Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen: 40 Jahre Grundgesetz [1 ed.] 9783428469970, 9783428069972

155 60 24MB

German Pages 283 Year 1990

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen: 40 Jahre Grundgesetz [1 ed.]
 9783428469970, 9783428069972

Citation preview

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen 40 Jahre Grundgesetz

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 588

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen 40 Jahre Grundgesetz

Herausgegeben von

Ulrich Battis Ernst Gottfried Mahrenholz Dimitris Tsatsos

Duncker & Humblot - Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen: 40 Jahre Grundgesetz / hrsg. von Ulrich Battis . Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 588) ISBN 3-428-06997-8 NE: Battis, Ulrich [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Irma Grininger, Berlin 62 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06997-8

Vorwort

Die traditionelle Grenze zwischen der nationalen und der internationalen Dimension des Rechts, vor allem des Verfassungsrechts, wird durch die historische Entwicklung der Verfassung relativiert. Der Verfassungsstaat als die hergebrachte Grundlage für Demokratie und Freiheit bewegt sich von seinem nationalen Ursprung hin in den Bereich des Internationalen und erweist sich somit als Bestandteil einer immer deutlicher werdenden europäischen Rechtskultur. Aus dieser Perspektive gesehen, war für das Seminar für öffentliches Recht an der Fernuniversität Hagen das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 40 Jahren Anlaß, die Wirkungsmodalitäten und die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes und die dazu entwickelte staatsrechtliche Dogmatik in ausgewählten ausländischen Staaten sowie auf europa- und völkerrechtlicher Ebene zu untersuchen. Einbezogen wurde der Wirkungszusammenhang im Verhältnis zu drei Staaten - Österreich, Schweiz, Italien - , deren Verfassung und Verfassungsrechtssprechung in mancher Hinsicht Vorbild sowie im internationalen Gespräch der Verfassungsinterpreten zum Teil auch Gegenmodell waren. Das wichtigste Vorbild der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, der Supreme Court der Vereinigten Staaten, blieb ausgespart wegen der Fülle einschlägiger Untersuchungen. Ein weiterer Schwerpunkt der Tagung war die Verfassungsentwicklung in mediterranen Staaten mit relativ jungen Verfassungen - Griechenland, Türkei, Zypern, Spanien, Portugal - , ein anderer die Entwicklung in zwei ostasiatischen Staaten mit ausgeprägter eigener Kultur, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Einfluß der Vereinigten Staaten von Amerika ausgesetzt waren und zugleich traditionell enge Beziehungen zum deutschen Rechtssystem aufweisen (Korea, Japan).

6

Vorwort

Die Herausgeber danken allen Referenten und Diskussionsteilnehmern, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung der Tagung, der Fernuniversität für einen Druckkostenzuschuß sowie Frau Dr. Felkl, Frau cand. jur. Lampasone, Herrn Dr. Morlok und Herrn Ass. Hütz für die Vorbereitung und Durchführung der Tagung. Hagen/Karlsruhe im Oktober 1989 Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen. Eine Einleitung Von Dimitris Th. Tsatsos

9

Ausstrahlungswirkungen des deutschen Grundgesetzes auf die Schweiz. Ein Beispiel für weltweite Prozesse der Produktion und Rezeption „in Sachen Verfassungsstaat" Von Peter Häberle

17

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen. Bericht Österreich Won Bernd-Christian

Funk

53

40 Jahre Grundgesetz: Das Grundgesetz im internationalenWirkungszusammenhang der Verfassungen. Bericht Italien Von Dian Schef old

69

Kommentar zum Bericht Italien Von Paolo Ridola

81

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen. Bericht Spanien Von Pedro Cruz Vxllalòn

93

Der Einfluß des deutschen Grundgesetzes auf das portugiesische Verfassungsrecht Von Marcello de Sousa

109

Der Einfluß des Grundgesetzes auf die griechische Verfassung Von Georgios Papadimitriou

117

Einwirkungen des Grundgesetzes und der dazu entwickelten Verfassungswissenschaft auf die Verfassungsentwicklung in der Türkei Von ÜlküAzrak

131

Das Demokratieprinzip im Föderalisierungsprozeß der Republik Zypern Von Christodoulos Yallourides

143

8

Inhaltsverzeichnis

Einwirkungen des Bundesdeutschen Verfassungsrechts und der Verfassungslehre Polnische Perspektive Von Zdzislaw Kedzia

155

Das Bonner Grundgesetz und die koreanischen Verfassungen Von Hyo-Jeon Kim

175

Die Wirkung der deutschen Verfassungsrechts Wissenschaft auf Praxis und Lehre der japanischen Verfassung. Betrachtet im historischen Kontext Von AkiraMorita

189

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang Von Christoph Gusy

207

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Europarecht im Lichte des Grundgesetzes und seiner Dogmatik Von Manfred Zuleeg

227

Podiumsdiskussion am 15. April 1989 unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts E.G. Mahrenholz, Karlsruhe 247 Schlußwort Von Ulrich Battis Autoren- und Diskussionsteilnehmer

279 282

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen Eine Einleitung Von Dimitris Th. Tsatsos

I. Einleitung

1. Anlaß für die Veranstaltung, deren Erträge im vorliegenden Band enthalten sind, ist die nunmehr 40-jährige Geltung des Grundgesetzes. 40 Jahre der Geltung und man darf wohl doch sagen: der grundsätzlichen Beachtung einer Verfassung, stellen im Zeitalter der totalen Infragestellung von Grundwerten eine kulturgeschichtliche Leistung dar. Zwar kann sich unser Grundgesetz - in dieser Hinsicht - nicht mit altehrwürdigen Verfassungen, wie etwa der der Vereinigten Staaten oder der Belgiens messen, aber für die, nun einmal schwierige, deutsche Verfassungsgeschichte der letzten 200 Jahre stellen 40 Jahre einer freiheitlichen Verfassung eine beachtliche Zeitspanne dar. Mehr als eine Generation ist unter dem Grundgesetz groß geworden, mehr als eine Generation von Wissenschaftlern und Praktikern hat sich um die Aneignung dieser Verfassung bemüht. Und das Wichtigste: Mehr als eine Generation von Politikern hat sich um die Konkretisierung dieser Verfassung durch Politik bemüht. Bei dieser Bemühung war das Grundgesetz Grundlage, aber auch Grenze ihres demokratischen Kon tes. Anders ausgedrückt: Das Grundgesetz ist grundsätzlich vom politischen Willen der Bundesrepublik Deutschland getragen1. 2. 40 Jahre - das ist ein Anlaß zum Feiern. Allerdings - Parallelen zum Leben eines Menschen liegen da nicht fern - sind 40 Jahre auch Anlaß, innezuhalten, kritisch zu prüfen, ob das, was bislang geworden ist und was eine Selbstverständlichkeit geworden ist, so auch gut ist, ob es nicht Gründe für Änderungen, andere Akzentsetzungen oder gar grundlegend Neues gibt. 3. Diese Zeilen schreibe ich als deutscher akademischer Lehrer, dem dieser Staat Lehre und Forschung, auch des deutschen Staatsrechts, anver1 Siehe etwa R. Herzog, Art. „Grundgesetz", in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. I, Sp. 1024 (1211 ff.).

10

Dimitris Th. Tsatsos

traut hat In diesem Sinne möchte ich fortsetzen: Die 40 Jahre der Verfassungsstaatlichkeit von 1949 bis heute sollen keine abgeschlossene Epoche bilden, sondern mögen möglichst lange ihre Fortsetzung in die Zukunft hinein finden. Eben deswegen, weil wir es nicht bei 40 Jahren Verfassungsstaatlichkeit belassen wollen, möchten wir die enge Perspektive des eigenen Landes übersteigen und das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen diskutieren. Π. Ziel der Verfassungsvergleichenden Bemühungen und deren Voraussetzungen 1. Die Rechtsordnungen, die von namhaften Vertretern der Verfassungsrechtswissenschaft präsentiert werden, unterscheiden sich in ihren Verfassungen teils mehr, teils weniger. Dafür aber gibt es eine Menge ähnlicher, sogar identischer Probleme auf der Ebene der Politik. Daraus ergibt sich auch die Motivation für die Thematik dieser Veranstaltung: Wir möchten etwas lernen. Die Wirkungen, die das Grundgesetz anderwärts gehabt hat, ebenso wie die fehlende Resonanz des Grundgesetzes überhaupt, wie einzelner seiner Institutionen, sind aufschlußreich für den deutschen Verfassungsjuristen. 2. Allerdings: Aus der Rechtsvergleichung ist bekannt, daß man von anderen Rechtsordnungen zumal dann etwas lernen kann, wenn eine gewisse Mindestähnlichkeit der Problemlage und der Rechtsordnungen, die man miteinander in Beziehung setzt, vorhanden ist. Häufig wird dies auf die Formel gebracht, daß die sog. „Vergleichbarkeit", eine Voraussetzung ertragreicher Rechtsvergleichung sei 2. Im Grunde aber dürfte diese Voraussetzung fruchtbarer Vergleichung in der Tat bestehen. 3. Das Verfassungsrecht wie auch die gegenwärtige Situation sind durch Besonderheiten ausgezeichnet, die den Dialog der Verfassungsrechtler verschiedener Länder miteinander von vornherein nützlich erscheinen lassen. Man könnte vor allem an folgende Punkte denken: a) Wichtige Grundbestimmungen der Verfassung sind oft in einer sehr abstrakten Sprache formuliert. Sie sind zudem in relativer Isolation vom übrigen Rechtssystem des Landes, dem sie ja übergeordnet sind, so daß die 2 Vgl. etwa D. Th. Tsatsos, Zu einer gemeinsamen europäischen Parteienrechtskultur?, DOV 1988, 1 (2); R. Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 431 (437); J. Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), 391 (397 f.); siehe weiter zum Problem M. Morlok, Rechtsvergleich auf dem Gebiet der politischen Parteien, in : D. Th. Tsatsos/D. Schefold/ H.-P. Schneider (Hrsg.), Parteirecht im europäischen Vergleich, 1989, 14. Kap., § 1 III. = S. 703 ff. (speziell zur Parteirechtsvergleichung).

Das Grundgesetz im Wirkungszusammenhang der Verfassungen

11

Technizität des jeweiligen Rechtssystems sich in der Verfassung nur begrenzt wiederfindet. Dies befreit den Austausch auf der Verfassungsebene von den Komplikationen des Details des einfachen Rechts.

b) Wichtiger noch ist ein weiteres: In der Verfassung werden maßgebliche Grundfragen politischer Herrschaft behandelt3. Diese Grundfragen der Begründung und der Begrenzung legitimer Herrschaft, der Rationalisierung der Staatstätigkeit, d. h. der Sicherung von Freiheitsrechten gegenüber dem staatlichen Zugriff, sind wesentliche Zielsetzungen einer gerechten Ordnung und verlangen überall organisatorische und prozedurale Vorkehrungen, um eine solche Ordnung zu verwirklichen. Es geht vor allem um Grundfragen, die in der Geschichte der verschiedenen Völker seit langem diskutiert werden und die in ihrer Grundsätzlichkeit fast als universale Probleme, jedenfalls einer neuzeitlichen Gesellschaft, verstanden werden können. Man denke an ein Beispiel aus dem „Federalist"4: Wenn es im amerikanischen Federalist heißt, daß, wenn die Menschen Engel wären, es keine Regierung und es keine Gesetze bräuchte, daß aber, weil auch die Regierenden keine Engel sind, eine Verfassung nötig ist, so drückt dies eine Einsicht aus, die unschwer universalisierbar ist. Das Nachdenken über die Verfassung erweist sich, so betrachtet, als eine besondere Sparte des Nachdenkens über die vernünftige und gerechte Ordnung der Gesellschaft nünftigkeit und Gerechtigkeit aber waren und sind keine Gegenstände, die in nationaler Sonderung erörtert werden müßten oder auch nur erörtert werden könnten. Über diese Grundfragen gewinnt aber die Verfassungstheorie eine gemeinsame Ebene der Diskussion zwischen den verschiedenen Staaten5. c) Die Auseinandersetzung mit diesen Grundfragen der Verfassung erfolgt oft nicht in einer technischen Form, oft nicht einmal bevorzugt in fachjuristischer Gestalt. Vielmehr bilden die für die Verfassungsentwicklung bestimmend gewordenen Momente Elemente der allgemeinen - die Gäste aus Fernost mögen meine Unkenntnis ihrer Tradition entschuldigen abendländischen Tradition und sind, ihrer wesentlichen Existenzweise nach, kulturelle Errungenschaften! Das Primäre sind nicht Verfassungstexte mit ihren Absätzen und Halbsätzen, wirkmächtig war und ist vielmehr die Idee der Menschenrechte, das Konzept der Gewaltenteilung, das Ordnungs3 Vgl. für das so verstandene „Wesen des Konstitutionalismus" etwa C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, passim, etwa 26 ff. t oder K. Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, passim, etwa 127 ff. 4 A. HamiltonJJ. Madison!J. Jay, The Federalist, Nr. 51. s Siehe dazu etwa das eindrucksvolle Panorama, das P. Häberle entwirft über „1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaats44, JÖR N.F., 37 (1989), 35 ff.; vgl. für das Parteienrecht D. Th. Tsatsos, Zu einer gemeinsamen europäischen Parteienrechtskultur?, DÖV 1988, 1 ff.

12

Dimitris Th. Tsatsos

muster des Bundesstaats, die seit der antiken Polis überlieferte Erfahrung der Förderlichkeit einer zeitlichen Beschränkung von Machtbefugnissen, die aus dem konfessionellen Bürgerkrieg mühsam erwachsene Beschränkung des Staats in weltanschaulichen Fragen u. a. m.: All dies ist neben, ja vor seiner rechtstextlichen Fixierung ein Bestandteil unserer, und ich darf wohl sagen: gemeinsamen Kultur geworden. Die Gedankenwelt von Peter Häberle stützt meine Einsicht: Verfassungsvergleichung wird insoweit Kulturvergleichung, Verfassungslehre wird Kulturwissenschaft6. Die Internationalität der Verfassungsentwicklung ist also gerade dieser Existenz der Errungenschaften der Verfassungsstaatlichkeit

kulture geschu

d) Aus den eben genannten Gründen dürfte die für den Verfassungsvergleich notwendige Voraussetzung der Ähnlichkeit der miteinander verglichenen Verfassungsordnungen vorliegen. Hinzu kommt ein weiteres: Wir beobachten in den verschiedenen Lebensbereichen eine zunehmende Annäherung der Verhältnisse in den verschiedenen Ländern. Wirtschaft - auch ich kann mir das allfällige Stichwort vom gemeinsamen Binnenmarkt in der europäischen Gemeinschaft hier nicht verkneifen - , Kultur, Politik, nicht zuletzt auch, und auch vermittelt durch die Medien, nähern sich in nicht zu übersehender Weise in verschiedenen Gesellschaften einander an. Der Bestand an Gemeinsamkeiten, mindestens an Ähnlichkeiten, nimmt zu Damit wird unsere Voraussetzung der Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit auch in wachsendem Maße erfüllt. Eine Art von Konvergenztheorie kann also der vergleichenden Verfassungslehre zugrundegelegt werden.

ΠΙ. Die Internationalität der Verfassungsentwicklung 1. All dies zusammengenommen begründet eine gewisse Internationalisierung der Verfassungsentwicklung. Es gibt einen Bestand von als lösungsbedürftig angesehenen Problemen und von darauf bezogenen verfassungsrechtlichen Instituten. Die Beschränkung der Legislaturperiode des Parlaments, die 24 (oder wieviel Stunden auch immer)-Stundenregel für die richterliche Überprüfung einer Verhaftung u. ä. m., auch ungelöste oder in verschiedenen Ländern unterschiedlich gelöste Probleme wie dasjenige der Zuordnung von Parlament und einem Verfassungsgericht, die Garantie von Freiheitsrechten und die damit konfligierende Notwendigkeit auch intensiver Eingriffe von Gesetzgeber und Verwaltung in die gesellschaftlichen Verhältnisse u. a. m., begegnen uns in ganz ähnlicher Form in den verschiedensten Ländern; die jüngsten Herausforderungen, die uns der Umweltschutz und die Möglichkeiten der Gentechnik stellen, nicht zu vergessen. 6

P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982

Das Grundgesetz im Wirkungszusammenhang der Verfassungen

13

Nicht nur die Tradition, sondern auch die Gegenwart und wohl auch verstärktem Maße die Zukunft der Entwicklung des Verfassungsstaats sen eine Internationalst auf

2. Sicher: Es gab - und es wird immer geben - nationale Anstöße, politische Besonderheiten, historische Eigentümlichkeiten in einem Land. Aber dennoch, nach rund 200 Jahren der modernen verfassungsstaatlichen Entwicklung, zeichnet sich ab, daß wir mit der Idee der Verfassungsstaatlich' keit und seinen - ich wiederhole: notwendigerweise - verschiedenen Konkretisierungen, es mit einer im Grunde einheitlichen Bewegung zu tun haben. Im Jahr der 200-jährigen Wiederkehr der Französischen Revolution darf die Diskussion um den französischen Charakter oder den atlantischen Charakter dieses Ereignisses7 im Blick auf die Verfassungsentwicklung im Hegel'sehen Sinne aufgehoben werden: Die Verfassungsentwicklung ist eine breite und variantenreich sich vollziehende Entwicklung, die in ihren Motiven, in ihren Interdependenzen und in ihren Zielen aber letztlich als einheitliche zu begreifen ist. Es geht um das universale Projekt des Verfa sungsstaats! Gerade darauf sollte man die Diskussion des deutschen Beispiels beziehen. Letztlich, zumal in internationaler Runde, geht es uns nicht um das bundesdeutsche Grundgesetz, sondern um die Pflege und Fortentwicklung der Verfassungsstaatlichkeit überhaupt - hier erörtert am B spiel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland! 3. Das Wort vom „Verfassungsstaat in seiner Gesamtheit" signalisiert eines sicher nicht: Es signalisiert keine Illusion von einer Vereinheitlichung der Verfassungsentwicklung. Sie ist auch gar nicht wünschbar, weil die Vielfalt der Bemühungen, die Vielfalt der Erfahrungen und die Vielfalt der Anstöße Garanten dafür sind, daß die Entwicklung in einer gefahrenreichen inneren und äußeren Situation genügend Anstöße und Erkenntnisse, mindestens Erfahrungen gewinnt, die eine Chance für die erfolgreiche Bewältigung der Zukunft mit sich bringen. IV. Eine Fragestellung aus der Sicht des Grundgesetzes I. Ich kann die Gegenstände, denen die Aufmerksamkeit der ausländischen Autoren dieses Bandes in besonderem Maße gilt, nicht vorwegnehmen. Gespannt ist aber sicher der deutsche Verfassungsjurist auf Fragen wie z.B. die folgenden: Was am Grundgesetz findet im Ausland besondere Aufmerksamkeit? Was hat eine gewisse Plausibilität und Überzeugungskraft, was leuchtet nicht ein, was erscheint zweifelhaft? Daß eine verfas7 Das Stichwort zu dieser Diskussion hat gegeben R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution, Bd. 1, 1959, Bd. 2, 1964.

14

Dimitris Th. Tsatsos

sungsrechtliche Regelung anderwärts rezipiert wurde oder als Anregung für ein bestimmtes Regelungsziel diente, ist aus deutscher Sicht mindestens ebenso spannend wie die Verwerfung einer solchen Übernahme. Wenn ich einige Elemente des Grundgesetzes benennen sollte, bei denen ich mir vorstellen könnte, daß sie anderwärts mindestens Interesse hervorgerufen haben, so möchte ich (u. a.) nennen, die Menschenwürdigkeitsklausel, insbesondere ihre Voranstellung in der Verfassung als programmatische Aussage, die Institution des nur konstruktiven Mißtrauensvotums, den Föderalismus, die Institutionalisierung der politischen Parteien und die Verfassungsgerichtsbarkeit. 2. Eine zweite Frage gilt den Wegen der Wirkung, die von einer Verfassungsordnung auf eine andere ausgehen. Bei welcher Gelegenheit finden Anleihen oder reflektierte Verwerfungen statt? Ist die Verfassungsgebung der entscheidende Prozeß, oder ist es die alltägliche Verfassungsinterpretation - oder ist gar diese Unterscheidung in ihrer Striktheit unangemessen?8 Welches sind die Vermittler eines solchen Austausches? Ist es die Politik, ist es die Wissenschaft, oder ist es das durch die Massenmedien gegebene Bild von unseren Nachbarn in seiner Gesamtheit, das auch die rechtskulturellen Errungenschaften weitervermittelt? Der angelsächsische, insbesondere der US-amerikanische Strafprozeß, hat auf diese Weise ja weltweit Beachtung gefunden. 3. Die moderne Verfassungsstaatlichkeit wäre auch danach zu hinterfragen, welche Erfolgsvoraussetzungen sie für bestimmte verfassungsrechtliche Institutionen bietet. Aus der Sicht der Bundesrepublik ist die Ablehnung eines Musters, das wir in unserer Verfassung pflegen, ein Anlaß, darüber nachzudenken, ob dies bei uns tatsächlich (noch) angemessen ist. Nicht zuletzt interessiert auch die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer Synthese. Gibt es „reine" Systeme der Verfassungen, oder waren die verschiedenen Verfassungen, immer schon und sind es zunehmend, stärker durchmischte Variationen beim Versuch der Verwirklichung de des Verfassungsstaats? V, Die politische Dimension der Verfassung 1. Eine wesentliche Dimension des Verfassungsrechts habe ich bisher noch nicht angesprochen: es ist die politische. Wir alle wissen - einige sogar geben es zu - , Verfassungsrecht ist politisches Recht9. Oder, wie ein 8 So P. Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, 182 ff. 9 R. Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, 68 (82); H. Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, WDStRL 5 (1929), 2 (7 ff., bes. 8).

Das Grundgesetz im Wirkungszusammenhang der Verfassungen

15

Großer des griechischen Staatsrechts gesagt hat: Verfassung ist die Technik der politischen Freiheit10. Auch dies gilt es immer zu bedenken. 2. Die Anerkennung des politischen Charakters der Verfassung verdrängt ihre rechtliche Dimension nicht. Im Gegenteil, sie ist Voraussetzung für ihre politisch verantwortliche Auslegung. Ob man es zugibt oder nicht: Der Auslegungsprozeß setzt eine prohermeneutische Wertentscheidung voraus11. Die verfassungswissenschaftliche Diskussion ist somit dadurch ausgezeichnet, daß sie rational über die politischen Gehalte, die Voraussetzungen und die Grenzen einer Verständigungsfähigkeit in Verfassungsfragen auch bei politisch unterschiedlichen Auffassungen diskutieren kann. Auch dieser Aspekt ermutigt zur Verfassungsvergleichung. 3. Die vergleichende Verfassungsbetrachtung hat darüber hinaus einen weiteren politisch wichtigen Aspekt. Die internationale Einbindung der Verfassungsdiskussion stellt auch eine Sicherheit gegen national mögliche Regressionen oder Abirrungen von der Verfassungsstaatlichkeit dar. internationalen Gespräch herausgearbeiteten gefestigten Standards der Verfassungsstaatlichkeit sind so in gewissem Maße gegen nationale Aushöhlungen gesichert Man sollte also ein gewisses Vertrauen in die Sicherung der Verfassungsstaatlichkeit durch den international geführten Verfassungsdiskurs setzen. VI. Schlußwortbemerkung 1. Was erwarten die Herausgeber dieses Bandes also? Mit einem Wort: Belehrung, wir möchten von den ausländischen Erfahrungen lernen. Lernen, um bei unserer Arbeit am Grundgesetz einigermaßen erfolgreich zu sein in den bevorstehenden Jahren. 2. Die an diesem Projekt mitwirkenden herausragenden Vertreter der Verfassungsrechtswissenschaft verkörpern die Erfahrung, die man in deren Land - und oft nicht nur in deren Land - mit dem Vorhaben der Verfassungsstaatlichkeit gemacht hat. Der deutsche Verfassungsjurist hofft, daß sie ihm die Außensicht auf die deutsche Verfassungsstaatlichkeit geben. Unsere Aufgabe ist es dann, diese Außensicht in unsere Innensicht zu integrieren. Auch die Außensicht auf unsere Innensicht bildet einen wesentlichen Prüfstein für die Angemessenheit unserer Bemühungen um das Grundgesetz. Dabei geht es zunächst nicht um Institutionen, die immer historisch partikular verwurzelt sind, sondern zunächst um Ideen und Regelungsmu10 Siehe A. Manessis, Die Verfassung als Technik der politischen Freiheit (giiech.), 1962, jetzt auch in ders., Verfassungstheorie und Praxis (griech.) 1980, S. 1 ff. 11 Vgl. D. Th. Tsatsos, Verfassungsrecht, Band I (griech.) 1985, 148 ff.

16

Dimitris Th. Tsatsos

ster. Wenn der Gegenstand unseres Treffens das Grundgesetz ist, so bildet dieses nur das Exempel, das uns als Gesprächsgegenstand dient. Die Arbeit am Grundgesetz soll uns aber i. S. des pars pro toto eine Arbeit am Projekt der Verfassungsstaatlichkeit schlechthin sein.

Ausstrahlungswirkungen des deutschen Grundgesetzes auf die Schweiz Ein Beispiel für weltweite Prozesse der Produktion und Rezeption „in Sachen Verfassungsstaat" Von Peter Häberle

Vorbemerkung

Der mir anvertraute Bericht über die Ausstrahlungswirkung des deutschen GG auf die Schweiz ist zwar nur ein „Länderbericht" unter vielen, doch setzt auch er einen Theorierahmen voraus, der unter A. als „Allgemeiner Teilu offengelegt sei, zumal er schon 1985 für die neuen Schweizer Kantonsverfassungen seit 1965/68 und ihre nationalen und internationalen Wirkungszusammenhänge bis hin zu den neuen Verfassungen von Portugal und Spanien (1976/78) entwickelt worden ist1. Das „Raster" will in dem Maße Allgemeingültigkeit beanspruchen, wie Verfassungslehre heute „allgemein" sein kann: weil und insoweit sie den Typus „Verfassungsstaatu in begrenzter Abstraktion als Subjekt und Objekt eines offenen „Geflechts44 internationaler Beziehungen und weltweiter Prozesse des Gebens und Nehmens sieht, so „individuell44-konkret jeder einzelne nationale Verfassungsstaat in seinen Verfassungstexten und ihren kulturellen Kontexten als Realbeispiel des Idealtypus „Verfassungsstaat44 ist2.

1 Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff. 2 Die folgenden Verfassungstexte sind zit. nach: JöR 26 (1977), S. 369 ff. (Verf. Schweden von 1974/76); JöR 29 (1980), S. 252 ff. (Spanien von 1978); JöR 32 (1983), von 1983); ebd. S. 361 ff. (Griechenland von 1975); ebd. S. 277 ff. (Niederlande S. 446 ff. (Portugal von 1976/82); ebd. S. 552 ff. (Türkei von 1982); JöR 34 (1985), S. 424 ff. (Schweiz); JöR 36 (1987), S. 641 ff. (Peru von 1979); ebd. S. 555 ff. (Guatemala von 1985). Die übrigen Verfassungstexte sind entnommen: P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975; Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1988. 2 Battis/Tsatsos/Mahrcnholz

18

Peter Häberle

A. Allgemeiner Teil: Der allgemeine Theorierahmen für weltweite Produktionsund Rezeptionsvorgänge „in Sachen Verfassungsstaat"

In drei Schritten sei der Theorie-Rahmen entfaltet: - durch Schilderung der Wachstums- und Entwicklungsvorgänge des Verfassungsstaates als Typus, greifbar in der im kulturwissenschaftlichen Ansatz gewagten Textstufenanalyse (I) - durch Skizzierung der Produktions- und Rezeptionsebenen, der Austauschwege, der Verfahren des „schubweisen Stoffwechsels" zwischen den einzelnen Beispielsverfassungen (II) - durch inhaltliche Beispiele, kristallisiert in neueren Texten und Themenfür diese Prozesse des Gebens und Nehmens unter den einzelnen Verfassungsstaaten (III). Dieser „Dreischritt" wird in „Konsequenzen" (IV) münden, die in der These gipfeln: Die „offene Gesellschaft der Verfassungsgeber und -interpreten" ist international und universal (geworden). Damit ist der Boden bereitet für den besonderen Teil44 Β - das Beispiel Grundgesetz/Schweiz. Sowohl in den Inhalten als auch in den „Austauschverfahren" bestätigt er die Aussagekraft des Theorierahmens; zugleich zeigt sich aber auch eine Relativierung: Wenn hier und heute der Blick auf die Einflüsse des GG als lebende Verfassung auf die Schweiz gerichtet wird, so ist dies nur ein Ausschnitt sehr viel komplexerer Zusammenhänge: Die Schweiz steht noch in anderen Einflußzonen (etwa aus Frankreich über die welsche Schweiz), umgekehrt beeinflußte die Schweiz Deutschland, vor allem deutsche Länderverfassungen nach 1945 wie Bayern (1946), und ihre Staatsrechtslehre3 strahlt zunehmend auf GG-Wissenschafi wie schon früher auf die Ycrìassungsrechtsprechung des BVerfG (ζ. B. in Sachen Gleichheitssatz = Willkürverbot) aus4.

3

Dazu D. Schindler jr., Die Staatslehre in der Schweiz, JöR 25 (1976), S. 255 ff. Dazu K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (177 f.). 4

Das Grundgesetz — Bericht Schweiz

19

I. Wachstums- und Entwicklungsprozesse des typus „Verfassungsstaat" im gemeineuropaisch/atlantischen Kontext von 1776/1789/1848 etc. Der Typus Verfassungsstaat ist das Ergebnis von und zugleich das Forum für gemeineuropäisch/atlantische Wachstums- und Entwicklungsprozesse. Seine (Verfassungs)Texte sind im Kontext großer Daten wie 1776 (Virginia Bill of Rights), 1789 (Französische Revolution) und 1848 (Paulskirche) „geworden", wobei viele weitere Jahreszahlen relevant waren und sind: ältere, etwa 1689 („Glorious Revolution") oder 1831 (Verfassung Belgien) und neuere wie 1947 (Verf. Italien) sowie die „Welle" jüngerer Verfassungen in Europa (beginnend mit Schweden: 1974, Griechenland: 1975, bis hin zu den Niederlanden: 1983). Schon diese Daten erinnern an vielseitige klassische Wirkungszusammenhänge, etwa zwischen der amerikanischen und der französischen Revolution im 18. Jahrhundert, und heute dürfte der ideelle und reale Austausch zwischen den einzelnen Verfassungsgebern weltweit noch intensiver und dichter geworden sein. Der Typus Verfassungsstaat ist an seinen Verfassungstexten im engeren Sinne, den Texten der Verfassungsurkunde, zu greifen und zu begreifen, er ist aber auch in den sog. Verfassungstexten im weiteren Sinne lebendig und präsent; gemeint sind die Klassikertexte5 eines J. Locke und Montesquieu zur Gewaltenteilung, eines J.-J. Rousseau zur Volkssouveränität, eines /. Kant zur Menschenwürde. Aus den USA gehören seit 1787 die „Federalist Papers" hierher. Sie sind ebenso „mitzulesen" wie moderne Klassiker, vielleicht H. Jonas und sein „Prinzip Verantwortung", schon heute in bezug auf die Verantwortung für spätere Generationen (so jetzt ausdrücklich manche neuere Verfassungstexte)6 mitzudenken sind. So offen sowie erweiterungsfähig und -bedürftig die „positiven" Verfassungstexte um solche und andere kulturelle Kontexte sind, - große Leitentscheidungen können hinzuwachsen (etwa in den USA Marbury vs. Madison von 1803 zum richterlichen Prüfungsrecht oder die Pionierurteile des BVerfG wie das Lüth-Urteil (E 7, 198) - , in spezifischer Weise ist das „Gewächs" Verfassungsstaat als Typus wie in seinen nationalen (oder im Bundesstaat auch einzelstaatlichen) Beispielen in den Verfassungstexten i. e. S. greifbar. Diese Texte sind kulturelle Kristallisationen, Objektivationen komplexer Vorgänge der nationalen und transnationalen Produktion und 5

Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. Beispiele: Art. 141 Abs. 1 n.F. Verf. Bayern: „Verantwortung für die kommenden Generationen". Ähnlich Präambel Verf. E. Kölz/Müller (1984). Dazu P. SaladinJC. A. Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988, S. 63 ff. 6

2 ·

20

Peter Häberle

Rezeption. Die als juristische Text- und Kulturwissenschaft gewagte Verfassungslehre7 konzentriert sich auf die Entwicklungen auf Text-Ebene bzw. in Textformen. Sie kann Textstufen, etwa beim Thema Eigentum und Arbeit, Kunst und Wissenschaft beobachten8, aber auch die „Ewigkeitsklauseln" in Norwegen (1814) bis zu den neuen Verfassungen in Portugal und Spanien (1976 bzw. 1978/82)9, bei Aussagen zur verfassungsgebenden Gewalt des Volkes10 oder bei neuen Figuren wie „kulturelle Erbes-KlauselnM und Grundrechtsverwirklichungs-Artikeln seit Art. 3 Verf. Italien von 1947 und Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien von 197811. Diese Verfassungstexte sind oft Antworten auf Verfassungsentwicklungen, die sich in anderen Verfassungsstaaten noch nicht zur Textform kristallisiert haben, sei es, daß sie bloße „Verfassungswirklichkeit" sind, sei es, daß „erst" Urteile von Verfassungsgerichten vorliegen oder materielle Verfassungsentwicklungen sich bisher nur auf Gesetzgebungsebene ankündigen. Die spätere Textgestalt in einem Verfassungsstaat ist erst das schließliche Ergebnis von früheren Entwicklungs-, ja Reifeprozessen im anderen, dessen Verfassungsurkunde älter ist. Hier einige Beispiele12: So hat Verf. Italien von 1947 wohl erstmals gleichzeitig mit Verf. Baden von 1947 (Abschnitt IX) die politischen Parteien in einem eigenen Artikel von der positiven Seite her „konstitutionalisiert", während die WRV sie bekanntlich noch negativ ins Visir nahm (Art. 130 Abs. 1 Beamte: „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei"). In neueren Schweizer Verfassungen und Verfassungsentwürfen ist die „Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren" in Textform gegossen worden, die in der deutschen Staatsrechtslehre diskutiert wurde („Status activus processualis")13 und sich im Mühlheim-Kärlich Urteil des BVerfG (E 53, 30 und SV S. 69 ff.) niedergeschlagen hat. M. a. W.: Erst die Zusammenschau der Texte vieler Beispielverfassungen läßt erkennen, was der Verfassungsstaat als Ideal- und Realtypus heute ist, 7

Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, und weitere Entfaltungen, etwa „Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 ff.; ders., Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, eine vergleichende Textstufenanalyse, AöR 112 (1987), S. 54 ff. 8 Dazu die Belege in meinen Beiträgen in AöR 109 (1984), S. 36 ff. (Eigentum), ebd. S. 630 ff. (Arbeit), AöR 110 (1985), S. 329 ff. (Wissenschaft), ebd. S. 577 (Kunst). 9 Dazu mein Beitrag: Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, FS Haug, 1987, S. 81 ff. 10 Dazu die Belege in AöR 112 (1987), S. 54 (59 ff.). 11 Nachweise in meinem Beitrag in: FS D. Schindler und U. Häfelin, 1989 i.E. 12 Weitere Nachweise in meinem Beitrag in FS K. J. Paitsch, 1989, i.E. 13 P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, WDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff., 121 ff).

Das Grundgesetz — Bericht ch

21

und erst die Textsta/enbetrachtungen, d. h. die Vergleichung in der historischen und kontemporären Dimension vermittelt ein ganzes Bild. So ist der Bogen heute bis zur neuen Verfassung von Guatemala zu spannen: Was sie 1985 in Textform goß, ist dort vielleicht noch Utopie, in alten Verfassungsstaaten aber schon Realität, Verfassungswirklichkeit ohne die formelle Textgestalt! Elemente des Typus Verfassungsstaat als einer offenen Gestalt sind: die Menschenwürde als Prämisse, erfüllt aus der Kultur eines Volkes und universalen Menschheitsrechten, gelebt aus der Individualität dieses Volkes, das seine Identität in geschichtlichen Traditionen und Erfahrungen und seine Hoffnungen in Wünschen und im Gestaltungswillen für die Zukunft findet; das Prinzip der Volkssouveränität, aber nicht verstanden als Kompetenz zur Beliebigkeit und als mystische Größe über den Bürgern, sondern als Formel zur Kennzeichnung des immer neu gewollten und öffentlich verantworteten Zusammenschlusses; die Verfassung als Vertrag, in deren Rahmen Erziehungsziele formuliert und Orientierungswerte möglich und notwendig sind; das Prinzip der Gewaltenteilung im engeren staatlichen und weiteren pluralistischen Sinne, das Rechtsstaats- und Sozialstaats-, aber auch das (offene) Kulturstaatsprinzip, Grundrechtsgarantien, Unabhängigkeit der Rechtsprechung etc. All dies fügt sich zu einer verfaßten Bürgerdemokratie mit dem Pluralismus als Prinzip. Der für die Aufdeckung der Wirkungszusammenhänge unter den heutigen Verfassungsstaaten und die Inhalte wesentliche kulturwissenschaftliche Ansatz meint: Mit „bloß" juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren - sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen 14. Den ersten Zugriff auf den Typus„Verfassungsstaat" eröffnen die „idealen" Texte und sie führen sogar in die reale Tiefe: insoweit sie nach und nach Realitäten bzw. Entwicklungstendenzen im Vergleich und in Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsstaaten auf den Begriff bzw. in Form und Gestalt bringen (dazu später).

14

Dazu schon P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 19.

22

Peter Häberle

Π. Wege der Produktion und Rezeption, „Austausch-Wege", Verfahren „schubweisen Stoffwechsels" zwischen den Beispielsverfassungen des Typus Verfassungsstaat Die Entwicklungsstufen des Verfassungsstaates, die sich früher oder später in mindestens einer Beispielsverfassung formal-textlich niederschlagen, gewinnen ihre Themen aus einem komplexen Wirkungszusammenhang, an dem alle Beispielsverfassungen mehr oder weniger schöpferisch bzw. rezeptiv raumübergreifend und zeitüberspringend beteiligt sind. Ein „Modell", ein „Theorieraster" für die oft diffus erscheinenden, im ganzen aber nachweisbaren Austausch-Prozesse kommt zu folgenden beteiligten" 15:

1. Verfassungsgebung bzw. Verfassungsgeber und Verfassungsänderungen bzw. die an ihren Prozessen Beteiligten, in der Schweiz: „Total- und Partialrevision"

Die Verfassungsgebung, d.h. die sich im Rahmen des Typus Verfassungsstaat bewegende Neuschaffung einer Verfassung ist der Weg, auf dem Produktions- und Rezeptionsschübe am stärksten textlich Gestalt annehmen können. Zwar kommt es am Typ des Verfassungsstaats gemessen auch hier zu keinen „Kulturrevolutionen", sondern zu schrittweise vollzogenen Änderungen („Kulturrevolutionen") - in vielem knüpfen etwa die neuen Verfassungen Portugals und Spaniens an die Standards der herkömmlichen Verfassungstradition an - , doch kann im nationalen Maßstab sehr wohl eine „(Kulturrevolution" stattfinden: so stark ist ζ. B. der Bruch der beiden iberischen Länder mit ihrer unmittelbar vorangegangenen autoritären bzw. „frankis tischen" Tradition. In Deutschland knüpfte das GG 1949 an TextTraditionen von 1848 und 1919 sowie ausländische Vorbilder an. Speziell bei Verfassungsänderungen lassen sich „Wellenbewegungen" sichtbar machen, die von einem Verfassungsstaat zum anderen laufen oder innerhalb des Bundesstaats sich von Gliedstaat zu Gliedstaat „fortpflanzen". So haben etwa die deutschen Länderverfassungen in den letzten Jahren in unterschiedlichen Textformen nach und nach das Umweltschutz-Thtma. (Präambel, Erziehungsziel, Verfassungsprinzip) in Textgestalt gegossen16, 15 Vgl. schon meine Strukturierung der Produktions- und Rezeptionswege in bezug auf neuere kantonale Verfassungen in der Schweiz, in: JöR 34 (1985), S. 303 (354 ff.); siehe auch das Tableau in meiner Schrift „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft·, 1982, S.23ff. 16 Vgl. Präambel Abs. 5 Verf. Hamburg, Art 131 Abs. 2, 141 Abs. 1 Verf. Bayern.

Das Grundgesetz — Bericht ch

23

und ausländische Verfassungen wie Griechenland (Art. 24), Portugal/Spanien (Art. 66 bzw. 45), vor allem aber die Schweiz beschäftigen sich mit dem Umweltschutz (z.B. als Staatsaufgabe, Umweltgrundrecht und Umweltgrundpflicht) verstärkt und differenziert in totalrevidierten oder teilrevidierten Artikeln bzw. Verfassungen17. Damit zeigt sich aber auch die Austauschbarkeit der Formeln und Verfahren, in denen neue Themen produktiv und rezeptiv „verarbeitet" werden: bald im Wege der Verfassungsgebung, bald bloß in dem der Verfassungsänderung.

2. Die Verfassungsrechtsprechung

Die Verfassungsrechtsprechung ist ein zweites „Medium", ein zweiter ,Akteur", ein zweiter beteiligter" an den Verfahren der Entwicklung des Verfassungsstaates als Typus und der jeweils nationalen bzw. einzelstaatlichen Verfassungen. Gewiß, die „grands arrêts", „leading cases" gipfeln selten in unmittelbar umsetzbarer Verfassungstertgestalt, so sehr etwa das BVerfG „Leitsätze" liebt. Doch formen sie den Stoff (vor), aus dem spätere Verfassungsgeber bzw. -änderer Bauelemente für einen neuen Verfassungstext nehmen. Inhaltlich haben etwa deutsche Entwicklungen in der Grundrechtsjudikatur zum Stichwort „Teilhaberechte", „Grundrechtsaufgaben", ihrerseits durch die Wissenschaft angeregt18, so manchem Text neuer Schweizer Verfassungen vorgearbeitet. Beobachten läßt sich aber auch das Umgekehrte: Die österreichischen Verfassungstexte enthalten auf Bundesebene keine Art. 19 Abs. 2 GG vergleichbare Wesensgehaltsgarantie in bezug auf Grundrechte. Doch hat die Verfassungsrechtsprechung in Wien ebenso „Wesensgehaltsjudikatur" geformt wie das Schweizer Bundesgericht in Lausanne19. Gleiches gilt für den EuGH20 etwa im Falle Liselotte Hauer. Hier entsteht „europäisches Grundrechtsrecht" als ungeschriebenes (Verfassungs)Recht - als „Nachbild" zu textlichen Vorbildern bzw. vielen Nachahmungen des deutschen Art. 19 Abs. 2 GG, man vergegenwärtige sich die Wesensgehaltklauseln in Portugal und Spanien oder verwandte Formen in der Schweiz. 17 Auf Bundesebene Art. 24 sexies und septies, auf totalrevidierter Kantonsebene ζ. B. Verf. Aaigau von 1980 (§ 42 und Präambel), Verf. Basel-Landschaft von 1984 (§ 112 und Präambel Abs. 1). 18 Vgl. unten. 19 Nachweise in meiner Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 264 f. bzw. S. 259 ff. 20 Dazu /. Pernice , Grundrechtgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 139 f., 162, 217, 231 ff.; P. Häberle, a.a.O., S. 266 ff.

24

Peter Häberle

Die Verfassungsrechtsprechung ist also bald „Schrittmacher" von Entwicklungen zu neuen Themen in neuen Verfassungstexten, bald „importiert" sie solche aus anderen Verfassungsstaaten: wegen erklärter oder stillschweigender Rechtsvergleichung in bezug auf Verfassungstexte, fremde Verfassungsrechtsprechung oder -Wissenschaft

3. Die Verfassungsrechtswissenschaft

Sie ist im Vergleich mit den staatlichen Verfahren der Entwicklung des Verfassungsstaates das besonders „informelle" Medium. So öffentlich und „diffus" die Kommunikationsprozesse der Staatsrechtslehre sind, so schwer sind die Ergebnisse in ihrer Kausalität faßbar. Indes kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Wissenschaftlergemeinschaft bei allem Streit und Dissens (national wie international) ein durchaus wirkmächtiger „Beteiligter" an den Produktions- und Rezeptionsvorgängen ist, in denen und aus denen sich der Verfassungsstaat weiterentwickelt bzw. in denen er sich bewährt. Das Thema „Schutz künftiger Generationen" wurde von Staatsrechtslehrern vorbereitet21. In Schweizer Kantonsverfassungen gibt es mehr als bloße „Schützenhilfe", auch im privaten Verfassungsentwurf Kölz/Müller von 198422. Bei anderen Themen und Texten läßt sich ebenfalls zeigen, wie die jeweilige nationale Staatsrechtslehre Ideen und Textgestalten vermittelt, man denke an neue Grundrechtsthemen oder neue Grundrechtsdimensionen bei klassischen Grundrechten. Speziell die Schweiz knüpft in einzelnen Kantonen an Vorbilder der WRV in Sachen „Staatskirchenrecht" an23. Die Staatsrechtslehre dürfte auch hier als Vermittler und „nachschöpferischer Rezipient" agiert haben. Bekannt ist die Hilfe, die deutsche Staatskirchenrechtler bei den einschlägigen Artikeln der neuen Verfassung Spaniens von 1978 geleistet haben. So sehr der Verfassungswissenschaftler „Einzelkämpfer" ist, in den inhaltlich und personal pluralistischen Prozessen der Verfassungsgebung, -änderung, auch informellen Verfassungswandlung dürfen bestimmte Formen und Gremien nicht unterschätzt werden: ich denke an die Konferenz der Mitglieder der europäischen Verfassungsgerichte, an rechtsvergleichende Vereinigungen, etwa die 21

Vgl. H. Hofmann , Rechtsfragen atomarer Entsorgung, 1981, S. 258 ff.; P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, hrsg. von A. Möhler u.a., 1983, S. 289 ff.; jetzt mit einem Textvorschlag(î): P. SaladinIC. A. Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988, bes. S. 118 ff. 22 Abgedruckt in JöR 34 (1985), S. 551 ff., vgl. den Präambei-Textpassus: „Im Bewußtsein der Verantwortung für die Bewahrung einer gesunden und lebenswerten Umwelt auch für kommende Generationen44. 23 Dazu unten III 7, sowie in JöR 34 (1985), S. 303 (390 ff.).

Das Grundgesetz — Bericht ch

25

deutsch-italienische oder deutsch-spanische Juristengruppe, oder ad hocTagungen wie die heutige in Hagen, Staatsrechtslehre „als Literatur" entfaltet im übrigen normierende Kraft, greifbar ζ. B. in der grundrechtlichen Statuslehre eines G. Jellinek ι24. Und der Verfassungsstaat lebt auch „als Literatur": heute das GG etwa in Gestalt der 16 Auflagen von K. Hesses „Grundzügen" (1966 bis 1988) und der Pionierarbeiten eines G. Dürig zu Art 1 und 2 GG25. So offen und plural der Beteiligtenkreis ist - analog dem 1975 entwickelten Modell der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 26, Programme politischer Parteien müßten ebenso genannt werden wie Verlautbarungen der Kirchen, etwa oder Denkschriften - , hier sei nur noch ein „Transporteur" neuer Ideen und Texte namhaft gemacht:

4. Die Verfassungspraxis

Sie kann lautlos, aber effektiv normierende Kraft entfalten, in ihr können sich Produktions- und Rezeptionsvorgänge abspielen, an denen viele Beteiligte sind; vor allem handelt es sich um G. Jellineks „normative Kraft des Faktischen", vielmehr ist es das scheinbar bloß Faktische inhaltlich und funktional werthaft angereichert, angeregt und legitimiert: man denke an Leistungen der parlamentarischen Gesetzgebung, die in die Ebene der Verfassung im materiellen Sinne ausstrahlen (ζ. B. enthalten die frühen österreichischen Kulturförderungsgesetze in der Sache und formaltextlich viel Material, das die sich entwickelnde Diskussion zum Kulturverfassungsrecht bereichert hat27, man denke an Parlamentsdebatten, die sich über „Grundwerte" verständigen (so in der sog. Verfassungsdebatte des Bundestages von 1974). Sogar die „öffentliche Meinung" kann (ζ. B. in Gemeinwohlfragen) normierende Kraft entfalten28 Auch die von „Staatsorganen" unmittelbar initiierte Staatspraxis, die ja ihre Ermächtigungsgrundlage in der Verfassung hat, läßt sich vom Kompe24 Zur „Verfassungslehre im Kraftfeld rechtswissenschaftlicher Literatuigattungen" mein gleichnamiger Beitrag in: FS Ο. K. Kaufmann, 1989, S. 15 ff. 25 Dazu G. Durig, Gesammelte Schriften 1952-1983, 1984. 26 P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff., wiederabgedruckt in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. 27 Dazu P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, bes. S. 77 f., und jetzt P. Pernthaler (Hrsg.), Förderalistische Kulturpolitik, 1988, passim, S. 89 f. u. ö. 28 Zu diesem Ansatz mein Beitrag „Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis", in: T. Wiirtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 ff.

26

Peter Häberle

tenz- und Funktìonellrechtlichen her stärker ins Normative heben als bisher 29. So grob und überschlägig das Tableu der Austauschwege in Sachen Text und Thema des Verfassungsstaates bleiben muß: Greifbar ist, daß es sich um allseitige Wirkungszusammenhänge ohne Einbahnstraßen handelt, um flexible Arbeitsteilung zwischen staatlichen und öffentlichen, nationalen und internationalen Funktionen. Alle arbeiten am Typus Verfassungsstaat mit (alle zusammen): Die Prozesse des Gebens und Nehmens sind allseitig: innerhalb der offenen Gemeinschaft oder „Familie" der zum Typus Verfassungsstaat gehörenden Länder. Bald beeinflußt die Verfassungsrechtswissenschaft den Verfassungsgeber und umgekehrt, bald provoziert die Staatspraxis bzw. Verfassungswirklichkeit den verfassungsändernden Gesetzgeber innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen zu neuen Texten. „Alle mit allen" sei das Stichwort. Wo „rezipiert" wird, geschieht dies meist noch genügend schöpferisch: weil der einzelne Verfassungsstaat nationale Varianten entwickelt Umgekehrt bleibt der formal identischen Textrezeption der weiteren Verfassungsentwicklung Raum: denn es sind die national je unterschiedlichen kulturellen Kontexte, die selbst wörtlich übereinstimmenden Verfassungstexten verschiedene Inhalte vermitteln können. Erst der jeweilige kulturelle Kontext macht den ganzen Verfassungstext aus - darum das Konzept der Verfassungslehre als »juristischer Text- und Kulturwissenschaft"!

ΠΙ. Beispiele für Geben und Nehmen der Verfassungsstaaten untereinander in neuerer Zeit An Beispielen soll ausschnittsweise vorgeführt werden, was die Verfassungsstaaten in jüngerer Zeit einander an Themen und Texten „zugetragen" haben. Standen bisher die - offenen - Austauschten, die vielfältigen Produktions- und Rezeptionsver/aAren im Vordergrund, so geht es jetzt um die Textinhalte un Textformen, die den Typus Verfassungsstaat - in vielen Beispielverfassungen gegenwärtig - zum Ergebnis („Produkt") nationalen und übernationalen Zusammenwirkens machen. So viel „Farbe" die je nationalen Rechtskulturen beimischen und so individuell die nationale „Textverarbeitung" ist, so viel erwächst aus internationaler Arbeit am Verfassungsstaat, der zugleich dank seiner Offenheit und seiner kulturellen Freiheiten, vor allem Meinungs-, Presse-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit, das Forum 29

Zur Staatspraxis etwa B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 431 ff.

Das Grundgesetz — Bericht ch

27

für weitere Entwicklungen seiner selbst ist: als „kulturelles Erbe" und „kulturelle Errungenschaft 44, aber auch als entsprechender Auftrag. Der folgende Themen- und Text-Katalog will alles andere als erschöpfend sein. Er kann jedoch thematisch einiges über die von den modernen Verfassungsgebern und -änderungen für wichtig gehaltenen Entwicklungen aussagen. Freilich sind es immer „objektivierte44 positive Verfassungs-7fecte, in deren Spiegel beobachtet wird: Da der Typus Verfassungsstaat früher oder später in irgendeiner seiner Beispielsverfassungen die Objektivierung bzw. Normalisierung44 seiner Entwicklung in Textgestalt „schafft 44, d. h. „Textspuren44 hinterläßt, kommt dadurch aber doch vieles zum Bewußtsein und zu objektiv faßbarer Gestalt, was sonst im Wege der Rechtsvergleichung als riesiger Rechtsprechungs-, Wissenschafts-, Praxisvergleich von einem Autor allein nicht bewältigt werden könnte. Eben dies ist die spezifische Chance des längerfristig und weiträumigen betriebenen Verfassungsféjtfvergleichs - in ihm wird auch VerfassungswJÜ/cAJfce/f faßbar und an ihm ist Vtâassungsentwicklung greifbar. Dieser Ansatz ist also keine Überschätzung der Texte und keine Vernachlässigung der Wirklichkeit der Verfassungsstaaten. Der Textvergleich legt vielmehr „Wachstums44· und .Jahresringe44 des Typus Verfassungsstaat offen, die für eine isolierte Betrachtung der einzelnen Verfassung nicht erkennbar wären. In Raum und Zeit gesehen ist die Erfolgsgeschichte der Texte des Verfassungsstaates zugleich eine Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte seines Typus:

1. Menschenwürdeklauseln

Die Menschenwürde, heute als anthropologische Prämisse des Verfassungsstaates zu begreifen 30, hat sich ihre Basisposition textlich erst recht spät erobert. War sie noch in der WRV von 1919 nur im Teil „Das Wirtschaftsleben44 präsent (Art. 151 Abs. 1: „Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle44), so eroberte sie ihre Vorrangstellung repräsentativ im GG von 1949 als Art. 1 Abs. 1. In vielen späteren Verfassungsurkunden, etwa Schweden (Kap. 1 § 2 Abs. 2), Griechenland (Art. 2 Abs. I) 3 1 , Portugal (Art. 1), Spanien (Art. 10 Abs. 1), Peru (Präambel und Abs. 2 Art. 4), nimmt sie diese Spitzen- und Grundsatzstellung ein, auch in neuen österreichischen und schweizer einzelstaatlichen bzw. Kantonsverfassungen (ζ. B. Burgenland, Art. 1 Abs. 2 und § 5 Abs. 1 KV Basel-Land30

Dazu mein Beitrag „Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft-, in: HdBStR Bd. I (1987), S. 815 (843 ff.). 31 Dazu mein Athener Gastvortrag „Menschenwürde und Verfassung am Beispiel von Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland-, Rechtstheorie 11(19), S. 389 ff.

28

Peter Häberle

schaft). Nicht nur das deutsche GG dürfte diesen Entwicklungsprozeß beeinflußt haben, die Ausstrahlungswirkung von Art. 1 S. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren") haben den verfassungsstaatlichen Menschenwürdeklauseln zusätzlich Schubkraft vermittelt - hier zeigt sich, daß und wie die internationalen Menschenrechtserklärungen und ihre ,,Akteure" an den verfassungsstaatlichen Entwicklungsprozessen beteiligt sind, denen sie ihrerseits ja viel verdanken!

2. Grundrechtliche Wesensgehaltsgarantien und Ewigkeitsklauseln

Grundrechtliche Wesensgehaltsgarantien verdienen ein eigenes Wort Denn ihre „Karriere" ist fast spektakulär. Von der Dogmatik in der Weimarer Zeit vorbereitet, sind sie eine originäre Textschöpfung des deutschen GG, zu dem viele neue Verfassungen „Nachbilder" geschaffen haben: Portugal, Spanien, Türkei32. Überdies beeinflußt der Wesensgehaltsgedanke die „ungeschriebene" Verfassungsrechtsprechung in Österreich und die europäische des EuGH und EGMR33. Die Schweiz steht ebenfalls im Banne des „Wesensgehaltsdenkens" bei Grundrechten: sowohl in Totalrevisionen der Kantonsverfassungen (z. B. § 15 Abs. 1 S. 1 KV Basel-Landschaft („Kern"), Art 14 Abs. 4 KV Uri) als auch in Form der Judikatur des Bundesgerichts34. In Sachen Ewigkeitsklausel war Norwegen sensationell früh „Vorreiter" (in § 112 der Verf. von 1814). Neue Verfassungen der „Kodifikationswelle" seit und in den 70er Jahren in Europa (etwa Spanien und Portugal) bis hin nach Lateinamerika (Guatemala, Art 281) schufen verfassungsstaatliche Identitätsklauseln wie zuvor das GG (Art. 79 Abs. 3 GG)35.

3. Verfeinerung der Grundrechtsdimensionen („Grundrechtseffektivierung")

Die textlich greifbaren Entwicklungen der verfassungsstaatlichen Grundrechtsgehalte sind beachtlich. Sie spiegeln etwas von der großen Dynamik der Grundrechtsdogmatik und -rechtsprechung, die für die deutsche Bun32 33 34 35

Einzelnachweise in P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 279 ff. Nachweise ebd., S. 264 f. bzw. 266 f. Ebd., S. 259 ff. Einzelnachweise in meinem Beitrag FS Haug, 1986, S. 81 (90 ff.).

Das Grundgesetz — Bericht ch

29

desrepublik charakteristisch sind. Gibt es auch keine neue Verfassung, die bei allen Grundrechten alle neuen Errungenschaften der Grundrechtstheorie und -praxis in Texte umgegossen hätte, so finden sich doch viele Verfassungstexte, die einzelne Aspekte dieser Dogmatik und Prätorik „in Formtf bringen. Das gilt vor allem für die neuen Verfassungen der beiden iberischen Länder und für die Schweizer Kantonsverfassungen. Stichworte müssen genügen. Leitgedanke aller dogmatischen und prätorischen Entwicklungen der Grundrechte dürfte die Idee der Effektivierung i. S. „grundrechtssichernder Geltungsfortbildung44 sein36. Die die Abwehrseite ergänzende „Mehrdimensionalität44 der Grundrechte begegnet in vielen Formen: als Teilhabeseite von der schwächeren Form des objektiven Verfassungsauftrags (ζ. B. über die „Grundrechtsaufgabe 44 (vgl. etwa Art. 9 b Verf. Portugal) bis zum „starken44 subjektiven öffentlichen Anspruchsrecht auf Teilhabe i. S. eines textlich scheinbar oder wirklich einklagbaren Rechts (z. B. Art. 73 Abs. 1 Verf. Portugal: „Jeder hat das Recht auf Bildung und Kultur44). Für all dies gibt es greifbare Textspuren in neuen oder teilrevidierten Verfassungen37. Eine neue Dimension eigenen Rangs, die sich ebenfalls textlich auskristallisiert hat, ist der Gedanke der grundrechtlichen Schutz- bzw. Sorgepflicht (ζ. B. für die Gesundheit: Art. 21 Verf. Griechenland), des Grundrechtsschutzes durch „Organisation und Verfahren" (Art. 24 Schweizer Bundes VE 1977) und der allgemeinen Grundrechtsverwirklichungsidaustl: dem Vorbild von Art. 3 Verf. Italien (1947) nachgeformt, etwa in Art 9 Abs. 2 Verf. Spanien38. Durchweg geht es all diesen Erweiterungen und Intensivierungen des Grundrechtsschutzes um Grundrechtswirklichkeit für alle, um Optimierung der Grundrechte (K. Hesse). Was Wissenschaft und Verfassungsrechtsprechung hier, vor allem unter dem GG, erarbeitet haben, ist in jüngeren Verfassungen sehr eindrucksvoll zur Textgestalt „geronnen44: sei es in direkter Rezeption, sei es in komplizierteren Vorgängen in der Wirkung des „Zeitgeistes44. Heute kann sich die Lehre von der mehrdimensionalen Grundrechtseffektivierung ganz entschieden auf neuere Textstufenentwicklungen, auch im internationalen Kontext (vgl. den UN-Menschenrechtspakt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966) berufen.

36

Zu diesem Postulat mein Regensbuiger Koreferat Grundrechte im Leistungsstaat, WDStRL 30 (1972), S. 43 (69 ff.). 37 Nachweise in meinem Beitrag in: FS Häfelin, 1989, S. 225 ff. 38 Dazu schon C. Starck, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, FS H. Huber, 1982, S. 467 (481 f.).

30

Peter Häbere

4. Thematisch „neue* Grundrechte in Verfassungstextgestalt

Nicht nur die Dimensionen der klassischen Grundrechte wandeln sich nachweisbar in der Textstufenanalyse z. B. beim Eigentum etwa in Richtung auf „Eigentumspolitik"39, auch die Themen der grundrechtlichen Freiheit werden schrittweise fortgeschrieben: in jenem offenen Prozeß vieler Beteiligter, der oben skizziert wurde. Neue Grundrechte auf Verfassungstexte bene sind etwa: Die Medienfreiheit (vgl. Art. 38 Abs. 6, 39 Verf. Portugal; Art. 20 Abs. 3 Verf. Spanien; zuletzt Art. 35 Verf. Guatemala), die Demonstrationsfreiheit (vgl. Kap. 2 § 1 Nr. 4 Verf. Schweden, Art 8 Abs. 2 lit. g. KV Jura; Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal; Art. 9 Verf. Niederlande; Art. 33 Verf. Guatemala) und das Grundrecht auf Datenschutz (Art 26 Verf. Portugal; Art. 10 Verf. Niederlande). Der Verfassungstextgeber wetteifert hier mit Vorstößen der Rechtsprechung, sichtbar etwa in der bundesverfassungsrichterlichen Kreation eines („ungeschriebenen") Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1), der Verfassungstextänderungen in deutschen Länderverfassungen parallel laufen (z.B. Art 4 Abs. 2 Verf. NRW; Art. 20 S. 2 Verf. Saarland). Weitere Beispiele auf dem Felde des Umweltschutzes in deutschen und ausländischen, auch der Schweizer Verfassungen seien vermerkt40.

5. Staatsaufgabenkataloge-Expandierung und Differenzierung

Umfangreiche und differenzierte Staatsaufgabenkataloge sind ein Charakteristikum der neuen Verfassungstextentwicklung. Hatten ältere Verfassungen wie die Schweizer BV von 1874 oder die Bismarck-Verfassung von 1871 lapidar gearbeitet (Präambel Verf. 1874: »Absicht, den Bund der Eidgenossen zu festigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern"; Vorspruch der Bismarck-Verf. 1871: „ewiger Bund zum Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes") und verbarg sich die Fülle der Staatsaufgaben eher unter bloßen Kompetenzvorschriften 41, so kann die Textstufenanalyse folgendes beobachten: Im Geiste des vordringenden „Aufgabendenkens" kommen Staatsaufgaben in 39 Dazu P. Häberle, Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 (71 f.); vgl. auch Schweizer BundesVE Ait. 30: „Eigentumspolitik44. 40 Nachweise in meinem Beitrag in JöR 34 (1985), S. 303 (378, 419 ff.). 41 Nachweise in meinem Beitrag in FS Häfelin, 1989; siehe auch den Aufsatz Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.

Das Grundgesetz — Bericht ch

31

vielen Feldern der Verfassung gleichzeitig vor: von der Präambel über den Grundrechts- bis zum organisatorischen Teil; viele Themen, die letztlich den Grundrechten zuzuordnen sind, werden zum Gegenstand von Staatsaufgaben (als „Grundrechtsaufgaben"); oft in Gestalt von „Katalogen" normiert, wird der Kanon der Staatsaufgaben immer umfangreicher und differenzierter - Portugal (Art. 9, 81 Verf. 1976/82) bietet hier das prägnanteste, aber auch extremste Beispiel, die Schweiz hält die „gute Mitte", die Niederlande sind mit ihren „Sorge-Artikeln" eher zurückhaltend (vgl. Art 19, 20, 21), selbst in die österreichischen Verfassungstexte ist das Aufgabendenken ein- bzw. vorgedrungen42. Dieser allgemeine Trend beruht - bei allen Unterschieden der Einzelverfassungen - auf wechselseitiger Kenntnisnahme der Verfassungsgeber bzw. -änderer. Sie schreiben zwar nicht unproduktiv voneinander ab, die Textbilder lassen jedoch bis in Einzelformulierungen hinein viel Zusammenhänge und Wahlverwandtschaften erkennen. Im ganzen liegt ein verfassungsstaatliches Reservoir an textlichen Gestaltungsmöglichkeiten vor, das einer „Werkstatt" gleicht, wobei die Produktions- und Rezeptionswege durchaus allgemeinen Kulturverwandtschaften folgen: So haben etwa die romanischen und lateinamerikanischen Länder von Italien (1947) über die beiden iberischen Staaten (1976/78) bis hin zu Guatemala (1985) viele textliche Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Die Lehre vom Verfassungsstaat als Typus kann und muß sich also in kulturtraditional bedingte „Rechtskreise" ausdifferenzieren, wobei freilich diese engeren „Familien" (ζ. B. des romanischen Kodifikationsstils) mit den Beispielländern aus anderen „Linien" denkbar eng kommunizieren. Die textliche Nähe aller Beispiele des Typus „verfassungsstaatliche Verfassung" bleibt groß, ja die Verfassungen rücken heute textlich insgesamt immer mehr zusammen. Ob auch „Aö/itextlich", das sei hier offengelassen. Speziell beim „Niederschlag" des Aufgabendenkens in Verfassungstexten gilt das oben allgemein Gesagte: Beteiligt an diesen Prozessen sind nicht nur die Verfassungsgeber in Gestalt ihrer Texte, die Akteure der politischen Prozesse, die Wissenschaft und Rechtsprechung haben hier nicht minder Vorarbeit geleistet. So wie das „wirklichkeitswissenschaftliche" Denken der Intensivierung des Grundrechtsschutzes vorgearbeitet hat43, so 42 Vgl. Art. 4 Verf. Niederösterreich von 1979: „Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet wird". - Art. 1 Abs. 2 Halbs. 2 Verf. Buigenland von 1981: „es (sc. Buigenland) schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft". Siehe auch die neue Präambel Verf. Tirol von 1980(!). 43 Oben Fn. 36, WDStRL 30 (1972), S. 43 (45).

32

Peter Häberle

hat das Aufgabendenken in Staatslehre und Politikwissenschaft die neuen Entwicklungslinien der einschlägigen Staatsaufgabentexte mit geprägt. Verfassungstexte fallen nicht vom Himmel, sie sind Ergebnis und „Zwischenstation", kulturelle Objektivationen und Kristallisationen im Gegenund Miteinander vieler Subjekte bis hin zu den Bürgern und Verfassungsvätern bzw. -müttern, auch einzelnen Wissenschaftlern.

6. Demokratie-Artikel

sind ein Feld, auf dem sich Verfassungstexte zum Demokratie-Prinzip ebenfalls von vielen Staaten gemeinschaftlich produzierte bzw. teilrezipierte Textentwicklungen beobachten lassen. „Demokratie44, heute zur „guten44 Staatsordnung schlechthin geworden, ist schon textlich nicht mehr bloße „Staatsform 44, sie prägt und durchdringt in vielen Erscheinungsformen das gesamte Text-Ensemble der verfassungsstaatlichen Verfassungen (von den Präambeln über etwaige Grundlagen-Artikel bis zum organisatorischen und Grundrechtsteil). Einzelne charakteristische Beispiele müssen genügen. So bunt die Demokratie-Artikel sind, unterscheiden lassen sich allgemeine Demokratieklauseln und spezielle Ausformungen der zwei Demokratievarianten der repräsentativen und plebiszitären Demokratie (etwa Volksbegehren und Volksentscheid, auch (konsultative) Volksbefragungen). Die Artikel über die politischen Parteien seien eigens erwähnt, weil sie ein besonders prägnanter Beleg für die These sind, die Textstufenmethode lasse Entwicklungen des Typus Verfassungsstaat von der Bekämpfung der „extrakonstitutionellen44 Wirklichkeit über die „Verfassungswirklichkeit 44 bis zu Objektivation und Legitimation in Verfassungstexten erkennen44. Allgemeine Demokratie-Artikel begegnen immer häufiger in der Gestalt einer globalen „Staatsform44-Aussage. Repräsentativ ist Art. 1 Abs. 1 Verf. 44

Einzelnachweise in meinem Beitrag in FS Partsch, 1989. - Vgl. vor allem die noch negative Erwähnung der Parteien in Ait. 130 Abs. 1 WRV, ihre stufenweise Anerkennung in Ait. 49, 98 Verf. Italien über Art. 21 GG bis zu seiner „Nachbildung" in Art. 4 Verf. Frankreich von 1958. Eine noch dichtere und vielseitigere „reife" Normierung findet sich in Art. 6 Verf. Spanien (siehe etwa die Qualifizierung als „Ausdruck des politischen Pluralismus") und eine besonders häufige Berücksichtigung in Verf. Portugal (Art. 10 Abs. 2, 40, 51, 117, 154). Ein Zugewinn an Textvielfalt ist auch Art. 3 S. 1 Verf. Buigenland: „Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentlicher Bestandteil der demokratischen Ordnung des Landes" mit dem Nachsatz (aus dem GG): „Die politischen Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit."

Das Grundgesetz — Bericht ch

33

Griechenland: „Die Staatsform Griechenlands ist die republikanische Demokratie" 45. Wehrhafte Anreicherungen und Spezifizierungen der Demokratie werden typisch, etwa nach Art der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung" i. S. von Art. 18, 21 Abs. 2 GG 46 . Sie erfolgen auch dadurch, daß das Wort „demokratisch" mit anderen Prinzipien verbunden wird (z. B. Art. 1 Abs. 1 Verf. Burgenland: ,3urgenland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat"). Charakteristisch für wehrhafte Aufladung ist Art. 65 Verf. Bremen: „Die freie Hansestadt Bremen bekennt sich zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Schutz der natürlichen Umwelt, Frieden und Völkerverständigung". Oft sind einzelne Elemente der Volkssouveränität oder deren klassische Begründung durch J.-J. Rousseau ausdrücklich normiert (vgl. Art 1 Abs. 2 Verf. Griechenland: „Grundlage der Staatsform ist die Volkssouveränität"; Abs. 3: ,Alle Gewalt geht vom Volke aus.. ." 47 ). Verf. Schweden erläutert den Eingangssatz in Kap. 1 § 1: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus" mit dem nächsten Satz: „Die schwedische Volksherrschaft gründet sich auf freie Meinungsbildung und allgemeines und gleiches Stimmrecht"48. Auf die Präsenz der Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes in den Verfassungsurkunden und ihre Textstufenentwicklung in Richtung auf die Normativierung sei verwiesen49. In der neueren Textstufenentwicklung ist die Normativierung des Demokratie-Prinzips durch „Symbiosen" mit anderen Prinzipien kennzeichnend. Diese normative Einbindung der „absoluten", ,/einen", „formalen" Demokratie geschieht von zwei Seiten aus: durch Verknüpfung mit werthaltigen spezifizierenden Zusätzen oder die Herstellung von Beziehungszusammenhängen und die Einbindung in die Verfassung. Schließlich ist die „Allgegenwart" der Demokratie in allen Textteilen typisch - bis an die Grenze einer inflationären Verwendung des Begriffs. 45 Art. 1 S. 1 Verf. Italien: „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik. Die Souveränität liegt beim Volk Ait. 51 Abs. 1 Verf. Luxemburg: „Das Großherzogtum ist eine parlamentarische Demokratie". - Art. 140 Verf. Guatemala: „Seine Regierungsform ist republikanisch-demokratisch und repräsentativ". 46 Vgl. Art. 60 Verf. Saarland: „Das Saarland ist eine freiheitliche Demokratie 47 Art. 2 Abs. - 5 Verf. Frankreich (1958): „Die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk . 48 Ait. 141 Verf. Guatemala: „Die Souveränität geht vom Volke aus und das Volk delegiert sie zur Ausübung auf . . § 1 KV Aaigau: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird durch die Stimmberechtigten und die Behörden ausgeübt44. - Ähnlich 2 KV Basel-Landschaft. 49 Belege in meiner Abhandlung: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, AöR 112 (1987), S. 54 ff. 3 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

34

Peter Häberle

Repräsentativ ist Portugal (1976/82): Die „Demokratie" durchzieht als allgemeines Prinzip und in Gestalt spezieller Ausformungen alle wichtigen Teile der Verfassung. Schon die Präambel spricht von „wesentlichen Grundsätzen der Demokratie". Art. 1 lautet: „Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet . . . " . Art. 2 normiert: „Die Republik Portugal ist ein demokratischer Rechtsstaat auf der Grundlage der Volksherrschaft, der Achtung und Gewährleistung der Grundrechte . . . , des Meinungspluralismus und des Pluralismus der demokratischen, politischen Ordnung, dessen Ziel es ist, den Übergang des Sozialismus durch die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Demokratie und durch die Vertiefung der partizipativen Demokratie zu gewährleisten". In Art. 3 Abs. 1 wird die Volkssouveränität in die „von der Verfassung vorgesehenen Formen44 eingebunden50; Abs. 2 ebd. gründet den Staat auf „demokratische Legalität44. In vielen weiteren Artikeln findet sich der Demokratie-Gedanke51. Ein verfassungsstaatliches Novum bildet Art 112 Verf. Portugal: „Die direkte und aktive Partizipation der Bürger am politischen Leben ist Voraussetzung und wesentliches Mittel für die Festigung der demokratischen Ordnung44. Der Brückenschlag zwischen Demokratieprinzip und kommunaler Selbstverwaltung ist demgegenüber für den Typ „Verfassungsstaat44 schon klassisch52. Daß die Demokratie schlechthin konstituierender Bestandteil der Verfassung ist, bestätigt sich darin, daß die Ewigkeitsklausel in Art. 290 ihre Einzelausprägungen ausdrücklich unter ihren Schutz stellt53. Die Ewigkeits-

50

Siehe auch Art. 111 ebd. Art. 6 Abs. 1: „demokratische Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung", im Kontext der Staatsaufgaben (Art. 9 b: „die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats zu achten", c: „die politische Demokratie zu verteidigen ..."), - Art. 10 Abs. 2: „Die politischen Parteien konkurrieren unter Achtung der Grundsätze der nationalen Unabhängigkeit und der politischen Demokratie um die Organisation und um den Ausdruck des Volkswillens". - Art. 73 Abs. 2 (Förderung der „Demokratisierung der Erziehung") und nach Abs. 3 ebd. „Demokratisierung der Kultur". Siehe auch Art. 80 d: „demokratische Wirtschaftsplanung". 52 Vgl. Art. 237 Abs. 1 Verf. Portugal einerseits: „Zum demokratischen Aufbau des Staates gehört das Vorhandensein örtlicher Selbstverwaltungskörperschaften", Art. 11 Abs. 4 Verf. Bayern andererseits: „Die Selbstverwaltung der Gemeinden dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben.4' 53 Z.B.: „republikanische Regierungsform" (b), „regelmäßige Wahl" (h), „Pluralismus der politischen Ordnung, worin die politischen Parteien und das Recht auf demokratische Opposition miteinbegriffen sind" (i). 51

Das Grundgesetz — Bericht Schweiz

35

klauseln anderer Verfassungen beziehen fast durchweg die Demokratie ein34. Mitunter kommt es zur Ausdehnung des Demokratieprinzips vom staatlichen Bereich auf andere Felder: in Gestalt der „wirtschaftlichen Demokratie"35 oder der „kulturellen Demokratie" (Art. 2 Verf. Portugal („kulturelle Demokratie")56. Weitgehend erscheint der Auftrag nach Kap. 1 § 2 Abs. 3 Verf. Schweden: „Das Gemeinwesen soll dafür Soige tragen, daß sich die Idee der Demokratie leitend auf allen Gebieten der Gesellschaftsart entfalten kann". Eigens erwähnt sei die in manchen Verfassungen erfolgte Konstitutionalisierung der (konsultativen) Volksbefragung* 7. Ob sie mittel- und langfristig zum (neo)klassischen Thema verfassungsstaatlicher Verfassungen wird, läßt sich heute nicht sagen. Was jetzt noch „Experiment" in der Werkstatt des Typus Verfassungsstaat ist, kann freilich mittelfristig zum „Kanon" seiner Einrichtungen werden.

7. Kulturverfassungsrecht einschließlich Staatskirchenrecht („Religionsverfassungsrecht")

Das Kulturverfassungsrecht gehört zu den Themen, die verfassungstextlich (nicht nur politisch und wissenschaftlich) eine besondere Dynamik erfaßt hat. Hier bauen sich in Prozessen des Gebens und Nehmens immer neue Texte auf und aus. Dem geht die wissenschaftliche Strukturierung dieses Teilbereichs verfassungsstaatlichen Lebens und Wirkens parallel, teils aber auch voraus oder hinterher - freilich gibt es geglückte Vorbilder in kulturrechtlichen Texten auf internationaler Ebene58. Während etwa die 54

Vgl. etwa Art. 75 Abs. 1 Verf. Bayern: „demokratische Grundgedanken'4. Ebenso Art. 150 Abs. 1 S. 1 Verf. Hessen; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 110 Abs. 1 Verf. Griechenland; Art. 281 Verf. Guetemala. 55 Vgl. Präambel Verf. Hamburg (Abs. 4): „Um die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen, verbindet sich die politische Demokratie mit den Ideen der wirtschaftlichen Demokratie". - Siehe auch Art. 112 S. 2 Verf. Peru: („Die nationale Wirtschaft stützt sich auf die demokratische Koexistenz verschiedener Eigentums- und Untemehmensformen". - Ferner Art. 52 Verf. Spanien: „demokratische Struktur der Berufsorganisationen". 56 Siehe auch Art. 73 Abs. 3 Verf. Portugal: „Demokratisierung der Kultur". 57 Konsultative \folksbefragungen finden sich etwa in Schweden (Kap. 8 $ 4) und Guatemala (Art. 173). 58 Etwa der Menschenrechtspakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Weitere Belege in meinem Beitrag: Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 (15 ff.). 3*

36

Peter Häberle

deutschen Länderverfassungen nach 1945 im Felde des Kulturverfassungsrechts viel Originalität und Phantasie bewiesen und weiter beweisen (vgl. Art 3 Abs. 2 Verf. Bayern), gibt es dichtes und formenreiches „wachsendes" Kulturverfassungsrecht in den Schweizer Kantonsverfassungen erst im Rahmen der Kodifikationsweile der 80er Jahre59. Österreich liegt auf Länderebene weiter zurück, und es war die Wissenschaft, die hier eine gewisse Vorreiterfunktion erfüllt haben dürfte 60. Erst jüngst wagen es einige Bundesländer, kulturverfassungsrechtliche Textspuren in ihren Verfassungen zu integrieren 61. Stichwortartig seien die Entwicklungsprozesse des verfassungsstaatlichen Kulturverfassungsrechts namhaft gemacht Es finden sich immer mehr neue Verfassungen (bzw. Verfassungsänderungen), die einzelne oder mehrere Grundtypen bzw. Erscheinungsformen von Kulturverfassungsrecht gleichzeitig verwenden, nämlich allgemeine und spezielle Kulturrechtsklausel 62 , kulturelle Grundrechte in der Abwehr- bzw. in der Staatsaufgaben- 63 und in der Teilhabeform 64, Erziehungsziele65, „kultureller Trägerpluralismus 4466, wobei viele nationale Varianten vorkommen 67. Es gibt

59

Dazu mein Bericht: Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der BR Deutschland, ZSR 105 (1986), S. 195 ff. 60 Vgl. (auch dank der österreichischen Kulturförderungsgesetze) P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; H.-U. Evers, Kulturverfassungsrecht in Österreich, JöR 33 (1984), S. 190 ff.; zuletzt P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalistische Kulturpolitik, 1988, besonders Vorwort S. 7 u. ö.; auf die Anstoßwirkung der eingangs zitierten Studie verweist auch H. Stolzlechner in seiner Besprechung meines Bandes Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, in österr. Zeitschrift fiir öff. Recht und Völkerrecht, 39 (1988), S. 182 ff. 61 Vgl. Ait. 4 Verf. Niederösterreich (oben Anm. 42) und Präambel von 1980 in Verf. Tirol („im Bewußtsein, daß die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes ..."). 62 Z.B. n. F. Verf. Bayern: „(1) Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl. (2) Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung 44. 63 Vgl. Ait. 16 Abs. 1 Verf. Griechenland: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei; deren Entwicklung und Förderung sind Verpflichtung des Staates.44 64 Prototyp ist Ait. 73 Abs. 1 Verf. Portugal: , Jeder hat das Recht auf Bildung und Kultur44. - Siehe die Fortentwicklung in Ait. 21 Abs. 1 Verf. Peru: „Das Recht auf Bildung und auf Kultur ist der menschlichen Person inhärent.44 65 Z.B. Art. 26 n.F. Verf. Bremen, neue Ziff. 5: „Die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt44. - Ait. 22 Abs. 3 Verf. Peru: „Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch44. 66 Vgl. Ait. 12 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg: „Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die in ihren Bünden gegliederte Jugend.44 - Ait. 78 Abs. 2 Verf. Portugal: „In Zusammenarbeit mit allen Kulturträgern obliegt es dem Staat: a) den Zugang aller

Das Grundgesetz — Bericht ch

37

aber auch ganz neue Erscheinungsformen, etwa die „kulturelles-Erbe-Klauseln"68. Prototyp ist nach Art. 46 Verf. Spanien: „Die öffentliche Gewalt gewährleistet die Erhaltung und fördert die Bereicherung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens"69. Durchweg dürften internationale Menschenrechtserklärungen wie der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UN (1966) nicht wenige spätere verfassungsstaatliche Grundrechtstexte „bewegt44 haben70. Das Staatskirchenrecht ist ebenfalls in Bewegung geraten. Die Entwicklung tendiert in Richtung auf ,Religionsverfassungsrecht" 71, so verschieden die Modelle unterschiedlicher Nähe zwischen Staat und Kirche bleiben: von den klassischen Kooperationsformen des deutschen Staatskirchenrechts (Art. 140 GG) bis zur strikten Trennung hier (Art. 2 Abs. 1 Verf. Frankreich von 1958: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik" . . . „Sie achtet jeden Glauben44), Restbeständen der Staatsreligion dort72. Die iberischen Länder Spanien und Portugal setzen hier mehr als bloße Akzentunterschiede73. Und die neuen Schweizer Kantonsverfassungen gehen ihrerseits vielgestaltig den Weg von traditionellen Identifizierungen zwischen Staat und (einer) Kirche (i. S. der „Landeskirche44) zu Kooperationsformen nach dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung 74. Das Beispiel der Vorbildfunktion des Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg Bürger . . . zu den Möglichkeiten und Mitteln kultureller Betätigungen zu gewährleisten . . 67 Vgl. Art. 63 Verf. Guatemala: „Der Staat schützt den freien kreativen Ausdruck, er fordert die wissenschaftliche und intellektuelle sowie künstlerische Entwicklung und ihre berufsmäßige und wirtschaftliche Grundlage.14 68 Einzelnachweise in meinem Beitrag in FS Häfelin, 1989, S. 225. 69 In seiner Nachfolge steht etwa Art. 60 und 61 Verf. Guatemala. 70 Vgl. Art. 13 Abs. 1 (Recht auf Bildung, Erziehungsziel „ A c h t u n g vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten 44; Art. 15 (Recht eines jeden, am kulturellen Leben teilzunehmen). 71 Zum theoretischen Konzept: P. Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff. 72 Vgl. Art. 3 Abs. 1 S. 1 Verf. Griechenland von 1975: „Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der östlichen Orthodoxen Kirche Christi44. Siehe noch in Guatemala die Garantie der Religionsfreiheit einerseits (Art. 36), der Kirchen als juristischen Personen andererseits (Art. 37). 73 Vgl. einerseits Art. 41 Abs. 4 Verf. Portugal: „Kirchen und Religionsgemeinschaften sind vom Staat getrennt und in ihrer Organisation sowie in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und in der Ausübung ihrer Religion frei 44. Andererseits Art. 16 Abs. 3 Verf. Spanien: „Es gibt keine Staatsreligion. Die öffentliche Gewalt berücksichtigt die religiösen Anschauungen der spanischen Gesellschaft und unterhält die entsprechenden kooperativen Beziehungen zur Katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen44. 74 Dazu meine Textanalyse in JöR 34 (1985), S. 303 (385 ff., 390 ff.).

