richterliche Eitelkeiten befriedigen oder verstärken. Man könnte deshalb über seine Abschaffung nachdenken. Es ist jedenfalls nicht einzusehen, dass das Sondervotum nur für das Bundesverfassungsgericht zulässig ist, für die obersten Gerichtshöfe des Bundes hingegen nicht. Am Gerichtshof der Europäischen Union ist die Möglichkeit von Sondervoten bislang nicht vorgesehen; ihre Einführung wird jedoch rechtspolitisch diskutiert.383

VIII. Unterscheidung von Zulässigkeit und Begründetheit 286

Sämtliche Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (aber auch vor anderen Gerichten wie z. B. Verwaltungsgerichten) sind durch die Unterscheidung einer Zu­ lässigkeits- und einer Begründetheitsstufe gekennzeichnet. Hinter dieser zunächst einmal begrifflichen Unterscheidung verbirgt sich die Frage, ob das Bundesverfas­ sungsgericht in dem konkreten Rechtstreit zur Sache entscheidet oder nicht. Des­ halb lassen sich die Zulässigkeitsvoraussetzungen auch als Sachentscheidungsvoraussetzungen bezeichnen.

287

Bei den auf der Zulässigkeitsstufe zu prüfenden Voraussetzungen unterscheidet man allgemeine, für alle Verfahrensarten geltende Sachentscheidungsvoraussetzungen von besonderen, verfahrensspezifischen Sachentscheidungsvoraussetzungen, die zusätzlich zu den allgemeinen Anforderungen in der jeweiligen Verfah­rensart gelten.

288

Allgemeine und besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen erlangen ihre besondere Bedeutung vor allem im Hinblick auf die – verfassungsrechtlich nor­ mierte – Abgrenzung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts: Nur wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen, darf das Bundesverfas­ sungsgericht das Verhalten eines anderen staatlichen Organs, häufig eines Verfas­ sungsorgans, am Maßstab der Verfassung prüfen und gegebenenfalls für nichtig 381

Eher positiv zur Wirkung von Sondervoten hingegen der frühere Bundesverfassungsrich­ ter U. Steiner im Interview, ZRP 2007, 245, der jedoch während seiner zwölfjährigen Amtszeit kein einziges Sondervotum selbst verfasst hatte. 382 Vgl. das enthusiastische Plädoyer von Häberle, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 31 (38): Son­ dervotum als „das glücklichste Instrument zur Öffnung der Verfassungsgerichtsbarkeit zur offenen Gesellschaft hin.“ 383 Plädoyer für die Einführung von Sondervoten beim EuGH, um „die notwendige Kor­ relation von (supranationaler) Rechtsprechung und gesellschaftlich-politischer Wirklichkeit gerade in den von negativer Integration (durch Recht) besonders betroffenen kontinentalen und skandinavischen Sozial- und Wohlfahrtstaaten wieder herzustellen“ bei Höreth, Der Staat 50 (2011), 191.

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

601

erklären. Es besteht – wie erwähnt – kein Selbstbefassungsrecht des Bundesver­ fassungsgerichts (s. o. Rn. 45, 58, 252). Wegen dieser besonderen Bedeutung der Zu­lässigkeitsvoraussetzungen sind diese erstens von Amts wegen zu prüfen und zweitens nicht disponibel.384 Die Hintereinanderschaltung von Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung entspricht maßgeblich auch prozessökonomischen Erwägungen. Ein unzulässi­ ger Antrag braucht nämlich nicht mehr auf seine Begründetheit hin untersucht zu werden.

289

In einem Rechtsgutachten, beispielsweise in der staatsrechtlichen Klausur, ist die Prüfung der Begründetheit hinter der Zulässigkeitsprü­fung deshalb unverzichtbar, selbst wenn das Bundesverfassungsgericht bisweilen (bei der Entscheidungsfindung) umgekehrt vorgehen mag.385

290

IX. Beurteilungsmaßstab Variiert der konkrete Beurteilungsmaßstab für die durch das Bundesverfas­ sungsgericht zu treffende Entscheidung auch von Verfahren zu Verfahren, so bestehen doch vielfältige übergreifende Gemeinsamkeiten. Insbesondere kann das Bundesverfassungsgericht seinen Beurteilungsmaßstab stets nur im (Verfassungs-)Recht des Bundes und nicht in der politischen Zweckmäßigkeit finden. Das unterscheidet das Gericht vom Gesetzgeber. Freilich ist es z. B. bei der Aus­ legung unbestimmter Verfassungsbegriffe nicht immer leicht, die rechtliche von der politischen Argumentation zu unterscheiden. Dem Bundesverfassungsgericht gelingt dies auch nicht immer.

291

X. Angemessene Verfahrensdauer Die im Jahr 2011386 geschaffenen Vorschriften der §§ 97a – 97e BVerfGG gehen davon aus, dass das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – wie übrigens auch das Verfahren vor anderen Gerichten – in angemessener Dauer durchzufüh­ ren ist. Damit wird der Gedanke des Rechtsschutzes in angemessener Zeit, wie er z. B. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, aber auch der Idee des effektiven Rechtsschutzes bzw. des effektiven Justizgewährungsanspruchs zugrunde liegt,387 einfach-gesetz­ lich konkretisiert und über die Verzögerungsbeschwerde (s. u. Rn. 298) prozessual abgesichert.

384

Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 228. Quod licet Iovi, non licet bovi. 386 Durch G. v. 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302). 387 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 74, Rn. 22 ff.; vgl. ferner dens., Ver­ fassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 10, Rn. 229 ff. 385

292

602

§ 8 Bundesverfassungsgericht

293

Hinsichtlich der Verfahrensdauer ist zwischen der Dauer des dem verfassungs­ gerichtlichen Verfahren ggf. vorgelagerten fachgerichtlichen Verfahrens und der Dauer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens selbst zu unterscheiden. Für das fachgerichtliche Verfahren gelten die spezifischen Vorgaben für die entsprechende Fachgerichtsbarkeit, etwa § 198 GVG; für das verfassungsgerichtliche Verfahren gelten die §§ 97a ff. BVerfGG.

294

Die Angemessenheit der Dauer des Verfahrens ist schwer generell festzulegen. § 97a Abs. 1 S. 2 BVerfGG verweist auf die „Umständ[e] des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Aufgaben und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts.“ Jedenfalls wird man eine Verfahrensdauer von einem Jahr vor dem Bundesverfas­ sungsgericht in der Regel noch nicht als unangemessen ansehen. Hierfür spricht die Tatsache, dass eine Verzögerungsrüge gemäß § 97b Abs. 1 S. 4 BVerfGG frühes­ tens zwölf Monate nach Eingang des Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht zulässig ist (s. u. Rn. 299).

295

Kriterien für die Beurteilung der (Un-)Angemessenheit der Verfahrensdauer sind insbe­ sondere die subjektive Bedeutung der Sache für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falls, die Abgrenzung der Verantwortung für etwaige Verfahrensverzögerungen und die Gesamtdauer des Verfahrens.388

296

Rechtsfolge der unangemessenen Dauer eines Verfahrens vor dem Bundes­ verfassungsgericht ist unter einigen weiteren Voraussetzungen ein Anspruch auf angemessene Entschädigung (§ 97a Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Diese weiteren Voraus­ setzungen sind gemäß § 97a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BVerfGG: Der Anspruchsteller muss Verfahrensbeteiligter des verfassungsgerichtlichen Verfahrens oder Beteiligter in einem zur Herbeiführung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus­ gesetzten Verfahren sein. Außerdem muss der Anspruchsteller einen materiellen oder immateriellen Nachteil erlitten haben.

297

Ein immaterieller Nachteil wird nach § 97a Abs. 2 S. 1 BVerfGG vermutet, wenn ein Ver­ fahren vor dem Bundesverfassungsgericht unangemessen lange gedauert hat (wenn also die materielle Anspruchsvoraussetzung vorliegt; s. o. Rn. 293 ff.). Gesetzlicher Richtwert für die angemessene Entschädigung ist insoweit (d. h. nur für den vermuteten immateriellen Schaden) 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung (§ 97a Abs. 2 S. 3 BVerfGG), soweit Wiedergutma­ chung nicht auf andere Weise ausreichend ist und soweit sich aus den Umständen des Einzel­ falles nicht ergibt, dass ein höherer oder niedrigerer Betrag billig ist.

298

Die Durchsetzung des Anspruchs auf angemessene Entschädigung erfolgt über die Verzögerungsbeschwerde (§ 97b Abs. 1 S. 1 BVerfGG), über die die Beschwerdekammer (s. o. Rn. 210 ff.) entscheidet. Die Verzögerungsbeschwerde bedarf der Schriftform und Begründung (§ 97b Abs. 2 S. 2 BVerfGG).

299

Eine Verzögerungsbeschwerde setzt voraus, dass der Beschwerdeführer zuvor eine schriftliche Verzögerungsrüge erhoben hat, in welcher er die Umstände, 388 Vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung bei v. Ungern-Sternberg, in: Walter / ​ Grüne­wald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 7. Ed. 2019, § 97a, Rn. 14 f., m. w. N.

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

603

die die Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen, darlegt (§ 97b Abs. 1 S. 2 BVerfGG). Eine Verzögerungsrüge ist frühestens zwölf Monate nach Eingang des Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht zulässig (§ 97b Abs. 1 S. 3 BVerfGG). Eine Verzögerungsbeschwerde kann frühestens sechs Monate nach Erheben einer Verzögerungsrüge erhoben werden (§ 97b Abs. 2 S. 1 BVerfGG).

XI. Entscheidung Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergehen nach § 25 Abs. 4 BVerfGG „im Namen des Volkes“. Sie sind regelmäßig Endentscheidungen, kön­ nen aber auch gem. § 25 Abs. 3 BVerfGG Teil- oder Zwischenentscheidungen sein. Die bundesverfassungsgerichtliche Ent­scheidung erfolgt dabei – wie erwähnt (s. o. Rn. 277) – abhängig davon, ob eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat oder nicht, entweder als Urteil oder als Beschluss (§ 25 Abs. 2 BVerfGG).

300

Das Bundesverfassungsgericht ist verpflichtet, auf jeden verfahrenseinleiten­ den389 Antrag hin auch eine Entscheidung zu treffen, die unter der Feststellung des Sachverhalts und der Anwendung des objektiven Rechts auf ihn ergeht (Entscheidungszwang).390

301

Formelle Anforderungen an die Entscheidung, an die Entscheidungsfindung und an die anschließende Entscheidungsverkündung finden sich in § 30 BVerfGG. Gemäß § 30 Abs. 1 S. 1 BVerfGG muss das Gericht etwa in geheimer Beratung entscheiden. § 30 Abs. 1 S. 2 BVerfGG bestimmt, dass die Entscheidung schrift­ lich abzufassen, zu begründen und von den Richtern, die bei ihr mitgewirkt ha­ ben, zu unterzeichnen ist. Satz 3 der Vorschrift fordert schließlich eine öffentliche Verkündung unter Mitteilung der wesentlichen Entscheidungsgründe, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. In jedem Fall hat eine Bekanntgabe der Entscheidung an die Beteiligten zu erfolgen (§ 30 Abs. 3 BVerfGG).

302

Der Inhalt des Entscheidungsausspruchs variiert. Bedingt ist er dabei nicht nur durch die konkrete Verfahrensart, sondern vor allem auch durch das jeweilige Entscheidungsziel.391 Die Darstellung der Entscheidungsinhalte hat daher dies­ bezüglich zu differenzieren.392

303

Möchte das Bundesverfassungsgericht etwa den Antrag als unzulässig ablehnen, kann es sich grundsätzlich auf keine verbindliche Formulierung des BVerfGG stützen.393 Unzulässige Anträge werden daher unter Zugrundlegung uneinheitlicher Begrifflichkeiten „ver-

304

389

Zur a-limine-Abweisung s. o. Rn. 257. Zur Besonderheit des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden nach den §§ 93a ff. BVerfGG s. Rn. 539 ff. 391 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 370. 392 S. zum Folgenden: Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 370 ff. (sehr lesenswert). 393 Zur a-limine-Abweisung vgl. jedoch § 24 S. 1 BVerfGG: „verworfen“, s. o. Rn. 257. 390

604

§ 8 Bundesverfassungsgericht

worfen“394 oder „abgelehnt“.395 Unbegründete Anträge werden „zurückgewiesen“;396 bei Normen­kontrollverfahren stellt das Gericht in diesem Fall gemäß § 31 Abs. 2 S. 2 u. 3 BVerfGG auch bisweilen positiv die Vereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz fest. In Organstreit­ verfahren (s. u. Rn. 356 ff., 396 ff.) und föderativen Streitigkeiten (s. u.  Rn. 495 ff.) trifft das Ge­ richt die Feststellung, „ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt“ (§§ 67 S. 1, 69, 72 Abs. 2, 74 BVerfGG).

305

§ 95 Abs. 1 BVerfGG beschreibt den notwendigen Inhalt einer begründeten Verfassungsbeschwerde. Die Entscheidung muss feststellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes durch welche Handlung oder Unterlassung verletzt wurde (§ 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Gemäß § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG kann das Bundesver­ fassungsgericht zugleich aussprechen, dass jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz „verletzt“ (eigentlich: ‚verletzen würde‘).

306

Bei begründeten Urteilsverfassungsbeschwerden (s. a. Rn. 588 f.) stellt das Bundesver­ fassungsgericht gemäß § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG zunächst fest, welche Vorschrift des Grund­ gesetzes durch welche Handlung oder Unterlassung verletzt wurde. Das das Grundgesetz verletzende Urteil wird nach § 95 Abs. 2 Hs. 1 BVerfGG ganz oder teilweise aufgehoben. Ge­ mäß § 95 Abs. 2 Hs. 2 BVerfGG verweist das Bundesverfassungsgericht „in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1“ BVerfGG, d. h. dann, wenn ein Rechtsweg zu den Fachgerichten besteht, die Sache an ein zuständiges Gericht zurück.397 Dieses Gericht hat dann unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts erneut über die Sache zu entscheiden. Bis­ weilen hat das Bundesverfassungsgericht allerdings selbst die Sache ohne Zurückweisung an die Gerichte abschließend entschieden398 oder nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Urteils die Aufhebung des Aktes entgegen dem Wortlaut des § 95 Abs. 2 Hs. 1 BVerfGG unterlassen.399 Ob derartige Entscheidungsaussprüche rechtmäßig sind, bleibt fraglich.400

307

Gelangt das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren der konkreten oder abstrakten Normenkontrolle oder in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu dem Ergebnis, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist (s. dazu auch Rn. 79 ff.), so hat es das Gesetz oder auch die einzelne Norm gemäß der einschlägigen §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG regelmäßig für nichtig zu erklären. Dies gilt ebenso für Verordnungen und Satzungen, die im Wege der Verfassungsbeschwerde 394

BVerfGE 62, 194 (195); 68, 176 ff. BVerfGE 65, 101 ff. 396 BVerfGE 62, 1 (4) – Bundestagsauflösung; 87, 1 (4) – Trümmerfrauen. 397 Kritisch zur Formulierung des § 95 Abs. 2 Hs. 2 BVerfGG, welche verkenne, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz sei: Stark, in: Umbach / Clemens / Dol­ linger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95, Rn. 48. 398 BVerfGE 35, 202 (203 f., 244) – Lebach. 399 BVerfGE 89, 381 ff. – Volljährigenadoption; 91, 125 (139) – Fernsehaufnahmen im Ge­ richtssaal I. 400 Zur Kritik, s. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 376; siehe jedoch Stark, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95, Rn. 48, welcher darauf hinweist, dass das Bundesverfassungsgericht kein Superrevisionsgericht sei und ihm ein anderer Streitgegenstand vorliege als den Fachgerichten, sodass sich das Ver­ fahren der Verfassungsbeschwerde mit Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erledige und nichts verbleibe, was an die Fachgerichte zurückverwiesen werden könne. 395

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

605

oder der abstrakten Normenkontrolle angegriffen werden. Die Nichtigkeitserklä­ rung wirkt ex tunc, das Gesetz wird also von Anfang an als nichtig angesehen.401 Eigentlich müssten damit alle Rechtsvollzugsakte, die zwischenzeitlich auf Grundlage des Gesetzes ergangen sind, ebenso unwirksam sein. Hier greift allerdings § 79 Abs. 2 BVerfGG ein, der für die Mehrzahl der Fälle bestimmt, dass die in der Vergangenheit auf der Grundlage des verfassungswidrigen Gesetzes ergangenen und nicht mehr anfechtbaren Einzelakte weit­ gehend bestehen bleiben. Bei Strafurteilen ist immerhin die Wiederaufnahme des Verfahrens nach der Strafprozessordnung zulässig (§ 79 Abs. 1 BVerfGG).

308

Daneben hat das Bundesverfassungsgericht allerdings immer wieder verfas­ sungswidrige Gesetze nicht für nichtig, sondern (nur) für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.402 Die Voraussetzungen einer solchen Unvereinbarerklärung sind im BVerfGG nicht geregelt. Das BVerfGG erwähnt die Unvereinbarerklä­ rung aber seit der Neuregelung aus dem Jahr 1970 und regelt wenigstens teilweise ihre Rechtsfolgen in den §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG. Teilweise wird § 35 BVerfGG, welcher die Vollstreckung der Entscheidungen des Bundesverfassungs­ gerichts regelt (s. u. Rn. 323 ff.), als Rechtsgrundlage genannt.403

309

Mit der Unvereinbarerklärung sollen vor allem unerwünschte Rechtsfolgen einer Nichtigerklärung vermieden werden. Das geht von den unabsehbaren fi­ nanziellen Konsequenzen einer Nichtigerklärung von Steuergesetzen über die Ver­ meidung eines Rechtsvakuums bis hin zur Verursachung von Ungerechtigkeiten bei der Beseitigung von Gleichheitsverstößen (s. bereits oben Rn. 103).

310

Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Figur der Unvereinbarerklärung stärker aus­ geweitet hatte, erklärt es heute ein Gesetz nur noch als unvereinbar mit dem Grundgesetz, wenn es verhindern will, dass mit der Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes eine erforderli­

311

401

Ipsen, Die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Normen und Einzelakt, 1980, S. 69 ff.; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkung im Öffentlichen Recht, 1995, S. 105. 402 Z. B. BVerfGE 37, 217 (261) – Kinderstaatsangehörigkeit; 55, 100 (110) – Kinderzuschuss an Rentner; 61, 319 (356) – Besteuerung Alleinerziehender; 67, 348 (349) – Zugewinnaus­ gleich; 71, 1 (15); Pflichtversicherung für Selbständige; 71, 146 ff. – Ausbildungsförderung; 72, 278 (295) – kirchliche Berufsausbildung; 72, 330 (333) – Länderfinanzausgleich; 73, 40 (101) – Parteienfinanzierung; 79, 87 (105) – Krankengeld; 92, 241 (241 f.) – Kindererziehungs­ zeiten; 98, 365 (402)  – Gleichbehandlung unterschiedlicher Versorgungszulagen; 77, 308 (337) – Hessisches Gesetz zum Bildungsurlaub; 87, 117 (136) – Bundeskleingartengesetz; 82, 126 (155) – Kündigungsfristen nach § 622 BGB; 84, 9 (21) – Ehename; 104, 126 (149 f.); 105, 73 (133 f.) – Pensionsbesteuerung; 106, 166 (181) – Zählkindervorteil; 110, 94 (138); BVerfGE 125, 175 – Hartz IV. 403 Gegen § 35 BVerfGG als hinreichende Rechtsgrundlage für die Unvereinbarerklärung je­ doch etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 430; für § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage für „Überbrückungsmaßnahmen“ nach bloßer Unvereinbarerk­ lärung etwa Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 48. Ergänzungslie­ ferung 2016, § 35, Rn. 44.; kritischer ders., Rn. 56, zu sog. „Appellentscheidungen“; für § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage für Anordnungen der weiteren Anwendbarkeit und Übergangs­ regelungen Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 78, Rn. 83.

606

§ 8 Bundesverfassungsgericht

che Neuregelung durch den Gesetzgeber vorweggenommen wird404 oder wenn der mit der Nichtigkeitserklärung herbeigeführte Zustand dem Grundgesetz noch ferner stünde als die vorläufige und zeitlich begrenzte weitere Anwendung des verfassungswidrigen Gesetzes.405

312

Rechtsfolge der Unvereinbarerklärung eines Gesetzes sei, so das Bundesverfassungs­ gericht, grundsätzlich, dass die Normen „in dem sich aus dem Tenor ergebenden Um­fang von Gerichten und Verwaltungsbehörden nicht mehr angewendet werden dürfen“.406 Um dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit zu genügen und ein Rechtsvakuum zu vermeiden, ordnet das Gericht allerdings zumeist die weitere Anwendbarkeit des verfas­ sungswidrigen Gesetzes für eine bestimmte Übergangszeit an407 und verbindet dies mit dem „Appell“ an den Gesetzgeber, den verfassungswidrigen Zustand bis zum Ablauf der Über­ gangsfrist zu beseitigen (s. bereits oben Rn. 104).408

XII. Bindung und Gesetzeskraft der Entscheidung 313

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben formelle409 und materielle410 Rechtskraft.411 Zwar enthält das BVerfGG diesbezüglich keine Regelun­ gen. Da es gegenüber dem Bundesverfassungsgericht keinen weiteren (nationalen) 404 Dies ist zumeist bei einem sog. gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss der Fall. Dieser liegt vor, wenn eine bestimmte Gruppe von Personen (A) von einer eine andere Gruppe von Personen (B) begünstigenden Regelung gleichheitswidrig, d. h. z. B. unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, ausgeschlossen wird. In diesem Fall will das Bundesverfassungsgericht das gleichheitswidrige Gesetz nicht für nichtig erklären, weil damit einer notwendigen Neurege­ lung durch den Gesetzgeber vorweggenommen würde. Dieser könnte nämlich – erstens – das Gesetz ganz abschaffen oder – zweitens – beide Gruppen (A und B) in die Begünstigung mit einbeziehen oder aber – drittens – den Kreis der durch das Gesetz Begünstigten ganz neu be­ stimmen. S. dazu BVerfGE 33, 349 ff. – Armenrecht; BVerfGE 93, 121 (148) – Einheitswerte II; 111, 191 (224 f.) – Notarkassen; 121, 108 (131 f.) -- Wählervereinigungen; s. a. Kloepfer, Ver­ fassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 59, Rn. 98 ff. 405 BVerfGE 37, 217 (262 f.) – Kinderstaatsangehörigkeit; 61, 319 (356 f.) – Besteuerung Al­ leinerziehender; 73, 40 (101 f.) – Parteispendenurteil; 105, 73 (134 f.) – Pensionsbesteuerung; 111, 191 (224 f.). 406 BVerfGE 73, 40 (101 f.) – Parteispendenurteil. Insofern unterscheidet sich die Unverein­ barerklärung in ihren Wirkungen faktisch nicht von der Nichtigkeitserklärung. 407 Z. B. BVerfGE 61, 319 (320 f.) – Besteuerung Alleinerziehender; 73, 40 (42) – Parteispen­ denurteil; 84, 239 (284 f.) – Kapitaleinkünfte; 107, 133 (148 f.) – Rechtsanwaltsgebühren; 109, 64 (95 f.) – Mutterschutzgesetz; BVerfGE 125, 175 – Hartz IV. 408 Z. B. BVerfGE 37, 217 (262 f.) – Kinderstaatsangehörigkeit; 61, 319 (356 f.) – Besteuerung Alleinerziehender; 98, 365 (402) – Versorgungsanwartschaften; s. dazu Brünneck, in: FS Mül­ ler, 1970, S. 355 ff.; Sachs, DÖV 1982, 23 ff.; Schulte, DVBl. 1988, 1200 ff. 409 Ein Urteil hat formelle Rechtskraft, wenn nach der jeweiligen Verfahrensordnung gegen die­ ses Urteil kein Rechtsmittel (z. B. Berufung, Revision, Beschwerde) mehr eingelegt werden kann. 410 Ein Urteil hat materielle Rechtskraft, wenn es nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann (formelle Rechtskraft) und wenn das Gericht und die Parteien durch das Urteil derart gebunden sind, dass eine erneute Entscheidung über den Verfahrensgegenstand nicht möglich ist. Wurde bspw. im Strafverfahren über eine Tat rechtskräftig entschieden, so kann dieselbe Tat regelmäßig nicht mehr zur Anklage gebracht werden. 411 BVerfGE 4, 31 (38); 20, 56 (86 f.) – Parteienfinanzierung I; 69, 92 (103); 104, 151 (196) – Nato-Konzept.

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

607

Instanzenzug mehr gibt und auch angenommen wird, dass dieselbe Streitsache nicht durch dieselben Beteiligten erneut vor das Bundesverfassungsgericht ge­ bracht werden kann,412 ist von einer derartigen Wirkung der bundesverfassungs­ gerichtlichen Entscheidungen auszugehen. Neben der Rechtskraftwirkung kommt den Entscheidungen des Bundesver­ fassungsgerichts nach der Konzeption des BVerfGG eine besondere Wirkung zu. Gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindet die Entscheidung des Gerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden – auch wenn sie nicht am Verfahren beteiligt waren.413 Ebenso wie in § 31 Abs. 2 S. 1, 2 BVerfGG, wonach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht in bestimmten Fällen Gesetzeskraft zukommt (dazu sogleich Rn. 322), kommt in Absatz 1 dieser Vorschrift die besondere Stellung des Bundesverfassungsgerichts als ‚Hüter der Verfassung‘ (s. o. Rn. 41) und vor allem der Verfassungsauslegung414 zum Ausdruck.

314

Das Bundesverfassungsgericht selbst ist im Rahmen der materiellen Rechtskraft an seine Entscheidung gebunden. Die Beschränkung der Bindungswirkung auf die materielle Rechtskraft bedeutet, dass sich die Bindung grundsätzlich415 nur auf den konkreten Streitgegenstand und die am konkreten Verfahren Beteiligten bezieht. Im Übrigen kann das Gericht unter bestimmten weiteren Voraussetzungen von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen:416 Das Bundesverfassungsgericht unterliegt keiner strikten Präjudizienbindung; es herrscht lediglich eine Präjudi­ zienvermutung, die bei überwiegenden Gründen durch eine begründete Änderung der Rechtsprechung überwindbar ist.417

315

412

BVerfGE 78, 320 (328); Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, § 31, Rn. 13; Schlaich  / ​ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 479; nach Ansicht von Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 296, und Schnapp / Henkenötter, JuS 1994, 121 (122, 125), kommt den Urteilen des Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt materielle Rechtskraft zu. 413 Hierin liegt der Unterschied zur materiellen Rechtskraft, die nur die Verfahrensbeteilig­ ten und das Gericht im Hinblick auf den konkreten Streitgegenstand bindet. 414 So schreibt Smend, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951–1971, 2. Aufl. 1971, S. 16: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt.“ 415 Vgl. jedoch Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 90, welcher eine weitergehende Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts daraus herleitet, dass aus § 31 Abs. 1 BVerfGG eine Erweiterung der subjektiven Rechtskraft auf die übrigen Verfassungsorgane erfolge, soweit diese in eigenen Rechten betroffen sind. 416 Dies ist h. M.; s. BVerfGE 4, 31 (38) – 5 %-Sperrklausel; 20, 56 (87) – Parteienfinanzie­ rung I; 78, 320 (328); 82, 198 (205); 85, 117 (121); 104, 151 (197) – NATO-Konzept; SchulzeFielitz, in: FG 50  Jahre BVerfG, Bd. I, 2001, S. 385 (393); a. A. Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, § 31, Rn. 29. 417 Vgl. Kriele, in: Isensee / K irchhof, HbStR, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 188, Rn. 41, 48; etwas enger wohl Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 128 ff., mit Zusammenfassung auf S. 139 („Abweichung […] nur erlaubt, wenn sie durch eine überlegenen Auslegung ersetzt werden kann“). Sachs spricht dabei von einer „Präjudizienbin­ dung“, nicht von einer (bloßen) Präjudizienvermutung.

608

§ 8 Bundesverfassungsgericht

316

In der Verfassungspraxis nimmt das Bundesverfassungsgericht Rechtsprechungsänderungen nicht immer mit der gebotenen Begründung vor: Beispielsweise erfolgte die teil­ weise Rechtsprechungsänderung zum Maßstab des Parteiverbots des Art. 21 Abs. 2 GG418 in der Entscheidung zum (gescheiterten) NPD-Verbotsverfahren im Jahr 2017 gegenüber dem KPD-Verbot von 1956 ohne eine inhaltliche Begründung der Notwendigkeit einer Rechtspre­ chungsänderung: Anders als in der Entscheidung des Ersten Senats zum KPD-Verbot ver­ langte der Zweite Senat bei der Entscheidung über den NPD-Verbotsantrag, dass „konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann.“419 Der Zweite Senat begnügte sich hinsichtlich seiner Rechtsprechungsänderung mit der Feststellung: „An der hiervon abweichenden Definition im KPD-Urteil, nach der es einem Parteiverbot nicht entgegenstehe, wenn für die Partei nach menschlichem Ermessen keine Aus­ sicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können (vgl. BVerfGE 5, 85 (143) – KPD-Verbot), hält der Senat nicht fest.“420 Für die Rechtsprechungsänderung selbst gibt das Gericht keine Begründung.

317

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden ausweislich des Wortlauts des § 31 Abs. 1 BVerfGG auch den (Bundes- sowie die Landes-)Gesetz­ geber in Gestalt der Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat bzw. der Landtage.

318

Ob daraus auch ein Verbot folgt, inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Neuregelungen zu be­ schließen (Normwiederholungsverbot), nachdem das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für nichtig oder unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat, ist zwischen den Senaten des Bundesverfassungsgerichts421 und im Schrifttum umstritten.422 Auf den ersten Blick erscheint ein Normwiederholungsverbot einleuchtend, eine Norm wird schließlich nicht durch die bloße Wiederholung ‚verfassungsmäßiger‘. Es ist allerdings zu beachten, dass § 31 Abs. 1 BVerfGG als einfaches Gesetz gegenüber dem Gesetzgeber, der die Norm ja selbst erlassen hat, keine (Selbst-)Bindung auslösen kann. Denkbar ist daher sehr wohl, dass der Gesetzgeber z. B. in­ 418

Hierzu – vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 2017 – Kloepfer, Ver­ fassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 277 ff. 419 Vgl. BVerfGE 144, 20 (585) – NPD-Verbotsverfahren II. 420 Vgl. BVerfGE 144, 20 (586) – NPD-Verbotsverfahren II. 421 Für ein Normwiederholungsverbot der Zweite Senat in BVerfGE 1, 14 (37) – Südwest­ staat: Der Entscheidungsausspruch bindet „alle Verfassungsorgane des Bundes gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG derart, daß ein Bundesgesetz desselben Inhalts nicht noch einmal von den gesetzgebenden Körperschaften beraten, beschlossen und vom Bundespräsidenten verkündet werden kann“; vgl. auch BVerfGE 69, 112 (115). Der Erste Senat dagegen lehnt ein Normwie­ derholungsverbot grundsätzlich ab: BVerfGE 77, 84 (103 f.) – Arbeitnehmerüberlassung: „§ 31 BVerfGG und die Rechtskraft normverwerfender verfassungsgerichtlicher Entscheidungen hindern den Gesetzgeber nicht, eine inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche Neuregelung zu be­ schließen“; beachte jedoch: BVerfGE 96, 260 (263) – Normwiederholung: „Eine Normwieder­ holung verlangt […] besondere Gründe, die sich vor allem aus einer wesentlichen Änderung der für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse oder der ihr zugrunde liegenden Anschauungen ergeben können. Fehlen solche Gründe, ist das Bundesverfassungsgericht nicht gehalten, die bereits entschiedenen verfas­ sungsrechtlichen Fragen erneut zu erörtern“; vgl. auch BVerfGE 102, 127 (141 f.)  – Lohn­ ersatzleistungen. 422 S. dazu umfassend Heusch, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 31, Rn. 64; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 483 f., m. w. N.

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

609

folge des Wechsels der sozialen, ökonomischen oder ökologischen Anforderungen oder der Ordnungsvorstellungen exakt dieselbe Norm erlässt, die dann in einem erneuten Verfahren – sollte es denn einen entsprechenden Antrag geben – aufgrund der sich ändernden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse423 vom Bundesverfassungsgericht dann als verfassungs­ gemäß angesehen wird.424 Da der Gesetzgeber nur an die Verfassung, nicht aber an die Gesetze gebunden ist (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), kann sich ein Normwiederholungsverbot also allen­ falls aus der Verfassung selbst ergeben. So könnte aus dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Verfassungsorgantreue (s. § 1 Rn. 158 ff.) zumindest folgen, dass (nur) eine Normenwieder­ holung, deren Verfassungswidrigkeit gemessen am Maßstab der bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts evident ist, verfassungswidrig wäre.425

Inhaltlich erstreckt sich die Bindungswirkung der „Entscheidung“ gegenüber den Verfassungsorganen, Gerichten und Behörden – nach im Schrifttum teilweise kritisierter Auffassung des Bundesverfassungsgerichts  – auf den Tenor (Ent­ scheidungsformel) und auf die tragenden Gründe des Urteils, soweit diese die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betreffen.426 Allerdings sind die tragenden Gründe nicht selten schwierig von den sonstigen Gründen abzugrenzen.

319

Die Ausdehnung der Bindungswirkung der „Entscheidungen“ des Bundesverfassungs­ gerichts über den Tenor hinaus auch auf die tragenden Gründe ergibt sich jedenfalls nicht zwingend aus dem Wortlaut des § 31 Abs. 1 BVerfGG.427 Als Argument für eine extensive Auslegung der Norm führt das Bundesverfassungsgericht seine Stellung als „maßgeblicher Interpret und Hüter der Verfassung“ (s. bereits oben Rn. 41) an.428 Dies wird im Schrifttum teilweise als eine unzulässige Selbstermächtigung kritisiert.429

320

Noch problematischer ist es, wenn in der Verfassungswirklichkeit die übrigen Beteiligten des politischen Prozesses sogar obiter dicta – das heißt Äußerungen in einer Entscheidung des Gerichts, die nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung zählen (hierzu auch

321

423

Zum Aspekt einer Veränderung der maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Ver­ hältnisse als mögliche Rechtfertigung für eine Normwiederholung auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 96, 260 (263); 102, 127 (141 f.). 424 Zumal das Bundesverfassungsgericht nach h. M. selbst nicht an seine Rechtsprechung gebunden ist, s. o. Rn. 315. 425 Zu dieser Lösung Korioth, Der Staat 30 (1991), 549 (565 ff.); Schulze-Fielitz, in: FG 50 Jahre BVerfG, Bd. I, 2001, S. 385 (392 f.); Heusch, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 31, Rn. 64, m. w. N. 426 So das Bundesverfassungsgericht seit BVerfGE 1, 14 (37) – Südweststaat; später BVerfGE 19, 377 (392) – Berlin-Vorbehalt II; 20, 56 (87) – Parteienfinanzierung I; 40, 88 (93 f.) – Führer­ schein; 112, 268 (277) – Kinderbetreuungskosten, und z. B. Ziekow, NVwZ 1995, 247 (248 f.); a. A. etwa Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Ent­ scheidungen, 1979, S. 41 ff., 110 ff., 121 f.; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 485 ff. 427 Nach Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 81, kann die Frage nach dem Umfang der Bindungswirkung der Entscheidungen des Bun­ desverfassungsgerichts zudem ohnehin nicht durch das einfache Recht, sondern nur durch das Verfassungsrecht entschieden werden. 428 BVerfGE 40, 88 (93 f.) – Führerschein. 429 Vgl. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 81 f.; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 485 ff., m. w. N.

610

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Rn. 144) – als verbindliche Leitlinien für die Gesetzgebung oder für sonstiges hoheitliches oder politisches Handeln betrachten.430

322

§ 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG bestimmt, dass den Entscheidungen des Bundes­ verfassungsgerichts in den Fällen des § 13 Nr. 6 u. 6a (abstrakte Normenkontrolle), Nr. 11 (konkrete Normenkontrolle), Nr. 12 (Normenverifikationsverfahren bezüg­ lich Art. 25 GG) und Nr. 14 (Streit um das Fortgelten von vorkonstitutionellem Recht als Bundesrecht) BVerfGG Gesetzeskraft zukommt. Dies gilt auch im Falle des § 13 Nr. 8a BVerfGG (Verfassungsbeschwerde), wenn das Gericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt (§ 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Durch diese Regelungen weitet der Gesetzgeber die Bindungswirkung bestimmter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über die (materielle) Rechtskraft hinaus aus. Anders als bei Entscheidungen anderer Gerichte wirkt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diesen Fällen rechtlich nicht nur gegenüber den Parteien (also inter partes), sondern gegenüber jedermann (also inter omnes).

XIII. Vollstreckung 323

Die zentrale Regelung zur Vollstreckung der Entscheidungen des Bundesver­ fassungsgerichts findet sich in § 35 BVerfGG.431 Demnach kann das Bundesver­ fassungsgericht in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstrecken soll und die Art und Weise der Vollstreckung festlegen. Das Bundesverfassungsgericht genießt damit eine gegenüber anderen Gerichten einzigartige Autonomie bei der Voll­streckung seiner Entscheidungen.432

324

Aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive ist die Eigenverantwortung des Bundesver­ fassungsgerichts hinsichtlich der Vollstreckung seiner Entscheidungen auch deshalb bemer­ kenswert, weil unter der Weimarer Reichsverfassung nach Art. 19 Abs. 2 WRV der Reichs­ präsident als Vollstreckungsorgan der Urteile des Staatsgerichtshofs (s. o. Rn. 10) fungierte.433

325

Betrachtet man „Vollstreckung“ als zwangsweise Durchsetzung einer Entscheidung gegenüber bestimmten Adressaten zur Überwindung eines entgegen­ stehenden Willens, so spielt die Vollstreckung verfassungsgerichtlicher Entschei­ dungen in der Praxis bisher nur eine untergeordnete Rolle.434 Das BVerfGG hat dem Bundesverfassungsgericht in der allgemein gehaltenen Vorschrift des § 35 430

Vgl. Bryde, in: FS Papier, 2013, S. 493 ff. (500) Umfassend Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG. Eine systema­ tische Darstellung, 1997. 432 Zur Kritik daran: Schneider, NJW 1994, 2591; Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungs­ widrigkeit von Normen und Einzelakt, 1988, S. 235 f.; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 19, Rn. 14. 433 Hierzu Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG. Eine systematische Darstellung, 1997, S. 11 ff. 434 Vgl. E. Klein, AöR 108 (1983), 410 (443). 431

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

611

BVerfGG keine bestimmten Vollstreckungsinstrumente im engeren Sinn an die Hand gegeben. Das Gericht lebt von dem ihm – von staatlichen Stellen und von Bürgern – ent­ gegengebrachten Respekt434a, nicht aber von der Furcht vor der Erzwingung seiner Entscheidungen.435 Das Bundesverfassungsgericht hat keine Bataillone, d. h. keine eigene Vollzugsgewalt. Es ist auf ‚Verfassungs(-gerichts-)loyalität‘436 (s. u. Rn. 400) und die Einsicht in die Notwendigkeit der Befolgung seiner Entscheidungen durch die anderen Beteiligten angewiesen.

326

Wenn bei Appellentscheidungen an den Gesetzgeber gesetzte Fristen ergebnislos verstrei­ chen, kann das Gericht in einer späteren Entscheidung die Folgen der Fristverstreichung re­ geln. Würde dem Gericht dauerhaft und nicht nur in Einzelfällen die Gefolgschaft versagt, würde dies zu einer existenziellen Krise des Gerichts führen (s. u. Rn. 671). Letztlich hängt über dem Gericht das Damoklesschwert der Nichtbefolgung seiner Entscheidungen durch andere staatliche Stellen, insbesondere durch die Exekutive. Aus dieser Einsicht kann auch die Entscheidungspraxis des Gerichts erklärbar sein, die Fundamentalkontroversen mit der Regierung und dem Parlament (aber auch mit dem Gerichtshof der Europäischen Union) in aller Regel aus dem Wege geht.

327

Die (Verfassungs-)Organe des Bundes und der Länder sind bereits durch die verfassungs­ rechtliche Verfassungsorgantreuepflicht (s. § 1 Rn. 158 ff.), das Rechtsstaatsgebot und unter Umständen auch durch die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten (oder: Bundestreue 437) an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Auf einfachgesetzlicher Ebene spricht – wie erwähnt – § 31 Abs. 1 BVerfGG die Bindungswirkung aus (ausführlich oben Rn. 314).

328

Allerdings kann sich – aufbauend auf dieser grundlegenden Frage nach dem Respekt gegenüber einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – die wei­ tere Frage danach stellen, wie die Folgen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu bewältigen bzw. praktisch umzusetzen sind.438 Mit dem Gedanken der Folgenbewältigung ist also ein Begriff der „Vollstreckung“ im weiten Sinn (mehr im Sinne der Umsetzung in der Praxis) verbunden. Ein solcher weiter Begriff der „Vollstreckung“ wird überwiegend mit § 35 BVerfGG in Verbindung gebracht.439 Das Bundesverfassungsgericht selbst versteht unter Vollstreckung „alle Anord­

329

434a

Kloepfer, VerwArch 2019, 419 ff. Vgl. auch BVerfGE 2, 79 (89) – Plenargutachten Heuß: „Da ein Verfassungsgericht nur Recht sprechen, nicht aber Machtmittel einsetzen kann, um seinem Spruch Befolgung zu er­ zwingen, beruht jede Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Voraussetzung, daß der Spruch des Gerichtes beachtet wird.“ 436 Vgl. mit Blick auf die „Bundestreue“ als zentraler Figur des deutschen Bundestaatsrechts Wittreck, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. I, 2012, § 18, Rn. 55: „Bundestreue [als] Bundesverfassungsgerichtstreue.“ 437 Insoweit interessant die Beobachtung von Wittreck, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föde­ ralismus, Bd. I, 2012, § 18, Rn. 55: „Bundestreue [als] Bundesverfassungsgerichtstreue“; all­ gemein zur Bundestreue Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 9, Rn. 197 ff. 438 Vgl. Roellecke, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 35, Rn. 12, unter Verweis auf Lerche, FS Gitter, 1995, S. 509 (510). 439 Vgl. nur E. Klein, AöR 108 (1983), 410 (443). 435

612

§ 8 Bundesverfassungsgericht

nungen, die erforderlich sind, um seinen ein Verfahren abschließenden Sachentscheidungen Geltung zu verschaffen.“440 330

Feststellende Urteile, wie sie etwa bei Organ- oder Bund-Länder-Streitigkeiten ergehen, sind zwar nach einem engen Vollstreckungsbegriff nicht vollstreckungsfähig. Nach dem weiten Verständnis des Bundesverfassungsgerichts hingegen sind ausdrücklich „nicht nur Leis­ tungs- und Duldungsurteile, sondern auch Feststellungsurteile“ der „Vollstreckung im Sinn des § 35“ BVerfGG zugänglich. Unter Verweis auf die Vorarbeit Arndts bestimmt das Gericht den Inhalt von Vollstreckungsmaßnahmen bei Feststellungsurteilen sodann als den „‚Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Ver­ wirklichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts notwendig sind‘ […].“441 In Betracht kommt aber wohl nur eine nähere Bestimmung der sich aus der Feststellung er­ gebenden verfassungsrechtlichen Pflichten des Antragsgegners, sollte dieser nicht allein aufgrund des Feststellungsurteils tätig werden.442 Teilweise spricht das Bundesverfassungs­ gericht solche Verpflichtungen bereits im Tenor der Entscheidung aus: Beispielsweise hat das Gericht in einem Organstreitverfahren – über die bloße Feststellung der Verfassungswidrig­ keit hinaus – den Deutschen Bundestag als Antragsgegner verpflichtet, über die Grundsätze, nach denen die Mitglieder des Deutschen Bundestags in den Vermittlungsausschuss entsandt werden, nach Maßgabe der Gründe der Entscheidung erneut zu beschließen (s. u. Rn. 399).443

331

Auch bei gestaltenden Urteilen, etwa wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für nichtig erklärt, erübrigt sich – unter Zugrundelegung eines engen Vollstreckungsbegriffs – die Notwendigkeit der Vollstreckung. Unter einem weiten Vollstreckungsbegriff stellen sich auch hier Aufgaben der Folgenbewältigung und Sicherstellung der Effektivität der Entscheidung. So hat das Bundesverfassungsgericht durch Vollstreckungsmaßnahmen unter Rückgriff auf § 35 BVerfGG in Ergänzung oder als Alternative zur Nichtigerklärung von Normen unter an­ derem gesetzliche Lücken ausgefüllt und Übergangsregelungen getroffen.444

332

Es bestehen also Übergänge von den Vollstreckungsmaßnahmen (im weiten Sinn) zum – bereits diskutierten – Entscheidungsinhalt, soweit das Gericht auf besondere Entscheidungsformen wie die Unvereinbarerklärung (als Alternative zur Nichtigerklärung von Normen) und flankierende Maßnahmen wie die Be­ stimmung von Übergangsregelungen445 oder Aufforderungen an den Gesetzgeber (Appellentscheidungen) zurückgreift (s. o. Rn. 103 ff., 309 ff.), oder wenn es selbst bis zur verfassungsgemäßen Entscheidung eines (Fach-)Gerichts, an das im Ver­ fahren zurückverwiesen wurde, Rechtsschutz gewährt.446 440

BVerfGE 6, 300 (303). BVerfGE 6, 300 (304) unter Verweis auf Arndt, DVBl. 1952, 1 (3). 442 Vgl. Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG. Eine systematische Darstellung, 1997, S. 140 ff. 443 BVerfGE 112, 118 – Vermittlungsausschuss I. 444 Vgl. etwa BVerfGE 91, 186 (207): Anordnung der vorübergehenden Weitergeltung einer Norm, welche mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt wurde; zum Ganzen aus dem Schrifttum E. Klein, AöR 108 (1983), 410 (443), m. w. N.; Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dol­ linger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 78, Rn. 83, m. w. N. 445 Z. B. BVerfGE 1, 14 (65) – Südweststaat; 39, 1 (2 f.) – Schwangerschaftsabbruch I; 93, 37 (85) – Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein; 106, 62 (64) – Altenpflege; s. dazu auch Hoppe, DVBl. 2009, 628 ff. 446 Z. B. BVerfGE 35, 382 (408) – Ausländerausweisung. 441

F. Allgemeine Verfahrensregelungen

613

Ob § 35 BVerfGG dem Gericht als hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage für diese Ent­ scheidungsinhalte und flankierende Maßnahmen, insbesondere für die Unvereinbarerklärung, dienen kann, ist umstritten (s. bereits oben Rn. 309).447 Eine bestimmtere gesetzliche Fassung ist insoweit zumindest rechtspolitisch wünschenswert.