38

Peter Häberle

(1953) für Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlberg (1984) sei eigens dokumentiert 75. Eine bemerkenswerte Neuformulierung des Kooperationsgedankens gelingt Art. 86 Verf. Peru (1979), der zugleich zeigt, wie sehr dem Verfassunggeber die kulturverfassungsrechtliche Dimension des Staatskirchenrechts bewußt wird: „Der Staat erkennt die katholische Kirche innerhalb einer Ordnung der Unabhängigkeit und Autonomie als bedeutenden Bestandteil in der historischen, kulturellen und moralischen Entwicklung Perus an. Er leistet ihr Mitarbeit. Der Staat kann auch Formen der Mitarbeit mit anderen Konfessionen vorsehen".

8. Texte zum „kooperativen Verfassungsstaat"

Entwicklungen der Verfassungstexte sind in Sachen „kooperativer Verfassungsstaat" besonders greifbar: in Texten, die die klassische Staatssouveränität zugunsten internationaler Zusammenarbeit aufbrechen oder sonstige Öffnungen bewirken: bis hin zur Ermöglichung überstaatlicher Einrichtungen und Inkorporierung ausländischer und internationaler Menschenrechtserklärungen. Einige prägnante neuere Texte müssen genügen76. Öffnungsklauseln nach Art des Art 24 GG finden sich immer häufiger 77. Es gibt aber auch ganz allgemein gehaltene Klauseln wie78:

75 Art. 4 Abs. 2 Verf. BW: „Ihre (sc. der Kirchen und anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften) Bedeutung für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt." Ebenso Ait. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlbeig. 76 Im übrigen sei auf die Textpräsentation in meinem Beitrag Der kooperative Verfassungsstaat verwiesen (Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff.). 77 Beispiele: Ait. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland (197S): „Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zufördern, ist durch Veiträge oder Abkommen die Zuerkennung von verfassungsmäßigen Zuständigkeiten an Oigane internationaler Organisationen zulässig'4. Abs. 3 ebd.: „Griechenland stimmt freiwillig durch ein Gesetz . . . einer Einschränkung seiner nationalen Souveränität zu, wenn die Menschenrechte und die Grundlagen der demokratischen Staatsordnung nicht berührt werden . . S i e h e auch Ait. 29 Abs. 4 Verf. Irland mit Nennung der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (in Nr. 3 a. E.). - Ait. 91 Abs. 3, 92 Verf. Niederlande (1983). - Art. 8 Abs. 3 Verf. Portugal. - Art. 93 Verf. Spanien. 78 Siehe auch Art. 7 Abs. 1 Verf. Portugal: „Portugal läßt sich in seinen internationalen Beziehungen von den Grundsätzen . . . der Achtung der Menschenrechte . . . sowie der Zusammenarbeit mit allen Völkern zur Befreiung und zum Fortschritt der Menschheit leiten".

Das Grundgesetz — Bericht ch

39

Art. 2 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975): „Griechenland ist bestrebt, unter Beachtung der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts den Frieden, die Gerechtigkeit und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu fördern· 4, oder Präambel Verf. Spanien (1978): „ . . . bei der Stärkung friedlicher und von guter Zusammenarbeit gekennzeichneter Beziehungen zwischen allen Völkern der Erde mitzuwirken". . . Art. 90 Verf. Niederlande (1983): „Die Regierung fördert die Entwicklung der internationalen Rechtsordnung". Art

149 Verf. Guatemala (1985):

„Guatemala entwickelt seine Beziehungen mit anderen Staaten . . . mit dem Zweck, zur Erhaltung des Friedens und der Freiheit beizutragen, die Menschenrechte zu verteidigen, demokratische Prozesse zu verstärken und internationale Institutionen zu stärken, die die Wohlfahrt zwischen den Staaten garantieren". Sogar die Bildungs- und Erziehungsziele reichern sich entsprechend an 79 . Schönstes Beispiel ist Art. 72 Abs. 1 Verf. Guatemala: „Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur" 80 . Auch hier dürften internationale Menschenrechtstexte Vorbildwirkung entfaltet haben81. Ausdrückliche Bezugnahmen auf internationale, regionale und nationale Menschenrechtserklärungen werden immer häufiger. Sie sind auf dem Weg, sich zu einem verfassungsstaatlichen Strukturelement der heutigen Textstufe zu entwicklen82. 79 Art. 22 S. 2 Verf. Peru (1979): „Sie (sc. die Bildung)fördert die nationale und lateinamerikanische Integration sowie die internationale Solidarität44. 80 Vgl. schon Art. 26 Ziff. 1 bzw. 4 Verf. Bremen (1947): „friedliche Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern44 bzw. „Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker44. Siehe auch das nach 1945 in mehreren deutschen Länderverfassungen verankerte Erziehungsziel der „Völkerversöhnung44 (z. B. Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, Ait. 33 Verf. Rheinland-Pfalz). 81 Vgl. Art. 13 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: Bildung muß „Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern fördern 44. 82 Beispiele: KV Jura (1977), Préambule: „Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des droits de l'homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l'homme de 195044. Verf. Portugal (1976/82), Art. 16 Abs. 2: „Die Auslegung und Anwendung der die Grundrechte betreffenden Verfassungs- und Rechtsvorschriften erfolgt in Obereinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung44. - Ähnlich Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien (1978). - Art. 105 Verf. Peru (1979): „Die Vorschriften, die in den Verträgen über Menschenrechte enthalten sind, haben Verfassungsrang.44 - Art. 46 Verf. Guatemala (1985):

40

Peter Häberle

9. Sonstige neue Verfassungsthemen und -texte

Am Schluß dieses Überblicks seien in Stichworten die Themen vermerkt, die jüngst „Karriere" machen und bei denen die „Verfassungstexte" offenkundig ebenfalls voneinander lernen. Mag kurzfristig noch nicht immer erkennbar sein, ob es sich um bloße „Mode-Themen" und „Eintagsfliegen44 oder um Gegenstände handelt, die mittelfristig zum Kanon verfassungsstaatlicher Verfassungen gehören, die also so „wichtig44 bleiben, daß sie in ausdrücklichen Texten auf Verfassungsebene behandelt werden. (Denkbar ist auch, daß die Verfassungsgeber sie letztlich nur auf unterverfassungsrechtlicher Ebene oder ungeschrieben geregelt wissen wollen). Dabei sei nur eine Auswahl von nicht zusammengehörenden Themen getroffen. Eine Systematisierung ist hier nicht möglich. Doch zeigt sich, daß die Verfassungen trotz ihres Bestands an klassischen Themen und Texten in lebhafter Bewegung sind: neue Themen kommen hinzu, auch neue Sprachtechniken und dogmatische Figuren, mit denen sie bewältigt werden sollen. Die „Offenheit der Verfassung" wird hier in der Praxis eingelöst. Jedenfalls ist eine Dynamik sichtbar, die nur der sensible Textvergleich einzufangen vermag. Aus der Fülle solcher heterogener Themen und Texte seien festgehalten: der Sport (Art. 16 Abs. 9 Griechenland; Art 38 Peru; Art. 91 f. Guatemala; § 41 Abs. 6 KV Aargau), der Gesundheitsschutz (Art. 64 Portugal; Art 43 Spanien; Art 15 Peru; Art. 93 Guatemala), der Verbraucherschutz (Art. 81 j Portugal; Art. 51 Spanien), der Ombudsmann in vielen Erscheinungsformen (Kap. 12 § 6 Schweden; § 88 KV Basel-Landschaft; Art. 54 Spanien; Art 23 Portugal), der Behindertenschutz (Art. 71 Portugal; Art. 49 Spanien; Art 53 Guatemala), die Freizeitgestaltung (z. B. Art. 22 Abs. 3 Niederlande). Mitunter handelt es sich um Themen, die in der neuen Verfassung oder in einem neuen Verfassungstext formalisiert nur das fortschrieben, was Wissenschaft und Praxis in „alten" Verfassungen zu punktuellen bzw. fragmentarischen Texten hinzuentwickelt haben. Das gilt etwa für den ausdrücklichen Gesundheitsschutz, der im GG durch Auslegung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 hinzugenommen wurde und sich jetzt in eigenen Verfassungstexten manifestiert 83.

„Es gilt das generelle Prinzip, daß auf dem Gebiet der Menschenrechte internationale Verträge und Konventionen, soweit sie durch Guatemala ratifizieit worden sind, Vorrang vor dem nationalen Recht haben". 83 Beispiele: Art. 93 Guatemala: „Recht auf Gesundheit als Menschenrecht".

Das Grundgesetz — Bericht ch

41

Inkurs: Die Einbeziehung internationaler und supranationaler Menschenrechtstexte universaler und regionaler Art in die Textstufenentwicklung nationaler Verfassungsstaaten Die beschriebenen Produktions- und Rezeptionsprozesse spielen sich nicht nur im Kreise der Verfassungsstaaten ab, sie greifen darüber hinaus: Universale und regionale Menschenrechtstexte sind einerseits Ausdruck und Fortentwicklung nationaler Menschenrechtskataloge als klassische Elemente des Typus Verfassungsstaat, andererseits wirken sie auf die sich weiterentwickelnden Texte der Verfassungsstaaten zurück. So etwa hat die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 in Geist und Gestalt manche späteren Verfassungstexte zu diesem Thema beeinflußt; so wirken die beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 weiter, so wenig sie ihrerseits ohne das Text- und Baumaterial der westlichen Verfassungsstaaten denkbar wären; so ist die Grundrechtsprechung des EuGH über die Brücke „wertender Rechtsvergleichung" bzw. die Figur „allgemeiner Rechtsgrundsätze" von den Grundrechtstexten der Mitgliedsländer beeinfluß84. Und in dem Maße, wie etwa das BVerfG Rechtsvergleichung treibt85, kommen ausländische und internationale Menschenrechtstexte auch innerhalb des GG zu Wirkung. Die wachsende Ausstrahlung der EMRK ist bekannt (auch in der Schweiz)86. So gesehen werden wichtige Text-Elemente des Verfassungsstaates international zu Bauteilen der Völkerrechtsgemeinschaft. In den Inhalten (Texte und Themen) und in den Akteuren bzw. Beteiligten verschränken sich Verfassungsstaat und Völkerrechtsgemeinschaft

IV» Theoretische Konsequenzen für die Verfassungslehre Die theoretischen Konsequenzen aus der rezeptionstypologischen Bestandsaufnahme der Austauschwege, in denen Themen und Texte der Verfassungsstaaten untereinander geschaffen, rezipiert werden und sich weiterentwickeln, seien stichwortartig formuliert: 1. Die offene Gesellschaft der Verfassungsgeber und -Interpreten heute international und universal (geworden). Verfassungsstaatliche Ver84 Dazu I. Pernice , Grundrechtsgehalte (Fn. 20), A. Bleckmann, Europarecht, 4. Aufl. 1985, S. 104 ff. 85 Beispiele in: P. Höberle, Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 408 f. 86 Dazu J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 177 ff.

42

Peter Häberle

fassungsentwicklung ist ein weltweiter Kreaüons-, Kommunikations-, Austausch- und Rezeptionsprozeß. Er hat sich gegenüber klassischen Austauschvorgängen, etwa zwischen 1776/1789/1848, beschleunigt und intensiviert. 2. Früher oder später werden alle „wichtigen" Themen und Entwicklungsvoigänge des Typus Verfassungsstaat auf einen Verfassungstert gebracht, zu ihm „verdichtet", so spät dies gegenüber den VerfassungswJfclichkeiten (bzw. den Interpreten in Rechtsprechung, Wissenschaft, Politik und Praxis) geschehen mag. Die wertende Verfassungstexfvergleichung, die typologisch arbeitet, setzt also nur scheinbar oberflächlich am Text an, sie dringt von ihm aus in die Tiefe vor, weil dieser Text letztlich aus der Tiefe kommt: Verfassungslehre als Juristische Text- und Kulturwissenschaft" zu begreifen, findet so seine Rechtfertigung. 3. Der Verfassungsstaat ist heute sowohl (vorläufiges) Ergebnis als auch entwicklungsfähiges Forum für weltweite Zusammenarbeit. Der „kooperative Verfassungsstaat" verdient sein Prädikat „kooperativ"* 1 also noch einem tieferen Sinne: Seine Wachstumsprozesse, in den Entwicklungsstufen seiner Texte bzw. Themen objektiviert, „reifen" in weltweiter Gemeinschaftsarbeit, bei der das Nachbilden und Vorbilden, das Hervorbringen und Nachmachen fast ununterscheidbar ineinander übergehen. Der Verfassungsstaat ist - als offene Gestalt - denkbar „durchlässig" geworden. 4. Die Wechselprozesse des Gebens und Nehmens sind heute so intensiv, daß die Familie" der Verfassungsstaaten m. E. schon weit enger zusammengewachsen ist, als dies die klassische etwa Zivilrechtsvergleichung mit ihren Kategorien des romanischen, germanischen, nordischen, angloamerikanischen, usw. Rechtskreises wahrnehmen kann. Die Wahlverwandtschaft der und in den Verfassungstexten ist groß, so viel Spielraum den sie tragenden, verlebendigenden kulturellen Kontexten der einzelnen Nationen bleibt und auch bleiben soll. 5. Der Beteiligtenkreis der „Familie" oder „Internationale des Verfassungsstaates" ist pluralistisch und offen: nach innen wie nach außen: „Engagiert" sind auch internationale Gremien wie regionale und universale Menschenrechts„träger" der UN oder der EMRK, (Ausschüsse bzw. Gerichtshöfe bis hin zum EuGH), deren Rückwirkungen in die nationalen Verfassungsstaaten hinein (ζ. B. bei den kulturellen Teilhabegrundrechten) ebenso wenig überschätzt werden dürfen, wie ihre Abhängigkeit von nationalen Verfassungsstaatselementen gering geachtet werden sollte. Neuland 87

LS. meines Entwurfs: Der kooperative Verfassungsstaat, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff.

Das Grundgesetz — Bericht ch

43

öffnet sich etwa im Blick auf die Menschenrechte der sog. „dritten Generation 4488. 6. Vor alllem gibt es eine - durchdringende - internationale öffentliche Meinung „in Sachen44 Menschenrechte und Demokratie. So unterschiedlich beide Prinzipien begriffen werden und so variabel sie wohl wegen ihrer kulturellen Kontextabhängigkeit inhaltlich sein müssen: Der Verfassungsstaat darf sich durch diese beiden Themen ermutigt sehen, hat er selbst sie doch klassisch und entwicklungsoffen vorformuliert. So schwer es noch ist, beide Verfassungsstaatselemente „Menschenwürde44 und „Demokratie44 schon im theoretischen Ansatz miteinander zu verknüpfen (aus der Menschenwürde folgt ein „Maßgabegrundrecht auf Demokratie4489, ihr Verständnis als kulturelle Status quo-Garantie, hinter die es im Verfassungsstaat kein zurück gibt, könnte auf lange Sicht auch die internationale Gemeinschaft „verfassen 44). 7. Das heute nachweisbare weltweite Forum in Sachen Verfassungsstaat fasziniert zunehmend auch andere Staaten: Man denke an Gorbatschows Reformansätze im Ostblock (UdSSR, Polen, Ungarn), die den Elementen des Verfassungsstaats „entgegenwachsen44: Demokratie als „Herrschaft auf Zeit44, „sozialistischer Rechtsstaat44 und „sozialistischer Pluralismus44, gelebte Menschenrechtstexte eines A. Sacharow (!), aber auch an jüngste Vorgänge in Entwicklungsländern, etwa Algerien. Diese Ermutigung zur Text- und Kontext-Arbeit am Verfassungsstaat verpflichtet freilich alle, auch an seiner künftigen Offenheit und weiteren Entwicklungsfähigkeit zu arbeiten. Neue Differenzierungen im Sinne noch größerer Artenvielfalt (z.B. kulturelles Erbe-Klauseln, Grundrechtseffektivierungs-Artikel 90) ermutigen, ohne daß Defizite, etwa in der thematischen und textlichen Bewältigung des Schutzes künftiger Generationen91 verkannt seien.

" Dazu etwa E. R. Riedel, Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986, S. 210 ff., 239 ff. 19 Dazu mein Handbuch-Artikel von 1987, oben Fn. 30. 90 Dazu die Belege in meinem Beitrag in FS Häfelin 1989, S. 225. 91 Dazu P. Saladin/C. A. Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988.

44

Peter Häberle

Β. Besonderer Teil: Konkrete Ausstrahlungen des „entwickelten" grundgesetzlichen Verfassungsstaates auf die Schweiz I. Ausstrahlungswege: „Medien" und Verfahren

Das GG als »Aktivposten" im Rahmen von Produktions- und Rezeptionsvorgängen in deutschsprachigen Ländern der Schweiz und Österreich zu beobachten, bedeutet keine Überschätzung seiner Bedeutung und Rolle. Es ist seinerseits nur, aber doch immerhin „Zwischenergebnis", „Zwischenstation" weltweiter Werkstattprozesse. Vergleichend gesehen verdankt das GG sehr viel den älteren ausländischen Verfassungsstaaten (etwa in Sachen Bundesstaat, Verfassungsgerichtsbarkeit), und gerade die Schweiz dürfte ihrerseits auf Deutschland nach 1945 ausgestrahlt haben (vor allem auf die süddeutschen Länder). Dies sei vorausgeschickt, damit kein „falscher Stolz" entsteht. Überdies: Die Wirkung des GG auf die Schweiz (auf Bundes· wie Kantonsebene) ist nicht so sehr eine Wirkung direkt der Texte (die „kopiert" würden), sondern vor allem die Wirkung der Inhalte und Verfahren, die die deutsche GG-Wissenschaft und GG-Vcrfassungsrechtsprechung auf der Basis dieser Texte entwickelt haben. Was das GG als „public law in action" hervorgebracht hat, wirkte auf die Schweiz „anregend". Schließlich: Das GG steht in „Konkurrenz" nicht nur mit der möglichen Vorbildwirkung anderer nationaler Verfassungsstaaten sowie der Rechtsprechung des EGMR in Straßburg und des EuGH in Luxemburg, es konkurriert innerhalb der Schweiz ganz spezifisch mit dem Reservoir an Elementen des Typus Verfassungsstaat, das der welschen Schweiz schon sprachlich zur Verfügung steht bzw. nahe liegt: mit Frankreich, weit geringer - vermittelt über den italienischsprachigen Tessin - mit Italien. Die romanischen Länder beeindrucken die Schweiz als Verfassungsstaat durchaus, auch wenn sich die deutschsprachige Schweizer Staatsrechtslehre nicht nur im Scherz gelegentlich von den Welsch-Schweizern vorhalten lassen muß, sie „importiere" zu viel aus der BR Deutschland. Freilich bedaure ich, daß die deutschsprachige und französische Seite nicht noch viel mehr miteinander im Gespräch sind wie bisher. Es ginge nicht nur um „Gegengewichte", sondern auch um Kooperation. Eine letzte Vorbemerkung, auch „Relativierung" der hier thematisch vorgegebenen „Vorbildlichkeit" des GG für die Schweiz. Wir sollten uns vergegenwärtigen, daß die Ausstrahlung des GG nicht nur als „Einbahnstraße" zu verstehen ist. Zu vermuten, wenngleich nicht direkt nachweisbar, sind Rückwirkungen bzw. Ausstrahlungen der Schweiz in die Bundesrepu-

Das Grundgesetz — Bericht ch

45

blik hinein: So dürften die Bundesverfassungsentwürfe von 1977 und der Privatentwurf Kölz/Müller von 198492 sowohl manche Verfassungsnovelle der deutschen Länder in Sachen Umweltschutz und Kulturverfassungsrecht „angeregt" haben. Am Schluß dieses Berichts (unter III) seien unter dem Stichwort „Denkbare Ausstrahlungsinhalte von der Schweiz auf die BR Deutschland" Themenfelder erwähnt, bei deren Behandlung wir Deutsche auf die Schweiz als Vorbild blicken könnten: von einem etwaigen Ausbau der „Volksrechte" i. S. der Schweizer Referendumsdemokratie bis hin zur konsultativen Volksbefragung (aus anderen Ländern) und in der Kodifikation von „Staatsaufgaben". Aufgezählt seien zunächst die Verfahren, in die Material „aus Deutschland" eingebracht worden sein konnte, die Wege, in denen Produktionen hier zu Rezeptionen dort möglich waren bzw. sind. In einer früheren Arbeit wurden sie bereits genannt93, im heutigen Allgemeinen Teil wurde ihr „Tableau" weitgreifend für alle Verfassungsstaaten vorgestellt GG-Texte, GG-Wissenschaft und GG-Rechtsprechung wirkten für die und in der Schweiz:

1. auf die Verfahren der Total- und Teilrevisionen, die noch oder wiede im Stadium der Verhandlung befindliche „Totalrevision" der Bundesverfassung sei dabei einbezogen, so vieles zu den ungemein lebendigen, ergiebigen und bei allen Rezeptionsprozessen schöpferischen Teil- und Totalrevisionen der Kantonsverfassungen zu sagen wäre. Der Wissenschaftler hat es bei diesem „Rezeptionsweg" leichter als sonst: die Verfassungstexte lassen bei Ähnlichkeiten leichter greifbare Rückschlüsse auf Rezeptionsvorgänge, zumindest aber „Wahlverwandtschaften" zu. 2. Das GG als Ganzes wie in seinen Teilen, als lebende Verfassung in Theorie und Praxis, Wissenschaft und Rechtsprechung genommen, wirkt zweitens auf die Bundes- und Kantonsverfassungsrechtswissenschaft Dieser „Austausch" ist schwerer nachweisbar als bei objektivierten, „positiven" Verfassungstexten, doch er besteht, etwa bei der Diskussion um „soziale Grundrechte" bzw. „Teilhaberechte", beim Verständnis der Grundrechte auch als objektiv-institutionelle Gehalte, bei der „Drittwirkung", der Lehre vom „Sonderstatus" und bei der Wesensgehaltdiskussion, auch der Verfassungsgerichtsbarkeit und im Kulturverfassungsrecht (nicht bei den Staatsaufgaben!). 92

Abgedruckt in JöR 34 (1985), S. 536 ff. P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (354 ff.). 93

e

46

Peter Häberle

3. Drittens ist die Schweizer Judikatur ein denkbarer „Rezipient" von Einflüssen aus Deutschland, etwa in Gestalt von Wesensgehaltjudikatur oder beim Verständnis des Gleichheitssatzes, bei dem freilich Deutschland seinerseits viel dem Bundesgericht verdankt. Andere Produktions- und Rezeptionswege mögen bestehen, etwa der Austausch auf dem Wege der Gesetzgebung (Umweltschutz, Datenschutz etc.), doch überstiege der Nachweis dieser „Verbindungen" die Möglichkeiten eines Wissenschaftlers, so wichtig die genannte Gesetzgebung ist: weil sie „von unten" her konturiert, was einmal ein „Bildelement" auf Verfassungstextebene werden könnte oder schon geworden ist.

Π . Beispielsfelder von Texten und Themen: Ausstrahlungsinhalte Auch hier ist nur eine Auswahl möglich, und dies lediglich in Stichworten: 1. Grundrechte: Inhalte, Dimensionen und Grenzen

Der Produktions- und Rezeptionsprozeß zwischen der BR Deutschland und der Schweiz dürfte am intensivsten auf dem Felde der Grundrechte stattgefunden haben und noch stattfinden. Fast in allen Problembereichen fallen hier solche Ähnlichkeiten auf, daß Einflüsse selbst dort zu vermuten sind, wo sie mangels ausdrücklicher Hinweise und Zitate nicht direkt belegbar sind. Zunächst zu den Inhalten: GG-ähnliche Menschenwürdeklauseln finden sich in vielen neuen Kantonsverfassungen (z. B. § 9 KV Aargau, § 5 KV Basel-Landschaft, Art. 10 KV Uri), manche in Deutschland „getexteten" Grundrechte werden in der Schweiz etwa vom Bundesgericht als „ungeschrieben" anerkannt (z. B. Wissenschafts- und Kunstfreiheit) und überdies von der Lehre als solche behandelt94.

94 Vgl. für die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit J. P. Müller,; in: Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bd. I, 1986. - Beide ungeschriebenen Grundrechte werden auch in der laufenden Totalrevision auf Bundesebene relevant. Die Bundesversammlung hat am 3.6.1987 (BB1. 1987 II 963) folgenden Beschluß gefaßt (Ait. 3): „Der Entwurf wird das geltende, geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht nachführen, es verständlich darstellen, systematisch ordnen sowie Dichte und Sprache vereinheitlichen".

Das Grundgesetz — Bericht ch

47

Daß dann die deutsche Diskussion um Verfassungsinterpretation entsprechend wichtig wird, kann nicht überraschen95. Die Frage einer „Dr/ttwirkung der Grundrechte", schon dem Begriff nach eine deutsche „Erfindung" (//.-?. Ipsen) 96, hat auch in der Schweiz „Karriere" gemacht, am klarsten greifbar in ihrem „Niederschlag" in neuen Verfassungstexten (Kantonsverfassungen: § 7 Abs. 2 KV Aargau: „Soweit Grundrechte ihrem Wesen nach dazu geeignet sind, verpflichten sie Privatpersonen untereinander", § 14 Abs. 1 KV Basel-Landschaft: „Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen".), aber auch in der Literatur 97. Die Regensburger Staatsrechtslehrertagung98 „Grundrechte im Leistungsstaat" und das erste NC-Urteil des BVerfG (E 33, 303), hat die Diskussion um „soziale Grundrechte" in der Schweiz nicht wenig beeindruckt99. Die deutsche Kontroverse um die Grenzen der Grundrechte strahlte in mehreren Punkten in die Schweiz aus: zunächst ist dies auf Verfassungstextebene greifbar und objektivierbar. Die Normierung des Übermaßverbots in Kantonsverfassungen, oft den Wesensgehaltgarantien „vorgeschaltet"100, hat eindrucksvolle „Textspuren" hervorgebracht. Vor allem aber ist es die Wesensgehaltproblematik selbst, die zu Texten nach deutschem Vorbild des Art. 19 Abs. 2 GG oder doch der Auslegung dieses Prinzips bei uns „geronnen" sind. Die Wesensgehaltjudikatur des BG ist ohne die „Nähe" zum GG wohl kaum zu erklären 101. Fruchtbar geworden ist sodann der deutsche Diskussionsstand zum Problemfeld „Grundrechte und besonderes Gewaltverhältnis" bzw. „Sonderstatus"102. Den Schweizer Kantonsverfassungen ist sogar eine prägnante

95 Schweizer Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. Vgl. die Hesse-Zitate bei Häfelin/Haller, 1988, S. 25 96 Dazu ders., in: Lüneburger Symposium für Η. Ρ. Ipsen, 1989, S. 53. 97 Z. B. Häfelin/Haller (Fn. 95), S. 344 ff. - Siehe auch BundesVE Art. 25. 98 WDStRL 30 (1972), S. 7 ff. (W. Martens), S. 43 ff. (P. Häberle). 99 Vgl. 7. P. Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung? (1. Aufl. 1973), 2. Aufl. 1981; siehe auch P. Häberle, DÖV 1972, S. 729 ff. 100 Art. 24 KV Solothurn: „1. Einschränkungen der Grundrechte sind nur zulässig, wenn sie durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sind und auf gesetzlicher Grundlage beruhen . . . Der Wesensgehalt der Rechte ist unantastbar". - 15 KV Basel-Landschaft sagt statt „Wesensgehalt" in Abs. 1 S. 2: „Ihr Kern ist unantastbar-. Siehe auch Art. 23 Abs. 1 BundesVE 1977. 101 Nachweise in P. Häberle, Wesensgehaltgarantie des Ait. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, S. 259 ff. 102 Aus der deutschen Literatur: K. Hesse, Grundzüge, S. 129 ff.

48

Peter Häberle

Verdichtung des in Deutschland lange vordiskutierten Problems zu einem schlanken Text geglückt103.

2.

„Staatskirchenrecht"

(„Religionsverfassungsrecht")

Das im GG in Art. 140 rezipierte staatskirchenrechtliche System der WRV von 1919 hat in der Schweiz neuere verfassungspolitische Entwicklungen „inspiriert". In den jüngeren Kantonsverfassungen läßt sich - wenngleich in Varianten - eine Bewegung „auf Weimar hin" und vielleicht darüber hinaus beobachten (in Richtung auf ,Jteligionsverfassungsrecht") 104. Stichworte sind: - die Abkehr der „alten" Identifikation von Staat bzw. Kanton und Kirche, auch von der „Landeskirche" - die Anerkennung der Autonomie der Kirchen (z. B. § 137 KV BaselLandschaft) - der Ausbau der öffentlich-rechtlichen Körperschaftsqualität mehrerer Kirchen (bzw. die Öffnung für andere Religionsgemeinschaften i. S. von Art 137 Abs. 5 S. 2 WRV (z. B. § 109 KV Aaigau, § 136 KV Basel-Landschaft, Art. 157 KV Solothurn) - andere Themen wie Kirchengutsgarantien (Art. 6 Abs. 2 und 3 KV Obwalden), Staatsleistungen (§ 140 Abs. 3 Basel-Landschaft)105.

3.

„Kulturverfassungsrecht*

Schon auf Verfassungstext- bzw. Entwurfebene ist der Schweiz viel neues Kulturverfassungsrecht geglückt. Mag die Kultuiprozeßinitiative auf Bundesebene vor dem Volk gescheitert sein, die neueren Schweizer Kantonsverfassungen schufen eine Vielzahl von neuen Themen in Gestalt neuer Texte, nämlich allgemeine und spezielle Kulturstaatsaufträge, oft unter dem 103 Vgl g Abs. 2 KV Aaigau: „Für Personen, die in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat stehen, dürfen die Grundrechte zusätzlich nur soweit eingeschränkt werden, als es das besondere öffentliche Interesse fordert, das diesem Verhältnis zugrunde liegt44. Siehe auch BundesVE 1977: Ait. 23 Abs. 3. 104 Dazu programmatisch P. Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff., wiederabgedruckt in: P. Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 452 ff. 105 Einzelnachweise in P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (399 ff.).

Das Grundgesetz — Bericht ch

49

Stichwort „Kulturpflege" im Staatsaufgabenteil (§ 36 KV Aargau), „Bildung und Kultur" (§ 94 ff. Basel-Landschaft), neue Kompetenzen (§ 48 KV Aargau: Hilfe für ethnische Minderheiten) und neue kulturelle Freiheiten (z. B. § 14 KV Aargau: Wissenschafts- und Kunstfreiheit, Art 109 Abs. 1 KV Solothurn: Anspruch auf Bildung). Das eine oder andere Thema, die eine oder andere Textgestalt dürfte sich an Vorbilder in deutschen Landesverfassungen anlehnen106. Doch sind der Schweiz weitere schöpferische Differenzierungen gelungen107.

4.

„Verfassungsverständnis"

Bekanntlich hat sich der deutsche Schulen- und Theoriestreit in der Staatsrechtslehre im GG u.a. in den Themen „Verfassungsinterpretation"108, „Gmndrechtsinterpretation"109 und früh „Staatskirchenrecht"110 abgespielt. Ein „Ausläufer" dieser Diskussion, in der Schweiz „pragmatisch gemildert", dürfte in der Kontroverse um das Verfassungsverständnis zu finden sein: Stichwort war, im Zusammenhang mit der Totalrevision von 1977, die „offene Verfassung" 111. Ernst zu machen war und ernst gemacht wurde mit diesem Thema bei Fragen der Normierungsdichte, des „Normierungsstils" bei neuen Verfassungen, vor allem auf Kantonsebene. Die Schweiz ging hier einen „mittleren" Weg zwischen einem Zuviel, einer Überlastung des Verfassungsrechts à la Portugal (1976/82), und einem Zuwenig i. S. eines Verständnisses der Verfassung als bloßem „Organisationsstatus" oder „instrument of gouvernement" i. S. der Bismarck-Verfassung.

106 Zum „Kulturveifassungsiecht im Bundesstaat4' mein Überblick in der gleichnamigen Schrift von 1980, S. 17 ff., 26 ff. 107 Ein Veigleich im einzelnen in meinem Beitrag: Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der BR Deutschland, ZSR 105 (1986), S. 195 ff. 108 Siehe den Band R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 109 Vgl. die Referate und Diskussionen in WDStRL 22 (1965), S. 2 ff. und 30 (1972), S. 7 ff. 110 Ζ. T. dokumentiert in dem Sammelband H. QuaritschJH. Weber (Hrsg.), Staat und Kirche in der Bundesrepublik, 1967. 111 Aus der Literatur: P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 (366 ff.); Totalrevisionen der Bundesverfassung, ZSR 97 (1978), S. 229 ff.; E.-W. Böckenförde, Zur Diskussion in der Totalrevision ..., AöR 106 (1981), S. 580 (598 ff.). 4 B attis/Tsat sos/Mahrenholz

50

Peter Häberle

ΠΙ. Denkbare Ausstrahlungen: Schweiz/BR Deutschland Ideele und reale Nachbarschaften zwischen zwei Verfassungsstaaten bestehen immer in wechselseitigen Produktions- und Rezeptionsprozessen. In diesem Bericht sollte die Ausstrahlung des GG als lebender Verfassung auf die Schweiz hin im Vordergrund stehen. Das darf jedoch nicht zu einem schiefen Bild eines „Nord/Süd-Gefälles 44 führen. Die Schweizer verfassungsstaatliche Entwicklung vermittelt auf allen Ebenen Impulse „nach Norden": in der „Vorgeschichte" des GG ebenso wie in seiner Entfaltung seit 1949, einiges wurde vermerkt Am Schluß dieser „wirklichen" Produktions- und Rezeptionsgeschichte sei aber auch eine „mögliche" Verfassungsgeschichte von Süd nach Nord erwogen: Welches sind denkbare Inhalte und Themen einer Ausstrahlung von der Schweiz auf unser deutsches Verfassungssystem? Welche Teile des VerfassungsrecAte der Schweiz könnten bei uns die Verfassungspolitik beeinflussen? Zwei Problemfelder seien herausgegriffen: die Volksrechte, Referendumsdemokratie (1) und der Bereich der Staatsaufgaben (2).

1. Volksrechte, politische Grundrechte, Referendumsdemokratie

Die Schweiz hat ein viel gerühmtes System „halbdirekter" oder Referendumsdemokratie geschaffen. Die „Volksrechte44 oder „politischen Rechte44 sind denkbar stark und auch in der Literatur entsprechend behandelt112. Die Frage ist, was wir davon lernen können. Μ. E. sehr viel. Volksinitiativen, vielleicht auch Wolksentscheide sollten auch auf GG-Ebene, nicht nur wie in manchen Länderverfassungen (ζ. B. Art. 74 Verf. Bayern, Art. 68 Verf. NRW) gewagt werden. Hier besteht eine „plebiszitäre44 Unterbilanz des GG. Schon ein E. Fraenkel empfahl ein Sowohl-als-Auch von repräsentativen und direkten Demokratieelementen113. Jedenfalls ist mir die pauschale Ablehnung der unmittelbaren Demokratie unbegreiflich, erst recht der sehr deutsche ,Jargon der Eigentlichkeit44, mit dem einige Autoren die repräsen-

112 Z.B. HäfelinJHaller (Fn. 95), S. 174 ff.; siehe auch Y. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. II, Grundrechte 1982, S. 232 ff.; aus der österreichischen Literatur jetzt M. Nowak, Politische Grundrechte, 1988, dazu meine Besprechung in DVB1. 1989, S. 894 f. 113 Vgl. E. Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958.

Das Grundgesetz — Bericht Schweiz

51

tative Demokratie zur „eigentlichen Form der Demokratie" stilisieren114. Macht man mit dem Wort vom aus der Menschenwürde folgenden „Maßgabe-Grundrecht auf Demokratie" ernst 1 1 5 , dann schließt dies plebiszitäre Mitwirkungsformen ein. Die deutschen „Berührungsängste" sind ein Trauma, das endlich überwunden werden sollte: die Schweiz kann hierbei helfen.

2. Staatsaufgabenkataloge

Denkbare Rezeptionsprozesse Schweis/Bundesrepublik könnten sich auf dem Felde der Staatsaufgaben abspielen. Schweizer Kantonsverfassungen haben detaillierte Aufgabenkataloge mit den großen Themen Wirtschaft, Soziales, Umwelt, Kultur geschaffen: ζ. B. KV Jura von 1977 (Art. 17-52), KV Aargau von 1980 ( 28-58), KV Uri von 1984 (Art. 33-57). In den deutschen Länderverfassungen seit 1946 gibt es Ähnliches. Doch ist das GG bekanntlich in Sachen „Wirtschaft", „Arbeit", „Soziales", „Kultur" mehr als zurückhaltend. Der politische Prozeß hat nicht einmal die gediegenen Vorschläge der Staatszielkommission von 1983 aufgegriffen 116. Vielleicht kann in Zukunft die Schweiz „Lehrmeister" sein und neue Impulse vermitteln: in Sachen Arbeit, Kultur und Umwelt

Zusammenfassung und Ausblick Statt einer Zusammenfassung ein kurzer „Ausblick": die Zukunft des Verfassungsstaates hängt auch davon ab, ob die einzelnen Länder voneinander lernen wollen und können, Erfahrungen austauschen - bei allem Festhalten an gewachsene Strukturen der eigenen Verfassungskultur. Die räumliche und sprachliche Nähe zwischen der Schweiz und Deutschland hat hier schon viel Positives bewirkt. Beide Länder sind Teilhaber am gemeineuro114

Repräsentativ E.-W. Böckenförde, Mittelbare/Repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: FS Eichenberger 1982, S. 301 ff.; siehe schon meine Kritik in DÖV 1985, S. 611 (613). 115 Dazu mein Handbuch-Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, a.a.O., S. 845 ff. 116 Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, Bericht der Sachverständigenkommission, 1983. Dazu etwa E. Wienholtz, Arbeit, Kultur und Umwelt als Gegenstand verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, AöR 109 (1984), S. 533 ff. ·

52

Peter Häberle

päischen „kulturellen Erbe", in dessen Zentrum der Ttypus Verfassungsstaat auch zu Amerika hin steht. Das heutige Seminar in Hagen ist eine Art „Werkstatt"bericht in Sachen Verfassungsstaat, ob er im Methodischen unsere „Werkzeuge44 verfeinert und das „Material44 vorformt, ist zugleich ein Beleg dafür, was Staatsrechtslehre als Literatur, was Wissenschaft leisten kann.

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen Bericht Österreich Von Bernd-Christian Funk 1. Die Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs stammen zwar aus verschiedenen Epochen der europäischen Verfassungsentwicklung, sind aber in ihrem institutionellen Gehalt nah verwandt. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist in betonter Antithese zum NS-Staat und in Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung entstanden. Es ist im Hinblick auf eine endgültige Verfassungsgebung in einem wiedervereinigten Deutschland als vorläufiges Verfassungswerk konzipiert (daher auch die Bezeichnung „Grundgesetz44). Das Grundgesetz bildet eine relativ umfassende, textlich geschlossene Kodifikation, die der Maxime der Einheit von Verfassungsrecht und Verfassung und der Identität von Verfassungsurkunde und geschriebenem Verfassungsrecht (Art. 79 Abs. 1 GG) folgt Die österreichische Bundesverfassung geht auf das Jahr 1920 zurück1. Sie ist als historische Antithese zur Habsburgermonarchie entstanden, von der sie jedoch wesentliche Verfassungselemente übernommen und bis heute fortgeführt hat. Parlamentarismus, Gewaltentrennung, Gerichtsverfassung, Verwaltungsgerichtsbarkeit und viele andere Einrichtungen des österreichischen Verfassungsrechts gehen historisch auf die Dezemberverfassung von 18672 zurück, mit der die absolute in eine konstitutionelle Monar1 Zur Entwicklung und zum Stand des österreichischen Bundesverfassungsrechts siehe etwa Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts6 (1971), S. 1 ff.; Adamovich/Funk österreichisches Verfassungsrecht3 (1985), S. 45 ff., 56 ff.; Brauneder/Lachmayer österreichische Verfassungsgeschichte4 (1987), S. 187 ff.; Ermacora, Zur Entstehung, in: Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung (1980), S. 3 ff.; Spanner, Die Entwicklung, in: Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz, S. 33 ff.; Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz, S. 83 ff.; Walter/Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts6 (1988), Rz. 13 ff. 2 Bestehend aus fünf Staatsgrundgesetzen (StGG) vom 21.12.1867: StGG über die Reichsveitretung (RGBl. 141), StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (RGBl. 142), StGG über die Einsetzung eines Reichsgerichtes (RGBl. 143), StGG über dierichterliche Gewalt

54

Bernd-Christian Funk

chie umgewandelt wurde. Ein abgeschlossenes Verfassungswerk ist im Jahre 1920 nicht zustande gekommen3. Die Verfassungsentwicklung in Österreich erinnert an die Sakralbauten des Mittelalters, die über Jahrhunderte unvollendet geblieben, immer wieder erweitert und mit den stilistischen Elementen verschiedener Epochen angereichert wurden4. Es ist auch im Jahr 1920 (und später) nicht gelungen, den Text des Bundesverfassungsrechts in einer geschlossenen Urkunde zu kodifizieren. Das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 kann höchstens als Symbol einer zentralen Verfassungsurkunde gelten, das mit einer kaum überschaubaren Fülle von fugitivem formellen Verfassungsrecht konkurriert 5. Ein dem Art. 79 Abs. 1 GG vergleichbares Verbot der Zersplitterung des Verfassungstextes ist dem österreichischen Verfassungsrecht fremd. Die Wiederherstellung des Staates im Jahre 1945 brachte für Österreich die Rückkehr zur verfassungsrechtlichen Ordnung des B-VG von 19206,

(RGBl. 144), StGG über die Regierungs-und Vollzugsgewalt (RGBl. 145); alle abgedruckt bei Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze2 (1911), S. 390 ff.; siehe dazu auch bei der in Fn. 1 zitierten Literatur. 3 Das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1.10.1920 ist von Anfang an ein Torso gewesen, sich in einer Reihe von grundlegenden Verfassungsfragen mit Provisorien beholfen und die endgültige Lösung künftiger Verfassungsgesetzgebung überlassen hat. Vorläufige Regelungen gab es u.a. bei den Grundrechten, der Finanz-, Gemeinde- und Schulverfassung. Es handelt sich um politisch besonders heikle Themen, über die zwischen den verfassungsgestaltenden Kräften (Christlich Soziale und Sozialdemokraten) zunächst keine Einigkeit gefunden werden konnte. Als Kompromiß wurde daher - zum Teil mit gewissen Modifikationen - fürs erste der alte Rechtszustand übernommen. Die Aufarbeitung" erfolgte in späteren Jahren (Finanzverfassung 1922, Gemeindeverfassung 1962, Schulverfassung 1962 und 1975). Nach wie vor ausständig ist eine umfassende Neukodifikation der Grundrechte. 4 Es ist eine Frage der Betrachtungsweise, ob man diesen Vergleich wählt, oder ob man die österreichische Bundesverfassung als „Ruine44 bezeichnet (Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1, S. 83 ff, und in vielen anderen dort zitierten Schriften). So treffend Klecatsky damit auf die kaum mehr erträgliche innere und äußere Zersplitterung des österreichischen Bundesverfassungsrechts aufmerksam macht, so sehr ist doch auch zu bedenken, daß es sich letztlich um eine bewohnbare Ruine handelt. 5 Siehe etwa die Sammlung der Rechtsquellen des formellen und materiellen Bundesverfassungsrechts bei Schäfer, österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgesetze (LoseblattSlg., 15. Lfrg., Stand: 15.11.1989). 6 Die Wiederherstellung der Verfassungsordnung des B-VG vom 1.10.1920 (i.dF. 1929) erfolgte allerdings nicht auf einmal, sondern in mehreren Schritten. Am Beginn stand die von der Provisorischen Staatsregierung initiierte, von der Sozialdemokratischen, der Christlichsozialen und der Kommunistischen Partei proklamierte Unabhängigkeitserklärung vom 27.4.1945 (Art. I.: Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten). Nach einer Übergangszeit mit einer Vorläufigen Verfassung vom 1.5.1945 wurde das Verfassungsrecht des B-VG 1920 mit dem Tag des Zusammentretens des Nationalrates am 19.12.1945 zur Gänze wiederhergestellt. Siehe dazuAdamovich/Funk, Verfassungsrecht3 (Fn. 1), S. 80 ff.; Klecatsky/ M or scher, Das österreichische Bun desverfassungsrecht3 (1982), S. 12 ff.; Spanner, in: Schambeck, (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1), S. 46 ff.; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht*, Rz. 67 ff.

Das Grundgesetz — Bericht Österreich

55

obwohl diese Verfassung historisch mit dem Niedergang und dem Ende der 1. Republik verbunden und damit in gewissem Sinne kompromittiert war. Ihre Funktionsfähigkeit in der 2. Republik verdankt sie in wesentlichem Maße einer grundlegenden Änderung des innenpolitischen Klimas. Die für das Schicksal der 1. Republik verhängnisvolle Spaltung in politische Lager, die einander mit tiefem Mißtrauen und unversöhnlicher Feindschaft gegenüber gestanden waren 7, wurde in der 2. Republik durch ein System von kooperativer politischer Kompromißfindung abgelöst In Parlament und Regierung etablierte sich dieses System in Form von Koalitionen der beiden großen Parteien (ÖVP und SPÖ)8. Im ökonomisch-sozialen Bereich entund Sozialpartnerschaft wickelte sich als Pendant dazu eine Wirtschaftsder großen Interessenverbände9, welche den Wechsel der Regierungskonstellationen überdauert hat. Für das Ansehen und das Gewicht des Verfassungsrechts ist diese Situation nicht immer günstig gewesen. Das kooperativ-koalitionäre Entscheidungsverhalten der großen politischen Kräfte und Parteien ist nicht selten in eine Art Kumpanei zu Lasten des Verfassungsrechts umgeschlagen, das mit Hilfe der leichtverfügbaren parlamentarischen Mehrheiten ad hoc geändert wurde, wo es einem zwischen den beiden großen Parteien paktierten politi7 Siehe etwa Weinzierl/Skalnik (Hrsg.). Österreich 1918 bis 1938, Geschichte der Ersten Republik, 2 Bde. (1983). 8 Die beiden Parteien bildeten Regierungskoalitionen von 1945 bis 1966 (bis 1949 unter Beteiligung der KPÖ). Es folgten Alleinregierungen deröVP (1966-1970) und der SPÖ (19701983), dann eine „kleine" Koalition von SPÖ und FPÖ (1983-1986) und seit 1986 eine Neuauflage der „großen44 Koalition von SPÖ und ÖVP (Reihung der Koalitionspartnernach Mandatsstärke). 9 Die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft (WSP) ist ein von den großen Interessenverbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Handelskammern, Landwirtschaftskammern, Arbeiterkammern, Gewerkschaften) getragenes System der kooperativen Entscheidungsfindung in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die WSP ist keine verfassungsrechtlich institutionalisierte Einrichtung, sie ist aber in vielen Rechtsbereichen indirekt verankert. Hinweise auf (neueres) Schrifttum: GerlichJ Grandel Müller (Hrsg.), Sozialpartnerschaft in der Krise (1985); Holtmann, „Sozialpartnerschaft44 und „sociale Frage44 Korporatistische Tradition in Österreich: Der ständige Beirat des Arbeitsstatistischen Amtes als Beispiel paritätischer Interessenvertretung in der Späthabsburgerzeit, Der Staat (1988), S. 233 ff.; Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung (1970), S. 161 ff.; Korinek, Die Realisierung der Idee der Sozialpartnerschaft in der österreichischen Rechtsordnung, WiPolBl. 1976, H. 4, S. 66 ff.; Kramer, Österreichs Sozialpartnerschaft: Rückblick und Ausblick, Europäische Rundschau 1983, H. 3, S. 3 ff.; Lachs, Wirtschaft spartnerschaft in Österreich (1976); Matzner, Sozialpartnerschaft, in: H scher (Hrsg.), Das politische System Österreichs3 (1982), S. 429 ff.; Pelinka, Die österreichische Sozialpartnerschaft im internationalen Vergleich, ÖZP 1982, S. 355 ff.; Stourzh/Grandner (Hrsg.), Historische Wurzeln der Sozialpartnerschaft (1986); Ress (Hrsg.), Grundfragen der Sozialpartnerschaft (1987); Schöpfer (Hrsg.), Phänomen Sozialpartnerschaft, FS Ibler (1980); Talos, Sozialpartnerschaft und Neokorporatismustheorien, ÖZP 1982, S. 263 ff.; Wenger, Unternehmung und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung Qder Wirtschaft, DÖV 1976, S. 437 ff.; Wenger, Die Wirtschaftsordnung, in Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1) S. 665 ff.

56

Bernd-Christian Funk

sehen Vorhaben im Wege stand. Solche Formen der Verfassungsdemontage waren in den Zeiten der alten großen Koalitionen von 1945 bis 1966 geradezu an der Tagesordnung10. In der Neuauflage der großen Koalition von SPÖ und ÖVP seit 1986 sind solche Entwicklungen erneut zu beobachten11. Mit diesen - notwendigerweise sehr knappen Hinweisen - soll vorweg deutlich gemacht werden, daß die Verfassungen der beiden Staaten in Herkunft und Entwicklung wesentlich voneinander verschieden sind. Sie haben aber andererseits auch eine Reihe von grundlegenden Gemeinsamkeiten, die es erlauben, von einer inhaltlichen Verwandtschaft zu sprechen. Beide Verfassungen beruhen auf den leitenden Prinzipien der Demokratie, der liberalen Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltentrennung, der republikanischen Staatsform und der Bundesstaatlichkeit. Das sozialstaatliche Prinzip ist in Art. 20 Abs. 1 GG programmatisch verankert. Im österreichischen Bundesverfassungsrecht ist eine entsprechende Klausel nicht anzutreffen 12; die Verwirklichung des Sozialstaates bleibt hier vorerst der Rechtssetzung und Vollziehung auf der Ebene unterhalb des formellen Verfassungsrechts überlassen13. Die künftige Verfassungsentwicklung auf diesem Gebiete dürfte in 10 Im Nationalrat verfügte die Regierung im Rahmen der Koalition der beiden großen Parteien über eine Mehrheit, mit deren Hilfe sie erforderlichenfalls auch das Instrument der Verfassungsänderung einsetzen konnte. Davon wurde auch ausgiebig Gebrauch gemacht. Die meisten der zahlreichen punktuellen Verfassungsänderungen dieser Jahre hatten Kompetenzverschiebungen von den Ländern zum Bund zum Inhalt. Über den sukzessiven Abbau des Förderalismus unter den Koalitionsregierungen bis 1966 siehe etwa Ermacora, österreichischer Förderalismus. Vom patrimonialen zum kooperativen Bundesstaat (1976), S. 80 ff. 11 Die Akzente haben sich allerdings verlagert. Neuerdings wird das Instrument der Verfassungsgesetzgebung dazu eingesetzt, um Ergebnisse der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, besonders auf dem Gebiete der Grundrechte, punktuell zu korrigieren. Beispiele für deraitige Reaktionen der Legislative auf unliebsame Entscheidungen des VfGH bieten die Verfassungsbestimmungen in § 103 Abs. 2 KFG (aus Anlaß VfSlg. 9950/1984 und 10394/1985 betreffend die sog. Lenkerauskunft; ähnlich eine Verfassungsbestimmung in § 5 Abs. 14 SchiffahrtsG 1990, BGBl. 1989/87); in § 10 Abs. 2 GelegenheitsverkehrsG (aus Anlaß VfSlg. 10932/1986 betreffend die Bedarfsbindung beim Taxigewerbe) sowie das BVG vom 5.6.1987 über die Begrenzung von Pensionen oberster Organe (aus Anlaß VfGH 18.3.1987, G 255/86 betreffend die „Politikerpensionen"); vgl. dazu auch die Kritik bei Funk, Zur Bewirtschaftung von Taxikonzessionen. Oder: Wie demontiert man die Verfassung?, WB11987, S. 182 ff; Loebenstein, Einige Überlegungen über ein Grundrecht auf Rechtsschutz, in: FS Ermacora (1988), S. 249 ff. (253 ff.). 12 Wohl aber neuerdings in einigen Landesverfassungen: Burgenland (Art. 1 Abs. 1, LGB1. 1981/42), Niederösteneich (Ait. 4, LGB1. 0001-0), Oberösteneich (Art. 7c, LGB1. 1971/34), Tirol (Art. 7, LGB1.1988/61), Vorarlberg (Art. 7, LGB1.1984/30); siehe dazu Funk, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 57 ff. (73 ff.); Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer2 (1988), S. 82 ff. 13 Hier ist im besonderen auf die umfangreiche Sozialgesetzgebung hinzuweisen. Materiell grundrechtliche Sozialstaatsgarantien, wie sie insbesondere in der Europäischen Sozialcharta (BGBl. 1969/460) und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus 1966 (BGBl. 1978/590) enthalten sind, gehören nicht zum Bestand des formellen Verfassungsrechts.

Das Grundgesetz — Bericht Österreich

57

Österreich eher in die Richtung der Einführung einzelner sozialer Grundrechte in Verbindung mit institutionellen Sozialstaatsgarantien gehen14. In ihrer konkreten Ausformung weisen die leitenden Grundsätze der beiden Verfassungsordnungen zum Teil beträchtliche Unterschiede auf. Beim demokratischen Prinzip dominiert da wie dort das Repräsentationssystem. Die unmittelbare Willensbildung durch das Volk bleibt nach Art. 20 Abs. 2 GG den Wahlen und nicht näher bezeichneten Abstimmungen vorbehalten; nur in den in Art. 29 angesprochenen Fällen einer Neugliederung des Bundesgebietes sind plebiszitäre Entscheidungen obligatorisch. Im Vergleich dazu ist das B-VG in stärkerem Maße durch Elemente der unmittelbaren Demokratie angereichert. Es kennt neben den Fällen des obligatorischen und fakultativen Verfassungs- und Gesetzesreferendums 15 die allgemeine Einrichtung des Volksbegehrens16 und seit kurzem auch der Volksbefragung17. Die grundsätzliche Dominanz des Repräsentativsystems wird allerdings auch in Österreich durch keine dieser Einrichtungen nachhaltig geschmälert18. ist - bei allen VerDie Ausformung der liberalen Rechtsstaatlichkeit schiedenheiten im Detail - in beiden Staaten sehr ähnlich. Die grundrechtlichen Gewährleistungen, die Einrichtung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, die auch Schutz vor Akten der Staatsgewalt bietet, der Vorbehalt des Gesetzes für die Vollziehung bilden ebenso wie die Gewaltentrennung zwischen den Staatsfunktionen tragende Elemente, deren Bau- und Funk-

14 Auf dieser Linie liegt etwa ein im Jahre 1988 zur Begutachtung versandter Entwurf eines BVG über das Recht auf Sozialversicherung und Sozialhilfe; siehe dazu BundeskanzleramtVerfassungsdienst (Hrsg.)» Soziale Grundrechte: Sozialversicherung, Sozialhilfe (1988); Funk, Sozialstaat und Bundesverfassung. Bemerkungen zur geplanten Verankerung leistungsstaatlicher Garantien im Bundesverfassungsrecht, ZAS 1988, S. 92 ff.; Klecatsky, Das Recht auf soziale Sicherheit in der österreichischen „Reform der Grund- und Freiheitsrechte4*, in: FS Ermacora (1988), S. 309 ff. 15 Gemäß Art. 43 B-VG ist jeder Gesetzesbeschluß des Nationalrates einer Volksabstimmung zu unterziehen, wenn es der Nationalrat beschließt oder die Mehrheit seiner Mitglieder verlangt. Gemäß Art. 44 Abs. 3 B-VG ist jede Gesamtänderung der Bundesverfassung eine Volksabstimmung zu unterziehen, eine Teiländerung jedoch nur, wenn dies von einem Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates verlangt wird. 16 Art. 41 Abs. 2 B-VG; antragsberechtigt sind 100 000 Stimmberechtigte sowie je ein Sechstel der Stimmberechtigten dreier Länder, weitergehend die Einrichtungen der direkten Demokratie auf der Ebene der Länder und der Gemeinden; vgl. Funk (Fn. 12), S. 79 ff. 17 Auf der Ebene des Bundes ist die Einrichtung der Volksbefragung durch die B-VGNoveUe 1988 (BGBl. 685) eingeführt worden (Art. 49b B-VG). 18 Abgesehen von der obligatorischen Volksabstimmung bei Gesamtänderungen der Bundesverfassung (Art. 44 Abs. 3 B-VG - siehe vorhin Fn. 15) liegt die Entscheidung darüber, ob eine Volksabstimmung stattfinden soU, beim Parlament. Gleiches gilt für die Entscheidung über die Abhaltung einer Volksbefragung. Auch das Volksbegehren hat lediglich die Bedeutung einer (qualifizierten) Petition.

58

Bernd-Christian Funk

tionsmuster im Prinzip die gleichen sind. Eine für die Verfassungsvergleichung reizvolle Betrachtung von Einzelheiten muß hier unterbleiben. Beide Staaten sind Bundesstaaten. Hier sind allerdings auch im globalen Vergleich große Verschiedenheiten festzustellen. In Österreich war der Bundesstaat von Anfang an an der Untergrenze dessen angesiedelt, was diese Bezeichnung gerade noch beanspruchen kann19. Mehrere Wellen föderalistischer Verfassungsänderungen 20 haben daran nichts Wesentliches zu ändern vermocht. Ein nach wie vor bestehendes Übergewicht des Bundes in der Verteilung der Aufgaben 21, im besonderen auch in den finanziellen Beziehungen22 sowie der Ausschluß der Länder von jeglicher Organisationshoheit im Bereich der Gerichtsbarkeit 23 sichern den in letzter Zeit etwas schwächer gewordenen zentralistischen Grundzug unseres Bundesstaates24. 2. Unmittelbare Wirkungszusammenhänge zwischen den beiden Verfassungsordnungen in Form von Rezeptionen hat es nur in bescheidenem Umfang gegeben. Die Fälle, in denen sich eine konkrete verfassungsrechtliche Maßnahme in Österreich am Vorbild des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland orientiert hat, sind in ihrer Zahl überschaubar. 19

Zur Ausprägung der österreichischen Bundesstaatlichkeit siehe etwa Pernthalerl Esterbauer, Der Förderalismus, in: Schambeck (Hrsg.)» Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1), S. 325 ff.; sowie die ausführlichen Nachweise des Schrifttums bei Funk (Fn. 12), S. 59 ff; siehe auch AdamovichlFunk, Verfassungsrecht3 (Fn. 1), S. 122 ff. 20 Die Länder haben dem Β und mehrere Forderungsprogramme präsentiert, die zum Teil und schrittweise in den B-VG-Novellen der Jahre 1974 (BGBl. 444), 1984 (BGBl. 490) und 1988 (BGBl. 685) verwirklicht wurden; zur Entwicklung siehe Berchtold, Die Verhandlungen zum Forderungsprogramm der Bundesländer seit 1956 (1988); Novak, Bundes-Verfassungsgesetz und Landesverfassungsrecht, in: Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1), S. 111 ff.; Pernthaler, Das Forderungsprogramm der österreichischen Bundesländer (1980). 21 Über Struktur, Inhalt und verfassungspolitische Bedeutung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung siehe insbesondere AdamovichlFunk, Verfassungsrecht3 (Fn. 1), S. 171 ff.; Davy, Zur Bedeutung des bundesstaatlichen Rücksichtnahmegebotes für Normenkonflikte, ÖJZ1986, S. 298 ff.; Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzveiteilung im Lichte der Verfassungsrechtsprechung (1980); Mayer, Neue Wege der Kompetenzinterpretation?, ÖJZ 1986, S. 513 ff.; Morscher, Wechselseitige Rücksichtnahmepflicht Bund-Länder, JB1. 1985, S. 479 ff; Morscher, Die Gewerbekompetenz des Bundes (1987), S. 16 ff.; Pernthaler, Zivilrechtswesen und Landeskompetenzen (1987), S. 26 ff.; Pernthaler, Kompetenzveiteilung in der Krise (1989); Rill!Schäfer, Die Rechtsnormen für die Planungskoordinierung seitens der öffentlichen Hand auf dem Gebiete der Raumordnung (1975), S. 36 ff.; WalterlMayer, Bundesverfassungsrecht6 (Fn. 1), Rz. 247 ff. (alle mit m.w.N. der Rspr. und Lit.). 22 Hier kann der Bund im Wege der einfachen Gesetzgebung über die Zuweisung von Besteuerungsrechten an die Gebietskörperschaften bestimmen. Diese Kompetenz-Kompetenz des einfachen Bundesgesetzgebers verschafft dem Bund in diesen Angelegenheiten eine starke Vormachtstellung; siehe dazu etwa Ruppe, Finanzverfassung im Bundesstaat (1977). 23 Träger der Gerichtsbarkeit ist ausschließlich der Bund; ihm steht weiter die alleinige Befugnis zur gesetzlichen Regelung der Organisation und Zuständigkeit der Gerichte zu (Alt. 83 Abs. 1 B-VG). 24 Dazu haben vor allem die in Fn. 20 zitierten Verfassungsänderungen beigetragen.

Das Grundgesetz — Bericht Österreich

59

Einer dieser seltenen Fälle betrifft den Bereich der Rundfunherfassung und im besonderen den verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff. In beiden Staaten wird durch diesen Begriff die sachliche Reichweite von grundrechtlichen und institutionellen Verfassungsgarantien bestimmt und abgegrenzt. So wird durch Art. 5 Abs. 1 GG neben der Pressefreiheit die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film gewährleistet. Das österreichische Pendant dazu findet sich in einem Bundesverfassungsgesetz (BVG) aus 1974 über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks 25. Mit diesem Bundesverfassungsgesetz, das im Zuge der zweiten Rundfunkreform 26 gemeinsam mit einem Rundfunkgesetz 27 verabschiedet wurde, werden der Rundfunkgesetzgebung eine Reihe von verfassungsrechtlichen Auflagen erteilt. Sie hat demnach die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme und die Unabhängigkeit der mit der Besorgung des Rundfunks betrauten Personen zu gewährleisten; überdies wird der Rundfunk zur „öffentlichen Aufgabe" erklärt.

25

BGBl. 1974/396. Art. I lautet: (1 ) Rundfunk ist die für die Allgemeinheit bestimmte Verbreitung von Darbietungen aller Art in Wort, Ton und Bild unter Benützung elektrischer Schwingungen ohne Verbindungsleitung bzw. längs oder mittels eines Leiters sowie der Betrieb von technischen Einrichtungen, die diesem Zweck dienen. (2) Die näheren Bestimmungen für den Rundfunk und seine Organisation sind bundesgesetzlich festzulegen. Ein solches Bundesgesetz hat insbesondere Bestimmungen zu enthalten, die die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme sowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe, die mit der Besorgung der im Abs. 1 genannten Aufgaben betraut sind, gewährleisten. (3) Rundfunk gemäß Abs. 1 ist eine öffentliche Aufgabe. 26 Zur Entwicklung des Rundfunkrechts in Österreich siehe etwa Β inder, Die Rundfunkfreiheit in Österreich, EuGRZ 1986, S. 209 ff.; Ermacora, Verfassungsrechtliche Probleme der Rundfunkreform, Berichte und Informationen 1974, H. 1448/49, S. 4 ff.; Funk, Rundfunkmonopol aus verfassungsrechtlicher Sicht in Österreich - Gesetzesvorbehalt, Art. 10 EMRK, Rechtsstaatsprinzip, in: FS Ermacora (1988), S. 349 ff.; Groiss/ Schantl/Wetan, Die neuere Rechtsprechung des VfGH in Rundfunkangelegenheiten, ÖJZ1979, S. 113 ff.; Klecatsky, Der Rundfunk in der Sicht des Salzburger Symposions des Europarates über Menschenrechte und Massenmedien, in: Rundfunkrecht und RundfunkpoUtik, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität Köln, Bd. 5 (1969), S. 7 ff.; Knitel, Einige Rechtsprobleme des Rundfunks in Österreich, ZVR 1976, S. 357 ff.; Korinek, Der österreichische Rundfunk in organisationsrechtlicher und staatsrechtlicher Sicht, in: Die Organisation von Rundfunk und Fernsehen in rechtsvergleichender Sicht, Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln (1978), S. 17 ff.; Korinek, Landesbericht Österreich, in: Bullinger/Kübler (Hrsg.), Rundfunkorgamsation und Kommunikationsfreiheit (1979), S. 183 ff.; Oberndorfer, Föderalismus und Medienpolitik, in: FS Eckert (1976), S. 449 ff.; Schäfer, Rechtslage und Rechtsprobleme des Rundfunks in Österreich, DÖV 1987, S. 1077 ff.; Twaroch!Buchner, Rundfunkrecht in Österreich3 (1985); Wittmann, Rundfunkfreiheit (1981). 27 Bundesgesetz vom 10.7.1974 über die Aufgaben und die Einrichtung des österreichischen Rundfunks (BGBl. 1974/397), wiederverlautbart als „Rundfunkgesetz - RFG" (BGBl. 1984/379-).

60

Bernd-Christian Funk

Das genannte Bundesverfassungsgesetz enthält außerdem eine Legaldefinition des Rundfunks. Sie lautet: „Rundfunk ist die für die Allgemeinheit bestimmte Verbreitung von Darbietungen aller Art in Wort, Ton und Bild unter Benützung elektrischer Schwingungen ohne Verbindungsleitung bzw. längs oder mittels eines Leiters sowie der Betrieb von technischen Einrichtungen, die diesem Zweck dienen". Dem deutschen Juristen ist diese Definition wohlvertraut. Sie ist der Begriffsbestimmung in Art. 1 des Gebührenstaatsvertrages aus 1968 und 197428 nachgebildet. Danach ist Rundfunk „die für die Allgemeinheit bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von Darbietungen aller Art in Wort, in Ton und in Bild unter Benutzung elektrischer Schwingungen ohne Verbindungsleitung oder längs oder mittels eines Leiters". Es fällt auf, daß die österreichische Definition teils enger, teils weiter ist als jene des dt. Gebührenstaatsvertrages: Enger ist sie insofern, als sie nur die Verbreitung, nicht auch die Veranstaltung von Darbietungen29 in den Rundfunkbegriff einbezieht, wogegen in der österreichischen Rundfunkdefinition auch der Betrieb von technischen Hilfseinrichtungen für den Rundfunk diesem zugerechnet wird30. Von diesen dogmatischen Feinheiten abgesehen, die Anlaß zu subtilen Auslegungserwägungen geben können, ist auf die verfassungsrechtliche Relevanz der Legaldefinitionen in beiden Staaten hinzuweisen. Für Österreich ergibt sich diese Bedeutung allein schon aus der Zugehörigkeit der genannten Definition zum formellen Bundesverfassungsrecht Der Rundfunkbegriff des dt. Gebührenstaatsvertrages hat zwar als gliedstaatsvertragliche Regelung keine unmittelbare Verfassungsrelevanz, er dient aber doch als heuristisches Mittel zur Auslegung der Rundfunkfreiheit und zur Bestimmung der Länderkompetenz auf dem Gebiete des Rundfunks. In beiden Ländern gibt es umfangreiche Rechtsprechung und Literatur zur Rundfunkverfassung 31. Das BVerfG hat in einer Reihe von Entscheidungen die Grundsätze der PluralitäU zumindest im Innenbereich von Rund-

28 § 1 Abs. 1 des Staatsvertrages über die Regelung des Rundfunkgebührenwesens vom 31.10.1968; neu gefaßt durch Staatsvertrag vom 5.12.1974 (vgl. etwa HessGVBl. 1975,136). 29 Für die öffentliche Veranstaltung von Darbietungen durch den Rundfunk kommen in Österreich die einschlägigen Bestimmungen des Veranstaltungs-, Kino- und Theaterwesens zur Anwendung; vgl. auch Wittmann, Rundfunkfreiheit (Fn. 26), S. 4. 30 Dies ist vor allem für die Frage der Zulässigkeit des Betriebes von Kabelrundfunk von Bedeutung. Näheres dazu bei Wittmann, Rundfunkfreiheit (Fn. 26), S. 17 f. 31 Für Österreich sei auf die in Fn. 26 zitierte Literatur verwiesen; weitere Nachweise bei Funk, in FS Ermacora (Fn. 26), S. 349 ff.; für dit Bundesrepublik Deutschland siehe zuletzt etw Β adura, Gleichgewichtige Vielfalt im dualen System des Rundfunks, JA 1987, S. 180 ff.; Bethge, Verfassungstreue für private Rundfunkveranstalter?, NJW 1987, S. 2982 ff.; Gross,

Das Grundgesetz — Bericht Österreich

61

funkunternehmen, der Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitigen Achtung hervorgehoben. Damit wurden in der Bundesrepublik Deutschland im Wege der richterlichen Rechtsfindung ähnliche Akzente gesetzt, wie sie in Österreich auf Grund von ausdrücklichen Garantien des Bundesverfassungsrechts bestehen.

Eine Besonderheit des österreichischen Rundfunkverfassungsrechts ergibt sich daraus, daß der Betrieb von Rundfunk auch dann, wenn er durch Private erfolgt, dem Vorbehalt einer gesetzlichen Regelung der Organisa tion und der Programmgestaltung unterliegt32. Die bürgerliche Freiheit, zu tun, was durch Gesetz nicht verboten wird, wird hiermit für diesen Bereich außer Kraft gesetzt und jener staatstypischen Kondition gleichgestellt, daß nur erlaubt ist, wozu das Gesetz ermächtigt. Eine solche Erlaubnis hat der Gesetzgeber bislang nur einem einzigen Rundfunkunternehmer, dem ORF, erteilt, der damit für die Dauer des Bestehens dieser Gesetzeslage eine Monopolstellung einnimmt33. Alle Versuche, diese Situation mit den Mitteln der innerstaatlichen Normenkontrolle aufzurollen, sind zum Scheitern verurteilt, weil auf diesem Wege lediglich bestehendes Recht auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft und gegebenenfalls aufgehoben, nicht jedoch das Fehlen gesetzlicher Regelungen erfolgreich bekämpft werden kann34.

Zum Hessischen Privatfunkgesetz, DVP 1989, S. 38 ff.; Hesse, Die Organisation privaten Rundfunks in der Bundesrepublik, DÖV1986, S. 177 ff.; Kühler, Die neue Rundfunkordnung: Marktstruktur und Wettbewerbsbedingungen, NJW 1987, S. 2961 ff.; Ricker, Der Rundfunkstaatsvertrag - Grundlage einer dualen Rundfunkordnung in der Bundesrepublik Deutschland, NJW 1988, S. 453 ff.; Römer, „Grundversorgung" mit Rundfunk durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten - Die Stellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im dualen Rundfunksystem, VR1989, S. 9 ff.; Schmidt, Ordnung des Rundfunks im Zeitalter des Satellitenfernsehens, NJW 1986, S. 1792 ff.; Schmitt!Glaeser, Die Rundfunkfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AÖR 112 (1987), S. 215 ff. 32 Dies ergibt sich - lege non distinguente - klar aus Art. I Abs. 2 des BVG zur Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks (Text siehe vorhin in Fn. 25); vgl. Wittmann, Rundfunkfreiheit (Fn. 26), S. 43 ff. 33 Auf Grund der bestehenden Gesetzeslage (Rundfunkgesetz - siehe Fn. 27) ist derzeit der „österreichische Rundfunk'* (ORF) als einziger Legalkonzessionär befugt, Rundfunk zu betreiben. 34 Die Monopolstellung des ORF ergibt sich aus seiner Steüung als derzeit einziger Legalkonzessionär (siehe vorhin in Fn. 33). Einer etwaigen Verfassungswidrigkeit dieser Monopolstellung (sub specie Art. 10 MRK) könnte aber mit einer Gesetzesaufhebung durch den VfGH nicht wirksam begegnet werden, weil damit - wegen des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehaltes in Art I Abs. 2 des BVG zur Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks (siehe Fn. 25) - die Freiheit zum Betrieb von Rundfunk nicht hergestellt, sondern der Aktivität des Gesetzgebers ausgeliefert wäre (der VfGH kann gesetzgeberisches Handeln weder ersetzen noch erzwingen). Eine Prüfung und Aufhebung des Gesetzesvorbehaltes in dem erwähnten BVG durch den VfGH ist zwar theoretisch denkbar, aber praktisch kaum zu erwarten - siehe dazu Funk, in: FS Ermacora (Fn. 26).

62

Bernd-Christian Funk

Unmittelbare Einflüsse des deutschen auf das österreichische Verfassungsrecht hat es weiter im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit gegeben. Das österreichische Verfassungsrecht kennt schon seit der Dezemberverfassung von 1867 35 die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde gegen individuelle Verwaltungsakte wegen behaupteter Grundrechtsverletzung. Wer sich durch einen Bescheid oder durch einen verfahrensfreien Verwaltungsakt in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt sah, konnte und kann dagegen nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges Beschwerde beim VfGH (vor 1918: beim Reichsgericht) erheben36. Auf diesem Wege kann auch ein amtswegiges Normenkontrollverfahren in Bezug auf die dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Allgemeinregelungen ausgelöst werden 37. Die Möglichkeit einer unmittelbaren Verfassungsbeschwerde des Einzelnen gegen Gesetze und Verordnungen gab es zunächst nicht. Sie ist erst durch eine B-VG-Novelle aus dem Jahre 1975 38 eingefühlt auf worden. Die damals geschaffene Einrichtung des Individualantrages Normenkontrolle 39 ist einem im GG angelegten Vorbild und seiner Ausgestaltung durch die Rechtsprechung gefolgt. Die ursprünglich in § 90 35

Siehe vorhin Fn. 2. Zur Entwicklung der Rechtslage seit 1867 siehe Funk, Der Verwaltungsakt im österreichischen Rechtssystem. Eine ideengeschichtliche, funktionstheoretische und rechtssystematische Untersuchung mit Ausblick auf die bundesdeutsche Rechtsordnung (1978), S. 19 ff. 37 Diese Möglichkeit wurde allerdings erst durch das B-VG 1920 geschaffen. Bis dahin galt die Rechtslage der Dezemberverfassung von 1867. Danach lag die Verordnungsprttfung bei den Gerichten; Gesetze konnten von den Gerichten lediglich auf ihre gehörige Kundmachung hin geprüft werden (StGG 1867 über dierichterliche Gewalt siehe Fn. 2); vgl. auch Kelsen/ Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (1922), Anm. zu den Art. 89, S. 139 und 140. 38 BVG vom 15.5.1975, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 durch Bestimmungen über die Erweiterung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes geändert wird (BGBl. 1975/302); vgl. dazu Mayer/Rill! Funk/Walter, Neuerungen im Verfassungsrecht. Bundesstaat und Rechtsstaat in den Verfassungsnovellen 1974 und 1975 (1976). 39 Gemäß Art. 139 Abs. 1 und 140 Abs. 1 B-VG erkennt der VfGH über die Gesetzwidrigkeit von Verordnungen bzw. die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Gesetzwidrigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern die Verordnung bzw. das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist. Nach diesem Muster können auch unmittelbar anwendbare Staatsverträge (Ait. 140 a B-VG) und Wiederverlautbarungskundmachungen (Art. 139 a B-VG) mit Individualantrag angefochten werden. Zu den Problemen des Individualantrags vgl. ctw&Berchtold, Zur Erweiterung des Rechtsschutzes im öffentlichen Recht, ÖJZ 1976, S. 589 ff.; Barfuss, Die Individualanfechtung von Gesetzen und Verordnungen beim Verfassungsgerichtshof, ÜJZ1984, S. 533 ff.; Ermacora, Verfassungsänderungen 1975, JB1. 1976, S. 79 ff.; Haller, Der Individualantrag zur Verordnungs- und Gesetzesprüfung, ZfV 1976, S. 230 ff.; Haller, Die Prüfung von Gesetzen 36

Das Grundgesetz — Bericht

ech

63

BVerfGG und seit 1969 im GG 40 verankerte Verfassungsbeschwerde gegen Akte der öffentlichen Gewalt umfaßt nach der Judikatur auch die Möglichkeit einer Anfechtung von Gesetzen und Allgemeinregelungen durch den Einzelnen, sofern er durch eine solche Norm gegenwärtig und unmittelbar in seinen Rechten nachteilig betroffen ist und ein Bedürfnis nach dieser Form des unmittelbaren Rechtsschutzes besteht41. Der österreichische Verfassungsgesetzgeber hat diese Grundsätze übernommen und in legistisch nicht sonderlich geglückter Form in Art. 139 Abs. 1 und 140 Abs. 1 B-VG wie folgt umschrieben: „Der VfGH erkennt über die Rechtswidrigkeit von Gesetzen, Verordnungen, Wiederverlautbarungskundmachungen und Staatsverträgen auf Antrag einer Person, die unmittelbar durch diese Rechtswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern die betreffende Norm ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist"42. Das österreichische System des Grundrechtsschutzes ist dadurch um eine wesentliche Variante erweitert worden. Es wäre reizvoll, die Praxis der Zulassung solcher Beschwerden in beiden Staaten zu vergleichen. Es ist übrigens bemerkenswert, daß die österreichische Verfassung im Unterschied zum GG eine Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen kennt43. Auch hier kann das Muster des GG als Vorbild für eine entsprechende Reform dienen44. (1979), S. 207 ff.; Öhlinger, Die Verfassungsentwicklung in Österreich seit 1975. Bundesstaat, Rechtsstaat und Demokratie als Thema verfassungsrechtlicher Reformen, ZaöRVR 1977, S. 399 ff.; Raschauer, Verfassungsbeschwerde gegen Rechtssätze, DÖV 1976, S. 698 ff.; Raschauer, Unmittelbare Gesetzesanfechtung durch einzelne in Österreich, EuGRZ 1977, S. 262 ff.; Ringhof er, Die Individualanfechtung von Gesetzen und Verordnungen, ÖVA1977, S. 167 ff.; Walter, Die Neuregelung der Verordnung- und Gesetzesprüfung, in: Mayer/Rill / Funk/Walter, Neuerungen (Fn. 38), S. 79 ff.; Walter, Probleme der Individualbeschwerde gegen Gesetze und Verordnungen, ÖJZ1978, S. 175 ff.; Wielinger, Die Bedeutung der B-VG-Novelle über die Erweiterung der Zuständigkeiten des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes für die Gemeinden, ZfV 1976, S. 64 ff. 40 Art. 93 Abs. 1 Z. 4a GG. 41 Siehe etwa Leibholz/Rinck, Grundgesetz-Kommentar, Anm. 6 zu Art. 93 GG; Maunzi Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Rz. 64 ff. zu Art. 93 GG. 42 Die Formulierung ergibt sich aus einer Zusammenschau der maßgebenden Regelungen in den Art. 139 Abs. 1,139a, 140 Abs. 1 und 140a B-VG (siehe vorhin in Fn. 39). 43 Die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Ζ 4a GG erstreckt sich auch auf gerichtliche Entscheidungen (ausgenommen solche des Β VerfG). 44 Zur Einführung einer Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen siehe Loebenstein, Die Behandlung des österreichischen Grundrechtskataloges durch das Expertenkollegium zur Neuordnung der Grund- und Freiheitsrechte, EuGRZ 1985, S. 365 ff., 392 ff.; Loebenstein, in: FS Ermacora (Fn. 11), S. 268 f.; für die Einführung eines solchen Instrumentes habe ich plädiert: Funk, Verfassungsrechtliche Fragen des MRG, in: Korinek/Krejci (Hrsg.), Handbuch zum Mietrechtsgesetz (1985), S. 1 ff. (40 f.).

n

64

Bernd-Christian Funk

Am Muster von Regelungen im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht sind auch jene verfassungsrechtlichen Maßnahmen orientiert, mit denen in den Jahren 1981 und 1984 in zwei Teilschritten der VfGH entlastet und damit vor dem drohenden Zusammenbruch bewahrt wurde. Für Verfassungsbeschwerden gegen Verwaltungsahe wurde die Möglichkeit einer Ablehnung 45 ohne nähere Prüfung geschaffen, wenn die betreffende Beschwerde entweder keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (dies war ein erster Schritt 1981)46 oder wenn von der Entscheidung in der betreffenden Sache die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (diese Erweiterung erfolgte in einem zweiten Schritt 198447, nachdem sich die erste Entlastungsnovelle aus 1981 als nicht hinreichend wirksam erwiesen hatte). Die Lösung ist dem Vorbild des § 93 a BVerfGG nachempfunden. Die Vorprüfung erfolgt jeweils im kleineren Rahmen einer aus drei Richtern des BVerfG bestehenden Kammer bzw. in Österreich durch den sog. kleinen Senat" 4*, der aus 5 Mitgliedern des VfGH gebildet wird. Ein Ablehnungsbeschluß durch diesen Senat bedarf der Einstimmigkeit49. Trotz dieser Kautelen ist die Einrichtung der Ablehnung auf Kritik gestoßen50. Sie bildet einen Kompromiß zwischen dem Ideal judizieller Gründlichkeit und den Erfordernissen einer funktionsfähigen Verfassungsrechtsprechung. Im großen und ganzen scheint dieser Kompromiß in Österreich gelungen zu sein. Mit einer B-VG-Novelle aus 1981 (BGBl. 350) wurde die Möglichkeit geschaffen, durch (einfaches) Gesetz oder gesetzesgleichen Staatsvertrag einzelne Hoheitsrechte des Bundes auf zwischenstaatliche Einrichtungen und ihre Organe zu übertragen und die Tätigkeit von Organenfremder Staaten (ζ. B. im Rahmen der Grenzkontrolle) im Inland sowie die Tätigkeit österreichischer Organe im Ausland im Rahmen des Völkerrechts zu regeln (Art. 9 Abs. 2 B-VG). Bis dahin bedurften solche Befugnisse einer speziellen sonderverfassungsrechtlichen Legitimation. Die nunmehrige Regelung 45

Art. 144 Abs. 2 B-VG BGBl. 1981/350 ( „ E r s t e Enüastungsnovelle"). 47 BGBl. 1984/296 („Zweite Entlastungsnovelle44). 48 Diese Bezeichnung hat sich eingebürgert, sie ist aber kein terminus legalis. Der „Kleine Senat44 beruht darauf, daß nach § 7 Abs. 2 VerfGG (BGBl. 1953/85 in bestimmten Angelegenheiten die Anwesenheit des Vorsitzenden und von vier Stimmführern für die Beschlußfahigkeit des VfGH ausreicht; siehe dazu Walter, Ober einige Probleme der Organisation der Höchstgerichte, ÖJZ 1969, S. 370 ff. 49 § 31 letzter Satz VerfGG (BGBl. 1953/85 i.d.F. 1981/353). so Ablehnend Klecatsky, in: Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1 ), S. 110: Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „verfahrensfreien Repulsion von Rechtsschutz suchenden Grundrechtsträgern44; positiv dagegen die Beurteilung bei Korinek, Änderungen im Rechtsschutzsystem, Stb 1984 F 17, S. 65 f. 46

Das Grundgesetz — Bericht

ech

65

des Art. 9 Abs. 2 B-VG weist Parallelen zu Art. 24 Abs. 1 GG („Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen") auf. Im Rahmen der Neuordnung des Haushaltsverfassungsrechts durch die BVG-Novelle 1986 (BGBl. 685) wurde die Vorsorge für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Staatszielbestimmung verankert (Art. 13 Abs. 2 B-VG: „Bund, Länder und Gemeinden haben bei ihrer Haushaltsführung die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes anzustreben44). Die Regelung ist unverkennbar durch Art. 9 Abs. 2 GG („Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen44) inspiriert. Die B-VG-Novelle 1988 (BGBl. 685) hat den Ländern u. a. das Recht beschert, mit Nachbarstaaten Österreichs und deren Teilstaaten völkerrechtliche Verträge über Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches der Länder abzuschließen (Art. 16 Abs. 1). Auch hier sind Parallelen zum GG zu erkennen, das die Länder in den Angelegenheiten ihrer Gesetzgebungszuständigkeit zum Abschluß von Verträgen mit auswärtigen Staaten ermächtigt (Art. 32 Abs. 3 GG).