333

Besonderheiten gelten bspw. in einem Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG und §§ 43 ff. BVerfGG448, in dem das Gericht für die Durchsetzung der sich aus der Entscheidung ergebenden Rechtsfolgen Sorge tragen muss (z. B. Ein­ ziehung des Vermögens der Partei; hier greift § 46 Abs. 3 S. 2 BVerfGG).449

334

XIV. Ausschluss und Befangenheit von Richtern Zur Sicherstellung der Unabhängigkeit, Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit der Richter des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf einen zu entscheidenden Fall450 gibt es – wie bei anderen Gerichten auch – für das Bundes­ verfassungsgericht den Ausschluss eines Richters von der Ausübung seines Rich­ teramts aufgrund enumerativ aufgezählter Gründe kraft Gesetzes (§ 18 BVerfGG) sowie die Möglichkeit der Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 19 Abs. 1 BVerfGG). Hinzu kommt die Möglichkeit der Selbstablehnung eines Richters wegen Befangenheit (§ 19 Abs. 3 BVerfGG).

335

Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Instituten ist, dass der Ausschluss gem. § 18 BVerfGG kraft Gesetzes wirkt und durch das Gericht lediglich – (auch) von Amts wegen – deklaratorisch festgestellt wird, während die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 19 BVerfGG konstitutiv durch das Gericht festgestellt werden muss, und zwar grundsätzlich nachdem der durch die Besorgnis der Befangenheit sich betroffen fühlende Beteiligte oder der Richter selbst (vgl. § 19 Abs. 3 BVerfGG) einen entsprechenden Anstoß gegeben haben.451

336

Auf Rechtsfolgenseite unterscheiden sich §§ 18 und 19 BVerfGG dadurch, dass im Fall des Ausschlusses das Gericht in verminderter Zahl das Verfahren fortsetzt, während im Fall der Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit gemäß § 19 Abs. 4 S. 1 BVerfGG ein Richter des anderen Senats (außer dem Vorsitzenden) als Vertreter durch Los bestimmt wird.

337

447

Für § 35 BVerfGG als Rechtsgrundlage für „Überbrückungsmaßnahmen“ nach bloßer Unvereinbarerklärung etwa Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 35, Rn. 44.; kritischer ders., Rn. 56, zu sog. „Appellentscheidun­ gen“; grundsätzlich zustimmend Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2.  Aufl. 2005, § 78, Rn. 83; gegen § 35 BVerfGG als hinreichende Rechtsgrundlage für die Unverein­ barerklärung etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 430. 448 Hierzu Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG. Eine systematische Darstellung, 1997, S. 132 ff. 449 S. BVerfGE 2, 1 ff. – SRP; 5, 85 ff. – KPD. 450 Zum Telos der §§ 18, 19 BVerfGG Heusch, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 18, Rn. 2, § 19, Rn. 2. 451 Vgl. Heusch, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 18, Rn. 6.

614

§ 8 Bundesverfassungsgericht

338

Die in § 18 Abs. 1 BVerfGG aufgeführten gesetzlichen Gründe für den Ausschluss sind relativ eng gefasst und erfassen die Fälle der Beteiligung und der Verwandtschaft, Ehe etc. (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG) sowie der vorherigen Befassung mit der Sache von Amts oder Berufs wegen (§ 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG).

339

Eine Beteiligung i. S. v. § 18 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BVerfGG besteht gemäß § 18 Abs. 2 BVerfGG jedoch nicht schon dann, wenn ein Richter auf Grund seines Familienstandes, seines Berufs, seiner Abstammung, seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder aus einem ähnlich allgemeinen Gesichtspunkt am Ausgang des Verfahrens interessiert ist.

340

Eine vorherige Befassung von Amts oder Berufs wegen ist jedenfalls noch nicht in der Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren (§ 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG) oder in der Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer Rechtsfrage, die für das Verfahren bedeutsam sein kann, zu sehen (§ 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG). Im Einzelfall kann aus diesen Gründen allerdings gleichwohl die Besorgnis der Befangenheit bestehen (s. dazu sogleich). Eine vorrangige Spe­ zialnorm zu § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG besteht in § 97c Abs. 2 BVerfGG für die Verzögerungs­ beschwerde vor der Beschwerdekammer (s. o. Rn. 213).

341

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis des Befangenheit ist in § 19 BVerfGG geregelt. Hiernach kann ein Richter abgelehnt werden, wenn ein am Ver­ fahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, Miss­ trauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu empfinden.452

342

Dabei rechtfertigt „die Kundgabe politischer Meinungen, die ein Richter zu einer Zeit ge­äu­ßert hat, als er noch nicht Mitglied des Bundesverfassungsgerichts war und besonderen An­for­de­r un­gen dieses Richteramtes in seinem Verhalten nicht Rechnung tragen mußte, grund­ sätzlich seine Ab­lehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nicht. Dies gilt zumal dann, wenn die Meinungs­kund­ga­ben schon länger zurückliegen.“453 Entsprechendes gilt für die frühere Äußerung wissenschaftlicher Ansichten. Befangenheit kann aber bei früheren (unterstützen­ den) gutachterlichen Aussagen eines Professors, der später Bundesverfassungsrichter wird,454 oder bei der Mitwirkung an einem Kabinettsbeschluss455 vorliegen. Auch wenn ein Richter in einem früheren Verfahren als Prozessbevollmächtigter vor dem Bundesverfassungsge­ richt Aussagen zu Rechtsfragen gemacht hat und der so offenbarte Rechtsstandpunkt für den Ausgang des späteren Verfahrens von wesentlicher Bedeutung ist, besteht die Besorgnis der Befangenheit.456

452

Einzelheiten bei Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 73. BVerfG, NJW 1999, 132 (133) (Hervorh. v. Verf.). 454 BVerfGE 82, 30 (38) – Kirchhof; 100, 59 – Papier; BVerfG, NJW 2004, 209 – Papier; – eine Übersicht über Befangenheitsgründe und -fälle findet sich bei Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 19, Rn. 5. 455 BVerfGE 72, 296 (298) – Herzog. 456 BVerfGE 95, 189 (192) – Stein; 109, 130 (132) – Di Fabio; die Besorgnis der Befangenheit wurde verneint in BVerfGE 101, 46 (51 f.) – Kirchhof. 453

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

615

XV. Kosten, Gebühren, Auslagen Die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sind gemäß § 34 Abs. 1 BVerfGG grundsätzlich kostenfrei.

343

Damit das Bundesverfassungsgericht nicht mit Verfahren befasst wird, die of­ fensichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben, sieht § 34 Abs. 2 BVerfGG jedoch die Möglichkeit vor, dass eine Missbrauchsgebühr in Höhe von maximal 2600 Euro erhoben wird.457 Möglich ist dies allerdings nur bei (vor allem mutwillig) miss­ bräuchlich erhobenen Verfassungsbeschwerden und Wahlprüfungsbeschwerden sowie bei missbräuchlich eingelegten Anträgen auf Erlass einer einstweiligen An­ ordnung. Von der Möglichkeit der Verhängung einer Missbrauchsgebühr hat das Bundesverfassungsgericht bisher eher zurückhaltend Gebrauch gemacht.458

344

Die Erstattung von (außergerichtlichen) Auslagen (z. B. Rechtsanwaltskosten), die für die zweckentsprechende Verfolgung von Rechten vor dem Bundesverfas­ sungsgericht notwendig waren, ist in § 34a BVerfGG geregelt. Konkrete Vorga­ ben für die Auslagenerstattung finden sich darin nur für bestimmte Verfahren (§ 34a Abs. 1 und 2 BVerfGG, s. Rn. 346). In allen anderen Fällen kann das Bun­ desverfassungsgericht die volle oder teilweise Auslagenerstattung nach seinem Ermessen459 anordnen (§ 34a Abs. 3 BVerfGG).

345

Nach § 34a Abs. 1 BVerfGG sind in den quasi-strafrechtlichen Verfahren der Grund­ rechtsverwirkung, der Präsidentenanklage und der Richteranklage dem Antragsgegner oder dem Angeklagten stets die notwendigen Kosten einschließlich der Kosten der Verteidigung zu erstatten, wenn sich der Antrag bzw. die Anklage als unbegründet erweist.

346

Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde als begründet, so sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen ganz oder zumindest teilweise zu ersetzen (§ 34a Abs. 2 BVerfGG).

347

G. Einzelne Verfahren (Auswahl) I. Allgemeines Wie oben bereits dargestellt, wird das Bundesverfassungsgericht nicht aufgrund einer Generalklausel über „verfassungsrechtliche Streitigkeiten“ tätig, sondern nach dem Enumerationsprinzip aufgrund des Zuständigkeitskatalogs in § 13 BVerfGG, welcher die in Art. 93 Abs. 1 und 2  GG und an übrigen Stellen des 457 S. dazu Schoreit, ZRP 2002, 148 ff. Zu den Voraussetzungen für die Erhebung einer Miss­ brauchsgebühr BVerfG, NJW 2008, 838. 458 Jedenfalls bei den Verfassungsbeschwerden liegt der Anteil der Beschwerden, welche mit einer Missbrauchsgebühr bedacht wurden, regelmäßig klar unter 1 %; vgl. die Jahresstatistik des Bundesverfassungsgerichts, welche regelmäßig auf der Website des Gerichts veröffentlicht wird. 459 BVerfGE 66, 142 (154).

348

616

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Grundgesetzes genannten Kompetenzen zusammenfasst und aufgrund der Er­ mächtigung aus Art. 93 Abs. 3 GG einfachgesetzlich ergänzt (s. u. Rn. 355). 349

Die bereits erwähnte Kompetenzfülle und Machtstellung des Bundesverfassungs­ gerichts hat ihre Wurzel zum einen in der recht großen Zahl der möglichen Verfahrensarten nach § 13 BVerfGG.

350

Zudem ist die Aktivlegitimation häufig gleichzeitig mehreren Personen und Organen des Verfassungslebens zugewiesen, welche verschiedenen Gewalten und Institutionen angehören und regelmäßig vor allem politisch unterschiedliche Richtungen vertreten. Dadurch wird sichergestellt, dass eine verfassungsrechtliche Streitfrage unabhängig von der konkreten politischen Konstellation innerhalb eines Bundesorgans (auch durch Minderheiten) zur Entscheidung gebracht werden kann.

351

Was das in einem konkreten Fall in Betracht kommende einzelne Verfahren be­ trifft, so ist grundsätzlich von den Rechtsbehauptungen des Antragstellers auszu­ gehen, „solange nicht evident ist, daß der Antragsteller mit der gewählten Verfah­ rensform manipuliert, d. h. sie nur deshalb wählt, um in Wahrheit einen anderen, nicht in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts fallenden Rechtstreit von ihm entscheiden zu lassen.“460 Bis zu dieser Grenze eines offenkundigen Miss­ brauchs ist die Wahl zwischen den (zulässigen) Verfahrensarten grundsätzlich dem Antragsteller überlassen.461

352

Allerdings ist nicht der Antragsteller, sondern das Bundesverfassungsgericht „Herr des Verfahrens“ (s. o. Rn. 249, 263 ff.). Es kann deshalb nicht nur eine Än­ derung des prozesseinleitenden Antrages zulassen, wenn es das für zweckmäßig erachtet und legitime Interessen eines etwaigen Antragsgegners nicht beeinträch­ tigt werden, sondern es kann unter diesen Voraussetzungen auch den Übergang in eine andere Verfahrensart gewähren. „Es hat sogar von Amts wegen zu prüfen, ob ein Antrag, der in der gewählten Verfahrensart unzulässig ist, in einer anderen Verfahrensart zur Sachentscheidung gebracht werden könnte.“462

353

Dass das Bundesverfassungsgericht „Herr des Verfahrens“ ist, hat es insbesondere im Hin­ blick auf die abstrakte Normenkontrolle deutlich zum Ausdruck gebracht. Zwar wird das Gericht auch in diesem Verfahren nur auf Antrag tätig. „Ist das Verfahren [erst einmal] durch einen Antrag in Gang gesetzt, so ist es in seinem weiteren Verlauf der Verfügung des Antrag­ stellers entzogen, so daß für die Gestaltung, Durchführung und Beendigung des Verfahrens nicht die Anträge und Anregungen des Antragstellers, sondern ausschließlich Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses maßgebend sind. Hieraus folgt z. B., daß die Zurücknahme eines zulässigen Antrags auf Durchführung eines Nor­men­kontrollverfahrens nicht notwendiger­ weise zur Einstellung des Verfahrens führen müßte.“463

460

BVerfGE 8, 122 (128 f.) – Volksbefragung Hessen. Vgl. schon BVerfGE 7, 305 (310 f.) – Rechtsverhältnisse der Flüchtlinge. 462 BVerfGE 13, 54 (94) – Neugliederung Hessen. 463 BVerfGE 1, 396 (414) – Deutschlandvertrag; vgl. bspw. auch BVerfGE 77, 345 (345) – Landesmediengesetz Baden-Württemberg. 461

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

617

Im Folgenden soll vor allem auf die praktisch bedeutsamsten Verfahrensarten und diejenigen Verfahrensarten näher eingegangen werden, welche grund­ sätzlich sachgebietsübergreifend, d. h. unabhängig von bestimmten thematischen Gegenständen des materiellen Verfassungsrechts, zur Verfügung stehen. Außer­ dem sollen einige dogmatisch interessante, insbesondere neuere Verfahrensarten behandelt werden.

354

Nicht im Folgenden, sondern an sachlich jeweils einschlägiger Stelle des Werks näher be­ trachtet werden solche Verfahren, die in besonders engem Zusammenhang mit bestimmten sachlich-inhaltlichen Gegenständen des materiellen Verfassungsrechts stehen: so die Präsidentenanklage (Art. 61 Abs. 1  GG, §§ 13 Nr. 4, 49 ff. BVerfGG, s. § 5 Rn. 194 ff.), die Richteranklage (Art. 98 Abs. 2, 5 GG, §§ 13 Nr. 9, 58 ff. BVerfGG464), das Parteiverbotsver­ fahren (Art. 21 Abs. 2, 4 GG, §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG465), das Verfahren zum Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von staatlicher Finanzierung (Art. 21 Abs. 3, Abs. 4 GG), das Wahlprüfungsverfahren (für Wahlen zum Deutschen Bundestag: Art. 41 Abs. 2  GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG, s. § 2 Rn. 189 ff.; für Wahlen zum Europäischen Parlament: § 26 Abs. 3 EuWG), die Partei-Nichtanerkennungsbeschwerde (für Wahlen zum Deutschen Bundestag: Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG, § 13 Nr. 3a, §§ 96a ff. BVerfGG, s. § 2 Rn. 195 ff.; für Wahlen zum Europäischen Parlament: § 14 Abs. 4a EuWG) und die Normenkontrollverfahren in Bezug auf Völkerrecht (Art. 100 Abs. 2 GG466; s. u. Rn. 617) bzw. fortgeltendes vorkonstitutionelles Recht (Art. 126 GG).

355

II. Organstreitigkeiten 1. Bedeutung und Funktion Im Organstreitverfahren467 (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63–67 BVerfGG) werden vom Bundesverfassungsgericht Streitigkeiten entschieden, die sich zwi­ schen Verfassungsorganen des Bundes 468 oder sonstigen am Verfassungsleben des Bundes beteiligten Akteuren469 oder auch innerhalb eines Verfassungsorgans des Bundes über verfassungsrechtlich begründete Rechte und Pflichten ergeben.

356

Das Organstreitverfahren ist also durch einen doppelten Verfassungsbezug gekennzeichnet (durch den es sich im Übrigen auch von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art im Sinne des § 40 Abs. 1 VwGO unterscheidet, welche im Verwaltungsprozess entschieden werden): Erstens sind die Beteiligten des Organstreits Akteure, die im Verfassungsrecht des Bundes

357

464

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 23, Rn. 66 ff. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 7, Rn. 277 ff. 466 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 35, Rn. 156 ff. 467 S. dazu umfassend Geis / Meier, JuS 2011, 699; Grote, Der Verfassungsorganstreit, 2010; Ehlers, in: ders. / Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im öffentlichen Recht, 2009, § 17. 468 Zum Begriff des ‚Verfassungsorgans‘ s. § 1 Rn. 44 ff. 469 Die Antragsberechtigung im Organstreitverfahren ist nicht auf Verfassungsorgane be­ schränkt, s. u. Rn. 367 ff. 465

618

§ 8 Bundesverfassungsgericht

vorgesehen sind, wie insbesondere – aber nicht ausschließlich (s. u. Rn. 361 ff.) – Verfassungsorgane, und – zweitens – sind deren verfassungsrechtlich normierte Rechte oder Pflichten der Streitgegenstand des Verfahrens. 358

Der Organstreit ist ein kontradiktorisches Verfahren, bei dem Antragsteller und Antragsgegner in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander stehen müssen, aus dem sich Rechte und Pflichten ergeben, die zwischen ihnen streitig sind.470 Hervorzuheben ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Organ­ streitverfahren nicht über eine abstrakte Rechtsfrage, sondern über ein konkretes Rechtsverhältnis entscheidet.471 Daher eröffnet „[d]er Organstreit […] nicht die Möglichkeit einer objektiven Beanstandungsklage.“472Von seiner Konzeption her ist das Organstreitverfahren in erster Linie im Zusammenhang mit dem Gewaltenteilungsprinzip 473 zu sehen, dessen Einhaltung und Verwirklichung es primär gewährleisten soll (s. auch § 1 Rn. 140, 149).

359

Aufgrund der parteipolitischen Verflechtungen der verschiedenen Verfassungsorgane, ins­ besondere der Bundesregierung und des Bundestags (s. § 2 Rn. 41 f.), teilweise aber auch des Bundestags und des Bundesrats (s. § 2 Rn. 39 f.), stehen solche Aspekte der Gewaltenteilung (im Sinne einer strikten organbezogenen Gewaltentrennung) aber faktisch meistens nicht im Vordergrund von Organstreitverfahren. Vielmehr dienen Organstreitverfahren häufig in erster Linie dem (parlamentarischen) Minderheitenschutz, wenn etwa über den Streit einer Fraktion des Bundestages und dem Bundestag selbst oder einem anderen obersten Bundesorgan ent­ schieden wird. „Dieser Gedanke ist auch dort nicht ohne weiteres unbeachtlich, wo die Frak­ tion nicht eigene Rechte, sondern … Rechte des Bundestages geltend macht.“474

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen 360

Ein zulässiges Organstreitverfahren setzt – dies sei als Überblick vorangestellt – voraus, dass ein beteiligtenfähiger, antragsbefugter Antragsteller mit einem be­ teiligtenfähigen Antragsgegner über einen tauglichen Antragsgegenstand streitet und dabei ein Rechtschutzbedürfnis gegeben ist sowie die gesetzlichen Form- und Fristanforderungen eingehalten werden. a) Beteiligtenfähigkeit

361

Die möglichen Beteiligten eines Organstreitverfahrens lassen sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG in zwei Gruppen fassen: Beteilig­ tenfähig (auch: ‚parteifähig‘) – sei es als Antragsteller, sei es als Antragsgegner – 470

So ausdrücklich BVerfGE 20, 18 (23 f.) – Beitritt zum Organstreitverfahren. Vgl. BVerfGE 45, 1 (29) – Haushaltsüberschreitung. 472 BVerfGE 150, 194 (Leitsatz). 473 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 10, Rn. 44 ff. 474 BVerfGE 68, 1 (77) – Atomwaffenstationierung. Zur Prozessstandschaft s. u. Rn. 388 ff. 471

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

619

sind – erstens – die „obersten Bundesorgane“ (Rn. 362 ff.) und – zweitens – andere Beteiligte, sofern sie im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen dieser Organe mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Rn. 367 ff.). aa)  „Oberste Bundesorgane“. Die vom Grundgesetz nur abstrakt genannten „obersten Bundesorgane“ zählt § 63 BVerfGG nur scheinbar abschließend auf. Beteiligtenfähig sind danach der Bundespräsident475, der Bundestag, der Bundes­ rat sowie die Bundesregierung. Dass das Bundesverfassungsgericht nicht genannt wird, erklärt sich aus dessen fehlendem Selbstbefassungsrecht (s. o. Rn. 45, 58, 252, 288). Es kann – obwohl Verfassungsorgan – verständlicherweise keinen Organ­ streit in eigener Sache führen.

362

§ 63 BVerfGG muss jedoch – verfassungskonform interpretiert – als nicht abschließend verstanden werden.476 Die Beteiligtenfähigkeit der Bundesversamm­ lung (Art. 54 GG) und des Gemeinsamen Ausschusses (Art. 53a GG) ergibt sich unmittelbar aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG.477 Obwohl diese Organe in der einfachgesetzlichen Aufzählung des § 63 BVerfGG fehlen, sind sie aus verfassungsrecht­ licher Sicht Verfassungsorgane, d. h. „oberste Bundesorgane“ i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (s. auch § 1 Rn. 54).

363

Freilich wird man nicht jedes Organ auf Bundesebene, das im Grundgesetz erwähnt wird, als „oberstes Bundesorgan“ bezeichnen können. Zusätzlich darf das Organ keinem anderen Staatsorgan unterstehen und muss einen signifikanten An­ teil an der Ausübung der Staatsfunktionen, insbesondere der Staatsleitung, haben. Schließlich muss das Grundgesetz auch ein Mindestmaß der Rechte und Pflichten dieses Organs ausgestalten (s. auch § 1 Rn. 45).478 Letztlich meint Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG mit der Formulierung „oberstes Bundesorgan“ nur Verfassungsorgane (hierzu § 1 Rn. 57) des Bundes.

364

Hieraus ergeben sich einige Zweifelsfälle: Zwar wird der Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 GG) teilweise als „oberstes Bundesorgan“ betrachtet.479 Höchst fraglich ist indessen, ob auch die G 10-Kommission (vgl. Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG),480 der Wehrbeauftragte (Art. 45b GG),481 die Bundesbank (Art. 88 GG)482, die obersten Gerichtshöfe des Bundes (Art. 95 Abs. 1 GG),

365

475

Der Bundesratspräsident ist ein „oberstes Bundesorgan“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, wenn er gemäß Art. 57 GG die Befugnisse des Bundespräsidenten wahrnimmt (s. § 3 Rn. 123 ff. und § 5 Rn. 88 ff.). Handelt er hingegen als Bundesratspräsident, gilt er als „anderer Beteiligter“. 476 Vgl. nur BVerfGE 13, 54 (81) – Neugliederung Hessen, 136. 277 (299). 477 Vgl. nur Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 9; zur Bundesversamm­ lung als „oberstes Bundesorgan“ BVerfGE 136, 277 (299). 478 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 42, freilich zum Begriff des „Verfassungsorgans“. 479 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 87. 480 Gegen die Beteiligtenfähigkeit der G 10-Kommission im Organstreitverfahren BVerfG, Beschluss vom 20. September 2016, 2 BvE 5/15. 481 Ablehnend Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 63, Rn. 7; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 87. 482 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 324.

620

§ 8 Bundesverfassungsgericht

der Richterwahlausschuss (Art. 95 Abs. 2 GG), der Stabilitätsrat (Art. 109a GG) und der Bun­ desrechnungshof (Art. 114 Abs. 2 GG)483, im Organstreitverfahren als „oberste Bundesorgane“ beteiligtenfähig sind. Sollte man das – wohl zutreffend – ablehnen, so kommt jedoch in Be­ tracht, diese Akteure als „andere Beteiligte“ in den Kreis der Beteiligtenfähigen einzubezie­ hen (hierzu sogleich).

366

Unstreitig ist, dass „das Bundesvolk [als solches], das nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG Staats­ gewalt in Wahlen und Abstimmungen ausübt, … kein oberstes Staatsorgan im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG“ ist.484

367

bb)  „Andere Beteiligte“. (1) Allgemeines. Andere Beteiligte“, die durch das Grundgesetz oder durch die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, können kraft Verfassungsrechts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG am Organstreitverfahren beteiligt sein.

368

Demgegenüber spricht § 63 BVerf­GG von „Teile[n] dieser Organe“, d. h. von Teilen der „obersten Bundesorgane“ (s. o. Rn. 362 ff.). Solche Organteile können Beteiligte in einem Organstreitverfahren sein. Das Problem liegt aber in Folgen­ dem: Die Formulierung des Grundgesetzes in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ist gegenüber § 63 BVerfGG weiter, weil nach dem Grundgesetz auch „Beteiligte“ in Frage kom­ men, wenn sie durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, ohne dass sie ein Organteil sein müssen. Die Organteile i. S. d. § 63 BVerfGG sind nur ein Ausschnitt aus dem Kreis der „anderen Beteiligten“ i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Es gibt „andere Beteiligte“, die keine Organteile darstellen. So hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt, dass politische Parteien „andere Beteiligte“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sind,485 obwohl sie kein Teil eines „obersten Bundesorgans“ sind. § 63 BVerfGG darf folglich auch insoweit (s. bereits oben Rn. 363) nicht als abschließende Konkretisierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG gelesen werden.

369

Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG – wie auch in ähnlicher Weise § 63 BVerfGG – verlangt, dass die „anderen Beteiligten“ – bzw. die Organteile – „durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet“ sind.

370

Der Verweis des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG auf das Geschäftsordnungsrecht der obersten Bundesorgane kann dann zu einem Problem führen, wenn die Rechte eines „anderen Betei­ ligten“ nicht in einer Geschäftsordnung, sondern in einem einfachen formellen Gesetz (bei­ spielsweise im Untersuchungsausschussgesetz  – PUAG, im Bundesministergesetz oder im Abgeordnetengesetz) niedergeschrieben sind, obwohl sie der Sache nach (auch) Gegenstand der Geschäftsordnung sein könnten. Solche gesetzlichen Regelungen können im Einzelfall als ‚materielles Geschäftsordnungsrecht in formell-gesetzlicher Form‘ anzuerkennen sein und daher zur Bejahung der Beteiligtenfähigkeit herangezogen werden. Relevant ist dies etwa für 483

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 279 f.; ferner Vogt, Zur Infor­ mationstätigkeit des Bundesrechnungshofes, 2013, S. 95 ff. 484 BVerfGE 13, 54 (85) – Neugliederung Hessens (Hervorh. v. Verf.). 485 BVerfGE 4, 27 (29) – Plenum.

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die Fraktionen und Abgeordneten im Untersuchungsausschuss, welchen gesetzlich etwa in § 4 S. 3, § 6 Abs. 1 S. 1, § 14 Abs. 3 Nr. 1 PUAG in geschäftsordnungsäquivalenter Form Rechte eingeräumt werden (s. § 2 Rn. 461).

(2) „Teile dieser Organe“. Unter den einfachgesetzlichen Begriff „Teile die­ ser Organe“ im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes fallen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur die „ständig vorhandenen Gliederungen“486 der „obersten Bundesorgane.“ Dies umfasst bspw. Ausschüsse, Untersuchungsausschüsse487 (obwohl letztere nicht „ständig“ bestehen), Grup­ pen488 und Fraktionen489 des Deutschen Bundestags, aber etwa auch die Präsiden­ ten des Bundestags und des Bundesrats490 sowie die Bundesminister als Teile der Bundesregierung491.

371

Unklar ist, ob einzelne oder mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestags unter den Begriff des Organteils im Sinne des § 63 BVerfGG gefasst werden können. Diese Frage ist ver­ bunden mit der Frage nach der Zulässigkeit einer Prozessstandschaft nach § 64 Abs. 1 BVerfGG (s. u. Rn. 388). Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der einzelne Bun­ destagsabgeordnete keine „ständig vorhandene Gliederung“ des Bundestags und daher kein Organteil im Sinne der §§ 63 f. BVerfGG ist.492 Er ist jedoch, soweit er seine eigenen verfas­ sungsrechtlichen Positionen geltend macht, als „anderer Beteiligter“ parteifähig (s. sogleich Rn. 373 ff.). Auch einzelne Mitglieder des Bundesrats (außer dem Bundesratspräsidenten) dürften konsequenterweise nicht als Organteil qualifiziert werden.

372

(3) Sonstige „ander[e] Beteiligt[e]“. Der einzelne Abgeordnete des Deutschen Bundestags ist jedoch jedenfalls ein „anderer Beteiligter“ i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, der in der Verfassung (etwa in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und in der Ge­ schäftsordnung des Bundestags mit eigenen Rechten ausgestattet ist. Er kann da­

373

486

BVerfGE 2, 143 (160) – EVG-Vertrag; 90, 286 (343) – Bundeswehreinsatz. BVerfGE 67, 100 (124) – Flick-Untersuchungsausschuss; 113, 113 (120) – Visa-Untersu­ chungsausschuss; 124, 78 (106 f.) – Untersuchungsausschuss Geheimgefängnisse, jeweils zur Fraktion bzw. qualifizierten Ausschussminderheit im Untersuchungsausschuss. Für die Par­ teifähigkeit des Ausschusses des Deutschen Bundestages für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung wohl BVerfGE 97, 408 – Gysi I. 488 BVerfGE 84, 304 (318) – PDS / Linke Liste; 96, 264 – Fraktions- und Gruppenstatus. 489 Die Fraktionen sind notwendige Institutionen des Verfassungslebens, BVerfGE 67, 100 (124) – Flick-Untersuchungsausschuss; 68, 1 (63) – Atomwaffenstationierung; 70, 324 (350) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 490 Zur Beteiligtenfähigkeit des Bundestagspräsidenten: BVerfGE 27, 152 (157); 73, 1 (30) – Politische Stiftungen. Beim Bundesratspräsidenten ist folgende Besonderheit zu beachten: Bei der Wahrnehmung der Befugnisse des Bundespräsidenten (s. Art. 57 GG, s. § 3 Rn. 123 ff. und § 5 Rn. 88 ff.) ist der Bundesratspräsident ein oberstes Bundesorgan im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. 491 Vgl. BVerfGE 67, 100 (126 f.) – Flick-Untersuchungsausschuss (Parteifähigkeit von Bun­ desministern als Antragsgegner mit Blick auf Art. 65 S. 2 GG); 45, 1 (28) – Haushaltsüber­ schreitung (Parteifähigkeit des Bundesministers der Finanzen als Antragsgegner mit Blick auf Art. 112 GG). 492 Vgl. nur BVerfGE 90, 286 (343 f.) – Bundeswehreinsatz; 94, 351 (365) – Abgeordneten­ prüfung; 123, 267 (337) – Lissabon; a. A. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 88. 487

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her die behauptete Verletzung oder unmittelbare Gefährdung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist (hierzu § 2 Rn. 321, 337, 351, 403), im Organstreit im eigenen Namen geltend machen. 374

Ein einzelner Abgeordneter ist aber nur antragsbefugt, „wenn er darlegen kann, daß er und der Antragsgegner an einem Verfassungsrechtsverhältnis unmittelbar beteiligt sind und daß der Antragsgegner hieraus erwachsende eigenen Rechte des Antragstellers durch die beanstandete Maßnahme oder durch ein Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat.“ 493 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass das Recht eines jeden Abgeordneten auf Mitwirkung an der Arbeit des Bundestags nur zwischen ihm und dem Bundestag, nicht jedoch zwischen ihm und der Bundesregierung ein unmittelbares Rechtsverhältnis begründet.494 Deshalb ist ein Organstreit über Rechte auf Mitwirkung im Bundestag als Verfahren zwischen dem Bundes­ tag und dem Einzelabgeordneten zu führen.

375

Eine verfassungsprozessrechtliche Sonderproblematik besteht hinsichtlich der Konkurrenz von Organstreit und Verfassungsbeschwerde durch Bundestagsabgeordnete. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Abgeordnete grundsätzlich auf den Organstreit verwiesen, um seine verfassungsrechtlichen Positionen durchzusetzen. Allerdings ist eine Verfassungsbeschwerde dann statthaft, wenn der Abgeordnete seine organschaftli­ che Stellung nicht gegenüber einem im Organstreitverfahren parteifähigen Beteiligten (etwa dem Bundestag) geltend macht, sondern vielmehr die Verletzung eines im fachgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigenden subjektiven öffentlichen Rechts (etwa des Zeugnisverwei­ gerungsrechts oder des Beschlagnahmeverbots der Abgeordneten nach Art. 47 GG) durch die öffentliche Gewalt rügt.495

376

Politische Parteien können nach ständiger Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts die behauptete Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status (vgl. insbesondere Art. 21 GG) durch ein Verfassungsorgan oder durch einen „an­ deren Beteiligten“ als Antragsgegner vor dem Bundesverfassungsgericht im Wege des Organstreitverfahrens geltend machen.496 Sind die politischen Parteien hin­ gegen – einem sonstigen Verein vergleichbar – nicht in ihrer Stellung als Akteur des Verfassungslebens betroffen, so sind sie anstelle des Organstreits auf die Er­ hebung einer Verfassungsbeschwerde verwiesen (s. u. Rn. 546).497

377

Neben dem (Bundes-)Organstreit und der Verfassungsbeschwerde können politische Par­ teien im Rahmen weiterer Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht auftreten: 493 BVerfGE 90, 286 (342) – Bundeswehreinsatz; s. auch BVerfGE 70, 324 (350); 80, 188 (208 f.) – Wüppesahl. Zur Antragsbefugnis s. u. Rn. 383 ff. 494 Vgl. BVerfGE 90, 286 (343) – Bundeswehreinsatz. 495 Vgl. BVerfGE 108, 251 (267) – Abgeordnetenbüro. 496 BVerfGE 4, 27 – Plenum; 20, 119 (128 f.); 24, 260 (263) – Politische Partei; 24, 300 (329); 44, 127 (137); 85, 264 (284) – Parteienfinanzierung II; 92, 80 (88); 110, 403 (405); kritisch dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 92: „Diese Recht­ sprechung zur Parteifähigkeit der politischen Parteien im Organstreit […] ist aber falsch, denn Parteien sind gesellschaftliche Einrichtungen, die ausnahmslos auf die Verfassungsbeschwerde zu verweisen sind.“ Überblick zur prozessualen Stellung politischer Parteien bei Kloepfer, Ver­ fassungsrecht, Bd. I, 2011, § 7, Rn. 292 ff. 497 BVerfGE 27, 152 (158); 47, 198 (223) – Wahlwerbesendungen; 69, 257 (265 f.) – Politische Parteien.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

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Antragsteller eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht können etwa auch die Landesverbände der politischen Parteien sein,498 und zwar auch dann, wenn sie geltend machen, ihr Recht auf Gleichheit der Wettbewerbschancen sei bei Gemeindewahlen, etwa durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens, verletzt.499 Freilich ist dies nicht im Wege eines (Bundes-)Organstreits nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, sondern als sog. Landesstreitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG (s. Rn. 138, 496) statthaft500 und zudem nur dann, wenn kein anderer Rechtsweg gegeben ist. Seit 2012 besteht mit der Partei-Nichtanerkennungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG, § 13 Nr. 3a, §§ 96a ff. BVerfGG ein spezifischer Rechtsbehelf für Streitigkeiten um die Nichtanerkennung von Vereinigungen als Partei für die Wahl zum Bundestag (s. § 2 Rn. 195 ff.). Für Wahlen zum Europäischen Parlament gibt es eine parallele Norm in § 14 Abs. 4a EuWG. Der Rechtsbehelf der Partei-Nichtanerkennungsbeschwerde ist als Ergänzung zum Rechtsbe­ helf der Wahlprüfungsbeschwerde nach Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 BVerfGG (s. § 2 Rn. 189 ff.), gewissermaßen in deren zeitlichem Vorfeld, konzipiert worden (s. § 2 Rn. 196).501

378

b) Antragsgegenstand In relativ unbestimmter Form bezeichnet Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG den taug­lichen Gegenstand des Organstreitverfahrens als „Auslegung [des] Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten“ der Betei­ ligten. § 64 Abs. 1 BVerfGG konkretisiert diese Vorgabe dahingehend, dass der Antragsgegenstand „eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners“ sein muss. Dabei ist ein Unterlassen nur dann rechtserheblich, wenn der Antrags­ gegner zum Handeln verpflichtet ist.502

379

Im Einzelfall kann die Qualifizierung des Streitgegenstandes als Maßnahme oder Unter­ lassen Schwierigkeiten bereiten, etwa wenn einem Bundestagsmitglied vom Bundestagsprä­ sidenten keine Redezeit eingeräumt wird. In solchen Zweifelsfällen sollte die Zuordnung in erster Linie nach den tatsächlichen Umständen vorgenommen werden, denn rechtlich spielt die Qualifizierung gerade wegen der alternativen Möglichkeit zumeist nur eine untergeordnete Rolle.

380

Eine Maßnahme im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG kann auch ein Gesetz503 und der Er­ lass der Geschäftsordnung504 sein. Erforderlich ist, dass „die beanstandete Maßnahme rechts­ erheblich [ist] oder sich zumindest zu einem die Rechtsstellung des [Antragstellers] beeinträch­ tigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten [kann].“505 Handlungen mit ausschließlich vorbereitendem oder vollziehendem Charakter sind kein möglicher Angriffsgegenstand im

381

498

BVerfGE 67, 65 (69). BVerfGE 6, 367 (372 f.). 500 BVerfGE 6, 367 (371); 67, 65 (69). 501 Vgl. BT-Drs 17/9392, S. 4. 502 Vgl. BVerfGE 103, 81 (86 ff.) – Pofalla I. 503 BVerfGE 73, 40 (65) – Parteispendenurteil III. 504 BVerfGE 80, 188 (209) – Wüppesahl. 505 BVerfGE 97, 408 (414) – Gysi I, Hervorh. durch Verf. 499

624

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Organstreitverfahren.506 Beispielsweise stellt ein bloßer Beschlussentwurf des Immunitätsaus­ schusses des Bundestags mit „vorläufigen Feststellungen“ keinen tauglichen Antragsgegen­ stand in einem Organstreitverfahren eines Bundestagsabgeordneten dar.507

382

Teilweise wird bereits im Rahmen der Prüfung des Antragsgegenstands darauf eingegangen, dass sich die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in ein verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis zwischen Antragsteller und Antragsgegner einordnen lassen muss.508 Dies lässt sich freilich auch im Rahmen der Antragsbefugnis (hierzu sogleich Rn. 384) thematisieren. Mit der Voraussetzung eines verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis­ ses wird einerseits der Charakter des Organstreitverfahrens als kontradiktorisches Verfahren (s. o. Rn. 358) unterstrichen, andererseits wird betont, dass es um die Stellung der Beteiligten im Verfassungsleben gehen muss. Daher sind etwa Streitigkeiten zwischen einer politischen Partei und dem Bundestagspräsidenten um die Abwicklung der Wahlkampfkostenerstattung mangels verfassungsrechtlichem Rechtsverhältnis nicht vom Bundesverfassungsgericht, son­ dern in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu entscheiden.509

c) Antragsbefugnis 383

aa) Geltendmachung eigener Rechte. Der Antragsteller muss weiterhin antrags­ befugt sein, also die Verletzung eigener, verfassungsrechtlich begründeter Rechte (d. h. hier oftmals eigentlich Zuständigkeiten510) hinreichend geltend machen (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Die etwaige Rechtsverletzung muss dabei substantiiert, d. h. plausibel und vertretbar511, dargelegt werden.

384

Es muss um Rechte aus einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwi­ schen Antragsteller und Antragsgegner gehen (s. o. Rn. 382). Zu betonen ist, dass die Rechte, deren Verletzung der Antragsteller geltend macht, sich aus der Ver­ fassung ergeben müssen. Dies ergibt sich schon aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG: Da­ nach entscheidet das Bundesverfassungsgericht „über die Auslegung des Grund­ gesetzes“. Deutlicher formuliert § 64 Abs. 1 BVerfGG: Die Maßnahme oder das Unterlassen des Antragsgegners muss den Antragsteller „in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten“ verletzen oder unmittelbar ge­ fährden.

385

Deshalb reicht zur Bejahung der Antragsbefugnis die Rüge der Verletzung einzelner Vor­ schriften der Geschäftsordnung eines obersten Verfassungsorgans nicht aus, obwohl schon beteiligtenfähig ist, wer durch eine Geschäftordnung mit eigenen Rechten ausgestattet ist. 506

BVerfGE 68, 1 (74 f.) – Atomwaffenstationierung; 97, 408 (414). BVerfGE 97, 408 (414) – Gysi I. 508 Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 13 ff. 509 BVerfGE 27, 152 (157); hierzu und zu vergleichbaren Fällen Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 15. 510 Von ‚Rechten‘ wird man aber etwa bei den Gehalten, die aus dem sog. ‚freien Mandat‘ der Bundestagsabgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitet werden, sprechen. 511 Vgl. Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungsliefe­ rung 2019, § 64, Rn. 66. 507

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

625

Auch dieser Beteiligte muss die Verletzung verfassungsrechtlicher Rechte und Pflichten gel­ tend machen. Insofern ist der Maßstab der Antragsbefugnis sehr viel enger als die auch die Beteiligten­ fähigkeit umfassende Antragsberechtigung. Während dort die Ausstattung mit eigenen Rech­ ten durch die Geschäftsordnung genügt, können hier nur verfassungsrechtliche Rechtsposi­ tionen geltend gemacht werden. Die Verletzung von Rechten, die sich lediglich aus einer Geschäftsordnung ergeben, genügt dem Erfordernis der Antragsbefugnis also nur dann, wenn sich diese ihrerseits aus der Verfassung herleiten lassen.512 So ist etwa die Berufung einer Fraktion auf ihre Rechte aus der Geschäftsordnung des Bundestags nur dann ein zureichender Vortrag, wenn sich die darin gewährten Rechtspositionen als fraktionelle Mitwirkungsrechte aus der Verfassung ableiten lassen.513

386

Der Antragsteller muss geltend machen, aufgrund der Kompetenzüberschrei­ tung durch den Antragsgegner in seinen eigenen, aus der Verfassung ableitbaren Rechten514 betroffen zu sein. Es genügt demnach also etwa nicht, wenn die Ver­ letzung von „Rechten der Bürger auf Teilhabe an der politischen Willensbildung“ durch einen Abgeordneten oder eine Partei515 vorgetragen werden.