3. So viel über die Wirkungszusammenhänge auf der Ebene des kodifizierten Verfassungsrechts. Es wäre von großem Interesse, darüber hinaus die mannigfaltigen parallelen Entwicklungen im Verfassungsrechtsle der beiden Staaten zu untersuchen; Entwicklungen, die unabhängig voneinander zum Teil in zeitlicher Verschiebung in Rechtssetzung, Rechtsprechung und Lehre vielfach stattgefunden haben. Schon bei einer ersten Sichtung fällt auf, daß es hier eine große Fülle an Vergleichsstoff gibt. Stichwortartig erwähnt seien etwa die Lehren aus der Gesamtreformdebatte 51, die 51

Zum Unterschied von der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland ist in Österreich über eine Totalrevision der Bundesverfassung kaum diskutiert worden. Die Verfassungsreform in Österreich ist vielmehr ein lang dauernder Prozeß der kleinen Schritte (die nicht immer von einem durchdachten Konzept getragen sind). Vgl. zum Themenkreis „Verfassungsrevision" insbesondere: Österreich. Adamovich, Zur Fortentwicklung des österreichischen Verfassungsrechtes, in: 60 Jahre Bundesverfassung, Schriftenreihe des Salzburger Landespressebüros, Serie Sonderpublikationen, Bd. 31 (1980), S. 57 ff.; Dohr, Verfassungsreform in Österreich, ÖZP 1977, S. 383 ff.; Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in Schambeck (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz (Fn. 1), S. 83 ff.; Klecatsky, in: FS Ermacora (Fn. 14), S. 309 f.; Novak, Reform oder Ruin der Bundesverfassung. Zur Notwendigkeit einer formellen Bereinigung des österreichischen Verfassungsrechtes, in: Reformen des Rechts, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz (1979), S. 549 ff. Bundesrepublik. Bericht zur verfassungsrechtlichen Fortentwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Gespräch über die Ergebnisse der Enquete-Kommission Verfassungsreform, DÖV1977, S. 556 ff.; Busch, Die Ergebnisse der Enquete-Kommission Verfassungsreform und die verfassungsrechtliche Fortentwicklung der Bundesrepublik, DVB1. 1978, S. 322 ff.; Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft (Hrsg.), Die Ergebnisse der Enquete-Kommission Verfassungsre5 Batüs/Tsatsos/Mahienholz

66

Bernd-Christian Funk

es in den Siebzigeijahren in der BRD und in der Schweiz gegeben hat; die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Schwangerschaftsrecht 52; die Fragen des Ausländerwahlrechts53; der verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel54; des Asylrechts55, des politischen

form und die verfassungsrechtliche Fortentwicklung der Bundesrepublik (1977); Grimm, Die Revision des deutschen Grundgesetzes, ÖZP 1977, S. 397 ff.; Ipsen, Zum Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, DÖV 1977, S. 537 ff. Schweiz. Verfassungsentwurf Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, in: AÖR 1979, S. 475 ff.; Binswanger, Eigentum und Eigentumspolitik. Ein Beitrag zur Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung (1978), Germann, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Stand und Chancen, ÖZP 1977, S. 419 ff.; Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, ZSR 119 (1978), 1/1, S. 1 ff.; Müller, Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Bemerkungen zum Stand der Diskussion und zum Verfahren, Der Staat 1981, S. 83 ff.; Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AÖR 1979, S. 345 ff. 52 Vergleichend Grimm, Die Fristenlösungsurteile in Österreich und Deutschland und die Grundrechtstheorie, JB1.1976, S. 74 ff.; siehe auch (für Österreich) GroisslSchantll Welan, Der verfassungsrechtliche Schutz des menschlichen Lebens, ÖJZ 1978, S. 1 ff.; Melichar, Fristenlösung und Krankenanstaltenrecht, in: FS Plöchl (1979), S. 439 ff.; Novak, Das FristenlösungsErkenntnis des österreichischen VfGH, EuGRZ 1975 S. 197 ff.; Waldstein, Rechtserkenntnis und Rechtsprechung. Bemerkungen zum Erkenntnis des VfGH über die Fristenlösung, JB1. 1976, S. 505 ff., 574 ff. 53 In Österreich ist die Diskussion zu diesem Thema weder de lege lata noch de lege ferenda bislang in Gang gekommen; vgl. Stolzlechner, Die politischen Rechte der Ausländer in Österreich (1980), S. 80 ff. Siehe dagegen für die Bundesrepublik neuerdings Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz. Zum Kommunalwahlrecht der Ausländer, DÖV 1988, S. 437 ff. Erwähnt seien bei dieser Gelegenheit zwei wichtige Wahlrechtsentscheidungen des VfGH betr. dit Brief wahl (VfSlg. 10412/1985) und das Wahlrecht von Auslandsösterreichern (V 16.3.1989, G 218/88). 54 In Österreich ist ein verfassungsrechtliches Bekenntnis zum umfassenden Umweltschutz als Staatszielbestimmung mit BVG vom 27.11.1984 (BGBl 491) geschaffen worden; vgl. dazu Marko, Umweltschutz als Staatsziel, ÖJZ 1986, S. 289 ff. Zur verfassungsrechtlichen Diskussion in der Bundesrepublik siehe etwa Kloepfer, Umweltschutz und Verfassungsrecht. Zum Umweltschutz als Staatspflicht, DVB1.1988, S. 305 ff.; Mutius, Staatszielbestimmung „Umweltschutz" - Voraussetzungen und Folgen, WuV 1987, S. 51 ff.; Peters, Praktische Auswirkungen eines im Grundgesetz verankerten Staatsziels Umweltschutz, Natur und Recht 1987, S. 293 ff.; Rauschning, Aufnahme einer Staatszielbestimmung über den Umweltschutz in das Grundgesetz?, DÖV 1986, S. 489 ff.; Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AÖR 1987, S. 26 ff.; Michel, Umweltschutz als Staatsziel? Zur Problematik der Aufnahme einer Um weltstaatszielbestimmung in das Grundgesetz, Natur und Recht 1988, S. 272 ff. 55 In Österreich ist das Asylrecht kein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht (Grundrecht); zur Rechtslage siehe insbesondere Linke, Grundriß des Auslieferungsrechts (1983); Merl, Asylpolitik und zeitgemäße Hilfe für Vertriebene. Kritische Analyse des geltenden österreichischen Asylrechts unter besonderer Berücksichtigung von Behördenpraxis und Judikatur, ZÖR 38 (1988), S. 257 ff.; Rosenmayr, Asylrecht und Asylverfahren in Österreich, in: Konrad (Hrsg.), Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren unter besonderer Berücksichtigung des Asylrechts (1985), S. 113 ff.; Uibopuu, § 7 (2) Asylgesetz und der „anderweitige Schutz" des Asylbewerbers, ZÖR 34 (1984), S. 305 ff. Siehe auch Frowein, Asylrecht aus rechtsvergleichender Sicht, Aus Politik und Zeitgeschichte 1987, H. 26.

Das Grundgesetz — Bericht Österreich

67

Extremismus56 und der Parteienverfassung 57; der Reform des Verbänderechts58; der kommunalen Strukturen 59; der Einwirkungen der MRK in das nationale Verfassungsrecht 60 und vieles andere. 4. Vergleichenswert wären auch die Aspekte des Verfassungsverständnisses, der Verfassungsauslegung und der wissenschaftlichen Kultur der Staatsrechtslehre beider Seiten. Dazu nur so viel: In der neueren österreichischen Grundrechtsdogmatik sind Entwicklungen von großer Tragweite festzustellen, die zumindest mittelbar vom Grundrechtsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland beeinflußt wurden. Die Rechtsprechung des österreichischen VfGH zu den Grundrechten war jahrzehntelang durch ein formales, historisierendes und im Ergebnis vielfach steriles Grundrechtsdenken geprägt. Seit etwa zehn Jahren hat sich dieser Stil wesentlich geändert Der VfGH hat seither ein weitaus verfeinertes, materielles Grundrechtsverständnis entwickelt. Das Ergebnis ist eine weitaus dichtere und inhaltlich intensivere Kontrolle der 56

Das österreichische Verfassungsrecht kennt keine Möglichkeit eines Verbotes von verfassungsfeindlichen Parteien. Verstößt die Gründung oder die Tätigkeit einer politischen Partei gegen das verfassungsrechtliche Verbot der nationalsozialistischen Wiederbetätigung (§ 3 VerbotsG StGBl. 1945/13), so sind die Rechtsfolgen (Nichtigkeit der Gründung und sonstiger Rechtshandlungen) von Fall zu Fall zu prüfen; siehe dazu VfSlg. 9648/1983 („Liste gegen Ausländer"), 10705/1985 („Hochschülerschaftswahl-Erk") und VfGH 25.6.1988, Β 999/87 („NDP-Erk"); siehe jüngst Lübbe-Wolff, Zur Bedeutung des Art. 139 GG für die Auseinandersetzung mit neonazistischen Gruppen, NJW 1988, S. 1289 ff. 57 Zum österreichischen Parteienverfassungsrecht zuletzt Schäffer, Parteienstaatlichkeit Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates?, VVDStRL 44 (1986), S. 46 ff. 58 Die in der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte der 70er Jahre geführte Diskussion über eine Neuordnung des Verbänderechts hat in Österreich kein Pendant gehabt; siehe etwa Lessmann, Die Verbände in der Demokratie und ihre Regelungsprobleme, NJW 1978, S. 1545 ff.; Wimmer, Brauchen wir ein Verbändegesetz?, DVB1. 1977, S. 401 ff. Die staatsrechtliche Literatur in Österreich hat das Verbändewesen vor allem unter dem Aspekt der Diskrepanz von normativer Verfassung und Realverfassung thematisiert; vgl. etwa Klecatsky, Interessenverbände und Parlament, in: Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen (1967), S. 207 ff.; Winkler, Staat und Verbände, VVDStRL 44 (1966), S. 34 ff. 59 Die Maßnahmen der kommunalen Gebietsreform (Gemeindezusammenlegung) haben eine Reihe von einschlägigen Entscheidungen des VfGH ausgelöst. Bemerkenswert ist dabei der (für österreichisches Verfassungsverständnis nicht selbstverständliche) Gedanke der grundsätzlichen Justiziabilität solcher Maßnahmen der Kommunalpolitik unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Sachlichkeitsgebot); siehe Neuhof er, Gemeindegebiet und Gemeindebewohner, in: Fröhler/Oberndorfer (Hrsg.), Das österreichische Gemeinderecht (ab 1983) 3.2. (mit ausführlichen Nachweisen der Rspr. und Lit.). 60 Die MRK und ihre Zusatzprotokolle sind in Österreich Bestandteil des formellen Bundesverfassungsrechts. Vor allem die Verfahrensgarantien des Art. 6 MRK haben die verfassungsrechtliche Lage in ungeahnter Weise tiefgreifend verändert. Mit den Entscheidungen des VfGH vom 14.10.1987, Β 267/86 und vom 14.10.1987, G181/86 et al. ist ein (vorläufiger) Abschluß einer wechselhaften Entwicklung erreicht worden; vgl. zuletzt Ermacora, Grundriß der Menschenrechte in Österreich (1988), S. 131 ff.; Walterl Mayer, Bundesverfassungsrecht6 (Fn. 1), S. 484 ff. (beide mit ausführlichen Nachweisen). 5

68

Bernd-Christian Funk

Gesetzgebung61. Mit den Kriterien der Notwendigkeit, Eignung und Angemessenheit hat der VfGH grundrechtliche Maßstäbe konkretisiert und kultiviert, die der Gesetzgebung eine im Vergleich zu früheren Zeiten weit größere Rationalisierungslast62 auferlegen. Zu ihrer Entlastung ist allerdings die Legislative vielfach in die fragwürdige Technik der Immunisierung von Gesetzesrecht durch sonderverfassungsrechtliche Sicherungsklauseln63 ausgewichen. Die Belebung des Grundrechtsverständnisses in der österreichischen Verfassungsrechtsprechung ist durch die Staatsrechtslehre mit vorbereitet und gefördert worden64. Wesentliche Impulse und wissenschaftlicher Rückhalt sind dabei auch vom staatsrechtlichen Denken in der Bundesrepublik Deutschland gekommen. Aus österreichischer Sicht ist die Verfassungsordnung des Grundgesetzes und seiner Verfassungspraxis in Rechtsprechung, Lehre und Politik eine wichtige, wenn auch in ihrer Ergiebigkeit bei weitem noch nicht voll genutzte Quelle für einen Zugewinn an dogmatischer Erkenntnis und verfassungspolitischer Orientierung. Die ungleiche Gewichtsverteilung ist sicher eine Frage der Größenverhältnisse. Beide Verfassungen haben Vitalität bewiesen; die eine als eine neu entstandene, die andere als eine neu belebte.

61 Dazu jüngst Bercktold, Der Gleichheitssatz in der Krise, in: FS Ermacora (1988), S. 327 ff. 62 So zuletzt wieder im Erk 21.6.1989, G 198/88, G 234/88 („Ladenschluß-Erk"). 63 Vgl. die Angaben in Fn. 11. 64 Siehe den Lagebericht von Walter, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Österreich, in: Vogel (GesRed), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle (1979), S. 1 ff.

40 Jahre Grundgesetz: Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen Bericht Italien Von Dian Schefold 1. Daß das Grundgesetz 40 Jahre gilt, daß es sich im wesentlichen bewährt hat und daß sich keine konkreten verfassungspolitischen Alternativen aufdrängen, jedenfalls keine größeren Änderungskonzepte, abgesehen von Einzelproblemen, auf der Tagesordnung stehen, mag den deutschen Betrachter mit einer gewissen Genugtuung erfüllen. Er wird dann auch bedenken, daß Verfassungspolitik „am Reißbrett" der nach 40 Jahren durchaus eingreifenden Verwurzelung des Verfassungswerkes nicht nützt Das Grundgesetz hat eine gewisse historische Würde gewonnen. So liegt der Gedanke an die Ausstrahlungskraft dieses Verfassungswerkes, der ihm zugrunde liegenden und durch es bewirkten Verfassungsdiskussion auf das Ausland nahe. Besonders historisch verwandte westeuropäische Staaten standen und stehen vor ähnlichen Problemen. Inwieweit hat da das Grundgesetz weitergeholfen? Wer diese Frage für Italien stellt, erhält zunächst eine enttäuschende Antwort. Der Grund ist banal; er liegt im Entstehungszeitraum der Verfassungen. Ähnlich wie Deutschland 1948, kannte auch Italien als Folge des Zweiten Weltkriegs eine territoriale Spaltung. Aber sie war ganz anderer Art Der Verlauf des Krieges führte dazu, daß im Süden und dann auch in der Mitte Italiens der Faschismus ein Ende fand und durch einen Parteienpluralismus in weitgehender Anknüpfung an die nie formell aufgehobene Verfassung von 1849 ersetzt wurde, während in Norditalien Mussolinis von der deutschen Wehrmacht gestützte sogenannte „soziale Republik" den Faschismus in brutalisierter Form fortsetzte. Mit der deutschen Niederlage und dem Waffenstillstand war diese Spaltung überwunden und eine nationale Einigung möglich. Das Bündnis der antifaschistischen Parteien führte zur Volksabstimmung über die Einführung der Republik (2. Juni 1946) und zur Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung. Damit war die Grundlage einer umfassenden und grundsätzlichen Verfassungsdiskussion gelegt In einer umfangreichen, ausgezeichnete Verfassungsjuristen einschließenden Kommission der 75 mit zahlrei-

70

Dian Schefold

chen Unterausschüssen wurde das Verfassungswerk erarbeitet; auch im Plenum der verfassungsgebenden Versammlung fanden grundsätzliche Diskussionen und Entscheidungen statt. Der Abschluß des Verfassungswerks erwies sich als schwierig; aber er gelang noch vor Weihnachten 1947, so daß die Verfassung am 27. Dezember 1947 verkündet werden und am 1. Januar 1948 in Kraft treten konnte. Erst ein halbes Jahr später begannen konkretere Vorüberlegungen für das Grundgesetz.Diese konnten daher keinen Einfluß mehr auf ein so grundsätzlich erwogenes und erarbeitetes Verfassungswerk haben. Eher denkbar wäre noch ein Einfluß der deutschen Länderverfassungen der Jahre 1946/47 gewesen. Aber deren Erarbeitung blieb in Italien weitgehend verborgen und wurde kaum zur Kenntnis genommen. Das liegt angesichts der wirtschaftlichen und technischen Bedingungen der frühen Nachkriegszeit nahe; es erklärt sich aber zusätzlich daraus, daß für den Einheitsstaat Italien Länderverfassungen kaum relevant erscheinen mochten. Gewiß sah auch das 1946/47 beratene italienische Verfassungswerk die Schaffung von Regionen vor, aber diese wurden weitgehend durch die staatliche Verfassungsordnung normiert (Art. 121-123), in entscheidenden Punkten der Regelung durch zentralstaatliches Gesetz unterworfen (Art. 122 I). Die Statuten der Regionen mit SpezialStatut wurden, wenn auch aufgrund der regionalen Vorlagen, durch staatliches Verfassungsgesetz festgesetzt (Art. 116), die der anderen Regionen sollte durch einfaches Gesetz genehmigt werden (Art. 123 II), so daß zweifelhaft sein kann, ob es sich um regionale oder komplexe, von Staat und Region erlassene Akte handelt. Jedenfalls leuchtet ein, daß eine Verfassung, die den Regionen so wenig Eigengewicht zubilligte, deutsche Landesverfassungen kaum als wichtigen Einflußfaktor nehmen konnte. 2. Diese Distanz zur zeitnahen Verfassungsdiskussion in Deutschland schließt freilich nicht aus, daß Verbindungen zu Deutschland für die italienische Verfassungsgebung und Verfassungslehre von maßgeblicher Bedeutung gewesen sind. Aber Gegenstand dieses Einflusses waren weniger die Verfassungsgebung und die politischen Kräfte, als die deutsche Staats- und Verfassungsrechtslehre. Das ist nicht nur in der Situation der Jahre nach 194S begründet, sondern liegt vor allem an der Orientierung der italienischen staatsrechtlichen Diskussion mehr an der Theorie als am geschriebenen Verfassungsrecht. Gewiß kann eine solche Theoriediskussion nicht völlig vom geltenden Recht abstrahieren, und dessen Einfluß prägt die Theoriebildung mit. Aber sie, nicht der Verfassungstext, ist der primäre Gegenstand des Blicks über die Grenze. a) Dieser Einfluß der deutschen Theoriediskussion ist schon im 19. Jahrhundert festzustellend geht wohl letztlich auf die Bedeutung der deutschen Romantik und Pandektistik zurück, deren Methode in der Staatsrechtslehre übernommen wurde. Beides - die Pandektistik als solche und deren Beeinflus-

Das Grundgesetz — Bericht

ien

71

sung der Staatsrechtslehre - hat auf Italien eingewirkt und die dortige Rechtswissenschaft mitgeprägt. So begegnet gleichermaßen der Einfluß etwa Derburgs, Jheringes, Windscheids wie andererseits der von deren Methode geprägten Autoren wieLaband, G. Jellinek, 0. Mayer, Karl Kormann. Diese Methode führte, auch im Verfassungsrecht, zur Herausbildung allgemeiner Lehren des öffentlichen Rechts, die als „Instituzioni di diritto pubblico" bis heute nicht nur Einführungsfunktion haben, sondern eine Art Allgemeinen Teil des öffentlichen Rechts bilden. Die starke Begrifflichkeit einer solchen Wissenschaft schließt freilich nicht aus, daß auch stärker empirisch orientierte, kritischere Autoren wie J. C. Bluntschli und Albert Haenel gelesen werden. Zur Betonung dieses Einflusses gerade auch liberaler Autoren bestand besonderer Anlaß, da die italienische Verfassungsrechtslage der parlamentarischen Monarchie savoyischer Prägung die konkreten Verfassungsrechtsprobleme anders stellte. Die Versuche einer Rechtfertigung monarchischer Autorität konnten zurückhaltender ausfallen als etwa bei Paul Laband. So läßt sich vor allem beim wichtigsten Begründer der neueren italienischen Staatsrechtslehre, Vittorio Emanuele Orlando (1860-1952), der, wie neuere biographische Untersuchungen herausgearbeitet haben, auch in München und Freiburg studiert hat, liberalere Abwandlung der deutschen staatstheoretischen Positionen konstatieren. Das ist verständlich, bedenkt man Orlandos politische Haltung, die ihn zum Liberalen machte und in der Politik bis zur Ministerpräsidentschaft führte.

b) Besonders fällt aus deutscher Sicht auf, daß diese Haltung der Staatsrechtslehre im Faschismus keineswegs grundsätzlich anders war. Die Fragestellungen, vor allem die theoretisch-dogmatische Orientierung, bleiben bestehen, wobei die konkrete Situation des faschistischen Staates nur ein im Vergleich dazu relativ wenig bedeutsames Element ausmacht. Fast wichtiger erscheint der Einfluß der Entwicklung der Staats- und Verfassungstheorie in Deutschland. So wird Kelsen seit den „Hauptproblemen der Staatslehre" in Italien immer wieder gelesen und zitiert, und an der Weimarer Verfassung interessiert zunächst mehr die damit zusammenhängende neuere Verfassungstheorie als der Verfassungstext. Allmählich gelangen daher die Schriften von Carl Schmitt, Rudolf Smend, Erich Kaufmann, Hermann Heller und anderen zu Beachtung; eine entscheidende Funktion dabei scheint der römische Professor für vergleichendes Verfassungsrecht Luigi Rossi gehabt zu haben. Er selbst hat wenig publiziert, aber zahlreiche Wissenschaftler beeinflußt, die auch nach 1945 wichtig geworden sind; zu nennen sind vor allem Carlo Esposito und Vezio Crisafulli. Besonderes Interesse wecken unter diesem Aspekt Werk und Entwicklung von Costantino Mortati (1891-1985), der wie wenige die Verfassungsentwicklung gerade auch nach 1945 beeinflußt hat. Sein erstes größeres Buch, La volontà e la causa nell'atto amministrativo e nella legge (1935) ist zunächst

72

Dian Schefold

eine strikte dogmatische Untersuchung der Bedeutung des Willenselements und der Causa im allgemeinen, d. h. namentlich in der zivilrechtlichen Dogmat i l Daran schließt eine Untersuchung der Bedeutung dieser Elemente im Verwaltungsakt an, mit dem frappierenden Ergebnis vor allem einer Kritik der Ermessenslehre, die nur als pragmatische Einschränkung richterlicher Kognition akzeptiert, rechtssystematisch aber durch die Zielvorstellungen des öffentlichen Rechts ausgeschlossen wird. Ein Schlußteil des Buches behandelt Wille und Causa des Gesetzes - und damit die Verfassung als Grundlage. Um die Verfassung zum bindenden und hinreichend präzisen Bestimmungsfaktor des Gesetzes zu machen, ist, über eine bloße textliche Begrenzung hinaus, eine Verfassung im materiellen Sinne erforderlich. Und nun folgt, nota bene 1935, ein Referat der Smendschtn und Schmittschtn Weimarer Positionen zum materiellen Verfassungsbegriff, mit Hervorhebung der Tatsache, daß auch ein materieller Verfassungsbegriff nicht dem Verfassungsgesetz als Norm entgegenzustellen, sondern ebenso Rechtsquelle, Norm sei wie dieses! Die Rechtsförmigkeit der Verfassung läßt die Nähe zu Kelsen erkennen; aber Mortati widerspricht ihm, da sich der Staat nicht in der Rechtsordnung erschöpfe. Hier ist somit der Weg von der Pandektistik zur Rezeption der Weimarer Staatslehre offen sichtbar, und dazu der Weg zu einer Verfassungstheorie, die ihre Bedeutung erst nach 1945 voll entfalten konnte. Aber noch vorher, 1940, im Jahr XVIII der faschistischen Ära, legte Mortati ein Buch über „Die Verfassung im materiellen Sinn" (La Costituzione in senso materiale) vor, die den letztgenannten Punkt eingehend entwickelt. Hinter und über der geschriebenen Verfassung postuliert Mortati eine Verfassung im materiellen Sinn als Gewährleistung der Einhaltung der formellen Verfassung, als Sicherung der Einheit des Staates und als Bestimmung der Identität des Staates bei Verfassungsänderungen. Diese materielle Verfassung muß - in Absetzung von den Strömungen der Weimarer und der NS-Zeit - zugleich material-wertbetont, rechtlich und eindeutig sein. Sie verkörpert sich in der politischen Partei, was auf eine Anpassung an den damaligen Machtapparat hinauszulaufen scheint und der Partei eine rechtlich konkrete Funktion gibt. Aber es wäre einseitig, darin eine Identifikation mit dem faschistischen System zu sehen. Ausgangspunkt bleibt die von der Theorieentwicklung geprägte Rechtslehre, und die Stellung der Partei ist schillernd: Einerseits wird sie als Notwendigkeit hingestellt, um einen materiellen Verfassungsbegriff zugrundelegen zu können; dann wieder wird auch insofern auf die Literatur zu den Parteien in der Weimarer Republik - Triepel, Radbruch, Leibholz - rekurriert, dann wieder freilich auch auf faschistische Autoren. Aber eine Gegnerschaft zieht sich folgerichtig durch das Buch: jede nicht rechtliche Begründung des materiellen Verfassungsbegriffs ist abzulehnen, ob normative Kraft des faktischen, oder Trennung von Dezision, Integration, organisierter Wirkungseinheit und normativer Verfassung, oder - mit besonderem Nachdruck - die

Das Grundgesetz — Bericht

ien

73

Begründung der Verfassung auf eine „Volksgemeinschaft" und romantisch und organisistische Vorstellungen, wie sie in der NS-ZeitÄ. Höhn und 0. Ko ellreutter vertreten hatten. Es handelt sich somit um einen ganz eigenständigen Versuch der rechtlichen Begründung der Verfassung unter den Bedingungen faschistischer Herrschaft. Dabei wird die Rolle der Parteien in einer Weise betont, daß die Bedeutung für die Verfassungen nach dem Zweiten Weltkrieg - so insb. Art 49 der italienischen Verfassung, aber indirekt auch Art. 21 GG - als Frage kaum von der Hand zu weisen ist. c) Diese Vorgeschichte zeigt, daß der Einfluß Deutschlands auf die italienische Verfassung seine Grundlagen in einer Tradition findet, die besonders auch auf der Weimarer Verfassung fußt. In der Tat ist auch diese selbst für die italienische Verfassung von 1946/47 von größter Bedeutung gewesen. Bei Beginn der Arbeiten ließ das Ministerium für die verfassungsgebende Versammlung eine Reihe von Ausgaben der Verfassungen drucken, die für die Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung nützlich sein konnten. Heft 15 dieser Reihe enthält die Weimarer Verfassung, und der bereits erwähnte Costantino Mortati verfaßte dazu eine Einleitung, die weit mehr als das, sondern eine sechzigseitige Darstellung von Entstehung, Inhalt und Problematik der Verfassung enthält. Daran fällt auf, daß die Weimarer Verfassung weniger kritisch beurteilt wird als in der damaligen und späteren deutschen Literatur. Vor allem findet sich kaum Kritik am organisatorischen Teil der Verfassung, auch nicht an Verhältniswahl, Volksentscheid und Volkswahl des Reichspräsidenten. Wohl aber wird der Akzent auf die mangelnde Konkretheit der sozialen Grundrechte und Orientierungen im zweiten Hauptteil der Verfassung und auf dessen unzureichende Verbindung mit dem ersten Hauptteil gesetzt: die Weimarer Verfassung habe die sozialen Kräfte nicht hinreichend organisatorisch zusammengefaßt; sie sei daher nicht in ausreichendem Maß Gesellschaftsverfassung gewesen. Diese Gesichtspunkte haben durch die Person Mortatis, der Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung war, und durch andere auf die Ausarbeitung der italienischen Verfassung eingewirkt. Die Intensität dieser Einwirkung läßt sich ohne weiteres am Ergebnis ablesen. Der Einfluß der Weimarer Verfassung ist offenkundig, auch wenn er sich mit dem anderer Verfassungen der Zwischenkriegszeit und besonders der französischen Verfassung von 1946 verbindet. Kennzeichnend ist besonders die Betonung des umfangreichen Grundrechtsteils, vor allem mit sozialen und gruppenbezogenen Grundrechten, die Verhältniswahl, die Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems, die Verfassungsgerichtsbarkeit, die allerdings schwächer entwickelte Orientierung in Richtung auf eine dezentrale Gliederung mit wenigstens theoretischem Einfluß auf die Zusammensetzung des Senats. All dies ist ohne die Auseinandersetzungen mit Weimar schwer vorstellbar. Allerdings mußte sich der Weimarer Einfluß dabei auch Abstriche gefallen lassen. Sofiel unter fran-

74

Dian Schefold

zösischem Einfluß die Volkswahl des Präsidenten; territoriale Gliederung und Senatsprinzip bleiben noch unter den föderalistischen Elementen der Weimarer Verfassung. Der bisherige Befund erlaubt eine Zwischenbilanz: Der deutsche Einfluß auf das italienische Verfassungsrecht ist erheblich, aber sein Ursprung liegt teils vor 1918, teils in Weimar und den Folgen, nicht in Bonn. Der Einfluß vermittelt sich mehr über die Theorie als über Verfassungstexte. 3. Allerdings ist natürlich der deutsche Einfluß auf Italien nicht im Jahr 1947 stehengeblieben, wenn auch die Verbindung der frühen Nachkriegsjahre zunächst aus praktischen und politischen, dann auch aus sprachlichen Gründen oft nicht mehr so eng waren: Es zeigt sich, daß in der jüngeren Generation auch weniger Juristen Deutsch lernen und sich daher mit der deutschen Literatur befassen können. Daraus resultieren neben den zunächst politischen auch praktische Gründe für eine stärkere Orientierung in Richtung auf Frankreich, die USA und Großbritannien. Auch soweit Verbindungen zu Deutschland wieder entstanden, war dabei im allgemeinen - von Außnahmen wird gleich noch zu reden sein - der Einfluß des Verfassungsrechts geringer, der Kontakt mit der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft wichtiger. Italiens und Deutschlands Verfassungen hatten ihre feste Gestalt; ein Wirkungszusammenhang konnte sich bei der Anwendung und bei der verfassungsrechtlichen Bearbeitung ergeben. a) Besonders naheliegend war der deutsche Einfluß dort, wo sich die Aktualisierung der italienischen Verfassung verzögerte und daher deutsche Lösungen bereits als Modell zur Verfügung standen, als es um die Konkretisierung der italienischen Verfassung ging. Dies gilt etwa für den Problembereich der Regionalisierung, da die Ausführung der Verfassungsbestimmungen über die Regionen auf sich warten ließ. Zwar waren bald nach Kriegsende Regelungen für die Randregionen mit verfassungsrechtlicher Sonderstellung wie das Aostatal, Südtirol und Sizilien ergangen. Die Ausführung der Verfassungsnormen über die Regionen mit Normalstatut ließ dagegen bis in die Jahre um 1970 auf sich warten. Umso größer war in jener Phase und danach das Interesse am deutschen Förderalismus, auch an der Frage einer möglichen Umgestaltung des Senats nach dem Vorbild des deutschen Bundesratsprinzips, obwohl die Vergleichung bald die Grenzen der Übertragbarkeit der deutschen Lösungen zeigen muß. In ähnlicher Weise stieß das deutsche Parteiengesetz von 1957 bald in Italien auf Interesse. Allerdings blieb dabei ein grundsätzlicher Gegensatz in der Auffassung der demokratischen Mitbestimmung der Parteien bestehen. Während in deutscher Sicht dieses Demokratisierungsgebot, allen Schwierigkeiten zum Trotz, untrennbar mit dem Prinzip der innerparteilichen Demokratie verbunden ist, beschränkt die italienische Lehre das Demokratieprinzip

Das Grundgesetz — Bericht

ien

75

auf das Verhältnis zwischen den Parteien und zu den übrigen staatlichen Stellen. Als am folgenreichsten erwies sich jedoch das italienische Interesse für die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit. Denn während das Bundesverfassungsgericht bereits 1951 seine rechtliche Gestalt erhielt und seine Arbeit aufnahm, dauerte es in Italien bis 1953, bis das Ausführungsgesetz über den Verfassungsgerichtshof erlassen wurde, und bis 1956, bis der Verfassungsgerichtshof mit seiner Arbeit beginnen konnte. Wegen der ähnlichen Struktur der Verfassungsgerichtsbarkeit, diefreilich auch vom österreichischen Vorbild beeinflußt ist, ergab sich ein großes Interesse für die deutsche Lösung. Zugleich wirkte sich aus, daß unter den Verfassungsrichtern mehrere waren, die am gegenseitigen Kontakt Interesse zeigten. In Italien sind in diesem Zusammenhang etwa Ambrosini, Cappelletti , Sandulli, Mortati , Elia, La Pergola zu nennen, in Deutschland umgekehrt Leibholz, Ritterspach, Zeidler. So berichtete das Jahrbuch des öffentlichen Rechts von Anfang an über die italienische Verfassungsentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungsgerichtsbarkeit; am Heidelberger Kolloquium von 1961 lieferte Sandulli einen instruktiven Beitrag; umgekehrt wurde Friesenhahns Darstellung schon 1965 auf italienisch übersetzt; in neuerer Zeit haben Schiaich und andere in Italien über die neue Verfassungsgerichtsbarkeit berichtet. Dabei gilt es freilich, die Unterschiede im Auge zu behalten. Italien kennt keine Verfassungsbeschwerde, schreibt dagegen die Vorlage zur inzidenten Normenkontrolle schon bei Zweifeln des erkennenden Gerichts oder ernstlich fraglicher Verfassungswidrigkeit vor - eine im Hinblick auf die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs zur Vorabentscheidung interessante Parallele. Normenkontrollentscheidungen wirken nach italienischem Recht grundsätzlich ex nunc, Verfassungsmäßig-Erklärungen von Gesetzen haben keine Bindungswirkung, und nach ausführlich, auch in Auseinandersetzung mit der deutschen Lehre begründeter Praxis gilt das Verwerfungsmonopol des Verfassungsgerichtshofs auch für vorkonstitutionelle Gesetze. Auch bei der abstrakten Normenkontrolle und vor allem beim Organstreit gibt es wesentliche Unterschiede, vor allem, weil Italien keine Antragsrechte von Organteilen kennt. Die systematische Erklärung und Rechtfertigung dieser Unterschiede wirft erhebliche, erst im Ansatz bearbeitete Probleme auf. Doch ist der italienische Verfassungsgerichtshof so weit gegangen, zur Information über die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit ständig Referenten aus Deutschland heranzuziehen. Etwa zur Problematik der Rückwirkung von Normenkontrollentscheidungen sind aufgrund eines im letzten Herbst im italienischen Verfassungsgerichtshof veranstalteten Kolloquiums wesentliche rechtsvergleichende Ergebnisse zu erwarten. Hier zeigt sich somit ein Schwerpunkt des Einflusses der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft, vielleicht der Kernpunkt

76

Dian Schefold

b) Im Verhältnis dazu waren die wissenschaftlichen Kontakte der Universitäten und der dort Lehrenden zunächst nicht so stark. Zwar las vor allem die ältere Generation in Italien weiter intensiv die deutsche Literatur, aber sie blieb unter dem prägenden Einfluß der Weimarer Staatsrechtslehre. Neben Kelsen fanden namentlich Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller Beachtung: deren wichtigste Schriften wurden großenteils übersetzt und mit Einleitungen auf italienisch herausgegeben. Daran beteiligten sich auch jüngere Autoren. Dem gegenüber blieb die neuere Nachkriegsliteratur zunächst eher im Hintergrund. Allerdings zeigten sich manche jüngere italienische Wissenschaftler als gründliche Kenner der deutschen Doktrin; so sind die Literaturverzeichnisse aller Artikel in der „Enciclopedia del Diritto" stupende Verzeichnisse des deutschen Schrifttums zu einzelnen Problemen. Umgekehrt gab es auch einzelne deutsche Wissenschaftler, die sich mit italienischer Literatur befaßten, wie Walter Leisner und Roman Schnur, aber sie blieben dabei eher isoliert Eine gewisse Änderung ergab sich, als in Ausnutzung der leichteren Reisemöglichkeiten auf Initiative von Sabino Cassese (Rom) und Christian Tomuschat (Bonn) damit begonnen wurde, Verfassungsrechtskolloquien italienischer und deutscher Vertreter des öffentlichen Rechts zu bestimmten Themenkreisen in meist zweijährigem Turnus abzuhalten. Solche Kolloquien fanden 1977 in Bonn, 1979 in Rom, 1981 in München, 1983 in Palermo, 1985 in Karlsruhe, 1987 in Pavia statt; für 1990 ist, unter Federführung Denningers, ein weiteres Kolloquium geplant. Die Themen berührten die verschiedensten Bereiche des öffentlichen Rechts - nicht nur des Verfassungsrechts - , von Mitbestimmung und Förderalismus (1977) über die Regierungsorganisation (1979), Sozialstaatlichkeit (1981), Parteienrecht (1985) bis zum Rundfunk- und Journalistenrecht (1987). Meistens wurden die Beiträge auch im anderen Staat in Übersetzung abgedruckt, teils unter Zusammenfassung der Berichte aus beiden Staaten, teils gesondert. Damit liegt nun ein umfangreiches vergleichendes Material vor, um das uns frühere Generationen beneidet hätten. Die Information über italienische Verfassungsrechtsfragen ist einfacher geworden. Dennoch ergeben sich Probleme aus dem teilweise stark wechselnden, vom jeweils behandelten Fragenkomplex bestimmten Kreis der an der Zusammenarbeit Beteiligten. Dabei stehen weniger die Verfassungsvergleichung und das Verständnis des anderen Systems, als die Darstellung eines Spezialthemas im eigenen Staat im Vordergrund. Für die Vergleichung ist dies wichtiges Material, aber für sich noch nicht ausreichend. Die Aufgabe, auf dieser Grundlage vergleichend zu arbeiten, ist damit erst gestellt und bleibt auf der Tagesordnung. c) Neben diesen wissenschaftsimmanenten und auch institutionalisierten Kontakten stehen stärker politisch geprägte, die mit der verfassungspolitischen

Das Grundgesetz — Bericht

ien

77

Situation in beiden Staaten zusammenhängen. Insofern ergab sich vor allem in den siebziger Jahren die Situation, daß in Italien die politische Linke, die ja auch im Bereich der Universitäten und der Justiz eine starke Stellung hat, besonders aktiv und zugleich optimistisch war, während in Deutschland die Radikalen-Problematik das Klima vergiftete. Das führte im Kreis der eher nach links tendierenden Juristen - namentlich auch vieler Bremer Kollegen - zu einer Orientierung auf Italien hin. Neben eher politischen und durch bestimmte Anlässe bestimmten Schriften resultierten daraus auch umfangreichere Untersuchungen, etwa Christoph Schminck-Gustavus* Bericht über die Entwicklung der italienischen Richterschaft.

Bedeutsamer noch waren die Rückwirkungen dieses Kontakts in Italien. Das Blickfeld erweiterte sich auch auf eine kritischere Sicht Deutschlands hin. Wegweisend sind insofern die stärker politisch und historisch orientierten Arbeiten Enzo Collottis, aus juristischer Sicht namentlich die Analysen Carl Amirantes, der mit großer Sachkenntnis neben der Weimarer Staatslehre und der bis dahin in Italien noch weniger bekannten neueren Literatur auch Autoren wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer, Wolf gang Abendroth, aber auch Au ren der jüngeren Generation heranzog. Damit stand in Italien eine vollständigere Information über die deutsche Staatsrechtslehre zur Verfügung. d) Spiegelbildlich zeigte sich jedoch auch von explizit konservativer Seite ein Interesse an Deutschland. In diesen Zusammenhang gehört zunächst die Carl ScAm/tf-Renaissance, die in Italien besondere Bedeutung erhielt, freilich teilweise auch von politisch eher links stehenden Autoren getragen wurde; in den gleichen Zusammenhang gehört die Beschäftigung mit Ernst Forsthoffs „Staat der Industriegesellschaft". Besonders wichtig und bis in die Gegenwart von Interesse ist jedoch das Interesse an Deutschland im Zusammenhang mit der Stabilität der deutschen Verfassungssituation auf der einen, der Instabilität des italienischen Regierungssystems auf der anderen Seite. Die auch in Deutschland bekannte Diskussion über Regierbarkeit und Unregierbarkeit nahm in Italien umfangreiche Ausmaße an; viel intensiver als in Deutschland warf sie die Frage nach institutionellen Reformen auf. Daraus resultierte einerseits von privater Seite eine einflußreiche Mailänder Gruppe (Gruppe di Milano), die Reformvorschläge zur Diskussion stellte, andererseits eine nach ihrem Vorsitzenden Aldo Bozzi benannte Parlamentskommission, die sich speziell mit institutionellen Reformen befassen sollte. Damit schien die Situation gegeben, für die, wie gezeigt, 1949 kein Raum war: Das Grundgesetz konnte als Modell einer Verfassung wirken, die sich zur Übernahme anbot. So kam etwa in Betracht, das personalisierte Verhältniswahlsystem mit Sperrklausel, eine neue Form der zweiten Kammer, eine erweiterte Verordnungsgewalt der Regierung, einen mächtigeren Regierungschef, eine abgeschwächte, etwas konstruktive parlamentarische Verant-

78

Dian Schefold

wortlichkeit, einen stärkeren Präsidenten einzuführen, um die Stabilität zu verbessern. Kann das Grundgesetz das Modell für eine Modernisierung der italienischen Verfassung sein? In dieser Frage liegt ein Hauptgrund für das gerade gegenwärtig starke Interesse in Italien an Information über deutsches Verfassungsrecht Die Liste der diskutierten Änderungen - sie ist nicht vollständig - zeigt freilich, daß keineswegs nur deutsche Lösungen zur Diskussion stehen, sondern vor allem auchfranzösische. Die schließlich vorgelegten Vorschläge der Kommission Bozzi haben mit dem Grundgesetz wenig gemein. Sodann fragt sich, ob die Vorschläge realistisch sind. Fast alle zur Diskussion stehenden Reformen, des Wahlrechts, des Zweikammersystems, aber auch der Stellung von Parlament und Regierung sowie des Staatsoberhaupts, rühren an höchst empfindliche Bereiche. Stehen hier Reformen zur Diskussion, so formiert sich sofort ein hartnäckiger Widerstand; konkrete Änderungsabsichten müßten diesen weiter verhärten. Schließlich zeigt sich, daß die tatsächlich durchgeführten, viel bescheideneren Reformen - in neuerer Zeit vor allem die Verminderung der Möglichkeit geheimer Abstimmung im Parlament, so daß die Fraktionsdisziplin verstärkt wird, und die Straffung der Regierungsorganisation - nicht die Verfassungsebene berühren, sondern durch Regelungen auf Gesetzesstufe oder Änderungen der Geschäftsordnung realisiert werden können. Von einer Verfassungsrezeption und schon gar einer Rezeption des Grundgesetzes kann daher kaum gesprochen werden. 4. Aber gerade diese letzte Beobachtung zeigt, daß die Vorstellung von einer vorbildlichen Verfassung - dem Grundgesetz - , das andere nur nachzumachen brauchen, in die Irre führt. Zeitigt schon die Übertragung verfassungsrechtlicher Lösungen in weniger entwickelte gesellschaftliche Formationen, etwa der Dritten Welt, ganz andere Auswirkungen, so werden die Verzerrungen noch größer, wenn Verfassungsformen in ein Land mit ganz anderer, eigenständiger politischer Kultur übertragen werden. Montesquieus Frage nach dem Geist der Gesetze und den gesellschaftlichen Grundlagen, auf die bestimmte Lösungen passen, stellt sich unter den Bedingungen moderner, differenzierter Gesellschaften nur noch drängender. Wichtiger als die Übertragung verfassungsrechtlicher Lösungen ist der Versuch, zu verstehen, warum an bestimmten Orten bestimmte Lösungen bestimmte Ergebnisse bewirken. Dies gilt in besonderem Maß für Italien, das die Anstöße der deutschen Verfassungstheorie in besonders fruchtbarer, interessanter Weise fortgebildet hat Diese Anstöße wirken in einer Verfassungsordnung, die von deutschen Erfahrungen und Traditionen beeinflußt ist, wenn auch das entsprechende Modell in Deutschland gescheitert ist. So gibt die heutige italienische Situation Aufschluß darüber, wie sich die Weimarer Verfassung hätte entwickeln können. Sie stellt sich als aufschlußreiches Gegenmodell zum Grundgesetz dar. Dar-

Das Grundgesetz — Bericht

ien

79

über hinaus verwertet die Arbeit an diesem Gegenmodell Ergebnisse des deutschen Verfassungsrechts und der deutschen Verfassungstheorie, deren Fortentwicklung zur Kenntnis zu nehmen für Deutschland nützlich sein könnte. Machen wir uns diesen Wirkungszusammenhang der beiden Verfassungsordnungen bewußt, so verbietet sich eine einseitige Sicht von der Beeinflussung durch Deutschland aus. Ich hoffe angedeutet zu haben, wie stark das Interesse an deutschem Verfassungsrecht und die Beschäftigung damit in Italien ist. So bleibt aus deutscher Sicht viel nachzuholen, und der 40. Jahrestag des Grundgesetzes kann ein Anlaß dazu sein, das festzustellen.

Kommentar zum Bericht Italien* Von Paolo Ridola Ich übernehme die im Bericht Schefold vorgenommene Periodisierung, die vier wesentliche Diskussionsgesichtspunkte unterscheidet: Die Beziehungen zwischen der deutschen Lehre vor der Weimarer Zeit und der italienischen konstitutionellen Lehre der liberalen Epoche (Ziffer 2 a); den Einfluß Weimars auf die italienische Verfassungskultur und Verfassungslehre (Ziffer 2 b); den Einfluß der Weimarer Verfassung auf die geltende italienische Verfassung (Ziffer 2 c); Betrachtungen über das Grundgesetz in der italienischen Verfassungsdiskussion nach dem Zweiten Weltkrieg (Ziffer

3). Zu 2 a): Hinsichtlich der erstgenannten Fragestellung ist der Einfluß der durch Laband und Jellinek verkörperten Denkrichtung auf die italienischen Juristen der Jahrhundertwende von 1900 unbestreitbar1. Ausgangspunkt dabei ist der von V. E. Orlando herbeigeführte Umschwung von den ideologischphilosophischen Richtungen auf eine juristische Methode hin2. Nicht zufällig wird Orlando der Anstoß zur Übersetzung der „Allgemeinen Staatslehre" und des „Systems der subjektiven öffentlichen Rechte" von Georg Jellinek in die italienische Sprache verdankt3. Mit dem Rechtspositivismus φ Der folgende Kommentar zum vorangehenden Italien-Bericht, übersetzt von dessen Verfasser, ergänzt den Bericht, der seinerseits dem Gespräch mit dem Verfasser des Kommentars viel verdankt, aus italienischer Sicht. 1 Dazu siehe M. Galizia , Profili storico-comparativi della scienza del diritto constituzionale, in: Arch.giur. 1962, S. 84 ff.; S. Cassese, Cultura e politica del diritto amministrativo, Bolgna 1971, S. 21 ff.; M. Fioravanti , Giuristi e costituzione politica nellOttocento tedesco, Milano 1979; C. Roehrssen, Diritto e politica, Palermo 1980; Λ. Monacane, (Hrsg.), I giuristi e la crisi dello Stato liberale in Italia fro Otto e Novecento, Napoli 1986. 2 Vgl. V. E. Orlando , I criteri tecnici per laricostuzionegiuridica del diritto pubblico (1889), jetzt in Diritto pubblico generale, Milano 1954, S. 3 ff. Dazu siehe G. Ciarderotti , η pensiero di V. E. Orlando e la giuspubblicistica italiana fra Otto e Novencento, Milano 1980. 3 Vgl. G. Jellinek , Sistema dei diritti pubblici subbiettivi, Milano 1912; ders., Dottrina generale dello stato, Milano 1942. 6 Battig/Tsatsos/Mahrenholz

82

Paolo Ridola

ist noch das Denken von Santi Romano in der ersten Phase seiner Entwicklung verbunden. Dies gilt von der Abhandlung über die subjektiven öffentlichen Rechte (1900), die wesentlich vom Einfluß des Jellinek'schen Werks zehrt, bis zu einem „Italienischen Staatsrecht" aus den Jahren nach 1910, das bis 1988 unveröffentlicht blieb und das in der Anlage und Methodik weitgehend dem Laband'schen Werk verbunden erscheint4. Hinzuzufügen ist, daß der Einfluß der deutschen Lehre nicht auf die positivistische Richtung beschränkt blieb. Einerseits zeigt sich der Einfluß der Historischen Schule in den Betrachtungen italienischer Juristen über das parlamentarische Regierungssystem, etwa im Werk von G. Arcoleo und in der Kritik, die der junge Orlando an der herrschenden deutschen Lehre übte, die den juristischen Gehalt des parlamentarischen Regierungssystems bestritten hatte5. Andererseits bemerkt man bei anderen Autoren, und speziell im Werk von Ranelletti über die Sicherheitspolizei, den Einfluß der Staatsbezogenheit des neuen deutschen öffentlichen Rechts, jedoch gefiltert durch eine organizistische Betrachtungsweise, die auf Hegel und Lorenz von Stein zurückgeht6. Allerdings zeigen sich in der liberalen vorfaschistischen Lehre auch originale Entwicklungslinien, speziell auch bedeutungsvolle Ansätze zu einer Abgrenzung von der deutschen staatsrechtlichen Tradition. Entscheidendes Gewicht hat insofern eine „realistische" Richtung, die der lebenden Verfassung und den historisch-politischen Grundlagen ihrer Entwicklung Aufmerksamkeit zuwendet. Diese Richtung, die namentlich von Palma, Saredo, Luzzatti und Brunialti vertreten wurde7, hatte eine interessante Forschungsrichtung über Verfassungsgewohnheitsrecht angeregt (Ferracciu, Siotto Pintor, S. Romano)8. Die Richtung führte außerdem zu den entwickelteren 4

Vgl. S. Romano, La teorìa dei diritti pubblici subhiettivi, in: V. E. Orlando (Hrsg.), Primo trattato completo di diritto amministrativo, I, Milano 1900; ders., Diritto pubblico italiano, Milano 1989. 5 Vgl. G. Arcoleo , Il gabinetto nei governi parlamentari, Napoli 1881; Orlando , Studi giuridici sul governo parlamentare (1886), in Diritto pubblico generale (Fn. 2), S. 345 ff. Uber diese Richtung siehe M. Fioravanti , Costituzione, stato e politiche costituzionali nell'opera di Giorgio Arcoleo, in: Quadernifiorentini per la storia del pensiero giuridico, XV, 1986, S. 377 ff. 6 Vgl. Ο. Ranelletti , La polizia di sicurezza, in: V. E. Orlando , (Hrsg.), Primo trattato completo (Fn. 4), IV, 1, Milano 1908, S. xx ff. Über dieses Werk siehe G. Amato , Individuo e autorità nella disciplina della libertà personale, Milano 1967, S. 128 ff. 7 Dazu siehe Galizia , Profili storico-comparativi (Fn. 1), S. 81 ff. 8 Vgl. A. Ferraccia, La consuetudine costituzionale, Torino 1919, Ai. Siotto Pintor , Riflessioni sul tema della consuetudine nel diritto interno, in: Studi di diritto pubblico in onore di O. Ranelletti, II, Padova 1931; S. Romano, Diritto e correttezza costituzionale (1909), in Scritti minori, I, Milano 1950, S. 271 ff. Über diese Richtung siehe S. Stammati, Punti diriflessione sulla consuetudine e le regole convenzionali, in: Scritti in onore di Vezio Crisafulli, II, Padova 1985, S. 807 ff.

Kommentar zum Bericht Italien

83

Gedanken des letztgenannten Autors: Von der Studie über den modernen Staat und seine Krise, dessen Leitgedanke das Interesse an der Wirklichkeit „einer gesellschaftlichen Bewegung, die sich mit eigenen Gesetzen regiert"9, ist, zur Studie über die Rechtsordnung, von der ein pluralistisches Konzept der Rechtserkenntnis seinen Ausgang nahm, das nicht fern von deutschen Ursprüngen, speziell aus der Richtung Gierkes war, aber das eine ganz eigene Gestalt gewonnen hatte10. Auf dem Gebiet der Freiheitsrechte schließlich entwickelte sich das Denken der liberalen Juristen in Verbindung mit Gedankenrichtungen, die der deutschen Rechtskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend fernstanden. Dazu trugen verschiedene Faktoren bei, darunter die Fortexistenz naturrechtlicher und vertraglicher Vorstellungen, die Distanzierung von der konstitutionellen Monarchie, der Einfluß des französischen und des englischen Konstitutionalismus. Diese Elemente verlagerten das Interesse, wie G. Amato bemerkt hat, weg von der Theorie der Selbstbeschränkung des Staates in die ganz andere Richtung eines inhaltlichen Bereichs von Freiheitsrechten, der entscheidend von der politischen Repräsentativverfassung bestimmt war (G. Arangio Ruiz, Minguzzi)11. Diese Richtung mündete in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in eine Theoriehaltung, repräsentiert vor allem von F. Ruffini und Solazzi12, die entschieden kritisch gegenüber der Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte, auch in der Ausprägung Jellineks, eingestellt war, obwohl doch auch diese Theorie versucht hatte, die vom aufklärerischen Naturrechtsdenken ererbte Freiheitsidee mit der Souveränitätslehre in Einklang zu bringen. Im Hinblick darauf hat kürzlich L. Elia bemerkt, daß gerade aus dem Einfluß des Systems Jellineks, das auf die „Untrennbarkeit der Souveränitätslehre von der Lehre der Selbstbeschränkung" begründet war, eine unausweichliche Doppeldeutigkeit der vorfaschistischen Theorie resultierte: eine liberal-autoritäre Ambivalenz, gegründet auf die Zusammenführung der Staatsidee deutscher Auffassung mit dem Freiheitsbegriff anglo-französischen Ursprungs13.

9

So S. Romano, Lo stato moderno e la sua crisi, Milano 1969, S. 15. Siehe S. Romano, L'ordinamento giuridico (1918), Firenze 1962 (Neudruck). Über Romanos Pluralismus siehe P. Biscaretti di Ruffia, (Hrsg.), Le dottrine giuridiche di oggi e l'insegnamento di Santi Romano, Milano 1977; P. Ridola, Democrazia pluralistica e libertà associative, Milano 1987, S. 129 ff. 11 Siehe Amato, Individuo e autorità (Fn. 6), S. 123 ff.; vgl. auch Λ. Baldassarre, le ideologie costituzionali dei diritti di libertà, in Democrazia e diritto, 1976, S. 265 ff. 12 Vgl. F. Ruffini, Diritti di libertà (1925), Firenze 1975; ders., La libertà religiosa come diritto pubblico subiettivo, Torino 1924, S. 133 ff.; G. Solazzi, Note critiche sulla libertà giuridica individuale, Bologna 1910, S. 62 ff. 13 So L. Elia, Diritto costituzionale, in: Cinquantanni die esperienza giuridica in Italia, Milano 1982, S. 348 ff. 10

6

84

Paolo Ridola

Zu 2 b) : Jedenfalls war diese Doppeldeutigkeit das Zeichen einer Komplexität und Problematik des deutschen Einflusses, die auch in den folgenden Jahrzehnten angesichts der offensichtlichen Anziehungskraft der Weimarer Autoren auf viele der italienischen Juristen, die ihre Ausbildung während des Faschismus erhielten, nicht überwunden wurde14. Einige dieser Juristen (Mortati, Lavangna, Pierandrei) hatten einen entscheidenden Einfluß in den Verfassungsdiskussionen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie öffneten den Weg zu einer umfassenderen Betrachtungsweise des Verfassungsrechts, die auch den Staat als Gemeinschaftsordnung (stato comunità) neben dem Staat als juristischer Person (stato persona) einschloß15. Von den wichtigsten Richtungen der Weimarer Staatsrechtslehre läßt sich jedoch nur für den Einfluß von C. Schmitt, der bereits in den dreißiger Jahren in Italien übersetzt wurde (vor allem dank C. Galli und Schiera), ein dauerhaftes Interesse nachweisen, das sicher der „Carl Schmitt-Renaissance" der siebziger Jahre voranging16. Was speziell Smend und Heller betrifft, so scheint es, daß sie einen tieferen Einfluß erst auf die jüngere Generation der italienischen Staatsrechtslehrer hatten17. Insofern steht beispielsweise außer Zweifel, daß der neuerdings von G. Zagrebelsky unternommene Versuch, das System der Rechtsquellen in den Integrationsprozeß der gesellschaftlichen Vielfalt zu einer politischen Einheit einzuordnen, von der Integrationslehre Rudolf Smends bestimmt ist18. Im übrigen gilt es im Auge zu behalten, daß die Einwirkung der verschiedenen Richtungen der Weimarer Staatsrechtslehre auf die italienische Doktrin zwischen 1930 und den fünfziger Jahren parallel zu anderen wichtigen Entwicklungslinien verlief. Insofern ist vor allem an den starken Einfluß der Wiener Schule auf die Autoren zu erinnern, die 14

Z. B. siehe C. Mortati , La costituzione in senso materiale, Milano 1940; C. Lavagna, La dottrina nazionalsocialistica del diritto e dello stato, Milano 1938; F. Pier andrei, I diritti subiettivi pubblici nell'evoluzione della dottrina germanica, Milano 1940. Dazu weitere Betrachtungen bei Galizia , Profili storico-comparativi (Fn. 1), S. 103 ff.; R. Nania, η valore deUa costituzione, Milano 1986, insbes. S. 45 ff.; C. Amirante , in: H. Heller, L'Europa e il fascismo, Milano 1987, S. 3 ff. 15 So Elia, Diritto costituzionale (Fn. 13), S. 348. 16 Vgl. C. Galli, Cari Schmitt neUa cultura italiana (1924-1987). Storia, bilancio e prospettive di una presenza problematica, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, IX, 1979, S. 81 ff.; und auch G. Duso, (Hrsg.), La politica oltre lo stato: Cari Schmitt, Venezia 1981; und die Beiträge über Schmitt giurista von M. S. Giannini, M. Nigro, G. Ferrara , F. Lanchester, G. Motzo, R. Monaco, C. Roehrssen, in: Quaderni costituzionali 1987, η. 3. 17 Siehe insbes. Η. Heller, La sovranità ed altri critti sulla dottrina del diritto e dello stato, Milano 1987 (hrsg. von P. Pasquino); ders., L'Europa (Fn. 14), hrsg. von C. Amirante; der s.. Dottrina deUo stato, Napoli 1988 (hrsg. von U. Pomarici); R. Smend, Costituzione e diritto costituzionale, Milano 1988 (hrsg. von G. Zagrebelsky). 18 Siehe G. Zagrebelsky, Π sistema costituzionale delle fonti del diritto, Torino 1984, Einführung; und auch Società, Stato, Costituzione, Torino 1988.

Kommentar zum Bericht Italien

85

die Grundlagen der Rechtsquellenlehre und der Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit gelegt haben19, so von A. Merkl auf Esposito20, und an den Einfluß von Hans Kelsen auf V. Crisafulli, der freilich in problematischer Weise und mit eigenen Beiträgen ausgeübt wurde21. Daneben bestanden Einwirkungen des Institutionalismus französischer Prägung22; das Interesse von Treves und Biscaretti di Ruffia an den Erfahrungen der „conventions'* angelsächsischer Art 23, die Kritik an den deutschen Souveränitätslehren und ihrer fehlenden Anpassung an die Bedürfnisse einer Theorie der Volkssouveränität durch Crisafulli und Amato24, der Einfluß der Verfassungsrechtslehre der französischen III. Republik auf die Untersuchungen des parlamentarischen Regierungssystems25; und schließlich die Fortsetzung der alten historisch-politischen Theorien nicht nur durch Crosa und L. Rossi26, sondern auch in Mortatis Werk über die Regierungsformen. Zu 2 c: Zum Verhältnis zwischen Weimarer Verfassung und italienischer Verfassung von 1948 ist davon auszugehen, daß erstere für die italienischen Verfassungsgeber gewiß kein verdammungswürdiges Monstrum war. Freilich, unter vielen bedeutsamen Aspekten ergab sich eine ambivalente Haltung gegenüber dem Weimarer Modell27. In diesem Zusammenhang ist etwa an die radikale Reduktion des ursprünglichen Vorschlags Mortatis, das 19 Dazu siehe F. Modugno, L'invalidità della legge, Milano 1970; Λ. Giovanetti, Alcune considerazioni sul modello della „Verfassungsgerichtsbarkeit'* kelseniana, nel contesto del dibattito sulla funzione politica della Corte costituzionale, in: Scritti Crisafulli (Fn. 8), I, S. 381 ff.; C. Mezzanotte , Corte costituzionale e legittimazione politica, Roma 1984. 20 Siehe C. Esposito , La validità delle leggi, Milano 1934. 21 Siehe V. Crisafulli , Lezione di diritto costituzionale, Padova 1970-1984. 22 Dazu siehe Galizia , Profili storico-comparativi (Fn. 1), S. 100 ff.; U. de Siervo, Le idee e le vicende costituzionali in Francia nel 1945 e nel 1946 e la loro influenza sul dibattito in Italia, In: ders. (Hrsg.), Scelte della Costituente e cultura giuridica, I, Bologna 1980, S. 293 ff. 23 Vgl. P. Biscaretti di Ruffia , Le norme della correttezza costituzionale, Milano 1939; G. Treves , Convenzioni costituzionali, in: Enciclopedia del diritto, X, Milano 1962, S. 524 ff.; G. U. Rese ig no, Le convenzioni costituzionali, Padova 1972; S. Bar iole, Le convenzioni della costituzione fra storia e scienza politica, in: D politico, 1983, S. 251 ff. 24 Vgl. V. Crisafulli, Stato popolo governo, Milano 1985, S. 89 ff.; G. Amato, La sovranità popolare nella Costituzione italiana, in: Rivista trimestrale di diritto pubblico, 1962, S. 74 ff. Über diese Richtungen siehe D. Nocilla, Popolo (diritto costituzionale), in: Enciclopedia del diritto, XXXIV, Milano 1985, S. 341 ff. 25 Vgl. C. Mortati, Le forme di governo, Padova 1973; Crisafulli, Stato (Fn. 24), S. 147 ff.; M. Galizia , Studi sui rapporti fra parlamento e governo, Milano 1972. 26 Siehe Cianferrotti, Π pensiero di V. E. Orlando (Fn. 2), S. 271 ff. 27 Siehe dazu S. Basile, La cultura politico-istituzionale e le esperienze tedesche, in: de Siervo (Hrsg.), Scelte della Costituente (Fn. 22), S. 45 ff.; und die Einfuhrung von L. Elia, in: F. Lanchester (Hrsg.), Autorità e democrazia, 1989.

86

Paolo Ridola

Referendum in weitem Umfang zu übernehmen, hinzuweisen; jener Vorschlag war vor allem aus der Weimarer Verfassung abgeleitet gewesen28. Entsprechend wurde die Volkswahl des Staatsoberhaupts verworfen, und, auf der allgemeineren Ebene der rechtlichen Ausgestaltung der Regierungsform, wurde durch die Annahme der Motion Perassi von 1947 in der verfassungsgebenden Versammlung abgelehnt, Mischformen zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Formen zu schaffen, die einen Konflikt zwischen Staatsoberhaupt und Parlament hätten begünstigen können29. Dennoch enthüllt der Vergleich mit der deutschen Verfassung von 1919 in der italienischen auch wesentliche Analogien und offensichtliche Übernahmen hinsichtlich des gesamten Verfassungskonzepts und einzelner Inhalte. Ich beschränke mich vor allem auf den Teil über die Grundrechte und speziell die sozialen Grundrechte30, aber auch auf die Wettbewerbsförmigkeit der Modelle für die politischen Rechte, die beiden Verfassungen gemeinsam ist, auch wenn die italienische sich nicht, wie die von Weimar, zur ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerung des Verhältniswahlsystems entschlossen hat31. Diese Fragestellung öffnet das Verständnis für den Kernpunkt der Verbindung zwischen italienischer und Weimarer Verfassung. Der Einfluß der letzteren auf die italienischen Verfassungsgeber resultiert weniger aus den einzelnen Inhalten als aus der Tatsache, daß die italienische verfassungsgebende Versammlung die deutsche Verfassung von 1919 als Archetyp der demokratisch-sozialen Verfassungsentwicklung betrachtete - sie also in eine Verfassungsepoche einordnete, in der, nach dem Ende der universalistischen Entwürfe des liberalen Konstitutionalismus, die mit der Homogenität der bürgerlichen Öffentlichkeit verbunden waren, die Kernfrage in der Organisation des gesellschaftlichen Pluralismus zu sehen war. Nicht zufällig war gerade dies der Leitgedanke der Bilanz der Weimarer Verfassungsentwicklung, den Mortati 1946 entwickelte. Er sah in der Weimarer Verfassung den Widerspruch zwischen dem Anspruch, politischsoziale Konfliktregelung zu institutionalisieren, der „Abwesenheit einer inhaltlichen Demokratisierung der gesellschaftlichen Gruppen", und von

28

Vgl. S. Panunzio , η referendum abrogativo, in: Attualità e attuazione della Costituzione, Bari 1979, S. 65 ff. 29 Siehe L. Elia , Forme di governo, in: Enciclopedia del diritto, Milano 1970, S. 657 ff; ders., Perchè l'Italia si è tenuta e si tiene questo sistema di governo, in: F. L. Cavazza/S. R. Gr aubard, η caso italiano, Milano 1974, S. 224 ff.; ders., La forma di governo e il sistema politico italiano, in: Λ. Baldassarre!A. A. Cervaìi, Critica dello stato sociale, Bari 1982, S. 103 ff. 30 Dazu siehe M. Mazziotti di Celso , Diritti sociali, in: Enciclopedia del diritto, ΧΠ, Milano 1964, S. 802 ff.; L. Elia , I diritti umani nella politica, una politica per i diritti umani, in: Diritti umani e politica, Roma 1983, S. 108 ff. 31 Vgl. E. Bettinelli , Alle origine deUa democrazia dei partiti, Milano 1983.

Kommentar zum Bericht Italien

87

Regelungen, die deren „Koordination in ihrem Verhältnis zueinander und im Verhältnis zum Staat44 hätten sichern können32. Zu 3: (1) Man kann gewiß sagen - und damit komme ich zum letzten der eingangs erwähnten Punkte - , daß, während bei der Erarbeitung des Grundgesetzes die Furcht vorherrschte, die Irrtümer der Weimarer Epoche nicht zu wiederholen, diese Epoche demgegenüber auf die italienischen Verfassungsgeber einen wesentlichen Einfluß ausübte, vor allem im Hinblick auf den Kompromiß zwischen politisch-ideologisch weit voneinander entfernten Kräften, aus dem die republikanische Verfassung ihren Ursprung herleitete. Dieser Ursprung im Kompromiß hat dazu geführt, das System der Grundrechtsgewährleistungen mit dem Programm der Umgestaltung der wirtschaftlich-sozialen Strukturen zu verbinden, das vom Prinzip der substantiellen Gleichheit nach Art. 3 Abs. 2 der Verfassung gefordert war. Erst diese Verbindung zwischen den Grundrechtsgarantien und dem Prinzip des Pluralismus in Art. 2 der Verfassung und dem Art 3 Abs. 2 macht die besondere Stellung der italienischen republikanischen Verfassung im Kontext des europäischen Konstitutionalismus nach dem Zweiten Weltkrieg verständlich33. In diesem Rahmen gilt es im Auge zu behalten, daß der Zusammenhang zwischen pluralistischem Prinzip und liberaler Grundlage der italienischen Verfassung nicht überbewertet werden darf. Im Gegenteil geht die republikanische Verfassung von der Vorraussetzung aus, daß die Entwicklungskraft des pluralistischen Prinzips nicht vom bloßen Schutz eines „laissez faire 44 in den gesellschaftlichen Beziehungen abhängt, sondern von der Offenheit des politischen Prozesses für die Gegensätze, die das Wesen der Gesellschaft ausmachen, oder auch von der Einführung, wie wiederum Mortati schrieb, „einiger Regelungen mit dem Ziel, den gesellschaftlichen Beziehungen die notwendige Dynamik zu verleihen, um den Weg zu einer neuen Ordnung zu öffnen, und um von den interessierten Gruppen genutzt zu werden, damit der Widerstand der auf die Erhaltung der traditionellen Positionen ausgerichteten Gegenkräfte neutralisiert werden kann, die die Verfassung allmählich ausschalten will 4434 . Insoweit hat in der republikani32 So C. Mortati , Introduzione all Costituzione di Weimar (1946), jetzt in: ders., Raccolta di scritti, IV, Milano 1972, S. 342 ff. 33 Über das pluralistische Prinzip in der italienischen Verfassung, siehe U. de Siervo, η pluralismo sociale dalla Costituzione repubblicana ad oggi, in: Π pluralismo sociale nello stato democratico, Milano 1980, S. 60 ff.; G. Amato , Aspetti vecchi e nuovi del politico e del sociale nelTItalia repubblicana, in: Sistema deUe autonomie e società civile, Bologna 1981, S. 91 ff.; A. Barbera , sub ait. 2, in: Commentario della Costituzione, hrsg. von G. Branca , artt. 1-12, Bologna-Roma 1974, S. 50 ff.; Ridola, Democrazia pluralistica (Fn. 10), S. 149 ff. 34 So Mortati, Ispirazione democratica della Costituzione (1955, in: Raccolta di scritti (Fn. 32), II, S. 304 f.

88

Paolo Ridola

sehen Verfassung das Prinzip des Pluralismus eine Bedeutung, die sich keineswegs mit dem demokratisch-liberalen Prinzip deckt. Indem die Verfassung die gesellschaftliche Ungleichheit in Betracht zieht, leitet sie zu einer Zusammenschau der Art. 2 und 3 Abs. 2 der Verfassung an, die nicht als Gegensätze betrachtet werden, sondern als ein anspruchsvoller Entwurf, in dem die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen ausgenutzt werden, um die vielfachen Möglichkeiten zur institutionellen Integration und sozialen Homogenisierung auszunutzen35. (2) In diesem Rahmen und auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen „geschützter Demokratie" und „Wettbewerbsdemokratie" hat man in der neueren italienischen Literatur oft auf die Grenzen einer Vergleichbarkeit zwischen dem Grundgesetz und der italienischen Verfassung von 1948 hingewiesen, indem man beide Verfassungen als Ausdruck unterschiedlicher Richtungen im europäischen Konstitutionalismus der Nachkriegszeit betrachtet hat. Im Grundgesetz scheint der ausdrückliche Rekurs auf die demokratisch-liberale Ordnung dazu bestimmt, vor systemfremden politischen Kräften zu schützen und den Sozialstaatsgrundsatz zu mäßigen. Unter diesem Gesichtswinkel hat sich in den siebziger Jahren eine bemerkenswerte Obereinstimmung zwischen der Kritik der Grundrechtssituation in der Bundesrepublik Deutschland durch die deutsche Linke und den Analysen linker italienischer Verfassungsrechtler ergeben36. Im Gegensatz dazu wurde in der italienischen Verfassung die Verbindung zwischen den Art. 2 und 3 Abs. 2 als Ergebnis einer Option für einen gesellschaftlichen Erneuerungsprozeß gesehen, als dessen Angelpunkt die beiden Verfassungsbestimmungen betrachtet wurden. Eine solche Absicht habe die Verfassungsgeber dazu gebracht, die Integrationsfunktion der Grundprinzipien der Verfassung in einer durchdringenden Weise auszugestalten, so daß sich der gesellschaftliche Pluralismus in einem breiten Strom von Ausdrucksmöglichkeiten entfalten könne. Diese Tendenz der italienischen Verfassung erklärt einige Aspekte der wissenschaftlichen Diskussion der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Gebiet der Grundrechte beispielsweise erscheint charakteristisch, daß die theoretische Erarbeitung der Wirkung der Grundrechte in Beziehungen

35 Dazu siehe C, Lavagna , Costituzione e socialismo, Bologna 1977, S. 82 ff.; L. Elia, Cultura e partiti alla Costituente: le basi della democrazia repubblicana, in: Sistema delle autonomie (Fn. 33), S. 49 f.; P. Barile , Diritti dell'uomo e libertà fondamentali, Bologna 1984, S. 93 ff.; Ridola, Democrazia pluralistica (Fn. 10), S. 188 ff. 36 Vgl. insbes. C. Amirante, Diritti fondamentali e sistema costituzionale nella Repubblica federale tedesca, Cosenza 1980; G. U. Rese ig no, Alcune considerazioni sul rapporto partit-Stato-cittadini, in: Scrìtti in onore di Costantino Mortati, III, Milano 1977, S. 955 ff.