387

bb) Prozessstandschaft. Die Formulierung des § 64 Abs. 1 BVerfGG („er oder das Organ, dem er angehört“) macht deutlich, dass neben der Verletzung eigener Rechte auch die Verletzung von Rechten des Organs, dem der jeweilige Antrag­ steller angehört, geltend gemacht werden kann. An dieser Stelle kennt das Ver­ fassungsprozessrecht also die Möglichkeit einer sog. Prozessstandschaft, d. h. die Geltendmachung fremder Rechte in eigenem Namen.516

388

Diese Möglichkeit einer Minderheit, die Rechte eines Verfassungsorgans zu schützen, die ansonsten mehr oder weniger zur freien Disposition der Mehrheit stünden, ist wichtig. Sie dient sowohl dem Minderheitenschutz (des Organteils) als auch dem Funktionsschutz (des Gesamtorgans)517: Die Prozessstandschaft kann einen Missbrauch durch eine Mehrheit abwehren und trägt zur Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung umso mehr bei, als dem Bundesverfassungsgericht eine Selbstbefassung mit eventuell beobachteten Verfassungsverletzungen nicht möglich ist (s. o. Rn. 45, 58, 252, 288, 362).

389

512

Vgl. BVerfG, DVBl. 2005, 844 (845 f). Vgl. BVerfGE 70, 324 (350 ff.) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 514 Vgl. zu den Voraussetzungen der Herleitung eines Organ(teil)rechtes aus dem Grundge­ setz: BVerfGE 70, 324 (350 ff.) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 515 So in den Fällen BVerfG, EuGRZ 1992, 153 ff.; BVerfGE 71, 299 (303 ff.). 516 Vgl. für das Privatrecht etwa die Normen § 80 Abs. 1 InsO oder § 256 ZPO. 517 So für das Beispiel der Prozessstandschaft der Bundestagsfraktionen: Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 64, Rn.  77, 82, unter Verweis auf Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entschei­ dungen, 1977, S. 202, welcher hervorhebt, dass die Prozessstandschaft nach dem BVerfGG dazu dient, die „Unverzichtbarkeit der verfassungsmäßigen Kompetenzen des Gesamtorgans praktisch durchzusetzen.“ 513

626

§ 8 Bundesverfassungsgericht

390

So können Fraktionen bspw. Rechte des Bundestags im Organstreitverfahren geltend ma­ chen.518 An diesem praktisch bisher bedeutsamsten (und bislang einzigen durch das Bundes­ verfassungsgericht anerkannten) Fall519 der Prozessstandschaft nach § 64 Abs. 1 BVerfGG wird das Zusammenspiel von Minderheitenschutz und Funktionsschutz besonders deutlich: Nach der grundgesetzlichen Ordnung besteht das Kräftegleichgewicht weniger zwischen Bundestag und Bundesregierung als vielmehr zwischen der ‚Koalition‘ (und der Bundesregierung) auf der einen Seite und der Opposition auf der anderen Seite (s. § 2 Rn. 41). Den Fraktionen der Opposition kommt daher vor allem auch die Rolle zu, die Funktionsfähigkeit des Bundestags als Parlament, etwa dessen Kontrollaufgaben gegenüber der Exekutive, sicherzustellen. Hier­ bei bietet die Prozessstandschaft eine verfassungsprozessuale Absicherung.

391

Eine Prozessstandschaft des einzelnen Bundestagsabgeordneten für Rechtspositionen des Bundestags wird vom Bundesverfassungsgericht520 und weiten Teilen des Schrifttums521 hingegen abgelehnt. Das Gericht stützt sich hierbei vor allem auf eine Wortlautauslegung des § 63 BVerfGG, welcher von „Teilen dieser Organe“ spricht: Ein Organteil sei eine „ständig vorhandene Gliederung“ (s. schon oben Rn. 371); dies treffe auf den Einzelabgeordneten aber nicht zu. Wirklich zwingend ist das nicht. Teilweise wird demgegenüber im Schrifttum vor allem aus Gründen des Minderheitenschutzes die Prozessstandschaft einzelner Abgeordneter gefordert.522 Jedenfalls ist der Einzelabgeordnete jedoch hinsichtlich seiner eigenen Rechte (etwa aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) – dann aber vor allem bei Auseinandersetzungen mit dem Bundestag – antragsbefugt (s. o. Rn. 373 ff.).

d) Rechtsschutzbedürfnis 392

Sind die Voraussetzungen des § 64 Abs. 1 BVerfGG gegeben, ist regelmäßig auch von einem Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers auszugehen; dieses ist dann indiziert. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass das Organstreitverfahren gegenüber anderen Rechtsbehelfen nicht subsidiär ist: „Das Bundesverfassungsgericht hat einen ihm angetragenen Organstreit nicht daraufhin zu prüfen, ob dem Antragsteller zur Verfolgung seines Prozeßzieles außerhalb der gewählten Verfahrensart andere gleichwertige verfassungsrechtliche Wege offen gestanden hätten oder noch offen stehen.“523

518

BVerfGE 67, 100 (125) – Flick-Untersuchungsausschuss; 68, 1 ff. – Atomwaffenstatio­ nierung. Der einzelne Abgeordnete hingegen kann durch seinen Antrag weder Rechte des ge­ samten Bundestages noch Rechte seiner Fraktion erfolgreich geltend machen, vgl. BVerfGE 70, 324 (352 ff.) – Haushaltskontrolle der Nachrichtendienste. 519 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl., 2018, Rn. 94. 520 Vgl. nur BVerfGE 90, 286 (343 f.) – Auslandseinsatz; 94, 351 (365); 123, 267 (337) – Lis­ sabon. 521 Vgl. nur H.-P. Schneider, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 627 (644); Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, § 64, Rn. 8. 522 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 94; unentschieden, aber nicht mehr aktuell Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 7, Rn. 33. 523 BVerfGE 45, 1 (30)  – Haushaltsüberschreitung; darauf Bezug nehmend auch 90, 286 (339 f.).

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

627

Nur sofern der jeweils zu untersuchende Sachverhalt Anlass dazu bietet, kann in Ausnahmefällen trotz Antragsbefugnis das Rechtsschutzbedürfnis fehlen. So ist zu überlegen, ob das Bundesverfassungsgericht sich mit einem Organstreitver­ fahren befassen soll, wenn der Antragsteller die dargelegte Rechtsverletzung durch eigenes Handeln hätte vermeiden können524 bzw. an dieser Rechtsverletzung so­ gar beteiligt war.525 Für den letzten Fall ließe sich möglicherweise der allgemeine Rechtsgrundsatz ‚venire contra factum proprium‘, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens, nutzbar machen.

393

e) Form und Frist Die Einleitung eines Organstreitverfahrens bedarf gemäß § 23 Abs. 1 und § 64 Abs. 2 BVerfGG der Schriftform und der Bezeichnung der Bestimmung des Grundgesetzes, deren Verletzung geltend gemacht wird.

394

Darüber hinaus ordnet § 64 Abs. 3 BVerfGG an, dass der Antrag innerhalb von sechs Monaten gestellt werden muss, beginnend mit dem Zeitpunkt, in dem die be­ anstandete Maßnahme oder das Unterlassen dem Antragsteller bekannt geworden ist.526 Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich dabei um eine Ausschlussfrist, die nicht – auch nicht im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – verlängert werden kann.527

395

3. Begründetheitsvoraussetzungen und Entscheidungsinhalt Das Organstreitverfahren ist begründet, soweit die Maßnahme oder Unterlas­ sung des Antragsgegners verfassungswidrig ist und den Antragsteller hierdurch in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt (vgl. § 67 S. 1 BVerfGG). Die gel­ tend gemachten Rechte (s. o. Rn. 383 ff.), deren Verletzung durch die angegriffene Maßnahme festzustellen ist, bestimmen somit Inhalt und Umfang der verfassungs­ gerichtlichen Prüfung.

396

Gewisse Spannungen ergeben sich insoweit aus dem Verhältnis von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zu § 67 BVerfGG.528 Das Grundgesetz scheint in der Formulierung „[Entscheidung] über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten“ dem Bundesverfassungsgericht einen weitergehenden Spielraum in der Bestimmung des Entscheidungsumfangs bei Organstreitverfahren einzuräumen, da es die Streitigkeiten

397

524

BVerfGE 68, 1 (77 f.) – Atomwaffenstationierung. Vgl. hierzu bspw. BVerfGE 90, 286 ff. – Bundeswehreinsatz. 526 Vgl. BVerfGE 80, 188 (209) – Wüppesahl; 92, 80 f.; zum Beginn der Frist im Falle eines Unterlassens: BVerfGE 103, 164 (169 ff.) – ÖDP. 527 BVerfGE 71, 299 (304) – Wackersdorf. 528 Zum Ganzen Umbach, in: ders. / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, Vor §§ 63 ff., Rn. 30 ff. 525

628

§ 8 Bundesverfassungsgericht

zwischen Organen nur als „Anlaß“ der Auslegung des Grundgesetzes benennt. Demgegenüber wird in § 67 S. 1 BVerfGG der Entscheidungsgegenstand – in verfassungskonformer Weise529 – auf die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der in Streit stehenden „Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners“ fokussiert. § 67 S. 3 BVerfGG lässt immerhin zu, dass das Gericht „zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheide[t], von der die Feststellung [über die Verfassungsmäßigkeit der Hand­ lung des Antragsgegners] abhängt.“

398

Im Falle einer Verletzung der verfassungsrechtlichen Rechte des Antragstellers beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung auf eine entsprechende Feststellung (§ 67 S. 1 und 2 BVerfGG). Eine ‚Verurteilung‘ des Antragsgegners durch das Gericht ist dagegen grundsätzlich nicht vorgesehen.

399

Freilich kann das Bundesverfassungsgericht – im Rahmen seiner Kompetenz zur Bestim­ mung der „Art und Weise der Vollstreckung“ seiner Entscheidungen (§ 35 BVerfGG; s. o. Rn. 323 ff.) – die sich aus der Feststellung ergebenden verfassungsrechtlichen Pflichten des Antragsgegners näher bestimmen.530 Teilweise spricht das Bundesverfassungsgericht sol­ che Verpflichtungen bereits im Tenor der Entscheidung aus: Beispielsweise hat das Gericht in einem Organstreitverfahren – über die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit hinaus – den Deutschen Bundestag als Antragsgegner verpflichtet, über die Grundsätze, nach denen die Mitglieder des Deutschen Bundestags in den Vermittlungsausschuss entsandt werden, nach Maßgabe der Gründe der Entscheidung erneut zu beschließen (s. bereits oben Rn. 330).531

400

Wie auch bei Entscheidungen in anderen Verfahren vertraut das Gesetz jedoch letztlich auf die ‚Verfassungs(-gerichts-)loyalität‘ der Beteiligten (s. allgemein Rn. 326) und geht davon aus, dass der Antragsgegner die Konsequenzen aus dem Feststellungsurteil zieht, die notwendig sind, um den verfassungswidrigen Zustand zu beenden oder zu beseitigen.

III. Abstrakte Normenkontrolle 401

Die abstrakte Normenkontrolle tritt im deutschen Verfassungsprozessrecht in der (Grund-)Form des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76–79 BVerfGG auf. Sie gehört zu den besonders wichtigen Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungs­ gericht.

529

So m. w. N. Umbach, in: ders. / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, Vor §§ 63 ff., Rn. 30 ff. 530 Vgl. Laumen, Die Vollstreckungskompetenz nach § 35 BVerfGG. Eine systematische Darstellung, 1997, S. 140 ff. 531 BVerfGE 112, 118 – Vermittlungsausschuss I.

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1. Bedeutung und Funktion Die abstrakte Normenkontrolle ist kein subjektives Rechtsschutzverfahren, son­ dern ein objektives Beanstandungsverfahren. In den Worten des Bundesverfas­ sungsgerichts heißt dies: „Das Normenkontrollverfahren ist ein seinem Wesen nach von subjektiven Berechtigungen unabhängiges objektives Verfahren zum Schutz der Verfassung und dient lediglich der Prüfung von Rechtsnormen am Maßstab des Grundgesetzes, nicht aber dem Schutz einer Rechtstellung der Antragsteller. In diesem Verfahren gibt es keinen Anspruchsberechtigten.“532

402

In dieser Grundausrichtung als objektives Beanstandungsverfahren unterscheidet sich die abstrakte Normenkontrolle insbesondere von den kontradiktorischen Verfahren des Organ­ streits (s. o. Rn. 356 ff.) und des Bund-Länder-Streits (s. u. Rn. 495 ff.). Dem entspricht auf der Ebene der Zulässigkeitsvoraussetzungen, dass das Bundesverfassungsgericht für die abstrakte Normenkontrolle in ständiger Rechtsprechung verlangt, dass „ein besonderes objektives Interesse an der Klarstellung der Geltung der zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellten Norm gegeben ist“ (s. u. Rn. 428 ff.).533 Ein (vollwertiges) Äquivalent zur subjektiv-rechtlichen Antragsbefugnis, wie der Organstreit und der Bund-Länder-Streit sie voraussetzen, kennt die abstrakte Normenkontrolle folgerichtig nicht.

403

Zweck der abstrakten Normenkontrolle ist es somit, durch Klärung der ver­ fassungsrechtlichen Lage und Abgleich des einfachen Rechts mit den Vorgaben des Verfassungsrechts dem Rechtsfrieden und der Rechtsklarheit zu dienen.534

404

Das Attribut „abstrakt“ ist in Unterscheidung von dem Attribut „konkret“ zu sehen, welches die Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG kennzeichnet. Die konkrete Normenkontrolle wird anlässlich eines konkreten Verfahrens vor den Fachgerichten initiiert, bei welchem die Verfassungsmäßigkeit eines Parlaments­ gesetzes in Frage gestellt wird (s. u. Rn. 466). Demgegenüber kann die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG unabhängig von einem konkreten Anwendungsfall, gewissermaßen anlasslos535, initiiert werden.

405

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen Eine zulässige abstrakte Normenkontrolle setzt – dies sei als Überblick voran­ gestellt – voraus, dass ein antragsberechtigter Antragsteller einen tauglichen An­ tragsgegenstand bei Vorliegen eines Antragsgrundes und eines objektiven Klar­ 532

BVerfGE 1, 396 (407) – Deutschlandvertrag, Hervorh. d. Verf.; bezugnehmend etwa auch BVerfGE 83, 37 (49) – Ausländerwahlrecht. 533 BVerfGE 96, 133 (137) unter Verweis auf BVerfGE 6, 104 (110) – Kommunalwahl-Sperr­ klausel I; 39, 96 (106) – Städtebauförderungsgesetz; 52, 63 (80) – 2. Parteispendenurteil; 88, 203 (334) – Schwangerschaftsabbruch II. 534 So BVerfGE 79, 311 (326) – Staatsverschuldung. 535 Freilich müssen die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle (s. so­ gleich Rn. 406 ff.) vorliegen.

406

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§ 8 Bundesverfassungsgericht

stellungsinteresses dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegt sowie die gesetzlichen Formanforderungen eingehalten werden. a) Antragsberechtigung 407

Der Kreis der Antragsberechtigten wird bereits vom Grundgesetz auf drei mögliche Antragsteller beschränkt: Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG können (nur) die Bundesregierung, eine Landesregierung sowie (seit dem 1. Dezember 2009536) ein Viertel (s. a. Rn. 27) der Mitglieder des Bundestags eine Norm der abstrakten Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht zuführen.

408

Andere Organe oder Personen sind nicht antragsberechtigt. Weder der Bun­ despräsident noch der Bundesrat können also das Bundesverfassungsgericht zu einer abstrakten Normenkontrolle veranlassen, dieses darf sich auch nicht aus eigener Initiative mit einer Norm befassen.

409

Auch Fraktionen des Deutschen Bundestags (s. § 2 Rn. 370 ff.) sind als solche nicht antragsberechtigt. Sofern eine Fraktion im Bundestag allerdings über ein Viertel der Abgeordneten verfügt, kann sie auf diesem Wege – also mittelbar durch ihre Mitglieder – eine abstrakte Normenkontrolle initiieren.

410

Die fehlende Antragsberechtigung der Fraktionen wird so relativiert bzw. aufgefangen. Im Bundestag kann es nämlich je nach parteipolitischer Ausrichtung und sonstigen gemeinsamen Interessen zahlreiche Möglichkeiten geben, ein Viertel seiner Mitglieder zu einem Antrag an das Bundesverfassungsgericht zu bewegen. Den großen Fraktionen, die über ein Viertel der Mitglieder des Bundestags oder mehr verfügen, wird so jedenfalls der Griff zur abstrakten Normenkontrolle ermöglicht.

411

Kleinere Fraktionen können  – über ihre Abgeordneten  – nur gemeinsam eine abstrakte Normenkontrolle erheben, um so das Quorum zu erreichen. Grundsätzlich kann sich also eine aus kleineren Fraktionen bestehende Opposition zur Initiierung eines abstrakten Normen­ kontrollverfahrens zusammenschließen. Somit steht insgesamt eine hinreichende Anzahl von Akteuren zur Verfügung, welche die Verfassungsmäßigkeit der gesamten Rechtsordnung im Auge behalten und gegebenenfalls ein abstraktes Normenkontrollverfahren einleiten können.

412

Problematisch kann das Quorum für die Antragsberechtigung von einem Viertel der Bundes­ tagsmitglieder allerdings in Zeiten einer ‚Großen Koalition‘ mit entsprechend (sehr) ‚Kleiner Opposition‘ werden.537 Zwar hatte die Absenkung des Quorums des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG von einem Drittel auf ein Viertel der Abgeordneten im Jahr 2009 den Ausschluss der Opposi­ tion von der Antragsberechtigung einer abstrakten Normenkontrolle etwas unwahrscheinlicher gemacht. Doch während die ‚Kleine Opposition‘ aus FDP, Die Linke.PDS und Bündnis 90/Die

536 Durch das 53. ÄndG zum Grundgesetz v. 08.10.2008, BGBl. I 1926, wurden in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Wörter „eines Drittels“ durch „eines Viertels“ ersetzt. 537 S. dazu (noch vor Absenkung des Quorums in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) Dimroth, ZRP 2006, 50 ff.; vgl. auch die Debattenbeiträge von Kloepfer, In großer Gefahr, FAZ v. 01.11.2013, S. 7, und Schwarz, Locker bleiben, FAZ v. 01.11.2013, S. 7.

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Grünen im 16. Deutschen Bundestag (2005–2009) noch etwas über einem Viertel der Abge­ ordneten stellte, erreichte die ‚Kleine Opposition‘ des 18. Deutschen Bundestag ­(2013–2017) aus Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen dieses Quorum nicht. Im 19. Deutschen Bundestag (seit 2017) besteht nun freilich eine insgesamt stärkere ‚Kleine Opposition‘ (fast 44 % der Ab­ geordneten). Diese ist politisch allerdings sehr heterogen. Weder erreichen die Abgeordneten von AfD und FDP noch die Abgeordneten von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Bundestags; dies macht ein lagerübergreifendes Tätigwerden von mindestens drei der vier Oppositionsfraktionen zur Initiierung oppositionel­ ler Normenkontrollen notwendig.538 Um diesem Problem zu begegnen, kann verfassungspolitisch einerseits eine weitere Ab­ senkung des Quorums (etwa auf ein Fünftel) durch Verfassungsänderung erwogen werden. Alternativ lässt sich darüber nachdenken, ob „die Opposition im Deutschen Bundestag“ als Verfassungsrechtsbegriff ausgestaltet und in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in Bezug genommen werden könnte, oder ob dort (zusätzlich) die Antragsberechtigung von „zwei Fraktionen ge­ meinsam“ vorgesehen werden könnte (s. auch § 2 Rn. 413 f.).539

413

Das Übergewicht der prozessualen Befugnisse des Bundestags gegenüber denen des Bun­ desrats bei der abstrakten Normenkontrolle wird rechtlich teilweise dadurch kompensiert, dass die einzelnen Landesregierungen selbst antragsbefugt sind. Zudem gibt es – unter zusätz­ lichen Voraussetzungen – auch eine Antragsberechtigung des Bundesrats und der Volksver­ tretungen der Länder in den Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a, Abs. 2 GG (s. u. Rn. 453 ff.). Der Bundesrat ist außerdem im Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG beteiligten­ fähig (s. o. Rn. 356 ff.) und kann etwaige Verletzungen seiner Mitwirkungsbefugnisse an der Gesetzgebung des Bundes (vgl. Art. 76, 77 GG für formelle Bundesgesetze und Art. 80 Abs. 2, 3 GG für Bundesrechtsverordnungen; s. ausführlich § 3 Rn. 172 ff.) feststellen lassen. Damit hat der Bundesrat über den Organstreit hinsichtlich der wichtigsten bundesrechtlichen Normen durchaus (begrenzte) prozessuale Klagepositionen. Gleichwohl könnte verfassungspolitisch der Zugang des Bundesrats zur abstrakten Normenkontrolle diskutiert werden, da er auf diese Weise insbesondere auch die Überprüfung von Landesrecht (s. u. Rn. 417) initiieren könnte.

414

Auch über die Schaffung der bislang nicht gegebenen Antragsberechtigung des Bundespräsidenten bei der abstrakten Normenkontrolle durch Verfassungsänderung lässt sich ver­ fassungspolitisch diskutieren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Bundespräsident hinsichtlich formeller Gesetze des Bundes ohnehin am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist: Er fertigt gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG die Bundesgesetze aus und hat hierbei ein (begrenz­ tes) Prüfungs- und Ausfertigungsverweigerungsrecht (ausführlich § 5 Rn. 136 ff.). Bezüglich sonstiger, nicht formell-gesetzlicher bundesrechtlicher sowie hinsichtlich landesrechtlicher Normen hat der Bundespräsident demgegenüber keine rechtlichen Möglichkeiten der Ein­ flussnahme oder Kontrolle. Ob die sonstigen Aufgaben des Bundespräsidenten, insbesondere etwa seine sog. ‚Integrationsfunktion‘ (ausführlich § 5 Rn. 29 ff.) als verfassungspolitisches Argument für die Schaffung einer Antragsberechtigung im Normenkontrollverfahren spre­ chen, ist jedoch eher zweifelhaft.

415

538

Im Spätsommer 2018 initiierten Abgeordnete von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen eine solche lagerübergreifend getragene abstrakte Normenkontrolle gegen das Baye­ rische Polizeiaufgabengesetz. 539 Vgl. Kloepfer, In großer Gefahr, FAZ v. 01.11.2013, S. 7.

632 416

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Was Anträge von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundesta­ ges betrifft, so hat „die Diskontinuität des Deutschen Bundestages [(s. § 2 Rn. 205 ff.)] … als solche keinen Einfluß auf das Fortbestehen wirksam vorge­ nommener Rechtshandlungen des Deutschen Bundestages selbst oder eines Teils seiner Mitglieder. Die einmal gegebene Zulässigkeit eines Nor­menkontrollantrags eines Drittels [jetzt: eines Viertels] seiner Mitglieder besteht auch un­abhängig davon, daß Antragsteller ihre Stellung als Mitglieder des Deutschen Bundestages verlieren.“540 b) Antrags- bzw. Prüfungsgegenstand und -maßstab

417

Auch der Prüfungsgegenstand einer abstrakten Normenkontrolle wird von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vorgegeben und zugleich auch der jeweilige Prüfungsmaßstab ge­ nannt. Überprüft werden kann Bundesrecht oder Landesrecht einschließlich des Landesverfassungsrechts.541

418

Die Formulierung „Bundesrecht oder Landesrecht“ in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist hierbei weit zu verstehen: Insbesondere besteht – anders als bei der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG (s. u. Rn. 481 f.) – keine Beschränkung auf formelle Gesetze.542 Überprüfbar sind daher neben parlamentarisch erlassenen (formellen) Bundes- und Landesgesetzen auch nur-materielle Gesetze wie Rechts­ verordnungen und Satzungen, nicht aber Verwaltungsvorschriften, weil diese kein außenverbindliches Recht darstellen543.

419

Zu den weiten Begriffen „Bundesrecht oder Landesrecht“ zählen außerdem544: Gewohnheitsrechtsätze auf Bundes- bzw. Landesebene, die Geschäftsordnungen der Verfassungs­ organe des Bundes bzw. der Länder (s. § 1 Rn. 95 ff.), Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (s. § 2 Rn. 65; § 3 Rn. 236 ff.), einschließlich der Zustimmungsgesetze zu Verträgen zur europäischen Integration (s. § 2 Rn. 65; § 3 Rn. 286), Verwaltungsabkommen, sofern sie Außenrechtwirkungen entfalten545, sowie für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge.

420

Prüfungsmaßstab bei Bundesrecht ist das Grundgesetz, bei Landesrecht neben dem Grundgesetz auch das Bundesrecht (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG: „Vereinbar­ keit von Bundesrecht oder Landesrecht mit [dem] Grundgesetze oder die Verein­ barkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte“). Die Grundgesetzmäßigkeit von Bundes- bzw. Landesrecht wird überprüft; zusätzlich wird die Bundesrechts­ 540

BVerfGE 79, 311 (327) – Staatsverschuldung (Hervorh. v. Verf.). BVerfGE 103, 111 (124) – Hessisches Wahlprüfungsgericht. 542 Zur Unterscheidung formeller und materieller Gesetze s. § 2 Rn. 66, 72. 543 Zur fehlenden Außenwirkung der Verwaltungsvorschriften, welche dazu führt, dass diese nicht als „objektives Recht“ gelten, vgl. nur BVerfGE 12, 180 (199). 544 Vgl. die Auflistungen bei Graßhof, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2.  Aufl. 2005, § 76, Rn. 15 f.; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 37 f. 545 Zu „Verwaltungsabkommen“ Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 35, Rn. 74 ff. 541

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

633

konformität von Landesrecht kontrolliert. Insoweit dient die abstrakte Normenkon­ trolle als verfassungsprozessuales Mittel zur Erzwingung der Verfassungsbindung der (Bundes- und Landes-)Gesetzgebung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der Suprematie des Bundesrechts gegenüber dem Landesrecht (Art. 31 GG). Auch eine andere Unterscheidung findet ihre normative Grundlage in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, nämlich die Differenzierung zwischen formeller und materieller Verfassungs- bzw. Rechtmäßigkeit. In den Worten des Grundgesetzes drückt sich diese Unterscheidung in der Terminologie „förmliche und sachliche Verein­ barkeit“ aus.

421

Für die Staatsrechtsklausur ergibt sich hieraus, dass bei der (nach der Zulässigkeitsprü­ fung erfolgenden) Begründetheitsprüfung zunächst die formelle Verfassungsmäßigkeit und erst danach die materielle Verfassungsmäßigkeit geprüft wird.

422

c) Antragsgrund: „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“ Nach dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG müssen „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit“ der zu überprüfenden Norm mit dem jeweiligen Prüfungsmaßstab bestehen.

423

„Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“ können nach § 76 Abs. 1 BVerfGG in zweifacher Weise bestehen: Erstens kann der Antragsteller eine Norm wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz (oder – bei Landesrecht – mit sonstigem Bundesrecht) für nichtig halten (s. u. Rn. 430). Zweitens kann der Antragsteller eine Norm für gültig halten, nachdem diese von einem Gericht, einer Behörde, einem Organ des Bundes oder eines Landes als grundgesetzwidrig (oder bei Lan­ desrecht: als bundesrechtswidrig) nicht mehr angewandt wurde (s. u. Rn. 431). Im Falle des Für-gültig-­Haltens reicht die bloße Rechtskontroverse nicht aus; es muss zur Nichtanwendung des umstrittenen Rechts gekommen sein. Für beide Modalitä­ ten des Antragsgrunds verlangt § 76 Abs. 1 BVerfGG, dass – über bloße „Zweifel“ hinaus – der Antragsteller die Norm für nichtig bzw. für gültig „hält“, das heißt: dass er von ihrer Nichtigkeit bzw. Gültigkeit überzeugt ist.546

424

Die Formulierung des § 76 Abs. 1 BVerfGG stellt im Vergleich zum Wortlaut des Grundgesetzes („Meinungsverschiedenheiten und Zweifel“) somit – in mehr­ facher Hinsicht – engere Anforderungen auf. Nach teilweise vertretener Meinung lässt sich § 76 Abs. 1 BVerfGG aber (noch) verfassungskonform auslegen, so dass die Norm nicht ihrerseits für verfassungswidrig erklärt werden muss.547 Teilweise wird § 76 Abs. 1 BVerfGG hingegen als teilnichtig angesehen.548 Demgegenüber

425

546

Vgl. BVerfGE 96, 133 (137 f.). Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 8 II 5 c) cc); Benda / Klein, Ver­ fassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 731. 548 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 130.

547

634

§ 8 Bundesverfassungsgericht

hält das Bundesverfassungsgericht die Norm für eine verfassungskonforme Kon­ kretisierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG gemäß Art. 94 Abs. 2 GG.549 426

Anders als vom Bundesverfassungsgericht vertreten, sind nach zutreffender Auffassung „Meinungsverschiedenheiten und Zweifel“ hinreichend. Ein Für-Nichtig-Halten (wie bei der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG; s. u. Rn. 430) muss bei der abs­ trakten Normenkontrolle grundsätzlich nicht gegeben sein. Weitere Anforderungen können sich (nach dem Bundesverfassungsgericht) aus der ungeschriebenen Sachurteilsvoraussetzung „objektives Klarstellungsinteresse“ ergeben (s. sogleich unten).

427

Unabhängig von dieser normativen Betrachtung relativiert sich die Bedeutung des Unterschieds zwischen dem Wortlaut der Verfassung und dem des BVerfGG, weil der jeweilige Antragsteller eine „Meinungsverschiedenheit“ in der politischen Praxis üblicherweise in ein „Für-Nichtig-Halten“ kleiden wird.550

d) Objektives Klarstellungsinteresse 428

Eine Antragsbefugnis in dem Sinne, dass der jeweilige Antragsteller – etwa wie beim Organstreit (s. o. Rn. 383) – die Verletzung eigener Rechte (d. h. eigentlich zumeist Zuständigkeiten) oder zumindest die Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte geltend machen können müsste, gibt es bei der abstrakten Normenkontrolle nicht (s. bereits oben Rn. 402 f.). Insofern spiegelt sich der objektivierte Charakter der abstrakten Normenkontrolle auch in dem fehlenden Erfordernis einer eigenen Betroffenheit des Antragstellers wider (s. bereits oben Rn. 402 f.). Eine Landesre­ gierung etwa kann deshalb im Verfahren der ab­strakten Normenkontrolle grund­ sätzlich auch das Recht eines anderen Landes zur Prüfung stellen.551

429

Gleichwohl schützt das Bundesverfassungsgericht das abstrakte Normenkon­ trollverfahren (und damit sich selbst) vor einer missbräuchlichen Anrufung. Es verlangt in ständiger Rechtsprechung, dass „ein besonderes objektives Interesse an der Klarstellung der Geltung der zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestell­ ten Norm gegeben ist.“552

430

Ein solches Interesse liegt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bei einem Antrag auf Normverwerfung im Fall des Für-nichtig-Haltens gemäß § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG dann vor, „wenn ein Antragsteller von der Unverein 549

Vgl. BVerfGE 96, 133 (137). Vgl. für einen pragmatischen Zugriff auf das Problem Lerche, FS Jauch, 1990, 121 ff.; Mückl, in: Ehlers / Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im öffentlichen Recht, 2009, § 15, Rn. 40. In den Sachverhalten von Staatsrechtklausuren ist dies aber nicht selten anders, so dass dieses Problem dort problematisiert werden muss. 551 Vgl. bspw. BVerfGE 83, 37 (49)  – Ausländerwahlrecht I, mit der die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts in Schleswig-Holstein auf Antrag unter anderem der bay­ erischen Staatsregierung vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde. 552 BVerfGE 96, 133 (137) unter Verweis auf BVerfGE 6, 104 (110) – Kommunalwahl-Sperr­ klausel I; 39, 96 (106) – Städtebauförderungsgesetz; 52, 63 (80) – 2. Parteispendenurteil; 88, 203 (334) – Schwangerschaftsabbruch II. 550

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

635

barkeit der Norm mit höherrangigem Bun­desrecht überzeugt ist.“553 Insoweit kommt zu der Sachurteilsvoraussetzung, die als „Antragsgrund“ diskutiert wird (s. o. Rn. 423 ff.), kein weiterer Gehalt hinzu, wenn man – anders als hier vertre­ ten (s. o. Rn. 426) – mit dem Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass bloße „Meinungsverschiedenheiten und Zweifel“ als Antragsgrund nicht ausreichen. Das objektive Klarstellungsinteresse wird bei dieser Konstellation durch das Vorliegen des Antragsgrunds indiziert. Demgegenüber soll im Fall des Für-gültig-Haltens nach § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit „ein besonderer Anlaß für die […] Bestätigung einer Norm […] erst dann bestehen, wenn diese Norm von den dafür zuständigen Stellen [gerade] wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht nicht an­ge­wandt, nicht vollzogen oder in sonst relevanter Weise mißachtet und ihre Geltung damit in einer ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigenden Weise in Frage gestellt wird.“554

431

Aus dem Verfassungstext und dem Gesetzeswortlaut des § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG lässt sich dieses Erfordernis freilich nicht herleiten. In § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG wird nicht spezi­ fiziert, weshalb die zuständige Stelle das Recht nicht angewendet haben muss. Insoweit stellt das objektive Klarstellungsinteresse gewissermaßen eine ungeschriebene Sachentscheidungsvoraussetzung mit eigenständigem Gehalt dar, könnte freilich aber auch als bloße Erweiterung der geschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzung des Antragsgrunds – eben über den Wortlaut von § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG hinaus – begriffen werden.

432

An einem Klarstellungsinteresse kann es nach dem Bundesverfassungsgericht regelmäßig auch dann fehlen, wenn das Gesetz bereits außer Kraft getreten ist und keine rechtlichen Wirkungen mehr entfaltet. Umgekehrt bleibt die abstrakte Normen­ kontrolle insoweit zulässig, als das Gesetz auch nach seinem Außerkraftreten noch Rechtswirkungen z. B. auf schwebende Verwaltungsverfahren zu äußern vermag.555

433

Bei Haushaltsgesetzen ist von solch einer potentiellen Rechtswirkung solange auszuge­ hen, bis die Bundesregierung für die Ausführung des entsprechenden Haus­haltsgesetzes vom Bundestag und Bundesrat entlastet wird (vgl. Art. 114 Abs. 1 GG556).557

434

Grundsätzlich sind nach h. M. nur bereits in Kraft getretene Gesetze mit einer abstrakten Normenkontrolle angreifbar.

435

Ausnahmen von diesem Grundsatz, dass die zu überprüfende Norm in Kraft getreten sein muss, bestehen bei greifbaren Vorwirkungen künftig in Kraft tretender Gesetze.558

436

553

BVerfGE 96, 133 (137); Hervorh. d. Verf. BVerfGE 96, 133 (137 f.); Hervorh. d. Verf. 555 BVerfGE 5, 25 (28) – Apothekenerrichtung. 556 Zur haushaltsrechtlichen Entlastung gem. Art. 114 Abs. 1 GG Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 26, Rn. 282 ff.; ders., Finanzverfassungsrecht, 2014, § 15. 557 BVerfGE 20, 56 (94) – Parteienfinanzierung I. 558 Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S.  147 ff. 554

636 437

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Dies gilt insbesondere für den Fall der sogenannten Vertragsgesetze,559 also bei solchen Gesetzen, die gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zur Umsetzung völkerrechtlicher Verträge ergehen (s. § 2 Rn. 65; § 3 Rn. 236 ff.). Von ihnen können bereits rechtliche, auf jeden Fall aber politische Wirkungen ausgehen. Vertragsgesetze dürfen daher bereits dann einer abstrakten Normenkon­ trolle unterzogen werden, wenn das gesamte Gesetzgebungsverfahren bis auf die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und die Verkündung im Bundesgesetzblatt abgeschlossen ist, weil andernfalls die Gefahr bestünde, dass die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtliche Verpflichtungen nur unter Verletzung ihrer Verfassung erfüllen könnte.560

e) Formerfordernisse 438

Die von § 23 Abs. 1 BVerfGG vorgesehene Schriftform mit Begründungs- und Beweisangabeverpflichtung gilt auch für die abstrakte Normenkontrolle.

439

Eine Frist ist dagegen nicht vorgesehen und wäre mit dem Sinn und Charakter dieses Verfahrens auch nicht vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat darü­ ber hinaus auch eine etwaige (ungeschriebene) Verwirkung von Antragsrechten aus­geschlossen: „Eine Verwirkung des Antragsrechts kommt mit Blick auf den objektiven Charakter des Normenkontrollverfahrens, das zudem an keine Frist gebunden ist, grundsätzlich nicht in Betracht.“561 f) Keine Subsidiarität

440

Das abstrakte Normenkontrollverfahren ist in keinerlei Hinsicht gegenüber anderen Verfahren subsidiär, weder gegenüber sonstigen Rechtsbehelfen562 noch gegenüber legislativen Akten des Bundes.563 3. Begründetheitsvoraussetzungen und Entscheidungsinhalt a) Prüfungsmaßstab

441

Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts hängt von dem Rang der gerügten Rechtsnorm ab. Denn während Bundesrecht nur am Grundgesetz ge­ messen werden kann, ist das Landesrecht auch auf seine Vereinbarkeit mit Bun­ desrecht überprüfbar.

559

Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 147 ff. BVerfGE 1, 396 (413) – Deutschlandvertrag; bezugnehmend 2, 143 (169) – EVG-Vertrag; ausdrücklich bestätigend 4, 157 (162 f.) – Saarstatut; 12, 281 (288). 561 BVerfGE 99, 57 (66 f.) – Liegenschaftsmodell Schleswig-Holstein. 562 Deutlich BVerfGE 8, 104 (110) – Volksbefragung; 20, 56 (95) – Parteienfinanzierung I. 563 Vgl. insofern BVerfGE 32, 199 (211) – Richterbesoldung II. 560

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

637

Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zeichnet mit diesem unterschiedlichen Maßstab somit einen Teil der Normenhierarchie nach. Zum „Bundesrecht“ im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG gehören auch insoweit564 alle Gesetze im materiellen Sinne, also neben Parlamentsgesetzen insbesondere auch Rechtsverordnungen des Bundes, nicht aber Verwaltungsvorschriften ohne Außenrechtswirkung.565

442

Demgegenüber scheidet Landesverfassungsrecht als Maßstab für (einfaches) Landesrecht bei der abstrakten Normenkontrolle durch das Bundesverfassungs­ gericht aus;566 zuständig hierfür sind allein die Landesverfassungsgerichte (Art. 100 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG).

443

Auch völkerrechtliche Verträge567 und Normen des Europarechts kommen als selbständiger Prüfungsmaßstab nicht unmittelbar in Betracht. Für die Klärung von Zweifelsfragen hinsichtlich der Auslegung des Europäischen Unionsrechts ist grundsätzlich allein der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig (s. u. Rn. 638). Umstritten ist die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage von unionsrechtlichen Auslegungsfragen zum Gerichtshof der Europäischen Union ge­ mäß Art. 267 AEUV (s. u. Rn. 640).

444

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG prüft das Bundesverfassungsgericht „die förmliche und die sachliche Vereinbarkeit“ des Antragsgegenstands mit dem Prü­ fungsmaßstab. Dem entsprechen die Kategorien der formellen und der materiellen Recht- bzw. Verfassungsmäßigkeit.

445

Die Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit umfasst sowohl die Frage nach der Verbandskompetenz in Form der Gesetzgebungskompetenz568 als auch die Fragen nach der Organkompetenz der handelnden Organe sowie nach dem rechtswirksamen Zustandekommen der Norm,569 also nach dem Rechtsetzungsverfahren und der Form des zu untersuchenden Prüfungsgegenstandes.

446

Bei der materiellen Recht- bzw. Verfassungsmäßigkeit geht es darum, ob die sachlichinhaltlichen Normativanforderungen des Prüfungsmaßstabs nicht verletzt werden. Hier kann es u. a. um die Vereinbarkeit der Norm mit Grundrechten, Staatsstrukturprinzipien und – bei Landesrecht als Prüfungsgegenstand – auch mit einfachem Bundesrecht gehen.

447

b) Entscheidungsinhalt Normenkontrollverfahren haben eine legislatorische Klarstellungsfunktion. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber dement­ sprechend mit Gesetzeskraft ausgestattet; die Entscheidungen werden damit 564 Zur – parallelen – Auslegung der Voraussetzung „Bundesrecht oder Landesrecht“ bei Prüfung des Antragsgegenstands im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung s. o. Rn. 417 ff. 565 BVerfGE 101, 1 (30) – Hennenhaltungsverordnung. 566 BVerfGE 2, 307 (336) – Gerichtsbezirke. 567 BVerfGE 92, 365 (392) – Kurzarbeitergeld. 568 BVerfGE 8, 104 (110) – Volksbefragung. 569 BVerfGE 8, 71 (75) – Bestimmtheit einer Rechtsverordnung.

448

638

§ 8 Bundesverfassungsgericht

allgemeinverbindlich (Art. 94 Abs. 2 S. 1  GG, § 31 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 13 Nr. 6 BVerfGG; s. auch oben Rn. 322; ferner Rn. 80 zur „negativen Gesetzgebung“ durch das Bundesverfassungsgericht).570 449

Stellt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung einen Verstoß der angegriffenen Norm gegen höherrangiges Recht fest, wird diese für nichtig erklärt (§ 78 BVerfGG, s. auch oben Rn. 307 f.).

450

Teilweise erklärt das Gericht eine Norm – trotz des Wortlauts von § 78 BVerfGG – auch nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz und verbindet diese Entschei­ dung mit einem ‚Appell‘ an den Gesetzgeber, entsprechende verfassungsgemäße Regelungen (in einer bestimmten Frist) zu erlassen (ausführlich oben Rn. 309 ff.).

451

Der Urteilstenor kann nach § 78 S. 2 BVerfGG auch andere Bestimmungen des gleichen Gesetzes betreffen, so dass das Gericht durch sie einen Verstoß für gegeben hält, auch wenn diese weiteren Bestimmungen nicht Gegenstand des An­ trags waren (Anstoßverfahren).

452

Auf der Rechtsfolgenseite wählte der Gesetzgeber einen Kompromiss zwischen dem Gedanken der Rechtsicherheit und dem der materiellen Gerechtigkeit: Das Urteil stellt die Nichtigkeit ex tunc fest, dennoch bleiben normanwendende Ent­ scheidungen der Exekutive und Judikative grundsätzlich in Kraft (§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Aus ihnen kann jedoch nicht mehr vollstreckt werden (§ 79 Abs. 2 S. 2, 3 BVerfGG); für Strafurteile bedeutet die Entscheidung einen Wiederaufnahme­ grund (§ 79 Abs. 1 BVerfGG). Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind indessen ausgeschlossen (§ 79 Abs. 2 S. 4 BVerfGG).571

IV. Kontrolle der Erforderlichkeit von Bundesgesetzen 1. Allgemeines 453

Die beiden besonderen Verfahrensarten zur Kontrolle der bestehenden bzw. der nicht mehr bestehenden Erforderlichkeit von Bundesgesetzen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, §§ 13 Nr. 6a, 76 ff. BVerfGG (Kompetenzkontrollverfahren572) bzw. 570 Dies gilt nach § 31 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 13 Nr. 11, 12, und 14 BVerfGG auch für die Ent­ scheidung bei der konkreten Normenkontrolle, sowie über vorkonstitutionelle bzw. völker­ rechtliche Normen (Art. 100 Abs. 1 bzw. Abs. 2 und Art. 126 GG) sowie nach § 31 Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 13 Nr. 8a BVerfGG für Verfahren der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b GG), in welchen eine Norm inzident auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz über­ prüft wird. 571 Zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 S. 3 BVerfGG auf zivilrechtliche Sachverhalte: BVerfG, DÖV 2006, 299 (301 f.). 572 Zum Begriff etwa Robbers, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-recht­ lichen Arbeit, 2. Aufl. 2005, S. 65; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 132a.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

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Art. 93 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 6b, 96 BVerfGG (Kompetenzfreigabeverfahren573) sind relativ selten und erst 1994 bzw. 2006 als Folge von Verfassungsänderungen nach Vorschlägen der Gemeinsamen Verfassungskommission bzw. der Föderalis­ muskommission in das Grundgesetz aufgenommen worden.574 Diese Verfassungsänderungen stellen die verfassungsprozessrechtliche Konsequenz ander­ weitiger Verfassungsänderungen (Art. 72 Abs. 2 GG n. F. bzw. Art. 72 Abs. 4, 125a GG) dar, die ihrerseits eine Reaktion auf eine früher häufig zu großzügige Kontrolle der Erforderlichkeitsklausel durch das Bundesverfassungsgericht waren.575

454

Das Kompetenzkontrollverfahren und das Kompetenzfreigabeverfahren sind bislang praktisch nicht bedeutsam geworden. Die verfassungsprozessuale Überprüfung der Einhaltung der Vorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG findet bisher regelmäßig außerhalb des Kompetenzkon­ trollverfahrens und des Kompetenzfreigabeverfahrens im Rahmen einer (allgemeinen) abs­ trakten Normenkontrolle (s. o. Rn. 401 ff.) statt.576

455

2. Kompetenzkontrollverfahren Das BVerfGG regelt das Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, §§ 13 Nr. 6a, 76 Abs. 2 BVerfGG entsprechend der Vorschriften über die abs­ trakte Normenkontrolle (§§ 76–79 BVerfGG), wobei der Antragsteller ein Gesetz wegen Nichterfüllung der Voraussetzungen von Art. 72 Abs. 2 GG für nichtig halten muss (§ 76 Abs. 2 Hs. 1 BVerfGG).

456

Das Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, § 13 Nr. 6a BVerfGG lässt sich als Spezialfall der abstrakten Normenkontrolle beschreiben. Sowohl hinsichtlich des tauglichen Antragsgegenstands (lediglich formelle Bundesgesetze, nicht sämtliches „Bun­ desrecht oder Landesrecht“) als auch hinsichtlich des Prüfungsmaßstabes (lediglich Art. 72 Abs. 2 GG, nicht das gesamte Grundgesetz) ist es spezifischer, d. h. erheblich enger. Bei der An­ tragsberechtigung besteht eine Gemeinsamkeit mit der abstrakten Normenkontrolle lediglich hinsichtlich der Berechtigung der Landesregierungen. Demgegenüber sind anstatt der Bundes­ regierung und eines Viertels der Mitglieder des Bundestags im Kompetenzkontrollverfahren der Bundesrat und die Volksvertretungen der Länder potentielle Antragsteller.

457

573

Zum Begriff etwa Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 140; Schlaich  / ​ Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 132 f. 574 Zu den Verfassungsreformen von 1994 und 2006 Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 2, Rn. 192 ff., 196 ff. 575 So auch – nach erfolgter Verfassungsänderung – BVerfGE 106, 62 (142) – Altenpflege­ gesetz: „Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers ging dahin, die Erforderlich­ keitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG justitiabel zu machen; dem Bundesgesetzgeber sollte kein Beurteilungsspielraum belassen werden.“ Vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 86 ff. 576 Vgl. Karpenstein, in: Walter / Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 2. Aufl. 2016, § 76, Rn. 47.

640

§ 8 Bundesverfassungsgericht

3. Kompetenzfreigabeverfahren 458

§ 96 BVerfGG regelt das Kompetenzfreigabeverfahren nach Art. 93 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 6b BVerfGG gesondert, verweist allerdings auf die Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 2 S. 3 GG. In einem Kompetenzfreigabeverfahren entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob die Voraussetzungen für eine bundesrechtliche Freigabe nach Art. 72 Abs. 4 GG oder Art. 125a Abs. 2 S. 2 GG zur Ersetzung von bisherigem, nun nicht mehr erforderlichen, Bundesrecht durch landesrechtliche Regelungen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung vorliegen.

459

Schon die systematische Verortung des Kompetenzfreigabeverfahrens in Art. 93 Abs. 2 GG – d. h. gesondert vom Katalog des Art. 93 Abs. 1 GG – sowie in § 96 BVerfGG – d. h. gesondert von den §§ 76 ff. BVerfGG verdeutlicht, dass sich das Kompetenzfreigabeverfahren nicht als Spezialfall der abstrakten Normenkontrolle begreifen lässt. Es handelt sich um ein Verfahren eigener Art. 

460

Dies wird dadurch unterstrichen, dass der Entscheidungsinhalt beim Kompetenzfreigabe­ verfahren von dem der abstrakten Normenkontrolle abweicht: Nach Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG stellt das Bundesverfassungsgericht fest, ob die Erforderlichkeit im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Art. 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden könnte. Diese Feststellung ersetzt ein entsprechendes Freigabegesetz nach Art. 72 Abs. 4 GG bzw. Art. 125a Abs. 2 S. 2 GG. Es handelt sich insoweit um „Ersatzgesetzgebung oder Normsurrogation durch Richterspruch.“577

V. Konkrete Normenkontrolle 1. Bedeutung und Funktion 461

Die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80–82a BVerfGG) macht mengenmäßig – nach der Verfassungsbeschwerde – den zweitgrößten Anteil aller Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht aus.578

462

Art. 100 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG unterscheiden – recht ungelenk formuliert – verschiedene Konstellationen der konkreten Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht oder durch das zuständige Landesverfassungsgericht:

463

Mit der konkreten Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht soll die Grundgesetzmäßigkeit der formellen579 Gesetzgebung580 des Bundes (Art. 100 577

Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2016, Art. 93, Rn. 144, m. w. N. (Hervorh. v. Verf.); kritisch hierzu E. Klein, in: FS Merten, 2007, 223 (232 f.). 578 Vgl. die vom Bundesverfassungsgericht veröffentlichte Statistik, abrufbar unter: https:// www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2019/gb2019/A-I-4.pdf?__ blob=publicationFile&v=3;, letzter Abruf am 21.07.2020. 579 Alle Varianten des Art. 100 Abs. 1 GG beziehen sich durchgehend auf Gesetze im formel­ len Sinn; vgl. BVerfGE 1, 184 (201) – Normenkonktrolle I; dazu Dederer, in: Maunz / Dürig, GG, (Stand: 88. Ergänzungslieferung August 2019), Art. 100, Rn. 84. 580 Zur Unterscheidung von formellen und materiellen Gesetzen Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 94 ff.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

641

Abs. 1 S. 1 Var. 2 GG) und der Länder (Art. 100 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GG) sowie die Bundesrechtsgemäßheit des formellen-gesetzlichen Landesrechts (Art. 100 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG) durchgesetzt werden. Hinzu kommt die Durchsetzung der Landesverfassungsmäßigkeit von einfachen formellen Landesgesetzen durch die Landesverfassungsgerichte: Die Vorschrift des Art. 100 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG, welche die konkrete Normenkontrollvorlage an das jeweilige Landesverfassungsgericht vorsieht, ist eine zwingende Vorgabe für das Landesverfassungsprozessrecht.

464

Zum Teil enthalten die Verfassungen der Länder Verweise auf Art. 100 GG (vgl. z. B. Art. 84 Abs. 2 Nr. 4 der Verfassung von Berlin); zum Teil enthalten sie Vorschriften für kon­ krete Normenkontrollverfahren vor den Landesverfassungsgerichten, die – über die Mindest­ vorgabe des Art. 100 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG hinaus – auch für Rechtsverordnungen zulässig sind (vgl. z. B. Art. 133 HessVerf). Konkretisierende Vorgaben finden sich in den Landesgesetzen zum Verfassungsprozessrecht des jeweiligen Landes.

465

Das Attribut „konkret“ zur Kennzeichnung der Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG ist in Unterscheidung von dem Attribut „abstrakt“ zu verstehen, wel­ ches die weitgehend ‚anlasslose‘ Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG kennzeichnet (s. schon Rn. 405). Die konkrete Normenkontrolle wird anlässlich eines konkreten Verfahrens vor den Fachgerichten initiiert, bei welchem die eben aufgezählten Rechtsfragen (s. Rn. 463 ff.) aufkommen.

466

Während bei der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ (s. o. Rn. 41) im Vordergrund steht, tritt diese Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts bei der konkreten Normenkontrolle zurück, ohne gänzlich verdrängt zu werden. Bei der konkreten Normenkontrolle soll vielmehr in erster Linie verhindert werden, dass einzelne (Fach-)Gerichte sich – unter dem Aspekt der Bindung an (vermeintlich einschlägiges) höheres Recht – über den Willen des parlamentarischen Bundesoder Landesgesetzgebers hinwegsetzen.581 Dementsprechend dient die konkrete Normenkontrolle vor allem der Durchsetzung der horizontalen Gewaltenteilung, schützt also die legislative Gewalt vor unzulässigen Übergriffen der judikativen Gewalt. Damit wird auch die Rechtssicherheit gewahrt.

467

Noch deutlicher hat das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Die Vorschrift soll die Auto­rität des [nach-]konstitutionellen Gesetzgebers wahren. Gesetze, die unter der Herr­ schaft des Grundgesetzes erlassen worden sind, sollen bis zur allgemeinverbindlichen Fest­ stellung ihrer Nichtigkeit oder Unwirksamkeit durch das Bundesverfassungsgericht befolgt werden; über ihre Gültigkeit soll es keine einander widersprechenden Gerichtsentscheidungen geben. Deshalb hat das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht ein Verwerfungsmono­ pol eingeräumt.“582

468

581 582

Vgl. BVerfGE 1, 184 (195, 197) – Normenkontrolle I; 42, 42 (49). BVerfGE 97, 117 (122) – Fortgeltung von DDR-Strafrecht (Hervorh. v. Verf.).

642

§ 8 Bundesverfassungsgericht

469

Andererseits bedeutet das „Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsge­ richts nach Art. 100 Abs. 1 GG […] Kontrolle […] gegenüber dem Gesetzgeber, nicht aber Kontrolle […] über die anderen Gerichte.“583 Etwaige Verfassungsver­ stöße der rechtsprechenden Gewalt können deshalb nicht im Wege der konkreten Normenkontrolle gerügt werden.584 Vorlage- und Prüfungsgegenstand ist – anläss­ lich eines konkreten Falls – das formelle Gesetz selbst (s. u. Rn. 481 ff.), nicht aber seine konkrete Anwendung durch das vorlegende Gericht.

470

Neben dem Schutz des formellen Gesetzgebers dient das konkrete Normenkon­ trollverfahren vor allem „der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu verfassungsrechtlichen Fra­gen.“585 Damit wird zugleich der Bürger geschützt: Er soll vor der Anwendung verfassungswidriger Gesetze geschützt werden, weil eine solche Anwendung ihrerseits verfassungswidrig wäre.586

471

Sowohl bei der abstrakten als auch bei der konkreten Normenkontrolle handelt es sich um objektive Verfahren, in denen allein zu klären ist, ob der Gesetzgeber den Vorgaben der Verfassung genügt hat.587

472

Häufiger als das Bedürfnis für eine abstrakte Normenkontrolle ist naturgemäß die Situation, in der ein Gericht in einem konkreten Rechtsfall die hierbei anzu­ wendende Norm für verfassungswidrig und damit (möglicherweise) für ungültig hält. Aus der Bindung des mit der Entscheidung des Einzelfalls befassten Gerichts an „Recht und Gesetz“ (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) ist es verpflichtet, sich bei berechtigten Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des einschlägigen Gesetzes der Rechtslage zu vergewissern.588 Die nach Art. 97 Abs. 1 GG Unabhängigkeit ge­ nießenden Gerichte verfügen hierfür grundsätzlich über ein Inzidentprüfungs- und Entscheidungsrecht in Bezug auf die Gültigkeit bzw. die Verfassungsmäßigkeit der herangezogenen Normen (richterliches Prüfungsrecht).589

473

Dies umfasst an sich auch die Befugnis, ein nach Auffassung des Gerichtes verfassungswidriges Gesetz nicht anzuwenden (Verwerfungskompetenz). Die­ ses Recht nehmen die Gerichte auch heute noch für alle nur materiellen Gesetze

583

BVerfGE 7, 1 (15) – Berlin-Vorbehalt I (Hervorh. v. Verf.). Ausdrücklich BVerfGE 24, 170 (173). 585 BVerfGE 6, 55 (63 f.) – Steuersplitting (Hervorh. v. Verf.). 586 BVerfGE 43, 27 (32 f.). 587 BVerfGE 20, 350 (351); 46, 34 (36); 83, 37 (49) – Ausländerwahlrecht I. 588 Dies gilt gleichermaßen für die gesetzesanwendenden Verwaltungsbehörden und Beamten (vgl. für Letztere §§ 63 BBG, § 36 BeamtStG). Im Gegensatz zu den Gerichten bleibt der Ver­ waltung allerdings nur die Möglichkeit, per Remonstration eine abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG durch die Landes- oder Bundesregierung einzuleiten. Bis zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung kann die Verwaltungsspitze einen Nichtanwendungs­ erlass für die betreffenden Normen verfügen. 589 BVerfGE 1, 184 (201) – Normenkontrolle I; 1, 283 (292). Diese Prüfungskompetenz um­ fasst auch die EU-Rechtskonformität eines deutschen Gesetzes: BVerfGE 31, 145 (174 f.) – Milchpulver. 584

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

643

(Verordnungen und Satzungen),590 aber auch für förmliche Gesetze in Anspruch, die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes als vorkonstitutionelles Recht entstanden sind. Würde die Verwerfungskompetenz der Gerichte auch gegenüber formellen Gesetzen, die unter dem Grundgesetz als nachkonstitutionelles Recht entstanden sind, bestehen, könnten im Ergebnis einzelne Gerichte Entscheidungen des demo­ kratisch legitimierten Gesetzgebers, die dieser in Ausübung seiner verfassungs­ mäßigen Funktion und in Überzeugung ihrer Verfassungsmäßigkeit getroffen hat, wegen angenommener Verfassungswidrigkeit ignorieren, während andere Gerichte diese Gesetze möglicherweise weiter anwenden. Eine solche Schieflage, die auch schwerwiegende Folgen für die Rechtssicherheit haben könnte, verhindert das Grundgesetz, indem es gegenüber nachkonstitutio­ nellen Parlamentsgesetzen das „Verwerfungsmonopol“ des Bundesverfassungs­ gerichts in Art. 100 Abs. 1 GG begründet.591 Danach haben die Fachgerichte das Verfahren (durch Beschluss) auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfas­ sungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes einzuholen (konkrete Normenkontrolle).

474

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die konkrete Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht sind wesentlich im Grundgesetz selbst (Art. 100 Abs. 1 GG) geregelt, die §§ 80 ff. BVerfGG behandeln hingegen vornehmlich er­ gänzende ‚formelle‘ Aspekte. Für Richtervorlagen an Landesverfassungsgerichte wegen angenommener Landesverfassungswidrigkeit von Landesgesetzen gelten hingegen nicht die Vorgaben des BVerfGG, sondern die Vorschriften des Landes­ rechts (s. bereits Rn. 465).

475

Die Zulässigkeit einer Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht setzt voraus, dass ein vorlageberechtigtes Gericht ein nachkonstitutionelles formelles Gesetz wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz für nichtig hält und es auf die Gültigkeit dieses Gesetzes für die Entscheidung des Falls ankommt. Außerdem müssen bestimmte Formanforderungen eingehalten werden.

476

590

Zur Unterscheidung von formellen und materiellen Gesetzen Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 94 ff. 591 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. nur BVerfGE 70, 35 (57); 97, 117 (122) – Fortgeltung des DDR-Strafrechts.

644

§ 8 Bundesverfassungsgericht

a) Vorlageberechtigung und Vorlagepflicht 477

Die konkrete Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht ist eine Ge­ richtsvorlage; sie kann nur von Gerichten beantragt werden (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 Abs. 1 BVerfGG). Der verfassungsrechtliche Begriff des Gerichts umfasst alle staatlichen Gerichte, nicht dagegen (private) Schiedsgerichte. Eine Richtervorlage kann auch durch ein Landesverfassungsgericht vorgenommen wer­ den (arg. § 81a S. 2 BVerfGG).

478

Die Vorlageberechtigung ist zugleich eine Vorlagepflicht: Wenn ein für ihre Entscheidung maßgebliches (formelles, nachkonstitutionelles) Gesetz nach Auf­ fassung eines Gerichts grundgesetzwidrig ist (vgl. Art. 100 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Var. 1 GG) oder ein entsprechendes entscheidungserhebliches Landesgesetz bun­ desrechtswidrig ist (vgl. Art. 100 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG), so müssen die Gerichte das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen.592

479

Die konkrete Normenkontrolle kann insbesondere auch der Durchsetzung der Geltung von Grundrechten dienen. Hier hat die Vorlagepflicht der Fachgerichte zugleich eine Funktion des Individualrechtsschutzes: Sofern Gerichte in einer ent­ scheidungserheblichen Frage verfassungsrechtliche Zweifel haben, die ihrerseits maßgeblich durch grundrechtliche Belange verursacht werden, müssen sie nach deutlicher Formulierung des Bundesverfassungsgerichts eine Prüfung vornehmen, die nur zwei unterschiedliche Ergebnisse nach sich ziehen kann: Entweder sie neh­ men eine Grundgesetzkonformität der jeweiligen Norm an (und sei es durch eine verfassungskonforme Auslegung der entsprechenden Norm; s. o. Rn. 117 f.) und legen diese ihrer Entscheidung zugrunde oder aber sie kommen zum Ergebnis der Verfassungswidrigkeit und legen deshalb dem Bundesverfassungsgericht die Norm im Wege der konkreten Normenkontrolle vor.

480

Unterlassen sie schon diese Prüfung und stellen sich damit nicht der Frage nach der Tragweite und Wirkkraft eines Grundrechts, kann bereits diese unterlassene Prüfung die Verletzung eines Grundrechts begründen, welche mit einer Verfas­ sungsbeschwerde gerügt werden kann (s. Rn. 127, 588 f.).593 Gleichzeitig kann die unterlassene Prüfung und Vorlage beim Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) darstellen.594

592

Für Landesverfassungsgerichte gilt die Vorlagepflicht zum Bundesverfassungsgericht bei landesverfassungsrechtlichen Normenkontrollverfahren im Übrigen unabhängig davon, ob das überprüfte Landesgesetz nur auf der Vorfragenebene relevant ist oder gar den Gegenstand des landesverfassungsrechtlichen Normenkontrollverfahrens bildet: vgl. BVerfGE 69, 112 (118). 593 Deutlich BVerfGE 66, 313 (319). 594 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 75, Rn. 22 f.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

645

b) Verfahrensgegenstand Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle können nach allgemeiner Mei­ nung ausschließlich nachkonstitutionelle formelle595 Gesetze des Bundes oder der Länder sein, d. h. vom Bundestag oder den Landesparlamenten beschlossene Gesetze, die unter der Geltung des Grundgesetzes in Kraft getreten sind.596 Dies schließt die im Gesetzgebungsnotstand gemäß Art. 81 GG erlassenen Gesetze597 (s. § 3 Rn. 199 ff.) und die im Verfahren nach Art. 115d GG oder Art. 115e GG im Verteidigungsfall erlassenen Gesetze (s. § 3 Rn. 243 ff.; § 4 Rn. 39 ff.) ein.598

481

Wie schon erwähnt, bezieht sich die konkrete Normenkontrolle nur auf formelle Gesetze (einschließlich von Gesetzen zur Änderung der Verfassung), weil nur hier die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers durch eine Verwer­ fungskompetenz eines jeden Gerichts in Frage gestellt würde. Bei nur materiellen Gesetzen (insbesondere Rechtsverordnungen) ist dies nicht der Fall, weshalb hier die Gerichte die Verfassungsmäßigkeit im Rahmen einer Inzidentprüfung selbst kontrollieren. Halten sie das nur materielle Recht für verfassungswidrig, wenden sie es bei ihrer Entscheidung nicht an (s. a. Rn. 473 f.).

482

Die Beschränkung des Verfahrensgegenstandes auf nachkonstitutionelle Ge­ setze bedeutet nicht, dass vorkonstitutionelle Gesetze einer Verfassungsmäßig­ keitsprüfung nach Art. 100 Abs. 1 GG gänzlich entzogen sind. Auch Gesetze, die vor Geltung des Grundgesetzes erlassen wurden, gelten als nachkonstitutionell, wenn der Gesetzgeber sie „in seinen Willen aufgenommen“ hat.599 Dies ist der Fall, wenn ein solches Gesetz (inhaltlich) geändert oder neu verkündet wurde, auf dieses durch ein nachkonstitutionelles Gesetz verwiesen wird oder es mit einem solchen in untrennbarem Zusammenhang steht.

483

c) Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit Das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorzulegenden (nachkonstitutionellen formellen) Norm überzeugt sein und dies auch im Vorlage­ beschluss zum Ausdruck bringen. Bloße Zweifel des Gerichts an der Verfassungs­ mäßigkeit der in Frage stehenden Norm genügen insofern nicht. Vorlagen für eine

595

Zur Unterscheidung von formellen und materiellen Gesetzen Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 10, Rn. 94 ff. 596 St. Rspr., vgl. bspw. BVerfGE 1, 184 (189 ff., 201) – Normenkontrolle I; 68, 319 (326) – Bundesärzteordnung; 71, 305 (337 f.). 597 Vgl. BVerfGE 1, 184 (201) – Normenkontrolle I. 598 Zur Gesetzgebung im Gesetzgebungsnotstand und Verteidigungsfall ausführlich Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 21, Rn. 281 ff., bzw. § 29, Rn. 55 ff.  599 BVerfGE 6, 55 (65) – Steuersplitting; 11, 126 (129 ff.) – Nachkonstitutioneller Bestäti­ gungswille; 25, 25 (26 f.); 29, 39 (42 f.).

484

646

§ 8 Bundesverfassungsgericht

konkrete Normenkontrolle, die nur Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm anmelden, sind unzulässig. 485

Entscheidend kommt es auf die Überzeugung des vorlegenden Gerichts an, nach der es ein Gesetz für verfassungswidrig „hält“. Das Gericht muss etwaige Zweifel entweder selbst ausräumen können oder aber dem Bundesverfassungs­ gericht vorlegen. Findet der Richter die Möglichkeit einer verfassungskonformen Aus­legung (s. o. Rn. 117 f.) des Gesetzes, so hat er diese im Rahmen seiner Ent­ scheidung vorzunehmen und muss deshalb von einer Vorlage absehen.600

486

Die am Gerichtsverfahren Beteiligten und voraussichtlich von der Anwendung der streitigen Norm Betroffenen haben keinen rechtlichen Einfluss auf die Über­ zeugungsbildung des Gerichts und dessen Vorlageentscheidung; ihre Anträge be­ sitzen allenfalls Hinweisfunktion. Die Gerichtsvorlage ist auch dann zulässig, wenn ein Prozessbeteiligter die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift nicht behauptet hat (§ 80 Abs. 3 BVerfGG). d) Entscheidungserheblichkeit

487

Die Vorlage ist des Weiteren nur dann zulässig, wenn die angegriffene Norm für die Entscheidung des konkreten Verfahrens entscheidungserheblich ist. Das kon­ krete Verfahren muss im Falle der Gültigkeit anders zu entscheiden sein als im Falle der Ungültigkeit der Norm.601

488

Mit „Entscheidung“ sind in diesem Zusammenhang Urteile, Prozessurteile, Beschlüsse (über Rechtsmittel oder Beschwerden) und sonstige Entscheidungen gemeint, die ein Verfahren endgültig oder vorläufig beenden.602 e) Formerfordernisse

489

Wie sich – über die allgemeinen Formanforderungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG hi­ naus – aus § 80 Abs. 2 S. 1 BVerfGG ergibt, muss die Vorlage in spezifischer Weise begründet werden: Es muss dargelegt werden, warum die Entscheidung des Ge­ richts von der Gültigkeit der betreffenden Norm abhängt und gegen welche Verfas­ sungsnorm bzw. Bundesrechtsnorm sie nach Auffassung des Gerichts verstößt. Das heißt, das vorliegende Gericht muss schriftlich begründen, warum die Sachurteils­ voraussetzungen der Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm (s. o. Rn. 484 ff.) und der Entscheidungserheblichkeit (s. o. Rn. 487 f.) vorliegen. 600

BVerfGE 80, 54 (58 f.). BVerfGE 80, 96 ff. 602 Erichsen, Jura 1982, 88 (92): Beweisbeschlüsse und sonstige Zwischenentscheidungen fallen nicht darunter. Zu weiteren Aspekten der Entscheidungserheblichkeit, vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 15, V, 2. 601

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

647

Auch wenn das Bundesverfassungsgericht allein aufgrund dieser Angaben entscheiden könnte, sind nach § 80 Abs. 2 S. 2  BVerfGG die Verfahrensakten beizufügen.

490

Eine Frist ist – wie auch beim abstrakten Normenkontrollverfahren (s. o. Rn. 439) – nicht vorgesehen.

491

3. Begründetheitsvoraussetzungen Der Maßstab für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über einen konkreten Normenkontrollantrag ist für Bundesgesetze das Grundgesetz (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG), für Landesgesetze ebenfalls das Grundgesetz (Art. 100 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GG), aber darüber hinaus auch das (gesamte) Bundesrecht (Art. 100 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG).

492

Wie bei der abstrakten Normenkontrolle (s. o. Rn. 445 f.) kann sich auch bei der konkreten Normenkontrolle in den Fällen des Art. 100 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Var. 1 GG die Verfassungswidrigkeit der zu prüfenden Norm aus formellen oder materiellen Gründen ergeben.

493

4. Prozedurales Das vorlegende Gericht muss das Ausgangsverfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aussetzen, darf also in der Zwischenzeit keine wei­ teren Verfahrensmaßnahmen treffen. Das vorlegende Gericht ist durch Art. 100 Abs. 1 GG allerdings nicht gehindert, „vor der im Hauptsacheverfahren einzuho­ lenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten er­ scheint und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird.“603

494

VI. Bund-Länder-Streitigkeiten 1. Bedeutung und Funktion Der (allgemeine verfassungsrechtliche)  Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68–70 BVerfGG) ist eine sehr wichtige Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht, insbesondere zur Gewährleistung der bundesstaatlichen Struktur des Grundgesetzes und des föderalen Grundkonsenses in der Bundesrepublik Deutschland (s. o. Rn. 50).

603

BVerfGE 86, 382 (389).

495

648

§ 8 Bundesverfassungsgericht

496

Daneben sieht Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG (i. V. m. §§ 13 Nr. 8, 71 f. BVerfGG) subsidiär weitere föderativ bedeutsame Verfahrensarten vor (s. bereits oben Rn. 138). Im Einzelnen handelt es sich dabei um (nicht-verfassungsrechtliche) öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 GG), Streitigkeiten zwischen Ländern (sog. „Länder­ streitigkeiten“604; Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 GG) sowie bestimmte (Organ-)Streitigkeiten in­ nerhalb eines Landes (sog. „Landesstreitigkeiten“605; Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG).606 Diese Verfahrensarten stehen unter dem Vorbehalt, dass nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist.

497

Schließlich können auch die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; s. o. Rn. 401 ff.) mit der Antragsberechtigung der Landesregierungen und die spezifischen Verfah­ ren der Kompetenzkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG; s. o. Rn. 456 f.) und Kompetenzfreigabe (Art. 93 Abs. 2 GG; s. o. Rn. 458 ff.) der verfassungsprozessualen Absicherung föderaler Strukturen dienen.

498

Der allgemeine verfassungsrechtliche Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68–70 BVerfGG ist ein aus der klassischen Staatsgerichts­ barkeit (s. o. Rn. 49 f.) stammendes kontradiktorisches Streitverfahren, bei dem Antrag­steller und Antragsgegner in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander stehen, aus dem sich Rechte und Pflichten ergeben, die sie gegenseitig achten müssen und die zwischen ihnen streitig sind.607

499

Der Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG erfasst nur verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern.608

500

Für Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern kann das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 8, 71 f. BVerfGG subsidiär zuständig sein.609 Voraussetzung ist, dass kein anderer Rechtsweg gegeben ist. Weil zumeist der Verwaltungsrechtsweg zum Bundesverwaltungsgericht eröffnet ist (vgl. §§ 40 Abs. 1, 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO),610 handelt es sich bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG derzeit weitgehend um eine „ruhende Kompetenz“.611

604

Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, vor Rn. 65. Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, vor Rn. 69. 606 Ein Beispiel für die Gruppe der Landesstreitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG sind Rechtsbehelfe von Landesverbänden der politischen Parteien, die ihr Recht auf Gleich­ heit der Wettbewerbschancen bei Wahlen unterhalb der Bundesebene geltend machen; vgl. BVerfGE 6, 367 (371); 67, 65 (69); hierzu oben Rn. 377. 607 So BVerfGE 20, 18 (23 f.) – Beitritt im Organstreitverfahren: zur kontradiktorischen Na­ tur von Organstreit und Bund-Länder-Streit. 608 Haratsch, in: Sodan, GG, 4. Aufl 2018, Art. 93, Rn. 34; Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 15. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 36; Meyer, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 93, Rn. 50. 609 Vgl. BVerfGE 3, 267 (279). 610 S. dazu Bier, in: Schoch / Schneider / ders., VwGO, 37. Ergänzungslieferung 2019, § 50, Rn. 6 ff. Ein Beispielsfall, in dem die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts bejaht wurde: BVerwG, NJW 1977, 163. In BVerwG, NVwZ 2009, 599 ff. wurde die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für eine Klage eines Bundeslandes gegen den Bund bejaht. 611 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 106. 605

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

649

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen a) Allgemeines Für die Entscheidung bundesstaatlicher Streitigkeiten, also bei Meinungs­ verschiedenheiten über die Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, be­ stimmen Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Als besondere Reibungspunkte nennt das Grund­ gesetz – allerdings ohne abschließenden Charakter – „insbesondere“ Streitigkeiten um die Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und um die Ausübung der Bundesaufsicht des Bundes gegenüber den Ländern.612

501

An diesen im Grundgesetz hervorgehobenen Beispielsfällen zeigt sich die Funktion des Bund-Länder-Streits besonders für den Exekutivföderalismus in der Bundesrepublik Deutsch­ land.613 Die für das föderale System unter dem Grundgesetz so prägende Grundentscheidung für die grundsätzliche Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder (vgl. Art. 83 GG), kann zu Streitigkeiten mit der Bundesebene führen. Allerdings ist der Anwendungsbereich des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG nicht von vorneherein auf diese oder andere Exekutivstreitigkeiten begrenzt (s. ausführlich unten Rn. 515 ff.).614

502

Vom Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG nicht umfasst ist die Entscheidung in Streitigkeiten zwischen Ländern.615 Hierfür ist das Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 GG einschlägig. Streitigkeiten zwischen den Ländern sind im Gegensatz zu Konflikten zwischen Bund und Ländern allerdings bisher kaum praktisch geworden.616 Positiv gewendet mag man darin ein Zeichen für einen poli­ tisch funktionierenden Föderalismus unter den Gliedstaaten sehen.

503

Streitgegenstand im Bund-Länder-Streit ist das Vorbringen der Verletzung oder zumindest einer unmittelbaren Gefährdung von „Rechten“ (d. h. vor allem ‚Zu­ ständigkeiten‘) des Antragstellers bzw. Pflichten des Antragsgegners durch eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners (§ 69 i. V. m.

504

612

Zur Ausführung von Bundesrecht durch die Länder Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 47 ff. 613 Der grundgesetzliche ‚Exekutivföderalismus‘ zeigt sich zum einen in der hier interes­ sierenden Verteilung von Legislativ- und Administrativkompetenzen auf Bund bzw. Länder sowie zum anderen in der Entscheidung für das Bundesratsmodell; zur Exekutivlastigkeit des grundgesetzlichen Föderalismus mit Blick auf den Bundesrat: § 3 Rn. 14 f., 21, 33, 128 316, 325. 614 Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 9, Rn. 9. 615 Detterbeck, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 96, Rn. 64; Walter, in: Maunz / Dürig, GG, (Stand: 88. Ergänzungslieferung Mai 2019), Art. 93, Rn. 52. Ein Land kann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch nicht dem Bund in einem Bund-Länder-Streit prozessual bei­ treten, um eine Meinungsverschiedenheit mit einem anderen Land klären zu lassen (BVerfGE 12, 308 (311)): „Im Bund / Länder-Streit steht daher der Bund […] notwendig allein.“ 616 Das Verfahren kam bisher vor allem im Streit von untergegangenen Ländern mit exis­ tenten Ländern zur Anwendung; Nachweise bei Umbach / Dollinger, in: ders. / Clemens / ders., BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 71, Rn. 25, 30.

650

§ 8 Bundesverfassungsgericht

§ 64 Abs. 1 BVerfGG), welche den Ländern bzw. dem Bund als eigene Rechte grundgesetzlich zugewiesen sind (s. ausführlich Rn. 51 ff.).617 505

Hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen verweist das BVerfGG für ein Verfahren im Bund-Länder-Streit durch § 69 BVerfGG auf die für das Organstreitverfahren geltenden Voraussetzungen (s. o. Rn. 356 ff.).

506

Ein zulässiger Bund-Länder-Streit setzt – dies sei als Überblick vorangestellt – voraus, dass ein beteiligtenfähiger, antragsbefugter Antragsteller mit einem be­ teiligtenfähigen Antragsgegner über einen tauglichen Antragsgegenstand streitet und dabei ein Rechtschutzbedürfnis gegeben ist sowie die gesetzlichen Form- und Fristanforderungen eingehalten werden. b) Antragsteller und Antragsgegner

507

Weil der Bund-Länder-Streit sich auf ein Streitverhältnis zwischen dem Bund und den Ländern bezieht, haben auch nur Bund und Länder in diesem Verfahren Beteiligtenfähigkeit618 (§ 68 BVerfGG).

508

Weil es sich aber sowohl beim Bund als auch bei den Ländern um Gebiets­ körperschaften handelt, denen zur Artikulation ihres Willens mehrere (Staats-) Organe zur Verfügung stehen, fragt sich, welches dieser Organe den Bund bzw. die einzelnen Länder in einem Bund-Länder-Streit vertreten darf. Angesichts der insoweit offenen Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG könnte man vermuten, dass jeweils diejenigen Organe (oder gar Organteile) in einem Bund-Länder-Streit beteiligtenfähig sind, zwischen denen der konkrete Streit besteht.

509

Demgegenüber bestimmt aber § 68 BVerfGG ausdrücklich, dass für den Bund ausschließlich die Bundesregierung und für die Länder nur die jeweilige Landesregierung als Antragsteller und Antragsgegner fungieren dürfen.

510

Auch Verfahren, die den legislativen und den judikativen Bereich der Staatstätigkeit be­ treffen, werden also nach § 68 BVerfGG von den jeweiligen Regierungen betrieben. An dieser Vorschrift wird deshalb die Exekutivlastigkeit kritisiert und gefordert, dass über den Wort­ laut des § 68 BVerfGG hinaus unter unmittelbaren Rückgriff auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG ins­ besondere auch Landtage parteifähig sein müssen.619 617 Diese Voraussetzung ist indes nicht zu eng auszulegen, es genügt der Verstoß gegen sonstige Verfassungsaussagen, wenn dadurch die verfassungsrechtlichen Positionen des An­ tragstellers mittelbar betroffen sein können; vgl. aber Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 9, Rn. 7. Der Prüfungsumfang schließt damit sämtliche für das Bund-LänderVerhältnis maßgeblichen Aspekte ein. 618 Teilweise wird insoweit auch von „Parteifähigkeit“ gesprochen, vgl. etwa Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 68, Rn.  4. 619 So Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 9, Rn. 9; dagegen jedoch BVerfGE 129, 108 (115) – Legislativstreit Schuldenbremse, und die ganz h. M. im Schrifttum, vgl. nur Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 68, Rn. 4, m. w. N.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

651

Eine solche Kritik übersieht allerdings, dass der Bund-Länder-Streit des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG nicht als Organstreitverfahren, sondern als Streitverfahren zwischen Verbänden mit (voller bzw. eingeschränkter) Staatsqualität konzipiert ist.620 Es ist deshalb folgerichtig, dass die Regelung des § 68 BVerfGG auf die Regierungen als die typischen621, „geborenen“622 ‚Vertretungs‘-Organe des Bundes und der einzelnen Länder zurückgreift und nicht auch an­ deren Organen die Antragsberechtigung verleiht.623

511

Gänzlich unproblematisch ist die Verengung des § 68 BVerfGG freilich nicht. Dies gilt weniger für die Entscheidung für die Vertretung des Bundes durch die Bundesregierung, weil durch § 68 BVerfGG der (einfache) Bundesgesetzgeber über die Organzuständigkeit auf Bun­ desebene entschieden hat. Aus bundesstaatlicher Sicht rechtfertigungsbedürftig erscheint jedoch die Verengung der Vertretung der Länder auf die Landesregierungen durch den ein­ fachen Bundesgesetzgeber. Hier könnte die Verfassungsautonomie der Bundesländer berührt sein. Letztlich steht es den Ländern jedoch frei, die landesverfassungsrechtlichen Vorausset­ zungen dafür zu schaffen, dass etwa die Landtage auf die Führung eines Bund-Länder-Streits durch die jeweilige Landesregierung, beispielsweise im Wege eines Landesorganstreits vor dem Landesverfassungsgericht, hinwirken können.624

512

Die Regierungen handeln für ihre Verbände als deren Organe (d. h. sie machen die Rechte des Bundes bzw. des Landes im Namen des jeweiligen Verbands geltend), nicht aber als Prozessstandschafter, die die Rechte des jeweiligen Verbands im eigenen Namen geltend machen würden.625 Nach dem Bundesverfassungsgericht und Teilen des Schrifttums handelt es sich bei § 68 BVerfGG um einen Fall der gesetzlichen Vertretungsmacht626 (zum umstrittenen Verhältnis von Organhandeln und Vertretung § 1 Rn. 28 ff.).

513

Ob sich für das verfassungsrechtliche Innenverhältnis auf Bundesebene aus dem Grund­ gesetz – etwa aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verfassungsorgantreue (s. § 1 Rn. 158 ff.) – eine etwaige Pflicht der Bundesregierung ableiten lässt, einen Bund-LänderStreit einzuleiten, wenn ein Land die Rechte eines Bundesorgans (etwa des Bundestags) ver­ letzt, ist bisher nicht abschließend geklärt. Verfassungsprozessual handelt es sich hierbei um eine Kombination von Fragen der Zulässigkeit eines (Bundes-)Organstreits und eines BundLänder-Streits. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob „eine treuhänderische Pflicht der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag zur Einleitung eines Bund-Länder-Streits

514

620

Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 68, Rn. 4; vgl. auch BVerfGE 129, 108 (115) – Legislativstreit Schuldenbremse. 621 BVerfGE 129, 108 (117)  – Legislativstreit Schuldenbremse: „Rolle als typischerweise nach außen auftretendes Verfassungsorgan“. 622 So die Wortwahl von Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 10, Rn. 3, zu § 71 BVerfGG, welcher der Einschränkung insgesamt freilich kritisch gegenüber steht. 623 So auch BVerfGE 129, 108 – Legislativstreit Schuldenbremse; und die h. M. im Schrift­ tum: vgl. statt vieler Schorkopf, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 68, Rn. 4. 624 Vgl. auch BVerfGE 129, 108 (117) – Legislativstreit Schuldenbremse. 625 S.  Schorkopf, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 68, Rn. 4, m. w. N. 626 Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 68, Rn. 4, m. w. N.; BVerfGE 129, 108 (115) – Legislativstreit Schuldenbremse: „Ver­ tretungsberechtigung“.

652

§ 8 Bundesverfassungsgericht

begründet werden kann“, zunächst offen gelassen.627 In einer späteren Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht für eine analoge Konstellation auf Landesverfassungsebene jedoch ausdrücklich auf „die Möglichkeit, mit Hilfe einer Organklage [… die] Verpflichtung [der Landesregierung] zur Antragstellung zu erstreiten“, verwiesen.628

c) Streitgegenstand 515

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG ist das Bundesverfassungsgericht nur für die Ent­ scheidung von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern zuständig. „Solche Streitigkeiten liegen nur vor, wenn der Antragsteller gegen den Antragsgegner Ansprüche erhebt, die sich aus einem beide Teile umschließenden Verfassungsrechtsverhältnis ergeben.“629 Dies folgert das Bundesverfassungsge­ richt aus dem systematischen Zusammenhang zwischen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 2 GG. Somit kann „der Verwaltungsakt einer unteren Bundesbehörde, der we­ gen Verkennung der Verfassungslage rechtswidrig ist, … nicht Gegenstand einer Verfassungsstreitigkeit zwischen einem Land und dem Bund sein.“630

516

Streitgegenstand kann auch eine aus dem Grundsatz der Bundestreue (oder: Grundsatz des bundes- bzw. länderfreundlichen Verhaltens)631 folgende Pflicht sein.632 Allerdings betont das Bundesverfassungsgericht, dass die Bundestreue lediglich akzessorisch im Rahmen eines bereits anderweitig begründeten ver­ fassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses wirkt.633 Als Beispiele für solche primä­ ren Rechtsverhältnisse, in deren Zusammenhang dann die Bundestreue wirksam werden kann, können etwa die von Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG genannten Meinungs­ verschiedenheiten bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder sowie bei der Ausübung der Bundesaufsicht (vgl. Art. 83 ff. GG), aber auch die konkreten Modalitäten der Ausübung von Bundesgesetzgebungskompetenzen dienen.

517

So hat das Bundesverfassungsgericht etwa bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Weisungen des Bundes an ein Land bei der Bundesauftragsverwaltung nach Art. 85 Abs. 3 GG bestimmte Grenzen aus der Bundestreue abgeleitet, welche sich prozessual über den Bund-Länder-Streit geltend machen lassen.634 627

BVerfGE 103, 81 (86) – Pofalla I; im zu entscheidenden Fall hatte es bereits am strei­ tigen verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen Bund und Land gefehlt, sodass die Bundesregierung schon deshalb keine Pflicht zur Eröffnung eines Bund-Länder-Streits treffen konnte. Offen blieb damit jedoch, ob eine solche Pflicht bestünde, sollten die Zulässigkeits­ voraussetzungen eines Bund-Länder-Streits gegeben sein, vgl. auch Schorkopf, in: Umbach / ​ Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 68, Rn. 5 f. 628 BVerfGE 129, 108 (117) – Legislativstreit Schuldenbremse. 629 BVerfGE 13, 54 (72 f.) – Neugliederung Hessen. 630 BVerfGE 21, 312 (328 f.) – Wasser- und Schiffahrtsverwaltung. 631 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 9, Rn. 197 ff. 632 Vgl. bspw. BVerfGE 8, 122 (128 ff.) – Volksbefragung Hessen. 633 Vgl. bspw. BVerfGE 95, 250 (266); 103, 81 (88) – Pofalla I. 634 Vgl. bspw. BVerfGE 81, 310 (337 f.) – Kalkar II; vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 82 ff.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

653

In Bezug auf (bestimmte) Meinungsverschiedenheiten im Rahmen der Bundes­ aufsichtsverwaltung bei der Ausführung des Bundesrechts durch die Länder 635 ist vor dem eigentlichen Bund-Länder-Streit eine Art ‚Vorverfahren‘ (sog. Mängelrügeverfahren) angeordnet: Nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG entscheidet zunächst der Bundesrat, ob eine Rechtsverletzung durch das Land vorliegt. Erst gegen den Beschluss des Bundesrats kann dann nach Art. 84 Abs. 4 S. 2 GG das Bundesver­ fassungsgericht angerufen werden (s. § 3 Rn. 229 f.).

518

d) Antragsbefugnis Über das abstrakt zu bestimmende Merkmal der Beteiligtenfähigkeit hinaus muss der Antragsteller auch im konkreten Fall befugt sein, ein Bund-Länder-Streit­ verfahren einzuleiten. Diese Antragsbefugnis ist nach § 69 i. V. m. § 64 BVerfGG nur dann gegeben, wenn der Antragsteller geltend machen kann, „daß er durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist.“

519

Die etwaige Rechtsverletzung muss substantiiert, d. h. plausibel und vertretbar636, dargelegt werden.

520

Wie auch bei der Antragsbefugnis im Organstreitverfahren (s. o. Rn. 383), sind die hier in Bezug genommenen „Rechte“ oftmals eigentlich Zuständigkeiten und Befugnisse.

521

e) Form und Frist Auch für die Bund-Länder-Streitigkeit gilt das Erfordernis der Schriftlichkeit des § 23 Abs. 1 BVerfGG. Außerdem muss die (möglicherweise) verletzte Grund­ gesetzbestimmung genannt werden (§ 69 i. V. m. § 64 Abs. 2 BVerfGG).

522

Was die Frist betrifft, so ist zu differenzieren: Grundsätzlich ist der Antrag, über eine Streitigkeit zwischen dem Bund und den Ländern zu entscheiden, auf­ grund des Verweises in § 69 BVerfGG der sechsmonatigen Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG unterworfen.

523

In Abweichung von dieser Regel normiert § 70 BVerfGG ausnahmsweise eine kürzere Frist, wenn im Mängelrügeverfahren nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG zunächst ein Vorverfahren durchgeführt wurde (s. o.  Rn. 518). Hier kann der dieses Verfahren beendende Beschluss des Bundesrats nur innerhalb eines Monats angefochten werden.