Kommentar zum Bericht Italien

89

unter Privaten, die eine besondere rechtliche Gestalt auf gesetzlicher Ebene mit dem Gesetz über die Rechte der Arbeitnehmer von 1970 erhalten hat, ganz andere Entwicklungen genommen hat als die deutschen Argumentationen über die Drittwirkung, die dennoch in einer italienischen Monographie behandelt wurden37. Die Entwicklung der Lehre erhielt einen entscheidenden Anstoß von einer bekannten Schrift von Crisafulli aus den fünfziger Jahren, die die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Grundrechte auf den Verfassungsgrundsatz der Beseitigung der Hindernisse für die substantielle Gleichheit zurückführte 38. In der Frage der Regierungsform, in der die deutsche und die italienische Verfassungstradition in der Verfolgung der parlamentarischen Prinzipien übereinstimmen39, war in der italienischen Diskussion der entscheidende Punkt die Beziehung zwischen dem unterschiedlichen Ausmaß der Rationalisierung des parlamentarischen Modells und der Struktur des politischen Systems40. Speziell die „weiche" Regelungstechnik der Art. 94 und 95 der italienischen Verfassung (und entsprechend das Fehlen starrer Regelungen der Stabilisierung, wie sie das Grundgesetz kennt) erschien einerseits passender für ein System, das Vielparteienkoalitionen ermöglichte, und andererseits geeigneter zur Bewahrung einer Parteienvielfalt mit einer breiten Legitimationsgrundlage, was für ein entscheidendes Element der materiellen Verfassung gehalten wurde, weil es auf die historischen Grundlagen des Verfassungskompromisses zurückzuführen sei41. Auf dieser Grundlage muß die Diskussion in der italienischen Lehre über die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien gesehen werden42. Während die deutsche Lehre auf diesem Gebiet, auf einer Verfassungsgrundlage, die durch ideologische Grenzen freier politischer Vereinigung und eine ausgeprägte Institutionalisierung der Parteien geprägt ist, bis zum Beginn der sechziger Jahre stark von einer Tendenz geprägt wurde, die Begriffe Volk - Parteien - Staat in enge Verbindung zu bringen, hat sich die italienische Lehre an anderen Leitgedanken orientiert, jedenfalls an einem 37

Vgl. G. M. Lombardi , Potere privato e diritti fondamentali, Torino 1970. Vgl. V. Crisafulli , Individuo e società nella Costituzione italiana, in: Il diritto del lavoro, I, 1954, S. 73 ff. 39 Dazu siehe A. A. Cervati, Parlamento e funzione legislativa nella Costituzione italiana e nel Grundgesetz tedesco, in: F. Lanchester (Hrsg.), Autorità e democrazia, 1989. 40 Siehe Elia, Forme di governo (Fn. 29), S. 634 ff.; S. Merlini, Democrazia protetta e democrazia conflittuale: i casi dell'Italia e della RFT, in: Democrazia e diritto, 1989, S. 365 ff. 41 Siehe G. Ferrara , Il governo di coalizione, Milano 1973. 42 Siehe L. Elia, Realtà e funzioni del partito politico: orientamenti ideali, interessi di categoria e rappresentanza politica, in: Partiti e democrazia, Roma 1964, S. 107 ff.; ders., L'attuazione della Costituzione in materia di rapporti fra partiti e istituzioni, in: Il ruolo dei partiti nella democrazia italiana, Cadenabtria, 1965, S. 67 ff.; T. Mar tines, Partiti, sistema die partiti, pluralismo, in: Studi parlamentari e di politica costituzionale, 1979, n. 43-44, S. 3 ff. 38

90

Paolo Ridola

politischen System, das weniger strukturiert erscheint. Ich beschränke mich hier darauf, die Kritiken zu erwähnen, denen die Leibholz'sche Konstruktion des Parteienstaats als rechtlich ausgestalteter Form der „identitären Demokratie" begegnet ist: einerseits von Seiten Mortatìs, der freilich selbst dahin tendierte, die Rolle der Parteien in organizistischer Weise und im Rahmen einer Tendenz zur Institutionalisierung des Mehrheitssystems zu umschreiben43, andererseits von Seiten von Autoren, die stärker den Vereinigungscharakter der Parteien die verfassungsrechtlichen Grenzen für Eingriffe des Gesetzgebers in ihre innere Struktur, den nicht ideologischen Zusammenhang der Vorschrift über die Respektierung der demokratischen Methode betonten. Diese zweite verbreitetere Interpretation des Art. 49 der italienischen Verfassung hat sich einerseits auf die Beiträge der deutschen Lehre gestützt, die den Akzent auf die Einordnung der Parteien in die gesellschaftliche Sphäre der „Vorformen" der politischen Willensbildung gelegt haben (Scheuner, Hesse, Schneider); andererseits hat sie sich bemüht, die Stellung der Parteien mit Grundgegebenheiten der materiellen Verfassung in Einklang zu bringen. Insofern ist versucht worden, die Legalisierung der Parteien in den weiteren Rahmen der Legitimierung des politischen Wettbewerbs einzubetten, entsprechend der Absicht der Verfassungsgeber, die Zugangswege zum politischen Prozeß mit Hilfe von Regelungen zu erweitern, die die Artikulation pluralistischer Kräfte erleichtern44. (3) Es ist jedoch hinzuzufügen, daß in den letzten zehn Jahren neue wichtige Gründe des Interesses der italienischen Verfassungsdiskussion für die deutschen Erfahrungen zutage getreten sind. Ich weise nur auf die neuerdings auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit im Hinblick auf die Wirkungen von Verfassungswidrigerklärungen angestellten Untersuchungen hin45, oder auf das Interesse für die Erfahrungen mit dem kooperativen Föderalismus, das sich in Italien seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre im Zusammenhang mit der gesetzlichen Einführung von Verfahren der Zusammenarbeit und der Verbindung zwischen Staat und Regionen zeigt, sowie, neuesterdings, mit der Aufnahme des Prinzips der Kooperation durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs als Kriterium für die Lösung von Konflikten zwischen Staat und Regionen46. Etwas eingehender 43 Vgl. C. Mortati , Note introduttive ad uno studio sui partiti politici nell'ordinamento italiano (1957), in: Raccolta di scritti (Fn. 32), III, S. 355 ff. 44 Dazu siehe P. Ridola , Partiti politici, in: Enciclopedia del diritto, XXXII, Milano 1982, S. 66 ff. 45 Siehe Λ. Λ. Cervati, Tipi di sentenze e tipi di motivazione nel giudizio incidentale di costituzionalità deUe leggi, in: Strumenti e tecniche di giudizio della Corte costituzionale, Milano 1988, S. 125 ff.; G. Zagrebelsky , La giustizia costituzionale, Bologna 1988, S. 258 ff. 46 Dazu siehe, auch für die weiteren Hinweise, F. Rimoli , Β principio di cooperazione

Kommentar zum Bericht Italien

91

möchte ich dagegen auf das in den letzten Jahren erneuerte Interesse für die Stabilität des bundesdeutschen parlamentarischen Systems im Rahmen der Diskussion über die Regierungsform hinweisen. Dieses Interesse reiht sich in den Rahmen einer Tendenz ein, unter dem Blickwinkel der „Funktionsfähigkeit des demokratischen Prinzips" die Form des Parlamentarismus mit extremem Vielparteiensystem kritisch zu sehen, die, wegen der Zersplitterung und der „schwachen" Strukturierung des Parteiensystems ein Element der „Trennung" zwischen Wählerschaft und politischer Willensbildung herstelle. Folgt man den Diskussionen, die in Italien über Möglichkeiten von Verfassungsreformen stattgefunden haben, so läßt sich beobachten, daß, während die Vorschläge auf Einführung plebiszitärer Elemente (Direktwahl des Staatsoberhaupts oder des Ministerpräsidenten) eine eher kritische Reaktion hervorgerufen haben, die Überlegungen in Richtung auf eine Stärkung der Leitungskompetenz des Ministerpräsidenten, die Entwicklung eines Systems von Regeln für Regierungskoalitionen ein besser strukturiertes Modell des Verhältnisses zwischen Mehrheit und Opposition stärkere Beachtung gefunden haben. Diese Entwicklungslinie wird freilich nicht ohne Widerstände und Vorbehalte verfolgt, die sich teilweise dadurch rechtfertigen, daß das Wettbewerbsmodell des italienischen Verfassungstyps vor Vereinfachungen geschützt werden soll, auf die das politische System noch nicht vorbereitet ist47. Wenn das neue Gesetz Nr. 400 aus dem Jahr 1988 über die Regelung der Präsidentschaft des Ministerrats und die Änderungen der Geschäftsordnungen der Abgeordnetenkammer und des Senats vom November 1988 (die u.a. die Möglichkeiten der geheimen Abstimmung reduziert haben) sich in diese Entwicklung einordnen, muß man dennoch hinzufügen, daß Vorschläge, in das Wahlsystem Korrektive zur Proportionalwahl einzufügen, um die Formierung des politischen Systems zu begünstigen, immer wieder, auch inmitten der aus Mitgliedern beider Kammern gebildeten Parlamentskommission, die 1983 eingerichtet worden ist, tiefe Meinungsverschiedenheiten zutage gefördert haben48. Eins tritt freilich klar hervor: Die Diskussion über die Reformen scheint sich in Italien auf eine stärkere „Strukturierung" des Funktionierens der Regierungsform hin zu entwickeln, wobei jedoch das Modell des Vorrangs der parteipolitischen Repräsentation unangetastet bleiben soll. Man könnte von einer „Richtungsdemokratie" sprechen, in der eine deutlichere rechtliche Regelung sich mit einer starken parteipolitischen Ausrichtung der Regiefra stato e regioni nella giurisprudenza della Corte costituzionale:riflessioni su una prospettiva, in: Diritto e società, 1988, S. 363 ff. 47 Dazu siehe G. Pasquino , Restituire lo scettro al principe, Bari 1985. 48 Vgl. Camera dei deputati - Senato della Repubblica, IX Legislatura, Relazione della commissione parlamentare per leriforme istituzionali, Roma 1985.

92

Paolo Ridola

rungsform verbindet In diesem Zusammenhang muß das erneuerte Interesse für die parlamentarischen Praktiken gesehen werden, in denen, wie L. Elia speziell im Hinblick auf das deutsche Modell sagte, das „Spiel der Verantwortlichkeit" von „Maßstäben starrer Alternative" losgelöst ist und dennoch nicht eine „grundsätzliche Lage der Stabilität und Funktionsfähigkeit" verhindert49.

49 So Elia , Forme di governo (fn. 29), S. 651 ff.; und auch ders., Da una democrazia di investitura ad una di indirizzo, in: Il politico, 1988.

Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen Bericht Spanien Von Pedro Cruz Villalón I. Einführung Es gilt in Spanien als unbestritten, daß das Bonner Grundgesetz die ausländische Verfassung ist, die den größten Einfluß auf unsere Verfassung von 1978 ausgeübt hat1. Die praktisch unvermeidliche Folge ist, daß die deutsche Verfassungslehre ebenfalls die ausländische Verfassungslehre ist, die bei den spanischen Verfassungsrechtlern die größte Präsenz besitzt. Wenn man vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte absieht, so ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch diejenige, die vom spanischen Verfassungsgericht am meisten berücksichtigt wird. Bereits 1980 bestätigte der damals frisch ernannte Richter des Verfassungsgerichts und heutige Vizepräsident desselben, Professor Rubio Llorente, daß gewisse Bestimmungen unserer Verfassung uns dazu zwingen, uns zu „germanisieren442. Tatsächlich hat diese „Germanisierung44 im Verlauf der letzten zehn Jahre zum Teil stattgefunden. Nicht nur der Text des Grundgesetzes taucht mehrmals im Text der spanischen Verfassung auf, sondern darüber hinaus ist es auch - so könnte man sagen - zu einer „deutschkonformen Auslegung44 der spanischen Verfas1

So bereits 1978 S. Vareler La Constitución espafiola en el marco del derecho constitucional comparado, in: Lecturas sobre la Constitución espafiola, hrsg. von T. R. Fernândez, Madrid (UNED) 1978, S. 13 ff.: „Unter den zeitgenössischen Verfassungen war das Bonner Grundgesetz von 1949 möglicherweise diejenige, die bei der Ausarbeitung der Verfassung am meisten präsent war. Ihr Charakter als unvermeidlicher Bezugspunkt, wie die Lektüre der Sitzungsberichte des Abgeordnetenhauses und des Senats zeigt, war ohne Zweifel mit ihrem weit verbreiteten Image verknüpft, eine zur Sicherung einer stabilen Demokratie .effiziente* Verfassung zu sein". 2 La Constitución corno fuente del derecho, in: La Constitución espafiola y las fuentas del derecho, Bd. 1, S. 53 ff.: „... Die überaus umfangreiche Literatur, die zum Thema (Wesensgehalt) in Deutschland erschienen ist, sollte, so denke ich, bereits Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit fur unsere Juristen sein, die - auf diesem oder auf anderen Wegen - von der Verfassung gezwungen werden, sich zu germanisieren" (S. 67).

94

Pedro Cruz Villalón

sung gekommen. Die spanischen Verfassungsbestimmungen, und zwar nicht nur allein die aus dem Grundgesetz übernommenen, werden häufig nach deutschem Maßstab interpretiert. Dieses Phänomen ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, daß die Umstände hierfür nicht besonders günstig erschienen. Selbstverständlich war es angesichts der Verhältnisse, unter denen das Bonner Grundgesetz 1949 geboren wurde, nicht vorauszusehen, welches Ansehen es künftig haben sollte. Aber auch die unmittelbare politische Vergangenheit Spaniens erlaubte es keineswegs, im Moment der Wiederherstellung der Demokratie eine besondere Neigung für Deutschland vorauszusagen3. Trotzdem aber war nicht alles ungünstig. In Spanien wollte man die Rückkehr zur Demokratie als eine Wiederherstellung des Rechtsstaates, d.h. als Äquivalent für den Vorrang der Verfassung, wirklich garantierte Grundrechte, geordneten Parlamentarismus und eine territoriale, mit einer soliden Zentralgewalt kompatiblen Dezentralisierung. All dies schien das Grundgesetz besser anzubieten als andere Verfassungen aus unserer Umgebung. Andererseits war es auch nicht das erste Mal, daß der spanische Verfassungsgeber sich durch eine deutsche Verfassung inspirieren ließ. Bereits die Weimarer Verfassung hatte auf die republikanische Verfassung von 1931 einen starken Einfluß gehabt, so z. B. auf die Kapitel über die sozialen Rechte, die Rechtsstellung des Präsidenten der Republik und die Einrichtungen der direkten Demokratie. Im Rahmen dieses Vortrags wäre es nicht möglich, einen fertigen Überblick über die verschiedenen Wege zu geben, auf denen der Einfluß des Grundgesetzes und der deutschen Verfassungslehre auf die Verfassung Spaniens und das spanische Verfassungsrecht sich offenbart hat. Deshalb habe ich es bevorzugt, die Aufmerksamkeit auf einige besonders wichtige Kapitel zu konzentrieren, wobei ich jeweils ein besonders charakteristisches Beispiel der Rezeption ausgewählt habe.

Π. Der Staat und die Verfassung Art. 1 Abs. 1 span. Verf. beginnt mit der Verkündung, daß „Spanien sich zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat konstituiert". Diese Erklärung ist zugleich ein Eingeständnis des Einflusses, den das Grundgesetz auf den Rest der Verfassung haben wird. Vor allem nimmt man zum ersten Mal im spanischen Konstitutionalismus eine Formel - Rechtsstaat - an, die, auch wenn nicht direkt aus dem Grundgesetz entnommen, nichtsdesto3 So die relativ weitverbreitete Idee über den besonderen Einfluß von Carl Schmitt auf das spanische Verfassungsrecht. Vgl. das Vorwort von E. Garcia de Enterria zu seinem sehr bekannten Werk La Constitución corno fuente y el Tribunal Constitutional, 3. Aufl., Madrid 1981, S. 23 ff.

Das Grundgesetz — Bericht

ien

95

weniger besonders deutsch ist. Der spanische Verfassungsgeber gibt dieser Formel eine derartige Bedeutung, daß er sie bereits in die Präambel der Verfassung eingebaut hat4. Art. 1 Abs. 1 span. Verf. sagt auch „demokratischer Staat" mit dem gleichen Verständnis wie Art. 20 Abs. 1 GG. Schließlich findet auch die aus Art. 20 Abs. 1 GG stammende Formel „Sozialstaat" Aufnahme. Freilich ist die Wirkungskraft dieser Klausel in Spanien geringer, da die spanische Verfassung im Unterschied zum Grundgesetz in ihren Artikeln 39 bis 52 eine ausdrückliche Aufzählung der sozialen Rechte enthält5. Ebenso wie das Grundgesetz hat die spanische Verfassung von 1978 eine supranationale Option vorgenommen. In der Tat erweist sich Art. 93 span. Verf. als Äquivalent des Art. 24 Abs. 1 GG, dessen Einfluß man vielleicht als direkter ansehen kann als den anderer Verfassungen6. Der wichtigste Unterschied besteht darin, daß in Spanien die Verabschiedung mittels eines Organgesetzes, d.h. mit absoluter Mehrheit des Abgeordnetenhauses erfolgt. Die spanische Verfassung geht von einem Verfassungsbegriff aus, der mit dem des Grundgesetzes identisch ist. Die Verfassung von 1978 ist die erste, der es in Spanien gelingt, sich für alle öffentlichen Gewalten wie auch für die Bürger als unmittelbar verbindliches Recht sowie als die Grundnorm der Rechtsordnung durchzusetzen. Selbstverständlich kann man nicht behaupten, daß dieser Begriff der Verfassung von 1978 eine Besonderheit des Grundgesetzes gewesen sei. Aber man vernimmt das Echo der Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG, wenn der Art. 9 Abs. 1 span. Verf. erklärt, daß „die Bürger und die öffentlichen Gewalten der Verfassung und dem Rest der Rechtsordnung unterworfen sind".

III. Die Grundrechte: Wesensgehalt und institutionelle Garantie Das erste große Kapitel, auf das das Grundgesetz seinen Einfluß projizierte, ist das der Grundrechte. In diesem Zusammenhang ist an erster Stelle hervorzuheben, daß es der deutsche Ausdruck „Grundrechte" ist, der

4 „Die spanische Nation . . . erklärt ihren Willen . . . einen Rechtsstaat zu sichern, der die Herrschaft des Gesetzes als Ausdruck des Volkswillens garantiert". 9 J. Pérez Royo, La doctrina del Tribunal Constitucional sobre el Estado social, in: Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 10 (1984), S. 157 ff. 6 „Durch Organgesetz kann der Abschluß von Verträgen autorisiert werden, durch die einer internationalen Organisation oder Institution die Ausübung aus der Verfassung abgeleiteter Kompetenzen übertragen wird. Je nach Art des Falles obliegt die Garantie für die ErfüUung dieser Verträge und der von den internationalen oder supranationalen Organismen, die Titulare der Abtretung sind, ausgehenden Resolutionen dem Parlament oder der Regierung".

96

Pedro Cruz Villalón

letztlich als Ausdruck gewählt wurde. Obwohl die spanische Verfassung eine Vielfalt von anderen Ausdrücken wie „öffentliche Freiheiten", „individuelle Rechte", „Menschenrechte" usw. benutzt, neigen sowohl das Verfassungsgericht wie auch die wissenschaftliche Lehre dazu, zur Bezeichnung dieser dogmatischen Kategorie jenen Ausdruck zu verwenden. Gewiß ist dieser Ausdruck keine Erfindung des Grundgesetzes. Ohne Zweifel aber war es ein Verdienst desselben, insbesondere des Art. 19, daß unter seiner Geltung eine Dogmatik der Grundrechte ausgearbeitet wurde, und daß der Ausdruck sich in europäischen Räumen verbreitete, die dem deutschen Einfluß bislang nicht besonders geneigt waren7. Noch vor den „Grundrechten" hat die spanische Verfassung einige naturrechtliche Elemente aus dem Grundgesetz übernommen, was u. a. für den Fall der „Menschenwürde" gilt. So erklärt der Titel I der Verfassung, welcher den Grundrechten gewidmet ist, gleich am Anfang „die Würde der Person und die ihr inhärenten unverletzbaren Rechte" zum „Fundament der politischen Ordnung und des sozialen Friedens". In der spanischen Verfassung gibt es auch einen ausdrücklichen Hinweis auf die „Werte". Ihr Art 1 Abs. 1 erklärt, daß „Spanien . . . als höhere Werte seiner Rechtsordnung die Freiheit, die Gleichheit, die Justiz und den politischen Pluralismus verteidigt". Dennoch zeigte das Verfassungsgericht keine besondere Neigung, die „Werte" bei der Konstruktion seiner Entscheidungen zu benutzen. Der einzige relevante Fall, die Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch, gab den Anlaß für eine Vielfalt von Sondervoten, die nur wenig mit diesem Typ von Rechtsprechung sympathisierten8. Die während dieser Jahre in Spanien sich entwickelnde Dogmatik der Grundrechte hat man in ganz besonderem Maße aus Deutschland erhalten. So ist bereits die Konzeption der Grundrechte selbst, mit ihrem „Doppelcharakter" von subjektiven Rechten einerseits und grundlegenden Gestaltungselementen der politischen Ordnung andererseits, eindeutig deutschen Ursprungs. Das erste Urteil über die Antiterrorismus-Gesetzgebung hat hierüber keinen Zweifel gelassen9. Was die Grenzen der Grundrechte betrifft, so kann man beinahe wörtliche Wiedergaben des Grundgesetzes in der 7 Vgl. Tribunales Constitucionales Europeos y Derechos Fundamentales, hrsg. von Lotus Favor eu u. a.t Madrid (Centro de Estudios Constitucionales) 1986. 8 Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.4.1985, STC 53/1985, in: Jurisprudencia Constitucional (im folgenden abgekürzt JC) 11, S. 546. Vgl. A. López Pina (Hrsg.), División de poderes e interpretación. Hacia una teoria de la praxis constitucional, Madrid 1987, S. 186 ff. 9 Urteil des Verfassungsgerichts vom 14.7.1981, STC 25/1981, rechtlicher Grund 5, in: JC 2, S. 122 und 135: „Das ergibt sich logischerweise aus dem Doppelcharakter, den die Grundrechte besitzen. Erstens sind die Grundrechte subjektive Rechte; Rechte der Individuen nicht nur was die Rechte der Bürger im strikten Sinn anbelangt, sondern auch im Hinblick darauf, daß sie einen rechtlichen Status oder die Freiheit in einem Daseinsbe-

Das Grundgesetz — Bericht

ien

97

spanischen Verfassung finden. Dies ist der Fall bei den Grenzen der Meinungsfreiheit, die in Art. 29 Abs. 4 span. Verf. mit den gleichen Begriffen wie in Art. 5 Abs. 2 GG präzisiert werden10. Ein Fall für eine gescheiterte Rezeption eines charakteristischen deutschen Instituts ist der der „Verwirkung" der Grundrechte. Diese war in Art. 47 Abs. 2 des Vorentwurfs der Verfassung und in Art. 50 Abs. 2 des Berichts des Unterausschusses enthalten11. Dennoch wurde sie im Bericht des Verfassungsausschusses im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus durch das Rechtsinstitut der „individuellen Suspendierung der Rechte" ersetzt. Freilich wird auch in diesem, in Art. 55 Abs. 2 span. Verf. geregelten Rechtsinstitut der Einfluß des Art. 10 Abs. 2 GG sichtbar12. Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht, auf das einzugehen, was man als einen Fall für einen „angekündigten" Einfluß betrachten kann. Ich beziehe mich dabei auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Oktober 1986, das sogenannte zweite Urteil „Solange"13. Das spanische Verfassungsgericht hat bislang noch nicht die Gelegenheit gehabt, sich mit einer denkbaren Kollision zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem spanischen Verfassungsrecht auf dem Gebiet der Grundrechte auseinanderzusetzen. Insbesondere gilt dies für die Grundrechte . . . Es ist nicht schwierig, vorauszusagen, daß in dem Moment, in dem sich dieses Problem in Spanien stellt, die erwähnte deutsche Entscheidung die Lösung dieses Problems sehr erleichtern wird. Nicht ein angekündigter, sondern ein tatsächlich stattgefundener Einfluß ist der, der sich in Beziehung mit dem Problem der Wirksamkeit der Grundreich organisieren. Zugleich aber sind sie wesentliche Elemente einer objektiven Ordnung der nationalen Gemeinschaft, insofern als diese den Rahmen eines menschlichen, gerechten und friedlichen Zusammenlebens bildet .. 10 „Diese Freiheiten haben ihre Grenze in der Achtung der in diesem Titel zuerkannten Rechte, in den Vorschriften der sie regelnden Gesetze und, im besonderen, im Recht auf Ehre, Intimsphäre, am eigenen Bild und auf Schutz der Jugend und der Kindheit". 11 Art. 47 Abs. 2 des Vorentwurfs der Verfassung: „Nach Maßgabe des Gesetzes durch rechtskräftiges Urteil findet aus Gründen der Sicherheit des Staates, des Schutzes der Moral und des Schutzes der Rechte und Freiheiten der Bürger als Zusatzstrafe eine vorläufige Aberkennung der Rechte auf Meinungsfreiheit, auf Erziehung, der Versammlung, der Vereinigung, der Wahl und der Ausübung eines öffentlichen Amtes Anwendung", Constitución Espafiola, Trabajos Parlamentarios, Bd. 1, Madrid 1980, S. 15. 12 Vgl. die Vielfalt der Voraussetzungen betonend, P. Cruz Villalón , La protección extraordinaria del Estado, in: A. Predieri/E. Garcia de Enteria (Hrsg.), La Constitución espafiola de 1978. Estudio sistemàtico, Madrid 1980, S. 679 ff. 13 Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß einer der Richter des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Prof G. C. Rodriguez Iglesias , zusammen mit Dr. Ulrich Völker sich darum bemüht hat, dieses Urteil in Spanien publik zu machen: Derecho comunitario, derechos fundamentales y control de constitucionalidad: la decisión del Tribunal Federal alemân de 22 de octubre de 1986, in: Revista de las Instituciones Europeas, 14 (1987), S. 667 ff. 7 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

98

Pedro Cruz Villalón

rechte bei den Beziehungen „inter privatos" vollzogen hat, d. h. die sogenannte „Drittwirkung" der Grundrechte. Die in dieser Materie vom Verfassungsgericht gefundene Lösung, die sog. indirekte „Wirkung", stimmt mit der Betrachtung dieses Problems durch das Bundesverfassungsgericht im wesentlichen überein14. Im übrigen ist es von Interesse, daß der deutsche Ausdruck „Drittwirkung" infolge seiner Bündigkeit von den spanischen Kommentatoren ständig benutzt wird. Nach den bisherigen Ausführungen erscheint es angebracht, bereits auf das einzugehen, was ohne Zweifel der „Star" der Rezeption des deutschen Rechts im Bereich der Grundrechte ist: die Garantie des „Wesensgehalts". In der Tat war es anläßlich dieses Begriffs, als Professor Rubio Llorente die Notwendigkeit einer „Germanisierung" betonte. Im Rahmen dieser Darstellung dürfte es sehr zur Veranschaulichung beitragen, die Rezeption dieser Garantie gemeinsam mit der einer anderen Garantie zu behandeln, die ebenso deutsch ist wie die erstere: die „institutionelle Garantie". Art. 53 span. Verf. enthält das, was man als das „Grundrecht der spanischen Grundrechte" bezeichnen könnte, so daß er sich als ein Äquivalent zum Art. 19 GG präsentiert. Der Satz 2 des ersten Absatzes erklärt, daß „nur durch das Gesetz, das in jedem Fall ihren Wesensgehalt beachten muß, die Ausübung dieser Grundrechte geregelt werden kann .. ." 15 . Hiermit vereinigt die spanische Verfassung in einer einzigen Bestimmung den Inhalt der Abs. 1 und 2 des Art 19 GG. Art. 19 ist in seinen Garantien dem Gesetzgeber gegenüber strenger. Aber in beiden Fällen erhebt sich der „Wesensgehalt" des Grundrechts als absolute Grenze für die Freiheit des Gesetzgebers. Der deutsche Verfassungsgeber formuliert dies in Form eines Verbots, der spanische Verfassungsgeber in Form eines Mandats, aber das Endergebnis ist dasselbe. Sicherlich kann man den deklaratorischen Charakter dieser und anderer Garantien ähnlichen Typs nicht verleugnen. Klar ist aber, daß von dem Augenblick an, in dem dieselbe existiert, die Frage, ob der Gesetzgeber in einem bestimmten Fall ein Grundrecht verletzt hat oder nicht, als eine Frage danach gestellt werden muß, ob in diesem Fall der „Wesensgehalt" des Rechts betroffen wurde oder nicht Sicherlich ist die spanische Verfassung bezüglich dessen, was unter dem „Wesensgehalt" zu verstehen ist, nicht expliziter als das Grundgesetz. Diese Aufgabe kann allein der wissenschaft14 Vgl. J. Garcia Torres/A. Jiménez Blanco , Derechos fundamentales y relaciones entre paiticulares. La,,DrittWirkung" in la jurisprudencia del Tribunal Constitucional, Madrid 1986. Vgl. die Rezension dieses Werkes durch J. Β aliar in Iribarren t in: Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 24 (1988), S. 283 ff. 15 Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, S. 279 ff.

Das Grundgesetz — Bericht

a

99

liehen Lehre und der Verfassungsrechtsprechung gemeinsam zukommen. Genau an dieser Stelle ist es, wo man den Blick erneut auf Deutschland richten mußte. Das spanische Verfassungsgericht hatte sehr früh - konkret, in seiner Entscheidung Nr. 11 vom 8. April 1981 über das Gesetzesdekret zur Regulierung des Streikrechts - klarstellen müssen* was es unter der genannten Formel versteht. Bei dieser Gelegenheit und seitdem hat das spanische Verfassungsgericht eine eklektische Konzeption angenommen. Es akzeptiert dabei als zueinander komplementär die beiden grundlegenden Konzeptionen des Wesensgehalts: d. h. diejenige, die von einem vorhergehenden „Bild" des Rechts ausgeht, welches es erlaubt, dieses in einer bestimmten Regelung zu erkennen, und diejenige, die bei jedem einzelnen Recht von den „rechtlich geschützten Gütern" ausgeht16. Seit dieser Entscheidung befinden sich die Entscheidungen des Verfassungsgerichts Spaniens über die rechtliche Regelung eines Grundrechts in einer dialektischen Spannung zwischen dem „Wesensgehalt" des „Grundrechts44 und der „Gestaltungsfreiheit" des Gesetzgebers, einem anderen charakteristischen Begriff der deutschen Verfassungssprache 17. Wie bereits erwähnt wurde, hat das spanische Verfassungsrecht auch den Begriff der „institutionellen Garantie" übernommen. Im Unterschied zur Garantie des „Wesensgehalts" handelt es sich dabei nicht um ein ausdrücklich in der Verfassung enthaltenes Konzept, und ebensowenig bildet sie einen Bestandteil des Grundgesetzes. Beide Begriffe haben bekanntlich ihren Ausgangspunkt in der Weimarer Verfassung. Man kann sogar sagen, daß die Garantie des „Wesensgehaltes" eine Ableitung aus der Idee der „institutionellen Garantie" darstellt18. Gewiß wäre eine Konstitutionalisierung dieses Prinzips im abstrakten Sinn nicht ganz undenkbar gewesen, aber es hätte beinahe wie eine Tautologie ausgesehen. Hervorhebung verdient freilich die Art und Weise, wie in Spanien das Verfassungsgericht mit dem Begriff der „institutionellen Garantie" in einem parallelen Sinn zum Begriff des „Wesensgehalts" umgeht. Dies ging sogar bis zu dem Extrem, es als irrelevant anzusehen, daß die Garantie des „Wesensgehaltes" in der Verfassung Aufnahme gefunden hat, die „institutionelle Garantie" aber nicht. Aber dies verdeutlicht lediglich den deklaratorischen Charakter dieses Typs von Garantien und ihrer eventuellen Konstitutionalisierung. Der Begriff der „institutionellen Garantie" fügt sich mit 16

Urteil des Verfassungsgerichts vom 8.4.1981, STC 11/1981, rechtlicher Grund 8, in: JC 1, S. 174 und 191. 17 EM., rechtlicher Grund 7 (S. 189). Vgl. P. Cruz Villcd6n % Zwei Jahre Verfassungsrechtsprechung in Spanien, in: ZaöRV, 43 (1983), S. 69 ff. und 73. 18 Sehr deutlich in diesem Sinn R. Thoma, Die rechtliche Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung. Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, hrsg. v. H. C. Nipperdey, Bd. 1, Berlin 1929, S. 5 ff. 7 ·

100

Pedro Cruz Villalón

der Entscheidung Nr. 32 von 1981 über die Provinzialräte Kataloniens in die spanische Verfassungsrechtsprechung ein, wenn man einmal davon absieht, daß er bereits im Sondervotum der Entscheidung Nr. 5 von 1981 auftauchte. Es ist diese Entscheidung, in der das Verfassungsgericht seine erste und wichtigste Erklärung über die von ihm vertretene Konzeption der „institutionellen Garantie" gibt19. Seitdem ist der Begriff sowohl im Zusammenhang mit der lokalen Autonomie (so in der Entscheidung Nr. 27 von 1987 über die Provinzialräte Valencias) als auch in Verbindung mit den Grundrechten immer wieder mit relativer Häufigkeit aufgetaucht20. Aus der Sicht der Lehre aber vielleicht am interessantesten ist die Entscheidung Nr. 26 von 1987 über die Autonomie der Universitäten. Art. 27 Abs. 10 span. Verfass, erklärt, daß „man die Autonomie der Universitäten unter den durch das Gesetz festgelegten Bedingungen anerkennt". Als das Verfassungsgericht darüber zu entscheiden hatte, ob das „Gesetz über die Universitätsreform" den Art. 27 Abs. 10 verletze oder nicht, stellte sich die Frage, ob diese Autonomie ein Grundrecht oder eher eine „institutionelle" Garantie darstelle21. Diese Frage besaß praktische Relevanz, da nach Meinung des spanischen Verfassungsgerichts die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Fall einer institutionellen Garantie größer ist als im Fall eines Grundrechts, das durch die Garantie des „Wesensgehalts" geschützt ist22. Es kam zu der Schlußfolgerung, daß die Autonomie der Universitäten ein Grundrecht ist, unabhängig davon, daß „Grundrecht" und „institutionelle Garantie" keineswegs miteinander unvereinbare Konzepte seien.

IV· Die Verfassungsgerichtsbarkeit Die spanische Verfassungsgerichtsbarkeit ist der deutschen sehr ähnlich. Sie ist auf alle Fälle der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit ähnlicher als irgendeiner anderen. In diesem Bereich ist allerdings schwierig zu präzisieren, was als eine Rezeption des Grundgesetzes betrachtet werden kann. 1978 sah sich Spanien einem europäischen System der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber, das vor allem durch Österreich, Deutschland und Italien 19 Urteil des Verfassungsgerichts vom 28.7.1981, STC 32/1981, rechtlicher Grund 3, in: JC 2, S. 225 und 233. 20 JC 17, S. 239 und 250 (rechlicher Grund 4). 21 JC 17, S. 283. 22 Dies ist die Auffassung von I. de Otto in: La regulación del ejercicio de los derechos y libertades. La garantia del contenido esencial en el art. 53.1 de la Constitución, in: L. Martin-Retortillo/L de Otto, Derechos fundamentales y constitución, Madrid 1988, S. 93 ff. Vgl eine Kritik an dieser Auffassung in: J. Μ. Βαήο León, La distinción entre derecho fundamental y garantia institucional en la Constitución espafiola, in: Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 24 (1988), S. 155 ff.

Das Grundgesetz — Bericht

ien

101

aufgebaut war, ohne hier den einheimischen Präzedenzfall der spanischen Verfassung von 1931 zu vergessen. Bereits bei der Konzeption des Verfassungsgerichts selbst gilt es hervorzuheben, wie 1981 sein erster Präsident, Professor Garcia-Pelayo, die „Spanische Zeitschrift für Verfassungsrecht" mit einer Arbeit eröffnete, wo man ein klares Echo des „Status-Berichts" vernehmen kann23 Dies war um so bemerkenswerter, weil die Stellung des Verfassungsgerichts in der spanischen Verfassung wesentlich eindeutiger ist als die des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz. Was die Kompetenzen des spanischen Verfassungsgerichts anbelangt, hat die spanische Verfassung im Art 161 Abs. 1 d die „offene Klausel" des Art 93 Abs. 2 des Grundgesetzes angenommen. Aber seine Kompetenzen sind weniger vielfältig als die des Bundesverfassungsgerichts. In der Praxis hat diese Klausel lediglich zur Einführung des „Organstreits" gedient, wovon man bisher nur bei einer Gelegenheit Gebrauch gemacht hat24. Bei der Normenkontrolle ist es charakteristisch, daß sowohl vom Verfassungsgericht als auch von der Lehre die deutsche Terminologie übernommen wurde. Deutlich zeigt sich dies bei den Ausdrücken „abstrakte Normenkontrolle" und „konkrete Normenkontrolle", die in Spanien bisher keine Tradition hatten25. Hervorzuheben ist, daß das in diesem Bereich am meisten divergierende Element, die vom Gesetzgeber 1979 eingeführte präventive Normenkontrolle, 1985 wieder abgeschafft wurde26. Bei den vorkonstitutionellen Gesetzen hat das Verfassungsgericht im wesentlichen die deutsche gegenüber der italienischen Lösung bevorzugt, ohne aber eine „freiwillige" Vorlage auszuschließen27. Was die Verfassungswidrigkeitserklärung ohne Nichtigkeitserklärung betrifft, hat das spanische Verfassungsgericht aber nicht den Mut gehabt, dem Bundesverfassungsgericht zu folgen. Bei der Verfassungsbeschwerde kann man die Gliederung des spanischen Verfassungsgerichts in zwei Senate als deutsch betrachten. Vor allem hat 23 M. Garcia-Pelayo, El „Status" del Tribunal Constitucional, in: Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 1 (1981), S. 11 ff. 24 STC 45/1986, in JC 14, S. 442. Das Verfassungsgericht lehnt ab, daß es sich um einen echten Konflikt handele. 25 So bereits in dem Sondeivotum zum Urteil des Verfassungsgerichts vom 21.5.1981, STC 14/1981, in: JC 1, S. 233 und 243: „Der Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Normenkontrolle besteht darin, daß erstere eine abstrakte und die zweite eine konkrete Beurteilung bedeutet". 26 Organgesetz 4/1985, vom 7.6. Urteil des Verfassungsgerichts vom 23.5.1985, STC 66/1985, in: JC 12, S. 58. 27 Urteil des Verfassungsgerichts vom 2.2.1981, STC 4/1981, rechtlicher Grund 1, in: JC 1, S. 31 und 38.

102

Pedro Cruz Villalón

kraft der im letzten Jahr erfolgten Novellierung des Organgesetzes über das Verfassungsgericht eine bewußte Rezeption des deutschen „AnnahmeVerfahrens 44 stattgefunden28. V. Die Einrichtungen der Demokratie Die Verfassung von 1978 hat ein Modell der Demokratie errichtet, das dem des Grundgesetzes sehr ähnlich ist. In erster Linie handelt es sich um eine streng repräsentative Demokratie mit einigen wirkungslosen Elementen der direkten Demokratie29. Natürlich besteht der deutlichste Unterschied im Hinblick auf das Staatsoberhaupt; aber selbst hier kann man beim Sondervotum zum Verfassungsvorentwurf, in welchem die Sozialisten ein flüchtiges Lippenbekenntnis zum Republikanismus ablegten, den Einfluß des Titels V des Grundgesetzes beobachten30. Eine Rezeption, die hingegen nicht scheiterte, war die des Titels VI des Grundgesetzes. Bei der Wahl des Regierungschefs (Art. 99), der Ernennung der Minister (Art. 100) und der Gestaltung der Verantwortlichkeiten von ihnen allen (Art. 98) vernimmt man das Echo des Art 62 GG und folgende. Geht es darum, diesen Einfluß am Beispiel zweier Einrichtungen zu verdeutlichen, so sind dies zweifellos die politischen Parteien und das konstruktive Mißtrauensvotum. Die ersten drei Sätze des Art 6 span. Verf. sind eine fast wörtliche Wiedergabe des Art. 21 Abs. 1 GG: „Die politischen Parteien drücken den politischen Pluralismus aus, sie wirken bei der Bildung und Äußerung des Volkswillens mit und sind ein wesentliches Instrument der politischen Partizipation. Ihre Bildung und die Ausübung ihrer Aktivität sind im Rahmen des Respekts gegenüber der Verfassung und dem Gesetz frei. Ihre innere Struktur und ihre Tätigkeit müssen demokratisch sein". Systematisch gesehen befindet sich diese Bestimmung an einer ähnlichen Stelle innerhalb der Verfassung wie Art. 21 GG, d. h. nicht im Titel über die Grundrechte, sondern im Titel über die Struktur des Staates. Die spanische Verfassung ist sogar so weit gegangen, den „politischen Pluralismus44 als einen der „höheren Werte der Rechtsordnung44 zusammen mit der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit in den Art. 1 Abs. 1 aufzunehmen. Die Rezeption des konstruktiven Mißtrauensvotums kann als ein Fall der „selektiven44 Rezeption des deutschen Parlamentarismus angesehen werden. In der Tat definieren die Art. 113 und 114 Abs. 2 span. Verf. das kon21

Organgesetz 6/1988, v. 9.6. Praktisch ein Referendum beratenden Charakters neben der Beteiligung an der Reform der Verfassung und bestimmter Autonomiestatute. 30 Sozialistisches Sondervotum in: Constitución Espafiola ..., vgl. Fn. 11, S. 54 ff. 29

Das Grundgesetz — Bericht

ien

103

struktive Mißtrauensvotum im wesentlichen mit den gleichen Bedingungen wie Art. 67 GG 31 . Im System des Grundgesetzes fügt sich die strenge Regelung der politischen Verantwortung der Regierung in ein parlamentarisches Modell ein, in dem zugleich auch die Möglichkeiten einer vorzeitigen Parlamentsauflösung sehr beschränkt sind. Die spanische Verfassung hingegen hat das konstruktive Mißtrauensvotum in einen Kontext eingeordnet, in dem es dem Regierungschef, von einigen speziellen Umständen abgesehen32, jederzeit möglich ist, eine Auflösung des Parlaments vorzunehmen (Art. 115). Ergebnis dieser „partiellen Rezeption" ist ein „unausgeglichener" Parlamentarismus, der bisher noch zu keinen schwerwiegenden Konsequenzen geführt hat.

VI. Der Staat der autonomen Gemeinschaften Das Grundgesetz war ein konstanter Bezugspunkt für den Aufbau des neuen spanischen Staates, der sich auf eine Pluralität von politisch autonomen Gebietseinheiten, die sogenannten „Autonomen Gemeinschaften" gründet. Bei diesem Einfluß muß man dreierlei hervorheben: 1. die Art und Weise, wie er sich im Text der Verfassung widerspiegelt, 2. wie er bei der Interpretation der Verfassungsvorschriften zur Geltung gekommen ist, und 3. seine mögliche Wirksamkeit in Zukunft. Ich beschränke mich darauf, jedes dieser drei Elemente durch ein Beispiel zu veranschaulichen.

1. Die Widerspiegelung im Text der Verfassung

Das Grundgesetz und die spanische Verfassung gehen von zwei absolut divergierenden Situationen aus. Das Grundgesetz ist die Verfassung eines Bundesstaates, der auf der Grundlage von bereits vorher existierenden Ge31 Artikel 113: „1. Das Abgeordnetenhaus kann die Regierung zur politischen Verantwortung ziehen durch Annahme eines Nüßtrauensantrags mit absoluter Mehrheit. 2. Der Mißtrauensantrag muß von mindestens einem Zehntel der Abgeordneten ausgesprochen werden und einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten enthalten. 3. Ober den Mißtrauensantrag kann erst fünf Tage nach seiner Einbringung abgestimmt werden. An den ersten beiden Tagen dieser Frist können Alternativanträge eingebracht werden. 4. Wenn der Mißtrauensantrag vom Abgeordnetenhaus nicht gebilligt wird, können seine Unterzeichner während der gleichen Sitzungsperiode keinen weiteren vorlegen*. Art. 114 Abs. 2: „Wenn das Abgeordnetenhaus einen Mißtrauensantrag annimmt, legt die Regierung dem König ihre Demission vor, und der im Antrag genannte Kandidat gilt gemäß den Bestimmungen des Art. 99 mit dem Vertrauen der Kammer versehen. Der König ernennt ihn zum Ministerpräsidenten*'. 32 Wenn ein Mißtrauensantrag präsentiert wurde oder während der Ausnahmezustände.

104

Pedro Cruz Villalón

bietseinheiten entsteht. Die spanische Verfassung dagegen ist die Verfassung eines Einheitsstaates, die die Einleitung eines politischen Dezentralisierungsprozesses „vorsieht", dessen Endergebnis der sogenannte „Staat der Autonomien" sein sollte33. Dieser Unterschied bezüglich des Ausgangspunkts wirkte sich auf die Struktur der beiden Verfassungen in entscheidender Weise aus. Unabhängig hiervon bestand aber das Bewußtsein, daß das Ergebnis nicht total verschieden sein würde, so daß bereits im Verfassungstext einige eindeutig deutsche Rechtsinstitute und Prinzipien aufgenommen wurden. So verkündet Art. 139 span. Verf. das Prinzip der Gleichheit der Spanier im gesamten Staatsgebiet auf ähnliche Weise, wie dies Art. 33 Abs. 1 GG tut34. Im Art 158 Abs. 2 span. Verf. taucht ein „Interterritorialer Ausgleichsfonds" auf, der direkt durch Art. 104 a Abs. 4 inspiriert wurde35. Aber das reinste Beispiel der Rezeption des Grundgesetzes in diesem Bereich stellt ohne Zweifel der Art 155 span. Verf. dar. Dieser Artikel regelt das spanische Äquivalent zum Bundeszwang des Art. 37 GG36. Aus dem Blickwinkel der Prozesse der Verfassungsrezeption verdienen in diesem Fall die folgenden Faktoren hervorgehoben zu werden: Erstens hat der spanische Verfassungsgeber darauf verzichtet, diesem Rechtsinstitut einen Namen zu geben. Dies veranlaßte die spanische Lehre, den deutschen Namen zu übernehmen, sei es als „Staatszwang"37, oder sei es als „staatliche Exekution"38. Zweitens wird in diesem Falle deutlich, wie in den Anfängen des verfassungsgebenden Prozesses der Text des deutschen 33

Vgl. P. Cruz Villalón , in: JöR 34 NF (1985), S. 195 ff. Art. 139: „1. Alle Spanier haben in allen Teilen des Territoriums des Staates die gleichen Rechte und Pflichten. 2. Keine Behörde darf Maßnahmen ergreifen, die direkt oder indirekt zu einer Behinderung der Freizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit von Personen und der freien Bewegung von Gütern im gesamten spanischen Territorium führen". 35 Art. 158 Abs 2: „Sind die jeweiligen Statute genehmigt und bekanntgemacht, können sie nur durch die in ihnen festgelegten Verfahren und mit einem Referendum unter den Wahlberechtigten der betreffenden Wahlkreise geändert werden*. 36 Art. 155: „1. Wenn eine Autonome Gemeinschaft die Verpflichtungen, die ihr die Verfassung oder ein anderes Gesetz auferlegt, nicht erfüllt, oder in einer Form handelt, die in ernster Weise gegen das Interesse der Allgemeinheit Spaniens verstößt, kann die Regierung nach vorheriger Aufforderung an den Präsidenten der Autonomen Gemeinschaft und im Fall von deren Nichtbefolgung, mit der Billigung durch die absolute Mehrheit des Senats die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Gemeinschaft zur zwangsweisen Erfüllung der genannten Verpflichtungen oder zum Schutz der erwähnten Interessen der Allgemeinheit zu verpflichten. 2. Für die Durchführung der im vorstehenden Absatz vorgesehenen Maßnahmen ist die Regierung allen Behörden der Autonomen Gemeinschaft gegenüber weisungsberechtigt'4. 37 P. Cruz Villalón , in: Diccionario del sistema politico espafiol, hrsg. von J. J. Gonzâlez Encinar, Madrid 1985. 38 Enoch Alberti , in Eliseo Aja u. a., El sistema juridico de las Comunidades Autònoma^ Madrid 1985, S. 471 ff. 34

Das Grundgesetz — Bericht

ien

105

Artikels beinahe wörtlich eingefügt wird. Erst im Verlauf dieses Prozesses werden sodann Modifikationen vorgenommen, die ihn vom Sinn seines deutschen Äquivalents entfernen. Der hauptsächliche Unterschied zwischen beiden Instituten besteht in der Aufnahme einer Art von „Generalklausel", kraft derer die Intervention nicht nur dann stattfinden kann, wenn eine Autonome Gemeinschaft ihre Pflichten nicht erfüllt, sondern auch dann, wenn - ich zitiere - „ihr Handeln in schwerwiegender Weise das allgemeine Interesse Spaniens verletzt". Folglich sind die zu treffenden Maßnahmen auch diejenigen, die „den Schutz des erwähnten allgemeinen Interesses" zum Ziel haben. So kommt es zu einer ersten Entartung des deutschen Instituts. Drittens ergibt sich indirekt eine funktionale Differenz durch eine vorausgehende organische Differenz. In der Tat ist der spanische Senat, wie wir im folgenden sehen werden, weit davon entfernt, ein Bundesrat zu sein. Dieser Unterschied wird nicht dadurch „ausgeglichen", daß man im spanischen Senat die absolute Mehrheit verlangt. Letztlich ist im Hinblick auf das Leben dieser Vorschrift auch hervorzuheben, daß es ebenso wie in der Bundesrepublik niemals notwendig war, dieses Rechtsinstitut anzuwenden. Somit beschränkt sich die Rezeption nicht auf den wörtlichen Text der Vorschrift, sondern auch auf ihre „Funktionalität". In beiden Fällen handelt es sich um ein Rechtsinstitut für außergewöhnliche Umstände. So hat dies im übrigen das spanische Verfassungsgericht verstanden, als es eine Vorschrift für verfassungswidrig erklärte, die den Art. 155 span. Verf. im Rahmen einer Variante der „Bundesaufsicht" einfügen wollte39.

2. Die Interpretation des Verfassungstexts

Es ist hier, weitaus mehr als im Text der Verfassung, wo der deutsche Föderalismus über die wissenschaftliche Lehre und über die Verfassungsrechtsprechung seinen Einfluß ausgeübt hat. In diesem Sinne kann man behaupten, daß man in Spanien eine - sozusagen - „deutsche Lektüre" des Titels VIII der spanischen Verfassung erleben konnte. Man neigt dazu, die verfassungsrechtliche Regelung der territorialen Autonomie als eine unvollständige und fragmentarische Regelung zu betrachten, die nur wirksam sein könne, wenn man sie durch Rechtsinstitute des Föderalismus anderer Staaten, insbesondere des deutschen Föderalismus vervollständigt. Dies ist ζ. B. der Fall bei den Begriffen „Bundestreue", „Bundeshilfe", „Bundes39

Urteil des Verfassungsgerichts vom 5.8.1983, STC 76/1983, rechtlicher Grund 12, in: JC 6, S. 467 und 567. Zu den Vorläufern dieser Auffassung innerhalb der Lehre vgl. E. Garcia de Enterria, La ejecución autonómica de la legisladón del Estado, jetzt in: Estudios sobre autonomies territoriales, Madrid 1985, S. 165 ff.; vgl. ebenso den Kommentar zu diesem Werk von P. Cruz Villalón , Las articulaciones de un Estado compuesto, in: Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 8 (1983), S. 299 ff.

106

Pedro Cruz Villalón

aufsieht", „Exekutivföderalismus", „kooperativer Föderalismus" etc.40. Aber vielleicht das anschaulichste Beispiel liefern die „konkurrierende Gesetzgebung" und die „Vorrangklausel". Bei der Kompetenzverteilung zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften berücksichtigt die spanische Verfassung nicht die deutsche Technik der „konkurrierenden Gesetzgebung". Art. 149 Abs. 1 span. Verf. enthält eine Liste der „ausschließlichen Kompetenzen" des Staates, in der man zwischen solchen Materien unterscheiden muß, in denen der Staat alle Kompetenzen ausübt, und Materien, in denen der Staat sich lediglich bestimmte Kompetenzen (zum Beispiel Gesetzgebung, Rahmengesetzgebung) vorbehält. Andererseits enthält die spanische Verfassung keine Klausel über einen allgemeinen Vorrang des zentralstaatlichen Rechts über das Recht der Autonomen Gemeinschaften wie etwa Art. 31 GG. Es heißt in Art. 149 Abs. 2 span. Verf. lediglich, daß die Normen des Staates im Konfliktfall vor denen der Autonomen Gemeinschaften in allem Vorrang haben, was nicht der ausschließlichen Kompetenz der Autonomen Gemeinschaften zugewiesen ist". Ein Teil der Lehre nahm eine „deutsche" Lektüre dieser Bestimmungen vor mit der Folge, daß Art. 149 Abs. 1 span. Verf. zum Teil so funktionieren würde, als ob derselbe die Technik der „konkurrierenden Gesetzgebung" übernommen hätte41. Die Cortes Generales machten einen Versuch, dieser Interpretation Gesetzeskraft zu verleihen, mittels folgender Gesetzesbestimmung: „Die Normen, die der Staat in Ausübung seiner ihm in Art. 149 Abs. 1 anerkannten Kompetenzen erläßt, haben Vorrang vor den Normen der Autonomen Gemeinschaften". Diese Bestimmung jedoch wurde im Rahmen einer präventiven Normenkontrolle vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt42.

3. Die ausstehende Reform des Senats

In der spanischen Lehre ist man sich bewußt, daß das spanische Autonomiemodell seine endgültige Form noch nicht erreicht hat43. Es ist bezeichnend, daß bei dem Bemühen, die endgültige Gestalt unseres Staates zu fin40 Besonders charakteristisch für diese Tendenz sind die Studien von E. Garcia de Enteria, jetzt in: Estudios . . v g l . Fn. 39. Eines der besten Beispiele für die Einführung der Kategorien des deutschen Föderalismus liefert E. Alberti , Federalismo y cooperación en la Repùblica Federal alemana, Madrid 1985. 41 Vgl. L. Parejo , La prevalencia del Derecho estatal sobre el regional, in: Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 2 (1981), S. 57 ff. Vgl. die Kritik an dieser Auffassung, in: I. de Otto , La prevalencia del Derecho estatal sobre el Derecho regional, Revista Espafiola de Derecho Constitucional, 2 (1981), S. 57 ff. 42 STC 76/1983, rechtlicher Grand 9, in: JC 6, S. 469 und 566. 43 Informe sobre las autonomias, hrsg. von E. Aja u. α., Madrid 1988.

Das Grundgesetz — Bericht

ien

107

den, der Blick sich in sehr spezieller Weise auf den Föderalismus des Grundgesetzes richtet. In diesem Sinn ist vielleicht der Bundesrat dasjenige Institut, das dazu berufen ist, einen größeren Einfluß auszuüben. Heute gibt man zu, daß der Senat das am wenigsten gelungene Organ der spanischen Verfassung ist Daß er bislang noch nicht Gegenstand einer Reform war, liegt am Widerstand gegen die erste Modifizierung eines Textes, gegenüber dem man einen fast abergläubischen Respekt hat. Der Vorentwurf der Verfassung sah ein Senatsmodell vor, das sehr vom Bundesrat beeinflußt war, denn die Senatoren sollten im wesentlichen durch die gesetzgebenden Versammlungen der Autonomen Gemeinschaften gewählt werden44. Dennoch entschied man sich am Ende für das Senatsmodell des Gesetzes für die Politische Reform, d. h. die direkte Wahl der Senatoren durch die Bürger, und lediglich 20 % von ihnen durch die Parlamente der Autonomen Gemeinschaften. Was die Kompetenzen des Senats betrifft, hat sich ein beträchtlicher Einfluß des Bundesrats erhalten45. Weite Kreise sehen heute im Senat ein untaugliches Organ. Zugleich wird von verschiedenen Standpunkten aus die Existenz eines Organs der Zentralgewalt vermißt, das durch seine Zusammensetzung die Entscheidungen dieser Gewalt gegenüber den Autonomen Gemeinschaften legitimiert46. Die Lösung kann nur darin bestehen, daß man den „deutschen Teil" des Senats, der heute die Ausnahme darstellt, in die Regel verwandelt, so wie dies ursprünglich vorgesehen war.

44 Vorentwurf der Verfassung, Art. 60, Constitución Espafiola ..., vgl. Fn. 11, S. 17: „Die Senatoren werden von und aus den Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlungen der autonomen Territorien gewählt, und zwar für eine Periode, die zu deren Legislatur identisch ist sowie nach einem System der Verhältniswahl und auf die Art, daß die Repräsentanten der verschiedenen Gebiete des jeweiligen Territoriums gewährleistet ist44. 45 So wurde die Gesetzgebungsbefugnis des Senats in Art. 90 span. Verf. in Worten abgefaßt, die an Art. 77 Abs. 4 GG erinnern: „1. Nach Billigung des Entwurfs eines gewöhnlichen oder Organgesetzes durch das Abgeordnetenhaus erstattet dessen Präsident unmittelbar dem Präsidenten des Senats Bericht darüber, welcher den Text dem Senat zur Beratung vorlegt. 2. Der Senat kann binnen 2 Monaten ab Empfang des Textes durch eine begründete Eingabe sein Veto einlegen oder Änderungen vorschlagen. Das Veto muß von der absoluten Mehrheit gebilligt werden. Der Entwurf kann nicht dem König zur Genehmigung vorgelegt werden, wenn nicht das Abgeordnetenhaus im Falle eines Vetos mit absoluter Mehrheit den ursprünglichen Text ratifiziert oder nach Ablauf von 2 Monaten nach Einlegung mit einfacher Mehrheit oder über die Änderungen entschieden hat, indem es sie mit einfacher Mehrheit annimmt oder verwirft. 3. Der Zeitraum von 2 Monaten, über den der Senat zum Veto oder zur Änderung des Entwurfs verfügt, reduziert sich bei den von der Regierung oder dem Abgeordnetenhaus für dringlich erklärten Entwürfen auf 20 Kalendertage44. 46 L. López Guerra , Conflictos compitenciales, interés general y decidir politica, en, Revista Espafiola de Derecho Constitucional, vol. 1 (1988), p. 90.

108

Pedro Cruz Villalón

VII. Schlußfolgerung Die Schlußfolgerung nach all dem bisher Gesagten ist, daß die spanische Verfassung von 1978 ohne das Grundgesetz sicherlich eine andere wäre. Gewiß hat sich der Einfluß des Grundgesetzes nicht auf alle Bereiche der spanischen Verfassung erstreckt, und es ist auch klar, daß es nicht die einzige Verfassung war, welche auf die spanische Einfluß ausgeübt hat. Aber mit Sicherheit läßt sich behaupten, daß sich seit 1978 zwischen der spanischen Verfassung und dem Grundgesetz, und ganz allgemein zwischen der spanischen und der deutschen Verfassungslehre eine besondere Beziehung entwickelt hat. Ein besonderes Verhältnis, das sicherlich kein „besonderes Gewaltverhältnis" ist. Heute spricht die spanische Verfassungslehre zu einem beträchtlichen Teil dieselbe Sprache wie die deutsche. Das ist ohne Zweifel eine Leistung des Grundgesetzes. Aber das bedeutet zugleich, daß wir zu einem guten Teil den gleichen Problemen gegenüberstehen: d. h. die Probleme der Dogmatik der Grundrechte, die der repräsentativen Demokratie oder die der Verfassungsgerichtsbarkeit sind dem deutschen und dem spanischen Verfassungsrecht gemeinsam. Der Augenblick der Rezeption muß nun dem Moment der gemeinsamen Weiterentwicklung beider Verfassungen Platz machen.

Der Einfluß des deutschen Grundgesetzes auf das portugiesische Verfassungsrecht Von Marcello de Sousa L Ein Abstand von 25 Jahren 1. Als erstes gilt es festzuhalten, daß sich der Einfluß des deutschen Grundgesetzes auf das portugiesische Verfassungsrecht mit einem Abstand von 25 Jahren bemerkbar machte, da es durchaus so lange dauerte, bis sich das Gedankengut dieses Textes zum ersten Mal bei einigen - wenigen - portugiesischen Autoren niederschlug. Man kann in der Tat sagen, daß ein solcher Einfluß bis Anfang der 70er Jahre gleich Null war. Die portugiesische Verfassungsrechtslehre war zu jener Zeit dürftig, da das hauptsächliche Interesse der Professoren innerhalb des Öffentlichen Rechts dem Verwaltungsrecht galt. Es gab einen gewissen, beschränkten Einfluß des deutschen Verwaltungsrechts, aber im Bereich des Verfassungsrechts ist ein solcher zwischen 1950 und 1970 praktisch nicht auszumachen. Hingewiesen sei allerdings auf die Ausnahme, die Rogério Ehrhardt Soares, Rechtslehrer an der Universität von Coimbra machte, der in seiner Habilitationsschrift „Direito Pùblico e Sociedade Tècnica"1 von 1969 die deutsche Lehre zu Wort kommen läßt. In dem genannten Zeitraum ist die Produktion der portugiesischen Verfassungsrechtler allerdings auch sehr gering, oder aber sie steht unter dem Einfluß italienischer oder französischer Autoren (wie z. B. im Falle des wichtigsten Vertreters des Verfassungsrechts an der Universität Lissabon, Prof. Dr. Marcello Caetano, der in seinem „Manual da Ciência Politica e Direito Constitucional"2 nur indirekt auf das deutsche Recht Bezug nimmt und dazu noch praktisch nur auf die Zeit vor dem Grundgesetz). 2. Mit dem Anbruch der 70er Jahre macht sich ein zaghafter und zunächst nur kasuistischer deutscher Einfluß bei einigen Nachdiplomarbeiten einer neuen Generation von Assistenten der Universitäten von Lissabon und Coimbra bemerkbar; so z. B. bei Francisco Lucas Pires in Coimbra, mit sei1 2

öffentliches Recht und Technische Gesellschaft. Lehrbuch der Politischen Wissenschaften und des Verfassungsrechts.

110

Marcello de Sousa

ner Schrift „0 Problema da Constituiçao"3, und bei meiner eigenen Arbeit in Lissabon, im Bereich des Verwaltungsrechts mit dem Titel „O Pedido e a Causa de Pedir no Recurso Contencioso"4. 1972 erscheint die 6. Auflage des „Manual da Ciência Politica e Direito Constitucional"5 von Prof. Dr. Marcello Caetano, die von seinem Assistenten Miguel Galvao Teiles durchgesehen wurde und die zum ersten Mal das Grundgesetz und die sich daraus ergebende Lehre erwähnt, und zwar mit besonderem Bezug auf den Gesetzesbegriff und die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Zwischen 1972 und 1974 beginnt man an der Universität Lissabon in praktischen Übungen zum Verfassungsrecht das Grundgesetz zu studieren, was besonders drei Assistenten zu verdanken ist, nämlich Miguel Galvao Teiles, Rui Machete und Jorge Miranda; in Coimbra sind es u. a. António Barbosa de Melo und José Manuel Cardoso da Costa, die dem Grundgesetz in ihrem Unterricht Raum geben. Zusammenfassend kann man also sagen, daß der Einfluß der auf das Grundgesetz folgenden deutschen Lehre bis 1974 gering war und sich vorwiegend auf einige Assistenten der Rechtsfakultäten von Coimbra und Lissabon konzentrierte. 3. Bezüglich eines Einflusses des Grundgesetzes auf den Text der portugiesischen Verfassung kann man sagen, daß dieser bis 1971 ebenfalls gleich Null war. Damals stand in Portugal eine Verfassung in Kraft, die aus dem Jahre 1933 stammte, die zwar wegen ihres Kanzlersystems einen gewissen Einfluß der Weimarer Verfassung für sich in Anspruch nimmt, die aber letztlich nur dazu diente, ein diktatorisches System politisch zu legitimieren, das als anti-demokratisch, anti-liberal und anti-parlamentarisch bezeichnet werden muß und die auf ihren Repräsentanten, Prof. Dr. Oliveira Salazar zugeschnitten war. Weder die Verfassungsrevision von 1951, noch die von 1959 zeigen irgendwelche Einflüsse des Grundgesetzes. Erst 1971, anläßlich ihrer letzten Revision und zu einem Zeitpunkt, in dem Marcello Caetano bereits Salazar als Ministerpräsident abgelöst hatte, gibt es versteckte Anzeichen eines deutschen Einflusses, allerdings nur rechtstechnischer Art. Die Erklärung dafür ist einfach, aber bemerkenswert: Marcello Caetano hatte seinen Assistenten Miguel Galvao Teiles gebeten, einen Vorschlag zur Revision auszuarbeiten, und diesem, als Kenner des deutschen Rechts, gelang es, einige 3 4 5

Die Problematik der Verfassung. Der Antrag und der Antragsgrund in der Berufung. Siehe oben Fn. 2.

Das Grundgesetz — Bericht

r a

111

rechtstechnische Präzisierungen und zwei wichtige Neuerungen einzubringen: Eine war die Erlaubnis der Konzentration der Verfassungsmäßigkeitskontrolle bei einem Gericht; die andere war die gerichtliche Überprüfung aller endgültigen und ausgeführten Akte der öffentlichen Verwaltung. 4. Der Einfluß des deutschen Grundgesetzes begann sich also mit einer Verzögerung von 25 Jahren und auf eine kaum spürbare Weise bemerkbar zu machen, da die Kenntnisse über das deutsche Verfassungsrecht gering waren und nicht zuletzt auch wegen einer gewissen sprachlichen Barriere 6.

Π. Die Portugiesische Verfassung von 1976 ihre Revisionen von 1982 und 1989 1. Wichtigstes Faktum der portugiesischen Verfassungsrechtsgeschichte nach 1974 ist die Ausarbeitung der Verfassung von 1976. Obwohl die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung, zu welcher auch ich gehörte, das Grundgesetz kannten, ist sein Einfluß bei den Vorbereitungsarbeiten und bei der Arbeit in den Kommissionen doch selten anerkannt Trotzdem ist sein Einfluß gegenwärtig und an mehreren Stellen von großer Wichtigkeit, so ζ. B. bei den allgemeinen Prinzipien der Grundrechte, bei der direkten Anwendung der Verfassungsnormen auf Grundrechte, bei der Formulierung einer Reihe von Persönlichkeitsrechten, bei einigen Prinzipien der Organisation der politischen Macht des Staates, bei der Anerkennung der Rolle der politischen Parteien, und etwas vager bei der Schaffung einer Verfassungskommission, einer Art Berufungsinstanz für konkrete Fälle des Verfassungsrechtes. Dagegen gibt es keinen spürbaren Einfluß bei den Grundprinzipien der Verfassung, bei den wirtschaftlichen Rechten, Sozialrechten und kulturellen Rechten, der Wirtschaftsform, in wichtigen Teilen des Regierungssystems, bei der Verfassungsrevision und bei der abstrakten Normenkontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Das Grundgesetz setzte sich also in erster Linie bei der allgemeinen Regelung der Grundrechte durch, sowie bei einigen Rechtssätzen, Freiheiten und Garantien.

6 Obwohl ein zweijähriges Studium der deutschen Sprache damals für Anwärter des Rechtsstudiums obligatorisch war, kann man sagen, daß in der Praxis nur wenige Studenten und Lizenziaten diese Sprache wirklich beherrschten und auch deutsche Autoren gelesen hatten.

112

Marcello de Sousa

2. 1982 fand die erste Verfassungsrevision statt, die sich voll einem Einfluß des Grundgesetzes öffnete, was sich in der Schaffung des Verfassungsgerichtes als dem obersten Organ der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ausdrückte. Das neugeschaffene Verfassungsgericht übt neben seiner Tätigkeit als Berufungsgericht auch eine abstrakte Normenkontrolle aus, die es ihm erlaubt, Gesetzesbestimmungen mit allgemeinverbindlicher Rechtskraft als verfassungswidrig zu erklären. Natürlich ist das portugiesische System nicht mit dem bundesdeutschen identisch, da es z. B. die Kontrolle der Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen vorsieht und da es auch teilweise mit dem dezentralisierten System Nordamerikas Gemeinsamkeiten zeigt (dieses ist seit 1911 über die brasilianische Verfassung von 1981 in das portugiesische Recht gelangt). Trotzdem kann man sagen, daß die Erfahrungen des Gerichtshofes von Karlsruhe einen bestimmenden Einfluß auf das portugiesische System hatten. 3. Gegenwärtig läuft eine zweite Verfassungsrevision, die allerdings zum Zeitpunkt dieses Berichts noch nicht abgeschlossen ist7, alles deutet aber darauf hin, daß sich der deutsche Einfluß noch verstärken wird, nicht zuletzt weil der Präsident der Kommission für die Verfassungsrevision Dr. Rui Machete ist, der das Grundgesetz seit 1972 in seinen praktischen Übungen behandelt. Die Revision wird sich hauptsächlich mit drei Gebieten befassen: den grundlegenden Prinzipien, den Grundrechten und der Wirtschaftsform, wobei der Beitrag der Kommentare zum Grundgesetz speziell bei den Grundrechten Bedeutung erlangen könnte. Es ist allerdings noch zu früh, um Abschließendes zu sagen. DL Der bedeutende Einfluß der deutschen Lehre seit 1974 1. Den wichtigsten Einfluß des Grundgesetzes und die sich ihm anschließende Diskussion läßt sich aber in dem wachsenden Einfluß auf die portugiesische Verfassungsdoktrin nach 1974 ausmachen. An der Rechtsfakultät der Universität Lissabon wird das Grundgesetz im Fach .Politische Wissenschaften und Verfassungsrecht Γ behandelt, und zwar selbst von Professoren wie Jorge Miranda, dessen „Manual de Direito Constitucional"8 einen fast ausschließlich französischen und italienischen Einfluß aufweist. Bei meinen Vorlesungen über Verfassungsrecht von 1977 bis 1981 und von 1983 bis 1986 kam der deutschen Doktrin zunehmende 7 8

9. Februar 1989. Lehrbuch des Verfassungsrechts.

Das Grundgesetz — Bericht

r a

113

Bedeutung zu, was in meiner Arbeit „Direito Constitucional I - Introduçao a Teoria da Constutuiçao"9, 1979,deutlich zum Ausdruck kommt und sich 1983 in „Os Partidos Politicos no Direito Constitucinal Português"10 und 1985 in „Relatörio sobre a regência da disciplina de Direito Constitucional I" 1 1 noch verstärkt; auch in „O Valor juridico do acto inconstitucional"12, 1988, kann dieser Einfluß nicht von der Hand gewiesen werden (liegt auszugsweise auf Deutsch vor). Ein anderer Professor aus Lissabon, José Seronho Correia, rezipiert in seiner Habilitationsschrift von 1987 „A Legalidade e a autonomia contratual nos contratos administratives"13 ebenfalls deutsche Ergebnisse, besonders im Bereich der Abgrenzung zwischen Gesetz und Verwaltungsvorschrift. Zahlreiche Assistenten der Rechtsfakultät von Lissabon haben Nachdiplomarbeiten eingereicht, in denen die Beachtung des Grundgesetzes ihren festen Platz hat. 2. An der Universität von Coimbra ist das Interesse am deutschen Verfassungsrecht noch ausgeprägter. Prof. Dr. Rogério Soares folgt in seinen Vorlesungen über das Verfassungsrecht einer Lehre, deren Ursprung in den 60er Jahren liegt. Prof. Dr. José Joaquim Gomes Canotilho bezeichnet den deutschen Einfluß in seinem Werk „Direito Constitucional"14 als bestimmend für seine ganze Lehrtätigkeit, wie dies ja schon in seiner Doktorarbeit von 1982 „Constituiçao Dirigente e Vinculaçao do Legislador - Contributo para a compreensao das normas constitucionais programâticas"15 zum Ausdruck kommt. Dieser Einfluß ist auch in dem Werk „Constituiçao da Republica Portuguesa Anotada"16 spürbar, das Prof. Dr. Canothilho 1983 mit seinem Assistenten Vital Moreira zusammen herausgegeben hat; letzterer ist seit 1983 Richter am Verfassungsgericht. Drei Assistenten in Coimbra haben in ihren Arbeiten dem deutschen Recht ebenfalls weiten Raum gegeben; es sind dies António Barbosa a Melo (in allen seinen Arbeiten), José Manuel Cardoso da Costa (seit 1983 Richter am Verfassungsgericht, der kürzlich ein kleines Werk über die Verfassungskontrolle in Portugal veröffentlicht hat, von dem eine deutsche Fassung vor9 10 11 12 13

gen.

Verfassungsrecht I - Einführung in die Verfassungstheorie, 1979. Die politischen Parteien im portugiesischen Verfassungsrecht. Bericht über die Aufsicht über das Fach Verfassungsrecht I. Die rechtliche Wertung des verfassungswidrigen Aktes. Die Rechtmäßigkeit und die Vertragsautonomie bei verwaltungsrechtlichen Verträ-

14

Verfassungsrecht. Die Leitfunktion der Verfassung und die Bindung des Gesetzgebers - Beitrag zu einem Verständnis der nicht selbstausführenden Verfassungsnormen. 16 Verfassung der Republik Portugal, mit Anmerkungen. 15

8 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

114

Marcello de Sousa

liegt) und José Carlos Vieira de Andrade (in allen seinen Werken, aber vornehmlich in den Werken über Grundrechte). Auch bei den Arbeiten im Bereich von Nachdiplomstudien zeigt sich in Coimbra die Bedeutung des westdeutschen Verfassungsrechtes. 3. Zusammenfassend können wir sagen, daß sich im Unterricht des Verfassungsrechts an den Fakultäten von Coimbra und Lissabon eine deutliche Zunahme des Einflusses von Studien über das Grundgesetz und die deutsche Verfassungsdoktrin bemerkbar macht, die man in Coimbra als die herrschende Lehre bezeichnen kann und die sich in Lissabon auf dem Wege dazu befindet. Diese Entwicklung ist um so erstaunlicher, als in der gleichen Zeit das obligatorische Deutschstudium im voruniversitären Unterricht aufgegeben wurde, was allerdings durch entsprechende Kurse für Hochschulabsolventen ausgeglichen wurde. Dazu kommt eine bemerkenswerte Erweiterung des Bestandes an deutscher Literatur an den Rechtsschulen und ein wissenschaftlicher Austausch von Dozenten und Kontakte zwischen deutschen und portugiesischen Fakultäten. Da die Katholische Universität und die anderen privaten Hochschulen der Linie der beiden großen staatlichen Institute folgen, ist es nicht abwegig zu behaupten, daß der deutsche Einfluß im kommenden Jahrzehnt den italienischen, französischen und spanischen überflügeln wird; daneben könnte es zur Rezeption einiger Beiträge aus dem angelsächsischen Rechtskreis kommen.

IV. Die Rolle des Verfassungsgerichts Das seit 1983 bestehende Portugiesische Verfassungsgericht hat den hier beschriebenen Weg auch in seiner Rechtsprechung nachvollzogen, und der direkte oder indirekte Einfluß der deutschen Doktrin ist vor allem in den Bereichen der Grundrechte unabweislich, was wahrscheinlich auf die Arbeit der Richter Vital Moreira und José Manuel Cardoso da Costa zurückzuführen ist Aufgrund des Alters und der Ausbildung der Mehrheit der gegenwärtigen Richter am Verfassungsgericht kann noch nicht von einem entscheidenden deutschen Einfluß gesprochen werden; den zukünftigen Entscheidungen des Gerichts darf man aber mit Interesse entgegensehen, um diese Tendenz und ihre Reichweite zu bestätigen. Überdies ist zur Zeit eine Gruppe meiner Mitarbeiter damit beschäftigt, eine Bestandsaufnahme sämtlicher Entscheide des Verfassungsgerichtes vorzunehmen, die nachweislich von einem direkten oder indirekten deutschen Einfluß geprägt sind, um so zu einer sowohl quantitativen als auch qualitativen Aussage zu kommen.

Das Grundgesetz — Bericht Portugal

115

V. Schlußfolgerungen Man kann das sagen, daß das Grundgesetz in Portugal während 25 Jahren entweder nicht zur Kenntnis genommen wurde oder dann aber nur sporadische Beachtung fand. Alles, oder fast alles trennte die beiden verfassungsrechtlichen Schulen, die grundlegenden Prinzipien der beiden Verfassungsrechte, die herrschenden Systeme, die kulturellen Grundmuster und die Ausrichtung des Studiums des Verfassungsrechts. Die letzten 15 Jahre brachten die große Wende; anfangs bloß zögernd, dann sehr rasch. Im Bereich der abstrakten Lehre zu Beginn, dann über die eigentliche Verfassung von 1976, wo der Einfluß schon intensiver ist, und schließlich erreicht er auch das Verfassungsgericht. Wenn es ein beeindruckendes Zeichen für die Entwicklung der Verfassungsrechtswissenschaft in Portugal gibt, so ist dies eben dieser deutsche Einfluß. Bleibt abzuwarten, ob es ihm gelingen wird, soviel Raum zu gewinnen, wie das deutsche Recht im Privat- und Strafrecht, ja selbst im Verwaltungsrecht einnimmt. Dies hängt vom Einfluß der Lehre auf die Rechtsprechung sowie auf die eigentliche verfassungsrechtliche Praxis ab. Und nicht zuletzt natürlich auch von den spezifischen kulturellen Voraussetzungen der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik Portugals im Vergleich mit Westdeutschland. Von der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit hängt die Anwendbarkeit von deutschen Vorstellungen auf das portugiesische Verfassungsrecht ab, und zwar im Bereich des Regierungssystems, der wirtschaftlichen Organisation sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Aber dies stellt bereits Material für einen weiteren Bericht dar, der vielleicht schon in Kürze seine Berechtigung haben wird.

Der Einfluß des Grundgesetzes auf die griechische Verfassung Von Georgios Papadimitriou I. Einleitung 1. Griechenland ist nach seiner Neugründung im Jahre 1830 vielfach vom deutschen Recht beeinflußt worden. Seine Ausstrahlung" war von jeher bedeutend, oft sogar ausschlaggebend. Der Einfluß des deutschen auf das griechische Recht erfaßte sogar, abgesehen von gewissen Differenzierungen, fast sämtliche Rechtsgebiete und artikulierte sich nicht nur in der Rechtsetzung und der Rechtsprechung, sondern auch in der Wissenschaft Dadurch erklärt sich auch die große Verbreitung der deutschen Rechtswissenschaft in Griechenland. Viele unserer angesehensten Juristen studierten in Deutschland und informieren sich nach ihrer Rückkehr ins Land weiterhin über seine Rechtsentwicklung. Unter diesen Gegebenheiten werden die Auswirkungen insbesondere des deutschen auf das griechische Verfassungsrecht leicht verständlich. 2. Man sollte sich etwas näher mit der - hinsichtlich der sozialpolitischen Umwälzungen - fruchtbarsten Periode der ersten Jahrhunderthälfte befassen: der Zwischenkriegszeit. Die Weimarer Verfassung von 19191 sicherlich einen großen Einfluß auf die Gestaltung der Verfassung der Griechischen Republik von 1927 aus und bestimmte beträchtlich die vorausgegangene diesbezügliche politische und wissenschaftliche Diskussion2·3. Im

1 Dies wurde vom führenden Staatsiechtslehrer Al. Svolos bereits im Jahre 1921 in die griechische Sprache übersetzt und veröffentlicht: Zwei neue Verfassungen, Die deutsche und die sowjetische Verfassung. Übersetzung und Einleitung (griech.), Athen 1921 = Juristische Studien, Bd. II, Athen 1958, S. 173 ff. Doit heißt es: „Die deutsche Verfassung vom 11. August 1919, ein Meisterwerk der juristischen Formulierung, ein hervorragendes Bauwerk, in welchem die ewige Hymne an die Deutsche Wissenschaft gesungen wird, ist ein Werk von Professor Preuss" (S. 176). 2 Vgl. vor allem das für die Verfassung von 1927 grundlegende Werk von Al. Svolos, Die neue Verfassung und ihre staatstragenden Entscheidungen (griech.), Athen 1928; vgl. auch Chr. Sguritsas, Revolution, Staat und Recht (griech.), Athen 1925; Th. Tsatsos, Einführung in das Staatsrecht (griech.), Athen 1928. 3 Der Einfluß des deutschen auf das griechische Staatsrecht wird auch bei den wichtigsten Werken von Ν. N. Saripolos deutlich, die auf der Verfassung von 1864 bzw. von

118

Georgios Papadimitriou

übrigen werden zum ersten Male Grundentscheidungen und Institutionen der deutschen Verfassung unmittelbar von einer griechischen Verfassung aufgenommen. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß die Verfassung von 1864 vor allem die belgische Verfassung von 1831 als Vorbild hatte4. Doch hatte die Griechische Republik nur noch ein kurzes Leben. Die Rückkehr des Königs im Jahre 1935 und das erneute Inkraftsetzen der Verfassung von 1911 - welche aus einer Revision der Verfassung von 1864 hervorging - setzte dieser Periode ein Ende5. Die nachfolgende Diktatur (1936-1941), die Besatzung durch fremde Mächte (1946-1949) gestatteten kaum die Erneuerung der Institutionen und eine darauf bezogene wissenschaftliche Diskussion. Aus diesem Grunde ist die Ergründung des Einflusses während dieser Periode, die von der demokratischen Normalität abwich, ohne besondere Bedeutung. 3. Die Behandlungen der Auswirkungen des Grundgesetzes (1949) nachfolgend kurz GG genannt - und, allgemeiner, der deutschen Verfassungslehre und Verfassungspraxis auf die Entwicklung des griechischen Verfassungsrechts bis heute setzt zunächst einmal eine klare Periodisierung voraus. Die seitdem verstrichenen vierzig Jahre können in zwei wichtige Perioden eingeteilt werden. Die erste beginnt mit dem Ende des Bürgerkrieges, fällt also zeitlich fast mit dem Inkrafttreten des GG zusammen, und endet im Jahre 1967 mit der Auferlegung der Diktatur. Einen Markstein bildet hier die Verfassungsänderung von 1952. Die zweite Periode beginnt mit der Wiederherstellung der demokratischen Legalität im Jahre 1974 und reicht hin bis zu unseren Tagen. Deren Hauptmomentc sind das Inkraftsetzen der Verfassung von 1975 und, an zweiter Stelle, die Revision von 1986. Aus einleuchtenden Gründen werden wir uns mit der langen Parenthese der diktatorischen Ausschweifungen (1967-1974) nicht befassen. Außerdem würde deren Einbeziehung in das Referat dessen engen zeitlichen Rahmen überschreiten.

1911 beruhen. Vgl. Ν. N. Saripolos, Das Staatsrecht des Königreichs Griechenland, Tübingen 1909; ders., System des Verfassungsrechts von Griechenland (griech.) Bd. I (1915), Bd. II (1923), Bd. III (1923). 4 Aristovoulos Manessis , Deux Etats nés en 1830. Ressemblances et dissemblances constitutionelles entre la Belgique et la Grèce, Extrait des „Travaux et Conférences" de la Faculté de Droit de l'Université de Bruxelles, T. VII (1959). 5 Hierzu vgl. G. Daskalakis , Die Verfassungsentwicklung Griechenlands, JöR, Bd. 24 (1937), S. 266-334, 331 ff.

Das Grundgesetz — Bericht Griechenland

119

Π. Erste Periode (1949-1967) A. Die Verfassung von 1952

1. Der Bürgerkrieg hinterließ seine Spuren auf die Entwicklungen der Nachkriegszeit. Auf Verfassungsebene wurde jede Erneuerungs- und Modernisierungsbestrebung der Institutionen notwendigerweise eingestellt. Dadurch isolierte sich das Land von den zeitgenössischen Strömungen der die in vielen europäischen Ländern umfassenden Verfassungsreformen, nach dem Ende des Krieges vollzogen wurden und die unter anderem auch zum Grundgesetz führten. Die im Jahre 1864 in die Wege geleitete Prozedur der Verfassungsrevision wurde wegen des anhaltenden Bürgerkrieges und der Situation nach dessen Beendigung erst im Jahre 1951 abgeschlossen. Einzelheiten über die reibungsvolle und unorthodoxe Entwicklung bis zum Inkraftsetzen der Verfassung am 1. Januar 1952 können im Rahmen dieser Darstellung dahingestellt bleiben6. 2. Dennoch ist anzumerken, daß die Verfassung von 1952 vollkommen hinter ihrem europäischen verfassungsrechtskulturellen Umfeld zurückblieb; mit Ausnahme der umfassenden Revision von 1911 hatte sie sich nach wie vor für diejenigen Merkmale entschieden, die die traditionellen Verfassungen der „gekrönten" Demokratie in verschiedenen europäischen Ländern kennzeichneten7. Interessant für unsere Problematik ist die Tatsache, daß die Verfassung von 1952 den Verfassungsentwurf wiedergab, den der parlamentarische Sonderausschuß im Jahre 1949 ausgearbeitet hatte. Der damalige Verfassungsgeber war also über die im GG enthaltenen Grundentscheidungen und über dessen Neuigkeiten kaum informiert

B. Der Revisionsentwurf von 1963

1. Dem großen Defizit an Erneuerung der verfassungsrechtlichen Institutionen sollte mit einem Versuch der damals regierenden konservativen Partei abgeholfen werden. Am 21. Februar 1963 reichten 26 angesehene ein, der aus Abgeordnete dieser Partei einen Verfassungsrevisionsentwurf

6 Siehe hierzu El. Kyriakopoulos, Die griechische Verfassung vom 1. Januar 1952, JöR, N.F. Bd. 3 (1954), S. 314 ff.; Th. Tsatsos, Die Beziehungen zwischen König und Regierung in der griechischen Verfassungsordnung, ZaöRV, Bd. 26 (1966), S. 668 ff. 7 Vgl. Kyriakopoulos (Fn. 6), S. 318 ff., mit Übersetzung in deutscher Sprache der Verfassung von 1952 (S. 343-358).