524

635

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, 2011, § 22, Rn. 47 ff. Vgl. (zu § 64 BVerfGG) Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 64, Rn. 66. 636

654

§ 8 Bundesverfassungsgericht

3. Begründetheitsvoraussetzungen und Entscheidungsinhalt 525

Maßstab für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG ist (ausschließlich) das Verfassungsrecht, insbesondere die Vor­ schriften über Zuständigkeiten und Befugnisse des Bundes bzw. der Länder.

526

Wie auch im Organstreitverfahren (s. o. Rn. 356 ff.) wird in einer dem Antrag stattgebenden Entscheidung lediglich festgestellt, dass ein Verstoß gegen eine grundgesetzliche Norm vorliegt.

527

Die angegriffene Maßnahme wird nicht durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben; vielmehr wird von der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG (s. o. Rn. 322) sowie von der Rechts- und Verfassungstreue der unterliegenden Partei ausgegangen. Das Bundesverfas­ sungsgericht kann auch Einzelheiten der „Vollstreckung“ seines Feststellungsurteils treffen (§ 35 BVerfGG; s. o. Rn. 323 ff.).

528

Wenn allerdings im Rahmen des ‚Vorverfahrens‘ nach Art. 84 Abs. 4 S. 1 GG ein Be­ schluss des Bundesrats ergangen ist, kann dieser vom Gericht aufgehoben werden.637

VII. Verfassungsbeschwerde 1. Bedeutung, Funktion und Normierung 529

Die mit Abstand häufigste Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht stellt die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90–95 BVerfGG) dar.

530

Über 96 % aller Eingänge beim Bundesverfassungsgericht sind Verfassungsbeschwerden, von denen wiederum der ganz überwiegende Teil erfolglos bleibt. Bereits über 97 % der ein­ gegangen Verfassungsbeschwerden werden gar nicht erst zur Entscheidung angenommen, weil sie ent­weder unzulässig oder ersichtlich unbegründet sind oder ihnen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt.638

531

Ob die Beliebtheit der Verfassungsbeschwerde eine Folgeerscheinung von anderweitigen Rechtsmittelbeschneidungen oder eher von deutscher Klagefreudigkeit und Michael Kohl­ haas-Mentalität ist, wird unterschiedlich beurteilt.639 Jedenfalls sind verfahrensrechtliche Kon­ trollen grundsätzlich im fachgerichtlichen Rechtsmittelzug besser aufgehoben.

532

In der Häufigkeit der Verfassungsbeschwerde kann (trotz der geringen Erfolgs­ quote) vor allem ein Zeichen der Popularität des Bundesverfassungsgerichts bei der Bevölkerung gesehen werden. Das hohe Vertrauen der Rechtsunterworfenen 637

Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 1087. Zur Statistik der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht, https://www. bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2019/statistik_2019_node.html, zuletzt aufgerufen am 21.07.2020. 639 S. dazu Blankenburg, ZfRSoz 1998, 37 ff.; ferner zum Zusammenhang von öffentlicher Meinung und Beliebtheit der Verfassungsgerichtsbarkeit Roellecke, NJW 2001, 2924 (2929 f.) 638

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

655

in das Bundesverfassungsgericht resultiert maßgeblich aus der Existenz dieser Verfahrensart. Die Verfassungsbeschwerde wurde ursprünglich durch einfaches Gesetz geschaffen, nicht durch das Grundgesetz. Die im Entwurf von Herrenchiemsee noch enthaltene Regelung (Art. 98 Nr. 8) über die Verfassungsbeschwerde beim Bun­ desverfassungsgericht hat der Parlamentarische Rat nicht in das Grundgesetz übernommen. Mit Blick auf Art. 19 Abs. 4  GG wurde die Notwendigkeit eines solchen außerordentlichen Rechtsbehelfs bestritten.640 Gleichwohl entschloss sich die Mehrheit in Bundestag und Bundesrat in dem Bestreben, das demokratische Bewusstsein der Staatsbürger und ihre Identifikation mit der Verfassung zu stär­ ken,641 für die einfachgesetzliche Einführung der Verfassungsbeschwerde in § 90 BVerfGG,642 mit der es bis ins Jahr 1969 ihr Bewenden hatte.

533

Bei Schaffung der Notstandsverfassung im Jahr 1969 befassten sich die Be­ schlussgremien u. a. eingehend mit der Stellung und den Kompetenzen des Bun­ desverfassungsgerichts im Verteidigungsfall. In diesem Zusammenhang wurde die Befürchtung geäußert, dass Bundestag und Bundesrat die Möglichkeit der Verfas­ sungsbeschwerde in dieser Situation durch einfache Ge­setzesänderung abschaffen könnten.643 Dieser – von großem Misstrauen gegenüber dem (einfachen) Gesetzge­ ber getragenen – Vorstellung sollte durch die grundgesetzliche Verankerung der Verfassungsbeschwerde in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG entgegengewirkt werden.644

534

Die verfassungsrechtliche Verankerung der Verfassungsbeschwerde unterliegt aber nicht der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG,645 könnte also durch Verfassungsänderung wieder abgeschafft werden.646 Ob dies politisch durchsetz­ bar und überhaupt wünschbar wäre, steht auf einem anderen Blatt (s. a. Rn. 664).

535

2. Subsidiarität und Annahmeverfahren Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dem sich der Staatsbürger  – und unter Umständen auch andere Grundrechtsberech­ tigte – gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in seine Grundrechte und grund­ rechtsgleichen Rechte an das Bundesverfassungsgericht wenden kann.647 640

Ruppert, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 90, Rn. 7 m. w. N. Sten. Ber. der 112. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.1.1951, S. 4227. 642 Gesetz v. 16.4.1951, BGBl. I, S. 243. 643 Der Gemeinsame Ausschuss kann dies nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Zustim­ mung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 115g S. 2 GG; s. § 4 Rn. 41. 644 Ein Änderungsverbot wurde erwogen, war aber nicht Gegenstand der Abstimmung, vgl. hierzu Versteyl, in: v. Münch / Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 115g, Rn. 4, m. w. N. 645 Kloepfer, DVBl. 2004, 676 (680); Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / K lein / ders., BVerfGG, 57. Ergänzungslieferung 2019, § 90, Rn. 7. 646 Zur Frage, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt durch Verfassungsänderung ab­ geschafft werden könnte, s. o. Rn. 53. 647 Vgl. BVerfGE 18, 315 (325) – Marktordnung. 641

536

656

§ 8 Bundesverfassungsgericht

537

§ 90 BVerfGG geht von der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde aus:648 Sie kann grundsätzlich erst nach Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs, ggf. erst in der Hauptsache,649 erhoben werden (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Eine sofor­ tige Einlegung (ohne Rechtswegerschöpfung) ist nur in engen Ausnahmefällen zulässig (s. Rn. 573 ff.). Mit der Regelung über die Rechtswegerschöpfung nach § 90 Abs. 2 BVerfGG hat der Gesetzgeber des BVerfGG von der grundgesetzlichen Ermächtigung in Art. 94 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 GG Gebrauch gemacht.

538

Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung und die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zählen zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde (s. u. Rn. 544 ff.), kennzeichnen aber zugleich ganz allgemein die Außerordentlichkeit dieses Rechtsbehelfs.

539

Im Jahre 1969 im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Verfassungsbeschwerde wurde Art. 94 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 GG als verfassungs­ rechtliche Grundlage für ein besonderes Annahmeverfahren in das Grundgesetz eingefügt (s. a. Rn. 24 u. Rn. 204 ff.).650

540

Die Entscheidung über die (Nicht-)Annahme einer Verfassungsbeschwerde ist kein Teil der Zulässigkeitsprüfung, sondern dieser gewissermaßen vorgelagert.651 Es handelt sich um keine Sachurteilsvoraussetzung im eigentlichen Sinn. In der Staatsrechts- bzw. Verfassungs­ rechtsklausur ist dieser Prüfungspunkt grundsätzlich nicht tiefergehend zu thematisieren. In der Regel reicht die Erwähnung der Notwendigkeit einer Annahme aus.

541

Schon 1956 hatte der einfache Gesetzgeber bereits ein Vorprüfungsverfahren eingerichtet (s. a. Rn. 31). Heute ist das Vorprüfungsverfahren in den §§ 93a bis 93d BVerfGG geregelt. Danach entscheiden mit jeweils drei Richtern besetzte Kammern des Gerichts darüber, ob eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung (durch den Senat oder nach § 93c BVerfGG durch die Kammer selbst) angenommen wird (s. auch oben Rn. 204 ff.).

542

Nur gut 2 % aus der Flut von jährlich rund 5000 bis 6500 Verfassungsbeschwerden er­ fahren eine Annahme oder gar Stattgabe durch die Kammer;652 bei Kammern und Senaten dringen im Ergebnis nur 1 % der Beschwerdeführer mit ihrem Begehren durch.653

543

Das Annahmeverfahren nach den §§ 93a bis 93d BVerfGG enthebt das Gericht nicht von seiner Pflicht, über jede Verfassungsbeschwerde – wenn auch nicht stets 648

BVerfGE 22, 287 (290 f.); 33, 247 (258); 55, 244 (247); zu dem Verhältnis der Subsidiari­ tät zu Anhörungsrügen: Desens, NJW 2006, 1243 ff. 649 BVerfGE 104, 65 (70 f.) – Schuldnerspiegel. 650 G. zur Änderung des Grundgesetzes v. 29.1.1969 (BGBl. I, S. 97). 651 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 258. 652 Eine Statistik findet sich unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/ Jahresstatistiken/2019/statistik_2019_node.html, zuletzt aufgerufen am 21.07.2020; sowie bei Langrock, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, nach §§ 90–93, Rn. 8, Fn. 11. 653 Zahlreiche „Verfassungsbeschwerden“ genügen nach Form oder Inhalt ersichtlich nicht den gesetzlichen Anforderungen dieses Rechtsbehelfs, sondern sind im Sinne von „Eingaben“ an das höchste Gericht zu verstehen. Sie werden wie andere Angelegenheiten als Justizver­ waltungssachen behandelt und durch die Abteilungsleitung „Justizverwaltung“ (s. o. Rn. 230) in das „Allgemeine Register“ des Gerichts aufgenommen, vgl. § 63 Abs. 1 S. 2 lit. b GOBVerfG (BGBl. 2015 I S. 286).

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

657

nach (intensiver) Sachprüfung – entscheiden zu müssen.654 Damit besteht anders als etwa beim Supreme Court der USA, in dessen (weiterem) Ermessen es steht, ob er eine Beschwerde zur Entscheidung annimmt,655 beim Bundesverfassungsgericht ein grundsätzlicher Entscheidungszwang (s. auch oben Rn. 301). Freilich enthal­ ten auch die §§ 93a ff. BVerfGG, welche die Voraussetzungen der (Nicht-)Annahme einer Verfassungsbeschwerde regeln, verschiedentlich weite Auslegungsspiel­ räume,656 die den Entscheidungszwang praktisch stark relativieren. Entscheidungen der Kammer über die (Nicht-)Annahme einer Verfassungsbeschwerde müssen gem. § 93d Abs. 3 S. 1 BVerfGG einstimmig ergehen (s. a. § 1 Rn. 113). 3. Zulässigkeitsvoraussetzungen Eine zulässige Verfassungsbeschwerde setzt – dies sei als Überblick voran­ge­ stellt – voraus, dass ein beschwerde- und prozessfähiger, beschwerdebefugter Be­ schwerdeführer einen tauglichen Beschwerdegegenstand rügt, grundsätzlich die Anforderungen der Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität erfüllt sind sowie die gesetzlichen Form- und Fristanforderungen eingehalten werden.

544

a) Beschwerdefähigkeit Beschwerdefähig ist „jedermann“. Voraussetzung für die Beschwerdefähigkeit ist, dass der Antragsteller Träger von Grundrechten sein kann, also grundrechtsfähig ist. Grundrechtsfähig sind alle natürlichen Personen sowie inländische (und EU-ausländische) juristische Personen nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG.657

545

Politische Parteien können, soweit es ihre Beteiligung am Verfassungsleben betrifft, ihre zentrale grundgesetzliche Position (Art. 21 Abs. 1 GG) nur im Organstreitverfahren durchset­ zen (s. o. Rn. 376). Davon zu unterscheiden ist die Betroffenheit der Parteien als „grundrechts­ fähige nichtrechtsfähige Vereine“, die durchaus einem Akt der öffentlichen Verwaltung oder der Rechtsprechung ausgesetzt sein können.658 Soweit sie aber Hoheitsgewalt ausüben (z. B. Grabzuweisung), sind sie aber grundrechtsverpflichtet und nicht -berechtigt.

546

654

Vgl. jedoch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 268: „Bei Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde bleibt diese unentschieden!“ 655 Näheres zur amerikanischen Vorprüfung, dem „writ of certiorari“ und seiner früh unter­ suchten Übertragbarkeit, Rinck, NJW 1959, 710; Gehle, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, vor § 93a ff., Rn. 26 ff. 656 Vgl. Gehle, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 93a, Rn. 7. 657 Zu nichtrechtsfähigen Vereinen: BVerfGE 6, 273 (277); 15, 256 (261)  – Universitäre Selbstverwaltung; 24, 236 (243); zu Personenhandelsgesellschaften: BVerfGE 4, 7 (12) – In­ vestiontshilfe; zu juristischen Personen mit Sitz im Ausland: BVerfGE 12, 6 (8) – Société an­ onyme; 18, 441 (447) – AG in Zürich; vgl. auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 49, Rn. 42 ff. 658 BVerfGE 27, 152 (158); 47, 198 (223) – Wahlwerbesendungen; 69, 257 (265 f.) – Politische Parteien.

658

§ 8 Bundesverfassungsgericht

547

Ausnahmsweise beschwerdeberechtigt  – obwohl öffentlich-rechtlich eingerichtet  – sind schließlich Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts wie staatliche Universitäten659 und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten,660 soweit sie als staatliche Einrichtun­ gen im Bereich ihrer Autonomie betroffen sind, in welchem sie der Grundrechtsverwirklichung dienen. Auch Religionsgemeinschaften sind grundsätzlich (grundrechtsfähig und) beschwer­ deberechtigt; auch durch den etwaigen Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 ff. WRV beanspruchen diese regelmäßig keine grundrechtsad­ ressierte Staatsgewalt.661 Soweit sie aber Hoheitsgewalt ausüben (z. B. Grabzuweisung), sind sie aber grundrechtsverpflichtet und nicht -berechtigt.

548

Auch Abgeordnete können Beschwerdeberechtigte sein, wenn ihnen im konkreten Fall keine andere Rechtsschutzform – etwa das Organstreitverfahren – zur Verfügung steht (s. dazu Rn. 373 ff.)662 und sie die Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten (ins­ besondere von Art. 38 Abs. 1 GG)663 geltend machen.

549

Nicht beschwerdefähig ist  – mit den erwähnten Ausnahmen der öffentlichrechtlichen Universitäten, Rundfunkanstalten und der korporierten Religionsge­ meinschaften (Rn. 547) – die öffentliche Hand, da diese grundrechtsverpflichtet, nicht aber grundrechtsberechtigt ist. Die Zuweisung der Beschwerdefähigkeit an die öffentliche Hand würde zur Konfusion führen.

550

Soweit es ihnen nicht um die Geltendmachung von Prozessgrundrechten geht, sind auch Gemeinden nicht im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde beschwerdeberechtigt.664 Für Gemeinden gibt es mit der Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG freilich einen spezifischen Verfassungsrechtsbehelf zur Durchsetzung des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG (s. u. Rn. 590 ff.).

b) Prozessfähigkeit 551

Zur Beschwerdefähigkeit muss die Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers hin­ zutreten. Hierunter ist die Fähigkeit zu verstehen, die Verfassungsbeschwerde im eigenen Namen einlegen zu können und vor dem Bundesverfassungsgericht das Verfahren führen zu können.

552

Nach herrschender Meinung wird zur Bestimmung der Prozessfähigkeit natürlicher Personen auf die Grundrechtsmündigkeit665 abgestellt666 und dabei danach 659

BVerfGE 15, 256 (261 f.) – Universitäre Selbstverwaltung. BVerfGE 31, 314 (322) – 2. Rundfunkentscheidung. 661 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 27, Rn. 85 ff. 662 BVerfGE 108, 251 (266 ff.) – Abgeordnetenbüro. 663 So geschehen etwa im Verfahren zum Vertrag von Lissabon, s. BVerfGE 123, 267 (339) – Lissabon. 664 Vgl. BVerfGE 61, 82 (100 ff.) – Sasbach. A. A. Schnapp, Der Städtetag 1969, 534 (537 ff.); Ruhland, BayVBl. 1979, 746 ff.; Maurer, DVBl. 1995, 1037 (1041); Hufen, DÖV 1998, 276 (278). 665 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 49, Rn. 24 ff. 666 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 212; a. A. Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Aufl. 2017, Rn. 662. 660

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

659

gefragt, ob der Antragssteller hinsichtlich der geltend gemachten Grundrechte ein­ sichts- und entscheidungsfähig ist. Die Prozessfähigkeit Minderjähriger ist folglich grundrechtspezifisch zu bestimmen: Bei bestimmten Grundrechten kann hierbei – als verfassungsrechtlich unverbindlicher Anhalts­ punkt – auf Wertungen des einfachen Rechts zurückgegriffen werden. Beispielsweise wird für die Bestimmung von Grundrechtsmündigkeit und Prozessfähigkeit hinsichtlich der Reli­ gionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG auf die einfachgesetzlichen Wertungen des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) zurückgegriffen.667 Nach § 5 S. 1 RelKErzG steht dem Kind nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs „die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will.“ Das Bundesverfassungsgericht hat in einem obiter dictum darauf verwiesen, dass diese Wertung bei der Frage nach der Prozess­ fähigkeit in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu berücksichtigen sei.668

553

Für die Prozessfähigkeit juristischer Personen gilt, dass sich diese vertreten lassen müssen.

554

c) Beschwerdegegenstand Geeigneter Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist jeder Akt der „öffentlichen Gewalt“. Gemeint ist eine „Handlung oder eine Unterlassung“ (vgl. §§ 92, 95 Abs. 1 BVerfGG) der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (vgl. §§ 94 Abs. 3, 95 Abs. 2 BVerfGG) sowie der Gesetzgebung (vgl. §§ 93 Abs. 3, 94 Abs. 4, 95 Abs. 3 BVerfGG). Dies entspricht zum einen der Bindung aller staatlichen Ge­ walt an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG. Zum anderen geht die Verfassungs­ beschwerde aber über die Schutzwirkung aller ordentlichen Rechtsbehelfe nach Art. 19 Abs. 4 GG hinaus, da sie den Bürger auch vor Rechtsprechungsakten schützt.669

555

Mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar sind Verwaltungsmaßnahmen, Ge­ richtsentscheidungen und Rechtsvorschriften, welche von Organen des Bundes, eines Landes, einer Gemeinde bzw. eines sonstigen (deutschen) Hoheitsträgers zur Wahrnehmung seiner öffentlichen Aufgaben getätigt wurden.

556

Akte der ausländischen Staatsgewalt sind kein tauglicher Beschwerdegegenstand. Dies gilt auch für Akte internationaler Organisationen, soweit diese ent­ weder keine Durchgriffswirkung gegenüber dem Bürger in Deutschland haben670 oder auf der Ebene der internationalen Organisation ein ausreichender Grund­ rechtsschutz generell gewährleistet wird.671

557

667

G. v. 15.07.1921, RGBl. I S. 939, zul. geänd. durch G v. 17.12.2008, BGBl. I S. 2586. BVerfGE 1, 87 (89); vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 60, Rn. 42. 669 Eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Bundesverfassungsgerichtsurteil ist unzulässig, BVerfGE 1, 89 ff.; für einen Anspruch auf eine zweite Gerichtsinstanz hingegen Brandner, in: FS Brandner, 1996, S. 683 ff. 670 Vgl. BVerfG-K, NJW 2006, 2908 (2909; zum Internationalen Währungsfonds). 671 Vgl. BVerfG-K, NJW 2001, 2705 f. (zum Europäischen Patentamt, welches nicht zur Europäischen Union gehört). 668

660

§ 8 Bundesverfassungsgericht

558

Hinsichtlich der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen Akte der Organe der EU und gegen deutsche Akte zur Umsetzung von Unionsrecht muss differenziert werden (hierzu unten Rn. 638 ff.).

559

Die Verfassungsbeschwerde kann sich – wie erwähnt – gegen ein Gesetz wen­ den. Dabei ist teilweise problematisch, dass Gesetze als abstrakt-generelle Rege­ lungen nur bedingt unmittelbar in die Grundrechte Einzelner eingreifen. Um hier nicht mit Verfassungsbeschwerden befasst zu werden, die für den Antragssteller keine Auswirkungen haben, hat das Gericht das Erfordernis der eigenen, unmittel­ baren und gegenwärtigen Betroffenheit entwickelt (s. dazu sogleich Rn. 565 ff.). Zu­ dem folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (s. dazu Rn. 577), dass der Beschwerdeführer gegen die Norm grundsätzlich zunächst im Wege der Inzidentkontrolle durch die Fachgerichte vorgehen muss.672

560

Verwaltungsmaßnahmen sind zulässiger Beschwerdegegenstand, soweit in ihnen ein hoheitliches, verbindliches und außenwirksames Handeln liegt.673 Dazu zählt auch die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in privatrechtlicher Form (Verwaltungsprivatrecht). Fiskalische Hilfsgeschäfte, Verwaltungsinterna und Gnadenentscheidungen674 sind vom Begriff der „öffentlichen Gewalt“ i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG aber nicht erfasst. Da die Subsidiari­ tät der Verfassungsbeschwerde gegenüber exekutiven Maßnahmen ebenfalls die Ausschöpfung des allgemeinen und besonderen verwaltungsgerichtlichen Rechts­ schutzes verlangt, bildet in der Regel die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung den Beschwerdegegenstand.

561

Mit der Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, der sog. Urteilsverfassungsbeschwerde, sind generell nur gerichtliche Endentscheidungen angreifbar. Nach dem Gedanken des § 90 Abs. 2 S. 2 GG sind gerichtliche Ent­scheidungen in einem Zwischenverfahren zumindest aber auch dann be­ schwerdefähig, wenn sie dem Betroffenen schwere Nachteile bereiten, welche die Haupt­sacheentscheidung nicht mehr umkehren kann.675 Mit der Urteilsver­ fassungsbeschwerde kann nicht die Verletzung einfachen Rechts, sondern nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts gerügt werden. Damit soll der Missbrauch des Bundesverfassungsgerichts als Superrevisionsinstanz verhindert werden (s. a. Rn. 588 f.).

672

BVerfGE 74, 69 (75); 77, 84 (100) – Arbeitnehmerüberlastung. BVerfGE 16, 89 (93); 33, 18 (20 f.). 674 Hömig, in: ders., GG, 12. Aufl. 2018, Art. 93, Rn. 24; s. a. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 74, Rn. 8; für Verwaltungsentscheidungen im Wahlverfahren gilt der Vorrang des speziellen Wahlprüfungsverfahrens: BVerfGE 28, 214 (219 f.); 29, 18 f. 675 BVerfGE 1, 322 (325); 6, 12 (14); 24, 56 (61). Entsprechend ist eine konkrete Normen­ kontrolle nur bei bestehender Erheblichkeit für die jeweilige Endentscheidung zulässig. Aus­ nahmen hierzu bei Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 15, V, 2. 673

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

661

d) Beschwerdebefugnis Beschwerdebefugt ist der Beschwerdeführer nur dann, wenn er eine Verletzung von eigenen Grundrechten oder eigenen grundrechtsgleichen Rechten durch die angegriffene Verhaltensweise behauptet. Nach seinem Vortrag muss – § 90 Abs. 1 BVerfGG fordert insoweit Vergleichbares wie § 42 Abs. 2 VwGO für die verwal­ tungsprozessuale Klagebefugnis – die Verletzung eines Grundrechts des Beschwer­ deführers möglich sein, d. h. sie darf nicht von vorneherein ausgeschlossen sein.

562

Ausgeschlossen ist eine Grundrechtsverletzung bspw. dann, wenn der persönliche676 oder sachliche Schutzbereich677 der gerügten (Spezial-)Grundrechte für den Beschwerdeführer gar nicht eröffnet ist. Das Erfordernis sachlichen Schutzbereichs stellt in der Praxis allerdings keine wesentliche Einschränkung dar, weil Art. 2 Abs. 1 GG – die allgemeine Handlungsfrei­ heit – nach h. M. als Auffanggrundrecht verfassungsprozessual dazu führt, dass jeder Verstoß einer belastenden Maßnahme gegen das Grundgesetz mit der Verfassungsbeschwerde angegrif­ fen werden kann, sofern die Folge der Maßnahme eine eigene, unmittelbare und gegenwärtige Belastung des Beschwerdeführers ist. Erfolg wird die Verfassungsbeschwerde letztlich freilich nur haben, wenn ein Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht vorliegt (s. u. Rn. 588 f.).

563

Die Verfassungsbeschwerde kann sich gegen ein aktives Tun der „öffentlichen Gewalt“ (z. B. den Erlass eines Verwaltungsakts) oder gegen ein Unterlassen richten. Wendet sich der Beschwerdeführer gegen ein Unterlassen der „öffentlichen Gewalt“, insbesondere des Ge­ setzgebers oder der Verwaltung, muss er seine Beschwerdebefugnis auf eine grundrechtliche Handlungspflicht des Staates stützen. Grundsätzlich ist es anerkannt, dass aus den Grund­ rechten als objektiver Wertordnung auch Schutzpflichten des Staates gegenüber dem einzel­ nen Grundrechtsträger entstehen können.678 Im Rahmen der Beschwerdebefugnis muss das Bestehen einer solchen grundrechtlichen Schutzpflicht lediglich möglich erscheinen.

564

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Be­ schwerdeführer zudem geltend machen, selbst, unmittelbar und gegenwärtig in subjektiven Verfassungsrechten betroffen zu sein.679 Diese Kriterien wurden zwar primär im Hinblick auf Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze aufgestellt. Sie werden heute weitgehend aber auch auf Verfassungsbeschwerden gegen exe­ kutive und judikative Akte angewandt.680

565

Zunächst muss eine Selbstbetroffenheit vorliegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten (potentiell) selbst betroffen, wenn er darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlich­ keit durch die angegriffene Maßnahme in seinen Grundrechten berührt wird.681

566

676

Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 51, Rn. 7 f. Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 51, Rn. 9 ff. 678 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 48, Rn. 55 ff. 679 BVerfGE 1, 97 (101 f.) – Hinterbliebenenrente I; 53, 30 (48) – Mülheim-Kärlich; 72, 1 (5) – Altersgrenze. 680 BVerfGE 53, 30 (48)  – Mülheim-Kärlich; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungs­ gericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 231. 681 Vgl. BVerfGE 100, 313 (354)  – Telekommunikationsüberwachung; 109, 279 (307 f.)  – Großer Lauschangriff. 677

662

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Die Betroffenheit muss sich dabei gerade auf die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte beziehen. 567

Dies ist grundsätzlich dann der Fall, wenn sich die Norm, die Gerichtsentscheidung oder der Einzelakt an den Beschwerdeführer richtet, er also Adressat der staatlichen Maßnahme ist.682

568

Selbstbetroffenheit ist aber auch dann denkbar, wenn der Beschwerdeführer zwar nicht Ad­ ressat der Maßnahme ist, diese aber dennoch – in einer Reflexwirkung – seine Grundrechts­ position berührt. Freilich erkennt das Bundesverfassungsgericht nicht jede reflexartige Betrof­ fenheit als hinreichend für die Begründung der Selbstbetroffenheit an. Erforderlich sei „eine hinreichend enge Beziehung zwischen der Grundrechtsposition des Beschwerdeführers und der Maßnahme.“683 Etwa betrifft eine Ausreiseverpflichtung, welche an eine konkrete Person adressiert wurde, auch die engen Familienangehörigen dieser Person.684

569

Grundsätzlich ist wegen des Erfordernisses der Selbstbetroffenheit bei der Verfassungs­ beschwerde keine Prozessstandschaft möglich.685 Eine Ausnahme betrifft die Stellung der sog. ‚Partei kraft Amtes‘, also etwa den Vermögensverwalter.686

570

Auch muss der Beschwerdeführer gegenwärtig betroffen sein, der Akt „öffent­ licher Gewalt“ muss ihn ‚schon und noch‘ betreffen. Diese Kriterien dürfen nicht zu eng ausgelegt werden, in jedem Fall muss effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden können. So können spürbare Vorwirkungen687 ebenso wie Nachwirkungen von Hoheitsakten durchaus zu einer gegenwärtigen Betroffenheit führen.

571

Schließlich kann sich eine Verfassungsbeschwerde nur gegen eine Maßnahme richten, die den Beschwerdeführer unmittelbar betrifft. Eine unmittelbare Be­ troffenheit liegt vor, wenn es keiner weiteren rechtlichen Entscheidung oder Maßnahme bedarf, um einen Grundrechtseingriff anzunehmen. So wirken Ge­ setze nur dann unmittelbar, wenn sie nicht in einem weiteren Akt (z. B. Verwal­ tungsakt) vollzogen werden müssen. Wegen fehlender Unmittelbarkeit kann mit der Verfassungsbeschwerde zudem nicht gegen lediglich vorbereitende staatliche Akte wie etwa die Mitwirkung der Bundesregierung an Rechtssetzungsakten der Europäischen Union vorgegangen werden.688

572

Von diesem Erfordernis ist aber dann abzusehen, wenn etwa ein Gesetz bereits vor Erlass eines Verwaltungsakts zu entscheidenden Dispositionen veranlasst689 oder das Abwarten des Gesetzesvollzugs zu irreparablen Grundrechtsverletzungen führen könnte.690 682 Zu Ausnahmen von diesem Erfordernis, s. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungs­ gericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 232. 683 BVerfGE 108, 370 (384) – Exklusivlizenz. 684 Vgl. z. B. BVerfGE 76, 1 (37) – Familiennachzug. 685 BVerfGE 2, 292 (293 f.); 10, 134 (136); 11, 30 (35) – Kassenarzt-Urteil; 19, 323 (329); 25, 256 (263) – Blinkfüer; 56, 296 (297); 77, 263 (269). 686 Vgl. z. B. BVerfGE 95, 267 (299) – Altschulden: Beschwerdebefugnis eines Gesamtvoll­ streckungsverwalters. 687 Im Hinblick auf Gesetze s. Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, S. 213 f. 688 BVerfGK 2, 75 (76). 689 BVerfGE 43, 291 (386) – numerus clausus II. 690 Z. B. BVerfGE 115, 118 (139) – Luftsicherheitsgesetz.

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

663

e) Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde § 90 Abs. 2 S. 1  BVerfGG bestimmt aufgrund der Ermächtigung in Art. 94 Abs. 2 S. 2  GG, dass eine Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des jeweiligen Rechtswegs zulässig ist. Dies soll die Subsidiarität der Verfassungs­ beschwerde sichern.

573

Der Beschwerdeführer hat also zunächst alle zulässigen Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsentscheidungen und Gerichtsurteile einzulegen und ggf. durch alle gerichtlichen Instanzen durchzukämpfen. Die Verfahren müssen ordnungsgemäß be­ trieben werden, insbesondere sind die erforderlichen (Beweis-)Anträge zu stellen.691 Lediglich offensichtlich unzulässige oder offensichtlich in der Sache erfolglose692 Rechtsmittel müssen nicht eingelegt werden.

574

Von dem Gebot der Rechtswegerschöpfung wird nach § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG aber dann eine Ausnahme für eine sofortige Entscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts gemacht, wenn die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer ansonsten ein schwerer und nicht anders abwend­ barer Nachteil entstünde, wenn er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. Die Entscheidung hierüber liegt beim Bundesverfassungsgericht.

575

Gegen formelle Gesetze kann aufgrund der geltenden Gesetzeslage – anders als gegen bauplanungsrechtliche Satzungen und Verordnungen gemäß § 47 VwGO – unmittelbar kein Rechtsweg beschritten werden. Die Verfassungsbeschwerde gegen ein formelles Gesetz müsste daher, insbesondere wenn das Merkmal der Unmittelbarkeit der Betroffenheit erfüllt ist (s. o. Rn. 571), zulässig sein.

576

Das Bundesverfassungsgericht stellt jedoch für solche Verfassungsbeschwerden mit dem Merkmal der Subsidiarität eine zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung auf: Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfordere grundsätzlich, dass der von einem Gesetz unmittelbar Betroffene vor Fachgerichten eine Inzidentkontrolle des Gesetzes erwirkt,693 indem er einen das Gesetz anwendenden Vollzugs­ akt abwartet, gegen diesen vor den Fachgerichten vorgeht und das Gericht dazu bewegt, die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.

577

Ein solches Vorgehen ist dem Beschwerdeführer nur dann nicht zuzumuten, wenn durch die Anrufung der Fachgerichte ein effektiver Grundrechtsschutz nicht gewährleistet werden kann.694 Faustregelhaft kann gesagt werden, dass der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze alles Zumutbare getan haben muss, um Rechtsschutz außerhalb der Verfassungsbe­

578

691

BVerfG-K, NJW 2005, 3769 (3770). BVerfGE 9, 3 (7 f.); 18, 224 (231); 56, 363 (380); 69, 188 (202); 78, 155 (160); s. dazu auch Sperlich, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 90, Rn. 125. 693 Z. B. BVerfGE 69, 122 (125 f.) – Beitritt zur gesetzlichen Krankenkasse. 694 BVerfGE 71, 305 (336 f.). 692

664

§ 8 Bundesverfassungsgericht

schwerde zu erlangen.695 Die ‚Erfindung‘ dieser weiteren Zulässigkeitsvorausset­ zung durch das Bundesverfassungsgericht selbst, welches die Möglichkeit der Er­ hebung einer Verfassungsbeschwerde einschränkt, ist durchaus kritisch zu sehen.696 f) Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis 579

Dem allgemeinen ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses kommt im Zusammenhang mit der Verfassungsbe­ schwerde keine relevante praktische Bedeutung zu. Die hier kritischen Fälle werden bereits bei der unmittelbaren, gegenwärtigen und eigenen Betroffenheit und der Rechtswegerschöpfung bzw. Subsidiarität als unzulässig ‚herausgefiltert‘. g) Form und Frist

580

Die formellen Voraussetzungen an Antrag, Frist und Begründung der Be­ schwerde ergeben sich aus den §§ 92 (Form) und 93 BVerfGG (Frist). Als speziel­ lere Norm konkretisiert § 92 BVerfGG die allgemeine Formvorschrift des § 23 BVerfGG. Auch wenn für das verfassungsgerichtliche Verfahren der Amtsermitt­ lungsgrundsatz gilt, hat der Beschwerdeführer gleichwohl die Sachentscheidungs­ voraussetzungen darzulegen.697

581

Die Fristen für die Einlegung der Verfassungsbeschwerde sind ausführlich in § 93 BVerfGG geregelt. Sie betragen bei Beschwerden gegen behördliche und gerichtliche Entscheidungen einen Monat, bei Gesetzen dagegen ein Jahr (§ 93 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 3 BVerfGG).

582

War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden daran gehindert, gegen eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung rechtzeitig Verfassungsbeschwerde einzulegen, so ist ihm auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 93 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Ein entsprechender Antrag ist gemäß § 93 Abs. 2 S. 2 BVerfGG spätestens zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen.

583

Die Verfassungsbeschwerde hat  – anders als Anfechtungsklage und Wider­ spruch im Verwaltungsprozessrecht  – keinen Suspensiveffekt, das heißt, die Wirkung einer belastenden Maßnahme wird nicht schon durch Einlegung der Ver­ fassungsbeschwerde ausgesetzt. Unbeschadet dessen kann das Gericht im Wege einer einstweiligen Anordnung den Beschwerdegegenstand vorläufig regeln (§ 32 BVerfGG; s. u. Rn. 597 ff.).

695

Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 246. Zur Kritik, s. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 254. 697 Für das Landesverfassungsprozessrecht (landesverfassungsrechtliche Kommunalverfas­ sungsbeschwerde): MVVerfG, DÖV 2006, 340 (341). 696

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

665

4. Begründetheitsvoraussetzungen Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der vom Beschwerdeführer bezeichnete Akt „öffentlicher Gewalt“ verfassungswidrig ist und die Verletzung der Grundrechte bzw. bestimmter grundrechtsgleicher Rechte des Beschwerdeführers darauf beruht oder wenigstens darauf basieren kann.698

584

Die Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde hat das Gericht nach Maß­ gabe des § 95 BVerfGG zu treffen. Der konkrete Grundgesetzverstoß sowie die handelnde bzw. unterlassende Behörde oder das handelnde bzw. unterlassende Ge­ richt und der betreffende Akt öffentlicher Gewalt sind zu bezeichnen.

585

Verwaltungsentscheidungen und gerichtliche Entscheidungen sind aufzu­ heben; Letztere sind zudem an das zuständige Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG; s. o. Rn. 306).

586

Ein grundrechtswidriges Gesetz ist für nichtig zu erklären (§ 95 Abs. 3 BVerfGG i. V. m. § 79 BVerfGG). Zum Teil erklärt das Bundesverfassungsgericht aber ein grundgesetzwidriges Gesetz auch bloß für mit dem Grundgesetz unver­ einbar (s. o. Rn. 307 ff.).

587

Bei Urteilsverfassungsbeschwerden, also Verfassungsbeschwerden gegen fach­ gerichtliche Entscheidungen (Urteile oder Beschlüsse), stellt sich die Frage des Prüfungsumfangs des Bundesverfassungsgerichts.699 Wie bereits erwähnt, ist das Bundesverfassungsgericht keine „Superrevisionsinstanz“ (s. da­zu auch Rn. 127). Es beschränkt sich also darauf, die gerügte fachgerichtliche Entscheidung auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu prüfen. Dies schließt eine Prüfung auf den Verstoß gegen das Willkürverbot ein.700 Die richtige Auslegung des ein­ fachen Rechts bleibt also den Fachgerichten einschließlich der oberen Instanzen vorbehalten.

588

Konkret bedeutet dies, dass das Bundesverfassungsgericht  – wie bereits erwähnt  – die fachgerichtliche Entscheidung nur auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts hin untersucht.701 Dazu führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten lie­ gen.“702 Das Gericht überprüfe daher nur, „ob Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der eines Grundrechts, insbeson­ dere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für

589

698

S. etwa BVerfGE 65, 293 (296); 65, 297 (304); 61, 28 (34). S. dazu z. B. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte, 2006; Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen, 1991; Papier, in: FG 25 Jahre BVerfG, Bd. I, 1976, S. 432 ff.; Kunig, VVDStRL 61 (2002), 34 ff. 700 v. Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat?, 2002, S. 139 ff. 701 BVerfGE 18, 85 (92) – Spezifisches Verfassungsrecht. 702 BVerfGE 18, 85 (92 f.) – Spezifisches Verfassungsrecht, st. Rspr. 699

666

§ 8 Bundesverfassungsgericht

den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind.“703 Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist also nur dann begründet, wenn der Richter der Fachgerichtsbarkeit bei der Anwendung des einfachen Rechts gar nicht erkannt hat, dass Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte von Einfluss sind704 oder der Entscheidung unrichtige Anschauungen von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, zugrunde liegen.705 Trotz dieser prinzipiellen Festlegungen bleiben in der Praxis viele Abgrenzungsprobleme, zumal das Bundesverfassungsgericht nicht immer der Versuchung widersteht, doch wie eine Super­ revisionsinstanz vorzugehen.

VIII. Kommunalverfassungsbeschwerde 590

Kommunen, d. h. Gemeinden und Gemeindeverbände, können nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, §§ 13 Nr. 8a, 91 BVerfGG Verfassungsbeschwerde706 mit der Be­ hauptung erheben, dass ein Bundes- oder Landesgesetz die Vorschrift des Art. 28 [Abs. 2] GG 707, also das kommunale Selbstverwaltungsrecht, verletzt.

591

Geht es bei der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG um die etwaige Verletzung verfassungsstarker subjektiver Rechte von Individuen (s. o. Rn. 562), so geht es bei der Kommunalverfassungsbeschwerde um die Verteidigung verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten von Gemeinden und Gemeindeverbänden. Die Verfassung und das BVerfGG halten sich allerdings nicht an diese Terminologie und sprechen vom „Recht auf Selbstverwal­ tung.“ Da die Gemeinden und Gemeindeverbände – grundrechtstheoretisch gesehen – Teile des Staates sind, geht es bei der Kommunalverfassungsbeschwerde letztlich um einen verfassungs­ gerichtlichen Schutz des Staates vor sich selbst bzw. um einen staatlichen Insichschutz. Wenn dabei auf die Terminologie und die dogmatischen Strukturen der Verfassungsbeschwerde zurückgegriffen wird, liegt darin in gewisser Hinsicht ein Systembruch. Freilich muss dies im Hinblick auf die permanente Schwächung der Kommunen durch den Staat hinnehmbar sein.

592

Beispielsfälle708 der Kommunalverfassungsbeschwerde betreffen etwa den Rechtsschutz der Gemeinden gegen die Einschränkung der gemeindlichen Planungshoheit709, gegen willkürliche Namensänderung710 und gegen Neugliederung durch Landesgesetz.711 703

BVerfGE 18, 85 (93) – Spezifisches Verfassungsrecht, st. Rspr. Z. B. BVerfGE 43, 130 ff. – Flugblatt; 59, 231 (270 f.) – Freie Mitarbeiter; 95, 28 (37) – Werkszeitungen. 705 Z. B. BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth; 34, 238 ff. – Tonband; 30, 173 ff. – Mephisto; 84, 192 (195) – Offenbarung der Entmündigung. 706 Umstritten ist, ob das Verfahren als Verfassungsbeschwerde oder eher als eigenständi­ ges Normenkontrollverfahren einzuordnen ist. Für Letzteres: Schlaich / Korioth, Das Bundes­ verfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 192; kritisch Benda / Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 689 ff. 707 Sowohl Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG als auch § 91 BVerfGG schränken das rügefähige Recht nicht auf den Absatz 2 des Art. 28 GG ein, allerdings ist nur Art. 28 Abs. 2 GG unmittelbar relevant für die Rechtstellung der Kommunen. 708 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 191. 709 Vgl. BVerfGE 56, 298 ff. – Flugplatz Memmingen. 710 Vgl. BVerfGE 59, 216 ff – Söhlde. 711 Vgl. BVerfGE 86, 90 ff – Papenburg. 704

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

667

Nicht beschwerdeberechtigt sind kommunale Zweckverbände mit begrenzter Aufgaben­ stellung.712

593

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gehören zum Prüfungsmaßstab bei der kommunalen Verfassungsbeschwerde – entgegen dem Wortlaut von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, §§ 13 Nr. 8a, 91 BVerfGG – sämtliche Vorschriften des Grund­ gesetzes, soweit sie das „verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitzu­ bestimmen“ geeignet sind. Hierzu zählen Regelungen über die Gesetzgebungskom­ petenz der Bundesländer und einschlägige Ausprägungen des Bundesstaatsprinzips wie das – nunmehr in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG normierte – Durchgriffsverbot an den Bundesgesetzgeber.713

594

Nach herrschender Auffassung sind Kommunen aber nicht grundrechtsberechtigt (s. bereits Rn. 550).714 Ausnahmen bestehen für Justizgrundrechte. Wenn und soweit man – entgegen der h. M. – die Grundrechtsfähigkeit von Gemeinden und Gemeindeverbände auch über die Justizgrundrechte hinaus befürwortet,715 müs­ sen diese Verbände ihre Grundrechte im Rahmen der (normalen) Verfassungs­ beschwerde geltend machen.

595

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, § 91 S. 2 BVerfGG ist die Kommunalverfas­ sungsbeschwerde subsidiär gegenüber der Möglichkeit, das kommunale Selbst­ verwaltungsrecht bei einem Landesverfassungsgericht einzuklagen. Die Sub­ sidiaritätsklausel greift allerdings nicht, „wenn die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung hinter dem Gewährleistungsniveau des Art. 28 Abs. 2 GG zurückbleibt“.716

596

IX. Einstweilige Anordnungen Aufgrund der teilweise langen Bearbeitungszeiten beim Bundesverfassungsge­ richt und des fehlenden Suspensiveffekts hat für alle Verfahren die Möglichkeit der einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht eine erhebliche Bedeutung. Sie kann dazu beitragen, verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz in an­ gemessener Zeit (s. o. Rn. 292) zu erhalten.