120

Georgios Papadimitriou

22 Punkten bestand8. Ziel dieses Entwurfs, welcher allerdings wegen der damaligen politischen Zusammenhänge fallengelassen wurde, war es, einen „Einschnitt" in die Struktur der staatlichen Organisation herbeizuführen. 2. Dadurch wurde aber erstmalig in Griechenland das GG auf verfassungspolitischer Ebene unmittelbar aktuell. Folgende Punkte des Entwurfs fallen besonders ins Auge: a) die Einführung von Sozialrechten, wenn auch in beschränktem Umfang (Punkt la), b) die Bestimmung des Rahmens über die Wirtschaftslenkung (Punkt la), c) die Verwirkung von Grundrechten (Punkt lb), d) das Parteiverbot bei Aktivitäten gegen die Grundprinzipien der Verfassung (Punkt 6), e) die Regelung der Integration des Landes in die internationale Gemeinschaft (Punkt 7), f) die Rationalisierung der parlamentarischen Institutionen, insbesondere des Vertrauensantrages und des Mißtrauensvotums (Punkt 16) und, schließlich, g) die Errichtung eines Verfassungsgerichts mit eher beschränkten Kompetenzen9. Es ist offensichtlich, daß zu allen diesen Punkten das GG als Vorbild, oder wenigstens als eines der Hauptvorbilder des Entwurfes diente. Aber auch andere Stellen des Entwurfes geben Anlaß zu der Behauptung, das das Grundgesetz in verdeckter Weise eine nicht offen zugestandene Anregung gegeben hat. 3. Aus den vorangegangenen Aufzeichnungen und deren kritischer Auswertung geht der bedeutende Einfluß des GG auf den Revisionsentwurf 1963 hervor. Allerdings hätte man erwarten können, daß dieser Einfluß eine zweifache Richtung eingeschlagen hätte: a) auf die notwendige seit langem fällige Demokratisierung der Institutionen und b) auf die ebenfalls notwendige Verstärkung des Grundrechtsschutzes. Das war aber nicht der Fall. Vielmehr wurden durch den Revisionsentwurf entgegengesetzte Ziele angestrebt: a) die einseitige Modernisierung der Institutionen (s. oben 2a, b, e, f, g) und b) die Bildung der Voraussetzungen für die drastische Kontrolle über diejenigen Institutionen, die in ihrer funktionalen Dynamik den Herrschenden wohl einiges Kopfzerbrechen bereiten könnten (s. oben 2c, d und g). Es ist also festzustellen, daß aus dem Ideenreichtum des GG wahlweise nur denjenigen Entscheidungen der Vorrang gegeben wurde, die auf die bereits erwähnte Einbahnstraße führten. Unter diesen Umständen entsprach offenbar der festgestellte Einfluß kaum dem wahren Geist und Inhalt des GG.

8 Parlament der Griechen, Sitzungsprotokolle des Parlaments über die Verfassung von 1975 (griech.), Athen 1975, Anhang, S. 1-5. 9 Ebd., S. 4.

v

Das Grundgesetz — Bericht Griechenland

121

C. Rechtsetzung und Rechtsprechung

1. Die untersuchte Periode ist durch das Merkmal ihrer institutionellen Stagnation gekennzeichnet. Wenn auch diese Feststellung vielleicht als übertrieben erscheinen mag, so entspricht sie doch weitgehend der Realität. Breite gesetzgeberische Reformen in wichtigen Bereichen der staatlichen Organisation sind selten; wo sie auftauchen, sind sie von geringer Bedeutung. Auch hier wird die Regel von Ausnahmen bestätigt. Entsprechend verhält es sich mit der Rechtsprechung. Nach dem Ende des Bürgerkrieges und mit der Herrschaft der konservativen Partei geraten Gesellschaft und Staat in eine Verklemmung, die zu einer „verschlossenen Umwelt" führt und nicht gerade fruchtbare Einflüsse von außen zuläßt. Somit stellen die Gerichte eine Auffangstelle dar, die sich kaum für die Herauskristallisierung neuer Tendenzen eignet; Tendenzen, welche es ihrerseits kaum zu Erschütterungen oder Rissen an der Staatsstruktur des Landes hätten bringen können. Ebensowenig vermochten sie dem bisher unterdrückten liberalen Geist der Verfassung von 19S2 zum Ausdruck zu verhelfen oder zu Lösungsmöglichkeiten für die allmähliche Regenerierung der Institutionen zu führen, wenn auch unter Zuhilfenahme von ausländischen Vorbildern. 2. Bei diesen Gegebenheiten kann weder in der Rechtsetzung noch in der Rechtsprechung von verdeckten und undurchsichtigen Auswirkungen ausländischer Verfassungen und neuer ausländischer wissenschaftlicher Strömungen die Rede sein. Es leuchtet daher ein, daß man demzufolge auch nicht vom Einfluß des GG und der deutschen Verfassungslehre reden kann. 3. Die Machtübernahme durch die Zentrumsunion (1963) erwies sich lediglich als eine Parenthese, obwohl man hätte erwarten können, daß sich das Land von seiner institutionellen Stagnation losreißen würde. Die angekündigte neue Ära konnte der Zeit keinen Widerstand leisten. Die im Juli 1965 ausgebrochene Verfassungskrise bekam rapide einen ansteckenden und übergreifenden Charakter und führte zum Verfassungsbruch vom 21. April 1967. Die an den politischen Wechsel von 1963-64 geknüpften Erwartungen blieben somit ohne Äquivalent. Aus diesem Grunde vermag diese kurze Zeitspanne die vorangegangenen Feststellungen nicht zu relativieren10.

10

Vgl. Pr. Dagtoglou, Die Verfassungsentwicklung in Griechenland von der Einfuhrung der geltenden Verfassung his zum Tode König Pauls. Ein Rückblick: 1952-1964, JöR, N.F. Bd. 14 (1965), S. 381 ff.; Tsatsos (Fn. 6), S. 670 ff.

122

Georgios Papadimitriou

D. Wissenschaft

1. Die in der angesprochenen Periode allgemein herrschende Situation konnte wohl kaum den Kontakt zwischen der deutschen und der griechischen Verfassungswissenschaft effektiv fördern. Die Erklärung liegt auf der Hand: ähnliche Zusammenwirkungen sind nur dann festzustellen und ergiebig, wenn das staatliche und das politische Leben eines Landes nach außen offen erscheint und nicht stagniert. Jedenfalls kann nicht behauptet werden, daß die Kommunikationswege schlechthin gesperrt waren. Vielmehr informierte man sich weiterhin über die theoretische Ausarbeitung der vielen Neuerungen und deren Anwendung in der Praxis. Es fehlte jedoch der Boden für deren schöpferische Verpflanzung an die wissenschaftliche Diskussion und Institutionsbildung.

2. Ein weiteres Phänomen darf nicht der Aufmerksamkeit entgehen. Es handelt sich um das Überleben der wissenschaftlichen Tendenzen der Zwischenkriegszeit, deren Wurzeln in Deutschland liegen und vielfach in Griechenland schöpferisch übernommen wurden. Gemeint sind dabei wichtige Variationen der geistigen Strömungen des Positivismus und des Id mus11. Im Gegensatz zum Deutschland der Nachkriegszeit wurden diese Tendenzen bei uns nicht erneuert, so daß es erwartungsgemäß zu deren Verfall kam. Darüber hinaus bildeten sie unter den geschilderten Umständen lediglich das wissenschaftliche und ideologische Umfeld zwecks Aufrechterhaltung und Reproduktion der Unbeweglichkeit und des Unterfunktionierens der Institutionen.

ΠΙ· Zweite Periode (1974 bis heute) A. Die Verfassung von 1975

1. Die Wiederherstellung der demokratischen Legalität am 24. Juli 1974 stellt sicherlich, und zwar in mehrfacher Hinsicht, einen Wendepunkt dar. An jenen Zeitpunkt knüpft der Prozeß an, der endlich, stufenweise, die umfassende Erneuerung der Institutionen herbeiführen würde. Gleichzeitig entstand die Möglichkeit, die relevanten Entwicklungen in Betracht zu ziehen, die sich im europäischen Raum auf Verfassungsebene vollzogen

11 Einleuchtend hierzu ist die Monographie von K. Stamatis, Der griechische Rechtsidealismus in der Zwischenkriegszeit. DarsteUung und kritische Würdigung seiner Theorien (griech.), Thessaloniki 1984, mit Auseinandersetzungen mit den rechtstheoretischen Auffassungen von K. Tsatsos, K. Triantafylopoulos und K. Despotopoulos.

Das Grundgesetz — Bericht Griechenland

123

hatten. Durch die Verfassung von 197512, in Kraft getreten am 11. Juni, wird primär der Versuch der Modernisierung von Staat und Gesellschaft unternommen. Gleichzeitig entstehen die Voraussetzugen: a) für die Erweiterung der Demokratie mit Aussicht auf deren weiteren Ausbau und b) für den effektiven Grundrechtsschutz. Die geschickte Aufrechterhaltung manipulierender und anachronistischer Mechanismen im Verfassungsgefüge konnte auf lange Sicht dieser Gesamtentwicklung nicht mehr den Weg versperren. 2. In der Verfassung von 1975 kommt die mehrfache Wirkung des GG 13 unmittelbar oder mittelbar zum Ausdruck14. Diese Auswirkung ist so kurz wie möglich im folgenden zu schildern.

Es ist zunächst nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß im Regierungsentwurf zur Verfassung15 ausdrückliche und spezielle Verweise auf das GG enthalten sind. Dies bedeutet also, daß im Entwurf selbst, an vielen Stellen, die Quelle der Anregungen ausdrücklich genannt wird. Es lohnt sich zu erwähnen, daß ähnliche Verweise auf ausländische Verfassungen insgesamt neunzehnmal anzutreffen sind16. Davon betreffen acht das GG, fünf die italienische Verfassung von 1947, drei die französischen Verfassungen von 1946 und 1958 und schließlich je ein Verweis die Verfassungen der USA, Belgiens und Jugoslawiens. Die quantitative Überlegenheit des GG ist also offensichtlich. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch dessen qualitative Überlegenheit, die bei der Gestaltung der griechischen Verfassung zahlreiche Anregungen gab. Diese Bewertung kann mit konkreten Beispielen belegt werden. Von den ausdrücklichen Verweisen auf das GG betreffen die meisten den Grundrechtsschutz. Hier ist folgende Differenzierung nützlich: Einige der Verweise beziehen sich auf konkrete Grundrechte mit leicht überschaubarer normativer Wirkung - Briefgeheimnis (Art 19 Verf.) 17, Freiheit der

12

Den Text in deutscher Übersetzung vgl. Parlament, Verfassung Griechenlands, Athen 1983; Pr. Dagtoglou, Die griechische Verfassung von 1975. Eine Einführung, JöR, N.F. Bd. 32 (1983), S. 355 ff., Text S. 360 ff. 13 Übersetzt bereits in griechischer Sprache in den Sammlungen: El. Nikoloudis, Die Verfassungen Europas der Neun, Athen 1974, S. 81 ff.; K. Mavrias-Ant. Pantelis, Verfassungstexte. Griechische und Ausländische, Athen-Komotini 1981, S. 451 ff. 14 Hierzu vgl. insbesondere D. Th. Tsatsos, Die neue griechische Verfassung. Parlamentarische Ohnmacht statt demokratischer Kontrolle, Heidelberg 1980; I. Kassaras, Die griechische Verfassung von 1975. Entstehung und Probleme, Heidelberg-Hamburg 1983. 15 Parlament der Griechen, Sitzungsprotokolle der Unterausschüsse über die Verfassung von 1975, Athen 1975, S. 577 ff. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 583: Art. 19 Abs. 1 der griechischen Verfassung.

124

Georgios Papadimitriou

Kunst und der Wissenschaft (Art 16 Verf.) 18 - und andere beziehen sich auf Bestimmungen mit umfangreicher normativer Wirkung und allgemeiner Bedeutung für den Grundrechtsschutz. Hierunter fallen die Garantie der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 Verf.) 19, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 Verf.) 20 und das Mißbrauchsverbot bei der Grundrechtsausübung (Art 18 Verf.) 21. Besonders anzuführen ist die erstmalige Institutionalisierung der politischen Parteien, die sich in hohem Maße an das Vorbild des Art. 21 GG angelehnt hat22. Schließlich sind im Kapitel über die staatlichen Organe Verweise auf die richterliche Unabhängigkeit enthalten (Art. 92 Verf.) 23 sowie auf die für Parlamentsbeschlüsse erforderliche Stimmenmehrheit. Es ist zu bemerken, daß der Einfluß des GG bei mehreren und bedeutenden Änderungsvorschlägen der Oppositionsparteien zum Regierungsentwurf ebenso deutlich wird24. Charakteristisch ist das Beispiel der Einführung der Wesensgehaltsgarantie in das von der Verfassung garantierte Rechtsschutzsystem25. Anders als bei der Verwertung anderer Verfassungen, konzentrieren sich oft die beim GG gemachten „Anleihen" auf Entscheidungen, die allgemein unsere Verfassungsordnung mitbestimmend beeinflussen. Es handelt sich also oft um staatstragende Entscheidungen im weiteren Sinne. Anzuführen sind hier insbesondere die Garantie der Würde des Menschen und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Beides gehört zum sog. „harten" Kern der Verfassung, ist also nach Art. 110 Abs. 1 Verf. von einer Verfassungsänderung ausgeschlossen. Schließlich gehört hierzu die Aufnahme in die Verfassung der Institution der politischen Parteien und somit ihre Institutionalisierung. Nach alldem wird deutlich, wie wichtig die unmittelbare und mittelbare Auswirkung des GG auf die Entstehung der griechischen Verfassung sowohl in quantitativer wie auch - und erst recht - in qualitativer Weise war. 3. Jedoch bekam der Einfluß einen übergreifenden Charakter und entfaltete eine gewisse, jeweils unterschiedliche Wirkung auf weitere Bestim18

Ebd., S. 585: Art. 16 Abs. 1 der griechischen Verfassung. Ebd., S. 577: Art. 2 Abs. 1 der griechischen Verfassung. 20 Ebd., S. 578: Art. 5 Abs. 1 der griechischen Verfassung. 21 Ebd., S. 586: Art. 25 Abs. 3 der griechischen Verfassung. 22 Ebd., S. 581: Art. 29 Abs. 1-3 der griechischen Verfassung. 23 Ebd., S. 613: Art. 87 Abs. 1 der griechischen Verfassung. 24 Vgl. hierzu vor allem die Stellungnahme des Berichterstatters der Oppositionsparteien D. Th. Tsatsos (auch als Sonderheft abgedruckt). 25 Ebd., S. 21 des Sonderheftes. 19

Das Grundgesetz — Bericht Griechenland

125

mungen und Institutionen der neuen Verfassung. Dies ergibt sich allein aus der vorsichtigen Lektüre der Sitzungsprotokolle des fünften Revisionsparlaments26. Dadurch gerät man auf eine andere Ebene der unmittelbaren oder mittelbaren, allenfalls aber eindeutigen, Auswirkung mit von Fall zu F schwankendem Umfang und Intensität. Gerade diese Auswirkung soll anhand von allgemeinen Bemerkungen und ausgewählten Beispielen geschildert werden. Es wurde also festgestellt, daß sich aus der Lektüre der Sitzungsprotokolle des Parlaments die quantitative sowie die qualitative Überlegenheit des GG bei der Gestaltung der griechischen Verfassung ergibt. Diese Feststellung gilt zunächst einmal im Bereich des Grundrechtsschutzes, aus dem bereits mehrere Beispiele genannt wurden, sie gilt auch für das Kapitel Verfassung über die staatlichen Organe. Das Gesamtbild wird durch Beispiele auch aus diesem Bereich ergänzt und „ausgeglichen". Von deren Vielzahl sind nur zwei anzuführen: a) der Vertrauensantrag und das Mißtrauensvotum und b) die Integration des Landes in die internationale Gemeinschaft. Beim ersten Beispiel wurden Art. 63 und 67 GG ernsthaft bei der Gestaltung der entsprechenden Institutionen berücksichtigt (Art. 84 Verf.). Beim zweiten Beispiel wirkte Art. 24 GG mitbestimmend auf die Formulierung der entsprechenden Vorschriften unserer Verfassung, die bisher keine ähnlichen Bestimmungen kannte (Art. 28 Abs. 2, 3 und Art. 2 Abs. 2 Verf.). 4. Aufgrund der kurz skizzierten Tatsachen bleibt außer Zweifel, daß das GG auf die Verfassung von 1975 eine wesentliche Auswirkung hat. Dieser Schlußsatz wird noch bestätigt durch die Prüfung der Auswirkungen im Bereich der Rechtsetzung, der Rechtsprechung und der Verfassungslehre.

g

B. Die Verfassungsänderung von 1986

1. Die Verfassungsänderung von 1986 hatte hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, die Befugnisse des Präsidenten der Demokratie zum Mittelpunkt Ihr Hauptanliegen war die Abschaffung seiner sog. „Übermacht", die in eher verdeckter Weise auf den Einfluß der französischen Verfassung von 1958 zurückging. Dadurch verwandelte sich das Regierungssystem von einem „präsidialen" in ein rein parlamentarisches. 2. Damit wurde in noch einem wichtigen Bereich der Staatsorganisation - namentlich bei der Regelung des Verhältnisses zwischen Parlament, 26

Parlament der Griechen (Fn. 8).

126

Georgios Papadimitriou

Regierung und Staatsoberhaupt - ein weiterer Boden für den Einfluß der deutschen Verfassung frei gemacht. Dies zeigte sich ja auch, in den meisten Fällen mittelbar, bei der Erarbeitung des Revisionsentwurfs27 · Zwar fehlte es dieses Mal an ausdrücklichen Bezügen auf die relevanten Vorschriften des GG, jedoch scheint es, daß diese die parlamentarischen Debatten unterschwellig beeinflußten. So entstehen auch in diesem Bereich die Voraussetzungen für eine konstruktive Kommunikation beider Verfassungen.

C. Rechtsetzung und Rechtsprechung

1. Die vorangegangenen Gedanken über die Auswirkungen des GG auf die Rechtsetzung und Rechtsprechung der Gerichte sind in der angesprochenen zweiten Periode gerade entgegengesetzt auszuwerten. Nach 1974 begann die Ära der umfangreichen Gesellschafts- und Staatsreformen. So drängt sich allgemeiner die Frage nach dem Beitrag des deutschen Verfassungsrechts auf. Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Denn es ist selten der Fall, daß in Griechenland die Gesetzesreformen direkt auf einer Rechtsvergleichung, abgesehen von einer umfangreichen, beruhen. Die Auswirkungen sind also nicht immer leicht zu erkennen. Dennoch kann man davon ausgehen, daß es in zahlreichen Reformprojekten zu - meist mittelbaren - Auswirkungen gekommen ist28. 2. Anders verhält es sich mit der Rechtsprechung. Hier läßt sich langsam, aber fortdauernd feststellen, daß viele Konzeptionen und Thesen aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von unserer Rechtsprechung in zunehmender Tendenz herangezogen werden. Von der Vielzahl der Beispiele seien nur einige, überwiegend aus dem Bereich der Grundrechte, angeführt. Die vom Bundesverfassungsgericht erarbeiteten Prinzipien für die Auslegung der Verfassung werden von unseren obersten Gerichten und insbesondere vom Staatsrat allmählich übernommen29. Es ist zu bemerken, daß der Staatsrat eine ganz besondere Rolle bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze spielt. Weiterhin gewinnt bei uns, wenn auch nicht ohne anfängliche Bedenken, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach und

27 Parlament der Griechen, Sitzungsprotokolle des sechsten Revisionsparlaments von 1986, Athen-Komotini 1986, An. Peponis. 28 Dies ist zum Beispiel beim Hochschulrahmengesetz 1968/1982 und beim Gesetz über die Parteienfinanzierung 1943/1984 der Fall. 29 Siehe vor allem die Entscheidung 400/1986 des Staatsrates (Plenum) in Nomiko Wima 1986, S. 939 ff.

Das Grundgesetz — Bericht Griechenland

127

nach an Boden30. Das Gericht hat sich ebenfalls die Auffassung über den Sonderstatus der Grundrechte 31 zu eigen gemacht und wendet laufend die damit zusammenhängenden Thesen an. Alle diese Entwicklungen werden weitgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der deutschen Verfassungslehre angeregt und haben im Institutionsgefüge des GG ihren Ursprung. Dieser Hinweis ist keineswegs überflüssig, wenn man an die lange vorangegangene Periode der institutionellen Stagnation denkt und zudem noch berücksichtigt, daß sich die Rechtsprechung des Staatsrats in gesteigertem Maße einseitig an die Rechtsprechung des französischen Staatsrates angelehnt hat. So erklärt sich auch der nur zögernde Übergang zu den bereits geschilderten neuen Tendenzen. Es ist offenkundig, daß sich dieser Übergang unter anderen Verhältnissen schneller und leichter vollzogen hätte.

D. Wissenschaft

1. Unter den geschilderten neuen günstigen Bedingungen war und bleibt der Einfluß der deutschen Verfassungslehre von großer Bedeutung. Eine große Anzahl der Universitätslehrer promovierte32 und habilitierte33 in Deutschland, ist mit der Arbeitsweise deutscher Universitäten und Forschungsinstitute vertraut und pflegt nach wie vor den engen Kontakt und wissenschaftlichen Austausch. Dies ist besonders wichtig, denn es funktioniert wie ein Übertragungsband für die zeitgenössische Problematik und bildet den Drehpunkt der Entstehung neuer Auffassungen, neuer Ideen und neuer Vorbilder. Schließlich soll es dazu beitragen, komplexe und schwierige Probleme der Verfassungsgestaltung, der Rechtsetzung und der Rechtsprechung zu bewältigen. 2. Die Auswirkung der deutschen Wissenschaft erfolgt nicht immer in direkter Form. Sie macht sich oft nur mittelbar und verdeckt bemerkbar. Eine unmittelbare, quantitative wie qualitative Auswirkung erkennt man

30 Entscheidungen 2112/1984 des Staatsrates in: Elliniki Dikaiossini 1985, S. 130 ff. und 782/1979 des Areopag in: Syntagma 1979, S. 642 ff. 31 Entscheidungen des Staatsrates 867/1988 (Plenum) in: Armenopoulos 1988, S. 265 ff.; 780/1981 in: Syntagma 1982, S. 74 ff. und 2209/1977 in: Syntagma 1977, S. 636 ff. 32 Pr. Dagtoglou (Universität Athen), K. Finokaliotis (Universität Thrazien), G. Kassimatis (Universität Athen), D. Kyriazis-Guvelis (Panteios Universität), G. Paradimitriou (Universität Athen), Ath. Raikos (Panteios Universität), V. Skuris (Universität Thessaloniki), Ph. Spyropoulos (Universität Athen), D. Th. Tsatsos (Panteios Universität) und K. Zoras (Universität Athen). 33 Pr. Dagtoglou (Universität Athen) und D. Th. Tsatsos (Panteios Universität).

128

Georgios Papadimitriou

bei der Entwicklung der griechischen Verfassungslehre 3*. Sowohl die Besetzung der Ämter in Lehre und Forschung, wie oben geschildert, als auch die tief verwurzelte Tradition setzen ein Bild zusammen, welches für sich spricht Aber auch in der Rechtsprechung kommen die Auswirkungen zum Vorschein. Es steht ohnehin außer Zweifel, daß Wissenschaft und Rechtsprechung einen offenen Dialog führen, wenn auch dies nicht immer zugestanden wird. Dieser Gedanke ist anhand eines charakteristischen Beispiels zu belegen: Es handelt sich um die Aufnahme des Sozialstaatsprinzips in die Verfassung35. Es ist vielleicht bekannt, daß die griechische Verfassung dieses Prinzip nicht ausdrücklich vorsieht, es also nicht direkt zu einem Verfassungsprinzip deklariert. Somit stellte sich die Frage nach der Begründung des Sozialstaatsprinzips anhand eines Bündels von Bestimmungen mit starkem sozialen Akzent. Angesprochen sind hier die Vorschriften über die Einführung von Sozialrechten36 und die sozial geprägten Bestimmungen über das Wirtschaftswesen37. Die erste Phase der diesbezüglichen Diskussion ist bereits abgeschlossen. Die Meinung, die sich - nicht ohne Gegenstimmen - durchzusetzen scheint, geht - unter dem fruchtbaren Einfluß der deutschen Verfassung, Rechtsprechung und Wissenschaft - davon aus, daß das betreffende Prinzip zur Verfassungsordnung gehört. Es handelt sich also um einen weiteren Fall, bei dem unter dem Einfluß der deutschen Verfassungslehre ein neues Prinzip, und zwar ein Verfassungsprinzip, begründet und entwickelt wird. 3. Man könnte noch weitere Beispiele anführen, um die hier vertretene Grundthese näher zu erläutern. Leider reicht die zur Verfügung stehende Zeit nicht aus. Abschließend seien einige Schlußsätze formuliert. Dabei ist die Behauptung vorwegzunehmen, daß sich das griechische Beispiel sehr dafür eignet, einige Thesen von allgemeinem Interesse vorzubringen und zwar sowohl in Bezug auf die Problematik des Kolloquiums als auch auf die Rechtsvergleichung auf Verfassungsebene.

34 Dies ergibt sich klar aus der vorsichtigen Lektüre vieler staatsrechtlicher Lehrbücher: D. Th. Tsatsos, Verfassungsrecht, Bd. I, Theoretisches Fundament, AthenKomotini 1985; ders., Verfassungsrecht, Bd. III, Grundrechte, Athen-Komotini, 1988; G. Kassimatis, Verfassungsrecht, Bd. II, Heft a, Athen-Komotini 1980. 35 Vgl. D. Th. Tsatsos, Verfassungsrecht, Bd. I, Theoretisches Fundament, AthenThessaloniki 1985, S. 258 ff. 36 Siehe Art. 21, 22, 23, 24, 25, 16 der geltenden Verfassung. 37 Siehe Art. 17 Abs. 7, 106.

Das Grundgesetz — Bericht Griechenland

129

IV· Schluß 1. Die Auswirkungen des GG und der deutschen Verfassungslehre hatten während der ersten Periode (1949-1967) einen beschränkten Umfang. Die institutionelle Stagnation und die damals herrschenden Verhältnisse boten sich für eine dahingehende Entwicklung nicht an. So erklärt sich auch die Tatsache, daß die im Jahre 1963 im GG gemachten „Anleihen" eklektizistisch waren und seinem Geist nicht entsprachen. 2. Das Gegenteil ist während der zweiten Periode (1974 bis heute) der Fall. Die Auswirkungen sind nunmehr bedeutend, ja sogar bedeutender als die anderer Verfassungen. Gleichzeitig erfassen sie sämtliche Bereiche: die Gestaltung der Verfassung, die Entwicklung der Rechtsetzung und schließlich die Rechtsprechung und die Verfassungslehre. 3. Diese Folgerungen zeigen aber gleichzeitig auch, daß bei der Prüfung der Auswirkungen ausländischer Verfassungen und der ausländischen Verfassungslehre eine Verherrlichung stattfindet, die oft übertrieben ist und nicht der Realität entspricht. Von einer Auswirkung bzw. von einem Einfluß kann nur die Rede sein, wenn dazu einige Grundvoraussetzungen vorliegen. Am wichtigsten scheinen hier zu sein: die institutionelle Vergleichbarkeit der Verfassungs- und generell der zu vergleichenden Rechtsordnungen38, das Maß und die Häufigkeit der Kommunikationsströme und schließlich die im Lande für die Gestaltung und Entwicklung des politischen und des Verfassungslebens herrschenden Verhältnisse.

38 Vgl. hierzu neuerdings D. Th. Tsatsos, Zu einer gemeinsamen europäischen Paiteienrechtskultur, DöV 1988, S. 1 ff. 9 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

Einwirkungen des Grundgesetzes und der dazu entwickelten Verfassungswissenschaft auf die Verfassungsentwicklung in der Türkei Von Ülkü Azrak I. Einleitung

vermehrt den Vorrat an Lösungen" - wie d i yDie Rechtsvergleichung renommierte deutsche Zivilrechtler Ernst Zitelmann lakonisch und zutreffend bemerkt hat. In der Tat, die Rechtsvergleichung bereitet die wissenschaftlichen Voraussetzungen der Übernahme einzelner Institutionen und Lösungen der fremden Rechtsordnungen vor, die allerdings nicht kritik- und vorbehaltlos geschehen darf. Andererseits ist in der heutigen Welt, die ja durch verschiedene zwischen- und überstaatliche Vereinbarungen und Strukturen recht klein geworden ist, für einen juristischen Nationalismus kein Platz. Die in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehene Pflicht der EG-Mitglieder zur Rechtsangleichung ist ein aktueller Beweis für diese Feststellung. Die Rechtsangleichungspflicht beschränkt sich indes nicht auf die EG-Staaten, sondernfindet bis zum gewissen Grad auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die ja u. a. auch von der türkischen Regierung unterzeichnet worden ist, ihren Niederschlag. Diese Tatsachen tragen dazu bei, daß der Rechtsvergleichung heute weitaus größere Bedeutung zukommt als vorher. Was die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Verfassungsrechts betrifft, so kann sie nur Sinn haben, wenn man bewußt darauf abzielt, die bestimmenden Elemente der zu vergleichenden Verfassungsordnungen aufzudecken, denn nur so kann man die Beeinflussung eines Verfassungssystems durch ein anderes erklären. Diese sind hauptsächlich: a) die historische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische Wirklichkeit des Landes, b) die Konzeption und Rolle des Staates, wozu in erster Linie die Idee des Rechtsstaates gehört, c) die Grundrechte der Bürger und d) die hierarchische Ordnung der Rechtsnormen, die ja eine theoretische Grundlage für die verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Kontrolle der staatlichen Willensbildung schafft. Die vordergründige Betrachtung der bestimmenden Elemente soll aber nicht dahinführen, daß die sog. Mikro-Elemente (d. h. 9

132

Ülk Azrak

die nicht bestimmenden Elemente) der zu vergleichenden Rechtsordnungen völlig außer Acht gelassen werden sollen, denn die Vergleichung der Mikro-Elemente der Verfassungsordnungen gibt die Intensität der Beeinflussung wieder1. Deshalb sollen in diesem Referat zwar grundsätzlich eine sog. Makro-Vergleichung, d. h. die Vergleichung der elementaren Strukturen im Vordergrund stehen. Es wird jedoch auch auf die einzelnen Institutionen der deutschen und türkischen Verfassungsrechtsordnungen, welche die nicht bestimmenden Elemente derselben sind, in kurzen Darstellungen eingegangen werden.

Π. Die historische Entwicklung des türkischen Konstitutionalismus 1. Ohne sich der Tatsache zu verschließen, daß die Verfassungen als solche nicht exportierbar sind2, kann man gemeinsame Richtlinien in den früheren sowie den heutigen Verfassungen der westlichen Staaten erkennen. Diese Erkenntnis erhebt umso mehr den Anspruch auf Richtigkeit, als man „Civil-Law-Constitutionalism" Westeuropas von „Common-Law-Constitutionalism" Englands und der USA gesondert betrachtet. Die Richtlinien der westeuropäischen „Civil-Law-Constitutionalism" fanden zum Teil auch in die Verfassungsdokumente des Osmanischen Reiches Eingang. Das ist folgendermaßen vor sich gegangen: Das seit der Gründung des Osmanischen Reiches bestehende autarkische System war am Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich aus militärischen und wirtschaftlichen Gründen nicht mehr tragbar geworden. So setzte ein Innovationsprozeß ein, der eine gewisse Öffnung des staatlichen und gesellschaftlichen Systems zu westlichen Einflüssen zur Folge hatte. Das erste verfassungsrechtliche Dokument, das dieser Entwicklung Rechnung trug, war der Kaiserliche Erlaß vom 3. November 1839 (genannt: Gülhane Hatti Hümayunu). Dieser Erlaß erhob den Anspruch, die rechtlichen und politischen Voraussetzungen einer bürgerlichen Gesellschaft nach westlichem Muster dadurch zu schaffen, daß er die Garantie einiger Grundrechte, insbesondere des Freiheitsrechts (Habeas Corpus), des Grundrechts des Lebens und des Eigentums vorsah. Der sog. Charta von Gülhane kam als Wegbereiter der späteren Reformbewegungen eine große Bedeutung zu. 1 Mit Recht weist ConstarUinesco auf die der Vergleichung der Mikro-Elemente neben der Vergleichung der Makro-Elemente zukommende Bedeutung hin, vgl. ders., Rechtsvergleichung Bd. I, 1971, S. 258 f. 2 /. Richter, Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in Istanbul Üniversitesi Siyasal Bilimler Fakültesi Deigisi (Die Zeitschrift der Fakultät für politische Wissenschaften der Universität Istanbul) Bd. I, 1983, S. 261.

Das Grundgesetz — Bericht

re

133

„Die erste geschriebene Verfassung des Osmanischen Reiches, die ausdrücklich als Grundgesetz (Kanun-1 Esasi) bezeichnet wurde und sich dadurch von der einseitigen Charta von Gülhane unterschied, ist 1876 vom Sultan oktroyiert worden."3 In Anlehnung an westliche Vorbilder wie die belgische Verfassung von 1831 und besonders die preußische von 1831 sah das Osmanische Grundgesetz von 1876 ein System der Gewaltenvereinigung vor, innerhalb dessen eine organisatorische Arbeitsteilung zwischen der Regierung, des aus zwei Kammern bestehenden Parlaments und den Gerichten geschaffen worden war (Kompetenzverteilung). Für die darauffolgenden Perioden der türkischen Verfassungsgeschichte kann man die Feststellung machen, daß einerseits die grundlegenden Verfassungsprinzipien und Verfassungsinstitutionen eine gewisse Kontinuierlichkeit aufwiesen, und daß andererseits auch eine Orientierung an dem jeweiligen verfassungsgeschichtlichen Entwicklungsstand Westeuropas sich vollzog4. Über die Aufnahme mancher Institutionen der westeuropäischen Verfassungsordnungen in die Verfassung von 1924 (die erste Verfassung der am 29. Oktober 1923 gegründeten türkischen Republik) sowie die Anlehnung der Verfassung von 1961 an die italienische Verfassung von 1948 und besonders an das Bonner Grundgesetz kann man sich nur ein richtiges Urteil bilden, wenn man diese Zusammenhänge erkennt. 2. Die Wahl des Bonner Grundgesetzes sowie der Verfassung der italienischen Republik von den Schöpfern der türkischen Verfassung von 1961 als Vorbild ist in erster Linie darauf zurückzuführen, daß diese beiden Verfassungen sich das Ziel setzten, die katastrophalen Folgen einer Parteidiktatur und der oligarchisch gestalteten politischen Struktur des Staates abzuschaffen und die parlamentarische, rechtsstaatliche Demokratie herzustellen. Auch in der Türkei vollzog sich in den fünfziger Jahren ein undemokratischer Entwicklungsprozeß mit schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen und Willkürherrschaft, der 1960 einen militärischen Eingriff unvermeidlich machte. Auf die Legitimierungsversuche von den Vätern der Revolution wird hier nicht näher eingegangen werden, weil es nicht den Kern der hier zu behandelnden Probleme betrifft 5. 3 Y. Abadan, Die Entstehung der Türkei und ihre verfassungsrechtliche Entwicklung bis 1960, JöR, NF Bd. 9 (1960), S. 358 f. 4 Auf die Dialektik des dualistischen Rechtssystems der Reformperiode habe ich in anderem Zusammenhang bereits hingewiesen, vgl. Ü. Azarak, Die Entstehung des modernen Rechtswesens in der Türkei, in: Werdegang der modernen Türkei, Hrsg. P. A. Göktürk, Istanbul 1983, S. 35 ff. 5 Es sei nur auf den in der Präambel zur Verfassung v. 1961 angefühlten Legitimationsgrund hingewiesen, der folgenderweise formuliert worden war: „Die Türkische

134

Ülk Azrak

Die vom Militär beauftragte Kommission der Rechtswissenschaftler „veranstaltete erst eine Enquête, um die Meinungen von politischen, beruflichen und anderen Organisationen, von Universitätslehrern, Journalisten und sonstigen Intellektuellen zu erfragen . . . Neben der Klassifizierung und Auswertung der Antworten auf diese Enquete betrieb die Kommission eine vergleichende Untersuchung der Verfassungen der Welt, wobei sie besonders die neuen Verfassungen der Bundesrepublik und Italiens sowie die Verfassungspraxis dieser Länder berücksichtigte.4'6

Der so entstandene Verfassungsentwurf wurde von der verfassunggebenden Versammlung aufgenommen und am 9. Juli 1961 vom Volke ratifiziert. Zehn Jahre danach erfuhr die neue Verfassung bereits einige Änderungen, die abgesehen von der Ermächtigung der Exekutive, Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen und unter bestimmten Bedingungen die sozialen Grundrechte einzuschränken, eigentlich den Kerngehalt der Verfassung nicht betrafen 7. In der weiteren Entwicklungsphase des Verfassungslebens der Türkei hat sich der bereits eingesetzte Prozeß der Polarisation von politischen Kräften beschleunigt, so daß die demokratischen Institutionen der Verfassung durch die parteipolitische Willkür und die Unfähigkeit der politischen Parteien, eine verhältnismäßig stabile Regierung zu bilden, durch die öfter eingetretene Nichtbeachtung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen von den inzwischen politisierten Verwaltungsbehörden und schließlich durch die subversive Tätigkeit verfassungsfeindlicher Gruppen daran gehindert worden sind, ihren Aufgaben gerecht zu werden. Die durch diese Situation ausgelöste Krise des Regimes veranlaßte die Armee, am 12. September 1980 zum zweiten Mal einzuschreiten. Es wurde eine sog. beratende Versammlung gebildet. Der von dieser Versammlung ausgearbeitete Verfassungsentwurf wurde vom nationalen Sicherheitskommitee angenommen und in einer Volksabstimmung mit einer großen Mehrheit angenommen und trat am 9. Oktober 1982 in Kraft Die Verfassung der 3. Republik entspricht zwar hinsichtlich ihrer förmlichen Gestalt der VerNation, die . . . den Umsturz vom 27. Mai 1960 durchgeführt hat, in Ausübung ihres Widerstandsrechts gegen ein Regime, das durch sein verfasssungs- und gesetzwidriges Verhalten und Vorgehen seine Legitimität hatte." 6 Zitiert aus: Ε. E. Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, Frankfurt 1966, S. 41. 7 Obwohl durch die Verfassung v. 1961 die Voraussetzungen einer rechtsstaatlichen Demokratie geschaffen waren, wurde das politische System mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert, weil erstens ein dauerhafter Konsens zwischen den Gruppen, die eine führende Rolle im sozialen und politischen Leben spielten, kaum zu realisieren war. Es konnte ferner in zahlreichen Fällen dem Mißbrauch eines Grundrechts nicht begegnet werden, weil ein diesbezügliches Verbot im Verfassungsgesetz vollkommen fehlte.

Das Grundgesetz — Bericht

re

135

fassung von 1961. Sie unterscheidet sich jedoch in folgenden wichtigen Punkten von der letzteren: a) Ihr Kernproblem bildet im Gegensatz zu der Verfassung der 2. Republik nicht etwa die Sicherung der freiheitlichen Demokratie, sondern der staatlichen Autorität. Sie ist im Unterschied zu der Verfassung von 1961 nicht eine sog. Rahmen-Verfassungsondern eine „regelnde Verfassung". Ihre Strategie ist nicht etwa eine „inklusionäre" sondern eine „exklusionäre". Ihr Ziel besteht darin, das parlamentarische System, das ja in der vorhergehenden Periode lahmgelegt war, zu rationalisieren und ein funktionsfähiges Regime zu errichten. Sie sieht eine gewisse Stärkung der Exekutive gegenüber der Legislative vor (ζ. B. die Ausweitung der Befugnis der Regierung, Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen). b) Sie errichtet ein halb-präsidentielles Regierungssystem, indem sie dem Staatspräsidenten zahlreiche Kompetenzen zuerkennt, die er in vielfachen Fällen ohne Mitwirkung der Regierung handhaben kann. c) Sie schränkt die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung ein. Im folgenden wird allerdings nicht auf die Einzelheiten dieser Regelungen der TV von 1982 eingegangen, sondern es wird versucht, von der TV von 1961 ausgehend, die Auswirkungen jener Prinzipien des Bonner Grundgesetzes, die in die beiden Verfassungen Eingang gefunden haben, auf das türkische Verfassungsrecht zu untersuchen.

ΠΙ. Der Rechtsstaat als das leitende Verfassungsprinzip 1. Die in der Vergangenheit gesammelte Erfahrung bezüglich der Rechtsverletzungen leiteten die Väter der TV von 1961 dazu, das Prinzip des Rechtsstaates, dessen Konsequenzen in zahlreichen Vorschriften der Verfassung ihren Niederschlag finden, im Verfassungstext unter dem Hinweis auf die in der Präambel niedergelegten Grundprinzipien ausdrücklich zu betonen8. 2. Ein wesentlicher Pfeiler der Rechtsstaatskonzeption beider Verfassungen scheint der Grundsatz zu sein, daß die Begrenzung von Grundrech* Im Absatz 5 der Präambel war der Rechtsstaatsbegriff folgendermaßen formuliert: „... einen demokratischen Rechtsstaat mit allen seinen rechtlichen und sozialen Grundlagen errichtet, der es ermöglicht, die Menschenrechte und -freiheiten, . . . die soziale Gerechtigkeit, die persönliche Sicherheit und die Wohlfahrt des einzelnen und der Gesamtheit zu verwirklichen und zu sichern, ..

136

Ülk Azrak

ten nur „durch Gesetz 44 oder „auf Grund eines Gesetzes 44 erfolgt 9. Die Gesetzesvorbehalte zur Begrenzung von Grundrechten können einfache oder qualifizierte sein. Um einige Beispiele zu nennen: die Ausreisefreiheit konnte durch (einfaches) Gesetz geregelt werden (Art. 18 Abs. 3, TV von 1961)10. Auch die Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Eigentumsgarantie und der wirtschaftlichen Unternehmensfreiheit werden in den Notstandsfällen durch Gesetz geregelt. Manche Grundrechte dürfen nur durch ein qualifiziertes Gesetz eingeschränkt werden. Wie die Freizügigkeit im GG (Art 11) durfte das Versammlungs- und Demonstrationsrecht in der TV von 1961 (Art. 28) nur durch ein Gesetz, das die Begrenzung des betreffenden Grundrechts dem im Verfassungstext vorgesehenen Zweck entsprechend vornimmt, eingeschränkt werden. Schließlich sei auch auf diejenigen Grundrechte hingewiesen, die nicht geeignet sind, durch Gesetz eingeschränkt zu werden. Die Begrenzung von diesen Grundrechten kommt entweder überhaupt nicht in Frage (etwa grundrechtsimmanente Gewährleistung), oder aber die Begrenzung wird durch den Verfassungstext vorgenommen11. Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sowie das Grundrecht der Petition dürfen nicht eingeschränkt werden (Art. 5, 17 GG; Art. 20, 21, 62 TV von 1961). Die TV von 1982 sieht allerdings auch die Meinungs, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit die Möglichkeit der Beschränkung durch qualifizierte Gesetze vor (Art. 26, 27). Die türkische Verfassungrechtslehre hat sich der oben dargelegten sog. Drei-Stufen-Theorie der deutschen Verfassungsrechtslehre weitgehend angeschlossen12. 3. Das in der deutschen Verfassungslehre und Verfassungspraxis entwickelte Prinzip der Verhältnismäßigkeit (bzw. das Übermaßverbot), hat auch in der türkischen Verfassungslehre und der Praxis des Verfassungsgerichts eine unbestrittene Relevanz. Als ein Vorfeld der Kontrolle, ob die gesetzliche Einschränkung eines Grundrechts sein Wesensgehalt verletzt hat, hat dieser Grundsatz sozusagen die Funktion einer Filtration; stellt man 9 Es sei darauf hingewiesen, daß in der ursprünglichen Fassung des türkischen Verfassungsgesetzes v. 1961 der Gesetzesvorbehalt sich nur auf die Beschränkung von Grundrechten durch Gesetz bezog. Die Möglichkeit der Beschränkung auf Grund eines Gesetzes wurde erst im verfassungsändernden Gesetz v. 1971 im Zusammenhang einzelner Grundrechte vorgesehen. 10 TV v. 1982 sieht im Art. 23 Abs. 5 besondere Einschränkungsgründe wie die wirtschaftliche Lage, staatsbürgerliche Pflicht, strafrechtliche Verfolgung oder Ermittlungen in Strafsachen vor. 11 Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., Karlsruhe 1975, S. 133. Ferner v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 1957, S. 129: Verfassungsunmittelbare Vorbehaltsschranken. 12 Vgl. F. Saglam, Temei Haklarin Sinirlanmasi ve özü (Die Begrenzung und der Wesensgehalt der Grundrechte), Istanbul 1982, S. 97 ff.; ferner B. Tanör, Tck. 142. madde, Düsünce özgürlügü ve Uygulama (Art. 142 des Strafgesetzes, Meinungsfreiheit und Praxis), Istanbul 1979, S. 129.

Das Grundgesetz—Bericht

e

137

nämlich fest, daß ein Gesetz bei der Einschränkung eines Grundrechts gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen hat, so muß man die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes feststellen, ohne daß man dazu übergeht zu untersuchen, ob es auch den Kern (d. h. den Wesensgehalt) des Grundrechts verletzt hat. Dieser Sachverhalt ist jedoch sowohl in deutscher, wie auch in türkischer Literatur mehrfach verkannt worden13. Das türkische Verfassungsgericht (TVerfG) findet eine gesetzliche Strafmaßnahme regelmäßig verfassungswidrig, wenn diese in keinem Verhältnis zu dem Tatbestand steht14. Gelegentlich wendet das TVerfG wie das deutsche BVerfG auch den Grundsatz der „Geeignetheit" an15. 4. Die Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte nimmt als eine definitive Schranke der gesetzgeberischen Kompetenz, ein Grundrecht einzuschränken, einen besonderen Platz in der rechtsstaatlichen Verfassungsordnung ein. Im Art. 11 Abs. 2 TV von 1961 wurde in diesem Zusammenhang eine ziemlich präzise Formulierung verwendet. Dort hieß es nämlich: „Die Grundrechte und -freiheiten dürfen allein durch Gesetz und nur durch Maßgabe des Wortlauts und Sinnes der Verfassung eingeschränkt werden. Ein Gesetz darf ein Recht oder eine Freiheit in ihrem Kern nicht antasten, selbst nicht im Hinblick auf das öffentliche Wohl, die allgemeinen Sitten, die öffentliche Ordnung, die soziale Gerechtigkeit, die nationale Sicherheit oder aus ähnlichen Gründen."

Im Verfassungsänderungsgesetz von 1971 wurde diese Formulierung jedoch dahingehend geändert, daß nunmehr (vorbehaltlich der Unantastbarkeit ihres Kerns) alle Grundrechte zum Schutz des Bestands von Staatsgebiet und Staatsvolk, der republikanischen Staatsform, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, des Allgemeinwohls, der allgemeinen Sitten und der Volksgesundheit eingeschränkt werden können. Außerdem wurde das Verbot aller verfassungsmäßig gewährten Rechte und Freiheiten sowie die Sanktion des Mißbrauchs eingeführt. Weil aber der Grundsatz der Unantastbarkeit des Kerngehalts der Grundrechte beibehalten wurde, scheint es angebracht zu sein, in diesem Zusammenhang folgende Punkte festzustellen: a) Der Kerngehalt jedes Grundrechtes muß nach den bei diesem Grundrecht in Betracht kommenden, speziellen Sachverhalten einzeln ausgelegt werden.

13

Vgl. Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Kommentar, 4. Aufl. München 1974, Anm. 32 zu Art. 2 I; Hesse (Fn. 11), S. 141 ff.; R. Serozan, Anayasa-Madde 11, Acik Oturum, in: Yargi, H. 40, 1970. S. 9, 12; dagegen Saglam (Fn. 12), S. 119, 127. 14 Vgl. TVerfG, 18.2.1971, Aymkd X; 9.3.1971, Aymkd IX, S. 358-381. 15 TVerfG, 8.2.1972, Aymkd X, S. 111 ff. Für BVerfG siehe: BVerfG 30, 316.

138

Ülk Azrak

b) Angetastet wird der Kerngehalt eines Grundrechts nach der ständigen Rechtsprechung des TVerfG, wenn man von diesem nicht mehr Gebrauch machen kann bzw. wenn dieses Grundrecht keine Wirksamkeit mehr entfalten oder sein Ziel nicht mehr erreichen kann16. Es sei ferner bemerkt, daß der Verfassungsgeber der 3. Republik den Grundsatz der Unantastbarkeit des Kerngehalts der Grundrechte durch das im Art 13 TV von 1982 vorgesehene Einschränkungskriterium der Erfordernisse einer demokratischen Gesellschaftsordnung 44 ersetze17. 5. Die TV von 1961 enthielt in Verbindung mit der Sozialstaatsklausel eine Reihe von Sozialrechten, die in der türkischen Rechts- und Staatsordnung eine versöhnende Rolle zwischen den sozialen Klassen spielen sollten. Es hat sich aber rasch herausgestellt, daß die Gewerkschaften, die ja ihren kollektiven, kämpferischen und militanten Charakter behalten haben, ein schwaches Glied in der Kette bilden. Das hat dann dazu geführt, daß die Gewerkschaften innerhalb der politischen Grenzen und die sozialen Rechte der Arbeiter, wie ζ. B. Tarif- und Streikrecht, innerhalb der ökonomischen Grenzen gehalten wurden. Die Nichtaufnahme der sozialen Grundrechte in das GG ist wohl auf drei Gründe zurückzuführen: a) Zahlreiche Länderverfassungen hatten schon vor dem Inkrafttreten des GG die Sozialrechte geregelt. Außerdem hat man es angesichts der Sozialstaatsklausel nicht für nötig gehalten, die sozialen Grundrechte im GG zu regeln18. b) Der provisorische Charakter des GG hat auch in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt. c) Das GG wurde in einer Zeit ausgearbeitet, in der sich Deutschland noch unter der Kontrolle der Besatzungsmächte befand. Diese Tatsache hat sich so ausgewirkt, daß man in das GG nur solche Regelungen mit unmittelbarer Geltungskraft aufgenommen hat, die Chancen hatten, die Zustimmung der Besatzungsmächte zu erlangen. Die sozialen Grundrechte hatten eben in den Augen der Väter des GG nicht eine solche Chance19. 16

Siehe ζ. B. TVerfG, 4.1.1963, Aymkd I, S. 74. Art. 13 Abs. 2 TV v. 1982: „Die allgemeinen und besonderen Beschränkungen im Zusammenhang mit den Grundrechten und -freiheiten dürfen den Erfordernissen einer demokratischen GeseUschaftsordnung nicht entgegenstehen und außerhalb des vorgesehenen Zweckes nicht gebraucht werden." 11 Vgl. W. Schreiber, Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes in der Praxis der Rechtsprechung, Berlin 1972, S. 95. 19 E. Forsthoff The dualism of rule of law and welfare state (Sozialstaat) in the constitutional lay of the Federal Republic of Germany, in: Annales de la Faculté de Droit d'Istanbul, t. IX, no. 12, 1959, S. 326 ff. 17

Das Grundgesetz — Bericht

re

139

6. Die in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Formulierung, die die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung andeutet, stellt eine sehr wichtige Grundlage für das Rechtsstaatsprinzip dar. Wenn man diesen Artikel in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, der die Rechtsweggarantie enthält, betrachtet, so ergibt sich aus dieser Betrachtungsweise ein Gebot lückenlosen wirksamen Rechtsschutzes, das die deutsche Verfassungsordnung in großem Maße charakterisiert. Weil die Rechtsweggarantie im Art. 19 Abs. 4 GG als ein Grundrecht geregelt ist, kann sie nicht beschnitten werden. Der türkische Verfassungsgeber hat in diesem Bereich ursprünglich denselben Weg eingeschlagen, indem er im Art. 114 Abs. 1 TV von 1961 die Rechtsweggarantie folgendermaßen formuliert hatte: „Handlungen und Akte der Verwaltung können in gar keinem Falle von der Kontrolle durch Gerichtsbehörden ausgenommen werden."

Diese Formulierung wurde allerdings im Verfassungsänderungsgesetz von 1971 wie folgt modifiziert: „Gegen alle Handlungen und Akte der Verwaltung steht der Rechtsweg offen."

In der TV von 1982, die die Formulierung der Fassung von 1971 wörtlich übernahm, ist nun der Verwaltungsrechtsweg in vielfacher Hinsicht eingeengt worden. 7. Auch bei der Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine typische Institution der westeuropäischen Verfassungsordnungen ist, hat der türkische Verfassungsgeber die betreffenden Regelungen des GG herangezogen.

die ja

Die Schaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Türkei kann man als eine Reaktion auf die positivistisch-dezisionistische Rechtsauffassung der vorkonstitutionellen Zeit betrachten, nach welcher alles rechtens ist, was der Gesetzgeber beschlossen hat. Besonders zwischen 1950 und 1960 war die Tendenz, den Volksrepräsentanten eine schrankenlose Macht zuzuerkennen, sehr augenfällig. Diese Tendenz zeigte sich vor allem bei den Willkürakten der Legislative, die sich mit den einzelnen Bestimmungen der Verfassung von 1924 in klarem Widerspruch befanden. Durch einfache Gesetze wurden manchen Bestimmungen der Verfassung verschiedene Geltungsbeschränkungen auferlegt, die sich stillschweigend außerhalb der Verfassung vollzogen. So hat die Verfassung, die als „Lex Fundamentalis" eine absolute Geltung haben soll, mehr und mehr ihre Verpflichtungskraft eingebüßt, weil es damals keine rechtsprechende Stelle gab, die zuständig war, die verfassungswidrigen Akte des legislativen Organs unabhängigerweise nachzuprüfen. Die 1962 geschaffene türkische Verfassungsgerichts-

140

Ülkii Azrak

barkeit hat sich inzwischen als Hüter der Verfassungsordnung offensichtlich bewährt. Neben der abstrakten und konkreten Normenkontrolle hat das türkische Verfassungsgericht die für die demokratische Struktur des Staates sehr wichtige Aufgabe, verfassungswidrige politische Parteien zu verbieten. Diese Mission schafft die Voraussetzungen für den verfassungsgerichtlichen Schutz der liberalen Demokratie (unter dem Hinweis auf die kämpfende Demokratie) und der Entwicklung des jurisprudentiellen Verfassungsrechts. Andererseits hat der Schutz der Grundrechte und Freiheiten die Tendenz, sich ständig zu entwickeln und so die Verfassung zu einem sinnvollen Begriff zu machen. Diese Tendenz wirft sogleich die Frage der sog. Richterverfassung " auf. In der BRD wie in Österreich und Italien spielt das Verfassungsgericht die Rolle eines Schiedsrichters, der den Staat daran hindert, sich von seinem parteipolitischen Milieu nicht zu unterscheiden. Das ist der eigentliche Grund, warum die Verfassungsgerichte dieser Länder als eine npouvoir neutre" erscheinen. Bei der Neubewertung des türkischen Verfassungsgerichts nach den krisenvollen Perioden in der Verfassungsgeschichte stößt man auf die Tatsache, daß die Politik durch die Verfassungsgerichtsbarkeit sozusagen in die Zange des Rechts genommen wird. 8. Andererseits hat der Prozeß der geradezu perfektionistischen Ausgestaltung der Rechtswege und der fast lückenlosen Kontrolle der Legislative und Exekutive in der BRD wie in der Türkei zum vielfachen Vorwurf, daß der Rechtsstaat sich dadurch zu einem Rechtswegstaat" ja sogar zu einem Richterstaat" entwickelt habe, Anlaß gegeben20. Dabei besteht der Irrtum dieser Ansicht darin, eine solche Entwicklung, die ja angesichts des mangelnden politischen Konsenses so nötig geworden ist, negativ zu bewerten. 9. Das Fehlen der Hilfsmechanismen des parlamentarischen Systems in der TV von 1961 (wie ζ. B. das konstruktive Mißtrauensvotum des GG) und die ständige Verringerung des demokratischen Konsenses zwischen den ohnehin durch das Verhältniswahlsystem zersplitterten politischen Parteien haben zu einer ernsthaften Krise der zweiten türkischen Republik beigetragen. Aus dieser Situation erklärt sich auch der Versuch der Schöpfer der TV von 1982, einen „rationalisierten Parlamentarismus" zu schaffen, was ja im Verfassungsgesetz der dritten Republik seinen Niederschlag gefunden hat. 20 Vgl. E. Forsthoff; Rechtsstaat im Wandel, München 1976, S. 251; M. Soysal, Dinamik Anayasa Analyisi (Die Konzeption von der dynamischen Verfassung) Ankara 1969, S. 96.

Das Grundgesetz — Bericht

re

Abkürzungen: AYMKD

- Anayasa Mahkemesi Kararlari Dergisi (Sammlung der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts)

TV

- Türkische Verfassung

TVerfG

- Das türkische Verfassungsgericht

EMRK

- Europäische Menschenrechtskonvention

Das Demokratieprinzip im Föderalisierungsprozeß der Republik Zypern Von Christodoulos Yallourides

I. Einleitende Bemerkungen Soziale, politische, ethnische und kulturelle Konflikte sind seit Jahrzehnten in ihrer Komplexität Inhalt einer wissenschaftlichen Diskussion und zugleich Faktoren, die reale internationale politische Konfliktherde ethnischer und religiöser Natur darstellen. Es handelt sich hierbei um einen Problembereich, der heute, Ende des 20. Jahrhunderts, immer noch ein Hauptforschungsgebiet der Sozialwissenschaften bleibt Ein Kernpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung konzentriert sich auf die Frage nach den Schutz- und Konfliktregelungsmechanismen der Demokratie und des Demokratieprinzips. Die sozialphilosophische Diskussion über die Freiheit bzw. Freiheiten des Einzelnen und der Gruppe, die Garantie persönlicher Freiheitsrechte und unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte und die Verwirklichung und Verankerung politischer Teilhabe· und Mitwirkungsrechte bis zur anhaltend umkämpften Gewährleistung wohlfahrtsstaatlicher Bürgerrechte sind interdependente Themenbereiche, die sich als Mittelpunkt der Auseinandersetzung in bezug auf Demokratisierung und Föderalisierung herausschälen1. In diesem Zusammenhang sollte man betonen, daß in unserer heutigen, durch komplex ineinander verflochtene Abhängigkeiten bestimmten Welt, innere soziale, politische und ethnische Probleme kaum noch intern-nationalen Charakter haben, sich aber vielmehr leicht internationalisieren lassen. Denn die Abhängigkeit von Strukturen, Interessen und Institutionen in unserer heutigen Welt verstärkt sich in einem kontinuierlichen Prozeß immer mehr. Dennoch besteht, trotz dieses internationalen politischen Vereinheitlichungsprozesses, immer noch eine Vielfalt an Kulturen, ethnischen und religiösen Traditionen, aber auch an diversen Forderungen nach politischer und sozialer Teilhabe, was den Anspruch auf mehr Demokratie 1 C. Offe/ Β. G. Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984, S. 9 ff.

144

Christodoulos Yallourides

und Anwendung des Föderalismusprinzips rechtfertigen kann2. In diesem Rahmen wird die vorliegende Arbeit versuchen, schwerpunktmäßig die oben genannten Kategorien, d.h. Demokratie und Föderalismus, anhand des Modells der Republik Zypern einer Untersuchung zu unterziehen. Dabei soll auch versucht werden, aufzuzeigen, inwieweit deutsche politische und rechtliche Institutionen bei der Entwicklung eines Zukunftsmodells eine Rolle spielen oder spielen können. Zu diesem Zweck wird die vorliegende Darstellung folgende Schritte unternehmen: 1. Allgemeine Problematik des Verhältnisses zwischen föderativer Ordnung und Anwendung bzw. Verwirklichung des Demokratieprinzips unter besonderer Berücksichtigung der Kritik am Mehrheitsprinzip in ethnisch heterogenen Gesellschaften. 2. Innerstaatliche und internationale Merkmale und Besonderheiten der Genese der Republik Zypern im Hinblick auf die Föderalisierungsdiskussion. 3. Integraler kooperativer Föderalismus aufgrund des Demokratieprinzips als Mittel zur permanenten Konfliktregelung. Π. Allgemeine Problematik des Verhältnisses zwischen föderativer Ordnung und Anwendung bzw. Verwirklichung des Demokratieprinzips unter besonderer Berücksichtigung der Kritik am Mehrheitsprinzip in ethnisch heterogenen Gesellschaften Die pluralistische parlamentarische Demokratie in ihrer zentralistischunitarischen Erscheinungsform zeigt sich nicht in der Lage, den Einzelnen, den breiten „repräsentativen" Massen, Gruppen und anderen Bevölkerungsschichten, vor allem aber den sozialen Gruppen besonderer Art, wie Minderheiten und Volksgruppen, diejenigen realen Bedingungen zu gewährleisten, welche die Erfüllung ihres Anspruchs auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung - zwei grundlegende demokratische Gebote - ermöglichen. Die individuelle Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung erschöpft sich nicht in der Realisierung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung oder in einer angestrebten rechtlichen und sozialen Gleichheit, sondern 2 F. Scharpf, Komplexe Demokratietheorie, in: Pluralismus Konzeptionen und Kontroverse (hrsg.: F. Nuscheler/W. Steffani), München 1976, S. 275 ff.

Das Grundgesetz — Bericht

en

145

verlangt die Schaffung von entsprechenden institutionellen und strukturellen oder organisatorischen Voraussetzungen und Maßnahmen, die dem Einzelnen und der gesellschaftlichen und sozialen Gruppe, der er angehört (ζ. B. Familie, Gemeinde, regionale Bevölkerung, Volksgruppe usw.) dazu verhelfen, seine Absichten besser und wirksamer artikulieren zu können. Dieser Prozeß bezieht sich einmal auf die Allgemeinheit und zum anderen auf die Besonderheiten, d. h. auf autonome Wesen und Verbände, wie auf eine Gemeinde, Region, Territorium, kulturellen oder religiösen Kreis3. Dementsprechend sollte der Einzelne mit der in seinem Kreis vorhandenen kulturellen, geistigen, materiellen und territorialen Art in die Lage versetzt werden, seine eigenen Interessen wahrzunehmen und vertreten zu können und zugleich an den allgemeinen, das Gemeinwesen, die Gesamtheit betreffenden Interessen mitwirken und effektiv mitbestimmen zu können. Somit könnte die Bewahrung und Fortpflanzung der Tradition, Sprache, Religion und des Kulturguts von Individuen und Gruppen, von Familien, Gemeinden, Volksgruppen und Völkern in gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Gemeinwesens und der politischen Nation ermöglicht werden. Innerhalb der föderalistischen Struktur sollte somit interdependent eine Dialektik zwischen dem Teil und dem Ganzen entstehen, wobei neben der Anerkennung des Teils die Existenz des Ganzen bejaht wird, d. h., daß die Souveränität der Gesamtgesellschaft nicht in Frage gestellt wird, gleichzeitig aber die Rahmenbedingungen für die Entfaltung und Selbstverwirklichung der einzelnen Gruppen in ihrer Vielfalt ermöglicht und geschützt werden. Die sozialphilosophische Begründung der Notwendigkeit des Föderalismus beruht auf der Vielfältigkeit der menschlichen Gesellschaft4 und der Vielgestaltigkeit des Gemeinwesens in Interessen, Zwecken, Traditionen, kulturellen und unterschiedlichen Bedürfnissen3, welche territorial und pluralistisch in verschiedenen Trägergruppen (Parteien, Verbände, Gemeinden usw.) in Erscheinung treten. Diese autonomen Einheiten sollten bei der Organisation des Gemeinwesens - nach einer Art Subsidiaritätstheorie6 - , die den Gedanken von Hamiltons Federalist7 nahesteht, imstande sein, ihre Angelegenheiten durch die von der Zentralgewalt gewährten regionalen 3

Vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 162 ff. Vgl. Th. v. Bonin, Selbstbestimmungsrecht undföderale Gestaltung Europas, in: H. Kloss, Beiträge zu einem System des Selbstbestimmungsrechts, Wien - Stuttgart 1970, S. 67 ff. 5 Vgl. C. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 215. 6 Vgl. v. Bonin (Fn. 4), S. 68. 7 Vgl. J. Gebhardt, The Federalist, in: Klassiker des politischen Denkens II (hrsg.: v. Maier/Rausch/Denzer), München 1968, S. 92 ff. 4

10 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

146

Christodoulos Yallourides

Institutionen im Einklang mit den überregionalen zu regeln. Demnach ist Föderalismus jenes gesellschaftliche Organisationsprinzip, das eine dauernde Verbindung von autonomen und eigenverantwortlichen Gruppierungen zu größeren Einheiten bewirkt8. Das föderative Prinzip kann nicht nur durch Dezentralisierung von Machtstrukturen und Koordination territorialer Gewalten sowie autonomer Einheiten oder Selbstkoordination der Glieder untereinander gerechtfertigt und damit vollkommen erfüllt werden, sondern es wird weiter von einer „Gleichordnung" und „wechselseitigen Gleichgewichtigkeit der zentralen regionalen Gewalten", einer „sachgerechten" Trennung zwischen zentralen und regionalen Kompetenzen geprägt sein9. Das Demokratieprinzip beruht bekanntlich auf der Freiheit und den Rechten, auf dem Schutz und auf den pluralistischen Entfaltungsmöglichkeiten von Individuen, aber auch von Gruppen, wobei Besonderheiten und Eigenartigkeiten von Gruppen und sozialen Einheiten anerkannt und berücksichtigt werden. Neben diesen Demokratie-Grundprinzipien beruht die pluralistische parlamentarische Demokratie auf der Wechselwirkung, dem Zusammenspiel und der wechselseitigen Kontrolle der Grundelemente des demokratischpolitischen Systems10, das sich in Regierung, Parlament und vor allem jenen „strukturellen Willensbildungsmechanismen" manifestiert, die das Funktionieren der pluralistischen Demokratie bestimmen. Das Mehrheitsprinzip bildet das wichtigste Charakteristikum der neuzeitlichen Demokratiegestaltung, gleichzeitig stellt es aber einen der wesentlichsten Kritikpunkte in der Demokratietheorie dar. Diese Arbeit verfolgt allerdings nicht den Zweck, die einander entgegengesetzten Konzeptionen diesbezüglich eingehend zu erläutern, andererseits soll jedoch auf diverse Aspekte dieses Bereichs in bezug auf das Hauptanliegen dieses Vortrags, nämlich die Zypernproblematik, eingegangen werden. Man geht davon aus, daß innerhalb einer pluralistischen Demokratie ein Wechselwirkungsprozeß zwischen politischen Mehrheiten und Minderheiten stattfindet, wobei durch das politische Wahlverhalten auf verschiedenen Ebenen Mehrheiten zu Minderheiten werden können und umgekehrt. Diese Möglichkeit wird durch eine dezentrale, föderative Staatsordnung erweitert s Vgl. K. Weber, Föderalismus als Instrument demokratischer Konfliktregelung, in: Föderalismus als Mittel permanenter Konflikregelung (hrsg.: V. F. Esterbauer/G. Heraud/ P. Pernthaler), Wien 1976, S. 161 ff. 9 Vgl. E. Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme, Wien 1976, S. 161 ff. 10 E. Fraenkel! Κ . D. Bracher, Artikel „Demokratie", in: Das Fischer Lexikon, Band Staat und Politik, Frankfurt a. M. 1957, S. 78 f.

Das Grundgesetz — Bericht Zypern

147

und verstärkt11. Dies trifft vor allem dann zu, wenn das partizipatorische Moment auftritt 12 und Demokratie nicht nur als Methode, um zu politischen Entscheidungen zu gelangen oder als Legitimation der Macht verstanden wird, um auf J. Schumpeter zurückzugreifen 13. Auf jeden Fall darf in diesem vereinfacht geschilderten Wechselwirkungsprozeß zwischen Majorität und Minorität politischer Körperschaften keine uneingeschränkte Macht zu Lasten der Minderheit ausgeübt werden, vielmehr müssen gewisse Schranken gegen uneingeschränke Majoritätsherrschaft eingerichtet werden14. Mit der Problematik des Schutzes und der Partizipationsmöglichkeiten der politischen Minderheiten im pluralistischen demokratischen Staat befaßt sich auch die bundestaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, in der das Delegationsprinzip in bezug auf den Bundesrat die Gruppengleichheit garantiert. Außerdem werden der Allmacht der Majorität durch die Einrichtung der sogenannten qualifizierten Mehrheit, d. h. in der Regel einer 2/3 Mehrheit, bei parlamentarischen Entscheidungen Grenzen gesetzt. Hinzu kommt, daß gerade im föderativen System, wie oben erwähnt, politische Mehrheiten leicht zu Minderheiten werden können, bzw. vereinzelt als solche in Erscheinung treten. Als besonders problematisch, wissenschaftlich aber auch interessant, stellt sich dieses Verhältnis dar, wenn es sich um ethnisch, kulturell oder sozial inhomogene Gesellschaften handelt, worauf Georg Jellinek bereits vor knapp einem Jahrhundert hingewiesen hat15. In diesem Fall besteht die Hauptproblematik aus der Tatsache, daß der oben beschriebene Wechselwirkungsprozeß zwischen Minorität und Majorität lediglich auf politischer, nicht aber auf ethnischer und sozio-kultureller Ebene stattfindet. Somit besteht die Gefahr einer permanenten Majorisierung der Minderheit, so daß die Forderung nach einem besonderen Status der Minderheit zusammen mit dem Anspruch auf Gruppengleichheit besteht16. Andererseits muß aber auch eine Anerkennung der Mehrheitsentscheidung als Produkt der nüchternen Überlegung zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der Gesamtgesellschaft bestehen können. Ein typisches Beispiel mit spezifischen Charakteristika innerhalb dieses Problemkomplexes, besonders in bezug auf die Fragestellung der Mehr11

Weber (Fn. 8), S. 51 ff. Scharpf (Fn. 2), S. 273 ff. 13 J. Schumpeter , Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, München 1972, S. 427 ff. 14 H. J. Verain, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips im Rahmen unserer politischen Ordnung, in: Guggenberger/Offe (Fn. 1), S. 53 f. 15 G. Jellinek, Das Recht der Minoritäten, Wien 1898. 16 Siehe Chr. Yallourides, Minderheitenschutz und Volksgruppenrecht im 20. Jh. unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse auf Zypern, Bochum 1981, S. 144 ff. 12

10·

148

Christodoulos Yallourides

heitsverhältnisse in einer ethnisch heterogenen Gesellschaft, stellt die Republik Zypern dar, wo sich die diesbezügliche innenpolitische Spannung zu einem internationalen Konfliktherd ausgeweitet hat. Auf diesen Problemkreis werden wir bei unseren nächsten beiden methodischen Schritten eingehen.

ΠΙ· Innerstaatliche und internationale Merkmale und Besonderheiten der Genese der Republik Zypern im Hinblick auf die Föderalisierungsdiskussion Die Republik Zypern wurde als ,unabhängiger und souveräner4 Staat unmittelbar nach Mitternacht zwischen dem IS. und 16. August 1960 proklamiert. Daraufhin wurde die Verfassung des Staates von Sir Hugh Foot, dem damaligen Gouverneur der britischen Kronkolonie Zypern, Herrn Georgios Christopoulos, Generalkonsul von Griechenland, Herrn Türrel, Generalkonsul der Türkei, Erzbischof Makarios und Dr. Kücük unterzeichnet. Die beiden letzteren unterzeichneten in ihrer Eigenschaft als erster Präsident bzw. Vizepräsident der Republik, die aufgrund des Wahlgesetzes, das unmittelbar vor Inkrafttreten der Verfassung gültig wurde, und zwar nach § 187.1 (a), gewählt worden waren. Dieser Akt war Schlußpunkt eines vierjährigen Freiheitskampfes des zyprischen Volkes gegen die britische Kolonialherrschaft mit dem ursprünglichen Ziel, die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts zu erreichen. Träger des Kampfes und Verfechter dieses Zieles war die überwältigende Mehrheit des Kolonialvolkes, das aus einer griechischen und türkischen Teilgruppe bestand, welche 80 % bzw. 18 % der Bevölkerung ausmachten. Die Verfassung der Republik Zypern war von drei internationalen Verträgen begleitet, dem Gründungsvertrag der Republik Zypern zwischen der Republik selbst, dem Königreich Griechenland, der Republik Türkei und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, dem Garantievertrag zwischen den oben genannten Vertragspartnern und dem militärischen Vertrag der Allianz zwischen der Republik, dem Königreich Griechenland und der Republik Türkei17. In bezug auf die Verträge selbst sowie den Gründungsprozeß der Republik, ebenso auch im Hinblick auf die Vollständigkeit der Souveränität, gab es diverse völkerrechtliche Einwände. Dabei wurde die These vertreten, daß 17

11 f.

K. Tornaritis,

To politeiakon dikaion tis Kypriakis Dimokratias, Nicosia 1982, S.

Das Grundgesetz — Bericht

en

149

wichtige und zwingende völkerrechtliche Bestimmungen des ius cogens verletzt worden waren18. So wurde zum Beispiel eingewandt, daß während der Unterzeichnung der Staatsverträge weder die Republik Zypern selbst schon ein völkerrechtliches Subjekt war, noch ihre beiden obersten Organe, der Präsident und der Vizepräsident der Republik, schon im Amt waren19. Außerdem kann wegen der Nichtanwendung des demokratischen Prinzips bei der Verfassunggebung von einer oktroyierten Verfassung geredet werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches durch die Entkolonialisierungspraxis der Vereinten Nationen zu zwingendem Recht geworden war und einen Bestandteil des Rechts der Vereinten Nationen ausmachte, wurde dabei in vielerlei Hinsicht gebrochen. Weder wurde es im Prozeß der Gründung der Republik angewendet, noch als Recht eines „souveränen44 Volkes einer „unabhängigen" Republik anerkannt. Schließlich wurde die Möglichkeit des zyprischen Volkes, souverän zu handeln und über seine Zukunft zu entscheiden, permanent durch die Verfassung ausgeschlossen.20 Interessant scheint uns auch, kurz auf die innerstaatliche Ordnung der Republik einzugehen, wo sich sowohl das Prinzip einer föderativen Ordnung im Kern herausbildet, als auch die Frage der Problematik der Funktion der politischen Mehrheit bei Entscheidungsbildungsprozessen auftritt 21. Der Geist der Verfassung weist im Gegensatz zu anderen Verfassungen die Eigenheit auf, von dem wesentlichen Bestandteil des Staates, nämlich dem Volk, keine Erwähnung zu machen. Der Staat wird nach der Verfassung von den beiden Gemeinschaften bzw. Volksgruppen getragen, ohne daß das Zahlenverhältnis der Gruppen zueinander berücksichtigt wird. Außerdem wird das gemeinsame integrale Moment eines Staatsvolkes völlig ignoriert. In mehreren Fällen wurde das Prinzip der Gruppengleichheit angewandt, wobei die 80 %-ige griechische Bevölkerungsmehrheit der 18 %-igen türkischen Minderheit gleichgestellt wurde. So sollten beispielsweise das Griechische und das Türkische offiziell gleichberechtigte Amtssprachen der Republik sein. Für jede Gemeinschaft wurde eine Gemeinschaftsversammlung eingerichtet, welche in bezug auf bestimmte Bereiche, wie ζ. B. Justiz, Religion, Erziehung und Bildung sowie Kultur administrative und judikative Gewalt 18 19 20 21

Tornaritis (Fn. 17), S. 12 ff. G. Denekidis, Chypre, Paris 1964, S. 105 f. Tornaritis (Fn. 17), S. 15 f. Tornaritis (Fn. 17), S. 16 f.

150

Christodoulos Yallourides

für die jeweilige Gemeinschaft innehatte. Diese eigenartige Staatsordnung ließ einige Sozialwissenschaftler zu der Schlußfolgerung kommen, daß es sich bei dieser Struktur um eine Form des Föderalismus handele, den sie „Personal-Föderalismus" nannten22. Zweifellos wurde durch die Verfassungsstruktur eine kulturelle Autonomie gewährleistet sowie institutionelle Rechte und Schutzmechanismen für die Minderheit geschaffen; Maßnahmen und Strukturen, welche im folgenden erwähnt werden. Andererseits führten zahlreiche in der Verfassung verankerte desintegrierende Elemente sowie die Tatsache, daß die politische Mehrheit auf keiner Ebene politisch entscheidend auftreten oder sich aus beiden Gemeinschaften zusammensetzen konnte, den neugegründeten Staat, neben anderen außenpolitischen Faktoren in eine permanente innerstaatliche Krise mit internationalen Dimensionen, anstatt zu einer permanenten Konfliktregelung beizutragen. Kurz sollen hier die oben angesprochenen Elemente aufgezeigt werden: Der Präsident der Republik sollte als Grieche von der griechischen Gemeinschaft gewählt werden, der Vizepräsident umgekehrt von der türkischen. Das Kabinett besteht aus 10 Mitgliedern, von denen 7 als Griechen vom Präsidenten, 3 als Türken vom Vizepräsidenten bestimmt werden. Das Parlament besteht aus 50 Mitgliedern, von denen 35 von der griechischen Gemeinschaft, 15 von der türkischen gewählt werden. Der Parlamentspräsident sollte Grieche, der Vizepräsident des Parlaments wiederum Türke sein. Beide werden in getrennten Verfahren von den entsprechenden ethnischen Abgeordnetengruppen gewählt. Bei Abwesenheit oder Dienstunfähigkeit des Präsidenten der Republik durfte ihn nicht etwa der Vizepräsident, sondern der Parlamentspräsident, also ein Grieche, vertreten. Entsprechend durfte den Parlamentspräsidenten nicht der Vizepräsident des Parlaments, sondern der älteste griechische Abgeordnete vertreten. Entsprechendes gilt für die türkischen Vizepräsidenten der Republik und des Parlaments. Das Parlament tagt zwar gemeinsam, aber wichtige Entscheidungen, wie ζ. B. Wahlgesetz, Etat, Steuergesetzgebung etc., sollten von doppelten Mehrheiten getroffen werden. Ein ähnlicher desintegrierender Teilungsgeist herrschte auch in der Jurisdiktion, wobei griechische Richter griechische Rechtsangelegenheiten, türkische entsprechend türkische Rechtsangelegenheiten richten sollten. Bei ethnisch gemischten Fällen sollte der Prozeß durch einen griechischen und einen türkischen Richter geleitet werden, wobei in der Praxis ein Klima des Mißtrauens und der Vertretung nationaler Interessen für die 22 G. Héraud , Ethnischer Föderalismus zur Vermeidung ethnischer Konflikte, in: Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, Wien 1977, S. 73 f.

Das Grundgesetz — Bericht

en

151

jeweilige Gemeinschaft die Objektivität der Justiz beeinflußte. Um bei der Judikative zu bleiben, ist auch die Existenz des dreiköpfigen Obersten Gerichtshofs interessant, dessen oberster Richter der bekannte deutsche Staatsrechtler Ernst Forsthoff war. Die beiden anderen Sitze waren paritätisch durch einen Türken und einen Griechen besetzt. Man kann von der ersten deutschen staatsrechtlichen Einflußnahme auf Zypern reden. Ein entsprechendes Gruppengleichheitsprinzip mit einer überproportionalen Vertretung des türkischen Volksgruppenteils ist auch in der Verwaltung, in der Armee und im Polizeiapparat verankert23. Die oben genannten staatsrechtlichen Elemente zeigen deutlich den Geist einer vertikalen Teilung der Staatsordnung bei allen gesellschaftlichen und politischen Prozessen, welche vor allem die Desintegration eines jungen Staatsvolks zur Folge hatten und weit über die Idee der Besonderheit und des Selbstbestimmungsrechts von Gruppen und Gemeinschaften hinausging. Politische Wechselwirkungsprozesse zwischen Mehrheit und Minderheit konnten somit nicht stattfinden; die politische Nation und das Staatsvolk konnten sich nicht herausbilden, da der politische Willensbildungsprozeß durch ethnische Kriterien bestimmt und verfassungsmäßig vorprogrammiert wurde24. Eine bundesstaatliche Ordnung, die auf ethnischer und geographischer Grundlage beruht, konnte nicht vollzogen werden, da die türkische Minderheit nirgendwo auf der Insel über einen geschlossenen territorialen Siedlungsraum verfügte. So ist erklärbar, daß neben außenpolitischen Faktoren das Fehlen von integralen politischen Momenten und Prozessen sehr schnell die junge Republik und die Verfassungswirklichkeit zum Scheitern brachte.

IV. Integraler und kooperativer Föderalismus aufgrund des Demokratieprinzips als Mittel zur permanenten Konfliktregelung Seit der türkischen Invasion von 1974, welche unter dem Vorwand, nach dem von dem griechischen Obristen initiierten Putsch, die rechtmäßige Ordnung wiederherzustellen, stattfand, - Ereignisse, die nicht im Rahmen dieses Vortrages erläutert werden können - wurde die institutionelle Teilung der staatsrechtlichen Ordnung von 1960 territorialisiert: Die Türkei besetzte 40 % des Territoriums der Insel und schaffte somit nach der gewaltsamen Vertreibung der griechischen Bevölkerung die territoriale Grundlage 23 24

de Smith (Fn. xx), S. 296. Ύ allo arides (Fn. 16), S. 239 ff.

152

Christodoulos Yallourides

für eine bizonale, ethnisch-föderativ bestimmte Staatsordnung25, ein Vorgehen, dessen Völkerrechtswidrigkeit26 nicht weiter erläutert werden braucht, wodurch aber neue Rahmenbedingungen für die Lösung des Zypernproblems geschaffen wurden. Diese neuen Bedingungen basieren auf dem Anspruch einer bizonalen Föderation auf geographischer Basis, welcher von der Beseitigung der rechtmäßig immer noch bestehenden Republik ausgeht, um an ihrer Stelle zwei neue Staatswesen entstehen zu lassen, die gleichberechtigt zu einer bundesstaatlichen Ordnung zusammenfinden sollen. Beide sollen sich zu Bestandteilen eines neuen föderativen bzw. konföderativen Staatswesens entwickeln. Zu diesem Zweck hat sich der widerrechtlich besetzte Nordteil der Insel 1975 eigenmächtig zum föderativen Teilstaat erklärt. 1983 wurde schließlich wiederum völkerrechtswidrig eine sogenannte „Türkische Republik Nordzypern" ausgerufen, die allerdings nur von der Türkei anerkannt wird. Trotz dieses einseitigen, international nicht anerkannten und mehrfach verurteilten gewaltsamen Vorgehens der türkischen Seite setzen sich die internationalen und internen Bemühungen um die Lösung des Konflikts in Form eines Dialogs der beiden Gemeinschaften unter der Schirmherrschaft und Vermittlung des Generals der Vereinten Nationen fort. In diesem Dialog steht die Auseinandersetzung in bezug auf die Schaffung einer neuen Verfassung und einer neuen Rechtsordnung im Vordergrund. Dabei gehen die Vorstellungen der beiden Seiten über die Form und den Inhalt der Föderation sowie die Konzeption in bezug auf die Funktionen, Strukturen und Zuständigkeiten eines zyprischen Bundesstaates sowohl was Bund und Länder anbetrifft, als auch was die Rechte und Freiheiten von Individuen und Gruppen anbelangt, weit auseinander. Die griechisch-zyprische Seite geht von einer kooperativen, integralen bundesstaatlichen Ordnung aus, bei der individuelle und gruppenbezogene Freiheiten für alle Staatsbürger gewährleistet sein sollten und das Demokratieprinzip nicht nur für die Bundesländer, sondern auch für das gesamte Staatsvolk Anwendung finden soll. An dieser Stelle wird offenbar an die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland gedacht. Insbesondere soll das kooperative und föderale Moment hervorgehoben werden. Als besonders wichtig werden hierbei von der griechischen Seite das Prinzip der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit angesehen. An dieser Stelle muß betont werden, daß die griechisch-zyprische Seite die 25 J. Chr. Papalekas, Bizonen als Lösung der Zypernfrage, unveröffentlicht Vortrag, gehalten anläßlich des zyprisch-deutschen Kulturabends in Offenburg am 26.6.1976. 26 Vgl. D. Constantopoulos, Die türkische Invasion in Zypern und ihre völkerrechtlichen Aspekte, in: German Yearbook of International Law, Jahrbuch für internationales Recht, vol. 21, Berlin 1978, S. 274 ff.

Das Grundgesetz — Bericht

en

153

Anerkennung der Selbständigkeit und des Selbstentfaltungsrecht eines künftigen Teilstaates, d. h. der türkischen Gemeinschaft, nicht in Frage stellt, andererseits aber alle möglichen integrativen Prozesse auf sozialer und politischer Ebene fördern will27. Die türkisch-zypriotische Seite geht von den „bestehenden Realitäten", die gewaltsam durch die türkische Invasion geschaffen wurden, aus und stellt die Frage der Sicherheit der türkischen Gemeinschaft (damit ist nicht nur der militärische, sondern auch der politische und sozio-ökonomische Bereich gemeint) in den Vordergrund. Dabei gehen die türkisch-zypriotischen Vorstellungen von einer etwas sonderbaren konföderativen Struktur aus, die weder einen Spielraum für einheitliche politische Entscheidungen läßt, noch individuelle Freiheiten der Staatsbürger, wie ζ. B. das Recht auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit berücksichtigt28; Prinzipien, die sich während der 80er Jahre sogar als Modell für Verbände souveräner Staaten, wie ζ. B. die EG bewährt haben. Zum Schluß sollte man noch einige Bemerkungen anstellen, die von einem Soll- und nicht von einem Seinzustand ausgehen und auf unserer zu Beginn des Vortrags aufgeworfenen Fragestellung basieren. Gemeint ist die Anwendung des Demokratieprinzips innerhalb einer freiheitlichen föderativen Staatsordnung als Mittel zur permanenten Konflikregelung in bezug auf unser Modellbeispiel, die Republik Zypern. Der Aufbau einer bundesstaatlichen demokratischen Staatsordnung bedeutet nicht die Teilung innerhalb von Gesellschaft und Land, um die Gemeinschaften zu ihrer Entfaltung voneinander abzugrenzen; im Gegenteil sollte man parallel zu den erwähnten Schutzmechanismen soziale, kulturelle und politische Prozesse der Kommunikation und der Integration für die Entwicklung gemeinsamer Werte und Vorstellungen einleiten. Föderation bedeutet schließlich auch den Willen und die Bestrebung zur Einheit in der Vielfalt. Das Demokratieprinzip darf innerhalb einer freiheitlichen, föderativen und pluralistischen Gesellschaft nicht von ethnischen Kriterien ausgehen, sondern vielmehr von politischen und sozialen Kriterien, welche seine Erfüllung in einer dezentralen Grundordnung des Bundesstaates selbst ermöglichen. In diesem Zusammenhang kann der Partizipationsanspruch von Individuen und Gruppen in Zusammenhang zum Grundsatz der Kooperation und dem Erfordernis der Integration zu einem Gleichgewicht zwischen dem 27

Vgl. Turkish policy on Cypros (hrsg.: Public Information Office der Republik Zypern), Nicosia 1988; dazu auch P. C. Polyviou, Cyprus, Conflict and Negotiation 19601980, Oxford 1980. 28 Z. M. Nedjatigil , Cyprus Constitutionlza Proposals and Developments, Nicosia 1978, S. 123f.; dazu auch: Ν. Ertekün , The Cyprus Dispute, Nicosia 1984.

154

Christodoulos Yallourides

Gebot nach Gewährung von Gruppengleichheit und individuellen Freiheiten und Rechten führen. Schließlich sind Grund- und Menschenrechte universale Grundlagen jeder Verfassung. Zypern kann nur dann als Staat und Gesellschaft überleben, wenn die Einheit nicht zu Lasten der Vielfältigkeit und die Vielfältigkeit nicht zu Lasten der Einheit unausgeglichene Ausmaße annimmt.

Einwirkungen des Bundesdeutschen Verfassungsrechts und der Verfassungslehre - Polnische Perspektive Von Zdzislaw Kedzia I· Einführung Die rechtsvergleichende Methode hat in Polen viele Anhänger1. Man neigt sogar zunehmend zu der Auffassung, daß eine Forschung, die sich ausschließlich auf das polnische Recht beschränkt, ohne auf den komparativen Kontext Bezug zu nehmen, den Verdacht einer fehlenden Ausbildung des Verfassers weckt. Referenzen an das ausländische Recht sind grundsätzlich in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in den Diskussionen über Gesetzentwürfe und in der Publizistik zu treffen. Viel seltener treten sie im Prozeß der Rechtsanwendung auf, ζ. B. im Gerichtsverfahren, obwohl man gewisse Neigungen mancher Richter der höheren Gerichte zu solchen Beziehungen feststellen kann. Drei fundamentale Methoden, die man in der Rechtsvergleichung anwendet, können differenziert werden, und zwar: institutionelle, funktionelle und soziologische. Im polnischen Schrifttum, das sich mit dem deutschen Recht beschäftigt, überwiegen - wie es mir scheint - die zwei ersten. Am häufigsten werden konkrete Rechtsinstitute und institutionelle Lösungen untersucht und mit den polnischen verglichen. Die Reflexion über die Funktionen des Rechts in der Organisation des Staates und im Gemeinschaftsleben, bezogen auf die einzelnen Lebensbereiche und die dort auftretenden Probleme, findet auch zunehmend statt. Diese Bemerkungen haben auch einen breiteren Kontext. Man kann ja generell feststellen, daß die vergleichenden Arbeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts heutzutage an Bedeutung gewinnen. Unterschiedliche Gründe unterstützen diesen Prozeß. Man versucht, auf diesem Wege einerseits eigenes Recht zu verbessern, andererseits ist der Traum von den idealen, universellen Lösungen mehr oder weniger im Unterbewußtsein der Forscher versteckt Die axiologische Bezogenheit dieser Versuche ist offen1

Vgl. J. Letowski, Wspoiczesne problemy prawniczych badan porownawczych (Die gegenwältigen Probleme der juristischen rechtsvergleichenden Forschung), „Studia Prawnicze", 1987, Heft 3, S. 3 ff.

156

Zdzislaw Kedzia

sichtlich. Sie werden um der Menschenrechte, der Demokratie, der Gerechtigkeit willen unternommen. Eines bleibt zwar zu hoffen, daß wir auf der Suche nach idealen Lösungen das, was fruchtbar, was interessant, was schlicht menschlich ist in der existierenden Differenziertheit unserer Welt, auch im Bereich des öffentlichen Rechts nicht verlieren werden. Zu dem Fragenbereich der Methodologie gehört auch folgende Bemerkung. Wir sprechen oft über die Rechtsvergleichung dort, wo sie eigentlich nicht vorkommt. Selbst die Beschreibung fremden Rechts stellt noch kein Beispiel für die Rechtsvergleichung dar. Sie bleibt einfach eine Forschung über das fremde Recht. Auf diese ziemlich offensichtliche Feststellung wollte ich zurückkommen, weil eben diese Formel am häufigsten im polnischen Schrifttum anzutreffen ist. Es scheint dagegen, daß eben die Rechtsvergleichung im eigentlichen Sinne die Einwirkungen, die wir heute diskutieren, erleichtern kann. Die Feststellung einer weitgehenden Vergleichbarkeit verschiedener Rechtsordnungen regt jedoch zur Prüfung von Adaptationsmöglichkeiten fremder Lösungen sicherlich an. Man darf jedoch nicht vergessen, daß selbst die Darstellung der fremden Rechtsordnung wiederum für die Rechtsvergleichung unentbehrlich ist, weil ohne deren Kenntnisse jegliche glaubwürdige Vergleichung ausgeschlossen ist. Der Anlaß unseres Treffens begründet wohl die Beschränkung der Analyse zu sozusagen einer „Einbahn-Optik". Sie ist verständlich, weil sie immer einen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellt, insbesondere, wenn es sich um die Rolle der Erfahrungen von Nachbarn handelt. Beziehungen dieser Art stellen in der Regel ein Netz von oft gegenseitigen Einwirkungen, Anregungen, Persuasion dar. Dies ist auch der Fall in dem in meinem Bericht behandelten Beispiel der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen. Es ist bemerkenswert, daß ζ. B. die erste geschriebene, durch das Parlament demokratisch beschlossene Verfassung Europas, d. h. die polnische sog. „Mai-Verfassung" vom 3. Mai 1791, kurz nach der Verabschiedung ins Deutsche übersetzt wurde2. Wir wollen - entsprechend dem Thema unserer Tagung - die Einwirkungen des bundesdeutschen Verfassungsrechts und der Verfassungslehre kommentieren. Weder die eine noch die andere läßt sich jedoch von ihren historischen Wurzeln, d. h. generell von der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Konstitutionalismus, trennen. Es entsteht also die Frage, inwieweit die historische Perspektive mitberücksichtigt werden sollte. Anthropologisch gesehen, als eine Art Umfeld des Hauptthemas, muß die Geschichte des Rechts und des verfassungsrechtlichen Denkens unsere Erwägungen 2 Vgl. Β. Lesnodorski, Pizedmo wa (\brwort) zu: Konstytucja 3 Maya 1791 (Die Verfassung vom 3. Mai 1791), Warszawa 1981, S. 43; er weist auch darauf hin, daß die Verfassung Schwedens zwar das Datum 21.8.1772 trägt, sie wurde jedoch vom König oktroyiert und mit ihren 57 Artikeln innerhalb von 20 Minuten vom Parlament bestätigt.

Das Grundgesetz — Bericht

en

157

begleiten. Dies bedeutet jedoch nicht, daß ich in meinem Bericht tief in die Geschichte zurückkehren möchte, zumal Herr Prof. Roman Schnur vor kurzem einen sehr interessanten, eben eher historischen Beitrag unter dem Titel „Einflüsse des deutschen und des österreichischen Rechts in Polen4* veröffentlicht hat3. Freilich ist der Beitrag auf das ganze Recht bezogen und nicht nur auf das Verfassungsrecht, gibt aber ein breites Bild sowohl der angedeuteten Einflüsse als auch der Kontakte zwischen den Rechtswissenschaften und den Juristen selbst. Hier wird es reichen, auf die Tatsache hinzuweisen, daß sowohl die Werke des deutschen Idealismus als auch des Materialismus, genauso wie die deutsche Version der Naturrechtslehre und des Positivismus, unter den polnischen Juristen wohl bekannt waren und sind, partiell ins Polnische übersetzt. Sie gehörten zu den wichtigsten rechtsvergleichenden Faktoren, die polnische Rechtslehre mitbeeinflußt und mitgestaltet haben. Allerdings diente die französische Gesetzgebung aus den Jahren 1871187S hauptsächlich als Vorbild für die Lösungen im Bereich des Staatsrechts in den ersten Momenten des wiedergegründeten polnischen Staates nach 19184. Parallel dazu fanden das Konzept der Demokratie von Rousseau und des Positivismus in der Version von Esmain ein besonders breites Echo. Vielleicht könnte man dies auf eine gewisse Ambivalenz zurückführen, die das Verhältnis zur deutschen Verfassungsrechtslehre und deutschen Erfahrungen in dieser Zeit unter den polnischen Spezialisten charakterisierte. Einerseits waren die Errungenschaften dieser Verfassungslehre - wie gesagt - gut bekannt und hochgeschätzt. Andererseits jedoch gab es sicherlich auch Distanz ihnen gegenüber auf Grund der Tatsache, daß es sich bei dem öffentlichen Recht um eine der Mächte handelte, die Polen geteilt haben. Man kann also über besondere französische Einflüsse sprechen, die jedoch andere nicht ausgeschlossen haben. Zwei Beispiele können eine gewisse Relativität dieser Einschätzung plastischer schildern. Erstens, bereits im Jahr 1923 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz über Zivildienst, welches eine Kopie des preußischen Gesetzes aus dem 19. Jahrhundert war. Zweitens, das österreichische Verwaltungsverfahrensgesetzbuch aus dem Jahre 1925 war dagegen ein Vorbild für das polnische Gesetz, das 1928 in Kraft getreten ist. Die Zeit nach der Verabschiedung des Grundgesetzes gibt uns das Bild einer weitgehenden Evolution, bei der es sich um beinahe alle Aspekte un3

R. Schnur, Einflüsse des deutschen und des österreichischen Rechts in Polen, in: Schriftlehre der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin-New York 1985, Heft 95. 4 Vgl. W. Komarnicki, Ustroj panstwowy Polski wspoiczesnej (Die staatliche Ordnung des gegenwärtigen Polens), Wilno 1937, S. 64 ff.

158

Zdzislaw Kedzia

seres Themas handelt. Auf ihre Tendenzen und Ausdrucksformen werden diese Ausführungen noch oft Bezug nehmen. Dieser allgemeine Hinweis scheint jedoch hier zweckmäßig zu sein, weil diese Evolution eins von den Hauptmerkmalen der Beziehungen zwischen der polnischen und der bundesdeutschen Verfassungslehre ist. Wie lang der Weg ist, der bereits zurückgelegt wurde, zeigt die Tatsache, daß der Ausgangspunkt die weitgehende Unvergleichbarkeit beider Verfassungsordnungen und fast das Fehlen von Kommunikation war. Beide Verfassungen wurden als zwei entgegengesetzte Pole gesehen, und wenigstens teilweise mit Recht. Diese vieldimensionale Entfernung der Nachbarn war durch zwei grundlegende Faktoren verursacht. Erstens, der Kalte Krieg führte doch zur Abgrenzung, zu gewisser ideologischer Abgrenzung, die sich auch in gegenseitigem Mißtrauen ausdrückte. Zweitens, eine bedeutende Distanz resultierte vermutlich auch aus den nicht weit entfernten Erinnerungen an den „heißen Krieg". Heute stellt sich die Lage sehr verändert dar. Sie zu schildern ist der Zweck dieses Berichts. Der Darstellung unseres Themas soll folgende Systematisierung dienen: 1. die Infrastruktur, 2. die Rolle des Grundgesetzes und der bundesdeutschen Verfassungsrechtslehre, 3. die neueste verfassungsrechtliche Entwicklung in Polen - der Vergleich mit den Institutionen der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland.

II. Infrastruktur Unter dem Begriff „Infrastruktur" verstehe ich hier folgende Faktoren: 1. der Zugang zur Information, 2. personelle und institutionelle Kontakte, 3. Aufnahmevermögen des gegebenen Rechtssystems und Vergleichbarkeit der Verfassungsentwicklung. Wenn wir das Jahr der Geburt des Grundgesetzes als Zäsur nehmen, können zwei Etappen hinsichtlich des Zugangs zur Information über das Verfassungsrecht der Bundesrepublik in Polen prinzipiell unterschieden werden. In der ersten: 1949-1956 - war der Zugang entschieden erschwert. Nichtsdestoweniger wurde das Grundgesetz zum ersten Male bereits 1950 ins Polnische übersetzt und durch das Institut für Internationale Angelegenheiten veröffentlicht. Seit der politischen Wende 1965 verbesserte sich die Lage, und dieser Prozeß wurde nach dem Vertrag aus dem Jahre 1970 über die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und

Das Grundgesetz — Bericht

en

159

der Bundesrepublik weiterhin intensiviert 1971 erschien das GG zum zweiten Mal im Rahmen einer Sammlung der Verfassungen, die durch das Institut für Staat und Recht der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde. Vor einigen Tagen hat eine neue Übersetzung des GG die Druckerei verlassen. Diese Ausgabe scheint besonders wertvoll zu sein. Sie enthält beide Fassungen - die deutsche und die polnische. Alle Novellen sind durch spezielle Schriftart markiert. Das umfangreiche Vorwort und die Übersetzung sowie die Redaktion stammen vom bekannten Kenner des deutschen Rechts - Prof. L. Janicki5. Erhältlich im Lande sind gegenwärtig nicht nur die Rechtsquellen, sondern auch die Rechtsprechung der Gerichte, darunter des Bundesverfassungsgerichts, Stenographische Berichte des Parlaments und Drucksachen. Über die beste Sammlung auf diesem Gebiet verfügt sicherlich das Westinstitut in Poznan und die Parlamentsbibliothek. Viele Universitätsbibliotheken besitzen auch zahlreiche Materialien und Quellen. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß eine komplexe Darstellung des Verfassungsrechts der Bundesrepublik im Rahmen einer Monographie dieses Landes vom Prof. Κ. M. Pospieszalski bereits 1965 geschrieben wurde6. Seitdem ist eine stets steigende, heutzutage kann man sagen gewaltige Anzahl von Beiträgen und Monographien über das bundesdeutsche Verfassungsrecht und die Verfassungslehre dieses Landes von polnischen Autoren veröffentlicht worden. Die grundlegenden Züge der Rechtsentwicklung werden systematisch kommentiert. Vor kurzem erschien eine sehr umfangreiche Monographie „Die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland"7. Ähnlich findet man in den theoretischen Werken und 5 Ustawa Zasadnicza RFN ζ 23. V.1949 - Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949, Redaktion und Einführung - L. Janicki, Poznan 1989. 6 Monografìa Niemiec Wsoiczesnych - NRF (Die Monographie des gegenwältigen Deutschlands - BRD), Redaktion - Κ. M. Pospieszalski und J. Zioikowski, Poznan 1965. 7 Ustroj panstwowy Republiki Federalnej Niemiec, Hrsg. L. Janicki unter Mitwirkung M. Sobolewski, Instytut Zachodny (Westinstitut), Poznan 1989; unter den in der polnischen Sprache veröffentlichten Monographien, die der Rechtsordnung der Bundesrepublik gewidmet sind, sind hier folgende zu nennen: L. Garlicki, Parlament a rzad w Republice Federalnej Niemiec (Parlament und Regierung in der Bundesrepublik Deutschland), Wroclwa 1978; ders., Ustroj polityczny Republiki Federalnej Niemiec (Die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland), Warszawa 1985; W. M. Goralski, Wykiadnia ustaw w dziaialnosci Zwiazkowego Trybunalu Konstytucyjnego (Die Gesetzesauslegung in der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts), Wrociaw 1976; ders., Zwiazki zawodowe w RFN (Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland), Warszawa 1982; L. Janicki, Partie polityczne w systeme prawnym Republiki Federalnej Niemiec (Die politischen Parteien in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland), Poznan 1975; ders., Republika Federalna Niemiec wobec terytorialnych nastepstw kleski i upadku Rzeszy. Zagadnienia prawne (Die Bundesrepublik Deutschland gegenüber den territorialen Folgen der Niederlage und des Zusammenbruchs des Reiches, Rechtliche Fragen), 2. Aufl., Poznan 1986; J. Janiszewski, System wyborczy RFN (Die

160

Zdzislaw Kedzia

Quellensammlungen, die sich nicht ausschließlich auf die Bundesrepublik konzentrieren, in der Regel Referenzen an ihr Recht und ihre Lehre8. Eine Analyse des Schrifttums führt zu dem Verzicht auf einen Versuch der thematischen Kategorisierung der erwähnten Veröffentlichungen. Sie beziehen sich praktisch auf das ganze Gebiet des Staatsrechts. Es verdient auch vermerkt zu werden, daß zahlreiche deutsche Professoren ihre Beiträge in den polnischen Zeitschriften veröffentlichen. Vor einigen Jahren präsentierten die Verwaltungsrechtler dem polnischen Leser einen Sammelband, welcher vom Institut für Staat und Recht der Polnischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde9. Personelle und institutionelle Kontakte blieben anfänglich - nach 1949 fast vollständig aus. In dieser Hinsicht hat die Wende des Jahres 1956 auch einen neuen Abschnitt eröffnet. Aber erst die 70er Jahre brachten sozusagen eine Blütezeit von Kontakten verschiedener Art. Viele Forscher und Stipendiaten fuhren zu beinahe allen Universitäten in der Bundesrepublik. Zahlreiche deutsche Professoren und Studenten besuchten Polen. Das Fehlen von Kontakten oder ihre Beschränkung wollte man so schnell wie möglich ausgleichen. Dies hat eine sehr wichtige Rolle nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft gespielt, sondern auch generell in den Beziehungen beider Nationen. Die Bedeutung dieser zweiten Dimension ist zu offensichtlich, um besonders betont zu werden. Parallel entwickelten sich bilaterale, mehr institutionalisierte Kontakte. Eine ständige Zusammenarbeit in verschiedenen Formen wurde gegründet. Bahnbrechend war hier die Initiative der Professoren Rudolf Bernhardt, Jost Delbrück, Ingo von Münch und Walter Rudolf auf der deutschen Seite und Adam Lopatka und Krzysztof Skubiszewski auf der polnischen. Es handelt Wahlordnung der BRD), Torun 1982; Ζ. A. Maciag, System paityjny Republiki Federalnej Niemiec (Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland), Warszawa 1979; K. Nowak, NRF - zagadnienia polityczno-ustrojowe (Die BRD - Fragen der politischen Ordnung), Warszawa 1967; L. Lukaszuk, Panstwo a gospodarka w RFN (Staat und Wirtschaft in der BRD), Poznan 1973; J. Rotko, Ochrona srodowiska w prawie konstytucyjnym Republiki Federalnej Niemiec (Der Umweltschutz in dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland), Warszawa 1988 (Dissertation); J. Sulek, Geneza Republiki Federalnej Niemiec (Die Genesis der Bundesrepublik Deutschland), Poznan 1976; E. Zwierzchowski, Prawnoustrojowie stanewisko kanclera RFN (Die staatsrechtliche Stellung des Bundeskanzlers), Katowice 1972. 8 Zu den neuesten Beispielen gehören hier: Die Monographie „Rzecznik Praw ObywatelskichM (Der Grundrechte-Fürsprecher), Hrsg. L. Garlicki, Warszawa 1989, mit dem Kapitel Z. Kedzia, Peinomocnik Parlamentu Zwiazkowego dia Sprwa Wojskowych (Der Wehrbeauftragte des Bundestages), S. 104 ff.; das parlamentarische Dossier: L. Wisniewski, Wolnosc zrzeszania sie (Vereinigungsfreiheit), Kancelaria Sejmu (Sejms Kanzelei), Warszawa 1989 - diese Sammlung enthält auch die deutschen Regelungen; sie wurde vor allem den Abgeordneten im Zusammenhang mit der Diskussion über das neue Vereinsrecht zugeliefert. 9 Administracja Republiki Federalnej Niemiec (Die Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland), Hrsg. J. Letowski und J. Ρ. Pruszynski, 1983.

Das Grundgesetz — Bericht

en

161

sich um eine Kolloquienreihe der Öffentlichrechtler, die mit dem Treffen in Bad Gummersbach 1972 begonnen wurde. Sie wird bis heute durch die beiden ehemaligen institutionellen Partner in regelmäßigen Zeitabschnitten fortgesetzt, d.h. durch das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und das Institut für Staat und Recht der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Noch zu Anfang der achtziger Jahre waren die Kolloquien als Kolloquien der Juristen aus der Bundesrepublik und Polen schlicht mit der entsprechenden Ziffer bezeichnet. Jetzt aber ist diese Benennung auf keinen Fall mehr ausreichend. Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Wirtschafts- aber auch Verfassungsrechtler treffen sich auf eigenen Konferenzen. Darunter verdient die Tagung über die Verfassungsgerichtsbarkeit, organisiert in Köln 1985 vom Prof. Klaus Stern, angesichts unseres Themas speziell erwähnt zu werden. Der Begriff „Aufnahmevermögen44 verlangt eine Erläuterung. Es ist verständlich, daß wir von einer Entwicklung erst dann sprechen können, wenn ihr potentieller Adressat einerseits bereit ist, sie zu akzeptieren, mit anderen Worten zuzulassen, andererseits aber, wenn die der Einwirkung unterliegende Materie Eigenschaften aufweist, die sie objektiv möglich machen. In unserem Fall bedeutet die zweite Bedingung vor allem eine genügende Vergleichbarkeit beider Verfassungsordnungen und Rechtssysteme. Die „Zulassungsbereitschaft" wies im Verlauf der Zeit eine steigende Tendenz auf, parallel zu der Entwicklung der Kontakte und der Zusammenarbeit. In der Zeit des Kalten Krieges war irgendein Bezug auf die Erfahrung der anderen Seite praktisch so gut wie ausgeschlossen. Später kam immer mehr und mehr der Gedanke zum Ausdruck, daß die Kenntnisse unterschiedlicher Erfahrungen fruchtbar sein könnten, erst unter dem Etikett, daß man fremde Lösungen mit „eigenem Klasseninhalt" erfüllen muß, später als einfache Darstellung von Möglichkeiten bis zur Neigung zur offenen Erörterung, was, in welchem Umfang, unter welchen Bedingungen der Adaptation für die eigene Rechtsordnung nützlich sein könnte. Anfänglich war auch die Vergleichbarkeit des öffentlichen Rechts beider Staaten sehr beschränkt, wie bereits erwähnt wurde. Die zweite Hälfte der 50er Jahre brachte jedoch erste Änderungen im polnischen Verfassungsrecht und der Verfassungslehre, die die Diskussion teilweise erleichterten. Erst die Gründung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahre 1980 eröffnete jedoch einen neuen Horizont im öffentlichen Recht in Polen, den man als Justizialisierung dieses Rechtsbereiches bezeichnen kann. Lassen Sie mich nur noch auf die Gründung des Staatsgerichtshofs (impeachment court) 1982, des Verfassungsgerichtshofs 1986 und des Grundrechts-Fürsprechers (Ombudsmann) 1988, die Unterwerfung des Wahlvorganges unter die Kon11 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

162

Zdzislaw Kedzia

trolle des Obersten Gerichts hinweisen. Symptomatisch war hier das Juristenkolloquium 1984 in München. Wenn unsere deutschen Kollegen uns immer aufs neue und mit Recht in den siebziger Jahren beibringen wollten, daß ein demokratischer Rechtsstaat ohne die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung schlicht unvorstellbar ist, so gab es während des genannten Kolloquiums auch Stimmen, die sich hinsichtlich der enthusiastischen Darstellung der jungen polnischen Erfahrungen auf die Gefahren der zu weit gehenden gerichtlichen Kontrolle konzentriert haben.

ΠΙ. Die Rolle des Grundgesetzes und der Verfassungsrechtslehre Die Einwirkung einer Verfassung auf eine andere kann direkt oder indirekt erfolgen. Im ersten Fall haben wir es mit der Berufung auf eine bestimmte Verfassung bzw. mit einer eindeutigen Rezeption zu tun. Im zweiten Fall wird die Verfassungsentwicklung im anderen Land auf einem mittelbaren Wege beeinflußt. Dies kommt durch den Beitrag der gegebenen Verfassung (Verfassungslehre) zu der universellen Verfassungsrechtslehre zustande, die wiederum das andere Rechtssystem beeinflußt. Selbstverständlich ist zwischen beiden Formen in der Praxis schwer zu unterscheiden. Diese methodologische Differenzierung hilft aber den Forschungsgegenstand umfangreicher zu sehen, d. h. nach der Herkunft derjenigen Ideen und Konstruktionen zu forschen, die man generell als universelles Gedankengut betrachtet. Wer von einer Einwirkung der Verfassung im Sinne des Verhältnisses zwischen den Texten beider diskutierter Verfassungen (d. h. der polnischen und bundesdeutschen) sprechen wollte, hätte bis jetzt nicht allzuviel Material für eine Analyse gehabt Die Verabschiedung der Verfassung der VRP 1952, dann ihre Novellierungen von 1957, 1976 und 1980 enthielten keine Referenzen an das GG. Für die polnische Verfassung von 1952 war eigentlich die UDSSR-Verfassung von 1936 Vorbild, was leicht zu beweisen ist Es handelt sich also um eine stalinistische Verfassung - diese Bezeichnung wurde übrigens zu dieser Zeit eher als Lob und nicht als Kritik betrachtet. Für die umfangreiche Novellierung der Verfassung 1976 könnte man dagegen Vorbilder auch in den Verfassungen anderer sozialistischer Staaten suchen, insbesondere hinsichtlich der Einführung des Prinzips der leitenden Rolle der Kommunistischen Partei in die Verfassung. Es scheint also, daß eine Beschränkung auf die Vergleichung der Verfassung im formellen Sinn im Rahmen dieser Untersuchung besonders verfehlt wäre. Das GG läßt sich auch ohne Referenzen an die Rechtsprechung des

Das Grundgesetz— Bericht

en

163

BVerfG kaum analysieren. Wenn aber die Verfassungsrechtsprechung mitberücksichtigt werden sollte, kann dies wieder ohne Einbeziehung der Lehre eigentlich nicht geschehen. Die Auslegung und auf diesem Wege Fortentwicklung des GG wird im wesentlichen Teil durch die Lehre, inbesondere durch die Anschauungen, die die sog. herrschende Lehre bilden, vorbereitet und befürwortet. Im Endergebnis werden sich weitere Bemerkungen durch einen integralen Ansatz auszeichnen, der die Berücksichtigung sowohl der Verfassung im formellen und materiellen Sinne als auch der Rechtsprechung und der Lehre voraussetzt Die Lektüre des polnischen Schrifttums zeigt, daß es auf jeden Fall folgende Bestandteile des Grundgesetzes und der bundesdeutschen Theorie als Beitrag zu der universellen Verfassungslehre betrachtet: 1. das Konzept des sozialen Rechtsstaates, 2. das ausgebaute System der Rechtspflege mit der besonderen Form der Verfassungsgerichtsbarkeit, die den Zugang des Einzelnen im breiten Umfang vorsieht (insbesondere die Verfassungsbeschwerde), 3. das verfassungsmäßige Konzept der Grundrechte, 4. das naturrechtliche Element als unantastbarer Bestandteil des Verfassungslebens, 5. die Einführung der Kollisionsnormen in die geschriebene Verfassung. Im polnischen Fachschrifttum werden auch andere im GG enthaltene Konzepte vom Standpunkt eventueller Brauchbarkeit hier untersucht. Diese sind noch später zu erwähnen. Die Idee des sozialen Rechtsstaates wird als eine neoliberale Konzeption des gegenwärtigen Staatswesens und zugleich als ein originärer Ausdruck des „welfare state" angesehen. In diesem Kontext hat K. Loewenstein wohl mit Recht geschrieben, daß das GG zu den ideologisch bestimmten Verfassungen gehört, die die früheren utilitären Verfassungen in vielen Länden ersetzt haben10. Die so oft im deutschen Schrifttum diskutierten Spannungen zwischen Freiheit einerseits und Gleichheit und sozialer Klausel andererseits, zwischen Freiheit und Demokratie, wurden früher mit gewisser Distanz von vielen polnischen Autoren betrachtet. Der Glaube herrschte, daß diese Spannungsverhältnisse, typisch für die andere soziale Ordnung, im Rahmen der eigenen endgültig überwunden worden seien. Heute wird jedoch die Frage der sozialen Funktionen des Staates aufs neue diskutiert, und zwar im Zusammenhang mit der durch eigene Erfahrungen bestätigten These Tocquevilles, daß ein Versorgungsobhutsstaat leicht zu einem Obrigkeitsstaat wird. Dieser hier angedeutete liberale Ansatz ist jetzt nicht selten zu treffen. Eins der am meisten einleuchtenden Beispiele, das indirekt diese Materie betrifft, liefert das Urteil des HVG vom 20.7.1981, wo es heißt: „Das er10

11 *

Siehe K. Loewenstein, Die Verfassungslehre, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 147.

164

Zdzislaw Kedzia

wähnte Prinzip (über Pflichten der Bürger dürfen ausschließlich die Gesetzesvorschriften bestimmen) findet eine entsprechende Anwendung bei Verwaltungsentscheidungen, die Rechte einräumen, denn eine verwaltungsmäßige Berechtigung trägt einen relativen und sekundären Charakter in dem Sinne, daß sie eine Folgeerscheinung der primären Unterwerfung eines Lebensbereiches unter eine rechtliche Reglementierung bleibt."11 Natürlich kann diese Betonung des liberalen Ansatzes nicht als gleichbedeutend mit einer vollständigen Abkehr von der sozialen Perspektive gesehen werden. Es handelt sich eher um ein Streben nach harmonischem Gleichgewicht, sozusagen nach einem Ausgleich nach einer Periode, die durch eine gewisse Geringschätzung der individuellen Freiheit und Verantwortung und gleichzeitige Verabsolutierung der auf vereinfachte, wenn nicht primitive Art und Weise verstandenen Gleichheit und des Sozialen gekennzeichnet war. Es scheint dagegen, daß in der potentiellen Spannung zwischen den erwähnten Werten mehr ein kreativer als ein destruktiver Faktor gesehen wird. In den letzten Jahren kann man im Schrifttum mancher östlicher Länder häufiger als je zuvor den Begriff „Rechtsstaat" treffen. Er wird sogar in der Sprache der Politik gebraucht. Die polnische Sprache kennt aber einen eigenen Begriff, und zwar „das Regieren des Rechts" (rule of law?). Weil der Inhalt eigentlich derselbe bleibt, werde ich den Begriff „Rechtsstaat" benutzen. Man kann den Eindruck gewinnen, daß, wenn man die gegenwärtige polnische Fachliteratur studiert, „Rechtsstaat" vor allem im formellen Sinne verstanden wird. Seit einiger Zeit legt man nämlich das Gewicht auf die institutionellen Einrichtungen, die die rechtliche Stellung des Einzelnen und die Beobachtung des Rechts im objektiven Sinne gewährleisten sollen. Die langjährige Schwäche bzw. das Fehlen dieser Einrichtungen schafft Grund für den Versuch, Jellineks Statuslehre - wie dies Professor Häberle so bildhaft ausdrückte - vom absolutistischen Kopf auf die demokratischen Beine zu stellen und dem Bürger einen status activus processualis zu gewähren 12. Man darf aber nicht vergessen, daß nach 1956, im Rahmen des damaligen „politischen Frühlings", eine Diskussion in Polen stattfand, die u.a. das Verhältnis zwischen dem materiellen und formellen Verständnis des Rechtsstaates umfaßte. Ihr Ergebnis war die herrschende Auffassung, daß der Inhalt des Rechts zu den konstitutiven Elementen des Rechtsstaates gehört. 11 Das Urteil vom 20.7.1981 - SA 805/81 in: Orzecznictwo Naczelnego Sadu Administracyjnego (Die Rechtsprechung des Hauptverwaltungsgerichts), 1981, Nr. 2, Pos. 70. 12 P. Häberle, Grundrecht im Leistungsstaat, WDStRL, Heft 30, Beilin-New York 1972, S. 88 ff.

Das Grundgesetz — Bericht Polen

165

Es genügt also nicht, daß die Rechtsnormen beobachtet werden. Sie müssen auch wenigstens ein Minimum von humanistischen Werten schützen. Natürlich divergierten die Vorstellungen hinsichtlich des Inhalts und Umfangs dieser Werte. Heute sind gewisse Parallelen zwischen der Diskussion in Polen und in der Bundesrepublik in diesem Zusammenhang zu ziehen. Diese Bemerkung betrifft insbesondere die Verankerung der menschlichen Würde und die Entwicklung der Persönlichkeit im Gefüge der zentralen Werte, die das ganze Rechtssystem und das Gefüge des Staates durchdringen sollen. Das Streben, den formellen Rechtsstaat auszubauen, hat u. a. zu der Entstehung der früher erwähnten Institutionen geführt (des HVG, des Verfassungsgerichtshofs, des Grundrechte-Fürsprechers). Generell kann man sagen, daß die deutschen zu denjenigen Erfahrungen gehörten, die bei der Erarbeitung der entsprechenden Gesetzesentwürfe am häufigsten in Betracht gezogen waren. Die angenommenen Lösungen weisen jedoch neben Ähnlichkeiten zu denjenigen der Bundesrepublik auch besondere Eigenschaften auf. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit kennt - nach dem Vorbild aus der Zeit vor 1939 - nur eine Instanz. Die Zuständigkeit des Gerichts wurde nach dem Enumerativprinzip festgelegt. Obwohl die Änderung dieses Prinzips und die Einführung der generellen Zuständigkeit in der nächsten Zukunft zu erwarten ist, hat die Rechtsprechung des HVG eine fundamentale Bedeutung für die Rekonstruktion des öffentlichen Rechts gehabt. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, daß das Gericht auch den Weg für die Verfassungsgerichtsbarkeit geebnet hat. Diese Bemerkung betrifft die politische Atmosphäre rund um die Rechtsprechung im Bereich des öffentlichen Rechts. Wie es scheint, kann man hier gewisse Parallelen zwischen der deutschen und polnischen Entwicklung finden. Das Hauptverwaltungsgericht war auch das Gericht, das die Verfassung zum ersten Mal direkt angewandt hat. Es bediente sich dabei mit dem in der deutschen Rechtslehre ausgearbeiteten Konzept der verfassungskonformen Gesetzesauslegung, ohne dies ausdrücklich zu nennen, was jedoch das Schrifttum tut13. Dieses Gericht hat nämlich kein Recht, die Verfassungsmäßigkeit des Rechts zu prüfen. Als der Verfassungsgerichtshof noch nicht existierte, wagte das Hauptverwaltungsgericht, aus der Verfassung ein lebendiges Recht im Gerichtsverfahren zu machen, auf dem eben beschriebenen Wege. Ungefähr 13-14 Tausend Klagen erreichen das HVG jährlich. 13 Das Gericht hat damals aus dem Gleichheitssatz der Verfassung das subjektive Recht auf gleiche Behandlung abgeleitet - das Urteil vom 26.10.1984 - II SA 1161/84, in: Prawo i Zycie (Recht und Leben) vom 13.7.1985.

166

Zdzislaw Kedzia

Bereits in den ersten Jahren hat das Gericht über sehr strittige, für das ganze Rechtssystem wichtige, häufig politisch sehr relevante Fragen entschieden. Der Verfassungsgerichtshof läßt sich nicht einfach unter die Typen einordnen, welche der französische Conseil Constitutionel und das Bundesverfassungsgericht darstellen. Der polnische Gerichtshof ist ein selbständiges Organ, das außerhalb des Systems der ordentlichen Gerichte steht. Er übt die abstrakte und konkrete Normenkontrolle aus, d. h. er handelt auf Antrag der befugten Organe bzw. Organisationen oder auf die Frage, die im Zusammenhang mit dem laufenden Verfahren gestellt wird. Trotz der Stimmen, die mit dem Hinweis auf die bundesdeutschen Erfahrungen eine Verfassungsbeschwerde verlangten, wurde sie nicht eingeführt. Der Verfassungsgerichtshof hat dagegen das Recht, auf eigene Initiative Verfahren einzuleiten, und zwar auf Antrag seines Präsidenten. Er tut es u. a. auf Grund der Anträge, Beschwerden und Briefe, die von den Bürgern stammen. Der Verfassungsgerichtshof hat auch eine besondere Eigenschaft, die einen Kompromiß zwischen dem Willen, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Rechts einzuführen, und der Lehre über die höchste Stellung des Parlaments unter den staatlichen Organen darstellt. Hinsichtlich der Gesetze ist der Verfassungsgerichtshof zuständig, ihre Verfassungswidrigkeit ausschließlich festzustellen. Eine Entscheidung solcher Art hat jedoch keine endgültige Bedeutung. Sie muß - im Gegensatz zu anderen Gerichtshofsentscheidungen - dem rechtssetzenden Oigan, d. h. dem Sejm vorgelegt werden, das sie mit der Mehrheit und dem Quorum, die andererseits für die Änderung der Verfassung vorgesehen sind, ablehnen darf. Infolge der letzten Verfassungsnovellierung, die vor einigen Tagen verabschiedet wurde (am 7. April), hat sich jedoch die Beurteilung dieser Frage geändert. Das Prinzip der Teilung der Gewalten wurde in die polnische Verfassung nach Jahrzehnten implicite wiedereingeführt, was aber bis jetzt keine Modifizierung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofs nach sich gezogen hat Das Hauptargument gegen die Kompetenz des Gerichts, ein Gesetz als verfassungswidrig rechtskräftig und endgültig erklären zu dürfen, ist aber weggefallen. Während der Diskussion über die Errichtung eines Ombudsmannamtes hat man ähnliche Zweifel erhoben wie in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik. Die gesellschaftlichen Erwartungen waren jedoch eindeutig, und der Grundrechte-Fürsprecher verfügt über Kompetenzen, die sehr weit gehen. Er kann aus eigener Initiative und aufgrund der Beschwerden von Bürgern handeln. Das Prinzip der actio popularis gilt ebenso. Seine Kompetenzen hinsichtlich der Teilnahme an verschiedenen Verfahren (vor Gerichten und Verwaltungsorganen) sind auch sehr weit gezogen. Vielleicht ist

Das Grundgesetz — Bericht Polen

167

dies auch einer von den Gründen, die zu der riesigen Anzahl von Beschwerden geführt haben. Über 50.000 erreichten den Fürsprecher innerhalb der ersten 12 Monate seiner Amtszeit Das für das Grundgesetz eigene Konzept der Grundrechte bildete oft Gegenstand der Analyse im polnischen Fachschrifttum. Besondere Aufmerksamkeit weckt die Voraussetzung, nach der die Grundrechte den Ausgangspunkt, den Maßstab für die Konstruktion des ganzen Verfassungslebens darstellen. Die Idee, auf diesem Wege die Wertordnung in die Verfassung einzubauen, wird in der heutigen Diskussion über die Verfassungsreform in Polen oft vertreten. Die Teilnehmer an dieser Diskussion berufen sich dabei gerne auf das Beispiel des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des BVerfGs. Niemand wird auch durch die Auffassung K. Loewensteins gestört, daß Probleme der Grundrechte im GG eine Quadratur des Zirkels darstellen.14 Eine verhältnismäßig große Anzahl von Aufsätzen und Berichten ist den theoretischen Fragen bzw. dem normativen Gehalt der einzelnen Grundrechte im GG gewidmet Das deutsche Schrifttum und die Rechtsprechung, insbesondere die des Bundesverfassungsgerichts, zählen zu den am häufigsten berufenen Quellen. Folgende, durch die deutsche Rechtstheorie erarbeiteten Konzepte finden besondere Aufmerksamkeit: a) die Dogmatik der Grundrechte in der Diskussion über die Justizialisierung der Verfassung, b) die Funktionen der Grundrechte als subjektive Rechte und Elemente der objektiven Rechtsordnung, c) die Drittwirkungstheorie - im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, der bereits im ersten Urteil das Gleichheitsprinzip für die Beziehungen unter den Privaten angewandt hat15 - es scheint, daß Dürigs Theorie über die mittelbare Drittwirkung viele Anhänger findet, d) die Gesetzesvorbehaltslehre in der Diskussion über die Absolutierung der Grundrechte und die damit verbundene Frage der Form ihrer Regelung. Auf deutsche wissenschaftliche Befunde und rechtliche Regelungen wird Bezug auch in der Debatte über die Struktur der verfassungsmäßigen Wertordnung genommen. In diesem Rahmen werden die Funktionen der Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, der Subsidiarität, die Wesensgehaltsgarantie als verfassungsmäßige Kollisionsnormen mit besonderem Interesse verfolgt 16. 14

Loewenstein (Fn. 10), S. 341. Vgl. Urteil vom 5.11.1986-U.5/86,in: Orzeczmcotwo Trybunalu Konstytucyjnego (Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs), 1986, S. 7 ff. 16 Die Studien über die RoUe der Kollisionsnormen in der Verfassungsauslegung im Kontext der deutschen Erfahrungen werden vor allem von den Dozenten der Warschauer Universität Dr. M. Wyrzykowski getragen. 15

168

Zdzislaw Kedzia

Viel Platz in den Erwägungen über die Grundrechte nimmt die Frage ihrer Garanten ein. Der bereits angedeutete Streit über die Einführung der Verfassungsbeschwerde scheint derzeit gute Aussichten für die Befürworter dieser Institution zu haben. Darauf weist wenigstens die wachsende Zahl ihrer Anhänger auch unter den Richtern des Verfassungsgerichtshofs hin. Charakteristisch jedoch ist es, daß sowohl die Anhänger als auch die Gegner dieses Schrittes nach Argumenten vor allem in den deutschen Erfahrungen suchen. Für die Auslegung der Grundrechte, aber auch für die Rekonstruktion ihrer Entwicklungstendenzen, sind die in der deutschen Rechtslehre (u. a. von Prof. E.-W. Böckenförde, E. Friesenhahn) entwickelten Theorien der Interpretation der Grundrechte (liberale, institutionelle, wertbezogene, demokratisch-funktionelle, soziale) auch in Polen eines von den hilfreichen Werkzeugen der Analyse. Die Idee des Naturrechts hat immer Anhänger in Polen gehabt. In den letzten Jahren bekennen sich besonders viele Forscher mehr oder weniger eindeutig zu ihr. Sicherlich kann man von einer Art Reaktion auf den jahrelang herrschenden, in der sog. offiziellen Lehre vereinfachten Positivismus sprechen. Dies ist aber auch an die Suche nach den äußeren, wie man hofft objektiven, Kriterien für die Beurteilung der eigenen staatlichen Ordnung, darunter der verfassungsmäßigen Rechte, gebunden. Dabei sind neben dem amerikanischen der deutsche Naturrechtsgedanke und insbesondere die Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 1, 2, 20, 79) die Quelle, an die sich polnische Autoren gern wenden17. Seit langem diskutiert man im wissenschaftlichen Milieu über die Stellung der völkerrechtlichen Verträge in der Hierarchie der Rechtsquellen in Polen18. Nach der überwiegenden Meinung galten diese Verträge ex proprio vizore, wenn sie nicht unter der früheren Regelung (in den Jahren 1921-39 und bis 1947) transformiert wurden, bzw. das Gesetz auf sie nicht verwies. Vor allem wegen der mangelnden Bestimmtheit dieses Konzepts weigerten sich jedoch die Richter, es anzuwenden. Unter diesen Umständen forderten sowohl Völker- als auch Staatsrechtler, die Stellung der internationalen Verträge in der Hierarchie der Rechtsquellen formell zu bestimmen. Vor zwei Jahren hat das oberste Gericht das Wort ergriffen. Die Entscheidung war leider enttäuschend. Das Gericht stellt nämlich fest, daß die internationalen Verträge - wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt - im Bereich des 17 Bereits vor Jahren beschäftigte sich damit u. a. Prof. M. Sobolewski, heute ein jüngerer Wissenschaftler Dr. J. Zajadio. 18 Vgl. vor allem zahlreiche Arbeiten über das Verhältnis Völkerrecht-Landesrecht, auch hinsichtlich der innerstaatlichen Geltung der Menschenrechtsverträge, von Prof. K. Skubiszewski.

Das Grundgesetz — Bericht Polen

169

inneren Rechts nicht angewandt werden dürfen. Infolgedessen verstärkten sich die Stimmen, die eine Verfassungsregelung über die direkte Anwendung des Völkerrechts im Bereich des Landesrechts verlangen. In der Diskussion über die möglichen Lösungen wird auch der Art 25 des GG genannt, obwohl man Zweifel haben kann, ob diese Vorschrift immer richtig interpretiert wird. Es passiert nämlich manchmal, daß man den Begriff „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts" auf alle internationalen Verträge beziehen will. Der politische Mechanismus Polens befindet sich zur Zeit sozusagen im Umbau bzw. erfährt eine Neugestaltung. Nicht nur die Existenz der Opposition wurde anerkannt, sondern auch ihre Tätigkeit wurde rechtlich zugelassen. Im Rahmen dieses Prozesses, der ebenso durch die allmähliche Abkehr von der Konzeption der leitenden Rolle der kommunistischen Partei markiert ist, wird nach einer Regelung gesucht, die u. a. in Form einer Verfassungsnorm demokratische Grundlagen des Parteiensystems statuieren könnte. Die Bundesrepublik ist bestimmt ein Land, das eine besondere, obwohl nicht immer durch die östlichen Länder gelobte Erfahrung in diesem Bereich hat Die entsprechenden normativen Konstruktionen sowie Verfahren, die früher bereits studiert wurden19, bilden ein wichtiges rechtsvergleichendes Material. In diesem Teil der Erwägungen soll noch auf die Studien über die Rolle der Ausschüsse des Bundestages bei verschiedenen Regierungsvorhaben kurz hingewiesen werden. Diese Untersuchungen wurden in Polen unternommen, als man über die rechtliche Gestaltung der Sejmausschüsse in den siebziger Jahren diskutierte.

IV· Die Entwicklung des Staatsrechts in Polen Die Rechtsvergleichung, die Studien über das Verfassungsrecht anderer Staaten, darunter auch die Analyse der bundesdeutschen Verfassungslehre und des Grundgesetzes, gewinnen an besonderer Bedeutung im polnischen Schrifttum, gerade jetzt. Diese temporale Relativierung resultiert aus der Tatsache, daß man mit einer Verfassungsreform in Polen in der nächsten Zukunft rechnen muß. Entsprechende Forschungsprojekte befinden sich bereits im fortgeschrittenen Stadium. Nach allgemeiner Meinung soll die Reform eine neue Verfassung im doppelten Sinne bringen: Erstens, eine Novellierung (Verschönerung) der existierenden Verfassung schätzt man als ungenügend ein; es handelt sich also um die Verabschiedung einer neuent19

Vgl. zum Beispiel oben Fn. 7.

170

Zdzislaw Kedzia

worfenen Verfassung. Zweitens, die Verfassungsordnung soll auf neuen Prinzipien aufgebaut werden, die den Vorstellungen der Nation hinsichtlich der Gestalt des Gemeinschaftslebens entsprechen. Die Hauptpfeiler der neuen Verfassungsordnung sollen sein: der Schutz der Menschenrechte und -freiheiten, die Rechtsstaatlichkeit, soziale Sicherheit, pluralistische Demokratie, die Anlehnung der Wirtschaft an das freigestaltete Unternehmertum, an den Marktmechanismus, an das Prinzip der gleichen rechtlichen Stellung unterschiedlicher Subjekte des ökonomischen Lebens20. Die sehr schnelle politische Entwicklung erlaubte es jedoch nicht, mit der Anpassung der Verfassung und des Staatsrechts generell an die neuen Verhältnisse bis zu der Totalrevision der Verfassung zu warten. Die Gespräche zwischen der Regierungskoalition und der Opposition (Februar-März, bekannt als „Runder Tisch") haben doch Ideen und Entwürfe gebracht, die noch vor einigen Wochen, vielleicht Monaten, unvorstellbar waren und die sich in den Rahmen des bisherigen Verfassungsrechts nicht fassen lassen21. Am 7. April 1989 hat nun das Parlament eine tiefgreifende (obwohl nur fragmentarische) Novellierung der geltenden Verfassung verabschiedet und gleichzeitig eine Reihe von gesetzlichen Regelungen eingeführt 22. Auf diese jüngsten Vorgänge werden weitere Ausführungen zurückkommen23. Die Novelle brachte nicht nur fundamentale Änderungen in der Struktur der staatlichen Organe, sondern auch eine Neugestaltung der politischen Ordnung im allgemeinen. Wenn neue Lösungen in der ersten Hälfte der achtziger Jahre vor allem Organe der Rechtspflege umfaßten, betreffen sie heute fundamentale Institutionen der politischen Ordnung. Es soll auch hinzugefügt werden, daß sowohl Vertreter der Opposition als auch der Regierungskoalition erst vom Beginn des Prozesses reden, der eine Übergangsperiode zu einer vollen Demokratie öffnet, d. h. zum Beispiel, daß die nächsten Parlamentswahlen in vier Jahren völlig frei sein sollen. Solche graduelle Entwicklung soll einer Destabilisierung des Staatsgefüges entgegenwirken24. 20 Dies kann man sowohl aus den politischen Programmen, aus der Publizistik, als auch aus den bereits vorhandenen Ergebnissen der bisherigen Forschung über die Verfassungsreform entnehmen. 21 Porozumienia Okraglego Stolu. Warszawa 6 luty - 5 kwietnia 1989 (Obereinkünfte des Runden Tisches. Warschau 6. Febr. - 5. April 1989), Hrsg. NSZZ „Solidarnosc", Region Warminski-Mazurski 1989. 22 Vgl. insbesondere das Gesetz vom 7.4.1989 über die Änderung der Verfassung der Volksrepublik Polen, DzinnikUstaw (Dz. U. -Gesetzblatt) 19,1989, Pos. 101; die Wahlordnungen zum Sejm und Senat aus demselben Datum, Dz. U. 19,1989, Pos. 102 und 103. 23 Aus verschiedenen Gesprächen mit den Teilnehmern des Symposiums konnte der Verfasser entnehmen, daß dieses Thema ein besonderes Interesse erweckt. 24 Solcher Ansatz ist aus den früher erwähnten Beschlüssen des Runden Tisches zu entnehmen.

Das Grundgesetz — Bericht Polen

171

Die essentiellen Bestandteile dieser letzten Reform der Verfassung und des Staatsrechts kann man folgendermaßen stichwortartig zusammenfassen: 1. Der gesellschaftliche, politische und gewerkschaftliche Pluralismus wurde als Fundament des Staatsgefilges prinzipiell anerkannt. Dieses politische Faktum hat zwar bis jetzt expressis verbis keinen Niederschlag in der Verfassung gefunden. Es ist aber auf dem Wege der systematischen Analyse aus den Gesetzesnovellen und der Verfassungsänderungen abzulesen25; die Opposition, die bis jetzt nur durch einige Abgeordnete und informell im Parlament repräsentiert war, hat jetzt 35 % der Sitze im Sejm aufgrund der Vereinbarung am Runden Tisch und infolgedessen der Wahlordnung bekommen; die Wahlen zum Senat sind dagegen völlig frei; das Verbot der Gewerkschaft „Solidarität" wurde durch die Novellierung des Gewerkschaftsgesetzes aufgehoben und ebenso die gesetzlichen Grundlagen für die Gründung der Gewerkschaft der Landwirte geschaffen 26. 2. Man hat sich indirekt zur Lehre der Gewaltenteilung bekannt (im Gegensatz zur früher herrschenden Theorie der Einheitlichkeit der Staatsgewalt)27, worauf bereits hingewiesen wurde. 3. Das kollegiale Staatsoberhaupt wurde abgeschafft und das Amt des Staatspräsidenten errichtet28. 4. Die zweite Kammer des Parlaments - Senat - wurde ebensfalls wieder eingeführt 29. 5. Das neue Vereinsrecht hebt die Bewilligung des Staates als eine Vorbedingung der legalen Existenz eines Vereins auf. Dasfreiheitliche Vereinsrecht30 soll der Opposition die Möglichkeit bieten, sich offiziell und legal zu organisieren. Man erwartet jedoch, wie bereits erwähnt wurde, ein Parteiengesetz, welches das Parteiensystem auch formell neugestalten würde. 25 Außer den bereits vorgenommenen Novellierungen des geltenden Rechts soll hier auf die in der nächsten Zukunft erwarteten Änderungen des Presserechts und Zensurgesetzes hingewiesen werden. 26 Vgl. das Gesetz vom 7.4.1989 über die Änderung des Gesetzes über die Gewerkschaften. Dz. U. 20, 1989, Pos. 105; aus demselben Datum das Gesetz über die Gewerkschaften der individuellen Landwirte, Dz. U. 20,1989, Pos. 106. 27 Dieses Prinzip läßt sich aus den Verfassungsvorschriften herausinterpretieren, in welche ein System von check and balances aufgenommen wurde; vgl. vor allem Art. Art. 2,26,27,30, 31,32,32/a, b, c, d, e, f, g, h, i, 33/a, 33/b, 37, 60, 61. 28 Vgl. Art. 32 der Verfassung. 29 Vgl. Art. 28 und 29 der Verfassung. 30 Das Gesetz vom 7.4.1989 über „Vereinsrecht44, Dz. U. 20,1989, Pos. 104.

172

Zdzislaw Kedzia

6. Ausdrückliche Garantien der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter (Unabsetzbarkeit usw.) wurden in die Verfassung aufgenommen31. 7. Den rechtsökonomischen Rahmen für die politischen Institutionen sollen die Gesetze schaffen, welche die Einführung der Gleichberechtigung aller Eigentumsformen, des freien Unternehmertums und des Marktmechanismus als Prinzipien der Wirtschaftsordnung zum Ziel haben. Um das Bild, welches sich aus den vorangehenden Punkten ergibt, plastischer zu machen, wird der letzte Teil dieses Berichts zwei neue staatliche Verfassungsinstitutionen in groben Umrissen schildern. Die Institution des Grundrechts-Fürsprechers, die verfassungsmäßige Existenz jetzt erreicht hat, wird dagegen außer acht gelassen, weil die Verfassungsrevision keine neuen Elemente eingeführt hat (abgesehen von der Beteiligung des Senats bei der Wahl, wovon noch die Rede sein wird). Der Präsident ist - laut Art. 32 der Verfassung - der höchste Vertreter des Staates in den innerstaatlichen und internationalen Beziehungen. Er wacht über die Beachtung der Verfassung, über die Souveränität und Sicherheit des Staates, die Integrität seines Territoriums und die politischen und militärischen Bündnisse Polens. Man kann also sagen, daß der Präsident Garant der Stabilität und der evolutionären Entwicklung des staatlichen Lebens sein soll. In diesem Amt ist auch, wie es scheint, die Gewährleistung der internationalen Verpflichtungen des Landes zu sehen. Um die Erfüllung dieser sehr verantwortlichen Funktionen zu ermöglichen, wurde der Präsident mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattet. Zu den wichtigsten von ihnen gehören folgende: a) die Anordnung der Parlaments- und Kommunalwahlen; b) die Auflösung des Sejms (was mit der Auflösung des Senats gleichbedeutend ist), wenn er innerhalb von 3 Monaten nicht imstande ist, eine Regierung zu berufen oder den Haushalt bzw. den nationalen sozial-wirtschaftlichen Plan zu verabschieden. Der Sejm kann auch aufgelöst werden, wenn er einen Beschluß faßt, der dem Präsidenten die Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Rechte unmöglich macht, c) die Vorstellung des Kandidaten zum Premierminister gegenüber dem Sejm; der Antrag auf die Abberufung des Premierministers; dieselben Kompetenzen stehen dem Präsidenten hinsichtlich des Präsidenten der National Bank; der Präsident kann Staatsminister ernennen, die ihn im von ihm bestimmten Rahmen vertreten können;

31

Vgl. Ait. 60 und 61 der Verfassung.

Das Grundgesetz — Bericht Polen

173

d) die Gesetzgebungsinitiative; der Präsident unterzeichnet die Gesetze; vor der Unterzeichnung kann er sich an den Verfassungsgerichtshof mit dem Antrag auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes wenden; der Präsident kann die Unterzeichnung verweigern und innerhalb eines Monats das Gesetz mit einem begründeten Antrag zwecks einer wiederholten Überprüfung mit einer qualifizierten Mehrheit (zwei Drittel) und qualifizierten Quorum (die Hälfte der Gesamtzahl der Abgeordneten) rechtskräftig verabschieden; e) das Recht, auf Grund der Gesetze und zwecks ihrer Ausführung Verordnungen und Anordnungen zu erlassen; f) die hoheitliche Aufsicht über die lokalen Vertretungsorgane; g) er ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der Vorsitzende des Landesverteidigungskomitees und ein zuständiges Organ in Fragen der Verteidigung und Sicherheit des Landes; h) die Einberufung der Sitzungen des Ministerrates und seiner Vorsitzenden in Fragen von besonderer Bedeutung; i) das Gnadenrecht; j) die Ratifizierung der internationalen Verträge, (wenn sie eine wesentliche finanzielle Belastung des Staates bzw. Änderungen in der Gesetzgebung nach sich ziehen sollen, setzen sie eine vorherige Zustimmung des Sejms voraus); k) die Nominierung der diplomatischen Vertreter Polens und die Entgegennahme der Beglaubigungsschreiben der Vertreter anderer Staaten; 1) die Anordnung des Notstandes (sowohl wegen der äußeren als auch inneren Gefährdung); m) wenn der Sejm nicht tagt, die Erklärung des Krieges (diese Erklärung ist nur zum Zweck der Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff zulässig, oder wenn auf Grund der internationalen Verträge die Notwendigkeiteiner gemeinsamen Verteidigung gegen Aggression entsteht). Den Präsidenten wählen Sejm und Senat zusammen, vereinigt in die Nationalversammlung (absolute Mehrheit, Quorum: die Hälfte der Gesamtzahl der Mitglieder). Die Amtszeit des Präsidenten beträgt 6 Jahre (des Sejms 4 Jahre). Die Wiederwahl ist nur einmal zulässig. Die Kandidaten werden durch die Mitglieder der Nationalversammlung (Minimum - ein Drittel) aufgestellt. Der Präsident übt sein Amt aus aufgrund der Verfassung und der Gesetze. Für die Verletzung der Verfassung bzw. der Gesetze oder für ein Verbrechen kann er vor dem Staatsgerichtshof angeklagt werden. Über die Anklage entscheidet die Nationalversammlung (Mehrheit: zwei Drittel,

174

Zdzislaw Kedzia

Quorum: die Hälfte der Gesamtzahl der Mitglieder). Der Präsident kann auch auf das Amt verzichten und durch den Staatsgerichtshof seines Amtes enthoben werden. Die Nationalversammlung (Mehrheit: drei Viertel, Quorum: die Hälfte der Gesamtzahl der Mitglieder) kann das Amt wegen eines dauerhaften Verlustes der Befähigung des Präsidenten, seinen Pflichten nachzukommen, als vakant erklären. Der Senat - die zweite Kammer - hat ein besonderes Gewicht im Vergleich zu den existierenden Kammern dieser Art Dies ist, wenigstens teilweise, Resultat seines Ursprungs, d. h. der Idee, eine Kammer der Opposition zu schaffen. Der Senat hat die Gesetzesinitiative und das aufschiebende Vetorecht gegenüber den vom Sejm verabschiedeten Gesetzen. Der Sejm kann die Vorschläge des Senats hinsichtlich des umstrittenen Gesetzes außer acht lassen. In dem Fall verlangt die Verfassung die Mehrheit von zwei Dritteln und die Anwesenheit der Hälfte der Gesamtzahl von Abgeordneten für die Verabschiedung des Gesetzes. An der Ernennung der Regierung nimmt diese Kammer nicht teil. Die Zustimmung des Senats ist bei der Wahl des Grundrechte-Fürsprechers dagegen erforderlich. Der Senat wird aus 100 Senatoren bestehen (2 aus jeder Woiwodschaft, je 3 aus Warschau und Kattowitz). Die Wahlordnung zum Senat kennt keine die Demokratie des Verfahrens einschränkenden Regeln an. Jeweils 3000 Bürger haben das Recht, Kandidaten zum Senat aufzustellen. Der zentralen bzw. aus der Woiwodschaft (Bezirk) -ebene existierenden Leitung einer Partei oder der Leitung einer anderen politischen sozialen beruflichen Organisation, die im ganzen Lande tätig ist, steht dieses Recht ebenso zu. In dem Fall ist jedoch die Bestätigung des Kandidaten durch 3000 Unterschriften der Wähler erforderlich.

Das Bonner Grundgesetz und die koreanischen Verfassungen Von Hyo-Jeon Kim I. Einleitung Verfassung hat in Korea naturgemäß einen ganz anderen Stellenwert als im Westen. Ideengeschichtlich steht Korea nicht in der abendländischchristlichen, sondern in der chinesisch-konfuzianistischen Denktradition. In seiner wirtschaftlichen und politischen Entwicklung ist Korea andere Wege gegangen als der Westen oder auch Japan. So ist es zum Beispiel in Korea bis ins letzte Jahrhundert nicht zum Entstehen eines starken Bürgertums gekommen. Damit einhergehende Vorstellungen von der Gleichheit der Menschen fehlen in unserer Geschichte und damit auch der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft und der Notwendigkeit einer rationalen Begründung von Herrschaft in einem Gesellschaftsvertrag. Dem modernen rechtlichen und besonders verfassungsrechtlichen Denken fehlen also Wurzeln und viele Voraussetzungen in der koreanischen Geschichte. Korea ist bald nach seiner Öffnung zur Welt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter das Joch des japanischen Imperialismus gefallen, von dem es erst mit dem Ende des II. Weltkrieges befreit wurde. Eigenständige Erfahrungen mit Verfassungsrecht sind in Korea nicht älter als ich es bin, das heißt kaum 40 Jahre. Die Rolle, die Verfassungsrecht in diesen 4 Jahrzehnten in Korea gespielt hat, wird - um es vorsichtig zu sagen - den Theoretiker nicht immer befriedigen. Meine Heimat sah eine Abfolge von Diktaturen, in der sich die jeweiligen Machthaber Verfassungen nach ihren spezifischen Bedürfnissen maßschneidern ließen und als quasi-demokratisches Mäntelchen umgehängt haben. Trotzdem hat sich auch unter diesen unerfreulichen Bedingungen das Verfassungsrecht als wissenschaftliche Disziplin fest etabliert, und die Koreaner haben gerade mit und aus ihren schlechten Erfahrungen gelernt. Über diese Entwicklung und über den Einfluß des Bonner Grundgesetzes auf diese Entwicklung will ich heute berichten. Das Bonner Grundgesetz ist als Modell für Korea zum ersten Mal bei der Verfassungsänderung von 1960 zum Tragen gekommen. Traditionellerweise fußte das koreanische Rechtssystem auf dem kontinentalen. Mit der Ein-

176

Hyo-Jeon Kim

setzung der amerikanischen Militärregierung in Südkorea brachen in allen Lebensbereichen einschließlich der Rechtsinstitutionen wahre Flutwellen amerikanischer Kultur über Korea herein. So kreuzen sich im koreanischen Verfassungsrecht zwei Elemente, das heißt kontinentales und amerikanisches Recht. Gegenstand dieses Berichtes kann natürlich nur das Bonner Grundgesetz mit seinen Auswirkungen auf Korea sein. Untersuchen werde ich im besonderen drei Teilbereiche des koreanischen Verfassungssystems: die allgemeinen Bestimmungen, die Grundrechte und die Struktur der Staatsgewalt. Ich werde dabei eingehen auf die Entwicklung der einzelnen Verfassungen einschließlich der neuen Verfassung von 1987 und auf die neueren Tendenzen in der koreanischen Staatsrechtslehre.

II· Allgemeine Bestimmungen Der Einfluß des Bonner Grundgesetzes läßt sich in der koreanischen Verfassung von 1960 in den Allgemeinen Bestimmungen am Prinzip der „demokratischen Grundordnung" und am politischen Parteienwesen nachweisen. In verfassungstheoretischer Hinsicht begann sich das Prinzip des sozialen Rechtsstaats langsam durchzusetzen.

1. Die demokratische Grundordnung

Der Begriff der „demokratischen" Grundordnung findet sich zum ersten Mal in der koreanischen Verfassung vom 15.6.1960 in Art. 13: Art. 13 Abs. 2: Die politischen Parteien genießen von Gesetzes wegen den Schutz des Staates. Widersprechen jedoch die Ziele der Tätigkeit einer politischen Partei der demokratischen Grundordnung des Verfassungsrechts, so beantragt die Regierung mit Zustimmung des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs ihre Auflösung. Der Verfassungsgerichtshof verfügt per Dekret die Auflösung der politischen Partei.

Vorbild ist hier das Bonner Grundgesetz Art. 18 mit seinem Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung". Das Adjektiv „freiheitlich" wurde mit Bedacht gestrichen, aber in ihrem Kommentar gingen manche koreanischen Verfassungsrechtler damals doch soweit, hier den Zentralbegriff des ganzen Verfassungsdokuments zu sehen, und beschrieben diese Neuerung stolz als einen Fortschritt „vom Recht zur Ordnung". Die junge Demokratie von 1960 fiel schon nach kurzer Zeit einem Staatsstreich zum Opfer. Der Begriff der demokratischen Grundordnung lebte

Das Grundgesetz— Bericht

rea

177

aber wieder auf in der Verfassung vom 26.12.1962, allerdings ohne den Zusatz „im Verfassungsrecht": Art 7 Abs. 3: Die politischen Parteien genießen den Schutz des Staates. Widersprechen jedoch die Ziele oder die Tätigkeit einer politischen Partei der demokratischen Grundordnung, so beantragt die Regierung beim Obersten Gericht ihre Auflösung.

Diese Bestimmung ist eine der Leitprinzipien der Verfassung. Es spielt eine große Rolle nicht nur bei der Bestimmung zur Auflösung einer verfassungswidrigen Partei, sondern auch im Art. 32 Abs. 2 bei der Aufrechterhaltung der Ordnung, und schließlich in der Präambel, die verspricht, „bei der Gründung der neuen demokratischen Republik die freiheitliche demokratische Grundordnung zu sichern", und im Art. 28 Abs. 2, der von demokratischen Prinzipien bei Inhalt und Bedingung einer Arbeitspflicht ausgeht Bei der Auslegung dieser Bestimmung gehen die Meinungen in Korea allerdings auseinander. Auf der einen Seite wird mit einer Deckungsgleichheit mit dem Begriff der ,freiheitlichen demokratischen Grundordnung" im Bonner Grundgesetz argumentiert. Andere sehen in der „demokratischen Grundordnung" einen allgemeinen verfassungstheoretischen Begriff und streiten hier einen direkten Zusammenhang ab. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtshofs zur Sozialistischen Reichspartei vom 23.10.1952 werden aber von den meisten Autoren für maßgeblich gehalten. Die Festlegung der Parteien auf die freiheitlichdemokratische Grundordnung wurde schließlich auch bei den Verfassungsänderungen von 1972, 1980 und 1987 beibehalten. Die Verfassung von 1987 geht hier sogar noch weiter und sieht darin die einzige Basis für eine Politik der friedlichen Wiedervereinigung. Weithin gebraucht werden in diesem Zusammenhang Ausdrücke nach deutschem Vorbild wie „streitbare Demokratie", „abwehrbereite Demokratie" oder das Motto „keine Freiheit für die Feinde der Freiheit". 2. Die politischen Parteien

Die Rechtsbasis der politischen Parteien in Korea geht auf die „Regulations of Political Parties" vom 23.2.1946 vom USAMGIK (United Military Government in Korea) Ordinance No. 55 zurück. Diese Verfügung hat Korea institutionell von Japan emanzipiert und in einer von politischem Chaos und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten gekennzeichneten Situation zur Stabilisierung der politischen Ordnung beigetragen. Das Verfassungsrecht von 1948, das als das erste systematische und moderne in Korea gelten kann, kannte keine Bestimmungen über politische 12 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

178

Hyo-Jeon Kim

Parteien. Die Haltung des ersten Staatspräsidenten Syngman Rhee (18751965) zu Parteien war am Anfang so negativ wie die von George Washington. Bald hat er jedoch seine Position revidiert und die Liberale Partei gegründet, um seine politische Grundlage zu festigen. Die Verfassung von 1960 nimmt zum ersten Mal politische Parteien zum Gegenstand. Ihr Art. 13 Abs. 2 knüpft an Verfassungen an, die nach dem II. Weltkrieg entstanden sind, an das Bonner Grundgesetz von 1949 Art. 21 Abs. 1, die französische Verfassung der Fünften Republik von 1958 Art. 20 Abs. 3 und an die Verfassung der italienischen Republik von 1947 Art. 49. Die koreanische Verfassung von 1962 baut an diesem Gegenstand weiter und fügt neue Bestimmungen hinzu. So regelt sie folgendes: Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten oder eines Abgeordneten müssen von Parteien aufgestellt werden. Bei Parteienwechsel oder Auflösung ihrer Parteien verlieren sie automatisch ihr Amt (Art. 36, 38, 63). Zur Ausfüllung dieser Artikel wurde das Parteiengesetz vom 31.12.1962 erlassen. Entscheidende theoretische Grundlagen für den Parteienstaat wurden gefunden in dem Buch von G. Leibholz (1901-1982) „Strukturprobleme der modernen Demokratie" von 1958, und auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, an dem er als Richter tätig war, dienten häufig als Referenzapparat. Unter grobem Mißverstehen der Leibholz'sehen Theorien und der von ihm beeinflußten Rechtsprechung, aber in Berufung auf ihn, stilisierten manche Rechtsgelehrte politische Parteien sogar zu Staatsorganen hoch. Dem Parteiensystem, das nicht aus der koreanischen Gesellschaft gewachsen war und mit dem die Koreaner noch nichts Rechtes anzufangen wußten, war dann auch noch wenig Erfolg beschieden. Die Wendung zum Parteienstaat wurde schließlich in der Verfassungsänderung von 1972 wieder zurückgenommen und die Regierung begann Druck auf die Oppositionsparteien auszuüben. In der Verfassung von 1980 schwingt das Pendel wieder zurück. Sie beinhaltet Bestimmungen zur Parteienfinanzierung in Art. 7 Abs. 3 und benachteiligt unabhängige Kandidaten für das Präsidentenamt gegenüber denen der Partei. Die Verfassung von 1987 modifiziert in diesem Zusammenhang nur zwei Punkte: wie früher bereits ausgeführt, verpflichtet sie die Parteien zu den Prinzipien der Demokratie in ihren Zielen, ihrer Organisation und ihren Aktivitäten und verlagert die Urteilskompetenz darüber vom Verfassungsausschuß zum neu etablierten Verfassungsgerichtshof. In allen anderen Punkten bleibt es bei den Bestimmungen der Verfassung von 1962. Ich halte es für besonders charakteristisch, daß die koreanischen politischen Parteien in der Verfassungswirklichkeit nicht programm-, sondern personenorientiert sind. Syngman Rhee gründete in der Ersten Republik die

Das Grundgesetz — Bericht Korea

179

Liberale Partei, Park Chung Heein in der Dritten und Vierten Republik die Demokratische Republikanische Partei und Chun Doo Hwan in der Fünften Republik die Demokratische Gerechtigkeitspartei. Mit dem Abtritt des Gründers und Hauptakteurs verschwinden normalerweise diese Parteien wieder. Das Parteiwesen in Korea sieht sich deshalb gerade jetzt in der Zeit der Demokratisierung großen Herausforderungen gegenüber.

3. Der soziale Rechtsstaat

Der bis dahin unbekannte Begriff des sozialen Rechtsstaats wurde in Korea eingeführt durch Professor Ki-Bum Kim, dem Übersetzer der Verfassungslehren Carl Schmitts und Karl Löwensteins. Diese Übertragungen machten nicht nur mit neuen deutschen Verfassungstheorien bekannt, sondern eröffneten auch neue Horizonte bei der Interpretation und Auslegung des geltenden koreanischen Rechts. Besonders waren dann Prinzipien und Theorien des Bonner Grundgesetzes unter den damals sehr limitierten wissenschaftlichen Forschungs- und Arbeitsbedingungen ein frischer Schock und lebensvolle Anregung. Die koreanischen Verfassungen sprechen ausdrücklich weder vom Rechtsstaat noch vom Sozialstaat. Trotzdem wird allgemein akzeptiert, daß die koreanische Verfassung das Prinzip des materiellen Rechtsstaates bzw. des sozialen Rechtsstaates anerkennt, weil sie in ihrer Präambel vom Wohlfahrtsstaat und von sozialen Grundrechten und sozialer Wirtschaftsordnung spricht. Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch weitere Artikel wie die Bestimmungen zur Eigentumsgarantie, zur Sozialbindung des Eigentums, zur Entschädigung bei Enteignungen und zur sozialen Marktwirtschaft. In der Bundesrepublik Deutschland wird der Begriff des Sozialstaates häufig kritisiert wegen seiner Unbestimmtheit und Inhaltsleere. Bei den Koreanern aber ruft schon das Wort „sozial" alleine Allergiereaktionen hervor, weil sie „sozial" mit „sozialistisch" assoziieren und für viele sozialistisch synonym mit kommunistisch ist. In den 50er Jahren rief der berühmte Verfassungsrechtler Tae-Yun Han allgemeine Erbitterung hervor, weil er behauptete, die Wirtschaftsordnung der koreanischen Verfassung von 1948 beruhe auf sozialistischen Grundlagen. Erst seit Mitte der 60er Jahre wurde die Terminologie der „sozialen Marktwirtschaft" allgemein angenommen.

12

180

Hyo-Jeon Kim

ΠΙ. Grundrechte Auch die Rezeption bzw. der Einfluß des Bonner Grundgesetzes in Bezug auf die Grundrechte kann in den zwei Bereichen der konkreten Verfassungsbestimmungen und der allgemeinen Verfassungstheorien nachgewiesen werden. Diese Arbeit betrachtet im besonderen die Begriffe der Würde des Menschen, der Wesensgehaltsgarantie, der Sozialbindung des Eigentums und der Entschädigung bei Enteignung und des Widerstandsrechtes.

1. Die Würde des Menschen Der deutsche Nationalsozialismus, der italienische Faschismus und der japanische Militarismus haben in gleicher Weise die Würde des Menschen vernichtet und die Menschheit damit bis an den Abgrund geführt In diesen Ländern wurde nach dem Krieg als Reaktion darauf bei der neuen Verfassungsgebung die Würde des Menschen betont und hervorgehoben. Der internationale Schutz der Menschenrechte gesellte sich als zeitgemäßes Anliegen zu diesen Bemühungen. Korea war weder Kriegsschuldiger noch Kriegsverlierer, sondern auf der Seite seiner Opfer und konnte deshalb umso leichter aus seinen traurigen Erfahrungen diese Gedankengänge nachvollziehen. So schreibt die Verfassung von 1962 in ihrem Art. 8 folgendes fest: Alle Staatsbürger genießen Würde und Wert als menschliches Wesen. Der Staat ist verpflichtet, ihre Grundrechte weitestgehend zu gewährleisten.