597

Das Bundesverfassungsgericht kann eine Angelegenheit, welche seiner Zu­ ständigkeit unterfällt, auf Antrag zur Abwendung schwerer Nachteile oder aus

598

712 Vgl. BVerfGE 52, 95 ff. Schleswig-Holsteinische Ämter; hierzu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 191. 713 BVerfGE 1, 167 (181 ff.); 56, 298 (310 f.)  – Flugplatz Memmingen; zu Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 22, Rn. 53. 714 Das wird vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ausge­ schlossen, s. BVerfGE 61, 82 (100 ff.)  – Sasbach. A. A. Schnapp, Der Städtetag 1969, 534 (537 ff.); Ruhland, BayVBl. 1979, 746 ff.; Maurer, DVBl. 1995, 1037 (1041); Hufen, DÖV 1998, 276 (278). 715 Hierzu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 49, Rn. 60. 716 BVerfG, 2. Senat, Urt. v. 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16.

668

§ 8 Bundesverfassungsgericht

sonstigen gewichtigen Gemeinwohlgründen durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorläufig regeln (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). 599

Die Akzessorietät einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zu einem – zumindest potentiellen – Hauptsacheverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ergibt sich aus der Formulierung „im Streitfalle“ (§ 32 Abs. 1 BVerfGG).

600

Allerdings kann eine einstweilige Anordnung  – einen entsprechenden Antrag voraus­ gesetzt  – ergehen, noch bevor ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache eingeleitet ist (sog. isolierter Antrag).717 Allerdings müsste in diesem Fall die Einleitung eines zulässigen Hauptsache-Rechtsbehelfs vor dem Bundesverfassungsgericht potentiell (noch oder schon718) zulässig sein.

601

Die Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung richtet sich – ihrem Charakter der Akzessorietät entsprechend – zunächst nach den Regeln über das jeweilige Hauptverfahren. Dies betrifft insbesondere die Antragsberechtigung oder Betei­ ligtenfähigkeit und die Frage nach dem tauglichen Antragsgegenstand.

602

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt ein ‚Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache‘:719 Danach soll ein Antrag auf eine einstweilige Anordnung, welche bereits das Hauptsachebegehren erfüllen würde, grundsätzlich unzulässig sein. Ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis des Antragsstellers kann jedoch ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn „unter den obwaltenden Umständen eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät kommen würde.“720

603

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet, wenn die Unterlassung einer einstweiligen Anordnung zu den in § 32 Abs. 1 BVerfGG umschriebenen schweren Nachteilen bzw. Gemeinwohlgefahren führen würde, grundsätzlich unabhängig davon, ob in der Hauptsache Aussicht auf Erfolg be­ steht oder nicht.

604

Bei der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung treffen darf, tritt das Gericht in eine differenzierte zweiteilige Folgenabwägung nach der sog. Doppelhypothese ein: Dabei werden die Nachteile des Nichterlasses einer einstweiligen Anordnung mit den Nachteilen des etwaigen Erlasses einer einstweiligen Anordnung miteinander verglichen. Das Gericht wägt die Fol­ gen ab, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die angegriffene Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen

717

Vgl. BVerfGE 11, 339 (442); 27, 152 (156); 92, 130 (133); 134, 135 (137). Vgl. BVerfGE 135 (137 f.): Unzulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde vor Durch­ führung der Wahl. 719 Vgl. BVerfGE 3, 41 (43); 8, 42 (46); 11, 306 (308); 12, 276 (279); 14, 192 (193); 15, 77 (78); 16, 220 (226). Im Schrifttum wird teilweise Kritik an der Formel vom ‚Verbot der Vor­ wegnahme der Hauptsache‘ geübt: Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 464, unter Verweis auf Berkemann, JZ 1993, 161. 720 BVerfGE 46, 160 (164) – Schleyer-Entführung; 130, 367 (369); 131, 47 (54). 718

G. Einzelne Verfahren (Auswahl)

669

die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die angegriffene Maßnahme im Hauptsachverfahren indes für verfassungs­ gemäß erklärt würde.721 Sind die letztgenannten Nachteile weniger schwerwiegend als die zuerst beschriebenen Folgen, so ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Aus einem Bewertungspatt folgert das Bundesverfassungsgericht, dass eine einstweilige Anordnung nicht ergehen kann.722

605

Beispielsweise überwog in der „Awacs-Entscheidung“723 die Gefahr eines außenpoliti­ schen Schadens für die Bundesrepublik Deutschland im Falle der beantragten einstweiligen Versagung einer deutschen Einsatzbeteiligung die für die Bundeswehrsoldaten aus diesem Einsatz resultierenden Nachteile und Gefahren, auch wenn es sich um einen verfassungswid­ rigen Einsatz gehandelt hätte. In seinem „Volkszählungsbeschluss“ erkannte das Bundesver­ fassungsgericht die Nachteile und Gefahren eines von ihm einstweilig verfügten Aufschubs der dann doch verfassungsgemäßen Zählung an. Schwere Nachteile drohten jedoch im Fall der Durchführung durch die damit unumkehrbare Datenerhebung, sodass die Volkszählung vorübergehend ausgesetzt wurde.724

606

Im Schrifttum wird teilweise Kritik an der Handhabung der „Doppelhypothese“ durch das Bundesverfassungsgericht geübt: Das Gericht zähle lediglich „Gesichtspunkte pro und contra“ auf, ohne eine rationale Abwägung zu vollziehen, da die angeführten Aspekte aufgrund ihrer Abstraktheit regelmäßig gar nicht miteinander abwägbar seien.725 Gerade bei einstweiligen Anordnungen drohe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überwiegend politisch motiviert zu sein.726

607

Grundsätzlich erfolgt die einstweilige Entscheidung des Verfassungsgerichts ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten bei einstweiligen Anordnungen in Bezug auf Eilent­ scheidungen anderer Gerichte727 und für den Fall offensichtlicher Erfolglosigkeit (Unzulässigkeit) in der Hauptsache.728 Gleichwohl war das einstweilige Ergebnis bisher ein relativ verlässliches, aber nicht sicheres Barometer für die Hauptsache­ entscheidung gewesen.729

608

Bevorzugte Anwendungsfälle für einstweilige Anordnungen in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts sind insbesondere das Versammlungsrecht und das Familienrecht.730

609

721

Vgl. BVerfGE 34, 341 (342), m. w. N.; s. a. Lechner / Z uck, BVerfGG, 8. Aufl., 2019, § 32, Rn. 22. 722 BVerfGE 36, 37 (40)  – Vergabe von Studienplätzen; 85, 94 (96 f.)  – Kruzifix; 88, 25 (39 f.) – Frequenzzuteilung. 723 BVerfGE 90, 286 ff. Out-of-area-Einsätze. 724 BVerfGE 64, 67 ff. 725 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 465. 726 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 465, unter Verweis auf Schoch / Wahl, FS Benda, S. 265 ff. 727 BVerfGE 111, 147 (153) – Synagoge Bochum. 728 BVerfGE 66, 39 (56) – Stationierung Pershing II und Cruise Missile. 729 Vgl. Berkemann, JZ 1993, 161. 730 Vgl. Sauer, in:Walter / Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 7. Ed. 2019, § 35, Rn. 6.

670

§ 8 Bundesverfassungsgericht

X. Verhältnis der Verfahren zueinander 610

Aufgrund der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen zur Statthaftigkeit der einzelnen Verfahren kommt es bisweilen dazu, dass der jeweilige Antragsteller das gleiche Antragsziel mit unterschiedlichen Verfahren verfolgen kann.

611

So entstehen typische Abgrenzungskonstellationen, beispielsweise zwischen Verfassungsbeschwerde und Organstreitverfahren bei Anträgen politischer Par­ teien, je nachdem ob es der Partei um ihre Stellung als vereinsähnliche Personen­ vereinigung – dann Verfassungsbeschwerde – oder um ihre staatsorganisations­ relevante Stellung aus Art. 21 GG – dann Organstreitverfahren – geht (s. o. Rn. 546 bzw. Rn. 376).731

612

Sofern hinsichtlich der Statthaftigkeit von Verfahren ausnahmsweise doch Überschneidungen auftreten, kann das Bundesverfassungsgericht nach eigener Auffassung in einem Verfahren für mehrere Verfahrensarten zuständig sein. So kann etwa eine gerügte Rechtsverletzung zugleich Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle oder einer Bund-Länder-Streitigkeit sein. Auf solch ein Verfah­ ren sind dann entweder die besonderen Vorschriften über die abstrakte Normen­ kontrolle (§§ 76 ff. BVerfGG) oder die über Bund-Länder-Streitigkeiten (§§ 68 ff. BVerfGG) anzuwenden.732 Grundsätzlich obliegt es dann der Entscheidung des Antragstellers, welche Verfahrensart er wählt.

613

Voraussetzung für die Verbindung verschiedener Verfahren in einer Rechts­ sache ist stets, dass den Verfahrensvorschriften für jede Verfahrensart Genüge ge­ tan wird.733 Welche Vorschriften im Einzelnen maßgeblich sind, lässt das Bundes­ verfassungsgericht offen. Jedenfalls steht der Ablauf der Frist für die Klage im Bund-Länder-Streit der Zulässigkeit des Antrags auf abstrakte Normenkontrolle im Falle ihrer Konkurrenz aber nicht entgegen.734

614

Vor allem aber sind die unterschiedlichen Funktionen und Prüfungsmaßstäbe der einzelnen Verfahren zu berücksichtigen. So hat das Bundesverfassungs­ gericht entschieden, dass ein Antrag auf eine abstrakte Normenkontrolle nicht deshalb unzulässig ist, weil die zu prüfende Norm bereits Gegenstand einer Ent­ scheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Grund einer Verfassungsbeschwerde einer Gemeinde war. Denn nur im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollver­ fahrens wird eine umfassende Prüfung der Vereinbarkeit der gerügten Bestimmun­ gen mit dem Grundgesetz vorgenommen.735 Gleiches wird regelmäßig auch für das Verhältnis der abstrakten Normenkontrolle zu anderen Verfahren, namentlich zur Verfassungsbeschwerde sowie auch zur konkreten Normenkontrolle gelten müssen. 731

Vgl. BVerfGE 27, 152 (158); 47, 198 (223) – Wahlwerbesendungen; 69, 257 (265 f.) – Poli­ tische Parteien. 732 Missverständlich BVerfGE 1, 14 (30 f.) – Südweststaat. 733 BVerfGE 12, 205 (223) – 1. Rundfunkentscheidung. 734 BVerfGE 7, 305 (310 f.) – Rechtsverhältnisse der Flüchtlinge. 735 BVerfGE 7, 305 (311) – Rechtsverhältnisse der Flüchtlinge.

H. Völker- und Europarecht

671

H. Völker- und Europarecht I. Völkerrecht 1. Entscheidungen mit Völkerrechtsbezug Das Bundesverfassungsgericht hat ggf. auch über Sachverhalte mit Bezug zum Völkerrecht zu entscheiden. So können beispielsweise Vertragsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (vgl. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) (nicht aber völkerrechtliche Verträge selbst) Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens, insbeson­ dere einer abstrakten736 oder konkreten737 Normenkontrolle (s. o. Rn. 419 bzw. Rn. 481) oder einer Verfassungsbeschwerde (s. o. Rn. 559)738 sein.

615

Denkbar sind auch Bund-Länder-Streitigkeiten oder Organstreitigkeiten zur Durchset­ zung von Verbands- bzw. Organkompetenzen deutscher Hoheitsträger im Bereich der auswärtigen Gewalt.

616

Mit dem konkreten (Völkerrechts-)Normverifikationsverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG 739 gibt es außerdem eine spezifisch völkerrechtsbezogene Verfahrens­ art vor dem Bundesverfassungsgericht. In einem solchen Verfahren entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob eine Regel des Völkerrechts als „allgemeine Regel des Völkerrechts“ (vgl. Art. 25 S. 1 GG) Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (vgl. Art. 25 S. 2 GG). Wie die konkrete Normenkontrolle (s. o. Rn. 466) ergeht das konkrete (Völkerrechts-)Normverifikationsverfahren anlässlich eines konkreten Rechtsstreits.740

617

Akte internationaler Organisationen als solche sind kein zulässiger Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, soweit sie entweder keine Durchgriffswirkung gegenüber dem Bürger in Deutschland haben (so etwa Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds)741 oder soweit auf der Ebene der internationalen Organisation ein ausreichender Grundrechtsschutz generell gewährleistet wird (so etwa im Falle der Europäischen Patentorganisation; s. be­ reits Rn. 557)742.

618

736

Vgl. etwa BVerfGE 36, 1 (13) – Grundlagenvertrag. Vgl. etwa BVerfGE 95, 39 (44) – NATO-Betriebsvertretungen. 738 Vgl. etwa BVerfGE 6, 290 (294 f.) – Washingtoner Abkommen. 739 Hierzu ausführlich Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 35, Rn. 156 ff. 740 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 35, Rn. 160. 741 Vgl. BVerfG-K, NJW 2006, 2908 (2909). 742 Vgl. BVerfG-K, NJW 2001, 2705 f. (zum Europäischen Patentamt, welches nicht zur Europäischen Union gehört). 737

672

§ 8 Bundesverfassungsgericht

2. Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 619

In Ermangelung eines ‚Weltstaats‘ mit einer Verfassung im engeren Sinn743 gibt es im Bereich des Völkerrechts keine Verfassungsgerichtsbarkeit im techni­ schen Sinne. Allerdings gibt es durchaus Gerichte wie den Internationalen Ge­ richtshof oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, welche die Ein­ haltung von verfassungsähnlichen Teilbereichen des Völkerrechts, insbesondere der Menschenrechte, kontrollieren sollen.744

620

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – mit Sitz in Straß­ burg – genießt – ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepub­ lik Deutschland (s. u. Rn. 646) – ein besonderes Vertrauen und Ansehen bei den Menschen in den Vertragsstaaten und ist zu einem bedeutenden Akteur im Bereich des Menschenrechtsschutzes in Europa – vor allem auch außerhalb des EU-Be­ reichs – geworden. Aufgabe des EGMR ist es, über die Beachtung der in der – zum regionalen Völkerrecht gehörigen745 – Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Menschenrechte zu wachen.746

621

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungs­ gericht stehen teilweise in Konkurrenz zueinander, die im positiven Fall zu einer kooperationsähnlichen Beziehung führen kann.747 Wie das Bundesverfassungsge­ richt überprüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Vereinbarkeit von deutschen staatlichen Maßnahmen mit Grundrechten.748 Sein Prüfungsmaß­ stab sind allerdings die Menschenrechte der EMRK und nicht die Grundrechte des Grundgesetzes.

622

Da der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag im nationalen Recht nur der Rang eines einfachen Gesetzes zukommt,749 müsste die Auslegung der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Konfliktfall (also wenn z. B.

743

Freilich gibt es Diskussionen über eine Konstitutionalisierung jenseits des Nationalstaats, welche auch die Konstitutionalisierung des Völkerrechts erfassen, vgl. für einen Überblick Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht. Konstruktion und Elemente einer idealisti­ schen Völkerrechtslehre, 2012. 744 Zur „Verfassungsschöpfung“ durch EuGH, IGH, internationale Strafgerichte und andere internationale Gerichte Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht. Konstruktion und Elemente einer idealistischen Völkerrechtslehre, 2012, S. 33 ff. 745 Die EMRK gehört nicht etwa zum Recht der Europäischen Union, sondern stellt eigen­ ständiges Völkerrecht dar. Freilich bestehen wichtige Verzahnungen des Europäischen Unions­ rechts mit dem Recht der EMRK, vgl. nur Art. 6 Abs. 2 u. 3 EUV, wonach die Europäische Union der EMRK beizutreten hat und die Rechte der EMRK als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. 746 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 37, Rn. 28 ff., sowie ders., Verfassungs­ recht, Bd. 2, 2010, § 47, Rn. 20 ff. 747 S. dazu Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3 ff.). 748 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 47, Rn. 21 f. 749 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 35, Rn. 69 ff.

H. Völker- und Europarecht

673

der Schutz der EMRK weiter geht als der des Grundgesetzes) eigentlich hinter dem Grundgesetz zurücktreten. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings entschieden, dass die Gewährleis­ tungen der Konvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen.750 Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von der EMRK und der flankierenden Rechtsprechung als „Aus­ legungshilfen“.751 Jedenfalls faktisch kann darin eine tendenzielle Bindung des Bundesverfassungsgerichts an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts­ hofs für Menschenrechte gesehen werden.

623

Nach Art. 53 EMRK darf die EMRK jedoch nicht etwa in einer Weise ausgelegt werden, als beschränke sie die Grundrechte des Grundgesetzes. Demgemäß setzt das Schutzniveau der Grundrechte des Grundgesetzes den Mindeststandard, der partiell durch eine EMRKorientierte Auslegung verstärkt, nicht aber unterschritten werden kann.

624

Dennoch kommt es immer wieder zu Spannungen zwischen den beiden Gerichten. Ein Konflikt ergibt sich etwa in Bezug auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG bzw. Art. 7 EMRK.752 Der EGMR wendet nämlich – anders als das Bundesverfas­ sungsgericht753 – das Verbot strafbegründender oder strafschärfender Rückwirkung auch auf Maßnahmen der Sicherungsverwahrung an.754 Das Bundesverfassungsgericht trägt den Ver­ trauensschutzgesichtspunkten  – ausdrücklich auch mit Blick auf Art. 7 EMRK  – vielmehr dadurch Rechnung, indem es das sog. Abstandsgebot zwischen (präventiver) Sicherungsver­ wahrung und (repressivem) Strafvollzug betont und entsprechend eine Ausgestaltung der Be­ dingungen der Sicherungsverwahrung fordert, welche es nach innen und außen deutlich macht, dass die Sicherungsverwahrung keine Strafe, sondern eine Schutzmaßnahme darstellt.755

625

Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Bun­ desverfassungsgericht ist noch in der Entwicklung begriffen.756 Allerdings sind bereits mehrere Pflöcke eingeschlagen.

626

Sinnfällig werden die Schwierigkeiten der Koordinierung der Judikate der beiden Gerichte bei Entscheidungen, in denen ein Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsge­ richt abgewiesen wurde, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aber Erfolg hatte.757 Rechtsschutzlücken können sich in diesem Zusammenhang daraus ergeben, dass es

627

750

BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – EGMR-Entscheidungen; 128, 326 (367) – EGMR Sicherungs­ verwahrung; s. a. Schaller, EuR 2006, 656 ff.; Gusy, JA 2009, 406 ff. 751 BVerfGE 111, 307 (317) – EGMR-Entscheidungen; 128, 326 (367) – EGMR Sicherungs­ verwahrung. 752 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, 2010, § 75, Rn. 79, 89 ff. 753 BVerfGE 109, 133 (167 ff.)  – Langjährige Sicherungsverwahrung; 128, 326 (392 ff.)  – EGMR Sicherungsverwahrung. 754 Vgl. EGMR, NStZ 2010, 263 (264 f.). 755 BVerfGE 128, 326 (374 ff.) – EGMR Sicherungsverwahrung; zuvor schon 109, 133 (166) – Langjährige Sicherungsverwahrung. 756 S. hierzu etwa Pernice, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäi­ schen Verfassungsverbund, 2005. 757 Bspw. EGMR, NJW 1992, 2945 ff.; NJW 1993, 717 ff.

674

§ 8 Bundesverfassungsgericht

einerseits – beim EGMR – an der kassatorischen Wirkung und andererseits – beim BVerfG – an einer Wiederaufnahmebestimmung im BVerfGG fehlt.758 Hier könnte man z. B. an eine (erneute) Befassungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts denken.759 Allerdings würde dies zu Lasten der Rechtssicherheit gehen.

628

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können Entscheidungen des Euro­ päischen Gerichtshofs für Menschenrechte einer rechtserheblichen Änderung der Sach- und Rechtslage gleichstehen, welche es rechtfertigt, eine Ausnahme vom „Prozesshindernis entgegenstehender Rechts- und Gesetzeskraft“ zu machen.760 Daher kann eine erneute bun­ desverfassungsgerichtliche Überprüfung einer Vorschrift initiiert werden, obwohl es bereits eine frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit dieser Norm gibt, falls in der Zwischenzeit eine Entscheidung des EGMR ergangen ist, die bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist.

II. Europarecht 1. Allgemeines 629

Neben dem – völkerrechtsfundierten – Europäischen Gerichtshof für Menschen­ rechte sieht sich das Bundesverfassungsgericht vor allem auch mit der Rechtspre­ chung des – auf EU-Recht gegründeten – Gerichtshofs der Europäischen Union mit Sitz in Luxemburg konfrontiert.761 Zwar überprüft auf der einen Seite der Europäische Gerichtshof lediglich die Einhaltung des Europarechts und das Bun­ desverfassungsgericht beschränkt sich auf der anderen Seite auf die Überprüfung der Einhaltung des Grundgesetzes. Da aber das europäische Sekundärrecht in der Bundesrepublik Deutschland teilweise unmittelbare Wirkung entfaltet (insbeson­ dere EU-Verordnungen) und unionsrechtliche Sekundärakte von deutschen Staats­ organen vollzogen werden, ist es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem EuGH und dem Bundesverfassungsgericht über die Frage gekommen, wer in solchen Fäl­ len letztgültig über die Rechtmäßigkeit und vor allem über die Vereinbarkeit der Akte mit Grundrechten entscheiden darf.762

630

Dem Gerichtshof der Europäischen Union kommt für seinen Zuständigkeitsbereich eine dem Bundesverfassungsgericht teilweise ähnliche Stellung zu. Der Gerichtshof urteilt über die Einhaltung des Organisationsrechts der Europäischen Union (AEUV und EUV, ausgenom­ men sind grundsätzlich die Bestimmungen über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli­ tik, s. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV) und überprüft u. a. in Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV,763 ob in den EU-Mit­glied­staa­ten anwendbares Sekundärrecht mit Primärrecht, insbe­ 758

Anders aber z. B. § 359 Nr. 6 StPO. Schaffarzik, DÖV 2005, 860 (866 f.). 760 BVerfGE 128, 326 (364 f.) – EGMR Sicherungsverwahrung. 761 Vgl. Ludwigs, EuGRZ 2014, 273; Voßkuhle, EuGRZ 2014, 165; ders., NVwZ 2010, 1 (5 ff.); Lindner, Jura 2008, 401 ff.; zum EuGH Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 40, Rn. 101 ff. 762 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 42, Rn. 29 ff. 763 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 41, Rn. 185 ff. 759

H. Völker- und Europarecht

675

sondere mit den Grundrechten des Unionsrechts vereinbar ist. Insbesondere dieser vom Euro­ päischen Gerichtshof ausgeübte Grundrechtsschutz führt immer wieder zu Konfliktsituationen mit dem Bundesverfassungsgericht.

Das Bundesverfassungsgericht hat mittlerweile seinen Prüfungsanspruch (jeden­ falls bezüglich der Grundrechte) zugunsten eines Kooperationsverhältnisses zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union zurückgenommen.764 Es geht nunmehr davon aus, dass der Grundrechts­ schutz gegen Maßnahmen der Unionsorgane grundsätzlich durch die Rechtspre­ chung des Europäischen Gerichtshofs wahrgenommen wird. Nur für den Fall, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Euro­ päischen Gerichtshofs insgesamt – d. h. nicht nur im konkret zu entscheidenden Fall – unter den Grundrechtsschutzstandard des Grundgesetzes absinkt, behält sich das Bundesverfassungsgericht vor, selbst über die Vereinbarkeit von sekundärem Unionsrecht oder deutschen Umsetzungsakten mit Grundrechten zu entscheiden.765

631

Außerdem sieht sich das Bundesverfassungsgericht dazu berechtigt, Akte der Europäischen Union daraufhin zu überprüfen, ob sie unter Missachtung der Kompetenzordnung ergangen sind (sog. ausbrechende Rechtsakte bzw. ultravires-Akte).766

632

Die ultra vires-Kontrolle wird vom Bundesverfassungsgericht „europarechtsfreundlich“ und daher „zurückhaltend“ ausgeübt. So billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gerichtshof der Europäischen Union eine „Fehlertoleranz“ bei Auslegungsfragen zu.767 Ein verfassungs­ widriger ausbrechender Rechtsakt wird nur dann angenommen, wenn der Kompetenzverstoß „hinreichend qualifiziert“ ist.768 Es lässt sich von einer „Reserve- und Notfallzuständigkeit [des Bundesverfassungsgerichts] für Evidenzfälle“ sprechen.769

633

Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht sich eine „Verfassungsidentitätskontrolle“ vorbehalten, in welcher es überprüft, ob die Übertragung von Hoheits­ rechten auf die Europäische Union oder Akte der EU-Organe die „Verfassungs­ identität“ des Grundgesetzes, wie sie auch in Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG angesprochen ist, verletzen.770

634

764 BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht. Aus dem Schrifttum dazu Ludwigs, EuGRZ 2014, 273; Kirchhof, in: FS Herzog, 2009, S. 155 ff.; Scharf, Das Kooperationsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, 2006; Sander, DÖV 2000, 588 ff.; Funk-Rüffert, Kooperation von Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht im Bereich des Grundrechtsschutzes, 1999; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 42, Rn. 51 ff. 765 BVerfGE 73, 339 ff. – Solange II; 102, 147 (164) – Bananenmarktordnung; hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 42, Rn. 29 ff. 766 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 42, Rn. 57 ff. 767 So hat das Bundesverfassungsgericht z. B. entschieden, dass die Mangold-Rechsprechung des EuGH (C-144/04, Slg. 2005, I-9981, s. Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 41, Rn. 34) kein ausbrechender Rechtsakt sei; s. BVerfGE 126, 286 – Ultra-vires-Kontrolle Honeywell. 768 BVerfGE 126, 286 (304) – Ultra-vires-Kontrolle Honeywell. 769 Lehner, Der Staat 2013, 535 (561). 770 Vgl. BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon.

676

§ 8 Bundesverfassungsgericht

2. Prozessuale Konstellationen mit EU-Bezug 635

Verfahrensgegenstände vor dem Bundesverfassungsgericht können in unter­ schiedlicher Weise durch das Europäische Unionsrecht beeinflusst sein. Im Einzelnen ist hinsichtlich der Rolle der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts für das Europäische Unionsrecht nach der konkreten prozessualen Kon­ stellation zu differenzieren:

636

Zunächst kommt bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsschutz bereits gegen die (bundesrechtlichen) Vertragsgesetze zur europäischen Integration, d. h. die Übertragungsgesetze nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG in Betracht.771 Dafür erscheint insbesondere die abstrakte Normenkontrolle (s. o. Rn. 419) geeignet.

637

Daneben kommt aber vor allem auch die Verfassungsbeschwerde in Betracht: Passiv Wahlberechtigte bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag können nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und überwiegender Ansicht im Schrift­ tum die sog. „Integrationsverfassungsbeschwerde“772 auf ihr grundrechtsgleiches Recht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG stützen und rügen, dass die verfassungswidrige Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union den materiellen Ge­ halt ihres Wahlrechts entleere.773

638

Beim bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der Organe der EU muss differenziert werden.774 Grundsätzlich sind diese nicht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde rügefähig sowie kein tauglicher Gegenstand von Normenkontrollverfahren, solange der Grundrechtsschutz auf Unionsebene nicht insgesamt unter das grundgesetzliche Schutzniveau zurückfällt (s. o. Rn. 631). Allerdings kommt ausnahmsweise neben einer Verfassungsidentitätskontrolle (s. o. Rn. 634) eine ultra vires-Kontrolle in Betracht, sollte eine Maßnahme eines EU-Organs einen „hinreichend qualifizierten“ Kompetenzverstoß darstellen (s. o. Rn. 632 f.)775, was praktisch nur schwer nachzuweisen sein wird.776

639

Bei deutschen Umsetzungsakten von EU-rechtlichen Vorgaben, das heißt insbesondere bei Bundes- und Landesrecht, welches zur Umsetzung von EURicht­linien erlassen wurde, ist danach zu unterscheiden, ob die unionsrechtliche Vorgabe den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume offen lässt. Da innerhalb des Umsetzungsspielraums der unionsrechtliche Anwendungsvorrang nicht gilt, sind die Grundrechte des Grundgesetzes insoweit anzuwenden. Ihre Einhaltung 771

Vgl. BVerfGE 89, 155 – Maastricht; 123, 267 – Lissabon. Lehner, Der Staat 2013, 535. 773 Vgl. BVerfGE 89, 155 – Maastricht; 123, 267 – Lissabon; kritisch Lehner, Der Staat 2013, 535 (562), welcher darauf hinweist, dass die verfassungsrechtliche Verstärkung des Wahlrechts zu einer politischen Schwächung desselben führen könnte, weil die öffentliche Debatte um die (Grenzen der) europäischen Integration aus dem Wahlkampf heraus hinein in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geleitet würden. 774 Hierzu Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 42, Rn. 40 ff. 775 BVerfGE 126, 286 (304) – Ultra-vires-Kontrolle Honeywell. 776 Pieroth, in: Jarass / ders. (Hrsg.), GG, 15. Aufl. 2016, Art. 93, Rn. 86. 772

H. Völker- und Europarecht

677

ist durch das Bundesverfassungsgericht in Verfassungsbeschwerde- oder Normen­ kontrollverfahren überprüfbar.777 Eine weitere Problemkonstellation betrifft die Frage nach der Reichweite der Kompetenz – und der Pflicht – des Bundesverfassungsgerichts, bei der Prüfung von Grundrechtsverstößen (am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes) implizit auch die Unionsrechtmäßigkeit des eingreifenden Akts zu überprüfen. Damit verbunden ist die Frage danach, ob das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. Art. 267 AEUV) ver­ pflichtet sein kann.778

640

3. Perspektiven Im Zuge der sich immer weiter entwickelnden europäischen Integration wird die relative Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts wohl eher abnehmen. Diese Bedeutungsminderung wird Hand in Hand gehen mit einem entsprechenden Be­ deutungsanstieg des Gerichtshofs der Europäischen Union auch für den deutschen Verfassungsraum in seiner Durchdringung mit dem Europäischen Unionsrecht auch wenn das Bundesverfassungsgericht, wie etwa im Verfahren zum Vertrag von Lissabon,779 sein (ruhendes) Letztentscheidungsrecht hinsichtlich der Verfas­ sungsmäßigkeit auch des europäischen Rechts für den deutschen Verfassungsraum immer wieder betont hat.780 Auch durch die zunehmende Rechtsprechung und An­ erkennung des – völkerrechtsfundierten – EGMR (s. o. Rn. 620) kann die Bedeu­ tung des Bundesverfassungsgerichts relativiert werden.

641

Die Berücksichtigung der ‚europäischen Grundrechte‘, seien es solche der EMRK781 oder des Unionsrechts, auch durch das Bundesverfassungsgericht782 ist dementsprechend ein weiterer Schritt in Richtung einer sich vertiefenden europäischen Integration. Der mit der europäischen Integration einhergehende teilweise faktische Bedeutungsverlust des Bundesverfassungsgerichts führt dabei punktu­

642

777 Vgl. BVerfGE 121, 1 (15) – Vorratsdatenspeicherung; 125, 260 (306) – Vorratsdatenspei­ cherung; 129, 78 (90 f., 102 ff.) – Le Corbusier; 133, 277 (313) – Antiterrordateigesetz. 778 Hierzu etwa Frenz, VerwArch 2010, 159; zu Art. 267 AEUV Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 41, Rn. 185 ff. 779 BVerfGE 123, 267 ff. – Lissabon. 780 Dies gilt insbesondere für den Grundrechtsschutz (BVerfGE 73, 339 ff. – Solange II; 89, 155 (174 f.) – Maastricht; 102, 147 (164) – Bananenmarktordnung; 118, 79 (95 ff.) – Emissions­ handel, s. dazu auch Rn. 138 sowie § 42, Rn. 39 ff.) und sog. ausbrechende Rechtsakte (BVerfGE 58, 1 (30 f.) – Eurocontrol I; 75, 223 (235, 242) – Kloppenburg; 89, 155 (188) – Maastricht; 123, 267 (352 ff., 399) – Lissabon, s. dazu auch Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, 2011, § 42, Rn. 56 ff.). 781 Nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Rechte der EMRK als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. 782 S. z. B. BVerfGE 111, 307 ff. – EGMR-Entscheidungen; vgl. Limbach, Das Bundesver­ fassungsgericht, 2001, S. 78.

678

§ 8 Bundesverfassungsgericht

ell wohl aber auch zu einer bisweilen tendenziell integrationsskeptischen Haltung des Gerichts. Die mögliche Bedeutungsminderung des Bundesverfassungsgerichts wäre angesichts der historischen Leistungen des Gerichts zu bedauern; die Stär­ kung des EuGH bzw. des EGMR wird hingegen begrüßen, wer die europäische In­ tegration weiter intensivieren möchte. Bedeutungsverlust des Bundesverfassungs­ gerichts und Bedeutungszuwachs des Europäischen Gerichtshofs sind letztlich nur die zwei Seiten der Medaille der europäischen Integration.

J. Ausblick I. Erfolg, Qualität und Ansehen 643

Die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts ist ganz überwiegend eine Erfolgsgeschichte und hat es in vielen – insbesondere auch post-sozialistischen783 oder sonstigen post-autoritären – Staaten zu einem Vorbild für die dortigen Verfas­ sungsgerichte gemacht.784 Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch außerhalb Europas eine hohe Reputation erworben. Heute lässt sich jedenfalls fragen, ob das Bundesverfassungsgericht in der weltweiten Reputation nicht bereits am Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika vorbeigezogen ist.

644

Die Autorität und Effektivität der bundesdeutschen Verfassung sind maß­ geblich das Verdienst des Bundesverfassungsgerichts. Dabei sollen natürlich die Verdienste der sonstigen deutschen Gerichte, insbesondere des Bundesverwaltungs­ gerichts und manchmal auch der deutschen Staatsrechtslehre nicht unterschätzt werden. Sie belegen aber deutlich die Plätze hinter dem Bundesverfassungsgericht. Seine häufig überzeugende und konsensfähige – nur in Ausnahmefällen überzie­ hende – Rechtsprechung hat dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der grundge­ setzlich in Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG vorgegebenen Verfassungsbindung aller Staatsgewalt zum effektiven Durchbruch verholfen und damit die reale Bedeutung der bundesdeutschen Verfassung entscheidend verstärkt.

645

Diese Bedeutungsverstärkung der Verfassung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit wirkt gewissermaßen wechselseitig. Die Steigerung der „normativen Kraft der Verfassung“ (Hesse)785 verstärkt regelmäßig auch den Einfluss und das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts. Der vom Bundesverfassungsgericht ge­ schaffene Bedeutungsanstieg der Verfassung ist die Erfolgsleiter, auf der das Ge­ richt selbst nach oben gestiegen ist. 783

Vgl. Zimmermann, in: Frowein / Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichts­ barkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998, S. 89 ff. 784 Zu einigen Gründen für den Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf andere Verfas­ sungsordnungen: v. Beyme, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfas­ sungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 927 (932 ff.). 785 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959.

J. Ausblick

679

Das Bundesverfassungsgericht ist dabei ganz oben angekommen. Demoskopi­ sche Umfragen haben bestätigt, dass das Bundesverfassungsgericht unter allen Verfassungsinstitutionen Deutschlands das weitaus größte Ansehen in der deut­ schen Bevölkerung genießt.786 Das für das Gemeinwesen so wichtige Verfassungs­ vertrauen ist maßgeblich auch Vertrauen in die Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts.

646

Das hohe Ansehen hängt auch mit der effektiven – aber fein dosierten787 – Öffentlichkeitsarbeit des Gerichts zusammen und ist umso bemerkenswerter, als (oder weil?) es die Institution ist, bei der die allgemeine Öffentlichkeit die agieren­ den Personen (d. h. die Bundesverfassungsrichter) am wenigsten kennt.788 Die (nicht nur) in Deutschland so beliebte Personifizierung der Politik bzw. der Staatsleitung ist am Bundesverfassungsgericht weitgehend vorbeigegangen. Das hängt sicherlich auch mit der in weiten Teilen intransparenten Richter(aus)wahl (s. o. Rn. 177 ff. und sogleich Rn. 655 ff.) zusammen.

647

Es wäre nun allerdings blauäugig, das außerordentlich hohe Ansehen des Bun­ desverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit allein auf die Qualität seiner Rechtsprechung zurückzuführen. Gewiss ist deren Qualität (aber auch Quantität) ins­ gesamt sehr beachtlich. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden sich aber qualitätsmäßig nicht grundlegend von den Leistungen etwa der obersten Gerichtshöfe des Bundes, deren öffentliches Ansehen aber nicht entfernt an die des Verfassungsgerichts heranreicht.

648

Vor allem weist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinzelt durchaus erhebliche inhaltliche Mängel auf, die auch öffentlich kritisiert wor­ den sind. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind etwa häufig zu lang und gesprächig,789 sie sind bisweilen unbefriedigend begründet, nicht immer zufriedenstellend durch Zitate belegt,790 teilweise widersprüchlich und kaschieren

649

786

Vgl. die Nachweise bei Patzelt, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bun­ desverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 313 ff.; Lembcke, Über das An­ sehen des Bundesverfassungsgerichts. Ansichten und Meinungen der öffentlichen Meinung 1951–2001, Berlin 2006, S. 19. 787 Erst im Jahr 1998 wurden – als Ausnahme zur allgemeinen Regel des § 169 S. 2 des Ge­ richtsverfassungsgesetzes – in § 17a BVerfGG Bestimmungen zu Ton- und Fernsehaufnahmen eingeführt (s. o. Rn. 33, 273 ff.). Zur zurückhaltenden Medienarbeit des Bundesverfassungsge­ richts auch Vorländer, in: van Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungs­ gericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 299 (308). 788 Interessante Einblicke in die Biographien (ehemaliger) Verfassungsrichter bietet jedoch der Sammelband von Großfeld / Roth (Hrsg.), Verfassungsrichter. Rechtsfindung am U. S. ­Supreme Court und am Bundesverfassungsgericht, 1995. 789 „Lehrbuchartige“ Ausführungen finden sich vor allem in dem einleitenden Teil der Begründetheitsprüfungen („C. I.“), der sog. Maßstabsbildung, vgl. Lepsius, in: van Ooyen / ​ M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 119 (123). 790 Das Bundesverfassungsgericht geht nicht immer – an wissenschaftlichen Maßstäben ge­ messen – zufriedenstellend mit geistigen Vorarbeiten durch das Schrifttum um (s. o. Rn. 145).

680

§ 8 Bundesverfassungsgericht

bisweilen Rechtsprechungsänderungen als angeblich ständige Rechtsprechung. Überspitzt gesagt wäre manche Entscheidung des Gerichts überzeugender, wenn sie mit einer knapperen Begründung ergangen wäre. 650

Ein entscheidender, wenn auch in der Öffentlichkeit kaum erörterter Grund für das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts liegt in der deutschen Sehnsucht nach dem Unpolitischen in einem politischen System; eine Sehnsucht übrigens, von der auch das ebenfalls überdurchschnittliche Ansehen des Bundes­ präsidenten profitiert. Ist diese Sicht des Bundesverfassungsgerichts als maßgeb­ lich unpolitische Instanz gerechtfertigt? Dies scheint insoweit bejaht werden zu können, als der entscheidende Maßstab des Bundesverfassungsgerichts das Ver­ fassungsrecht und eben nicht die politische Opportunität im Kampf um die Macht ist. Allerdings ist dies gewiss nicht die ganze Wahrheit. Das Bundesverfassungs­ gericht ist eben nicht nur ein oberstes ‚Fachgericht‘ für Verfassungsrecht, sondern ein Verfassungsorgan (s. o. Rn. 60 ff.), das durchaus die politischen Auswirkungen seiner Entscheidungen bedenkt und bedenken muss und insoweit sehr wohl auch (wenngleich meistens nicht primär) politisch entscheidet.

651

Dabei ist die institutionelle Klugheit des Bundesverfassungsgerichts beein­ druckend, mit der das – weitgehend ohne Vollzugskompetenzen ausgestattete – Gericht massive Konfrontationen mit anderen Verfassungsorganen bisher in der Regel vermieden hat, ohne dabei konturenlos oder timide zu werden.

652

Dazu dienen Entscheidungen, in denen zwar die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes vom Gericht nicht festgestellt wird, die Urteilsbegründung aber eine ganz andere Sprache spricht und behutsam Einfluss auf den politischen Prozess nimmt. Das ist inkonsequent, aber institutionell klug, weil das Gericht schwerwiegende Konfrontationen mit der Bundes­ regierung und dem Bundestag in Fällen von hohem politischem Gewicht vermeidet. Sollten nämlich politikverwerfende Entscheidungen des Gerichts in zentralen Konflikten von anderen Verfassungsorganen wiederholt und nachhaltig missachtet werden, wäre der Schaden für das Gericht unabsehbar. Beispiele für solche letztlich inkonsequente, aber politisch bedeutsame Entscheidungen sind etwa die Urteile zur Mitbestimmung,791 vor allem aber zum Grundlagen­ vertrag792 oder zum Vertrag von Lissabon.793

II. Schwächen, Herausforderungen und Reformbedarf 653

Unverkennbar sind der große Erfolg und das hohe Ansehen dem Gericht nicht immer nur gut bekommen. Manche Entscheidungen und vor allem der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit den Fachgerichten tragen fast schon erste Ansätze von institutionellem Hochmut.794 Hier wäre es angebracht, wenn das Ge­ 791

BVerfGE 50, 290 ff. – Mitbestimmung. BVerfGE 36, 1 ff. – Versagung rechtlichen Gehörs. 793 BVerfGE 123, 267 ff. – Lissabon. 794 Zu den tendenziell zunehmenden offenen Konflikten zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten vgl. etwa Schlink, JZ 2007, 157 f. 792

J. Ausblick

681

richt sein Verhältnis zu den Fachgerichten stärker als Kooperationsverhältnis be­ greifen würde. Auf gelegentliche inhaltliche Mängel insbesondere der Begründungen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wurde schon hingewiesen (s. o. Rn. 649).

654

Vor allem aber steht die (Aus)Wahl der Bundesverfassungsrichter (ausführlich oben Rn. 177 ff.), welche vorwiegend nach parteipolitischen Gesichtspunkten er­ folgt, der Erwartung nach unpolitischen, vom politischen Machtkampf unberühr­ ten Entscheidungen des Gerichts entgegen. Der unverhohlene und ungebremste politische Zugriff der Parteien auf die Richterposten einschließlich einschlägiger Austauschgeschäfte ist ebenso unbestritten wie problematisch.

655

Dies wird nur dadurch halbwegs erträglich, dass aufgrund der deutschen Verfassungstradi­ tion zwischen den beiden großen politischen Lagern faktisch bei der Besetzung der Richter­ stellen ein Patt vorgesehen ist, so dass das Gericht insgesamt schwer als Instrument einseitig der Regierung oder der Opposition missbraucht werden kann. Die an sich inakzeptable und dem Geist der Verfassung widersprechende Aufteilung der Verfassungsrichterposten zwischen CDU / CSU einerseits und der SPD andererseits (s. o. Rn. 177) hat sich in gewisser Hinsicht als grundsätzliche politische Neutralitätsgarantie für das Bundesverfassungsgericht insgesamt erwiesen. Abzuwarten bleibt, ob die tendenzielle weitere Auffächerung des Parteienspektrums hieran etwas ändern wird (s. o. Rn. 178 f.).

656

Zudem ist es tröstlich, dass der beherrschende Einfluss der politischen Parteien auf die Richterwahl bisher regelmäßig nicht dazu geführt hat, dass die parteipolitische Qualifikation die juristisch-fachliche Qualifikation der Kandidaten völlig in den Hintergrund gedrängt hat. Zwar gab es durchaus Richter, die eindeutig eher politisch profiliert als fachlich in beson­ derer Weise qualifiziert waren, umgekehrt sind aber immer wieder auch juristische Spitzen­ begabungen Bundesverfassungsrichter geworden. Auch diese haben ihr Amt allerdings in der Regel nicht vorrangig deswegen, sondern maßgeblich wegen ihrer Parteimitgliedschaft oder ihrer verlässlichen Nähe zu einem politischen Lager erhalten. Ohne diese Parteimitgliedschaft oder Lagernähe würde kaum einer der jetzigen Richter Recht in Karlsruhe sprechen. Ein Trost ist dabei, dass für manche Verfassungsrichter die Emanzipation von ihrer parteipolitischen Kreation geradezu rechtsprechungsprägend war.

657

Jedenfalls fehlt bis heute das grundsätzliche, klärende Wort des Bundesverfassungs­ gerichts zur Verfassungswidrigkeit ungehinderter Parteieneinflüsse in derartige Personalent­ schei­dungen des Staates. Die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, welche die indirekte Wahl der Bundesverfassungsrichter durch den Deut­ schen Bundestag als verfassungsmäßig billigte,795 und die Gesetzesänderung von 2015 lösen die tiefergreifenden Probleme des (Aus)Wahlmodus nicht (s. o. Rn. 184).

658

Insgesamt erweist sich das Wahlverfahren für Bundesverfassungsrichter als dringend reformbedürftig. Vor allem müssen die fast völlige Intransparenz des

659

795 BVerfGE 131, 230 – Bundesverfassungsrichterwahl; kritisch zur Begründung des Urteils Wiefelspütz, DÖV 2012, 961 (968 f.).

682

§ 8 Bundesverfassungsgericht

Verfahrens und die ungebrochene Parteiendominanz beendet werden. Das ist in der deutschen Parteiendemokratie aber gewiss keine einfache Aufgabe. 660

Die Transparenz könnte durch öffentliche Anhörungen der Kandidaten vor Bundestag und Bundesrat gesteigert werden. Außerdem sollte die Wahl der durch den Bundestag zu bestim­ menden Richter künftig – auch materiell – durch das Plenum des Bundestags erfolgen; inso­ weit hat die Änderung des § 6 BVerfGG im Jahr 2015 (s. o. Rn. 172) zwar eine Verbesserung, nicht aber eine abschließend befriedigende Lösung hergestellt.

661

Noch schwieriger ist es, den besorgniserregenden parteipolitischen Einfluss auf die Rich­ terwahlen zurückzudrängen. Denkbar wäre ein Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten für die Kandidaten für die Wahl zum Bundesverfassungsrichter, das dieser im Benehmen mit dem Bundestag bzw. Bundesrat ausüben könnte. Entsprechend § 7a Abs. 2 BVerfGG müsste der Bundespräsident mehr Personen vorschlagen als zu wählen sind. Anders als in § 7a Abs. 4 BVerfGG sollten Bundestag und Bundesrat künftig allerdings nicht das Recht behalten, eine nicht vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Person zu wählen. Allerdings wird auch das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten den Einfluss der Parteien auf die Verfassungsrichter­ wahlen nur abschwächen, aber nicht beseitigen können.

662

Trotz allen Erfolgs – genauer: wegen seines Erfolgs – hat das Bundesverfas­ sungsgericht mit zwei wesentlichen Problemen zu kämpfen: Es sieht sich einer Flut von Verfahren, insbesondere von Verfassungsbeschwerden gegenüber, was seine Arbeitskraft zunehmend durch Bagatellen und hoffnungslose Fälle bindet. Zum anderen tritt das Gericht immer wieder – durchaus auch häufig von der Politik in diese Rolle gedrängt – als ‚Ersatzgesetzgeber‘ auf.

663

Die – vom Bundesverfassungsgericht selbst mitverursachte – Verfahrensflut ins­ besondere von Verfassungsbeschwerden wird durch das Kammerverfahren nach §§ 93b ff. BVerfGG (s. o. Rn. 204 ff.) nicht vollständig eingedämmt. Das Kammer­ verfahren bewahrt die Senate als die entscheidenden Glieder des Gerichts jedoch immerhin vor einer nicht mehr beherrschbaren Überschwemmung. Da die Zahl der eingehenden Verfahren in den letzten Jahren – wenngleich auf hohem Niveau – sta­ gniert, scheint die Politik derzeit keinen unmittelbaren Handlungsbedarf zu sehen.

664

Eine wirkliche Einschränkung oder gar Abschaffung der Verfassungsbeschwerde ist politisch  – wenngleich nicht rechtlich  – ausgeschlossen.796 Die Verfassungsbeschwerde ist faktisch-symbolisch wahrlich alternativlos. Zu tief ist der „Gang nach Karlsruhe“ ein Synonym für den Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland geworden.797

665

Dem gelegentlich erörterten quantitativen Ausbau des Bundesverfassungs­ gerichts – etwa durch Schaffung eines neuen, d. h. dritten Senats – ist mit Vor­ sicht zu begegnen. Es besteht die Gefahr, dass dann irgendwann weitere Senate entstehen und die Exklusivität des Gerichts verloren geht. 796

S. a. Kloepfer, DVBl. 2004, 676 ff. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 47 f.; Klein, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 227 (236). 797

J. Ausblick

683

Die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts als „Ersatzgesetzgeber“798 (s. o. Rn. 81, 104) ist in erster Linie der Entscheidungsunwilligkeit bzw. -unfähigkeit der politischen Institutionen und der in ihr tätigen Akteure zuzuschrei­ben. Das Gericht hat allerdings die ihm deswegen zugeschobenen politischen Gestaltungs­ möglichkeiten gerne genutzt. Festzuhalten bleibt zunächst, dass dieser Weg der Karlsruher ‚Recht­set­zung‘ bisher jedenfalls praktisch nie zu untragbaren mate­ riellen Ergebnissen geführt hat.

666

Wenn man gleichwohl – was mit demokratietheoretischen Überlegungen be­ gründet werden könnte – für ein stärkeres Zurückdrängen des Bundesverfassungsgerichts aus dem politischen Raum plädieren würde, sollte man weniger beim Gericht als solchem als bei den politischen Akteuren ansetzen. Eine Erhö­ hung der Quote an Berufsrichtern wäre wohl kaum eine Lösung. Eine Beschrän­ kung der Entscheidungsbefugnisse des Gerichts sollte allenfalls mit Augenmaß erfolgen: Weniger sinnvoll erscheint die Abschaffung von Verfahrensarten; dis­ kussionswürdig ist jedoch eine bestimmtere  – und restriktivere  – Fassung der gesetzlichen Vorgaben zu Entscheidungsinhalt und Vollstreckung (vgl. §§ 31, 35, 78 f., 95 BVerfGG; s. o. Rn. 303 ff. und Rn. 323 ff.).

667

Nicht übersehen werden kann auch, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus über – bisher wenig genutzte – Mittel zur Selbsthilfe zum Abbau seiner Überlastung verfügt. So könnte der Umfang der Entscheidungsbegründungen erheblich reduziert werden, wodurch die Entscheidungen zugleich überzeugender werden könnten. Auch die – wohl sinnvolle – Abschaffung der abweichenden Meinung (s. o. Rn. 285) könnte für die Richter Kapazitätsreserven freisetzen. Theoretisch ließe sich auch an Rechtsprechungskorrekturen denken, die nicht jeden staatlichen Eingriff verfassungsbeschwerdefähig machen oder die Möglichkeit der Urteilsver­ fassungsbeschwerde zurückdrängen könnten. Im Übrigen relativieren sich manche Überlastungsklagen von Bundesverfassungsrichtern angesichts des Umstands, dass mehrere von ihnen doch Zeit für umfangreiche Interview-, Vortrags- und Publi­ kationstätigkeiten finden.

668

Manchen früheren Bundesverfassungsrichtern sei eine stärkere Zurückhaltung für entgeltliche juristische und verwandte Tätigkeiten nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt empfohlen. Es ist eine Frage der Integrität und des Stilempfindens, ob ehemalige Bundesverfassungsrichter entgeltliche Rechtsgutachten schreiben sollten. Angesichts des Ansehens des Gerichts sollte gar nicht erst der Verdacht des ‚Versilberns‘ des Amtsrenommees hervorgerufen werden. Das Unterlassen von Kritik an späteren Entscheidungen ihres Gerichts sollte für ehemalige Bun­ desverfassungsrichter an sich eine Selbstverständlichkeit sein. Im November 2017 haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts einen Verhaltenskodex verab­ schiedet: Darin verpflichten sich die Richter „in Angelegenheiten des Gerichts“ zu

669

798

Dazu auch Säcker, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 189 ff.

684

§ 8 Bundesverfassungsgericht

„Zurückhaltung und Diskretion“  – dies ausdrücklich auch nach dem Ende der Amtszeit.799 Ob dieser Verhaltenskodex von ehemaligen Bundesverfassungsrich­ tern immer eingehalten wird, kann man bisweilen bezweifeln. 670

Die stetig stärker werdende Konkurrenz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s. o. Rn. 620) und den Gerichtshof der Europäischen Union (s. o. Rn. 629) wird das Bundesverfassungsgericht auch künftig dazu nötigen, die Balance zwischen Selbstbehauptung und Kooperation immer wieder neu auszu­ loten. Die komplizierten Formeln des prozessualen ‚Europaverfassungsrechts‘ ver­ dienten dabei eine behutsame Vereinfachung.

671

Eine bisher zu wenig erkannte Gefahr droht – wie bereits erwähnt (s. o. Rn. 77) – dem Bundesverfassungsgericht durch die fehlende Befolgung seiner Entscheidungen seitens der Politik,800 aber auch der Fachgerichte.801 Diese ‚Auflehnungen‘ gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nehmen zu. Dies ist um so ernster zu nehmen, als das Bundesverfassungsgericht faktisch nur über schwache Vollzugskompetenzen verfügt (s. o. Rn. 325 f.). Der große Einfluss des Gerichts beruht bisher maßgeblich auf der Einsicht der Politik, dass es für den Erfolg des demokratisch-liberalen Gemeinwesens notwendig ist, die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen auch dann zu befolgen, wenn man mit ihnen nicht einverstanden ist. Dieses Fundament der Wirkungskraft des Bundesverfassungsgerichts darf nicht gefährdet werden.

672

Die gefährliche kleine Schwester der Auflehnung gegen das Bundesverfassungs­ gericht ist das ‚Vergessen‘ von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, das in Einzelfällen sogar das Gericht selbst nicht ganz zu verschonen scheint. Die Fülle und der Umfang der Judikate des Bundesverfassungsgerichts erleichtern jedenfalls das Vergessen.

799 „Verhaltensleitlinien für Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts“ vom November 2017; abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Richter/ Verhaltensleitlinie/Verhaltensleitlinien_node.html, letzter Abruf am 20.07.2020. 800 Vgl. Kloepfer, in: Scholz u. a. (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 2008, S. 55 (68 ff.). Der fehlende Respekt manifestiert sich z. B. in Äußerungen von Politikern zum Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 93, 1 ff. – Kruzifix): Der frühere bayerische Kultusminister Maier hielt etwa Widerstand für geboten (Focus v. 14.8.1995, S. 44), der Bundestagsabgeordnete Geis betonte, dem Verfassungsgericht seien seine Grenzen auf­ zuzeigen, und der stellvertretende CSU-Vorsitzende Friedrich sah sogar das Widerstands­ recht aus Art. 20 Abs. 4 GG berührt (F. A. Z. v. 22.8.1995, S. 1). Der damalige Bundesfinanz­ minister Waigel meinte, dass man sich mit dem Urteil „nicht abfinden“ könne (Bild-Zeitung v. 11.8.1995) und der ehemalige bayerische Ministerpräsident Stoiber forderte, man müsse „bis an die Grenze der rechtlichen Möglichkeiten“ gehen, um eine Änderung eines solchen „ver­ heerenden Richterspruchs zu erreichen“ (SZ v. 28.8.1995). S. zum Streit auch Voßkuhle, NJW 1997, 2216 ff.; Lamprecht, NJW 1996, 971 ff. 801 Vgl. etwa Schlink, JZ 2007, 157 f.; in Bezug auf die Ungleichbehandlung von Lebenspart­ nerschaften gegenüber der Ehe, Greve / Schärdel, DVBl. 2009, 962 ff.; s. a. Alleweldt, Bundes­ verfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006.

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Im Einzelnen weitgehend ungeklärt ist, wie die Vorstellung vom „stillen Verfassungswandel“ (Lerche)802 auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsge­ richts erfassen kann. Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, dass nicht nur der Text der Verfassung dem Verfassungswandel unterliegt, sondern auch seine Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht.

673

Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Verfassungsrechtswissenschaft, sich nicht auf einen „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink; s. o. Rn. 143) zurückzuziehen, sondern die vielfältigen Prozesse der Ausbalancierung zwischen der Bewahrung der Stärken der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit und der Anpassung an alte und neue Herausforderungen kritisch und konstruktiv zu begleiten.

674

Die Verfassungsrechtswissenschaft sollte sich im eigenen Selbstverständnis nicht nur auf die Rolle der nachträglichen Kommentatorin und vielleicht auch Sys­ tematisiererin der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts konzentrieren. Mehr als bisher könnte sich die Verfassungsrechtswissenschaft als ‚Vordenkerin‘ verfassungsgerichtlicher Rechtsprechungslinien verstehen und dabei unterschied­ liche Lösungsmöglichkeiten erarbeiten, von denen das Gericht dann eine, von ihm vielleicht modifizierte Möglichkeit übernehmen könnte.

675

Schrifttum: Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), 7 ff.; Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006; Arndt, Das Bundesverfassungsgericht, DVBl. 1952, 1 ff.; Baumgarten, Anforderungen an die Begründung von Richtervorlagen, 1996; Bechler / Neidhardt, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz für Parteien vor der Bundestagswahl: Die Nichtan­ erkennungsbeschwerde zum BVerfG, NVwZ 2013, 1438 ff.; Berkemann, Das „verdeckte“ sum­ marische Verfahren der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichtes, JZ 1993, 161 ff.; Bettermann, Richterliche Normenkontrolle als negative Gesetzgebung?, DVBl 1982, 95 ff.; ders., Die verfassungskonforme Auslegung – Grenzen und Gefahren, 1986; v. Beyme, Modell für neue Demokratien? Die Vorbildrolle des Bundesverfassungsgerichts, in: van Oo­ yen / M. H. W.  Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 927 ff.; Bichelmeir, Der juristische Hilfsarbeiter an den obersten deutschen Gerichten, 1971; Blankenburg, Unsinn und Sinn des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbe­ schwerden, ZfRSoz 1998, 37 ff.; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989; ders., Die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts, ZRP 1996, 281 ff.; ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992; ders., Verfassungsgerichts­ barkeit. Struk­turfragen, Organisation, Legitimation, in: ders. (Hrsg.), Staat, Nation, Europa, 2. Aufl. 2000, S. 157 ff.; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966; Brandner, Das Bundesverfassungsgericht und der Dissens über die Divergenz, HFR 1998, 1 ff.; ders., Instanzenzug und Verfassungsrecht, in: FS Brandner, 1996, 683 ff.; Brinckmann, Das entscheidungserhebliche Gesetz, 1970; Britz, Das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 ff.; Bönnemann, Die Beilegung von Verfassungskonflikten vor der Zeit des Grundgesetzes, 2007; Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzes­ auslegung. Verfassungskonforme Auslegung oder vertikale Normendurchdringung?, 1966; 802

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§ 8 Bundesverfassungsgericht

fahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts, 1971; Zierlein, Erfahrungen mit dem Son­ dervotum beim Bundesverfassungsgericht, DÖV 1981, 83 ff.; Zimmermann, Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung mittel- und osteuropäischer Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Fro­ wein / Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998, S. 89 ff.; Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, in: FG 25 Jahre Bun­ desverfassungsgerichts, Bd. II, 1976, S. 108 ff.; Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Aufl. 2017; Zuck, Der „3. Senat“ am Bundesverfassungsgericht, DÖV 1974, 305 ff.; ders., Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, JZ 2007, 1036 ff.

Sachverzeichnis Die Angaben beziehen sich auf Paragraphen des Handbuchs (fette Zahlen) und Randnum­ mern (magere Zahlen); die Hauptfundstellen sind kursiv gedruckt. Abgeordnete, Bundestag  1 34; 2 223 ff. – Beschlagnahmeverbot  2 307 – Beteiligtenfähigkeit  1 42; 8 372 ff., 391, 548 – Diäten  2 308 ff. – Besteuerung  2 312 – Differenzierungsverbot  2 313 – Entscheidungsgewalt  2 310 – Funktionszulagen im Einzelfall  2 313 – Höhe  2 309, 311 – Kostenpauschale  2 314 – nachträgliche Versorgung  2 315 f. – Zweck  2 308 – Erwerb d. Mitgliedschaft  2 225 – fraktionslose Abgeordnete  2 272 ff., 289, 402 f. – freies Mandat  2 246 ff. – (s. a. Mitwirkungsrechte) – faktische Parteibindung  2 254 ff. – Fraktionsdisziplin  2 263 f. – Fraktionszwang  2 260 f. – imperatives Mandat  2 251 – Parteiaustritt  2 265 – Rotationsvereinbarung  2 262 – Schranken  2 253 – Schutzrichtung  2 246 ff, 260 – Stasizugehörigkeit  2 249 – Gemeinsamer Ausschuss  4 5 ff. – gleiches Mandat  2 267 ff. – fraktionslose Abgeordnete  2 272 ff., 289, 402 f. – gleiche Mitwirkungsbefugnisse  2 270 – Immunität  2 295 ff. – Immunitätsausschuss  2 300 – Pofalla-Fall  2 301 – Rechtnatur  2 296

– Reichweite  2 296 f. – Strafverfolgungshindernis  2 296 – Indemnität  2 302 ff. – Reichweite  2 303 – Strafausschlussgrund  2 302 – Inkompatibilitäten  2 226 ff. – sonstige berufliche Tätigkeit  2 231 – Vermögenszuwendung  2 232 – Wählbarkeit v. Beamten  2 227 ff. – Listennachfolger  2 237, 262 – Mitwirkungsrechte  2 275 ff. – Abstimmungsrecht  2 288 ff. – bei der Kanzlerwahl  7 56 – Beratungsrecht  2 280 – Fragerecht  2 282 ff. – Rederecht  2 280 f. – Nachwahlverfahren  2 187 f. – Nebentätigkeiten  2 326 – Pflichten  2 323 ff. – Anwesenheitspflicht  2 324 – Offenbarungspflicht  2 326 – Parlamentsdisziplin  2 329 – „Verhaltensregeln“ 2 328 – Verschwiegenheitspflicht  2 325 – Rechte (s. Mitwirkungsrechte) – Rechtsschutz  2 321 f. – Status  2 239 ff. – Honoratiorenabgeordnete  2 241, 308 – Initiativrecht  2 244 – Repräsentationsfunktion  2 243 – Urlaubsanspruch  2 317 – Verkehrsmittelbenutzung  2 320, 610 – Verlust der Mitgliedschaft  2 234 ff. – Enumerationsprinzip  2 234 – Parteiverbot  2 235 – Wählbarkeit  2 150 ff.; 7 35 – Zeugnisverweigerungsrecht  2 305 Abolition 5 158

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Abstammungsprinzip (s. Staatsvolk) Abstimmendenmehrheit  1 117; 2 140 Abstimmungen – Bundesrat 3 157 ff., 194 – Bundesregierung 7 186 – Bundestag 2 136 ff. Abstrakte Normenkontrolle  3 270; 8 401 ff., 497 – Antragsberechtigung  8 407 ff. – Antragsgrund  8 417 ff. – Bedeutung und Funktion  8 401 ff., 448 – Begründetheitsvoraussetzungen  8 441 ff. – Entscheidungsinhalt  8 448 ff. – Klarstellungsinteresse  8 428 ff. – Prüfungsmaßstab  8 417, 441 ff. – Völkerrechtsbezug  8 615 – Zulässigkeitsvoraussetzungen  8 406 ff. „abwehrende“ Kanzlerwahl  7 148 Akzessorietät des Ministeramts  7 85, 166, 168 f. Alterspräsident 2 365 ff. Ältestenrat  2 359 ff. Amnesie 5 158 Amt 1 33 Amtsbezüge des Bundeskanzlers  7 195 Amtseid (s. Eidesleistung) Amtsfortführung (s. kommissarische Amtsführung) Amtshaftung (s. Staatshaftung und Entschädigung) Amtsverhältnis, öffentlich-rechtliches – der Bundesminister 7 193 – des parlamentarischen Staatssekretärs  7 251 Amtswalter 1 33; 7 191 Amtszeit 1 84 ff. Anordnung, einstweilige (s. Einstweilige Anordnung) Anwaltszwang 8 260 assertorischer Eid  7 91 Auflösung des Bundestags  7 147 ff. (s. Bundestagsauflösung) Aufopferung (s. Staatshaftung und Entschädigung) Ausfertigung von Gesetzen  5 137 ff. Ausgaben, überplanmäßige und außerplan­ mäßige 7 233 Ausgleichsmandate  2 158, 164 ff.

Auslandseinsätze der Bundeswehr  2 52, 109; 7 335a Auslegung der Verfassung (s. Verfassungs­ auslegung) Ausschüsse 1 41 – des Bundesrats  3 130 – des Bundestags  2 415 ff. Ausschuss für auswärtige Angelegen­ heiten 2 434 ff. Ausschuss für Produktsicherheit  7 295 Ausschuss für Verteidigung  2 434 ff. Ausspracheverbot 1 71, 7 49, 58, 129 auswärtige Gewalt  7 334 ff. Außenpolitik  7 334 ff. Bayerischer Senat  3 11 Beauftragte der Bundesregierung  7 266 ff. – Begriff im Grundgesetz  7 272 – Ernennung durch Bundesregierung  7 271 – Funktion  7 266 – gesetzlich vorgeschriebene  7 268 Beauftragte des Bundestags  2 583 ff. – Parlamentsbeauftragte  2 583 ff. (s. Parlamentsbeauftragte) – parlamentsgesetzlich eingesetzte Beauf­ tragte  2 597 ff. – Wehrbeauftragter  1 43, 59; 2 588 ff. Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte 5 15; 7 237 Begnadigungsrecht 5 157 ff., 187 Behinderung, Menschen mit – Beauftragter für die Belange von Men­ schen mit Behinderungen  2 598 Beirat für Biodiversität  7 295 Beratungsgremien der Bundesregierung 7 290 ff. Berlin / Bonn-Gesetz  1 108 Beschluss (Bundesverfassungsgericht)  8 277 Bestimmung der Bundesminister  7 71 ff. binnendemokratische Strukturen  7 219 Bund-Länder-Streit 8 495 ff. – Antragsbefugnis  8 519 ff. – Bedeutung und Funktion  8 495 ff. – Beteiligtenfähigkeit  8 507 ff. – Einleitungspflicht der Bundesregierung ​ 8 514

Sachverzeichnis – Entscheidungsinhalt  8 526 – Prüfungsmaßstab  8 525 – Streitgegenstand  8 504, 515 ff. – Zulässigkeitsvoraussetzungen  8 501 ff. Bundesaufsichtsverwaltung 3 225, 321 Bundesauftragsverwaltung 3 210, 228 Bundesbank 1 56 Bundesbeamte – Ernennung  5 152 ff. Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit  1 63; 2 598 f.; 7 275 – Funktion 7 283 – Gewalten übergreifender Belang  7 283 – Rechtsstellung  7 280 – Wahl  7 281 Bundesbeauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung  7 287 Bundesbeauftragter für Stasi-Unter­ lagen 2 598 Bundesfinanzminister 7 232 ff. Bundesflagge (s. Staatssymbole) Bundesgesetz – Landesvollzug von – 3 222 Bundesjustizminister 7 239 Bundeskabinett 7 5 (s. auch Bundesregierung) Bundeskanzler 7 1 – Abhängigkeit vom Vertrauen des Parla­ ments  7 124 – Amtsbeginn  7 112 ff. – Amtsbezüge  7 195 – Amtsende  7 114 ff. – durch Abwahl  7 120 ff. (s. Misstrauensvotum, konstruktives) – durch Rücktritt  7 118 f. – durch Tod  7 117 – durch Vertrauensfrage  7 136 ff. (s. Vertrauensfrage) – reguläres Ende  7 114 ff. – Bezeichnung „Kanzler“ 7 199 – ehemalige Amtsträger  7 14 – Eidesleistung  7 34, 112 (s. auch Eidesleistung) – Einschätzungsprärogative  7 151 ff. – Entlassung  7 130 – Ermessen  7 146, 147 – Ernennung  5 123 ff., 7 33, 51, 65

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– Fortführung der Geschäfte  7 155 (s. kommissarische Amtsführung) – Gegenzeichnung  7 87, 154 – geschäftsführender – (s. kommissarische Amtsführung) – Geschäftsleitungskompetenz  7 308 ff. – Inkompatibilitäten  7 92 ff. (s. auch Inkompatibilitäten) – Kabinettbildungsrecht  7 76 – Kanzlerprinzip (s. Kanzlerprinzip) – kommissarischer – 7 155 (s. auch kommissarische Amtsführung) – Misstrauensvotum  7 120 ff. (s. Miss­ trauensvotum, konstruktives) – Mitglied der Bundesregierung  7 1, 299 – Organisationserlasse  7 80 – Organisationsgewalt  7 73 ff., 230, 300 (s. Organisationsgewalt) – Personalgewalt über die Bundesregie­ rung 7 81 ff., 175, 230 f. – Personalunion  7 300 – Rechtsstellung  7 197 ff. – Richtlinienkompetenz  7 302 ff. (s. Richtlinienkompetenz) – Rücktritt  7 118 f. – Selbsteintrittsrecht  7 305 – Stellung  7 197 ff., 299 – Stellvertretung  7 79, 161, 200 – Teil der Bundesregierung  7 1, 299 – Tod  7 117 – Unterschiede zum Reichskanzler  7 8, 198 – Verantwortlichkeit, parlamentarische  7 21 ff. – Verfassungstreue  7 38 ff. – Vertrauensfrage  7 136 ff. (s. Vertrauens­ frage) – Vertretungsfall  7 202 – Vizekanzler (s. Stellvertretung des Bundeskanzlers) – Vorschlag der Bundesminister  7 71 ff. – Vorschlag zur Bundestagsauflösung  7 147 – Wahl  2 86; 7 32 ff. – Ausspracheverbot  7 49, 58, 129 – Entscheidungsbefugnis des Bundes­ präsidenten  7 66 ff. – Ernennung  7 33, 51, 60, 65 ff.

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– geheime Wahl  7 50, 59 – Mehrheitserfordernis  7 51, 60, 65 – nach Misstrauensvotum  7 32, 127 ff. – nach Vertrauensfrage  7 32, 147 – Phasen  7 41 ff. – reguläre Kanzlerwahl  7 40 ff. – Verfahren  7 41 ff., 49, 58 ff, 64 – Vorschlagsrecht  7 43 ff., 54, 63 – Wählbarkeitsvoraussetzungen  7 35 ff., 44 – Entfall der – 7 117 Bundeskanzleramt 7 208 ff. – Chef des -s  7 209 – Geschichte  7 9, 211 – Staatssekretär im – 7 245 – verfassungsrechtliche Bedenken  7 210 Bundesminister 1 34; 7 1 ff. – Abhängigkeit vom Bundeskanzler (s. Akzessorietät zum Bundeskanzler) – Abwahl  7 85, 169 – Akzessorietät zum Bundeskanzler  7 85, 166, 168 f., 228 – Amtsbeginn  7 112 – Amtsbezüge  7 195 – Amtsende  7 165 ff. – durch Entlassung  7 167 ff. – durch Rücktritt  7 170 f. – durch Tod  7 172 – durch Zusammentritt neuen Bundes­ tags  7 166 – Anzahl der Ministerposten  7 73 – Aufgaben  7 325 ff. – exekutive – 7 214 – gubernative – 7 4, 213 – Bestimmung  7 71 ff. – Dienstherr, oberster 7 314 – Eidesleistung  7 88 – Entlassung  7 81, 167 ff., 170 f. – Ernennung 5 125 f.; 7 81 ff., 86 f. – Existenzgarantie  7 230 – Fortführung der Geschäfte  7 173 ff. (s. kommissarische Amtsführung) – Geschichte  7 7 ff. – Gesetzgebung  7 213 – Inkompatibilitäten  7 92 ff. – kommissarische Amtsführung  7 173 ff. (s. auch kommissarische Amtsführung) – Legitimationsketten  7 215 – „Minister-Abgeordneter“ 7 94, 356

– Ministeranklage  7 25, 85 – Ministerialbürokratie  7 259 ff. (s. Ministerialbürokratie) – ministerialfreier Raum  7 215 – Organisation der Ministerien  7 73 – Personal, externes  7 265 – promissorischer Eid  7 90 – religiöse Beteuerung  7 89 – Ressorts  7 74, 77 – Entwicklung  7 9 – Zusammenlegung  7 231 – Richtlinienkonformität  7 306 – Rücktritt  7 84, 171 – Stellung  7 212 ff. – exekutive Dimension  7 214 – gubernative Dimension  7 213 – oberste Dienst- und Aufsichtsbe­ hörde  7 214, 314 – Ressortverantwortlichkeit  7 310 (s. Ressortprinzip) – Stellvertretung  7 185, 220 – durch Parlamentarische Staatsekre­ täre  7 249 – Teil der Bundesregierung  7 1 – Tod  7 170 – Vakanz von Ministerposten  7 174 f. – Verantwortlichkeit, parlamentarische  7 25, 28, 228 – Verbot ministerialfreier Räume  7 215 – Ausnahmen  7 218 – verfassungsgarantierte Ministerposten  7 74, 229 – Bundesfinanzminister  7 232 ff. – Bundesjustizminister  7 239 ff. – Bundesverteidigungsminister  7 237 ff. – Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers  7 72 – Weisungsbefugnisse  7 214, 219, 255 – Weisungsfreiheit  7 311 Bundesminister für besondere Aufgaben 7 79 Bundesministergesetz (BMinG) 7 193 f. Bundesnachrichtendienst (BND) (s. Nachrichtendienst) Bundesorgane 1 52 ff.; 3 25; 8 362 ff. – mit Verfassungsorganqualität  1 52 ff. – ohne Verfassungsorganqualität  1 56 ff.

Sachverzeichnis Bundespräsident 2 43 f.; 5 1 ff.; 7 30 ff., 75, 76 f., 154 f., 176 – Amtssitz  5 22 – Amtszeit  5 65 ff. – Aufgaben  5 104 ff. – Auflösung des Bundestags  7 69, 147 ff. – Ausfertigung der Gesetze  5 136 f.; 3 – Außenvertretung  5 26 ff., 109 ff. – Befugnisse  5 104 ff. – bei Änderung der Geschäftsordnung der Bundesregierung  7 183 – bei Auflösung des Bundestags  7 66 ff., 147 – bei Ernennung des Bundeskanzlers  5 123 ff.; 7 33, 66 ff. – Festsetzung der Staatssymbole  5 164 ff. – im Gesetzgebungsnotstand  5 148 – im Verteidigungsfall  5 149 ff.; 4 43 – in Regierungskrisen  5 127 ff.; 7 147 – Informationsrechte  5 134 ff. – Kontrolle der Parteienfinanzierung  5 170 – verfassungsrechtliche  5 106 – Begnadigung  5 157 ff. – Beliebtheit  5 213 – Besoldung  5 64 – bisherige Amtsträger  5 19 ff. – Bundespräsidialamt  5 100 ff. (s. Bundespräsidialamt) – Bundesversammlung  5 49 ff.; 6 1 ff. (s. Bundesversammlung) – Direktwahl  5 16 – Eid  5 59 ff., 91, 99 – Ermessen  5 123; 7 66, 147 – Ernennungs– - kompetenzen  5 123 ff., 152; 7 251 – - pflicht  5 125; 7 33, 51, 60, 65, 83, 130 – Funktionen  5 4, 24 ff. – Gegenzeichnungserfordernis  5 177 ff., 7 154 – Geschäftsführungsersuchen  7 155, 173 – Gesetzgebungsverfahren  5 136 ff. – historische Entwicklung des Amts  5 8 ff. – Immunität  5 82 ff. – Informationsrecht  5 134

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Inkompatibilitäten  5 75 ff.; 7 93 Integrationsfunktion  1 156 f.; 5 4, 29 ff. Kompetenzen (s. Befugnisse) Kontrolle  5 174 ff. Legitimation  6 4 Mindestalter  5 48 Neutralität  5 5, 30 Organstreitverfahren  5 147; 8 64, 356 ff. parteipolitische Bindung  5 20 f. Personalgewalt  7 82 Pflichten  5 80 f. (s. auch Ernennungspflichten) – „Präsentationskapitulation“ 7 46 – Präsidentenanklage  5 194 ff. (s. Präsidentenanklage) – Prüfungsrecht (s. Prüfungsrecht des Bundespräsidenten) – Rechtsstellung  5 64 ff., 173 – Repräsentationsfunktion  5 26 ff., 110 – Reservefunktion  5 35 f., 123; 7 39, 147 – Rücktritt  5 72 – „Staatsnotar“ 5 34, 110, 114, 136, 7 82 f. – Staatsoberhaupt  5 1 – Übertragung von Befugnissen  5 79 – Verhältnis zu den anderen Bundesorga­ nen  5 37 ff. – Verhältnis zur Bundesregierung  5 7 – Verhinderungsgründe  5 92 f. – Vertretung  1 153; 5 40, 88 ff. – Völkerrechtliche Verträge  5 116 ff. – Vorschlagsrecht  7 43 ff., 54 ff., 63 – Wahl  5 44 ff.; 6 2 ff. – Wählbarkeitsvoraussetzungen  5 45 ff. – Wahlverfahren  5 49 ff. – Wiederwahl  5 66 ff. Bundespräsidialamt 5 100 ff. Bundespressekonferenz  7 348 f. Bundesrat 3 1 ff. – Abstimmungen 3 157 ff., 194 – Alternativmodelle  3 19, 26 – Anklagebefugnisse  3 271 – Anwesenheitsrechte im Bundestag  3 260 ff. – Aufgaben  3 165 ff. – Ausschüsse  3 130 ff. – auswärtige Angelegenheiten  3 235 ff. – Bedeutung  3 172, 314 f. – Beschlussfassung  3 144 ff., 305 – – – – – – – – – – –

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– Beteiligtenfähigkeit  3 268 ff. – Blockade der Bundesgesetzgebung  3 65 ff. – Bundesangelegenheiten  3 28 – Bundesstaatsprinzip  3 1 f. – Debattenkultur  3 50 – Demokratische Legitimation  3 45 f., 99 ff. – einheitliche Stimmabgabe  3 48 – Einspruchsbefugnis  3 51, 193 ff. (s. auch Einspruchsgesetz) – Ende der Mitgliedschaft  3 98 – Enthaltung  3 151 – Europäische Union  3 170, 235 – Europakammer  3 303 ff. – Europa  3 298 – Exekutivlastigkeit 3 15, 33 – Funktionen  3 24 ff., 35 ff. – Gemeinsamer Ausschuss  3 248; 4 5 ff. – Geschäftsordnung des – 3 104 ff. – Geschichte  3 3 ff. – Gesetzgebung  3 41, 168, 173 ff. – Gesetzgebungsnotstand  3 199 ff.; 5 148, 186 – imperatives Mandat  3 47, 91 ff. – Informationsanspruch  3 256 ff. – Initiativrecht  3 176 ff., 217 – Inkompatibilitäten  3 87 – institutionelle Ausgestaltung  3 18 – Interessenvertretung der Länder  3 35 ff., 253 – Konsensprinzip  3 59 – Kreationsbefugnis  3 264 ff. – Mängelrügeverfahren  3 229 f.; 8 55 – Mehrheitsprinzip  1 122; 3 59, 145, 150 ff. – Mitgliedschaft im Bundesrat  3 74 ff. – institutionelle – 3 75 ff., 156 – personelle – 3 83 ff., 147 – potentielle – 3 86 – Mitwirkung bei auswärtigen Angelegen­ heiten  3 235 – Organisation  3 103 ff. – parteipolitische Prägung  3 57 ff., 68 ff. (s. auch Parteipolitisierung) – permanentes Organ  3 42 – Plenum  3 129 ff. – Präsident  3 107 ff. (s. Bundesrats­ präsident)

Präsidium  3 127 f. prozessuale Stellung  3 268 ff. Rechnungskontrolle  3 255 Rechtsverordnung  3 174 f., 204 ff., 217 Rederecht  3 260 ff. Sitz  1 109; 3 22 Stellungnahme zu Regierungsentwür­ fen  3 180 ff. – Stimmgewichtung  3 77 ff. – Tagesordnung  3 143 – Verfahren  3 141, 153 ff. – Verhältnis zum Bundestag  3 41 ff. – Vermittlungsausschuss  3 183 ff., 318 – Verteidigungsfall  3 243 ff., 4 1, 30 ff. (s. auch Verteidigungsfall) – Vertretung der Mitglieder  3 49 – Verwaltung  3 133 f. – Verwaltung des Bundes  3 221 ff. – Vetorecht  3 191, 198, 243 – Weisungsabhängigkeit  3 93 – Zusammensetzung  3 74 ff. – Zustimmungsgesetz  3 186 ff., 209 Bundesratsausschüsse 3 130 ff. Bundesratspräsident 3 107 ff.; 5 88 ff. – Aufgaben  3 120 ff. – Einberufung  3 136 f. Bundesratsverwaltung 3 133 Bundesrechnungshof 1 56; 2 112 Bundesregierung – Abhängigkeit vom Vertrauen des Parla­ ments  7 28, 125 – Amtszeit  7 111 ff. – der Bundesminister  7 165 ff. – des Bundeskanzlers  7 114 ff. – Aufgaben  7 18, 325 ff., 331 (s. auch Befugnisse) – Staatsleitungsorgan  7 4, 19 f., 325 – Verwaltungsorgan  7 20, 325 – Beauftragte der – 7 266 ff. (s. Beauftragte der Bundesregierung) – Befugnisse  7 325 ff. – ausdrücklich zugewiesene – 7 330 ff. – Außenpolitik  7 334 ff. – Ermessen  7 337 – Europapolitik  7 338 ff. – Kontrolldichte, verfassungsgericht­ liche  7 337 – – – – – – –

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– Kernbereich exekutiver Eigenverant­ wortung  7 23, 328; 8 124 – nicht ausdrücklich zugewiesene – 7 333 ff. – Öffentlichkeitsarbeit  7 341 ff. – rechtssetzende – 7 331 – Zuständigkeitsvermutung  7 326, 334 Begriff  7 1 ff. – funktioneller Begriff  7 3 f. – organisatorischer Begriff  7 1 Beratungsgremien  7 290 ff. Beschlussfassung  7 180 f., 186, 318 Besetzung (s. Personalgewalt) Bundeskabinett  7 5 Bundeskanzler  7 1 (s. auch Bundeskanzler) Bundesminister (s. Bundesminister) Ermessen, politisches  7 337 Funktionen  7 18 f. (s. auch Aufgaben) Geschichte der – 7 7 ff. Gesamtorgan  7 2, 316 Geschäftsordnung  7 182 ff. (s. Geschäftsordnung der Bundesregierung) Haftung für Amtspflichtverletzung  7 196 Inkompatibilitäten  7 92 ff. Kabinettsprinzip  7 315 ff. (s. Kollegialprinzip) Kernbereich exekutiver Eigenverantwor­ tung  7 23, 328; 8 124 Kollegialentscheidung  7 318 Kollegialorgan (s. Kollegialorgan) Konstituierung  7 30 ff. – Bestimmung der Bundesminister  7 71 ff. – Wahl des Bundeskanzlers  7 31 ff. mediale Verantwortung  7 29 Mehrheitserfordernisse  1 119 Mitglieder  7 1, 191 Öffentlichkeitsarbeit  7 341 ff. – Äußerung über Konkurrenten  7 344 – Bundespressekonferenz  7 349 – Grenzen  7 346 f. – Presse- und Informationsamt  7 348 – soziale Medien  7 350 – Verhältnis zur Wahlwerbung  7 345 Organisationsstruktur  7 178 ff., 298 Organzuständigkeit  7 17 (s. auch Befugnisse)

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– Personalgewalt über die – 7 81 ff., 175, 230 – personelle Änderungen  7 84 – Rechtsstellung der Mitglieder  7 191 ff. – Regierungsbildung (s. Konstituierung) – Regierungskrise  5 127 ff.; 7 120, 136 – Sprecher der – 7 348 – Unterrichtungspflicht  5 134; 7 340 – Verantwortlichkeit, parlamentarische  3 95; 7 28, 85, 297 – Verfassungsposition  7 17 ff. – Zurechnung eines Beschlusses  7 180 – Zusammensetzung  7 1 – Zuständigkeitsvermutung  7 326, 334 – Zuständigkeitsverteilung, interne  7 296 – Kanzlerprinzip  7 299 ff. – Kollegialprinzip  7 315 – Ressortprinzip 7 310 Bundesrichter – Ernennung 5 152 ff. Bundesstaatsprinzip 3 1 ff. Bundestag 2 1 ff.; 3 41 ff., 31; 5 85 f.; 7 21, 8 160 ff. – Alterspräsident 2 365 ff. – Ältestenrat  2 359 ff. – Auflösung (s. Bundestagsauflösung) – Ausschüsse  2 415 ff. – Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union  2 426 ff.; 3 302 (s. auch Europaausschuss) – Ausschuss für Auswärtiges  2 434 ff. – Bedeutung  2 415, 418 – Einsetzung  2 417 – Europaausschuss  2 426 ff.; 3 302 – Mitglieder  2 419 – Petitionsausschuss  2 423 ff. – Untersuchungsausschuss  2 443 ff. (s. Untersuchungsausschuss) – Verteidigungsausschuss  2 434 ff. (s. auch Verteidigungsausschuss) – Zusammensetzung  2 419 – Autonomie  2 330 – äußere – 2 330 – Geschäftsordnungsautonomie  2 332 ff. – innere – 2 330 – Beauftragte des – (s. Beauftragte des Bundestags) – Beiräte  2 566 ff.