Bei Auslegung und Anwendung wurde häufig auf Theorien und Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen, weil hier das Bonner Grundgesetz Art 1 vorbildlich war. Als theoretische Grundlage wurden der Beitrag von H. C. Nipperdey „Die Würde des Menschen" in dem von Bettermann / Neumann / Nipperdey herausgegebenen Buch „Die Grundrechte" herangezogen und die Erläuterungen von G. Dürig in Maunz / Dürigs Grundgesetz-Kommentar. In der Realität erforderte der relativ vage und unklare Art. 8 weitere Auffüllung und Präzisierung. Dies wurde vom Obersten Gericht versucht, allerdings nur mit wenig befriedigendem Erfolg. Zunächst mußte es über die Verfassungsgemäßheit der Todesstrafe entscheiden und hat dabei versäumt, auf die Würde des Menschen ausreichend Bezug zu nehmen. Die getroffene Entscheidung beruhte nicht auf deutscher Theorie und Praxis, sondern zog die japanische Rechtsprechung als Vorbild heran. Weder im koreanischen, noch im japanischen Verfassungsrecht gibt es einen Artikel über die Todesstrafe, der dem Art. 102 des Bonner Grundgesetzes entspricht. Hier ent-

Das Grundgesetz — Bericht

oe

181

schied das Oberste Gericht am 22.6.1971, daß darin keine Programmvorschrift zu sehen sei, und fügte folgendes hinzu: Im Falle von Personen, die Mitglieder oder Angestellte der Streitkräfte sind und durch ungesetzliche Handlung von staatlichen Stellen Schaden erlitten haben, ist die Beschränkungsklausel von Art. 2 Abs. 1, die ihr Recht auf Schadensersatz begrenzt oder ablehnt, verfassungswidrig, weil sie gegen den Art. 26 (Recht auf Schadensersatz), Art. 8 (Würde des Menschen), Art. 9 (Gleichheit) und Art. 32 Abs. 2 (Gesetzesvorbehalt) verstößt

Außer in diesen beiden Entscheidungen ist das Oberste Gericht kaum auf die Würde des Menschen eingegangen. Trotzdem ist dieser Artikel in den Verfassungen von 1972 und 1980 beibehalten worden. Interessanterweise hat hier der Gesetzgeber in Art. 9 das Recht des Menschen auf Streben nach Glück hinzugefügt So kam eine eigenartige Kreuzung von amerikanischem und deutschem Verfassungsrecht zustande: Alle Staatsbürger genießen Würde und Wert als menschliches Wesen und haben das Recht auf Streben nach Glück. Der Staat ist verpflichtet, die fundamentalen und unverletzlichen Menschenrechte des Einzelnen zu bestätigen und zu garantieren.

Diese Bestimmung zog umfangreiche Kritik auf sich wegen ihrer Stellung im Gesamtsystem des koreanischen Verfassungsrechts. Sie wurde aber auch in der Verfassung von 1987 in Art. 10 beibehalten. Jedenfalls aber stellt die Bestimmung von der Würde des Menschen nicht nur ein Auslegungsprinzip im Verfassungsrecht dar, sondern auch ein starkes Moment im Kontext von Rechtsstaatsprinzip und Sozialstaatsprinzip.

2. Wesensgehaltsgarantie Der juristische Terminus ,Wesensgehaltsgarantie' wurde zum ersten Mal in der Verfassung von 1960 in Art. 28 eingeführt: Art. 28 Abs. 2: Alle Freiheiten und Rechte des Staatsbürgers können durch Gesetz eingeschränkt werden, sofern es für die Aufrechterhaltung der Ordnung oder das Gemeinwohl erforderlich ist. Jedoch ist nicht zulässig, ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt anzutasten.

Diese Bestimmung wurde dem Bonner Grundgesetz Art. 19 Abs. 2 nachgeformt und deshalb ist bei ihrer Interpretation und Anwendung natürlich Theorie und Praxis der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich. In verfassungstheoretischer Hinsicht wurde die Dissertation von P. Häberle „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz" sowohl in Deutschland wie auch in Korea häufig zitiert. Trotz seiner Funktion als Standard-

182

Hyo-Jeon Kim

werk war es in den 60er Jahren in Korea nur fragmentarisch bekannt. Die Ursache lag hier im Sprachproblem und in den immensen Schwierigkeiten, deutsche Fachbücher in Korea zu bekommen. Jedenfalls ist die Garantie der Grundrechte 1960 in Korea anerkannt worden und wurde auch 2 Jahre später in der Verfassung von 1962 beibehalten. Ein Jahrzehnt später begannen aber schärfere politische Winde zu wehen, denen neben anderem auch diese Bestimmung in der 1972er Verfassung zum Opfer fiel. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist diese Zeit als Periode der Grundrechtsmißachtung anzusehen. In der Verfassung von 1980, die teilweise als Reaktion darauf gegeben wurde, wurde die Wesensgehaltsgarantie wiederbelebt und besteht auch in der jetzt gültigen Verfassung von 1987 weiter.

3. Die Sozialbindung des Eigentums

Schon seit der Verfassung von 1948, die unter dem Einfluß der Weimarer Verfassung zustande gekommen war, bis hin zur heute gültigen Verfassung bildet das Prinzip der Sozialbindung des Eigentums ein wesentliches Element des Verfassungsrechts. Im Anschluß an das Bonner Grundgesetz hat die Verfassung von 1980 über die Entschädigung in Art. 23 Abs. 3 neu bestimmt: Die Zulässigkeit von Enteignung, Benutzung, Einschränkung und Entschädigung des privaten Eigentums kann durch Gesetz aus Gründen des Gemeinwohls vorgesehen werden. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen.

Das Originalmodell dieser Bestimmung findet sich im Bonner Grundgesetz Art. 14 Abs. 3 Satz 3. Bei der Auslegung dieses Artikels stehen sich die zwei Lehrmeinungen der „völligen" und der „angemessenen" Entschädigung in scharfem Gegensatz gegenüber. Die Lehre der angemessenen Entschädigung hat ihre Wurzeln in der Weimarer Zeit und neben Literatur dieser Zeit, werden häufig Fragmente der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zitiert. Von daher wird auch gelegentlich behauptet, Korea hätte das Sozialstaatsprinzip der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Der Begriff entfällt aber in der neuen Verfassung von 1987, wird durch „gerechte" Entschädigung ersetzt und fällt damit auf das Niveau von 1962 zurück.

Das Grundgesetz — Bericht

oe

183

4. Das Widerstandsrecht

Das Problem des Widerstandsrechts begann man im koreanischen Verfassungsrecht erst aus Anlaß der Studentenrevolution zu diskutieren. Die Studenten, denen es gelang, die Erste Republik unter Syngman Rhee zu stürzen, verstanden ihre Revolution als Ausübung ihres Widerstandsrechts als Staatsbürger. Diese Problematik tauchte nochmals in Zusammenhang mit dem Staatsstreich von 1961 auf. Auch die neue Militärjunta nahm lächerlicherweise ein Widerstandsrecht für sich in Anspruch und taufte ihren Coup d'Etat Militärrevolution. Die wissenschaftliche Diskussion war hier natürlich wertlos und nur für eine Linguistik der Lüge oder des Opportunismus von Interesse. In der Zeit des Yushin-Regierung unter Park Chung Hee stellte sich das Problem erneut in zahlreichen Prozessen gegen Widerstandskämpfer. Das Oberste Gericht distanzierte sich aber vom Widerstandsrecht, erklärte es zum „übergesetzlichen Rechtsbegriff' und bezeichnete es als unbrauchbar für die praktische Rechtsprechung. Diese Lage ergab sich erneut in dem Prozeß um die Ermordung Park Chung Hee; das Gericht stellte sich abermals auf den Standpunkt, das Widerstandsrecht sei eine naturrechtliche Kategorie, damit nur in der Theorie von Interesse und in der realen Rechtsprechung nicht anwendbar. Bei den Vorarbeiten zu den Verfassungsänderungen von 1980 und 1987 wurde das Widerstandsrecht wieder heiß und ausgiebig diskutiert. Die Protagonisten dieses Artikels konnten sich aber nicht durchsetzen, da sie kaum Informationen über seinen rechtsgeschichtlichen Hintergrund in Deutschland besaßen und keine ausreichende theoretische Fundierung im Gesamtzusammenhang der Verfassung leisten konnten. So konnten sie bei den Verfassungsänderungen weder einen wissenschaftlichen Konsens noch die Unterstützung der öffentlichen Meinung erreichen.

5. Die Theorien der Grundrechte

Die Besonderheit der Diskussion um die Grundrechte in den koreanischen Verfassungen der 80er Jahre liegt in den Bemühungen um und in der Betonung eines systematischen Grundrechtsverständnisses. Zum traditionellen Grundrechtskatalog gesellen sich neue, am Wohlfahrtsstaat orientierte, wie das Recht auf Streben nach Glück, das Recht auf eine gesunde und angenehme Umwelt und das Recht auf eine (lebenslange) Ausbildung. Einige in Deutschland ausgebildete Wissenschaftler versuchten hier zu den traditionellen normativen und dezisionistischen Verfassungsauffassungen eine angeblich neue integrationistische dazuzukonstruieren. Sie beziehen

184

Hyo-Jeon Kim

sich ausdrücklich auf die Smend'sehe Schule, in der die Verfassung ein Lebensvorgang des Bürgers ist und die Grundrechte als ein Wertsystem verstanden werden. Die erst in den 70er Jahren langsam bekannt gewordene S mend* sehe Theorie wurde besonders in diesem Jahrzehnt von einigen Wissenschaftlern energisch propagiert, die dabei irrtümlicherweise von einer vollkommenen Neuartigkeit dieses Ansatzes ausgehen. Ein weiteres Lager in der koreanischen Staatsrechtslehre bilden die Anhänger Carl Schmitts, d. h. eines liberalen oder bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundrechtsverständnisses. Schließlich gibt es noch die Gruppe derer, die mit all dem nicht zufrieden sind, den Import von Rechtsnormen aus Deutschland überhaupt ablehnen und die Entwicklung einer neuen koreanischen Grundrechtstheorie verlangen.

IV. Die Struktur der Staatsgewalt Die seit 1948 vorherrschende Struktur der Staatsgewalt ist in der Republik Korea der Präsidentialismus. Die Bundesrepublik Deutschland folgte dem Parlamentarismus, und daher finden sich zwischen dem Bonner Grundgesetz und den koreanischen Verfassungen im Bereich der Staatsstruktur weniger Gemeinsamkeiten. Zu diesen gehören die spezifisch deutschen Erscheinungsformen des konstruktiven Mißtrauensvotums und der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf die sich diese Arbeit hier beschränkt.

1. Die parlamentarische Regierung in Korea a) Ein geschichtlicher

Überblick

Die Regierungsform des Verfassungsentwurfs von Chin-0 Yu (19061987), der die Grundlage der Verfassung von 1948 ist, beruht eigentlich auf dem Parlamentarismus. Unter dem dominierenden Einfluß Syngman Rhees, der der erste Präsident Koreas und berühmter Widerstandskämpfer gegen das japanische Kaiserreich war, kippte die Verfassung jedoch zum Präsidentialismus. Nach dem Zusammenbruch der Ersten Republik gab es mit weitestgehender Unterstützung der Bevölkerung einen Wechsel zu einer parlamentarischen Regierungsform. Der Kampf gegen Staatspräsident Thee war auch ein Kampf um eine Verfassungsänderung, weil nach dem damaligen Verständnis und Gefühl der Koreaner Präsidentialismus mit Diktatur und Parlamentarismus mit Demokratie identisch waren.

Das Grundgesetz — Bericht

oe

185

So entstand die parlamentarische Regierung von John M. Chang, die aber nach nur 9 Monaten einem Staatsstreich zum Opfer fiel. Nach der Machtergreifung denunzierten die Generale die zivilen Politiker als korrupt und unfähig und die parlamentarische Regierungsform als schwach und den koreanischen Verhältnissen nicht angepaßt. Obwohl außerordentlich zweifelhaft ist, daß die zum Teil chaotischen Zustände unter der Regierung Chang dem Parlamentarismus anzulasten sind, hatte die negative Propaganda des Militärs einen gewissen Erfolg, und viele Koreaner begegnen dem Parlamentarismus deshalb mit einigem Mißtrauen. Seit 1962 Park Chung Hee, die Hauptfigur im Militärputsch, seine Uniform abgelegt hatte und als Zivilist in die Politik eingetreten war, ist der Präsidentialismus die Staatsform Koreas.

b) Elemente parlamentarischer

Regierung nach deutscher Art

Wie schon vorher angedeutet, findet der Präsidentialismus Unterstützung bei der Mehrheit der Koreaner. Auseinandersetzungen über die Regierungsform beziehen sich seit der Yushin-Zeit auf das Präsidentenwahlsystem. Nur die Präsidentenwahl von 1963 war direkt, seit dieser Zeit wählte ein Wahlmännergremium. In den Auseinandersetzungen um eine Verfassungsänderung im Jahre 1986 legte die Opposition mit Unterstützung der Studenten einen Verfassungsentwurf mit dem Ziel einer direkten Präsidentenwahl vor. Die Regierungspartei zauberte dagegen einen Entwurf aus der Tasche hervor, der ein parlamentarisches Regierungssystem vorsah und mit dem Etikett „westdeutsch44 versehen war. Man erinnerte sich an Park Chung Hee, der bei seiner Wahl im Jahre 1972 de Gaulle und das französische System als Aushängeschild verwendet hatte. Über die Motive der Regierungspartei für ihr überraschendes Manöver kann man nur spekulieren, daß sie befürchtete, über keinen für das gesamte Spektrum der Wählerschaft attraktiven Kandidaten zu verfügen. Obwohl sich viele Koreaner auch der Probleme und Gefahren des Präsidentialismus bewußt waren, wollten sie doch nach den Pseudo-Wahlen der Jahre 1972 und 1980 einen Versuch mit einer Direktwahl wagen. Die Regierungspartei mußte schließlich ihr Vorhaben aufgeben, sich dem Willen der breiten Mehrheit der Bevölkerung beugen und direkte Präsidentenwahlen ausschreiben.

186

Hyo-Jeon Kim

2. Die Verfassungsgerichtsbarkeit a) Ein geschichtlicher

Überblick

Die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit im deutsch-österreichischen Stil beginnt in Korea mit der Verfassung von 1960. Art. 8 verlangt einen Verfassungsgerichtshof, und demzufolge wurde am 17.4.1961 ein entsprechendes Gesetz erlassen. Aber noch vor dessen realer Etablierung wurde die Verfassung selbst durch den Staatsstreich beseitigt In der Dritten Republik von 1963-1972 kommt es zu einem Judical Review amerikanischer Art, in der Vierten Republik von 1972-1980 und in der Fünften Republik von 1980-1987 gibt es nur noch nominell einen Verfassungsausschuß. Erst die jetzt gültige Verfassung von 1987 führt wieder ein Verfassungsgericht ein. b) Das Verfassungsgericht

westdeutschen

Stils

Ursprünglich hatten die Verfassungsentwürfe der Regierung, der Opposition und der Korean Bar Association einstimmig ein Judical Review System beim Obersten Gericht vorgesehen. Dagegen erhob das Oberste Gericht selbst starke Einwände, und auch manche Staatsrechtslehrer befürworteten die Einführung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit. Interessant ist, daß das Oberste Gericht selbst offiziell Stellung genommen hat zur Problematik von Politisierung der Justiz und Judical Passivism. Seit der Yushin-Zeit war die Justiz mit Mißtrauen überhäuft worden, und die Reaktion darauf und die Erinnerung an den wirkungslosen Verfassungsausschuß trugen zu einer Atmospäre bei, die einem Verfassungsgericht westdeutschen Stils günstig war. So setzte die Verfassung von 1987 in ihrem Kapitel 6 einen Verfassungsgerichtshof ein und zählte in Art. 111 folgende Kompetenzen auf: Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, Impeachment der Regierung, Auflösung einer politischen Partei, Kompetenzstreitigkeiten und Verfassungsbeschwerde. Die letzten beiden wurden neu aus Deutschland übernommen. Die Übernahme des Artikels über Kompetenzstreitigkeiten scheint aber ziemlich sinnlos zu sein, da er sich auf die föderale Struktur der Bundesrepublik bezieht und Streitigkeiten zwischen Staatsorganen und örtlichen Gebietskörperschaften zum Gegenstand hat. Im Zentral- und Einheitsstaat Korea fehlt hier eigentlich ein Bedarf. Am 23.7.1988 wurde ein Gesetz zum Verfassungsgericht erlassen und schließlich am 1.9.1988 der Verfassungsgerichtshof eröffnet Er hat zum ersten Mal am 25.1.1989 die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes erklärt Zur Zeit warten verschiedene Gesetze, die nach 1972 erlassen wurden, auf

Das Grundgesetz — Bericht

187

ihre Bewertung. Die Einführung eines Verfassungsgerichts im deutschen Stil hat dem Interesse an deutscher Verfassungstheorie und -praxis weiteren Antrieb gegeben. Es wurden viele wissenschaftliche Tagungen veranstaltet, und auch die deutschen und österreichischen Botschafter haben dazu interessante und wichtige Beiträge geleistet.

Die Wirkung der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft auf Praxis und Lehre der japanischen Verfassung" Betrachtet im historischen Kontext Von Akira Monta Einführung in den Themenbereich1 Die gegenwärtige japanische Verfassung wurde im November 1946 erlassen, also drei Jahre vor Inkrafttreten des deutschen Grundgesetzes, und diese Verfassung hat seitdem keinerlei Veränderungen erfahren. Wenn man über die Einflüsse der deutschen Verfassungswissenschaft auf die heutige japanische Verfassung spricht, muß man sich die folgenden zwei Tatsachen bewußt machen: 1. Die gegenwärtige Verfassung wurde während der amerikanischen Besatzungszeit im Prinzip aufgrund des anglo-amerikanischen Verfassungsmodells ausgearbeitet. Damit war der bisherige unmittelbare Einfluß des deutschen Rechts weitgehend in den Hintergrund getreten. 2. Innerhalb der japanischen Verfassungswissenschaft sowie in der Rechtspraxis von heute ist die Tendenz, ein bestimmtes Denkmodell aus einem westlichen Rechtsstaat direkt und ohne Modifikation zu übernehmen, kaum festzustellen. Die wissenschaftliche Literatur aus der Bundesrepublik Deutschland wird zwar heute noch in weitem Maße gelesen, aber die Beschäftigung mit ihr geschieht nicht im Interesse einer Übernahme, sondern im Interesse des * Bei der schriftlichen Ausarbeitung des Aufsatzes unterstützte mich mein Freund, Herr Tomoyuki Takada, mit seinen Fähigkeiten als Fachübersetzer. Ich danke ihm sehr. 1 Die jüngsten Aufsätze in deutscher Sprache, die sich mit dem Themenbereich meines Aufsatzes einerseits aus rechtsvergleichender und andererseits aus rechtsgeschichtlicher Sicht befassen, sind meines Wissens die folgenden zwei Abhandlungen von Prof. Carl Hermann Ule. a) C. H. Ule, Japanische und deutsche Rechtsauffassungen im öffentlichen Recht, DVB1. 1988, S. 599 ff. b) C. H. Ule, 100 Jahre Meiji-Verfassung in Japan, DVB1. 1989, S. 173 ff.

190

Akira M t a

Vergleichs und der Orientierung, um so den eigenen Standort zu bestimmen. Diese Einstellung zu den westlichen Rechtsvorlagen ist besonders bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes in der Praxis deutlich zu erkennen. Trotz dieser Tatsachen, die auf das Zurückgehen der Einflüsse des deutschen Rechtswesens hinweisen, ist die Auswirkung der deutschen Rechtswissenschaft und der ihr zugrundeliegenden Denkweise nach meiner Auffassung bis heute andauernd und bedeutsam. Diese beständige Auswirkung hat ihren geschichtlichen Hintergrund: Seit der Verfassung des japanischen Reiches, der sogenannten Meiji-Verfassung von 1889, welche weitgehend auf den damaligen deutschen Verfassungen und ihrer Lehre basierte, haben sich die japanischen Rechtswissenschaftler intensiv mit der deutschen Rechtswissenschaft beschäftigt und ihre Lehre und Denkweise stark verinnerlicht. Dieses verinnerlichte Rechtsverständnis und -denken der japanischen Juristen bestimmte die Rezeption des deutschen Grundgesetzes in der Nachkriegszeit. Für die japanischen Wissenschaftler erschien das Grundgesetz eher als ein historisch gewachsenes Ergebnis der gesamten deutschen Rechtswissenschaft. Durch ihre von Generation zu Generation weitergegebene deutsche Bildung bedingt, neigten die japanischen Juristen dazu, in dem Grundgesetz beziehungsweise durch das Grundgesetz hindurch bewußt oder unbewußt - das Erbe der langen deutschen Verfassungsgeschichte zu sehen. Wenn man den Versuch unternimmt, die Auswirkung des Bonner Grundgesetzes in Japan zu ermessen, ist es deshalb notwendig, den Gegenstand aus der historischen Perspektive zu beleuchten. In bezug auf mein Thema scheint es mir sinnvoll zu sein, die Rezeptionsgeschichte der deutschen Verfassungen in Japan folgendermaßen in drei Phasen einzuteilen: I. Die Zeit von 1889 bis 1945 als Vorgeschichte II. Die Zeit von 1945 bis 1966 als erste Nachkriegsphase III. Die Zeit von 1966 bis heute als zweite Nachkriegsphase

I. Vorgeschichte: Die Zeit von 1889 bis 1945 1. „Die ethische Achse" der Nation

Unter dem starken Druck des Imperialismus in Asien Ende des 19. Jahrhunderts betrachteten die japanischen Staatsmänner der Meiji-Restauration das Schaffen einer modernen Verfassung als die drängendste Aufgabe, um die nationale Identität zu bewahren. Auf der Suche nach einem für die erste japanische Verfassung geeigneten Modell unternahmen selbst führende

Das Grundgesetz — Bericht Japan

191

Politiker lange Auslandsreisen über mehrere Jahre hinweg in die führenden westlichen Staaten. Das Grundproblem für sie lag darin, die traditionelle kaiserliche Autorität - genauer gesagt, die Autorität des Tenno - mit dem modernen westlichen Verfassungssystem in Einklang zu bringen. Schließlich wurde die Lösung dafür, nämlich ein anwendbares Modell, in der deutschen konstitutiondien Monarchie gefunden. Eine Kernfrage, mit der sich die Japaner bei der Anwendung des deutschen Modells konfrontiert sahen, war die folgende: Auf welcher ethischen Grundlage soll sich das konstitutionelle System eines Landes wie Japan begründen, welches, anders als im Westen, die christliche Tradition nicht kennt? Zu dieser Frage äußerte sich der Hauptverfasser der ersten Konstitution und spätere Ministerpräsident Hirobumi Ito (1841-1909) in einem Verfassungskodifikationsgremium 1887 wie folgt (sinngemäß zusammengefaßt): , Jn der europäischen Gesellschaft bildet das Christentum die ethische Achse des Volkes. Dies ist die Voraussetzung für das konstitutionelle System. Ohne diese ethische Grundlage wäre das konstitutionelle System nicht denkbar und könnte auf den Zustand einer Anarchie hinauslaufen.Wenn wir in unserem Lande nach einer vergleichbaren ethischen Achse suchen, ist sie ausschließlich in der seit alter Zeit her überlieferten Verehrung des Tenno-Hauses und in dem Glauben daran zu finden. Das ist der Grund, weshalb die unverletzliche Souveränität des Tenno in dem diesmaligen Verfassungsentwurf verankert wurde."2

Zwei deutsche Professoren, Lorenz von Stein (1815-1890) und Hermann Roesler (1834-1894), übten maßgebenden Einfluß aus in bezug auf dieses grundsätzliche Prinzip des Tennotums. In folgender Weise hat von Stein beraten: „Der Shintoismus des Tenno-Hauses sollte als Ersatz für die westliche Religion die Stellung der nationalen Ethik übernehmen. Andererseits muß die Glaubensfreiheit für Buddhismus, Konfuzianismus und Christentum in der Verfassung gewährleistet werden, insofern sie sich innerhalb der Bestimmungen des Gesetzes vollzieht"3

In der endgültigen Meiji-Verfassung wurde das Verhältnis von Tennotum und Glaubensfreiheit im Prinzip nach dieser Idee von von Stein geregelt.

2. „Soziale Freiheit" von Hermann Roesler

Jetzt möchte ich über den für Japan noch wichtigeren deutschen Rechtswissenschaftler, nämlich Hermann Roesler, sprechen. Er hat als juristischer 2

Ito Hirobumi den (Ito Hirobumi Biographie), Bd. 2,1940, S. 615-616. Sutainshi Kougi-hikki (Aufzeichnung der Vorlesungen von Lorenz von Stein), in: Meijibunkazenshuh, Bd. 1,1928, S. 514-515. 3

192

Akira M t a

Ratgeber der japanischen Regierung im gesamten Prozeß der Kodifikationsarbeit, welcher sich in der Zeit von 1879 bis 1889 vollzog, eine entscheidende Rolle gespielt4. Aufgrund seines letzten Verfassungsentwurfes wurden noch zusätzlich insgesamt zwölf Artikel über die bis dahin nicht vorgesehene Freiheitsbestimmung in die Meiji-Verfassung hineingenommen. Roeslers Auffassung von Freiheit war jedoch die Freiheit unter dem Vorbehalt des Gesetzes. Einerseits vertrat er den Standpunkt des Anti-Rechtspositivismus und stand mit dieser konträren Haltung abseits von den vorherrschenden politischen und wissenschaftlichen Stimmungen des Bismarckschen Staates5. Andererseits war er ein entschiedener Kritiker der abstrakten Freiheit in der Prägung der französischen Revolution. Auch in seinem englischen Kommentar zu der Meiji-Verfassung äußerte sich Roesler zu dem Freiheitsbegriff wie folgt: "According to the Japanese Constitution those rights remain what they really are, question of positive national law and it has wisely abstained from the formal recognition of absolute 'human and natural rights' ". 6

Dieses Zitat weist auf seine These von Freiheit hin. Roesler war der Auffassung, daß Freiheit aufgrund der in ihrem Wesen beinhalteten sozialen Bestimmungen nur in der konkreten sozialen Ordnung der Gesellschaft existieren kann. In seinem Buch „Das soziale Verwaltungsrecht" wird diese Auffassung in dem Kernbegriff „Die soziale Freiheit"7 zusammengefaßt. Auch während seiner Beratungstätigkeit für die Kodifikation der japanischen Verfassung vertrat der deutsche Rechtsprofessor seine Grundidee von Freiheit und setzte durch, daß die Meiji-Verfassung seine Idee tatsächlich weitgehend übernahm. Das waren die ersten und sehr bedeutenden Impulse, die die deutsche Verfassungswissenschaft für das japanische Recht gab. Es ist festzuhalten, daß diese Impulse - wenn auch in erheblich veränderter Form - bis heute wirksam sind. Am Rande möchte ich noch kurz eine Frage erwähnen, die sich im Zusammenhang mit der Idee der Freiheit von Roesler stellt Seine Idee von Freiheit entstammt dem Mutterboden der abendländischen Kultur und Ge4 Eine wichtige Schrift, die die Rolle von Roesler bei der Kodifikationsarbeit erläutert, ist die folgende: J. Siemes, Die Gründung des modernen japanischen Staates und das deutsche Staatsrecht, Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 23, 1975. 5 Siehe A. Rauscher, Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens - Hermann Roesler und sein Beitrag zum Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, 1969, S. 90 ff. 6 Siemes (Fn. 4), S. 104. 7 H. Roesler, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, Bd. 1.: Das soziale Verwaltungsrecht, 1872.

Das Grundgesetz — Bericht Japan

193

schichte, die natürlich erhebliche Unterschiede zu der japanischen aufweist. Aus diesem Grund stellt sich die folgende Frage: In welcher Art und Weise wurde seine Idee von Freiheit in der japanischen Gesellschaft aufgenommen? Wie wurde sie durch die vorgegebenen kulturellen und sozialen Verhältnisse verändert? Diese Frage läßt sich nicht eindeutig beantworten. Aber darauf wird am Schluß des Aufsatzes noch einmal eingegangen.

3. Aktive Rezeption des deutschen öffentlichen Rechts

Nach dem Erlaß der Meiji-Verfassung beschäftigte sich die japanische Rechtswissenschaft weiterhin intensiv mit dem deutschen öffentlichen Recht, um dies als theoretische Stütze des japanischen Rechtsstaats anzuwenden. In dieser Phase der aktiven Assimilation, welche ungefähr in dem Zeitraum von Ende des 19. Jhdts. bis in die 30er Jahre zu betrachten ist, verdient der Rechtsprofessor Tatsukichi Minobe (1873-1948) eine besondere Beachtung. Seine wissenschaftliche Theorie war für das Rechtswesen Japans maßgebend. Zum einen sich auf die Verfassungstheorie von Georg Jellinek (1851— 1911), zum anderen sich auf die Theorie des Verwaltungsrechts von Otto Mayer (1846-1924) berufend, baute er sein eigenes theoretisches Gebilde des japanischen öffentlichen Rechts. Aus seinem grundsätzlich liberalistischen Rechtsverständnis entstand auch seine berühmte Tenno-Theorie, daß der Tenno eher „ein Organ des Staates" als der Staat selbst sei. Diese These ist zwar für sich ein bedeutendes Thema, darauf kann ich aber in diesem Aufsatz nicht näher eingehen8. Jedoch sollten wir in dem Zusammenhang mit unserem Thema die Tatsache im Auge behalten, daß Minobes Rezeption des deutschen öffentlichen Rechts - geprägt von seinen liberalistischen Gedanken - einen wesentlichen Beitrag für die weitere Entwicklung der japanischen Rechtswissenschaft leistete. Die nachkommende Generation der Wissenschaftler nach dem Krieg übernahm sein Erbe für die eigene Entwicklung.

8 Zu diesem Thema gibt es in deutscher Sprache ζ. B. folgende Aufsätze: Ch. Kaempf, Die Entwicklung der Verfassungswissenschaft Japans, AöR 32 (1941), S. 7 ff.; T. Abe% Betrachtungen zum Zusammenbruch der japanischen Meiji-Verfassung, in Epirrhoses, Festgabe für Carl Schmitt, Bd. 1, 1968, S. 1 ff.

13 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

194

Akira M t a

II. Erste Nachkriegsphase: Die Zeit von 1945 bis 1966 Nun komme ich auf die Nachkriegszeit zu sprechen. Hier erkennen wir zwei verschiedene Aspekte, nämlich das Aufkommen des anglo-amerikanischen Rechts in Japan und das Erbe der deutschen Rechtswissenschaft

1. Entstehung der neuen Verfassung

Die amerikanische Hohe Kommission der Besatzungsmächte forderte die Japaner auf, eine völlig neue, mit der Vergangenheit brechende Verfassung zu schaffen. Dafür legten die Amerikaner der japanischen Regierung einen vorgefertigten Verfassungsentwurf, den sogenannten Mac Arthur-Entwurf vor9. Nach einigen Änderungen des Inhalts und der Formulierungen, die sich die Regierung noch erlauben durfte, kam die endgültige Verfassung zustande. Das Novum an dieser neuen Verfassung war vor allem die Anerkennung der Souveränität des Volkes und die neue Bestimmung der Stellung des Tenno als Symbol des Volkes. Im Zusammenhang mit unserem Thema richtet sich aber die besondere Aufmerksamkeit auf den Ideengehalt der Grundrechte beziehungsweise der Freiheit. In dieser neuen Verfassung wurde das vorstaatliche und naturrechtliche Wesen des Grundrechts deutlich hervorgehoben. Dabei wurde der Begriff des Individuums besonders betont. Der Art 13 besagt: „Jeder Bürger wird als Individuum geachtet Das Recht eines jeden Bürgers auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück ist, soweit es nicht dem Gemeinwohl widerspricht, bei der Gesetzgebung und anderen Angelegenheiten der Staatsführung als oberster Grundsatz zu achten.44

Diese Passage der Verfassung orientiert sich sehr eng an Inhalt und Wortlaut von Art. 1 der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Unter den Grundrechtsbestimmungen nach Art. 13 gibt es dem Grundrecht gegenüber keinen einzigen Gesetzesvorbehalt, bis auf einige Passagen, an denen eine sehr abstrakte Grundrechtseinschränkung mit dem Begriff „Gemeinwohl" angesprochen wird. Aus diesen Tatsachen kann man den Schluß ziehen, daß sich die japanische Verfassung von der bisherigen Grundidee von Roesler, nämlich von der Idee der „Sozialen Freiheit" - vor allem in bezug auf die geistige Freiheit - entfernt hat. Die neue Verfassung also entschied ihre Kernidee nach "Recognition of absolute human or natu9

44 ff.

Siehe R. Neumann, Änderung und Wandlung der Japanischen Verfassung, 1982, S.

Das Grundgesetz — Bericht Japan

195

ral rights" (die Anerkennung der absoluten Menschen- oder Naturrechte), was Roesler zu seiner Zeit nicht akzeptierte. Was allerdings die sozialstaatliche Bestimmung betrifft, verhält sich die Sache anders: Die Verbindung zum anglo-amerikanischen Recht ist in diesem Bereich nicht in dem Maße wie oben beschrieben zu erkennen. Die langjährige Pflege des deutschen Rechts unter japanischen Juristen kam hier zur Geltung. Der Mac Arthur-Entwurf legte hinsichtlich der sozialen Wohlfahrt und Erziehung nur eine einfache Bestimmung im Sinne des "Police-Power-Principle" in einem Artikel fest. Nach dem Erhalt des Entwurfs erarbeiteten die Regierungsvertreter und Juristen diese Bestimmung und teilten sie in zwei separate Artikel auf. Dabei vollzog die japanische Seite hinsichtlich des Rechtsanspruchs eine subtile Bedeutungsverschiebung, die gerade durch das vertiefte Verständnis des deutschen Rechts ausgelöst war. Basierend auf der deutschen Auslegung des Art. 151 der Weimarer Verfassung, modifizierte sie die vorgegebene "Police-Power-Principle"-Bestimmung und entwickelte aus ihr die Art. 25 und 26, die folgenden Wortlaut haben: Art 25: .Jeder Bürger hat das Recht auf ein Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben."

Art 26: „Alle Bürger haben nach Maßgabe der Gesetze das Recht auf eine ihren Fähigkeiten entsprechende gleiche Erziehung. . . . Die Pflichterziehung ist unentgeltlich."

Die Aufnahmen der Begriffe „Recht" und „Leben" in den Art 25 und 26 sind deutliche Hinweise darauf, daß die japanischen Juristen ihre gute Kenntnis über die deutsche Lehre der Weimarer Verfassung sinnvoll verwendet haben. 2. Das Erbe der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft

1953 wurde ein umfangreicher Verfassungskommentar von der juristischen Fakultät der staatlichen Tokio-Universtität veröffentlicht 10. Dieser Kommentar war sowohl für die Rechtsdogmatik als auch für die Anwendung in der Praxis maßgebend. Auch in diesem Nachschlagewerk wird ein nicht geringer Teil der Verfassungsartikel, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Grundrechte, nach den deutschen Auslegungsmethoden ab10

Hohgakukyokai Verfassung), 1953. 1

3

(Hrsg.)» Chukai Nihonkoku Kenpó (Kommentar zu der japanischen

196

Akira Marita

gehandelt Das gesamte methodische Instrument der Verfassungsauslegung stand somit wiederum unter dem Einfluß der deutschen Rechtswissenschaft Dieses bereitete den Boden für die spätere Verfahrensweise des Obersten Gerichtshofs Japans, welche in Anlehnung an das Bonner Grundgesetz vollzogen wurde. Eine derartige Verfahrensweise gilt jedoch selbstverständlich nicht für die Entscheidungen aller Streitfälle. Neben dem oben genannten Standardwerk gibt es noch ein bedeutsames Lehrbuch über die Menschenrechte. Dieses Werk wurde von Toshiyoshi Miyazawa (1899-1976) geschrieben11. Trotz der unterschiedlichen Auffassung von Freiheit beruft sich auch Miyazawa ebenso wie Minobe auf die theoretische Grundlage von Georg Jellinek. Daran läßt sich die nachhaltige Auswirkung von Minobe beziehungsweise von seiner Rezeption der deutschen Rechtsauffassung ermessen. Die bisherigen Ausführungen fasse ich im folgenden noch einmal kurz zusammen: Das ausgereifte Wissen und Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft ermöglicht den japanischen Juristen, die vorgegebene Verfassung in der amerikanischen Prägung in ihrer gewohnten deutschen wissenschaftlichen Herangehensweise zu erfassen und einzuordnen. Dies war die Grundsituation, aus der die weitere Auseinandersetzung mit dem anglo-amerikanischen Recht und dem deutschen Grundgesetz erfolgen wird.

3. Kontinuität des Verwaltungsrechts

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß die deutsche Rechtswissenschaft im Bereich des Verwaltungsrechts und der Bürokratie nicht so unverändert wie in der Vergangenheit eine überwiegende Auswirkung behalten hat. Allerdings gilt der berühmte Ausspruch von Otto Mayer auch für die Situation in Japan: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht4412 Natürlich gibt es einige Erklärungen für diese merkwürdige, aber bedeutsame Erscheinung. Auf ihre Erläuterung muß ich jedoch leider wegen der thematischen Eingrenzung dieses Aufsatzes verzichten.

11 T. Miyazawa, Kenpó II, 1959. Das Buch ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Es darf nicht mit der deutschen Obersetzung eines anderen Buches desselben Autors (Verfassungsrecht [Kenpó], übersetzt u. a. von Robeit Heuser, 1986) verwechselt werden. 12 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, S. VI.

Das Grundgesetz — Bericht Japan

4.

197

Verfassungsgerichtsbarkeit

Im folgenden betrachten wir die japanische Verfassungsgerichtsbarkeit Die neue Verfassung führte die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nach dem amerikanischen Vorbild, dem sogenannten "Judicial Review" ein. Im Gegensatz zum deutschen System sieht das japanische System die Möglichkeit einer allgemeinen abstrakten Normenkontrolle nicht vor. Wie das amerikanische Modell sieht es vor, nur anläßlich eines konkreten Rechtsstreits eine gesetzliche Bestimmung auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Aber wenn man die tatsächliche Praxis der Verfassungsmäßigkeitskontrolle betrachtet, erkennt man eine deutliche Tendenz zur Zurückhaltung in der Justiz, die wir in Japan als ,Justiz-Passivität" (judicial restraint) bezeichnen. Dieses Verhalten ist aber inhaltlich nicht mit der sogenannten „Selbsteinschränkung der Justiz44 gleichzusetzen, die man bei dem deutschen Verfassungsgericht kennt In den 43 Jahren nach dem Krieg hat der Oberste Gerichtshof nur in fünf Fällen ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Ein Grund für diese „Justiz-Passivität44 liegt darin, daß die in der Vorkriegszeit in Deutschland vorherrschende Justizeinstellung die Praxis der japanischen Gerichte heute noch stark beeinflußt Die deutsche Justiz hatte vor dem Krieg bekannterweise die Einstellung, daß sie nur mit den Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Zivilrechts und Strafrechts zu tun habe. Geprägt durch diese deutsche Einstellung hat der Oberste Gerichtshof in Japan eine sehr starke Tendenz, sich möglichst weit zurückzuhalten in bezug auf die Gesetzgebung und Verwaltung. Zusammenfassend kann man wohl sagen, daß die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nicht wie beabsichtigt funktionierte, da die tradierte deutsche Einstellung in der Praxis eine tiefe Diskrepanz zu dem amerikanischen Modell aufwies. Hinzuzufügen ist aber, daß der Oberste Gerichtshof selbst die Ansicht vertritt, daß diese Justiz-Passivität den japanischen Verhältnissen angemessen sei. Besonders in der ersten Nachkriegsphase bis 1966 wurde die Justiz-Passivität dadurch verstärkt, daß der Oberste Gerichtshof den Begriff „Gemeinwohl44 sehr vage gehalten hatte. Im Namen des „Gemeinwohls44 rechtfertigte der Gerichtshof eine gewisse Einschränkung der Grundrechte durch die Gesetzgebung, wobei er aber den Sinngehalt dieses Begriffs nicht näher definierte. Die Rechtswissenschaftler übten scharfe Kritik an der Praxis des Gerichtshofes, da sie diese Handhabung als Ausdruck von mangelnder Einsicht in das vorstaatliche Wesen der Grundrechte betrachteten. Die Wissenschaftler waren der Ansicht, daß diese Handhabung des Gerichtshofes dar-

198

Akira M t a

auf hinausliefe, den in der Meiji-Verfassung gültig gewesenen Gesetzesvorbehalt wiederzubeleben. Mit dieser Auffassung standen sie dem Gerichtshof konträr gegenüber. III. Zweite Nachkriegsphase: Die Zeit nach 1966 Im Verlauf der Zeit, nämlich in der zweiten Nachkriegsphase nach 1966, trat diesbezüglich eine gewisse Veränderung in der Praxis ein. Unter Beibehaltung seiner Grundeinstellung der Justiz-Passivität begann der Oberste Gerichtshof, den begrifflichen Sinngehalt des „Gemeinwohls" genauer als bisher zu prüfen. Der Oberste Gerichtshof in Japan vertritt den Standpunkt, daß die rechtlichen Bewertungskriterien aus dem Ausland nur mit größter Sorgfalt für japanische Rechtsfälle herangezogen werden dürfen. Von daher ist es sehr schwierig, die Einflüsse aus dem ausländischen Recht in eindeutiger Weise nachzuweisen. Dennoch gibt es einige Entscheidungen, die uns darauf hinweisen, daß der Oberste Gerichtshof bei der Prüfung des genaueren Sinngehalts des „Gemeinwohls" amerikanische und deutsche Rechtswissenschaft und ihre Praxis mitberücksichtigt hat. Und zwar hat der Gerichtshof amerikanische und deutsche Verfassungsauslegungstechnik zu seinen Zwecken herangezogen. Das sind zum Beispiel folgende Auslegungstechniken: Güterabwägung, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, Prüfung der Zweck-Mittel-Relation. Und gerade in diesem Zusammenhang kann man feststellen, in welcher Weise die deutsche Verfassungswissenschaft unter dem Bonner Grundgesetz auf die Auslegung und Anwendung der japanischen Verfassung in der Nachkriegszeit Einfluß gehabt hat. Im folgenden möchte ich aufgrund konkreter Entscheidungsfälle des Obersten Gerichtshofs diese Einflußnahme erläutern. Alle diese Fälle betreffen die Grundrechte13: „Das Recht auf menschenwürdiges Leben", „Die Freiheit der Berufswahl" und „Die institutionelle Garantie".

13

In dem thematischen Bereich, von dem hier die Rede ist, gibt es noch eine Reihe von den Problematiken, die eigentlich behandelt werden soUten. „Die dritte Wirkung** stellt ζ. B. eine erwähnungswürdige Problematik dar. In diesem Aufsatz wurde jedoch die Ausführung auf diejenige beschränkt, die die Hauptthematik des Aufsatzes unmittelbar be treffen. Dem, der sich fürdiesen Themenbereich in Japan im allgemeinen informieren möchte, ist die folgende Schrift zu empfehlen: T.Abe/M. Shiyake, Die Entwicklung des japanischen Veifassungsrechts von 1965-1976 unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung, JöR, NF. Bd. 26, 1971, S. 595 ff.

Das Grundgesetz— Bericht Japan

199

1. Das Recht auf menschenwürdiges Leben

Art 20 des Bonner Grundgesetzes besagt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" Wie allgemein anerkannt, impliziert dieser Satz bzw. die Formulierung „sozialer Bundesstaat" das sozialstaatliche Prinzip. Jedoch existiert im Grundgesetz keine weitere verfassungsrechtliche Differenzierung der Sozialstaatlichkeit. Anders als das Grundgesetz beschreibt die japanische Verfassung anstelle der Erwähnung des sozialstaatlichen Prinzips explizit die sozialen Grundrechte in den Art 25 bis 29. Allerdings hat die Verwendung des Begriffs „Recht" im Zusammenhang mit der Verankerung des sozialstaatlichen Prinzips in der Verfassung zu einer kontroversen Diskussion in der japanischen Rechtswelt geführt In dieser Diskussion, die einige Gemeinsamkeiten mit der deutschen rechtsdogmatischen Auseinandersetzung in der Weimarer Zeit aufwies, ging es in Japan um die Frage, ob diese Erwähnung der sozialen Grundrechte in der Verfassung als „Rechtsreflex" bzw. „Programmsatz" zu verstehen sei oder ob sie das subjektive, konkret beanspruchbare Recht vorsehe. Die führenden Rechtswissenschaftler vertraten die Auffassung als Programmsatz. Zu dieser Frage nahm der Oberste Gerichtshof 1967 erstmals deutlich Stellung14. Der direkte Anlaß dafür war ein Rechtsstreit, in dem gegen die Verfassungsmäßigkeit des Sozialhilfegesetzes wegen seiner niedrigen Leistung geklagt wurde. Der Kläger berief sich auf den Art. 25, welcher besagt: , Jeder Bürger hat das Recht auf ein Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben." Er faßte dieses in der Verfassung beschriebene soziale Grundrecht als subjektives Recht auf. Die Klage selbst wurde zwar wegen seines plötzlichen Todes als ungültig erklärt, aber zur Klärung dieser offengebliebenen Rechtsfrage legte der Oberste Gerichtshof seine Auslegung des Art 25 offiziell dar. Sie läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: a) Art 25 der japanischen Verfassung ist eine Erklärung der Verantwortung des Staates. Direkte und konkrete Rechte lassen sich nicht unmittelbar daraus herleiten. Konkrete Rechtsansprüche auf Leistungen werden erst durch das Sozialhilfegesetz verliehen. Das Gesetz übernahm den Wortlaut des Art. 25, um zu verdeutlichen, daß es der Realisierung der Idee des Art. 25 dienen solle. Allerdings liegt es im Ermessen des Staates, die Bewertungskriterien für ein Mindestmaß an gesundem und kultiviertem Leben festzulegen und die materiellen Grenzen dementsprechend festzulegen.

14

OGHE (Z) 21,1043.

200

Akira M t a

b)Nur in dem Fall, daß ein Mißbrauch dieses Ermessensrechts oder die Überschreitung des Ermessensspielraumes vorliegt, kann die Überprüfung durch die Justiz vorgenommen werden. In dieser Erklärung räumte der Oberste Gerichtshof dem Art 25 die juristische Geltung insofern ein, als er das objektive Recht (Justiznorm) für die juristische Kontrolle des Ermessens darstellt. Der Oberste Gerichtshof hat diesen Rahmen der Rechtsauslegung in einem Urteil15 1982 noch detailliert und bestätigt, in dem die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmungen für Kindererziehungsgeld umstritten war. Dieser theoretische Rahmen wird heute in Japan als festgelegter juristischer Begriff: „Ermessen der Gesetzgebung" bezeichnet. Zwar zeigt dieser theoretische Rahmen in seiner ausgeprägten Form eigenständige Züge, welche aus der gesellschaftlichen und politischen Formation in Japan entstanden sind. Aber der rechtsdogmatische Apparat, dessen Ursprung auf die Lehre der deutschen Verfassungswissenschaft zurückzuführen ist, diente als Fundament dieses japanischen rechtstheoretischen Gerüstes. Noch zu ergänzen ist in diesem Zusammenhang, daß das Prinzip der Sozialstaatlichkeit auch in der Bundesrepublik Deutschland ein schwer zu lösendes Problem in sich birgt, welches immer wieder neue Diskussionen entfacht. Ein Beispiel hierfür ist die Auseinandersetzung um das Teilhaberecht, welches bei dem sogenannten „Numerus-clausus Urteil" 16 von 1972 im Mittelpunkt stand. Diese Theorie des Teilhaberechts zeigt beispielhaft die Entwicklung des Verständnisses der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Jedoch stellt die Sozialstaatlichkeit an sich meiner Auffassung nach gerade in den modernen Rechtsstaaten, zu denen sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch Japan gehören, eine grundsätzliche Problematik dar, weil sie unvermeidbar im Konflikt der staatlichen Verantwortung und der individuellen Ansprüche steht

2. Die Freiheit der Berufswahl

Der Oberste Gerichtshof Japans hat 1973 zum ersten Mal in einem Urteil17 ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Es ging in dem betreffenden Rechtsfall um das Gleichheitsprinzip.

15 16 17

OGHE (Z) 36, 1235. BverfGE 33, 303. OGHE (S) 27, 265.

Das Grundgesetz — Bericht Japan

201

Zwei Jahre später kam es mit dem sogenannten „Apothekenurteil" zu einer weiteren Entscheidung18. In diesem Fall ging es in der Kernfrage um die Entfernungsbeschränkung für die Neueröffnung von Apotheken, ebenso wie in dem bekannten Apothekenurteil in Deutschland 195819. Daher darf ich eine konkrete Ausführung des Sachverhalts unterlassen. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, daß der japanische Gerichtshof ähnlich wie in Deutschland zwischen der freien Berufsausübung und der freien Berufswahl unterschieden hat. Der Gerichtshof hatte für die Einschränkung der freien Berufswahl folgende Voraussetzungen als notwendig befunden: Erstens muß die zu treffende Beschränkung für die Bewahrung eines wichtigen öffentlichen Interesses notwendig und rational begründet sein. Zweitens darf die Beschränkung nur dann eingeführt werden, wenn eine Einschränkung der freien Berufsausübung nicht für das Erreichen des vorgesehenen Zieles ausreicht. Es wird deutlich, daß diese japanische Entscheidung einerseits in Anlehnung an die „Drei-Stufen-Theorie" des deutschen Apothekenurteils erfolgte, welche eine konkrete Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit darstellt. Andererseits aber wurde im Rahmen der Ermessenskontrolle ein amerikanisches Kriterium, nämlich der "Least restrictive alternative-standard", angewandt. Dieses konkrete Beispiel unterstützt unsere bisherige These: Die Lehre und Praxis der japanischen Verfassung war und ist dadurch gekennzeichnet, daß sich die Auswirkung aus der Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Recht auch innerhalb des Rahmens des anglo-amerikanischen Rechts fortsetzt.

3. Die institutionelle Garantie und die Neutralität des Staates

Die Besatzungsmächte waren nach dem Krieg der Auffassung, daß der japanische Militarismus ideologisch auf der Verbindung von Staat und Shinto-Religion basierte. Sie ordneten daher eine strikte Trennung an. Art. 20 der gegenwärtigen japanischen Verfassung garantiert die Religionsfreiheit. Gleichzeitig heißt es dort in Abs. 3, daß „der Staat und seine Organe sich nicht mit religiöser Erziehung oder sonst irgendwelchen religiösen Tätigkeiten befassen dürfen". Diese Trennung zwischen Staat und Religion, die in diesem Artikel verankert wurde, stammt urprünglich aus Art. 1 des amendments der amerikanischen Verfassung von 1791. 18 19

OGHE (S) 4, 572. BverfGE 7, 377.

202

Akira M t a

Als 1977 die Verfassungsmäßigkeit einer mit öffentlichen Mitteln unterstützten Shinto-Weihe eines öffentlichen Gebäudes überprüft wurde, lieferte der japanische Oberste Gerichtshof die folgende Interpretation: a) Bei der Bestimmung der Trennung zwischen Staat und Religion handelt es sich in erster Linie um eine institutionelle Garantie, die auf einer wissenschaftlichen Theorie beruht. Diese Bestimmung garantiert die Religionsfreiheit nicht direkt, sondern bezweckt, die Garantie der Religionsfreiheit abzusichern. Dieses Prinzip aber bedeutet nicht, daß der Staat keinerlei Betätigung vollziehen darf, welche im Zusammenhang mit der Religion steht. b) Wenn das Ziel von Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Religion stehen und an denen der Staat beteiligt ist, eindeutige religiöse Bedeutung hat und wenn diese Aktivität die Stärkung oder Schwächung einer Religion bewirkt, dann ist die Beteiligung des Staates nicht zulässig. Das gerade oben ausgeführte Kriterium wird in Japan als Ziel- und Wirkungskriterium bezeichnet Dieses Kriterium wurde von dem sogenannten „Lemon-Test" abgeleitet, welchen das amerikanische Oberste Bundesgericht, der Supreme Court, verwendet. Aber in bezug auf unser Thema ist der folgende Aspekt der noch interessantere und wichtigere: Für die Entscheidung dieses Rechtsstreites hatte der japanische Oberste Gerichtshof den Begriff der „institutionellen Garantie" verwendet. Der Begriff ist ein spezieller Begriff in der deutschen Verfassungswissenschaft und beruft sich bekannterweise auf die Theorie von Carl Schmitt (1888198S). Durch die Anwendung dieses ursprünglich deutschen Begriffs hat der Gerichtshof die Möglichkeit eröffnet, daß eine Berührung zwischen Staat und Religion innerhalb bestimmter Grenzen als nicht unzulässig betrachtet werden kann20. Erinnern wir uns kurz der japanischen Verfassungsgeschichte: In der Meiji-Zeit hatte der japanische Konstitutionalismus das Verhältnis zwischen Staat und Religion auf der Grundlage geregelt, die von den Ideen der deutschen Rechtswissenschaftler von Stein und Roesler stammt. Demgegenüber steht die gegenwärtige japanische Verfassung in bezug auf die Trennung zwischen Staat und Religion in deutlichem Kontrast. Die heutige Verfassung wird durch den starken Willen gekennzeichnet, eine große Distanz zum Shintoismus zu schaffen. Vom Standpunkt der Entscheidung des Verfassungsgebers aus gesehen wird jede mögliche Form der Berührung 20 Der Oberste Gerichtshof hat in einem anderen Urteil vom 1. Juni 1988 (OGHE (Z) 42, 277) diese Rechtsauffassung noch einmal bekräftigt.

Das Grundgesetz — Bericht Japan

203

zwischen Staat und Religion in Art. 20 Abs. 3 der Verfassung nicht zugelassen. Aber die Praxis der Justiz, nämlich der japanische Oberste Gerichtshof, verwendete die beiden Begriffe „institutionelle Garantie" „Neutralität des Staates", um die Möglichkeit zu schaffen, unter Beibehaltung des Grundprinzips der Trennung von Staat und Religion diese Trennungsbestimmung auf die gegenwärtigen Verhältnisse Japans inhaltlich genauer abzustimmen. Schlußüberlegungen Abschließend möchte ich über meine Ansicht bezüglich der weiteren Entwicklung des deutsch-japanischen rechtswissenschaftlichen Dialoges sprechen. Zwei Aspekte, die mir dabei besonders wichtig erscheinen, möchte ich kurz erläutern: 1. Die bisherigen Überlegungen haben sicher gezeigt, daß die Auseinandersetzung der japanischen Wissenschaftler mit dem deutschen Recht keine oberflächliche, sondern eine tiefergehende Auseinandersetzung war. Allerdings meine ich ,tiefergehend* hier nicht nur in historischer Ausdehnung, sondern vielmehr geht es dabei um die Art und Weise der Auseinandersetzung. Wir sprachen bisher zwar von der JEinflußnahme der deutschen Rechtswissenschaft4, aber zumindest von japanischer Seite betrachtet war sie eine selbstbewußte und eigenständige Aneignung und Anwendung eines fremden Rechtsdenkens. Nach meiner Ansicht kennzeichnet diese aktive Rezeption die Geschichte der deutsch-japanischen Auseinandersetzung von Anfang an. Diese Grundhaltung der japanischen Rechtswissenschaft wird auch weiterhin den Dialog mit der deutschen prägen. Die japanische Rechtswissenschaft wird sich sowohl theoretisch als auch praktisch mit der deutschen befassen. In der Justizpraxis werden die deutschen Rechtsstreitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit und die dabei angewandte Auslegungstechnik auf ein noch stärkeres Interesse in Japan stoßen, als es bisher schon in der Nachkriegsszeit der Fall war. 2. Wenn wir aber die Problematik des deutsch-japanischen Dialogs noch schärfer betrachten und unseren Blick über die gewohnte Ebene der wissenschaftlichen Diskussion sowie über die Ebene der rechtsdogmatischen Techniken hinaus werfen, erkennen wir ein grundlegendes Problem, das noch nicht gelöst ist. In der modernen Verfassungswissenschaft gilt der Begriff »Freiheit' ebenso wie der Begriff ,Staat4 als Schlüsselbegriff. Die Idee von .Freiheit4

204

Akira M t a

an sich ist ursprünglich in Europa, im engen Zusammenhang mit dem Christentum, geboren. Aber diese Idee wird heute unabhängig von West und Ost in der Tat als ein auf der positivrechtlichen Ebene verstandener Begriff in der Verfassung allgemein verwendet Wenn man aber über den Begriff im Kontext der Rechtsphilosophie sowie der Kultur nachdenkt, wird man sich hier wohl die folgende Frage stellen: Ist der Begriff als lebendiger und authentischer Bestandteil in der japanischen Gesellschaft in das kulturelle und geistige Selbstverständnis integriert? Diese Frage stellt sich jedoch mehr oder weniger aus europäischer Sicht, weil sich die Europäer als Urheber und Verbreiter der Idee von Freiheit verstehen, was geschichtlich gesehen auch berechtigt ist. Allerdings trifft diese Fragestellung für mich noch nicht den Kern der Problematik, weil die Freiheitsidee in ihrer europäischen Ausprägung nicht unbedingt die einzige Alternative ist. Um das Problem der Freiheitsidee in Japan umfassend diskutieren zu können, müßten wir die aus der japanischen Geistesgeschichte gewachsene Auffassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft der aus Europa übernommenen Freiheitsidee gegenüberstellen und die Konformität der beiden Ideen überprüfen. Diese Aufgabe stellte sich eigentlich schon vor 100 Jahren, als die Meiji-Regierung aufgrund der Kodifikationsberatung des deutschen Professors Roesler den Begriff »Freiheit* in ihre Verfassung aufgenommen hatte. Natürlich hat es unter den damaligen geschichtlichen Bedingungen keine Möglichkeit gegeben, sich damit intensiv auseinanderzusetzen. Aber diese Aufgabe ist seitdem nicht gelöst und bleibt immer aktuell. Nach dem japanischen Selbst- und Gesellschaftsverständnis werden Individuum und Gesellschaft, im Kontrast zu dem europäischen, nicht als ständig im Konflikt stehende Gegensätze empfunden. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft unter den Japanern nicht vorhanden wäre. Das Selbstbewußtsein ist auch bei ihnen genauso stark ausgeprägt Der Unterschied zwischen der europäischen, in der Neuzeit dominierenden emanzipatorischen Individualitätsauffassung und der japanischen Auffassung liegt wohl im allgemeinen kulturellen Konsens in Japan, daß das Individuum auf die Gesellschaft angewiesen ist und umgekehrt. Anders ausgedrückt: Individuum und Gesellschaft seien zwei untrennbare Komponenten, die sich gegenseitig ergänzen. Diese wechselseitige Abhängigkeit wird überwiegend im emotionalen Bereich der einzelnen Menschen wahrgenommen und tief erlebt, wobei nicht zu übersehen ist, daß sie auch institutionell tradiert wird, wie ζ. B. in der familiären Erziehung und der schulischen Ausbildung, beziehungsweise in der Behandlung der jugendlichen Kriminellen. Somit funktioniert diese Wechsel-

Das Grundgesetz — Bericht Japan

205

seitige Abhängigkeit von Individuum und Gesellschaft als Ordnungsprinzip des gesellschaftlichen Lebens in Japan. Diese wechselseitige Abhängigkeit beinhaltet in bezug auf das Individuum gegensätzliche Aspekte. Einerseits stellt die Gesellschaft, bzw. die soziale Gruppe, zu der es gehört, den Rahmen dar, in dem es sich entfalten und wohl geborgen fühlen kann. Andererseits verpflichtet die Gruppe das Individuum, ihrem allgemeinen Interesse entsprechend zu handeln, das bedeutet ggf. persönliche Ansprüche im Interesse des Einklangs der verschiedenen Gruppenmitglieder zurückzustellen. Diese ambivalente Beziehung von Individuum und sozialer Gruppe ist sicher in jeder menschlichen Gemeinschaft, unabhängig von einzelnen Kulturen, in unterschiedlichem Maße vorhanden. Aber was die japanische Gesellschaft kennzeichnet, ist die Bereitschaft, diese Ambivalenz, so wie sie ist, zu akzeptieren21. Die vorangegangenen Beschreibungen bedürfen selbstverständlich einer weiteren konkretisierenden Ausführung, auf welche jedoch aufgrund der thematischen Begrenzung dieses Aufsatzes verzichtet werden muß. Auf jeden Fall stellen sie meines Erachtens einen Bezugsrahmen dar, in dem die Auffassung von Freiheit in Japan beleuchtet werden kann. Die Freiheitsidee in Japan zielt nicht darauf ab, das Individuum von den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und somit die vollständige Autonomie zu realisieren, sondern darauf, souverän mit der Ambivalenz von Individuum und Gesellschaft, die der wechselseitigen Abhängigkeit innewohnt, umzugehen. Diese Einstellung, deren ausgeprägte Form in Japan anzutreffen ist, ist aber meines Erachtens der abendländischen Kultur nicht ganz fremd. So spricht der deutsche Kulturphilosoph Hans Maier (1931-) - ausgehend von der abendländischen Geistestradition - von einer Freiheit, „für die die Hilfs- und Ergänzungspflicht der Menschen nicht Gegenbild und Störung ist . . . , sondern inhärierendes Element der Freiheit selbst"22. Die kulturellen Voraussetzungen sind bei ihm und uns unterschiedlich. Aber seine Vorstellung scheint mir die Richtung anzudeuten, in der wir, trotz der kulturellen Differenz von Ost und West, die Diskussion über die Freiheitsidee vertiefen können. Mein Thema, beziehungsweise der Themenkreis unserer Diskussion, bezog sich auf die internationalen Wirkungszusammenhänge der Verfas21

Carl Hermann Ule stellt den grundsätzlichen Unterschied im Rechtsverständnis der Japaner und der Deutschen dar, indem er ζ. B. auf »die ablehnende Einstellung der Japaner zur Führung von Prozessen« hinweist (Ule, Fn. 1-a, S. 604). Diese „Einstellung der Japaner'4 beruht meines Erachtens auf den oben erwähnten japanischen Verhältnissen von Individuum und Gesellschaft. Zu dieser Problematik von Individuum und Gesellschaft in Japan liefert das folgende Buch eine aufschlußreiche Analyse: T. Doi, The Anatomy of Self - The Individual Versus Society (Übs. von Mark A. Harbison), 1987. 22 H. Maier , Die Grundrechte des Menschen im modernen Staat, 1973, S. 71.

206

Akira M t a

sungen. Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser bedeutsamen, aber schwierigen Problematik ist es sicher von wesentlicher Bedeutung, den kulturellen und rechtsphilosophischen Aspekt mitzuberücksichtigen, auch wenn viele Fragen bei der Untersuchung dieses Aspekts offenbleiben müßten. Ich wünsche mir, daß unser deutsch-japanischer Dialog auch in diesem Bereich vertieft wird, und daß ich dazu einen kleinen Beitrag leisten kann.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang Von Christoph Gusy I· Fragestellung1 Völkerrechtliche Wirkungszusammenhänge staatlicher Verfassungen sind wegen der unterschiedlichen Grundstrukturen der internationalen Rechtsordnung einerseits und des innerstaatlichen Rechts andererseits nur sehr eingeschränkt möglich. Der maßgebliche Grund hierfür liegt in den unterschiedlichen Regelungsgegenständen beider Ordnungen2. Während das Völkerrecht nahezu ausschließlich die Rechtsbeziehungen zwischen rechtlich gleichgeordneten Beteiligten regelt, hat das staatliche Recht - und insbesondere das Verfassungsrecht - die Ausübung von „Staatsgewalt", also die Rechtsverhältnisse zwischen über- und untergeordneten Rechtssubjekten, zum Gegenstand. Abgekürzt läßt sich dieser Befund so beschreiben: Völkerrecht ist eine Ordnung rechtlicher Koordination, staatliches eine Ordnung rechtlicher Subordination. Sind also die Gegenstände beider Ordnungen verschieden, so sind notwendig auch die Ordnungen verschieden3. Aus dieser Perspektive sind „Wirkungszusammenhänge" nur dort möglich, wo - entweder ausnahmsweise das Staatsrecht koordinationsrechtliche hungen zum Gegenstand hat\ dies ist etwa der Fall, wenn die Anwendbarkeit völkerrechtlicher Grundsätze auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Bundesländern diskutiert wird4;

Be

- oder aber wo ausnahmsweise das Völkerrecht subordinationsrechtliche Materien regelt; dies ist insbesondere in den Grundrechtsbestimmungen 1

Für vorbereitende Mateiialsammlung und anregende Gespräche zum Thema danke ich Frau Jutta Schneider, Mainz. 2 Überblick statt aller bei A. Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975, S. 264 ff.; insbes. S. 296 ff.; E. Menzel/K. lpsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, S. 49 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universeües Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 33 ff.; 53 ff. 3 Bekannteste Folge dieser Verschiedenheit ist der Streit um den rechtlichen Monismus bzw. Dualismus zwischen Staats- und Völkerrecht, Nwe. o. Fn. 2. 4 Überblick und Nwe. bei Bleckmann Fn. 2, S. 337 ff.

208

Christoph Gusy

des internationalen Rechts der Fall. Diese sollen im Zentrum der folgenden Darstellung stehen.

Π. Völkerrechtliche Wirkungen im Grundgesetz Menschenrechtsgarantien aus dem Völkerrecht haben in der Rechtsordnung der Bundesrepublik auf unterschiedliche Weise Eingang gefunden. Während der Beratungen zum Grundgesetz (GG) durch den Parlamentarischen Rat waren solche Einwirkungen praktisch noch nicht möglich. Die erste Äußerung der internationalen Staatengemeinschaft zu den Menschenrechten, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 verabschiedet. Zwar lag sie während der Beratungen zum GG noch nicht vor; doch waren nicht-amtliche Übersetzungen von Entwürfen in Deutschland schon bekannt5 und lagen dem Parlamentarischen Rat vor. Einzelne Formulierungen im Grundrechtsteil des GG lehnen sich an Wendungen der AEMR an; das gilt insbesondere für solche Artikel, welche in der deutschen Verfassungsgeschichte keine Vorläufer haben. Auffällig sind insbesondere Übereinstimmungen in - Art. 1 Abs. 1,2 GG und S. 1 der Präambel der AEMR; beide sprechen von „Würde" der Menschen, von „unveräußerlichen Rechten" und ihrer Bedeutung für „Frieden und Gerechtigkeit in der Welt"; - Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 3 AEMR; beide sprechen vom Recht auf „Leben" und „Freiheit"; - Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 AEMR; die Aufzählung der „verpönten" Merkmale stimmen fast wörtlich überein; - Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG und Art. 19 AEMR; die Informationsfreiheit ist in beiden erstmals garantiert; - Art. 11 Abs. 1 GG und Art. 13 Abs. 1 AEMR\ beide sprechen von Freizügigkeit innerhalb der Staatsgrenzen; - Art. 16 Abs. 1 GG und Art. 15 Abs. 2 AEMR; die Entziehung der Staatsangehörigkeit darf danach nicht „willkürlich" erfolgen; Staatenlosigkeit darf nicht eintreten (Art. 15 Abs. 1 AEMR). Darüber hinaus haben zu einzelnen weiteren Grundrechtsartikeln im Parlamentarischen Rat Erörterungen stattgefunden, welche auf die AEMR 5

Siehe AöR 1948, S. 158; zum folgenden grundlegend K. J. Ρ arisch, in: U. Scheuner/ B. Lindemann, Die Vereinten Nationen und die Mitarbeit der Bundesrepublik Deutschland, 1973, S. 109, 111 ff.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

209

Bezug nahmen. Das ist insbesondere für Art. 3,4,6 Abs. 1, Abs. 5,7,17 GG nachweisbar6.

Dies gilt ungeachtet der Tatsache, daß die AEMR - wie alle Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen - kein Völkerrecht setzte. Der Erklärung kam somit keine rechtliche Geltung zu; ein Befund, der allerdings in der Bundesrepublik seinerzeit nicht unumstritten war. Aus dieser Kontroverse kann immerhin eine der dunkelsten Bestimmungen des GG, nämlich Art. 1 Abs. 2 GG\ einen positiven Sinngehalt erlangen. Danach bekennt sich das Deutsche Volk zu den Menschenrechten „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Dieser Satzteil geht über jene naturrechtlichen Erklärungsansätze weit hinaus, welche sich überwiegend auf die „Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit" solcher Rechte beziehen8. Diesen weitergehenden Sinngehalt kann man als Bekenntnis des Grundgesetzes zu rechtlich geltenden, internationalen Menschenrechten deuten. Zwar konnte auch eine solche innerstaatliche Norm der AEMR keine völkerrechtliche Geltung verleihen, aber sie ist doch als Anerkennung der Berechtigung und Notwendigkeit eines über den einzelnen Staat hinausgehenden Menschenrechtsschutzes, der als solcher nur durch das Völkerrecht sichergestellt werden kann, deutbar. Betrifft diese „Wirkung" der AEMR den internationalen Menschenrechtsschutz im allgemeinen, so lassen sich auch wesentlich konkretere Einwirkungen auf das deutsche Recht feststellen. Sie gehen wegen der besonderen Bedingungen der Schaffung internationaler Menschenrechtskonventionen9 allerdings weniger von deren Schaffung oder bloßen Existenz als vielmehr von ihrer Auslegung und Anwendung durch zwischenstaatliche Gremien oder Organisationen zu ihrer Durchsetzung aus. Es sind dann weniger die abstrakten Normen als vielmehr deren konkrete Handhabung, welche einzelne Wirkungen auf das deutsche Recht ausübt. Solche konkreten Wirkungen lassen sich für das deutsche Recht insbesondere feststellen - durch die Rechtsprechung des EGMR zur „negativen Koalitionsfreiheit", welche diese als Schutzgut des Art. 11 EMRK erscheinen ließ und 6

Einzelnachweise bei Partsch (Fn 5). Siehe zu dieser Bestimmung grundlegend E. Denninger, JZ 1982, S. 225. 8 Siehe dazu aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates die Ausführungen zum ersten Satzteü insbes. von Siisterhenn, JöR 1, S. 52; v. Mangoldt, ebd.; Süsterhenn, ebd., S. 53; dagegen Heuss, ebd.; dagegen bleibt die zweite Satzhälfte unerklärt. 9 Dazu näher C. Gusy , ZfRechtsVergi. 1989, S. 1. 7

14 Battis/Tsatsos/Mahienholz

210

Christoph Gusy

so die deutsche Diskussion um die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG von diesem Problem entlastete10; - durch die Rechtsprechung des EuGH zw Art 119 EWGV 11 , welcher die Gleichheit von Mann und Frau im Arbeitsleben als unmittelbar geltendes Recht qualifizierte und dadurch das deutsche Recht von der umstrittenen Frage der Drittwirkung und der Reichweite des Art. 3 Abs. 2, 3 GG im Arbeitsrecht entlastete. Ein solcher „iGrundrechtsimport" 12 wird aber nicht nur durch völkerrechtlich geschaffene Organe der internationalen Staatengemeinschaft betrieben. Er findet sich auch in der Rechtsprechung des BVerfG. Dieses hat die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK als Ausprägung der Menschenwürde und des Rechtsstaatsprinzips in das deutsche Recht implantiert 13. Ausdrücklich geschah dies wegen ihrer völkerrechtlichen Anerkennung ungeachtet ihrer fehlenden expliziten Anerkennung im Grundgesetz. Gerade wegen der zumindest zweifelhaften Berechtigung des Gerichts zur Schaffung neuen Verfassungsrechts 14 stellt sich diese Rechtsprechung als „völkerrechtlicher Wirkungszusammenhang" im deutschen Recht dar.

ΠΙ. Wirkungen des deutschen Rechts im Völkerrecht Die Wirkungen der deutschen Grundrechte auf das Völkerrecht werden entstehungsgeschichtlich durch zwei besondere Umstände geprägt: - Zunächst die Tatsache, daß die Bundesrepublik in der internationalen Staatengemeinschaft ein newcomer ist. Nach dem 2. Weltkrieg hatten sich UNO und Europarat von Seiten der Kriegsgegner des nationalsozialistischen Deutschland konstituiert. Die UNO ging politisch direkt aus der Kriegsallianz der späteren Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs hervor. Erst mit der internationalen Rehabilitierung der Bundesrepublik und dann auch der DDR wurde eine deutsche Mitwirkung in jenen Organisationen politisch überhaupt denkbar. So wurde die Bundesrepublik gemeinsam mit der DDR - in die im Jahre 1945 gegründete UNO erst im 10 EKMR, EuGRZ 1980, S. 450; dazu R. Scholz, AöR 1981, S. 79; EGMR, EuGRZ 1981, S. 559; dazu Thomashausen, ebd., S. 564; Scholz, AöR 1982, S. 126; Überblick über die europäische Praxis bei J. A. Frowein / W. Peukert, EMRK, 1985, Art. 11 Rn. 8 ff. 11 EuGH, NJW 1980, S. 2014; siehe auch EuGH, Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs 1985, Bd. 4, S. 1459, 1475 ff. (Rechtssache 248/83). 12 Den Ausdruck verdanke ich Herrn Vizepräsidenten des BVerfG Dr. Mahrenholz. 13 BVerfGE 19, 342, 347; 74, 358, 370. 14 Ablehnend etwa C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, 1985, S. 139 ff. m.w.N.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

211

Jahre 1973 aufgenommen15; dem im Jahre 1950 gegründeten Europarat trat sie im Jahre 1951 bei16. Die Bundesrepublik fand also die internationale Staatengemeinschaft als organisierten und rechtlich verfaßten Zusammenschluß bereits vor.

Menschenrechte poli- Sodann die Tatsache, daß die völkerrechtlichen tisch die Kodifikation der Kriegsziele der Siegermächte des Weltkr darstellen. Sind Menschenrechte, welche die Rechtsbeziehungen zwischen Staaten und ihren eigenen Bürgern regeln, in einer Völkerrechtsordnung, welche vor den „inneren Angelegenheiten" der Einzelstaaten halt macht, rechtlich ein Widerspruch, so erklärt sich dieser Widerspruch politisch aus der Entstehungsgeschichte der internationalen Ordnung nach dem 2. Weltkrieg. Für die späteren Gründerstaaten der UNO, die seit 1944 für die künftige Sicherung des Weltfriedens zusammenarbeiteten, war die AEMR die Zusammenfassung derjenigen Ziele, für deren Verwirklichung sie im Weltkrieg angetreten waren17.

des Völkerrechts Beide Umstände erhellen: Die Grundrechtsgarantien sind durch die deutsche Geschichte eher negativ als positiv inspirie diesem Sinne erscheint es denn auch konsequent, daß die Bundesrepublik bei ihrem Eintritt in die Staatengemeinschaft die Menschenrechte schon vorfand. Die AEMR, aber auch die internationalen Menschenrechtspakte von 196618 datieren zeitlich vor dem deutschen Beitritt zur UNO; und auch die EMRK aus dem Jahre 1950 war bereits vollendet, als die Bundesrepublik dem Europarat beitrat. Beide hier genannten Umstände stellen sich so als Faktoren dar, welche die möglichen Einwirkungen des Grundgesetzes auf die internationale Menschenrechtsentwicklung eher hinderten als förderten. Die Entstehung der allermeisten Menschenrechtsgarantien im internationalen Recht konnte daher von der deutschen Rechtsordnung nicht beeinflußt werden. Ein deutscher Einfluß kann daher am ehesten bei der Auslegung 19, der Fortentwicklung, der Anwendung und den Wandlungen der internationalen Menschenrechtsgarantien aufgezeigt werden. Solchen Einflüssen soll im folgenden nachgegangen werden. 15

BGBl. 1973 II, S. 430, 505. BGBl. 1953 II, S. 558; siehe noch BGB1. 1968 II, S. 1926; für Berlin 1968 II S. 573. 17 Dazu näher Gusy, ZfRechtsV (Fn. 9). 18 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, BGB1. 1973 II, S. 1570; Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBL 1973 II, S. 1534. 19 Zu Wirkungszusammenhängen zwischen der Auslegung des Völkerrechts einerseits und des nationalen Verfassungsrechts andererseits allgemein G. Ress, DGfV 23 (1982), S. 7, 16 ff. 16

14·

212

Christoph Gusy

1. Schaffung völkerrechtlich bindender Menschenrechte

Stellte die AEMR nur eine politische Absichtserklärung und kein bindendes Völkerrecht dar, so war es seit 1948 die Absicht der Vereinten Nationen, den politisch anerkannten Menschenrechten auch rechtliche Geltung zu verschaffen. Dies gelang allerdings erst in den Menschenrechtspakten von 1966. Diese Pakte, weitere Anstrengungen im Hinblick auf neue Rechtsgarantien im Rahmen der UNO und die Konventionen und Protokolle im Rahmen des Europarates kennzeichnen die hier verfolgte Tendenz der Wandlung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes: Weg von der bloß politischen Deklaration der Menschenrechte hin zu einer juristisc verbindlichen Statuierung entsprechender Garantien. Es geht hier also z nächst nicht um inhaltlich neue Rechtspositionen, sondern um die Geltungsbegründung bzw. -Verstärkung der schon bekannten Garantien.

Diese internationale Entwicklung liegt ganz auf der Linie des GG, welches von der Anerkennung rechtlich verbindlicher Grundrechtsverbürgungen ausgeht (Art 1 Abs. 3 GG). Diese Parallele bedeutet aber noch nicht, daß insoweit ein deutscher Einfluß auf die internationale Entwicklung feststellbar wäre. Vielmehr wäre ein solcher Einfluß nur aufweisbar, wenn sich die völkerrechtliche Entwicklung zumindest auch im Hinblick auf das deutsche Recht vollziehen würde. Dafür bedarf es eines Nachweises. Als Test für deutsche Einflüsse im Völkerrecht soll hier folgender Umstand herangezogen werden: Völkerrechtliche Menschenrechtspakte treten regelmäßig erst in Kraft, wenn eine gewisse Mindestzahl von Staaten sie ratifiziert hat20. Es ist diese Mindestzahl von Staaten, welche dem Abkommen seine Geltung überhaupt erst verleiht. Daraus läßt sich - mit aller Vorsicht folgende Hypothese formulieren: Ein Staat, der überdurchschnittlich häufi zu den Erstzeichnern von Menschenrechtspakten zählt, setzt sich offe überdurchschnittlich für die Schaffung völkerrechtlich bindender schenrechte ein. Als Testfall für deutsche Einflüsse stellt sich damit die Frage, inwieweit die Bundesrepublik zu diesen Erstzeichnern zählte. - Bei den Menschenrechtspakten der UNO von 1966, die erst 9 Jahre nach ihrer Unterzeichnung in Kraft traten21, zählte die Bundesrepublik zu den Erstzeichnern22, obwohl sie im Jahre 1966 noch nicht Mitglied der UNO war. 20

Siehe etwa Art. 27 IPWiitKultSozR, 49 IPBürgPolR: 35 Staaten; Alt. 66 Abs. 2 EMRK: 10 Staaten; Ait. 7 Abs. 1 S. 2 4. ZP zur EMRK, 8 Abs. 1 6. ΖΡ zur EMRK: 5 Staaten. 21 IPBürgPolR: 23.3.1976; IPWiitKultSozR: 3.1.1976. 22 Bundesgesetze vom 15.11.1973, BGBl. II, S. 1533; vom 23.11.1973, BGBl. II, S. 1569.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

213

- Ähnlich verhält es sich bei der EMRK 23 , ihrem 2., 3. und 5. ZP 24 , nicht hingegen bei dem 1. ZP,25 beim 4. ZP,26 und beim 6. ZP 27 .

Aus dem so aufgezeigten Trend fällt in jüngerer Zeit das Verhalten der Bundesrepublik gegenüber der UNO-Konvention gegen die Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vo 10.12.198428. Während die Konvention am 26.6.1987 in Kraft trat, stand zu diesem Zeitpunkt die deutsche Unterzeichnung und Ratifikation noch aus. Und dies, obwohl Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG das Folterverbot im deutschen Recht längst positiviert hat; und ungeachtet der Tatsache, daß „die Bundesrepublik wesentlich an der Ausarbeitung der Konvention mitgewirkt" hat29. Die Gründe für das deutsche Zögern lagen darin, daß befürchtet wurde, durch einen Beitritt zusätzlichen Personen Asylrecht gewähren zu müssen, welchen dieses Recht nach Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG nicht zustehe. Solche insbesondere im Bundesrat von einzelnen Bundesländern gehegten - Befürchtungen waren zwar in der Sache unbegründet30. Sie ließen dennoch die Bundesrepublik zeitweise von dem Beitritt zur Konvention Abstand nehmen mit der Erwägung, der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz gehe in diesem Falle aus deutscher Sicht zu weit. Aus diesem Grunde zählte die Bundesrepublik nicht zu jenen 20 Staaten, aufgrund deren Ratifikation die Konvention in Kraft trat (Art. 27 Folterkonvention).

Analog trat auch die weitergehende Europäische Konvention über den Schutz inhaftierter Personen vor Folter und anderer grausamer, unm licher und entwürdigender Behandlung oder Strafe" vom 26.6.198731 1.2.1989 ohne deutsche Ratifikation in Kraft. Zu den genannten Auseinan23

953. 24

In Kraft seit 3.9.1953; deutsches Ratifikationsgesetz v. 7.8.1952, BGBl. II, S. 685,

2. und 3. ZP in Kraft seit 21.9.1970; 5. ZP in Kraft seit 20.12.1971; deutsches Ratifikationsgesetz vom 10.12.1968, BGBl. II, S. U l i . 25 In Kraft seit 18.5.1954; deutsches Ratifikationsgesetz vom 20.12.1956, BGBl. II, S. 1879. 26 In Kraft seit 2.5.1968; deutsches Ratifikationsgesetz vom 9.5.1968, BGBl. II, S. 422. 27 Inkrafttreten am 1.3.1985; deutsches RatifikationsG v. 23.7.1988, BGBl. II, S. 662. Die Hinterlegung der deutschen Ratifikationsurkunde erfolgte erst im Jahre 1989. 28 Text in EuGRZ 1985, S. 131; zur Entstehungsgeschichte A. Riklin (Hrsg.), Internationale Konventionen gegen die Folter, 1978, pass., insbes. S. 35 ff.; ders., EuGRZ 1978, S. 389; S. Trechsel, ÖZOR 1982, S. 245; zur Konvention selbst M. Nowak, EuGRZ 1984, S. 109. 29 K. HailbronnerlA. Randelzhofer, EuGRZ 1986, S. 641. 30 Kritische Wiedergabe der Bedenken bei K. Lüthke, ZRP 1988, S. 52, 53 f.; ausführliche Widerlegung durch HailbronnerlRandelzhofer (Fn. 29), pass. 31 Text in EuGRZ 1988, S. 569; zum Inhalt M. Nowak, EuGRZ 1988, S. 537 m.w.N.; Lüthke (Fn. 30), S. 52.