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Sachverzeichnis

– interparlamentarische – 2 572 – parlamentarische – 2 568 ff. – unechte parlamentarische – 2 573 – unter Parlamentsbeteiligung  2 574 ff. Beschlussunfähigkeit  2 142 ff.; 4 30, 32, 35 Bildung  2 147 ff. Bundestagspräsident  2 338 ff. (s. Bundestagspräsident) Büro für Technikfolgenabschätzung  2 516 Diäten  2 308 ff. digitales Parlament  2 120 Diskontinuität  2 205 Enquête-Kommision  2 518 ff. Fraktion  2 370 ff. (s. Fraktion im Bundestag) fraktionslose Abgeordnete  2 272 ff., 289, 402 f. Funktionen  2 51 ff. – Gesetzgebung  2 63 ff. – Integrationsfunktion  1 156; 2 57 ff. – Kontrollfunktion  2 89 ff.; 7 22 ff., 282 – Kreationsfunktion  2 79 ff. – Öffentlichkeitsfunktion  2 113 ff. – Regierungsbildungsfunktion  2 86 – Staatsleitung  2 54 ff. Funktionsunfähigkeit  4 30, 32, 34 G 10-Kommission  2 551 ff. Geschäftsordnung  2 332 ff. (s. Geschäftsordnung des Bundestags) Gesetzgebungsfunktion  2 63 ff. – Haushaltsgesetz  2 76 – Initiativrecht  2 68 – Parlamentsgesetz  2 64 ff. – Rechtsverordnung  2 77 f. (s. Rechtsverordnung) Gremium  2 525 ff. (s. Bundestag, Sondergremium) Gruppe  2 397 ff. (s. Gruppe im Bundestag) Handlungsformen  2 122 ff. Kontrollfunktion  2 89 ff.; 7 22 ff., 282 – Anfragen  2 97 ff. – bei Auslandseinsätzen  2 52, 109; 7 335a – Enquête-Recht  2 92



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– Haushaltsfragen  2 110 ff. – Streitkräfte  2 109 – Untersuchungsrecht  2 92 ff.; 7 23 – Zitierrecht  2 96; 7 227 Kreationsfunktion  2 79 ff. – Ausschussmitglieder  2 80 – Bundeskanzler  2 86; 7 32 ff. – Bundespräsident  2 87 – Bundestagspräsident  2 80 – rechtsprechende Organe  2 88 – Regierungsbildungsfunktion  2 86 Kuratorien  2 578 ff. Legislaturperiode  2 198 – Verlängerung  2 201 ff. Legitimation  1 7, 85; 2 34, 147 Leitungsorgane  2 338 ff. – Alterspräsident 2 365 ff. – Ältestenrat  2 359 ff. – Bundestagspräsident  2 338 ff. (s. Bundestagspräsident) – Präsidium  2 356 ff. Mehrheitserfordernisse  1 118, 121; 2 140 ff. Neuwahlen  2 200; 7 69, 138 Öffentlichkeitsfunktion  2 113 ff. – Darstellung politischer Lösung  2 116 – digitales Parlament  2 120 – Diskussion  2 114 – Information  2 114 – Informationszugang  2 118 – Medienberichterstattung  2 115 Opposition (s. Opposition) Organisation  2 330 ff. Parlament  2 4 Parlamentarisches Kontrollgre­ mium  2 531 ff. Parlamentsgesetz  2 64 ff. Periodizität  2 198 Plenum und Gremium  2 83 – Spiegelbildlichkeit  2 83 Präsident  2 338 ff. (s. Bundestagspräsident) Präsidium  2 356 ff. Selbstauflösungsrecht  2 204, 214 ff., 606; 7 138, 153 Sondergremium  2 525 ff. – Arten  2 527 ff. – Bedenken  2 564

Sachverzeichnis Begriff  2 525 ff. Besetzung  2 526, 562 Errichtungsermessen  2 563 Finanzmarktstabilisierungsfond  2 542 – G 10-Kommission  2 551 ff. – parlamentarische Kontrolle  2 528, 530 ff. – Parlamentarisches Kontrollgre­ mium  2 531 ff. – rechtsstaatliche Kontrolle  2 529, 547 ff. – verfassungsrechtliche Bedenken  2 564 – Spiegelbildlichkeitsgrundsatz  2 83 – Stellung im Systemgefüge  2 34 ff. – Untersuchungsrecht  2 92 ff.; 7 23 – Verhältnis zu den anderen Bundesorga­ nen  2 39 – Verhältnis zum Bundespräsiden­ ten  2 43; 5 38 f.; 7 353 – Verhältnis zum Bundesrat  2 39; 3 41 ff. – Verhältnis zum Bundesverfassungs­ gericht  2 45 ff. – Verhältnis zur Bundesregierung  2 41; 7 21 – Vertrauensfrage (s. Vertrauensfrage)  – Vorschlag Nachfolger Bundeskanzler  7 127 – Wahl des Bundestags  2 148 ff. (s. Bundestagswahl) – Wissenschaftliche Dienste  2 602 ff. – Zitations- und Interpellationsrechte  2 96; 7 227 – Zusammentritt nach Wahl  2 129, 200, 367; 7 114 Bundestagsauflösung 2 214 ff.; 5 129; 7 69, 138, 147 ff. – Einschätzungsprärogative des Bundes­ kanzlers  7 151 ff. – Entscheidungsbefugnis des Bundespräsi­ denten  7 66 – Geschichte 2 215 f. – Kritik am Grundgesetz  2 221 – Rechtsfolge  2 220; 7 69 – Selbstauflösungsrecht  2 204, 214 ff., 606; 7 138, 153 – – – –

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– Voraussetzung  2 217 ff. – gescheiterte Kanzlerwahl  2 218; 7 69 – Vertrauensfrage  2 218; 5 129; 7 147 ff. Bundestagsfraktion 2 370 ff. (s. Fraktion im Bundestag) Bundestagspräsident 2 338 ff.; 5 51 – Befugnisse kraft Geschäftsordnung ​ 2 347 ff. – Auslegungsbefugnis  2 352 – Beratungsrecht in Ausschüssen  2 350 – Sitzungsgewalt  2 351 – Vertretungsbefugnis  2 348 – Befugnisse kraft Gesetz  2 353 ff. – Behörde  2 349 – Dienstherr  2 349 – Hausrecht  2 341 – Ordnungsgewalt  2 343 – Polizeigewalt  2 342 – Wahl  2 339 Bundestagsverwaltung 2 349, 369, 600 f. Bundestagswahl 2 148 ff. – aktives Wahlrecht  2 148 f. – Ausgleichsmandate  2 158, 164 ff. – Fünf-Prozent-Klausel 2 167 ff. – Grundmandatsklausel  2 173 ff. – negatives Stimmgewicht  2 162 f. – Nichtanerkennungsbeschwerde  2 195 ff.; 8 28 – Parité-Quote  2 154 – passives Wahlrecht  2 150 ff. – personalisierte Verhältniswahl  2 155 f. – Sperrklausel  2 167 – Überhangmandate  2 157 (s. Überhangmandat) – Wahlprüfung  2 177 ff. – Beschwerdeberechtigung  2 190 – Ergebnisrelevanz  2 178, 186 f. – Rechtsschutz  2 189 ff. – Wahlprüfungsausschuss  2 185 – Wahlprüfungsgesetz  2 183 – Wiederholungswahl  2 187 f. – Wahlvorschläge  2 151 Bundestreue 8 328, 516 Bundesverfassungsgericht 2 45 ff.; 3 264; 5 141; 7 151 ff.; 8 1 ff. – Aufgaben  8 40 ff. – Bedeutung  8 1 f., 130, 643 ff.

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Sachverzeichnis

Beschwerdekammer  8 210 ff. Direktor beim BVerfG  8 230 Einfluss auf Entscheidungen  8 238 Einfluss auf politische Willensbildung  8 65 ff. Entscheidung des – 8 300 ff. (s. auch Bundesverfassungsgerichtsentscheidung) Entwicklung der Verfassungsgerichts­ barkeit (s. Verfassungsgerichtsbarkeit) Filterfunktion  8 236 Gerichtsqualität  8 57 f. Geschäftsordnung (s. Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts) Gutachten  8 246 Haushalt  8 63 institutionelle Alternativen  8 54 Kammern  8 201 ff. Kontrolldichte  7 153, 329, 337; 8 91 (s. auch Kontrolldichte, verfassungsgerichtliche) Kontrollfunktion des – 8 45, 51 Kritik an der Rechtsprechung des – 8 649 ff. Plenum  8 214 ff. Präsidium  8 222 ff. Prüfungsdichte  8 91 (s. auch Kontrolldichte) Prüfungsmaßstab  8 82, 91, 125 Richter  8 148 ff. (s. Bundesverfassungsrichter) Selbstverwaltung  8 227 ff. Senate  8 194 ff. Sitz in Karlsruhe  8 19 ff. Spruchkörper  8 190 ff. Staatsgerichtsbarkeit  8 49 Stellung  8 52 ff. Verfahren vor dem – (s. Bundesverfassungsgerichtsverfahren) Verfahrensregelungen (s. Verfahrensregeln Bundesverfassungsgericht) Verfassungsorgan  8 60 ff. Verhältnis zu anderen Organen – zu Fachgerichten  8 125 ff. – zu Landesverfassungsgerichten  8 131 ff. – zum Bundespräsidenten  5 42 f. – zum Bundestag  8 89, 102 ff.

– zum EuGH und dem EGMR  8 38, 139, 619 ff., 670 – zum Gesetzgeber  8 79 ff., 114 – zur Bundesregierung  8 120 ff. – verfassungsrechtliche Bedenken  8 237 f. – Verwaltung  8 227 ff. – wissenschaftliche Mitarbeiter  8 232 ff. – Zuständigkeit  8 242 – der Senate  8 197 f. – Zuweisung durch Bundesgesetz  8 244 – Zuweisung im GG  8 242 f. Bundesverfassungsgerichtsentscheidung – Entscheidungszwang  8 301, 543 – Gesetzeskraft  8 322 – Mehrheit  1 118 – Plenarentscheidung  8 196, 216 – Rechtsgrundlage  8 333 – Rechtskraft der – 8 59, 313 ff., 527 f. – Unvereinbarerklärung  8 309 ff. – Vollstreckung der – 8 323 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) 1 104 f.; 4 41; 8 16 – Änderungen des – 8 30 ff. Bundesverfassungsgerichtspositivismus 8 143, 674 Bundesverfassungsrichter 8 148 ff. – Altersgrenze  8 185 – Amtszeit  8 153 – Ausschluss  8 335 ff. – Beendigung des Amtes  8 185 ff. – Befangenheit  8 335 ff. – besonderes Dienstverhältnis  8 148 – demokratische Legitimation  8 150 – Entlassung  8 188 f. – Inkompatibilitäten  5 77; 8 156 ff. – Mindestalter  8 155 – Politische Praxis  8 177 ff. – Rechtsstellung  8 148 ff. – Verfassungswidrigkeit des Wahlverfah­ rens  8 180 ff. – Versetzung in den Ruhestand  8 188 f. – Wahl  8 160 ff., 655 ff. Bundesversammlung 1 123; 3 267; 5 44 ff.; 6 1 ff. – Einflussfaktoren  6 13 – Geschäftsordnung  6 6 – Rechtsgrundlage  6 5

Sachverzeichnis – Rechtsstellung der Mitglieder der – 6 5 – Tagungsort  1 110; 6 7 – Wahlverfahren  5 49 ff. – Zusammensetzung  6 9 Bundesverteidigungsminister 7 237 ff. – Inkompatibilität  7 238 Bundeswahlgesetz 2 147 ff.; 5 169 Bundeswappen (s. Staatssymbole) Bundeswehr 2 52, 109, 588 – Auslandseinsätze der – 2 52, 109; 7 335a Bundeszwang 3 254 Büro für Technikfolgenabschätzung  2 516 „checks and balances“ 7 4 Datenethikkomission 7 295 Datenschutz 7 275 – Gewalten übergreifender Belang  7 283 (s. auch Bundesbeauftragter für –) Demokratie, repräsentative  1 12 Demokratie, wehrhafte  7 39 Demokratieprinzip 1 84 ff., 112 ff.; 2 34, 201, 407 Deutsche Demokratische Republik (DDR) – Regierungssystem  7 15 – Staatsoberhaupt  5 23 Deutscher Bund  3 5; 8 7 Deutscher Ethikrat  7 293 Deutsches Kaiserreich  7 8 Deutsches Obergericht für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet 8 14 Deutsche Wissenschaftliche Kommission für Meeresforschung (DWK) 7 295 D’Hondt, Victor 2 84 Diäten 2 308 ff. Dienstleistungspflicht (s. öffentliche Last) Dienst- und Aufsichtbehörde  7 214 Digitalisierung 2 120, 421, 519, 617 Digitalrat 7 295 Diskontinuität  2 205 ff.; 4 23; 8 416 – Periodizität  2 198 ff. – personelle – 2 207 – Rechtsquelle  2 211 – sachliche – 2 208 Dispositionsmaxime 5 179; 8 263 ff. Dissenting Vote  8 283 Divergenzvorlage  8 135

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Doppelhypothese 8 604 ff. Drei-Elemente-Lehre (s. Staat, Elemente) „Dritter Senat“ 8 232 Eidesleistung 1 83; 5 59 ff.; 7 34, 88 ff. – des Bundeskanzlers  7 34 – der Bundesminister  7 89 – des Bundespräsidenten  5 59 ff. Einheit der Rechtsordnung  8 112 Einschätzungsprärogative 7 151 ff. Einspruchsgesetz 3 51, 193 ff. Einstimmigkeitsprinzip 1 113 Einstweilige Anordnung  5 204; 8 192, 597 ff. – Begründetheit  8 603 ff. – im Rahmen der Präsidentenanklage ​ 5 204 – Zulässigkeit  8 601 ff. Einzelstaaten 7 7 Eligibilität (s. Wählbarkeitsvorausset­ zungen) Enquête-Kommission 2 518 ff. Enquête-Recht des Bundestags  2 92 Enumerationsprinzip  8 239 Erforderlichkeit von Bundesgesetzen – Kontrolle durch das BVerfG  3 270; 8 453 ff. Ernennung Bundeskanzler  7 33, 51, 60, 65 Ernennung Bundesminister  7 81 ff. – Voraussetzungen  7 86 – Vorschlag  7 87 Ernennungspflicht 5 123; 7 51, 60, 65 ff. Ersatzvertretung 7 202 Ethikrat (s. Deutscher Ethikrat) Europaausschuss des Bundestags  2 426 ff.; 3 302 Europäische Integration  8 51, 419, 636, 642 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 8 620 ff. Europäische Union  5 77 – Ausschuss der Regionen 3 277 ff. Europäischer Gerichtshof (EuGH) (s. Gerichtshof der Europäischen Union) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 8 38, 139 ff. 619 ff., 642, 670

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Sachverzeichnis

Europakammer des Bundesrats  3 298 ff.  Europapolitik 7 338 ff. Ewigkeitsklausel  3 26; 8 53, 241, 535 Exekutive 5 7; 7 8, 19 (s. auch vollziehende Gewalt) Exekutivratsmodell 3 15 Existenzgarantie 7 230 externer Sachverstand  7 263, 265, 290 Finanzmarktstabilisierungsgremium  2 544 Finanzverfassung (s. Haushalts­ verfassung) Föderalismus 3 9 Föderalismusreform I  3 20, 66, 320 Fortführung der Geschäfte (s. kommissarische Amtsführung) Fraktion im Bundestag  2 370 ff.; 8 410 – Aufgaben  2 382 ff. – Befugnisse  2 388 ff. – Begriff  2 376 ff. – „Bruchstücke“ 2 377 – Definition  2 377, 378 – Gemeinsamer Ausschuss  4 8 – Mindeststärke  2 378, 381 – prozessuale Stellung  2 396 – Rechtsnatur  2 384 ff. Fraktionsdisziplin  2 263 f. fraktionslose Abgeordnete  2 272 ff., 289, 402 f. Fraktionszwang  2 260 f. Freies Mandat  2 246 ff. (s. Abgeordnete, Bundestag) G 10-Kommission  2 551 ff. Gegenzeichnung 5 177; 7 87, 154 Gehalt (s. Amtsbezüge) Geheime Wahl des Bundeskanzlers  7 50, 59 Geheimheit der Verfassungsorganwahl  1 73 f.; 7 50, 59 Gemeinsame Geschäftsordnung der ­Bundesministerien (GGO) 7 187 ff. Gemeinsamer Ausschuss – Aufgaben  4 24 ff. – Funktionsbeginn 4 30 – Geschäftsordnung  1 98; 4 15 ff. – Gesetzgebung  4 39 ff.

– Immunität und Indemnität  4 11, 13 – Informationsanspruch  4 25 ff. – Inkompatibilitäten  4 9 f. – Mehrheitserfordernisse  1 118; 4 22 – Notparlament 4 3, 37 – Organstreitverfahren  4 24 – symbolischer Wert  4 3, 47 – verfassungsrechtliche Bedenken  4 14 – Vorsitz  4 19, 28 – Wahlfunktion  4 43 f. – Zitier- und Interpellationsrecht  4 26 f. – Zusammensetzung  4 5 ff. Generalsekretär des Zentralkomitees der SED  7 14 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) 8 37 Gerichtsverfassungsgesetz 8 272 Gesamtorgan 7 2, 316 Gesandtenkongress 3 7 Gesandtschaftsrecht 5 120 Geschäftsfortführung (s. kommissarische Amtsführung) Geschäftsleitungskompetenz des Bundeskanzlers 7 308 f. Geschäftsordnung des Bundesrats  3 104 f., 135 Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) 1 97; 5 130 ff.; 7 182 ff. – Geschäftsordnungsautonomie  7 178 – Inhalt  7 185 ff. – Prüfungskompetenz des Bundespräsi­ denten  5 131, 7 183 – Rechtsnatur  7 184 – Vorgaben des Grundgesetzes  7 183 Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT) 2 332 ff., 6 6 – Inhalt  2 332 ff. – Rang  2 336 – Rechtsnatur  2 335 ff. Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (GOBVerfG) 8 60, 227 Geschäftsordnungsautonomie 1 95 ff. – Begrenzung der – 1 103 f. – der Bundesregierung  7 178 – des Bundestags  2 330 f., 332 – des Gemeinsamen Ausschusses  4 15 Geschäftsordnungsrecht 1 100 – Rechtsnatur  1 101

Sachverzeichnis – Regelungsinhalt  1 102 Geschichte (s. Verfassungsentwicklung) Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (BMinG) 7 193 Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (BPräsWahlG) 6 5 ff. Gesetzesbegriff 3 205 Gesetzgebung  2 63 ff.; 3 172 ff.; 5 135 ff. Gesetzgebungsnotstand 5 148, 186 Gesetzgebungsoutsourcing  7 264 Gesetzgebungsverfahren 3 139 ff.; 5 135 Gesetzesvorbehalt 7 78 Gestaltungsspielraum, gesetzgeberischer 8 93 Gewaltenteilung 1 1, 148; 8 358 – horizontale – 3 30, 312; 7 4, 85 – personale – 2 226, 230; – vertikale – 3 29; 7 85 Gewaltenverschränkung 3 13; 283; 7 4; 8 15 ff,. 40, 44, Grundgesetz 1 29; 8 15, 44 – Änderungen 3 26; 8 1 ff., 23 ff. – Änderung nach Weimar  7 13 Grundmandatsklausel  2 173 ff. Grundrechte 8 69, 131 Grundrechtsfähigkeit 8 545 ff., 595 Grundsatz der Gleichheit der Länder  3 145 Gruppe im Bundestag  2 397 ff. – Begriff  2 398 – prozessuale Stellung  2 401 – Rechte  2 399 f. Gubernative 7 4, 213 Haushaltsverfassungsrecht  7 232 Hartz IV-Entscheidung  8 95 Heck’sche Formel  8 128 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 8 3 (s. auch Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit) horror pleni 8 217 horror vacui 7 122 „Hüter der Verfassung“ 8 13 Identitätskontrolle 8 634

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Immunität – des Bundespräsidenten  5 82 ff. – des Bundestagsabgeordneten  2 295 ff. Indemnität des Bundestagsabgeord­ neten 2 302 ff. Informationelle Tätigkeit des Staates  7 341 Informationszugangsfreiheit 7 278 Inkompatibilität 1 80 ff. – der Bundesratsmitgliedschaft  3 49, 87 – der Bundesregierungsmitgliedschaft  7 92 – der Mitgliedschaft im Bundestag  2 226 ff. – der Mitgliedschaft im Gemeinsamen Ausschuss  4 9 f. – des Bundespräsidentenamtes  5 75 ff., 7 93 – des Bundesverfassungsrichteramtes  8 156 – des Bundesverteidigungsministeram­ tes  7 238 – mit Funktionen in der Europäischen Union  7 95 Innerorgankontrolle (s. Verfassungs­ kontrolle) Instabile Lage  7 11, 13, 150 Integrationsbeauftragter 2 598 Integrationsfunktion – allgemein  1 156 ff. – des Bundespräsidenten 5 4 – des Bundestags  2 57 ff. – des Bundesverfassungsgerichts  8 47 Integrationslehre 1 46, 156, 158; 2 58 f. Integrationsverantwortung 2 61 f.; 3 287 Interimsphase (s. kommissarische Amtsführung) internationale Schiedsgerichte  8 39 Interorganrespekt 1 160 Judicial Self-Restraint  1 161; 8 90 ff. Juridifizierung der Politik  8 70 Kabinett (s. Bundeskabinett) Kabinettsprinzip 7 315 ff. (s. Kollegialprinzip)

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Sachverzeichnis

Kabinettbildungsrecht  7 76 Kaiserreich (s. Deutsches Kaiserreich) „Kanzler“ 7 199 „Kanzler-Demokratie“ 7 30, 197 Kanzlermehrheit 1 121; 7 52, 60 Kanzlerprinzip 7 299 ff. – Geschäftsleitungskompetenz  7 308 ff. – Richtlinienkompetenz  7 302 ff. (s. Richtlinienkompetenz) – Verhältnis zum Kollegialprinzip  7 321 ff. – zu Weimarer Zeit  7 8, 10 Katastrophennotstand  3 250 Kernbereich exekutiver Eigenverant­ wortung, 7 23, 328 ff.; 8 124 Kleindeutsche Lösung (s. Paulskirche, Staatsorganisation) Koalitionsvereinbarung 2 255; 7 44, 48, 98 ff. – Abgeordnete und – 2 255 – Funktion  7 100 – Koalitionsausschuss  7 103 – Partner einer – 7 101 – Rechtsnatur  7 106 ff. – Rechtsverbindlichkeit  7 108 – Zulässigkeit  7 102 f Kollegialisierung 7 219 Kollegialorgan 1 142; 7 1, 5, 179 ff., 315 ff. – Konfliktentscheidungsfunktion 7 315, 320 – Originäre Kompetenzen  7 315 ff., 322 Kollegialprinzip 7 315 ff. – Verhältnis zu Richtlinienkompetenz  7 321 ff. – zu Weimarer Zeit  7 8, 10 kommissarische Amtsführung – des Bundeskanzlers 7 155 ff. – Ersuchen d. Bundespräsidenten  7 155 ff. – Legitimationsverringerung  7 164 – rechtliche Befugnisse  7 163 – Richtlinienkompetenz bei – 7 307 – Verpflichtung zur – 7 159 – Weigerungsrecht  7 159 – der Bundesminister  7 173 ff. – Ersuchen d. Bundespräsidenten  7 173 – Weigerungsrecht  7 159, 176 – Versteinerungsprinzip  7 163, 175

Kommunalverfassungsbeschwerde 8 24, 590 ff. Kompetenzfreigabeverfahren 8 26, 458 ff., 497 Kompetenzkontrollverfahren  8 456 f., 497 Königsteiner Abkommen  3 110 Konkrete Normenkontrolle  8 461 ff. – Bedeutung und Funktion  8 461 ff. – Begründetheitsvoraussetzungen  8 492 f. – Grundrechtsverletzung  8 480 – Prozedurales  8 493 – Verwerfungsmonopol des Bundesverfas­ sungsgerichts  8 473 f. – Völkerrechtsbezug  8 615 – Zulässigkeitsvoraussetzungen  8 475 ff. Konstituierung der Bundesregierung  7 30 ff. konstruktives Misstrauensvotum (s. Misstrauensvotum, konstruktives) Kontinuität des Staatshandelns  7 261 Kontrolldichte, verfassungsgerichtliche – auswärtige Gewalt 7 337 – Bundestagsauflösung  7 153 – gesetzgeberischer Gestaltungsspiel­ raum 8 91 Kontrollrechte des Bundestags  2 89 ff.; 7 22, 282, 529 Kooptationsverfahren 8 152, 175 Kulturbeauftragte 7 274 Landesjustizminister 7 240 Landesorgane 1 9, 23 Landesverfassungsgerichtsbarkeit 8 131 ff. Legalitätsreserve 3 203 Legislativunterstützungsfunktion 7 282 Legislaturperiode  2 198, 201, 203 ff. Legitimation, demokratische  1 84 ff. – des Bundesrats  3 45 – des Bundestags  2 34; 3 45 – des Bundeskanzlers  7 132 – des geschäftsführenden – 7 164 – der Verwaltung  7 215 Legitimationsketten 7 215 „lex Naumann“ 7 249 Machtvakuum 7 155

Sachverzeichnis Mandat, freies (s. Abgeordnete, Bundestag) Mandat, imperatives  2 251; 3 47, 91 ff. Materielle Auflösungslage  2 219; 7 149 mediale Verantwortung  7 29 Mehrheitsbegriffe 1 115 ff. – Abstimmendenmehrheit  1 116 ff.; 2 114; 8 280 – Anwesendenmehrheit  1 134 ff. – einfache Mehrheit  1 125 ff. – Meiststimmenmehrheit  1 137 f. – Mitgliedermehrheit  1 120 ff.; 2 114 Mehrheitsprinzip 1 75, 112 ff. Mehrheitsverlust 7 120 Meiststimmenmehrheit 7 65 Minderheit, parlamentarische  2 198, 277 ff., 396 Minderheitenschutz 8 359, 389; 2 277 ff. Minderheitsregierung 7 68 Minister (s. Bundesminister) Ministeranklage 7 25, 85 Ministerialbürokratie 7 259 ff. – externer Sachverstand  7 263, 265, 290 – Gesetzesvorbereitung  7 262 – Gesetzgebungsoutsourcing  7 264 – Gliederung  7 260 – Kontinuität des Staatshandelns  7 261 Ministerialfreier Raum  7 215 ff. Ministerpräsidentenkonferenz 3 265; 8 162 Ministerrat der DDR  7 14 Missbilligung, politische  7 134 Missbrauchsgebühr 8 32, 344 Misstrauensvotum, konstruktives  1 90; 5 127 ff.; 7 24, 32, 70, 120 ff. – Begriff des Misstrauens  7 125 – demokratische Legitimität  7 132 – Frist  7 128 – Verfahren  7 127 ff. – weitere Missbilligungsformen  7 134 f. – zu Weimarer Zeit  7 10, 121, 123 Mitgliedermehrheit 1 120 ff.; 7 51, 60, 65 Monarchisches Prinzip  5 9 Monokratie 7 8 Monopolkommission 7 292 – Einbindung in Ministererlaubnisse  7 292 Nationaler Normenkontrollrat  7 294

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Nationalhymne 5 166 Nationalsozialismus – Regierungssystem  7 12 Nebenvertretung 7 203 negatives Stimmgewicht  2 162 f. Neuwahlen 7 69, 138 Nichtanerkennungsbeschwerde 2 195 ff.; 8 28 Nichtannahmegebühr 8 32 Norddeutscher Bund  3 7 Normenhierarchie 8 113 Normenkontrollrat 7 294 Normenpyramide 8 113 Normverifikationsverfahren (Völkerrecht) 8 617 f. Normwiederholungsverbot 8 318 Notparlament 4 3, 37 Notstandgremium  4 2 Notstandsverfassung 4 1; 8 534 oberste Bundesbehörde – Außenstelle  3 233 – Bundespräsidialamt 5 100 ff. obiter dictum  8 84, 321 Objektive Werteordnung  8 69 Öffentlichkeitsfunktion – der Bundesregierung  7 341 ff. – des Bundestags  2 113 Opposition  2 404 ff. Orden 5 167 Organ 1 18 Organadäquanz 7 334 Organisationserlass  7 80 Organisationsgewalt des Bundeskanzlers ​ 7 73 ff., 230 – als Kernbereich der Regierung 7 329 – Anzahl Ministerposten  7 73 – Einschränkungen – einfachgesetzliche  7 76 – verfassungsrechtliche  7 75, 230 – Organisationserlasse  7 80 – organisationsrechtlicher Gesetzesvorbe­ halt  7 78 – parlamentarische Einwirkungs­ befugnisse  7 76 ff. – verfassungsrechtlicher Schutz  7 76 Organkompetenz (s. Organzuständigkeit) Organleihe  8 136

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Sachverzeichnis

Organstreitverfahren  3 269; 5 173; 8 356 ff. – Antragsgegenstand  8 379 ff. – Bedeutung und Funktion  8 356 ff., 398 – Begründetheit  8 396 ff. – Entscheidungsumfang  8 397 – Rechtsschutzbedürfnis  8 392 f. – Urteilsinhalt  8 398 f. – Zulässigkeitsvoraussetzungen  8 360 ff. Organwalter 1 32 ff. – Inkompatibilitäten  1 80 ff. – qualifizierte -schaft  1 34 – Rücktritt  1 91 ff. – Wahlmodalitäten  1 70 ff. – Wählbarkeit  1 77 ff., 86 ff. Organzuständigkeit 1 3; 7 17 Parité-Quote bei Wahlen  2 154 Parlament 2 4 (s. a. Bundestag) parlamentarische Verantwortlichkeit (s. Verantwortlichkeit, parlamenta­ rische) Parlamentarischer Beirat  2 568 ff. Parlamentarischer Rat  3 17 f. Parlamentarisches Kontrollgremium ​ 2 531 ff. Parlamentsbeauftragte 2 583 ff. – parlamentsgesetzlich eingesetzte Beauf­ tragte  2 597 – Wehrbeauftragter  1 43, 59; 2 588 ff. Parlamentsgesetz 2 64 ff.; 8 79 f. Partei – Abgeordnete, Verhältnis zu  2 254 – Beteiligtenfähigkeit im Organstreit  8 376 f. – Bundesrat und Parteipolitik  3 56 ff. – parteipolitischer Einfluss bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter  8 655 ff. – Partner einer Koalitionsvereinbarung  7 101 – Vermischung von Regierungs- und Par­ teiaufgaben  7 374 Partei-Nichtanerkennungsbeschwerde ​ 2 195 ff.; 8 378 Parteienbundesstaat 3 56 ff., 311 Parteienfinanzierung 2 354; 5 170; 8 29 Parteipolitisierung 3 56 ff.; 8 167 Parteispende (s. Parteienfinanzierung)

Parteiverbotsverfahren 8 334 Patientenbeauftragter 2 598 Paulskirche 3 6; 8 8 ff. Permanentes Organ  3 42; 7 206, 213 Personalgewalt 7 81 ff., 175, 230 f. Petitionssausschuss 2 423 ff. Plenum des Bundesverfassungsgerichts  8 174 f., 214 ff. Politbüro der SED  7 14 politische Lage der Instabilität  7 150 Politischer Beamter  7 244 pouvoir constituant 1 8 pouvoir constitué 1 8 praktische Konkordanz  7 324 Präsentationskapitulation 7 46 Präsidentenanklage 1 90; 5 73, 86, 194 ff.; 8 197 Presse- und Informationsamt der Bundes­regierung  7 348 Privatrecht 7 107 promissorischer Eid  7 90 Prozessstandschaft 8 388, 569 Prüfungsrecht des Bundespräsidenten – Ernennung von Bundeskanzler und Mi­ nistern  5 123 ff.; 7 51, 60, 66, 83 – formelles – 5 125, 138 – materielles – 5 139 ff. – politisches – 5 126 – Staatspraxis  5 145 Rat für nachhaltige Entwicklung  7 295 Reaktor-Sicherheitskommission 7 295 Rechnungslegung 7 236 Rechtspersönlichkeit 7 20 Rechtsprechung 3 169 Rechtssicherheit 5 24 Rechtsverbindlichkeit von Koalitions­ verträgen 7 108 Rechtsverordnung 2 77 f.; 3 174 f., 204 ff.; 7 77 Regierungsbildung (s. Konstituierung der Bundesregierung) Regierungskrise 5 127 ff.; 7 120, 136 Regierungssystem 7 13 Reichsämter 7 8 Reichsgericht  8 8 Reichskanzler 7 8, 198 Reichskanzleramt 7 9

Sachverzeichnis Reichspräsident 5 12 ff., 61 Reichsrat 3 8 Reichsverfassung von  1871 7 8; 8 9 Reichsverfassung von Weimar (s. Weimarer Reichsverfassung) religiöse Beteuerung  7 89 Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland 5 26 ff. – nach außen  5 101 ff., 117 – nach innen  5 99 repräsentative Demokratie  1 12; 2 34, 51, 54 Reservefunktion des Bundespräsidenten 5 25, 123; 7 39, 147 Ressorts – Entwicklung eigenständiger – 7 9 – Verbot der Zusammenlegung  7 231 Ressortprinzip 7 310 ff. – Verhältnis zum Kanzlerprinzip  7 304 f. – Weisungsfreiheit  7 311 – zur Weimarer Zeit  7 8, 10 Richteranklage 5 195 Richtlinienkompetenz des Bundes­ kanzlers 7 7, 299 ff. – Außenwirkung  7 303 – bei geschäftsführender Bundes­ regierung  7 307 – Selbsteintrittsrecht des Bundes­ kanzlers  7 305 – Verhältnis zum Ressortprinzip  7 304 ff. Richtlinienkompetenz des Landesregierungschefs 3 96 Rücktritt 1 91 – des Bundeskanzlers 7 118 f. – des Bundespräsidenten 5 91 – eines Bundesministers 7 170 – eines Bundesverfassungsrichters  8 185 Sachverstand, externer  7 263, 265, 290 Sachverständigenrat für Umweltfragen  7 295 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage  7 291 Sainte Laguë / Schepers 2 84 Schiedsgerichtsbarkeit, internationale  8 39 SED-Opferbeauftragter 2 598; 7 286

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Selbstauflösungsrecht des Bundestags ​ 2 214 ff.; 7 138, 153 Selbstbefassungsrecht 8 45 Selbsteintrittsrecht des Bundeskanzlers ​ 7 305 Senat des Bundesverfassungsgerichts  8 194 ff. – Unabhängigkeit  8 195 – Vorsitz  8 225 – Zuständigkeit  8 197 ff. Senatsmodell 3 15 Soldat 7 238 Sondervotum 8 32, 283 f. Sozialstaatsprinzip 8 45 f. Sprecher der Bundesregierung  7 348 Staatshaftung und Entschädigung  7 196 Staatsleitung 1 45 f.; 2 54 ff.; 3 40; 7 4, 19, 325 f. Staatsleitung zur gesamten Hand  1 46; 2 54 Staatsminister 7 79, 256 ff. „Staatsnotar“ 5 24 ff., 110, 114, 136; 7 82 f. Staatsnotstand  3 251 Staatsoberhaupt (s. Bundespräsident) Staatsorgane 1 16 ff. – oberste – 1 44 – Rechtsfähigkeit  1 20 ff. – Verfassungsorgane  1 45 Staatsorganisationsrecht  1 80 ff. Staatsrechtslehre 8 140 ff. Staatssekretär 7 243 ff. – beamteter – 7 243 ff. – im Bundeskanzleramt  7 245 – im Deutschen Kaiserreich  7 8 – parlamentarischer – 7 246 ff. – Ernennung  7 251 – Kritik  7 357 – Sprecher der Bundesregierung  7 348 – Staatsminister  7 256 – Stellvertretung von Bundesministern  7 221 – Zuständigkeitsverteilung  7 250 Staatssymbole 5 164 ff. Staatsverwaltung 1 26 f. Staatsvolk 1 6 Stabilitätsrat 1 58 Ständiger Beirat  3 128

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Sachverzeichnis

Stasi-Unterlagen 2 598; 7 285 – Bundesbeauftragter für – 2 598 Stellvertretung 1 153 – der Bundesminister  7 185, 220 – des Bundeskanzlers 7 79, 161, 200 – des Bundespräsidenten  5 2, 89 Streitkräfte 2 52, 109, 588; 3 252; 7 108 Strukturbruch-These 3 59 ff. Subsidiaritätsklage 3 294 Subsidiaritätsprinzip  3 (EU) 280 f., 292 ff. Superrevisionsinstanz 8 127 Tierschutzkommission 7 295 Übereilungsschutz  7 128, 143 Überhangmandat  2 157 ff. – Ausgleichsmandat  2 158, 164 ff. – negatives Stimmgewicht  2 162 f. ultra vires-Akte  8 632, 638 Umlaufverfahren  7 181, 186 Umweltschutz (s. Umweltstaat, Tierschutz) ungeschriebenes Recht  1 158 Untersuchungsausschuss  2 443 ff. – Amtshilfe  2 456, 493, 495 – Aufgabe  2 448 – Befugnisse  2 485 ff. – Besetzung  2 471 – Beweiserhebung  2 441, 447, 455, 485 f., 492 ff., 500 f., 505 – Durchbrechung des effektiven Rechts­ schutzes  2 452 – Einsetzungsbeschluss  2 463 ff. – Geschichte  2 445 – Minderheitenschutz  2 449 – Minderheits-Enquête  2 462, 465 – Mitglieder  2 464 – Rechtsschutz  2 452, 494 ff. – Durchbrechung des effektiven Rechtsschutzes  2 452 – Untersuchungsgegenstand  2 468 ff., 473 ff., 7 227 – Untersuchungszweck  2 479 – Verfahren  2 498 ff. Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) 2 457 ff. – verfassungsrechtliche Bedenken  2 458 Untersuchungsgrundsatz  8 269 ff.

Untersuchungsrecht des Bundestags  2 89, 443; 7 23 Urkunde 7 112, 177 Urteil 8 277 Verantwortlichkeit, parlamentarische  3 95; 7 21 ff., 85, 226, 297 Verbandskompetenz (s. Verbandszuständigkeit) Verbandszuständigkeit 1 2; 7 17 Verbot ministerialfreier Räume  7 215 ff. – Ausnahmen  7 218 Verfahrensregeln, Bundesverfassungs­ gericht 8 247 ff. – Aktivlegitimation 8 350 – A-limine-Abweisung  8 257 – Antragserfordernis  8 252 ff. – Beurteilungsmaßstab  8 291 – Disposition über Antragsgegenstand  8 263 ff. – Entscheidung (s. Bundesverfassungs­ gerichtsentscheidung) – Formerfordernisse  8 256 – Grundsatz der Mündlichkeit  8 277 ff. – Grundsatz der Öffentlichkeit  8 272 ff. – Mehrheitserfordernisse  1 118, 124; 8 280 ff. – Prozessvertretung  8 260 ff. – Sondervoten  8 283 ff. – Untersuchungsgrundsatz  8  269 ff. – Verfahrensdauer  8 292 ff. Verfassung 1 4, 15 – der DDR  7 15 – Verhältnis von – und Gesetz  8 113 Verfassungsbeschwerde  8 24, 204 ff., 526 ff., 305 f. – allgemeines Rechtsschutzbedürfnis  8 579 – Annahmeverfahren  8 24, 31, 204, 539 ff. – Bedeutung  8 529 ff., 664 – Begründetheitsvoraussetzungen  8 584 ff. – Beschwerdebefugnis  8 562 ff. – Beschwerdefähigkeit  8 545 ff. – Beschwerdegegenstand  8 555 ff. – Europarechtsbezug  8 637 f. – Prüfungsmaßstab  8 588 f. – Rechtswegerschöpfung und Subsidiari­ tät  8 126, 536 f., 573 ff.

Sachverzeichnis – Suspensiveffekt  8 583 – Urteilstenor  8 305 ff. – verfassungsrechtliche Verankerung  8 533 ff. – Völkerrechtsbezug  8 516 – Zulässigkeitsvoraussetzungen  8 544 ff. Verfassungsentwicklung 2 1 ff.; 3 3 ff.; 5 8; 7 7; 8 5 ff. – im Deutschen Bund  2 8; 3 5; 7 9; 8 7 – im Deutschen Reich  2 16 ff.; 3 7; 5 10; 7 12; 8 9 – im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation 3 5; 8 3 – im Konstitutionalismus  2 6 ff. – im Nationalsozialismus  2 27 ff.; 8 13 – in der Weimarer Republik  2 20 ff.; 3 8; 5 12; 7 10, 183, 198, 288; 8 10 ff. – in Deutschland von 1945–1990  2 31 ff.; 3 10; 5 15; 7 13; 8 14 ff. – Paulskirchenverfassung  2 12 ff.; 3 6; 8 8 verfassungsgarantierte Ministerien  7 74, 229 Verfassungsgerichtsbarkeit 8 11 Verfassungsgeschichte (s. Verfassungs­ entwicklung) verfassungskonforme Auslegung  8 107 ff. – Abgrenzung  8 119 – durch Fachgerichte  8 117 – verfassungsändernder Gesetze  8 115 Verfassungsleben 1 1, 46, 159, 200 – informelle Strukturen  1 200 – Integrationslehre  1 46 – und Staatsleitung  1 46 – und Verfassungsorgane  1 1, 46 – und Verfassungsorgantreue  1 159 Verfassungsloyalität 8 400 Verfassungsorgan 1 44 ff.; 2 34 f., 36; 3 13, 17, 103; 4 1; 5 1; 6 1; 7 1 ff, 16; 8 20, 56, 60 ff. – Änderungsansätze  1 174 ff. – Amtswalter  1 33 – Arten  1 142 ff. – Begriff  1 44 ff. – Bestandsgarantien  1 178 ff. – Beziehung der – untereinander  1 149 ff. – Dauerhaftigkeit  1 146 – demokratische Legitimation  1 143 – Eigenschaften  1 64 ff.

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– Kompatibilitäten  1 152 – Kreation  1 68 ff. – Mehrheiten  1 112 ff. (s. auch Mehrheitsbegriffe) – Modernisierung  1 198 ff. – Organteil  1 39 – Organwalter  1 32 ff. – Rangfolge der -e  1 163 ff.; 2 34 ff. – Regelungsdefizite  1 187 ff. – Selbstbestimmungsrecht des Sitzes  1 106 ff. – Selbstorganisationsrecht  1 94 ff. – Sitz  1 108 – Stellung im Haushaltsplan  1 111 – Unterorgan  1 37 – verfassungsprozessuale Stellung  1 139 ff. – Zusammenwirken  1 154 ff. Verfassungsorgantreue 1 158 ff.; 5 98; 7 148, 324; 8 78, 85, 120 ff., 318, 327 Verfassungsprozessrecht 1 42; 3 31 verfassungsrechtliche Verträge  7 106 Verfassungsrechtswissenschaft 1 19; 8 140 ff. Verfassungstreue des Bundeskanzlers  7 38 Verfassungsvergleich 1 25 – grundgesetzinterner – 1 64 Verfassungsvorbehalt 7 15 Verfassungswirklichkeit 8 183 Verhältniswahlsystem (s. Bundestagswahl) Vermittlungsausschuss  1 56; 3 183 ff. Verschwiegenheitsvorschriften 1 72 Versteinerungsprinzip 7 163, 175 Verteidigungsausschuss  2 434 ff. – Entstehungsgeschichte  2 434 – Fragerechte  2 438 – Funktion  2 436 – Untersuchungsmonopol  2 439 ff. Verteidigungsfall 4 2, 30 ff.; 5 149 ff., 186 ff. Vertrauensfrage 1 90; 2 218 f., 615; 3 199; 5 127 ff., 185, 205; 7 24, 32, 70, 136 ff. – Arten – auflösungsgerichtete – 2 218 f.; 7 138 – echte – 7 137 – mehrheitssichernde – 7 137 – unechte – 7 137

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Sachverzeichnis

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Ermessen des Bundeskanzlers  7 146, 147 historischer Gebrauch  7 139 politische Lage der Instabilität  7 150 Rechtsfolgen – Bundestagsauflösung  7 69, 147 ff. – kommissarische Amtsführung  7 155 – negativ beantwortete – 7 146 – Verfahren  7 140 ff. – Antrag des Bundeskanzlers  7 140 – Frist  7 143 – verfassungsgerichtliche Kontrolle  7 153 Verwaltungsabkommen 3 240 Verwaltungsorganisation, hierarchische ​ 7 216 Verwaltungsverfahren 3 221, 238 – justizförmige Ausgestaltung des – 7 219 Verwaltungsvorschrift 3 223 ff. Verwerfungskompetenz 8 79 f. Verzögerungsbeschwerde 8 192, 210, 298 ff. Vetorecht – des Bundespräsidenten  7 45 – des Bundesrats  3 162, 191 Vizekanzler 7 200 (s. auch Stellvertreter des Bundeskanzlers) Völkerrecht und deutsches Verfassungsrecht – Bundespräsident  5 26, 109, 116 ff. – Bundesregierung  7 336 f. – Vertragsgesetz  8 437 völkerrechtliche Verträge  3 236; 5 116 ff.; 7 336; 8 437 vollziehende Gewalt  7 325, 359 Vorabentscheidungsverfahren  8 640 Vorschlagsrechte – der Bundestagsabgeordneten  7 56, 127 – des Bundeskanzlers  7 72, 127 – des Bundespräsidenten  5 185; 7 44 ff., 54

– Geheimheit der Wahl  1 73 – Mehrheitserfordernisse 1 115 Wählbarkeitsvoraussetzungen 1 77 – der Bundestagsabgeordneten  2 150 ff.; 7 35 – des Bundeskanzlers  7 35 ff., 44 – des Bundespräsidenten  5 45 Wahlprüfungsverfahren 2 177 ff. Wahlrecht (s. Bundestagswahl) Wahlwerbung 7 345 Wehrbeauftragter des Bundestages  1 43, 59; 2 588 ff. wehrhafte Demokratie  7 39 Wehrstrafgerichte 7 239 f. Weigerungsrecht des Bundeskanzlers  7 159, 176 Weimarer Reichsverfassung  2 20 ff.; 5 12, 15, 178; 6 2; 7 10 ff.; 8 10 – Abkehr von Regelungen der – 7 123 – Änderungen im Grundgesetz  7 13 – destruktives Vertrauensvotum 7 122 – Ministeranklage  7 26, 85, 122 – Notverordnungsrecht  2 24 – parlamentarische Demokratie  2 20 – politische Kultur  2 26 – Regierungssystem  7 10 f. – Reichskanzler  7 8, 198 – Staatsgerichtshof  8 10 – Verfassungsgerichtsbarkeit  8 10 Weimarer Republik  5 178 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand  8 32 Willensbildung des Volkes  7 342 Willkürkontrolle 8 129 „Wirtschaftsweisen“ 7 290 Wissenschaftliche Dienste des Bundestags 2 602 ff.

Wahl 1 68 ff. – der Bundesverfassungsrichter  3 169; 8 148 ff. – des Bundeskanzlers  1 88; 7 32 ff. – des Bundespräsidenten  5 44 – des Bundestags  2 148 ff. (s. Bundestagswahl)

Zentralkomitees der SED  7 14 Zusammentritt des neuen Bundestags  2 129, 200, 367; 7 114 Zuständigkeitsvermutung für die Bundesregierung 7 326, 334 „Zwillingsgericht“ 8 195