214

Christoph Gusy

dersetzungen über die Reichweite des Asylrechts traten hier aus deutscher Sicht Vorbehalte gegen das Überwachungssystem des Übereinkommens32 hinzu.

Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die Bundesrepublik zählt zu denjenigen Staaten, die in der Mehrzahl der Fälle für die völkerrechtlich dende Anerkennung von Menschenrechten sorgen; dies gilt jedoch nicht in allen Fällen. Ein diesbezüglicher Einsatz läßt sich insbesondere feststellen, wenn und soweit die völkerrechtlichen Abkommen den in der Bundes blik schon erreichten grundrechtlichen Standard internationalisieren Geht demgegenüber das Völkerrecht über den Standard des GG nach Ansicht der zuständigen deutschen Organe hinaus, so ist die Bundesrepublik jedenfalls kein Motor der internationalen Entwicklung. Orientiert sich so das Ratifikationsverhalten der deutschen Staatsorgane auch am grundrechtlichen Standard des GG, so kann darin sehr wohl eine Wirkung des deutschen Rechts im internationalen Bereich gesehen werden.

2. Abschaffung der Todesstrafe

Als spezifisch „deutsches Thema" des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes lassen sich die Initiativen zur Abschaffung der Todesstrafe bezeichnen. Während in der AEMR das Thema nicht angesprochen war, hat weltweit Art. 6 Abs. 2, Abs. 5 IPBürgPolR deren Zulässigkeit eingeschränkt; Art. 6 Abs. 6 zumindest indirekt deren Abschaffung angesprochen. Auch Europa war zu Beginn der fünfziger Jahre weit von der Abschaffung der Todesstrafe entfernt; Art. 2 Abs.l S. 2 EMRK schützt das Leben „abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist." Das deutsche Recht griff dem zeitgenössischen Rechtszustand in Art. 102 GG weit voraus; ein Umstand, der darauf hindeutet, wie sehr diese Materie im GG von der spezifisch deutschen Vergangenheit und den Erfahrungen des Parlamentarischen Rates mit ihr geprägt ist. Die völkerrechtliche Entwicklung verlief hier auf 2 Ebenen. Die weltweite Tendenz führte in Art. 6 IPBürgPolR bislang zu einer Eindämmung der Zulässigkeit der Todesstrafe* Das Ziel ihrer Abschaffung ist hier bislang Desiderat geblieben. Auf der Grundlage des Art. 6 IPBürgPolR ist am 32 Erwähnt bei Nowak (Fn. 31), S. 538; auch Lüthke (Fn. 30), S. 52, berichtet ohne näheren Nachweis von „Widerstand besonders der Regierungen von Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland". 33 Zu dieser Vorbedingung völkerrechtlicher Menschenrechte allgemein Gusy, ZfRechtsVeigl. (Fn. 9). 34 Überbück über die Entwicklung bei /. Maier, VN 1981, S. 6.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

215

19.11.1980 unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik der Entwurf eines (Zweiten) Fakultativprotokolls zum Pakt bei den Vereinten Nationen eingebracht worden, der nicht nur die Beschränkung, sondern die völlige Abschaffung der Todesstrafe zum Ziel hat35. Dieser Antrag ist bislang allerdings über Ausschußberatungen nicht hinausgekommen. Unterstützung erhielt die Initiative praktisch nur von solchen Staaten, die in ihrem nationalen Recht die Todesstrafe bereits abgeschafft haben36. Nachdem vom Ausschuß ein Bericht verfaßt worden war, wurde im zuständigen Unterausschuß mit 4 : 3 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) Nichtbefassung beschlossen37; ein Beschluß, der erst von der Generalversammlung korrigiert wurde: Mit 64: 15 Stimmen (bei 57 Enthaltungen, darunter beide Supermächte) wurde am 7.12.1987 beschlossen, die Angelegenheit in der 44. Sitzungsperiode erneut zu behandeln38. Nach neueren Schätzungen könnte ein derartiges Zusatzprotokoll mit ca. 40 Beitritten rechnen; dagegen wollen ca. 135 Staaten die Todesstrafe beibehalten39. Die Stagnation dieser Bemühungen läßt sich am besten in der Feststellung von Bundesaußenminister Genscher zusammenfassen, der im Jahr 1985 in den nahezu gleichen Worten wie schon 198040 den Kampf gegen die Todesstrafe als Anliegen der „praktischen Menschenrechtspolitik44 der Bundesrepublik in der UNO bezeichnete41. Größere Erfolge waren parallelen Initiativen im Rahmen des Europarates beschieden. Hier gingen die Initiativen von Schweden aus42; fanden allerdings bereits frühzeitig Verbündete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und im Europäischen Parlament der EG 43 . Die anfangs hiergegen insbesondere von türkischer und britischer Seite vorgetragenen Argumente verloren jedoch erheblich an Gewicht, seit im Jahre 1969 diese Strafform in Großbritannien für Friedenszeiten unbefristet abgeschafft wurde und in den Jahren 1973 und 1979 sich klare Mehrheiten im Unterhaus gegen ihre Wiedereinführung aussprachen44. Mit der Abschaffung der To35 Bericht bei Maier (Fn. 34), S. 8 f.; weitere Unterzeichner sind Costa Rica, Italien, Österreich, Portugal und Schweden. 36 /. Jahn, VN 1983, S. 63. 37 B. Laitenberger, VN 1988, S. 27 f. 3e Bericht von M. Palm-Risse, VN 1988, S. 28 (ff.). 39 Laitenberger (Fn. 37). 40 H. D. Genscher, VN 1980, S. 175, 173. 41 H. D. Genscher, VN 1986, S. 7, 10. 42 Maier, (Fn. 34), S. 9, ausführlich H. Hartig t EuGRZ 1980, S. 340. 43 Siehe Entschließung v. 21.11.1980, EuGRZ 1981, S. 157; v. 18.6.1981, EuGRZ 1981, S. 413. 44 Hartig (Fn. 42), S. 342 (insbes. doit Fn. 22); die letzte Hinrichtung hat in Großbritannien im Jahre 1964 stattgefunden.

216

Christoph Gusy

desstrafe in Frankreich (1981) und den Niederlanden (1983) stand dem 6. ZP zur EMRK vom 28.4.1983 nichts mehr im Wege, welches deren Abschaffung für Friedenszeiten (Art. 1) und die Möglichkeit ihrer Wiedereinfüh nur in Kriegszeiten (Art. 2) statuiert45. Das Protokoll trat nach seiner Ratifikation durch die vorgesehene Mindestzahl von 5 Mitgliedsstaaten (Art. 8 Abs. 1) am 1.3.1985 in Kraft 46. Obwohl sich die Bundesrepublik seit 1979 für das Zusatzprotokoll eingesetzt hatte47, zählte sie zu diesen 5 Erstmitgliedern nicht. Ihre Ratifikation erfolgte erst im Jahre 1988, ihr Beitritt im Jahre 198948. Die unterschiedlichen Erfolge hinsichtlich der weltweiten Initiativen einerseits und der europaweiten Bemühungen andererseits resultieren insbesondere aus 2 Umständen:

v - In Europa ist die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe schon erreichten rechtlichen Standard weniger weit entfernt als in ganzen Welt. Je näher sich völkerrechtliche Abkommen zu Menschenrechtsfragen am innerstaatlich schon erreichten Standard orientieren, desto größer sind ihre Realisierungschancen. Zu dem, was man ohnehin schon praktiziert, kann man sich rechtlich leichter verpflichten als zu dem, was innenpolitisch erst noch - gegebenenfalls gegen Widerstände - umgesetzt werden muß.

- Weltweit ist die Zahl der prinzipiellen Befürworter der Todesstraf sentlich größer als in Europa. So gab es in Europa keinen Staat, der als Gegner des Zusatzprotokolls mit dem Argument auftrat, er sei aufgrund seiner religiösen oder kulturellen Tradition zu einer Beibehaltung der Todesstrafe verpflichtet. Solche prinzipiellen Gegner jeder Abschaffungsinitiative traten in der UNO zahlreich auf 49; in Europa gab es sie aufgrund der größeren kulturellen und rechtlichen Homogenität dagegen nicht.

Trotz des zögerlichen deutschen Ratifikationsverhaltens kann zusammenfassend festgestellt werden, daß die (Bemühungen um die) Abschaffung der Todesstrafe im Völkerrecht von der rechtlichen Signalwirkung Grundgesetzes und den auf sie aufbauenden politischen Bemühungen Bundesrepublik wesentlich mitgetragen wurde. Wo Erfolge bislang ausblie 45

Eingehend dazu H. H artig, EuGRZ 1983, S. 270. Erstmitglieder waren Dänemark, Luxemburg, Österreich, Schweden, Spanien; Hartig (Fn. 45), S. 340. 47 Maier (Fn. 34), S. 9. 48 G. v. 23.7.1988, BGBl. II, S. 662; BGBl. 1989 II, S. 814 dazu R. Gdliess, NJW 1989, 1019. 49 Jahn (Fn. 36) (zu islamischen Staaten). 46

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

217

ben, lag das weniger an mangelnden Bemühungen als vielmehr an zu großen Widerständen.

3. Recht auf Asyl: Eine gescheiterte Initiative

Die dargestellten Durchsetzungsmechanismen von Menschenrechtsinitiativen in der Völkerrechtsgemeinschaft erwiesen sich deutlich an der internationalen Diskussion um das Recht auf Asyl. Die Bundesrepublik ist weltweit der einzige Staat, welcher bestimmten Verfolgten einen Anspruch auf Schutz durch das Asyl mit Verfassungsrang einräumt Andere Staaten kennen entweder in ihren Verfassungen allein objektiv - rechtliche Bestimmungen über das Asyl oder aber ein subjektives oder objektives Asylrecht allein mit Gesetzesrang50. Ein Anspruch auf Asylgewährung des Verfolgten ist jedoch nur in einer geringen Zahl von Ländern positiviert. Der politis Hintergrund dieser Abstinenz ist darin zu sehen, daß die Staatengemeinschaft Flüchtlingsfragen nach dem St.-Florians-Prinzip behandelt: Die Aufnahme von Flüchtlingen wird als wichtiges Anliegen angesehen, sofern dies nicht im eigenen Land geschehen muß. Dem entspricht nicht nur die Zurückhaltung bei der Gewährung von Ansprüchen auf Asyl; sondern auch das praktisch völlige Fehlen einer internationalen Zusammenarbeit bei der Bewältigung größerer Flüchtlingsströme51. Exakt dieser Befund entspricht auch der überkommenen völkerrechtlichen Lage. Art. 14 AEMR enthält allein das Recht auf Flucht, nicht jedoch dasjenige auf Asylgewährung52. Auch die „Deklaration über territoriales Asyl" der Generalversammlung der Vereinten Nationen53 statuiert kein bindendes Völkerrecht; zudem fordert sie weder die Pflicht der Staaten zur Asylgewährung noch gar ein Recht des Verfolgten auf ein solches Asyl. Schließlich begründet Art. 13 IPBürgPolR lediglich ein Recht auf förmliche Entscheidung über die Ausweisung aus einem Staat; nicht hingegen ein Bleibe- oder gar ein Asylrecht. Auch die EMRK und die zu ihr ergangenen Zusatzprotokolle schweigen über Asylfragen; die Rechtsprechung hat lediglich aus dem Verbot der unmenschlichen Behandlung (Art. 3 EMRK) in Einzelfällen ein Recht einer Person hergeleitet, nicht in einen Staat abgeschoben oder ausgeliefert zu werden, in welchem ihr unmenschliche Behandlung droht54. 50

Überblick bei H. /. v. Pollern, Das moderne Asylrecht, 1980, S. 49 ff. Eingehend dazu C. Gusy t AWR - Bulletin 1980, S. 73. 52 O. Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 81. 53 UN-Res. 2312 (XXII) vom 14.12.1967. 54 Grundsätzlich BVerwGE 3, 235, 236; siehe auch OVG Münster, DöV 1956, S. 382; dagegen jedoch BWVGH, VerwRspr 8, S. 859, 861; dem entspricht die h. M. in der Lit.; 51

218

Christoph Gusy

Vor diesem Staats- und völkerrechtlichen Hintergrund unternahm die Bundesrepublik - partiell gemeinsam mit anderen Staaten - in den siebziger Jahren mehrere Anläufe, das Asylrecht im Völkerrecht zu verankern55. Ausgangspunkt dafür waren Experteninitiativen gewesen, welche mit Unterstützung des Hohen Flüchtlingskommissars der UN seit 1975 auf eine Beratung des Asylproblems durch die UN hinwirkten. Die Experten hatten sich auf die Kompromißklausel verständigt56, wonach die Staaten sich verpflichten sollten, „in Ausübung seiner Souveränitätsrechte in humanitärem Geiste alles zu tun, jeder Person . . . Asyl zu gewähren". Diese - eher nach einer Ermessensbindung als nach einem subjektiven Recht klingende Formulierung stieß charakteristischerweise auf Kritik von 2 Seiten: Während zahlreiche westliche Staaten den Entwurf für unzureichend hielten, weil er die Rechte der Staaten überbetone und diejenigen der Verfolgten vernachlässige57, sahen andere Staaten in dem Entwurf gerade umgekehrt eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten und hielten den Entwurf für überflüssig58. In dieser Situation kam die Delegation der Bundesrepublik auf ihren auch schon schriftlich vorgelegten - Abänderungsantrag zurück59, statt einer bloßen Ermessensbindung einen Anspruch auf Asyl zu statuieren für alle Personen „persecuted on political grounds44. Daß dieser Antrag, der auch von westlichen Staaten als unrealistisch empfunden wurde, nur 4 zustimmende, aber 53 ablehnende Stimmen bei 21 Enthaltungen fand, konnte angesichts der Vorgeschichte nicht überraschen. Im Ergebnis angenommen wurde vielmehr ein jordanischer Antrag, der gegenüber der Entwurfslage die Rechte der Verfolgten noch weiter schmälerte.

Verlauf und Ergebnis dieser deutschen Initiative zeigen erneut, daß Wirkungen einzelstaatlicher Menschenrechtspolitik im Völkerrecht ums eintreten, je näher sich die jeweiligen Initiativen an dem Stand orientie der in den Mitgliedstaaten der Völkergemeinschaft schon erreicht i dort doch gerade angestrebt wird. Zu mehr als demjenigen Handeln, welNwe. bei C. Gusy, Asylrecht und Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 38 Fn. 53. Zu der politischen Haltung der europäischen Staaten und insbes. den Mitgliedstaaten des Europarates, soweit sie införmlichen Beratungsvorlagen oder Beschlüssen zum Ausdruck gekommen ist, v. Pollern (Fn. 50), S. 177 ff. 55 Berichte bei P. Wels, BYIL 50 (1979), S. 151; v. Pollern (Fn. 50), S. 147 ff.; 156 ff.; siehe auch E. Reichel, Das staatliche Asylrecht „im Rahmen des Völkerrechts", 1987, S. 36 f. 5e UN-Doc. A/10177, Annex S. 38 ff. 57 Nwe. bei v. Pollern (Fn. 50), S. 245 Fn. 857: „eher Konvention zum Schutz der Staaten vor Asylsuchenden als eine Konvention zum Schutz der Asylanten'* (so der Delegierte Australiens); zu diesen Kritikern gehört auch die Bundesrepublik. 58 Nwe. ebd., Fn. 858. 59 Näher dazu v. Pollern (Fn. 50), S. 156 ff.; zum Beratungsverlauf ebd., S. 151.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

219

ches man ohnehin schon betreibt, verpflichten sich die Staaten auch im Völkerrecht jedenfalls dann ungern, wenn es dafür - wie in der Menschenrechtspolitik - keine direkten Gegenleistungen gibt. Daß unter anderen rechtlichen Rahmenbedingungen die Durchsetzung eines Asylanspruchs im Völkerrecht nicht aussichtslos ist, zeigt Art 22 Nr. 7 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention vom 21.11.196960, die am 18.7.1978 in Kraft trat. Sie statuiert ein „right to seek and to be granted asylum", das allerdings unter Gesetzes vorbehält steht; dieses Recht ist in Art 22 Nr. 8 durch einen Auslieferungs- und Abschiebungsschutz für Verfolgte ergänzt. Charakteristischerweise trat die Amerikanische Menschenrechtskonvention zunächst allein zwischen südamerikanischen Staaten in Kraft, die eine eigenständige, homogene Asylrechtstradition aufweisen.

4. Durchsetzung völkerrechtlich bindender Menschenrechte

Jede Rechtsnorm reicht praktisch nur so weit wie die Mechanism welche zu ihrer Durchsetzung vorhanden sind. Dieser Satz gilt ungeachtet der prinzipiellen Unterschiede hinsichtlich der Geltungsbedingungen und Wirkungsweisen von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht auch für den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz. Auswirkungen des Grundgesetzes im zwischenstaatlichen Bereich können so nicht nur bei der Schaffung, sondern auch bei der Durchsetzung völkerrechtlicher Menschenrechte erkennbar werden. Grundlage dieser Betrachtung kann dabei folgender Vergleichsmaßstab sein: Die Geltungs- und Durchsetzungsmechanismen der internationalen Menschenrechte sind komplexer als diejenigen des nationalen Rechts. Im Völkerrecht lassen sich hier 2 Verwirklichungsebenen unterscheiden:

- Einerseits die politische Wirkungsebene, welche die Menschenrechte Zwecken politischer Selbstdarstellung der Staaten benutzt. Politisc wirksam ist ein „Menschenrecht", wenn es einem Staat den „Erfolg" einträgt, gegenüber anderen Staaten sich als Hüter oder Wahrer von Individualrechten darstellen zu können. Eine solche Darstellung läßt sich besonders effektvoll erreichen, wenn entweder ein Staat in Berichten an internationale Organisationen unwidersprochen darlegen kann, daß er auf seinem Territorium die Menschenrechte achtet; oder aber wenn er in internationalen Gremien wirkungsvoll als Ankläger gegen andere Staaten auftreten kann, welche die Menschenrechte angeblich nicht achten. Kaum eine internationale Menschenrechtskonvention verzichtet dem60

Text in JiR (15) 1971, S. 822; AVR (15) 1971/72, S. 346; zur Konvention näher bei Krutzner, JiR 1971, S. 287; T. Buergenthal, EuGRZ 1984, S. 169.

220

Christoph Gusy

nach auf die Schaffung von Gremien, welche Menschenrechtspropaganda zu diesem Zweck ermöglichen61. Umgekehrt wehren sich Mitgliedsstaaten, die von solcher Menschenrechtspropaganda betroffen sind, regelmäßig mit dem Einwand der unzulässigen Einmischung in ihre „inneren Angelegenheiten" (Art 2 Nr. 7 UN-Charta). Des ungeachtet sind solche Gremien für die Durchsetzung des internationalen Menschenrechtsschutzes keineswegs völlig bedeutungslos; im Gegenteil: Kein Staat läßt sich gern von anderen attestieren, gegen selbst übernommene Verpflichtungen verstoßen zu haben.

- Andererseits die rechtliche Wirkungsebene, welche die Menschenrechte als Instrument des individuellen Rechtsschutzes anerkennt. Zwar gilt im Völkerrecht ein Satz des Inhalts: „Wo ein Menschenrecht ist, muß auch ein Rechtsweg sein", nicht.62 Des ungeachtet neigt die Literatur gerade im deutschsprachigen Raum dazu, nur solche Garantien als völkerrechtliche Menschenrechtsverbürgungen anzuerkennen, deren Einhaltung durch Organe des Individualrechtsschutzes gesichert wird63. Bezeichnend ist aber, daß solche Organe in nahezu keinem Menschenrechtspakt obligat eingeführt sind; vielmehr sind sie regelmäßig lediglich in Zusatzabkommen fakultativ vorgesehen64.

Rechtsschutz ist so kein den völkerrechtlichen Menschenrechtsabko men innewohnendes, sondern ein zu ihnen hinzutretendes Element. Od anders ausgedrückt: Art. 19 Abs. 4 GG zählt nicht zu denjenigen Bestandteilen des GG, welche sich im Völkerrecht durchgesetzt haben. In den völkerrechtlichen Rechtsschutzgremien ist der Einfluß der deutschen Rechtsauffassungen schon deshalb geradezu notwendig begrenzt, weil hier deutsche Mitwirkende - sofern überhaupt vorhanden - eben nur ein Mitglied unter vielen sind. Der EKMR und dem EGMR gehören aus jedem Konventionsstaat je ein Mitglied an (Art. 20 S. 2, 38 S. 2 EMRK). Dem Menschenrechtsausschuß der Art. 28 ff IPBürgPolR gehört zwar nicht aus jedem Mitgliedstaat ein Mitglied, wohl aber höchstens ein Mitglied an (Art. 31 Abs. 1 IPBürgPolR). Damit ist der Einfluß jeder nationalen Rechtsordnung notwendig begrenzt. Ihre Einflußchancen sind umso größer, je stärker die Grundprinzipien einer Rechtsordnung internationalisiert sind, so daß in 61 Ait. 28 ff. IPBürgPolR: Menschenrechtsausschuß; 16 ff. IPWiitSozKultR: Wirtschafts- und Sozialrat der UN; mit Einschränkungen auch der Ministerausschuß gem. Art. 32 EMRK. 62 Ein solcher Satz würde inhaltlich etwa dem Art. 19 Abs. 4 GG entsprechen. 63 Siehe etwa Menzel/Ipsen (Fn. 2), S. 117 ff.; Verdross/Simma (Fn. 2), 1238 ff. (beide mit Überblick). 64 Siehe das Fakultativprot. zum IPBürgPolR vom 19.12.1966; in der Wirkung gleich Art. 25 Abs. 1 S. 1, 46 Abs. 1 EMRK.

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

221

völkerrechtlichen Gremien nicht nur ein, sondern mehrere Mitglieder auf sie verpflichtet sind. Eine Prüfung der Tätigkeit internationaler Gremien, insbesondere derjenigen des Europarates, unter diesem Aspekt zeigt, daß der Grad der Internationalisierung des deutschen Rechts hinter demjenigen anderer Staaten zurückbleibt. Dies beginnt schon bei den Amtssprachen: Die Amtssprachen der Kommission (Art. 24 Abs. 1 VerfO) und des Gerichtshofes (Art. 27 Abs. 1 VerfO) sind englisch und französisch. Es gibt bislang nicht einmal eine amtliche Übersetzung der Entscheidungen in der deutschen Sprache. Die Sprache prägt aber nicht nur den Ausdruck des Denkens, sondern auch das Denken selbst. Dies zeigt schon die äußere Abfassung jeder Entscheidung: Ihr Aufbau aus -

amtlichen Leitsätzen, Tatbestand, durchnumerierten Gründen und Tenor am Schluß der Entscheidung

würde in der Bundesrepublik jedem Referendar - und erst recht jedem Gericht - als fehlerhaft angekreidet. Auch hier hat sich offenbar der deutsche Einfluß nicht durchgesetzt. Vielmehr zeigen die Entscheidungen Charakteristika der französischen Praxis, die hier offenbar erfolgreicher war, da sie auch in anderen Staaten in ihren Grundzügen anzutreffen ist (Belgien, Luxemburg). Aber nicht nur Äußerlichkeiten, sondern auch die Auslegungsmethoden der Organe des Europarates weichen von denjenigen der deutschen Gerichte ab. Da die einzelnen Mitgliedsstaaten unterschiedliche Methodiken praktizieren und es eine spezielle Methode des Europarates - oder auch eine spezielle europäische Methodenlehre - nicht gibt, praktizieren die Europaratsorgane Methoden, die eher dem allgemeinen Völkerrecht entnommen sind. Dazu zählen insbesondere - die starke Betonung von Wortlautargumenten (Art. 31 Abs. 1 WVK), - die Hervorhebung der Systematik der Konventionen (Art. 31 Abs. 2 WVK), - die Überprüfung der so gefundenen Auslegung am Sinn und Zweck der Konventionen (Art. 31 Abs. 1 WVK), - die Zurückdrängung der historischen Auslegung (Art. 31 Abs. 4; 32 WVK), - die Berücksichtigung der „jeweiligen Zeitumstände" und ihrer Wandlungen auch nach Abschluß der Konvention (Art 31 Abs. 3 WVK),

222

Christoph Gusy

- die Bezugnahme auf - durch Rechtsvergleich gewonnene gemeinsame Standards der Mitgliedstaaten (analog Art. 38 Abs. 1 c IGH-Statut).

Diese - von Gerichtshof und Kommission als „objektive Auslegung"63 bezeichneten - Methoden weichen von in der Bundesrepublik - und gerade 66 in der Verfassungsrechtswissenschaft - angewandten Methoden erh ab. Die wichtigsten Abweichungen sollen hier nur genannt, nicht hingegen ausführlich begründet werden. Es sind die? - die relativ hohe Bedeutung von Wortlautargumenten bei der Konvention im Gegensatz zur deutschen Staatsrechtswissenschaft, die eher dazu neigt, zunächst über den Wortlaut hinauszudenken und sodann über ihn hinwegzugehen67; - die überaus Juristische " Denkweise der Europaratsorgane im Unterschied zur „interdisziplinären" Denkweise der deutschen Staatsrechtswissenschaft, welche ohne „Verfassungstheorie", „Weitphilosophie" und „Wirklichkeitswissenschaft" kaum noch auszukommen meint68; - die daraus folgende Zurückhaltung der Europaratsorgane gegenüber der Mobilisierung von ,,Konventionsaufträgen 14, „Staatszielbestimmungen" und „Generalklauseln" zugunsten der Anwendung konkreter Normen; welche einer deutschen Praxis entgegensteht, die sich mit Hilfe abstrakter Prinzipien auch gegen konkrete Normen durchsetzt69. So fällt denn auch auf, daß eine große Zahl verfassungsrechtsfortbildender Standardthemen des deutschen Verfassungsrechts für den Bereich der EMRK gar kein Problem darstellt. Auf die Idee, die Konventionsrechte könnten „objektive Werte" oder gar eine „objektive Wertordnung" darstellen, sind die Konventionsorgane bislang nicht gekommen. Daher wurden ihr auch noch keine originären „Leistungsrechte" oder Zahlungsansprüche entnommen; wohl aber ausdrücklich geregelte derivative Teilhaberechte, nämlich Zugangsrechte zu den Rechtsschutzorganisationen70. Auch die in Deutschland umfangreiche Diskussion über die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte beantworteten die Konventionsorgane eindeutig, 65

Siehe dazu Frowein/Peukert (Fn. 10), Einf. Rn. 7 ff. m.w.N. Siehe zu den deutschen Methoden die Überblicke bei E.-W. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529; NJW 1976, S. 2089; F. Ossenbühl, NJW 1976, S. 2100. 67 F. Müller, ARSP 1970, S. 493, 500. 68 Jüngster Überblick bei M. Morlok, Was ist und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1989. 69 Dieses „Prinzipiendenken'4 erläutert zuletzt R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 71 ff. 70 EGMR, EuGRZ 1975, S. 91; 1979, S. 626; 1983, S. 523. 66

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

223

nämlich negativ71. Parallelen lassen sich noch am ehesten bei der Betonung von Grenzen der Einschränkbarkeit von Konventionsrechten - und hier insbesondere bei dem Gedanken der „Wesensgehaltsgarantie" - feststellen72. Dabei ist allerdings unverkennbar, daß für diese verbalen Parallelen eigenständige Rechtsgründe in originären Bestimmungen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes vorhanden sind. Dazu zählen zunächst die limitierten Einschränkungsvorbehalte, wie sie etwa in Art. 8 Abs. 2; 10 Abs. 2; 11 Abs. 2 EMRK vorgesehen sind73; andererseits die Bestimmungen der Art. 14, 17, 18 EMRK, die dem Wesensgehaltsgedanken jedenfalls vergleichbare Anordnungen treffen 74. Ob hier die Redeweise von dem „Wesensgehalt" der Grundrechte nur eine Parallele zwischen Völkerrecht und deutschem Recht oder aber einen verbalen Wirkungszusammenhang darstellt oder aber tatsächlich eine Rezeption von Grundrechtsbestimmungen des GG durch die Konventionsorgane darstellt, läßt sich angesichts des geringen Materials zu diesem Phänomen noch nicht abschließend feststellen.

Die Abweichung der Dogmatik des internationalen Menschenrechtsschutzes gegenüber der Dogmatik der Grundrechte des GG schließt keineswegs aus, die juristische Qualität der Entscheidungen der Konventions gane als hoch zu bezeichnen.

IV. Schluß „Wirkungszusammenhänge" zwischen GG und internationalem Recht lassen sich in beiden Richtungen aufzeigen. Sie sind ein Indiz für den Rang und die Stellung der Bundesrepublik in der Völkergemeinschaft. Gerade unter diesem Aspekt ist der vorliegende Überblick kein Anlaß zu Pessimismus: Nur wer die Stellung der Bundesrepublik im internationalen Konzert von vornherein überschätzt, wird angesichts der objektiven Befunde ernüchtert sein. Umso eher können diese Befunde Anlaß dazu geben, die eigenen verfassungs- und völkerrechtlichen Einsichten und Erkenntnisse kritisch zu überprüfen. Ein Gedanke sei hierzu wenigstens angesprochen. Dazu soll noch ein Seitenblick auf die politischen Mechanismen zum Zwecke des internationalen 71 Frowein/Peukert (Fn. 10), Art. 1 Rn. 12. Dies schließt staatliche Schutzpflichten gegen Handlungen Dritter nicht aus, wo sie in der Konvention eindeutig statuiert sind. Das gilt insbes. für Art. 4 EMRK. 72 Überblick hierzu bei P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 271 ff. 73 Zur Auslegung dieser Bestimmung W. Berka, ÖZÖR 1986, S. 87, 71, 82 ff. 74 Darauf verweist auch Häberle (Fn. 72), S. 273 Fn. 59.

224

Christoph Gusy

Menschenrechtsschutzes geworfen werden75. In diesen Gremien war die Ausreisefreiheit jahrelang ein „deutsches Thema". Diese Freiheit ist gerade im deutschen Recht schwach ausgeprägt76; dagegen im Völkerrecht seit Art 13 Abs. 2 AEMR etwa in Art. 12 Abs. 2 IPBürgPolR und in Art. 2 Abs. 2 des 4. ZP zur EMRK verankert77. Die Praxis der Verwirklichung dieses Rechts in einigen Staaten ist mehrfach Beratungsgegenstand von Menschenrechtsgremien gerade der UN gewesen78. Daß insoweit partiell Fortschritte eingetreten sind, ist durchaus auch als Erfolg der internationalen Bemühungen zu verstehen. Das politische Echo auf die steigenden Ausreisezahlen - auch und gerade in der Bundesrepublik - zeigt aber sogleich, daß die Verwirklichung völkerrechtlicher Menschenrechtsgarantien mit Kosten und Lasten verbunden sein kann; und zwar nicht nur für solche Staaten, von denen die Gewährung der Menschenrechte erst noch gefordert wird.

V. Zusammenfassung 1. Völkerrechtliche Wirkungszusammenhänge des Grundgesetzes (GG) lassen sich wegen der unterschiedlichen Regelungsgegenstände des innerstaatlichen Rechts einerseits und des internationalen Rechts andererseits am ehesten bei den Menschenrechten feststellen. 2. Die Formulierung mehrerer Grundrechtsgarantien des GG orientiert sich an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Das gilt insbesondere für solche Grundrechte, die im deutschen - gesamtstaatlichen - Verfassungsrecht neu sind. 3. Daneben wirken Auslegung und Anwendung der internationalen Grundrechtsgarantien durch zwischenstaatliche und durch deutsche Instanzen auf das deutsche Recht ein. 4. Das Beitritts- und Ratifikationsverhalten der Bundesrepublik zu völkerrechtlichen Menschenrechtspakten orientiert sich auch am menschenrechtlichen Standard des GG. Im Rahmen des grundgesetzlich Erreichten, aber selten darüber hinaus setzt sich die Bundesrepublik politisch für die Schaffung international verbindlicher Menschenrechte ein. 75

Dazu oben Fn. 18. BVerfGE 6, 32 ff.; lediglich in Art. 2 Abs. 1 GG verankert. 77 Eingehend R. Hofmann, Die Ausreisefreiheit nach Völkerrecht und nach staatlichem Recht, 1988. 78 Siehe nur die Berichte Palm-Risse (Fn. 38), S. 30; 195. Als Staaten, welche hinter den völkerrechtlich gebotenen Standards zurückblieben, wurden hier etwa die DDR, die UdSSR, Albanien, die Türkei und Vietnam genannt; ebd., S. 31. 76

Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang

225

5. Die internationalen Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe einschließlich ihrer Erfolge gehen auch auf deutsche Initiativen zurück. Dagegen scheiterte die Bundesrepublik mit Initiativen zur Einführung eines weltweiten Rechts auf Asyl. 6. Die Durchsetzung internationaler Menschenrechte erfolgt parallel auf politischen und auf justiziellen Wegen. Eine internationale Rechtsweggarantie entsprechend Art. 19 Abs. 4 GG hat sich nicht durchgesetzt. 7. Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Menschenrechte sind von den Methoden und Ergebnissen der deutschen Staatsrechtslehre praktisch nicht beeinflußt. Die internationalen Instanzen orientieren sich mehr an den juristischen Methoden des Völkerrechts als an den - mehr oder weniger - „geisteswissenschaftlichen" Methoden des deutschen Staatsrechts. 8. Die jüngere deutsche Diskussion um den Konnex von Ausreise- und Einreisefreiheit zeigt neue Wirkungszusammenhänge zwischen Grundgesetz und Völkerrecht. Sie schärft den Blick für den politischen Nutzen und die politischen Kosten internationaler Menschenrechtspolitik.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Europarecht im Lichte des Grundgesetzes und seiner Dogmatik* Von Manfred Zuleeg

Unsere Veranstaltung steht im Zeichen der vierzig Jahre, die das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland bestanden hat. Es gilt, seine Rolle im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen herauszuarbeiten. Meine Aufgabe ist es dabei, die Querverbindungen zum Europarecht zu beleuchten. Es bedarf vorab der Klärung, wieso neben den Staaten hier auch die Europäische Gemeinschaft in Erscheinung tritt, deren Recht als Europarecht bezeichnet wird. Immer noch ist zu hören, die Gemeinschaft sei eine besondere Art der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet, so daß die rechtlichen Grundlagen der Gemeinschaft nicht mit Verfassungen von Staaten auf eine Ebene gehoben werden könnten. Eine solche Einstellung ist nicht nur in anderen Mitgliedstaaten mit betont nationaler Grundhaltung, sondern neuerdings auch in der Bundesrepublik Deutschland bei einigen Verfechtern der Eigenstaatlichkeit der Länder anzutreffen. Dieser Standpunkt ist jedoch nicht auf der Höhe der Zeit1. Der Anlaß dieser Veranstaltung legt es nahe, zum besseren Verständnis der Lage auf das Grundgesetz zurückzugreifen. Es stellt die Verfassung eines unvollkommenen Nationalstaats dar. Trotz der leidvollen Erfahrungen mit dem Nationalismus und trotz der Teilung Deutschlands bekannten sich die Schöpfer der als vorläufig gedachten Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit eindringlicher Deutlichkeit zum Nationalstaat2. Dessen Entstehung weist 200 Jahre zurück auf die französische Revolution von 1789, deren Jubiläum wir ebenfalls in diesem Jahr feiern. Ging der Umsturz in Frankreich auch nicht ohne Blutvergießen und Unterdrückung einher, φ Zur Veröffentlichung überarbeitete Fassung eines Vortrags an der Fernuniversität Hagen am 15. April 1989. 1 W. Bernhardt, Verfassungsprinzipien - Verfassungsgerichtsfunktionen - Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, 1987, S. 52-59. 2 M. Zuleeg, Die deutsche Nation im Spiegel des Rechts, DVB1. 1983, S. 486-494; ders., Der unvollkommene Nationalstaat als Einwanderungsland, ZRP 1987, S. 188-191.

15 ·

228

Manfred Zuleeg

hatte die dahinterstehende Idee doch letzten Endes befreiende Wirkung. Es gelang, die Fürstenherrschaft abzuschütteln und im Nationalstaat demokratische Strukturen der Herrschaft herauszubilden. Freilich zeigte es sich bald, daß seine Gestalt ebenfalls zur Tyrannei führen kann, wenn nicht verfassungsrechtliche Sicherungen Einhalt gebieten. Im Verhältnis nach außen fehlte eine dauerhafte und verläßliche Verbindung zwischen den Nationalstaaten, so daß Konflikte bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen unausweichlich waren. Das Grundgesetz hat daraus die Konsequenzen gezogen und einen offenen Nationalstaat ins Leben gerufen 3, der nach der Präambel nicht nur von dem Willen beseelt ist, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren, sondern auch bereit ist, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Art. 24 Abs. 1 GG ergänzt diese Absage an das Bild des geschlossenen Staats, der sich von anderen Staaten abkapselt, durch die Ermächtigung, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und stellt damit zugleich eine Staatszielbestimmung dai4. Auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage beruht die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Gemeinschaft5. Die Bundesrepublik Deutschland hat zusammen mit den anderen Gründerstaaten durch völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft Hoheitsgewalt verliehen, die Schwelle zur Staatlichkeit ist damit aber noch nicht überschritten6. Wir haben so ein neuartiges Gebilde in der Welt der Nationalstaaten vor uns: eine internationale Organisation, die Hoheitsgewalt ausübt und sie in die Form einer eigenen Rechtsordnung gießt, deren Geltungsanspruch sich auf den innerstaatlichen Bereich der Mitglieder erstreckt. Genau dieser Vorgang ist vom „Integrationshebel" gedeckt; denn der Beitritt zu einem Bundesstaat bedürfte einer Verfassungsänderung. Die Europäische Gemeinschaft ist auf zunehmende Verflechtung der ihr angehörigen Staaten angelegt, ihre Eigenart läßt sich daher am besten mit dem Begriff des Integrationsverbands umreißen7. Im Sinne der funktionalistischen Theorie werden einzelne Funktionsbereiche aus der staatlichen All3 Grundlegend: K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 4 Ch. Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Zweitbeaibeitung, 1981, Rdn. 3-5 zu Ait. 24 GG. 5 Η. Ρ. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 47-62 („Integrationshebel"). 6 P. D. Dagtoglou, Die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft, in: Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), 1981, S. 37-46; H. Wagner, Grundbegriffe des Beschlußrechts der Europäischen Gemeinschaften, Kölner Schriften zum Europarecht (KSE), Bd. 5, 1965, S. 74; BVerfGE 22, 293 (296). 7 M. Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Integrationsverband, in: FS Karl Carstens, Bd. 1, 1984, S. 289-303.

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

229

Zuständigkeit ausgegliedert und einer supranationalen Einheit überantwortet. Eine über den Nationalstaaten stehende Organisation ohne staatlichen Charakter ist ein Wagnis8. Es kann nur gelingen, wenn der Verband genügend gefestigt ist, um nicht zum bloßen Rahmen zwischenstaatlicher Kooperation herabzusinken. Es bedarf also einer Grundordnung, die dem Gebilde die notwendige Eigenständigkeit verschafft Die Gründungsverträge sind darauf ausgerichtet, so daß man ihnen kaum den Verfassungscharakter absprechen kann9. Manches blieb darin freilich ungeregelt, für viele Probleme lieferten die Gründungsverträge nur ein grobes Raster. Angesichts der Neuartigkeit des Integrationsvorhabens konnte das auch kaum anders sein. Unter diesen Umständen bewiesen die Schöpfer der Gründungsverträge eine glückliche Hand, indem sie einen Gerichtshof als Hauptorgan der Gemeinschaft ins Lebenriefen und ihm umfassend die Wahrung des Rechts in der Gemeinschaft anvertrauten, der sich so als Verfassungsgericht entwickeln konnte10. Dieser Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, kurz Europäischer Gerichtshof (EuGH) genannt, hat von Anfang an seine Aufgabe so aufgefaßt, daß er sich aufgrund von Art. 31 EGKSV, 164 EWGV und 136 EAGV für berechtigt hielt, die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft auszugestalten, wenn es sein mußte, auch in kühnen Schritten11. Er konnte sich dabei auf die Auslegung von Rechtsnormen nach ihrem Sinn und Zweck stützen, den er vor allem in der Integration der Mitgliedstaaten erblickte und mit dem „effet utile" der Verträge kennzeichnete12. Darüber hinaus betrieb er Rechtsfortbildung durch Richterrecht, wie sie in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten anerkannt ist13. Eine so gewaltige Aufgabe hätte sich wohl schwerlich bewältigen lassen, wenn man nicht Ans Vgl. H. P. Ipsen, Verfassungsperspektiven der europäischen Integration, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 11-29; ders., Über Supranationalität, ebd., S. 97-112. 9 R. Bernhardt, Quellen des Gemeinschaftsrechts: Die „Verfassung" der Gemeinschaft, in: Dreißig Jahre . . . (Fn. 6), S. 77-90; Ρ. Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht - ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Perspektive des Europäischen Gerichtshofs, systematisch geordnet, in: FS Hans Kutscher, 1981, S. 319-338. 10 Bernhardt (Fn. 1), S. 59-62; J. Schwarze, (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983. 11 Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, in: Einzelstudien (Fn. 8), S. 173-206. Zur Funktion von Art. 164 EWGV: Bernhardt (Fn. 1), S. 24-41. 12 Λ. Bleckmann, Teleologische und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1979, S. 239-260; A. Bredimas, Measures of Interpretation and Community Law, Amsterdam 1978, S. 77-80. 13 J. Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, S. 25-43, 182-240; ders., Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1988 (im folgenden: Schwarze 7), S. 57-73.

230

Manfred Zuleeg

regungen aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgegriffen hätte. Unser Interesse gilt dem deutschen Beitrag14. Am vordringlichsten war es, wie aus der Entstehungsgeschichte der Gemeinschaft erhellt, das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten auf gesicherte rechtliche Grundlagen zu stellen. Die Gründungsverträge ließen gerade in diesem Bereich so manche Frage offen. Was läge näher, sie am einzigen Bundesstaat in der Gemeinschaft zu orientieren, um die bestehenden Lücken auszufüllen. An Anleitungen dazu aus der Bundesrepublik Deutschland mangelte es nicht. Man forderte kurzerhand strukturelle Kongruenz15, wonach sich das Homogenitätsgebot des Grundgesetzes nicht nur an die Länder als Gliedstaaten des Bundes wendet, sondern auch den Verband erfaßt, der sich über die Mitgliedstaaten und damit auch die Bundesrepublik Deutschland wölbt. Die Europäische Gemeinschaft hätte dann etwa eine Gewaltenteilung aufweisen müssen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland besteht16. Der EuGH hat zu keiner Zeit solche nationalstaatlichen Modelle übernommen. Wenn er immer wieder das institutionelle Gleichgewicht unter den Organen der Gemeinschaft betont17, dann steckt dahinter keine schlichte Anleihe bei der Verfassung eines gewaltenteilenden Staates, sondern der Gedanke einer auf die Gemeinschaft zugeschnittenen Organverfassung mit spezifischen Zuständigkeiten und einer besonderen Art des Zusammenwirkens der Organe18. Läßt sich so die Gemeinschaft nicht im Sinne eines nach außen projizierten Bundesstaats auffassen, könnte sie doch Nutzen aus einzelnen Errungenschaften bundesstaatlicher Verfassung ziehen. Die Gemeinschaft trägt nämlich Züge, die einem Bundesstaat eigen sind, auch wenn dadurch die Bundesstaatlichkeit noch nicht erreicht wird19. Die föderalen Elemente der Gemeinschaftsverfassung sind es gerade, die das Integrationsprinzip, das in der Gemeinschaft vorherrscht, zum Ausdruck bringen20. Es steht im Gegen14

Dazu bereits U. Everting , Der Beitrag des deutschen Rechts zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Lüneburger Symposion für Hans Peter Ipsen zur Feier des 80. Geburtstages, G. Nicolaysen/H. Quaiitsch (Hrsg.) 1988, S. 63-71. 15 Dazu D. Emrich, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 136 ff. 16 Noch heute sind solche VorsteUungen lebendig, so bei D. Feger, Die Normsetzung auf dem Gebiet der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften - Der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Rechtsetzungsorgan, DÖV 1987, S. 322-325. Zur Kritik an den „verfehlten Homogenität s-Anforderungen" im Beschluß des BVerfG vom 29.5.1974, E 37, 271, heute als Solange I-Beschluß bekannt: Ipsen, BVerfG versus EuGH re „Grundrechte", in: Einzelstudien (Fn. 8), S. 207 (213-219). 17 Z. B. EuGH, Rs. 138/79 (Roquettes Frères/Rat), Slg. 1980, 3333 (3360). 18 Bernhardt (Fn. 1), S. 86-110. " Wagner, KSE 5 (Fn. 6), S. 69-88. 20 Herausgearbeitet von C. Aider, Koordination und Integration als Rechtsprinzipien, Brügge 1969, S. 143-335.

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

231

satz zum Kooperationsprinzip, das die Gemeinschaft mit anderen internationalen Organisationen teilt21. Während die Mitgliedstaaten im Bereich der Kooperation ihre Kompetenzen nicht aus der Hand geben, führt die Integration zu einer Verlagerung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft. Für die Aufteilung und Abgrenzung der Kompetenzbereiche hat man immer wieder das bundesdeutsche Modell herangezogen22. Die Kompetenzen der Gemeinschaft decken aber häufig nicht einen gesamten Sachbereich ab, sondern greifen punktuell in den Bereich ein, der nach wie vor vom nationalen Recht geregelt ist23. Deshalb sollte man im allgemeinen die Rechtsfiguren der ausschließlichen und der konkurrierenden Kompetenzen, wie sie das Grundgesetz kennt, beiseite lassen24. Der Begriff der ausschließlichen Kompetenz läßt sich aber auf manchen Gebieten doch sinnvoll verwenden, so namentlich auf dem Gebiet der Außenhandelspolitik der Gemeinschaft25. Der EuGH hat sich auf die Seite derer geschlagen, die hierfür eine ausschließliche Regelungsbefugnis der Gemeinschaft annehmen26. Er läßt freilich Ausnahmen zu, auf die aber der Begriff der Übergangskompetenz besser paßt als der einer konkurrierenden Zuständigkeit27. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich dadurch aus, daß es vom Grundsatz der Bundes21

Ich folge insoweit nicht der Einteilung von Aider, weil die Gemeinschaft auch zur Koordination Hoheitsgewalt ausüben darf. 22 Vgl. J. Schwarze, Die EWG in ihren völkerrechtlichen Beziehungen, NJW 1979, S. 456 (458 f.). 23 Näher dargelegt bei M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, KSE Bd. 9, 1969, S. 89-91. Als Beispiel sei die Bildungspolitik herausgegriffen. Dazu hat der EuGH in der Rechtssache 293/83 (Gravier/Stadt Lüttich), Slg. 1985, 593 (612), folgendes ausgeführt: „Als erstes ist hierzu festzustellen, daß die Organisation des Bildungswesens und die Bildungspolitik als solche zwar nicht zu den Materien gehört, die der Vertrag der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane unterworfen hat; gleichwohl stehen der Zugang zum und die Teilnahme am Unterricht im Bildungswesen und in der Lehrlingsausbildung, insbesondere, wenn es sich um die Berufsausbildung handelt, nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts". 24 M. Zuleeg, Les répartitions de compétences entre la Communauté et ses Etat membres, in: La Communauté et ses Etat membres, Actes du sixième Colloque del'IEJE sur les Communautés européennes, organisé à Liège les 10, 11 et 12 janvier 1973, Faculté de Droit de Liège (Hrsg.), 1973, S. 23 (26-30): Prinzip der Parallelität der Befugnisse mit Vorrang des Gemeinschaftsrechts. 25 Schwarze, NJW 1979 (Fn. 22), S. 456 (459 f.). 26 EuGH, Gutachten 1/75 („Lokale Kosten"), Slg. 1975, 1355 (1364 f.), wo eine „parallele Zuständigkeit" der Mitgliedstaaten abgelehnt wird; ebenso zur Verkehrspolitik: EuGH, Rs. 22/70 (Kommission/Rat - Europäisches Übereinkommen über den Straßenverkehr AETR) Slg. 1971, 263 (275 f.), wo die ausschließliche einer „konkurrierenden Zuständigkeit" gegenübergestellt wird. 27 M. Zuleeg, Verkehrspolitische Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, in: Europäische Verkehrspolitik, G. Aberle u.a. (Hrsg.), 1987, S. 59 (64-66).

232

Manfred Zuleeg

treue geprägt wird. Der ins Gemeinschaftsrecht eingeführte Begriff der Gemeinschaftstreue läßt seine Herkunft aus dem deutschen Verfassungsrecht deutlich erkennen28. Er findet seinen Ausdruck in den Loyalitätsklauseln der Art. 86 EGKSV, 5 EWGV und 192 EAGV. Man hat es nicht nur für überflüssig, sondern sogar für verfehlt gehalten, Analogien zum Grundsatz der Bundestreue an das gemeinschaftsrechtliche Institut heranzutragen29. Es ist nicht einzusehen, warum ein ausgereifter Grundsatz für die Zusammenarbeit von Hoheitsträgern in einem engen Verband nicht geeignet sein sollte, für die reibungslose Tätigkeit eines ebensolchen Verbands fruchtbar gemacht zu werden. So kann man nach deutschem Muster über die in den Loyalitätsklauseln niedergelegten Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft hinausgehen und sowohl die Mitgliedstaaten untereinander als auch die Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten anhalten, auf die Interessen des Ganzen, aber auch des jeweils anderen Teils zu achten30. Der EuGH benutzt zwar nicht das Wort „Gemeinschaftstreue", verlangt aber von den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten „Solidarität"31 und „loyale Zusammenarbeit"32. In der Sache folgt der EuGH damit der Forderung nach einer umfassenden Treueverpflichtung in einem Zusammenschluß von Hoheitsträgern33. Nach wie vor steht der Vorschlag im Raum, die Regelung, daß Bundesrecht das Landesrecht bricht, ins Gemeinschaftsrecht zu übernehmen. Der Satz heißt dann: Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht34. Dagegen ist einzuwenden, daß die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten eine wesentlich geschmeidigere Lösung des Widerspruchs zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht erfordern, wie sie einfache Kollisionsregeln bieten35, zu denen der Anwendungsvorrang gehört, 28

A. Bleckmann, Ait. 5 EWGV und die Gemeinschaftstreue, DVB1. 1976, S. 483 f. E . Grabitz, Komm, zum EWG-Vertrag, Grabitz (Hrsg.), Loseblattausgabe, Stand 1988, Rn. 15 zu Art. 5, allerdings im Widerspruch zu der Annahme, die Bundestreue könne „zu heuristischen Zwecken" bei der Konkretisierung der Gemeinschaftstreue nützlich sein. 30 Im Ergebnis übereinstimmend Grabitz, ebd. 31 EuGH, Rs. 39/72 (Kommission/Italien - Prämien für die Schlachtung von Kühen), Slg. 1973, 101 (115). 32 EuGH, Rs. 230/81 (Luxemburg/Europäisches Parlament), Slg. 1983, 255 (287). 33 Verdeutlicht in: EuGH, Rs. 44/84 (Hurch/Jones), Slg. 1986, 29 (81): Art. 5 EWGV als „Ausdruck der allgemeinen Regel, daß den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit und Unterstützung obliegen". 34 E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966; erneut: E. W. Fuß, Die Verantwoitung der nationalen Gerichte für die Wahrung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Gedächtnisschrift Christoph Sasse, Bd. I, 1981, S. 171 (185-196). 35 Zuleeg, KSE 9 (Fn. 23), S. 124-128, 136-157; ders., Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten, JöR n.F. Bd. 20 (1971), S. 1 (2229). 29

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

233

der im Gegensatz zum Geltungsvorrang die Gültigkeit nationaler Gesetze nicht antastet, nur ihre Rechtsfolge im Falle des Konflikts ausschließt36. Dennoch hat das deutsche Verfassungsrecht bei der Entwicklung einer gemeinschaftsrechtlichen Kollisionsregel wohl doch Pate gestanden; denn der EuGH ist einem Anstoß aus dem deutschen Rechtsraum gefolgt und hat den Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus einer Reihe von Bestimmungen des EWG-Vertrags hergeleitet, die Schlüsse auf eine solche Regel zulassen37. Der Vorschlag dazu stammt von Hans Peter Ipsen, der sich dabei deutlich von bundesstaatlichen Vorbildern anregen läßt, diese aber den Eigentümlichkeiten des Gemeinschaftsrechts anpaßt38. Mittlerweile hat sich herausgestellt, daß der EuGH bei seiner Leitentscheidung in der Tat Kenntnis vom kurz vorher gehaltenen Vortrag Ipsens in Bensheim gehabt hat39. Der EuGH hat die von ihm begründete Vorrangregel wiederholt bestätigt40. Einige Urteile deuten darauf hin, daß er sie im Sinne eines bloßen Anwendungsvorrangs verstanden wissen will41. Im Urteil Simmenthai (II) klingt freilich der bundesdeutsche Geltungsvorrang doch an. Es wird nämlich einerseits das wirksame Zustandekommen gemeinschaftsrechtswidriger staatlicher Gesetzgebung in Frage gestellt, andererseits das in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehende nationale Gesetz für unanwendbar gehalten42. Man sollte freilich den Anklang des deutschen Verfassungsrechts in der zuerst genannten Wendung nicht überbewerten43. Der Beitrag der deutschen Staatsrechtslehre zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten bleibt auch so bedeutsam44. 36

G. Hoffmann , Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum Recht der Mitgliedstaaten, DÖV 1967, S. 433 (439). 37 EuGH, Rs. 6/64 (Costa / ENEL), Slg. 1964, 1251 (1269-1271). 38 H. P. Ipsen, Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, Europarechtliches Kolloquium in Bensheim 1964: Aktuelle Fragen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1965, S. 1-27, unter Verweisung auf die Schweizer Staatsrechtslehre zum Satz: Bundesrecht bricht kantonales Recht. 39 Ipsen, Bemerkungen zum Referat von Everling, Lüneburger Symposion (Fn. 14), S. 72. 40 EuGH, Rs. 14/68 (Wühelm/Bundeskartellamt), Slg. 1969, 1 (14); Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel), Slg. 1970, 1125 (1135); Rs. 48/71 (Vollzug des Urteils 7/68), Slg. 1972, 529 (534 f.); Rs. 106/77 (Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal), Slg. 1978, 629 (644). 41 EuGH, Rs. 43/71 (Poüti/Rnanzministerium), Slg. 1971, 1039 (1049); Rs. 84/71 (Marimex/Finanzministerium), Slg. 1972, 89 (96). 42 EuGH, Rs. 106/77 (Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal), Slg. 1978, 629 (644). 43 Ipsen, Die Rolle des Prozeßrichters in der Vorrangfrage, in: Einzelstudien (Fn. 8), S. 231 (243-245). 44 Zur Würdigung der Rolle des EuGH in diesem Zusammenhang sei wiederum auf Ipsen verwiesen: Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, in: Einzelstudien (Fn. 8), S. 173 (196-198).

234

Manfred Zuleeg

Ein weiteres Instrument dazu liefert der Grundsatz der gemeinschaftsfreundlichen Auslegung des nationalen Rechts45. Die Bundesregierung regte seine Aufnahme ins Gemeinschaftsrecht im Rahmen von Vorabenscheidungsverfahren an, die eine Richtlinie über die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Arbeitsleben betrafen 46. Die Anregung konnte sich auf den Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung stützen, wie er im bundesdeutschen Verfassungsrecht entwickelt worden ist47. Der EuGH hat sich dem Gedanken nicht verschlossen48 und damit ein weiteres Beispiel dafür geboten, daß die Rechtsordnung der Gemeinschaft auch offen sein kann für Anstöße zur Rechtsentwicklung, die nur aus einem einzigen Mitgliedstaat sein kann. Allerdings müssen dann schon deutliche Anhaltspunkte im Gemeinschaftsrecht vorhanden sein, die es unnötig machen, nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz zu suchen. Im Falle der gemeinschaftsfreundlichen Auslegung konnte sich der EuGH an die Vorrangregel zu Gunsten des Gemeinschaftsrechts anlehnen, deren Ziel es ist, einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht aus der Welt zu schaffen. Gelingt eine gemeinschaftsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts, kann es erst gar nicht zu einem Verstoß kommen. An dieser Stelle möchte ich von den bundesstaatlichen Bestandteilen des deutschen Rechts, die einen Einfluß auf die europäische Rechtsordnung ausgeübt haben, auf die rechtsstaatlichen Wesenszüge übergehen, die sich im europäischen Gemeinschaftsrecht wiederfinden 49. Ich habe schon betont, daß die Verfassung der Gemeinschaft nicht das Modell der Gewaltenteilung wiederspiegelt, das der bundesdeutschen Verfassung eigen ist In einem Punkt besteht bereits nach den Gründungsverträgen Übereinstimmung. Die Stellung des Europäischen Gerichtshofs (und demnächst die des Gerichts Erster Instanz) ist so beschaffen, daß dierichterliche Unabhängigkeit gesichert ist, auch wenn der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte anders als im deutschen Grundgesetz nicht ausdrücklich im Vertragswerk ausgewiesen ist50.

45

Dafür schon Zuleeg, KSE 9 (Fn. 23), S. 62, 197. Slg. 1984, 1987. 47 Näheres bei M. Zuleeg, Gleicher Zugang von Männern und Frauen zu beruflicher Tätigkeit, RdA 1984, S. 325 (329-332); siehe auch ders., Gleicher Zugang von Mann und Frau zum Arbeitsleben als europarechtliches Problem, Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europainstitut Nr. 50, Saarbrücken 1985, S. 11-14. 48 EuGH, Rs. 14/83 (von Colson und Kamann/Land Nordrhein-Westfalen), Slg. 1984, 1891 (1909); Rs. 79/83 (Harz/Deutsche Tradax), Slg. 1984, 1921 (1942). 49 Dazu bereits E. W. Fuß, Rechtsstaatliche Bilanz der europäischen Gemeinschaften, in: FS Günther Küchenhoff, Bd. II, 1972, S. 781-803. 50 Bernhardt (Fn. 1), S. 104. 46

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

235

Eine Verwandtschaft mit dem deutschen Recht ist bei den subjektiven Rechten zu bemerken, auf deren Anerkennung der Gerichtshof großen Wert legt51. Angesichts der untergeordneten Rolle, im Vergleich zu objektiven Grundsätzen, die subjektive Rechte im französischen Verwaltungsrecht und in den ihm ähnlichen Rechtsordnungen der ursprünglichen Mitgliedstaaten spielen, liegt die Vermutung nahe, daß das deutsche Recht als Ausgangspunkt der Entwicklung gedient hat52. Wenn dem so sein sollte, war allerdings nicht das Verfassungsrecht maßgeblich, das uns hier beschäftigen soll, sondern das Verwaltungsrecht, das freilich auch auf europäischer Ebene verfassungsrechtliche Leitbilder aus den Mitgliedstaaten aufnimmt53. Über die Bedeutung hinaus, die im deutschen Recht den subjektiven Rechten zukommt, hat der EuGH noch eine besondere Funktion für die Rechtsordnung der Gemeinschaft hervorgehoben, nämlich die Kollisionsregelung, die dem Fortschritt der Integration zu dienen bestimmt ist, indem die einzelnen, die sich auf ihre Rechte berufen, mit Hilfe der nationalen Gerichte dem Gemeinschaftsrecht die nötige Beachtung verschaffen, unter Umständen auch gegen nationale Gesetze oder den Widerstand der Exekutive in den Mitgliedstaaten54. Dieser Einsatz der subjektiven Rechte für die Sache der Gemeinschaft drängt indessen deren rechtsstaatliche Komponente nicht zurück, im Gegenteil, die Befugnisse der Einzelnen aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht erweitern deren Rechtsstellung55. Die Rechtsprechung zu den subjektiven Rechten fügt sich so in das Vorstellungsbild einer Rechtsgemeinschaft ein, wie Walter Hallstein die Europäische Gemeinschaft benannt hat56. Dem Rechtsstaat, wie er sich in Deutschland herausgebildet hat, entspricht nach dieser Vorstellung auf europäischer Ebene die Rechtsgemeinschaft57. Auf diese Weise kann man den Begriff der Rechtsstaatlichkeit vermeiden, der im Gemeinschaftsrecht nicht angemessen erscheint, weil die Gemeinschaft nun einmal kein Staat ist. Ipsen hat anstelle des Begriffs der Rechtsstaatlichkeit schlicht das Rechtsprin-

51 Wiedergabe der Begründung dieser Rechtsprechung bei Zuleeg, KSE 9 (Fn. 23), S. 174-176. 52 Vgl. J. Schwarze» Der Schutz des Gemeinschaftsbürgers durch allgemeine Verwaltungsrechtsgrundsätze im EG-Recht, NJW 1986, S. 1067, 1072 f. 53 Ebd., S. 1073. 54 Grundlegend EuGH, Rs. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1 (26). 55 Näher dargelegt bei M. Zuleeg, Hat das subjektive öffentliche Recht noch eine Daseinsberechtigung?, DVB1. 1976, S. 509 (520 f.). 56 W. H. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 51-61. 57 J. Schwarze, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz als Ordnungspostulate der Europäischen Gemeinschaft, FS Werner Maihofer, 1988, S. 529-548.

236

Manfred Zuleeg

zip ins Spiel gebracht58. Der EuGH hat den Gedanken einer Rechtsgemeinschaft in seiner Rechtsprechung anerkannt59. Bereits hierin liegt eine bedeutsame Annäherung der Gemeinschaftsverfassungen an das Grundgesetz. Zu einer Rechtsgemeinschaft gehören nach deutschen Vorstellungen auch Grundrechte60. Der EuGH hat sich aber in den Anfangsjahren seiner Tätigkeit geweigert, Grundrechte seinen Entscheidungen zugrunde zu legen61. Die Gemeinschafts Verträge weisen in der Tat keinen Grundrechtskatalog auf. Nach Ansicht des Gerichtshofs binden die Grundrechte aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten die Gemeinschaft nicht, weil sonst völlig verschiedenartige Anforderungen an das Gemeinschaftsrecht herangetragen würden. Das ist zwar noch heute zutreffend, aber dennoch war der daraus folgende Zustand unbefriedigend, weil zunächst jeglicher Grundrechtsschutz im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft geleugnet wurde. Das stieß auf Kritik aus Deutschland und Italien, den Mitgliedstaaten, die zur damaligen Zeit einen ausgeprägten Grundrechtsschutz aus der Verfassung kannten und ihm einen hohen Stellenwert beimaßen62. Der EuGH blieb vom Unbehagen in diesen zwei Mitgliedstaaten nicht unberührt. Bezeichnenderweise bot ihm ein Rechtsstreit, der vor einem deutschen Gericht ablief, die Gelegenheit, im Wege der Vorabentscheidung Grundrechte ins Gemeinschaftsrecht einzubauen. Der Kläger namens Stauder wandte sich dagegen, daß der Berechtigungsschein zum Bezug verbilligter Butter aufgrund einer Entscheidung der Gemeinschaft an die Bundesrepublik Deutschland zu Kontrollzwecken den Namen des Empfängers tragen mußte. Damit hätte sich dieser beim Verkäufer als Angehöriger einer einkommensschwachen Gruppe zu erkennen geben müssen. Der Kläger berief sich auf sein Persönlichkeitsrecht, wie es im Art. 1 GG garantiert sei, 58

H. P. Ipsen, Zur Tragfähigkeit der Verfassungsprinzipien der Europäischen Gemeinschaft, in: Integrationskonzepte auf dem Prüfstand, Arbeitskreis Europäische Integration (Hrsg.), 1983, S. 9 (13-16). 59 EuGH, Rs. 294/83 (Les Verts/Europäisches Parlament), Slg. 1986, 1339 (1365). 60 Freger, DÖV 1987 (Fn. 16), S. 322. 61 EuGH, Rs. 1/58 (Stork/Hohe Behörde), Slg. 1959, 43 (64); verb. Rs. 36/59, 37/59, 38/59 u. 40/59 (Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft u. a. / Hohe Behörde), Slg. 1960, 885 (920 f.); Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251 (1270). 62 Für die deutsche Seite etwa E. Bülow, Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, in: AktueUe Fragen des Europäischen Gemeinschaftsrechts (Fn. 38), S. 28 (58); K. Carstens, Der Rang europäischer Verordnungen gegenüber deutschen Rechtsnormen, FS Otto Riese, 1964, S. 65 (77); Κ. H. Friairf, Die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung im Recht der westeuropäischen Gemeinschaften, AöR Bd. 85 (1960), S. 224 (231); für die italienische Seite sei vor allem auf die Corte costituzionale (Urt. Nr. 98/65 vom 16.12.1965), η Foro italiano, Bd. 89 (1966), Sp. 8 ff. = EuR 1966, S. 149, verwiesen.

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

237

um anonym bleiben zu dürfen, ohne auf die verbilligte Butter verzichten zu müssen. Der Gerichtshof stellte fest, daß Grundrechte der Person als allgemeine Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung von ihm zu sichern seien. Gestützt auf die unterschiedlichen Fassungen in den Amtssprachen der Gemeinschaft wählte er die am wenigsten belastende Anforderung aus, lediglich einen individualisierten Gutschein vorzulegen, wandte also der Sache nach den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an63. Stauder durfte also seinen Namen gegenüber dem Verkäufer von Butter geheimhalten. Aufgrund der Gewohnheit des EuGH, ein Urteil nach dem Namen des Klägers und des Beklagten zu kennzeichnen, hat Stauder allerdings bei allen, die sich mit Europarecht beschäftigen, Berühmtheit erlangt, weil mit seinem Namen die Begründung einer beispiellosen Rechtsprechung verknüpft ist, die zu einem beachtlichen Maß an Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft geführt hat64. Wenngleich die Gestalt des eingesetzten Grundrechts im genannten Urteil noch nicht so recht erkennbar ist, wird der Hintergrund des deutschen Verfassungsrechts doch deutlich. In weiteren Leitentscheidungen treten dann Grundrechte hervor, die so oder ähnlich durch das Grundgesetz gewährleistet sind. Das Urteil im Rechtsstreit zwischen Nold und der Kommission nennt das Eigentum sowie die Freiheit der Arbeit, des Handels und andere Berufstätigkeiten, freilich mit der Anmerkung, daß diese in der Verfassungsordnung aller Mitgliedstaaten geschützt seien65. Jedenfalls machte die Klägerin, eine deutsche Kohlen- und Baustoffgroßhandlung, die Verletzung von Grundrechten geltend, die unter anderem durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschützt seien, und forderte so den EuGH zur Stellungnahme heraus66. 63

EuGH, Rs. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm), Slg. 1969, 419 (424 f.). Aus der großen Zahl von Untersuchungen zu diesem Gegenstand seien nur einige herausgegriffen: K. Β ahlmann, Der Grundrechtsschutz in der europäischen Gemeinschaft, EuR 1982, S. 1-20; B. Beutler, Grundrechtsschutz, in: Komm, zum EWG-Vertrag, Hans von der Groeben u. a. (Hrsg.), Bs. 2, 3. Aufl., S. 1461-1499; M. Dauser, Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, JöR n.F., Bd. 31 (1982), S. 1-22; M. Hilf, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsfaktor, dargestellt anhand der Rechtsprechung zu den Grundrechten, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, Arbeitskreis Europäische Integration (Hrsg.), 1978, S. 23-24; P. Pescatore, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Recht der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1979, S. 1 (2-8); H. W. Rengeling, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft und die Überprüfung der Gesetzgebung, DVB1. 1982, S. 140-144; R. Riegel, Aktuelle Probleme des Europäischen Gemeinschahsrechts in der Rechtsprechung des EuGH nach dem Beschluß des BVerfG vom 25.5.1974 (2 BvL 57/71), AöR Bd. 102 (1977), S. 410 (422-440); J. Schwarze, Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1986, S. 293-299; Ch. Vedder, Ein neuer gesetzlicher Richter? Zum Beschluß des BVerfG vom 22.10.1986, NJW 1987, S. 526-531. 65 EuGH, Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, 491 (507). Es braucht hier nicht nachgeprüft zu werden, welches Ausmaß der Schutz jeweils hat. 64

6

Slg. 1 9 7 ,

5 .

238

Manfred Zuleeg

Dieser ist nicht bei der bloßen Annahme von Grundrechten ins Gemeinschaftsrecht stehen geblieben. Er hat vielmehr den Grundrechten Schranken gezogen, die der Dogmatik des deutschen Verfassungsrechts entstammen könnten. So heißt es in der zuletzt zitierten Entscheidung wörtlich: „Die . . . garantierten Rechte sind aber weit davon entfernt, uneingeschränkten Vorrang zu genießen; sie müssen im Hinblick auf die soziale Funktion der geschützten Rechtsgüter und Tätigkeiten gesehen werden. Aus diesem Grunde werden Rechte dieser Art in der Regel nur unter dem Vorbehalt von Einschränkungen geschützt, die im öffentlichen Interesse liegen. In der Gemeinschaftsrechtsordnung erscheint es weiterhin auch berechtigt, für diese Rechte bestimmte Begrenzungen vorzubehalten, die durch die dem Allgemeinwohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt sind, solange die Rechte nicht in ihrem Wesen angetastet werden. Was insbesondere den Schutz des Unternehmens anbelangt, so kann er keinesfalls auf bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten ausgedehnt werden, deren Ungewißheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehört."67

Die deutsche Dogmatik der Grundrechte hat den Begriff der SchrankenSchranken geprägt, der bildhaft umschreibt, daß der Gesetzgeber, der Schranken für die Ausübung der Grundrechte errichtet, und die Exekutive, die aufgrund solcher Gesetze in die Grundrechtssphäre eingreift, nicht völlig frei in ihrer Handlungsweise sind. Insbesondere haben Lehre und Rechtsprechung dazu den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entwickelt, der seinen Einzug auch ins europäische Gemeinschaftsrecht gehalten hat, wo er zur Ausgewogenheit der Ziele des Gemeinwohls mit den Grundrechten dient, ohne zu einem simplen Eingriffs- und Schrankendenken zu führen 68. Es ist wohl nicht verstiegen zu behaupten, daß entscheidende Impulse zur Anreicherung des Gemeinschaftsrechts um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vom deutschen Rechtsraum ausgegangen sind. In den anderen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sind zwar ähnliche Rechtsfiguren anzutreffen, in der dogmatischen Verfeinerung mit den Unterarten der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, die der EuGH übernommen hat69, war der Grundsatz aber anderswo unbekannt70. Gegenwärtig ist nun 67 68

63.

Slg. 1974, 507 f. I. Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 51-

69 Zusammenfassend zuletzt EuGH, Urteil vom 11. Juli 1989, Rs. 265/87 (Schräder / Hauptzollamt Gronau), Nrn. 20-24, noch nicht in Slg. 70 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, deutsche Sektion der internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.), 1985, mit den Berichten von G. Ress zum deutschen Recht (S. 5-51), F. Teitgen zum französischen Recht (S. 5365), G. M. Ubertazzi zum italienischen Recht (S. 79-87) und H. Kutscher zum Recht der Europäischen Gemeinschaften (S. 89-97). Ausführliche Darstellung bei J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. II, 1988 (im folgenden Schwarze //), S. 661-842; siehe auch Pernice (Fn. 64), S. 231-234.

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

239

sogar zu beobachten, daß der Grundsatz über das Gemeinschaftsrecht in die nationalen Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten eindringt. Angesichts dieser Ausbreitung grundrechtlicher Dogmatik ist es an der Zeit, die methodische Grundlage deutlich herauszustellen. Der EuGH schafft Richterrecht und stützt sich dabei auf den umfassenden Auftrag des Art. 164 EWGV, das Recht in der Gemeinschaft zu wahren71. Klafft eine Lücke im Gemeinschaftsrecht, geben allgemeine Rechtsgrundsätze aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Anhaltspunkte im geltenden Recht, die ein Gericht seiner fehlenden Legitimation zur politischen Gestaltung wegen zur Rechtsfortbildung benötigt72. Dieser Weg ist für das außervertragliche Haftungsrecht in Art 218 Abs. 2 EWGV ausdrücklich vorgezeichnet73. Der EuGH betont, „daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährleistung dieser Rechte hat der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen, so daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten geschützten Grundrechten".74

Der EuGH bescheidet sich nicht, wie die Formulierung vermuten lassen könnte, mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern wählt einzelne Verfassungsbestimmungen als Modell aus, sofern die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Ansätze enthalten, die in dieselbe Richtung weisen. So zieht der EuGH in dem zuletzt genannten Urteil zur Reichweite des Eigentumsschutzes nur die Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland, Irlands und Italiens ausdrücklich heran, im übrigen beruft er sich allgemein auf die Rechtsvorschriften in allen Mitgliedstaaten über die Benutzung des (Grund-)Eigentums zu bestimmten Zwecken75. An dieser Stelle wird das Grundgesetz also namentlich als Vorbild erwähnt. Der EuGH bekräftigt seine Überlegungen noch durch einen Verweis auf den internationalen Schutz der Menschenrechte76. Schließlich leitet der EuGH neue Rechtsgrundsätze oder -normen aus Andeutungen ab, die sich

71

Bernhardt (Fn. 1), S. 264-270); Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion (Fn. 13), S. 25-43, 182-240. 72 Schwarze I (Fn. 13), S. 57-73. 73 E. W. Fuß, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze über die außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaften: Zur Methode ihrer Auffindung, in: FS Raschhofer 1977, S. 43 (55). 74 EuGH, Rs. 44/79 (Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, 3727 (3744 f.). 75 Slg. 1979, 3746 f. 76

Slg. 1979, 3745.

240

Manfred Zuleeg

in den Gründungsverträgen, also in der Verfassung der Gemeinschaft finden. So dient Art 40 Abs. 3, Abs. 2 EWGV, der im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation auf dem Gebiete der Landwirtschaft jede Diskriminierung zwischen Erzeugern und Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft ausschließt, als Grundlage für einen allgemeinen Gleichheitssatz, der jedoch inhaltlich von den im deutschen Verfassungsrecht geprägten Merkmalen bestimmt wird77. Diese drei Wege der Rechtsgewinnung haben es dem EuGH ermöglicht, einen Grundrechtsschutz aufzubauen, dessen Netz immer dichter wird, so daß das Bundesverfassungsgericht seinen ursprünglichen Vorbehalt der eigenen Kontrolle des Gemeinschaftsrechts auf seinen grundrechtlichen Gehalt hin darauf beschränkt hat, im Falle einer Aufgabe des Grundrechtsschutzes durch den EuGH einzuspringen78. Es ist bemerkenswert, daß der EuGH in einem Punkt sogar das Schutzniveau des Grundgesetzes übersteigt Er mißt nämlich Art. 119 EWGV, der den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit festschreibt, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Bedeutung bei. Er zählt diesen Grundsatz zu den Grundlagen der Gemeinschaft und mißt ihm unmittelbare Geltung bei, auf die sich Einzelne vor nationalen Gerichten berufen können. Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern alle Arbeitgeber sind zur Beachtung des Grundsatzes verpflichtet 79. Damit hat Art. 119 EWGV die Tragweite einer grundrechtlichen Bestimmung, die Drittwirkung gegenüber den Arbeitgebern besitzt, was für Art. 3 GG in dieser Allgemeinheit nicht gilt. Die Rechtsstaatlichkeit im Sinne des deutschen Verfassungsrechts erschöpft sich bekanntlich nicht in den Grundrechten. Aus diesem Grundsatz läßt sich vielmehr auch eine Reihe objektiver Regeln herleiten. So ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht allein mit den Grundrechten verkoppelt. In seiner objektiven Rechtswirkung hat er ebenfalls einen Platz im europäischen Gemeinschaftsrecht erhalten, wobei dieser nicht immer trennscharf von der Verbindung mit Grundrechtspositionen abgehoben wird80. 77

EuGH, Rs. 201 u. 202/85 (Klensch/Staatssekretär für Landwirtschaft und Weinbau), Slg. 1986, 3477 (3507). 78 BVerfG 73, 339 (378-380), Sog. Solange II-Beschluß, dazu M. Hilf, Solange Π: Wie lange noch Solange? Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 1986, EuGRZ 1987, S. 1-7; J. Scher er, Solange II: Ein grundrechtspolitischer Kompromiß, JA 1987, S. 483-489. 79 EuGH, Rs. 43/75 (Defrenne/Sabena), Slg. 1976, 455 (472-476). 80 Schwarze II (Fn. 70), S. 699-708, unter der Überschrift „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als objektive Norm**. Diese Aussage bezieht sich insbesondere auf die Grundfreiheiten des gemeinsamen Marktes, die selbst keine Grundrechte darstellen.

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

241

Die Dogmatik des deutschen Verfassungsrechts hat sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein Abwägungsgebot entwickelt. Auch im Gemeinschaftsrecht besteht Anlaß dazu, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu einer Güter- und Interessenabwägung auszugestalten, um eine einseitige Ausrichtung der Rechtsanwendung auf Produktion und Handel zu vermeiden und Interessen, die auf eine bessere Lebensqualität gerichtet sind, aufzuwerten. Hierzu zählen etwa Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz81. Der EuGH ist auf dem Wege, dazu einen Ausgleich der Interessen herbeizuführen, ohne der Gefahr zu erliegen, die auch im deutschen Recht besteht, stabilisierende Maßstäbe aus den Augen zu verlieren82. So billigt er etwa den Mitgliedstaaten einen Spielraum zu, wenn es gilt, den Schutzumfang für die Gesundheit oder den Verbraucher zu bestimmen83. In der Rechtssprechung des EuGH finden sich noch weitere rechtsstaatliche Grundsätze, die damit zu den Grundsätzen einer Rechtsgemeinschaft geworden sind. Das europäische Gemeinschaftsrecht kennt auf diese Weise die Grundsätze des Vertrauensschutzes84, der Rechtssicherheit85, eines geordneten Verwaltungsverfahrens 86 und des Rechtsschutzes vor einem unabhängigen Gericht87, nicht nur gegenüber den Gemeinschaftsorganen, sondern auch gegen die Organe der Mitgliedstaaten, wenn sie sich im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts betätigen88. Im Gemeinschaftsrecht 81

N. Reich, Förderung und Schutz divergenter Interessen durch die Europäische Gemeinschaft, 1987, kommt mit dieser Schrift das Verdienst zu, das Gemeinschaftsrecht auf die Durchsetzung solcher Interessen hin durchleuchtet zu haben. 82 Schwarze II (Fn. 70), S. 753-785); siehe auch M. Dauses, Dogmatik des Freien Warenverkehrs in der Europäischen Gemeinschaft, RIW 1984, S. 197-205. 83 Schwarze II, S. 769-776, zum Gesundheitsschutz; erst jüngst wieder EuGH, Urteil vom 16.5.1989, Rs. 382/87 (Buet/Ministère public), Nr. 11-15, noch nicht in Slg., zum Verbraucherschutz. 84 K. D. Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1988; ders., Vertrauensschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1988, S. 309-315; E. W. Fuß, Der Schutz des Vertrauens und Rechtskontinuität im deutschen Verfassungsrecht und europäischen Gemeinschaftsrecht, FS Kutscher, 1981, S. 201-214; Schwarze II (Fn. 70), S. 843-1133). 85 M. Schiockermann, Rechtssicherheit als Veitrauensschutz in der Rechtsprechung des EuGH, Diss. München 1984; Schwarze II, (Fn. 70), S. 843-1333); siehe auch J. Botilo is, Quelques obeseivations à propos de la sécurité juridique, Liber Amicorum Pescatore, 1987, S. 53-58. 86 H. W. Rengeling, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des europäischen Gemeinschaftsrechts, KSE Bd. 27, 1977, S. 254-301; Schwarze II (Fn. 70), S. 1135-1378; aus der jüngeren Rspr. etwa EuGH, Rs. 53/85 (Akzo/Kommission), Slg. 1986, 1965 (1992). 87 Bernhardt (Fn. 1), S. 270-373); EuGH, Rs. 294/83 (Les Verts / Europäisches Parlament), Slg. 1986, 1339 (1365 f.). 88 H. W. Rengeling, Das Zusammenwirken von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, insbesondere deutschem Recht, DVB1. 1986, S. 306 (310-314); R. Stettner, Europäisches Gemeinschaftsrecht als Quelle der Rechtsfindung deutscher Gerichte, AöR Bd. 111 (1986), S. 359 (367-376); EuGH, Rs. 222/84 (Johnston/Chief Constable), Slg. 1986, 1663 (1682). 16 Battis/Tsatsos/Mahrenholz

Manfred Zuleeg

242

gilt der Grundsatz rechtlichen Gehörs89, das Verbot der Doppelbestrafung bei der Verhängung von Bußgeldern, freilich nur im Sinne einer Anrechnung90, und vor allem der Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung91. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist auch nicht immer gesagt, daß die Wurzel dieser Regeln vorwiegend im deutschen Recht zu suchen wäre. Die große Übereinstimmung mit dem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht deutet aber darauf hin, daß dieses einen wichtigen Anteil an der Entwicklung genommen hat92. Alle Mitgliedstaaten bekennen sich zur Demokratie. Eine Eigenart des deutschen Verfassungsrechts ist aber, einen Verfassungsgrundsatz der Demokratie festzulegen und daran konkrete rechtliche Auswirkungen zu knüpfen. Der Vorschlag, einen solchen Verfassungsgrundsatz der Demokratie ins Gemeinschaftsrecht einzugliedern, entstammt denn auch dem deutschen Rechtskreis93. Es ist allerdings sogleich hinzuzufügen, daß der Anstoß dazu dem damaligen luxemburgischen Richter am EuGH zu verdanken ist94, dem sicherlich der wesentliche Anteil an der Entwicklung zuzuschreiben ist. Der EuGH hat jedenfalls einen Verfassungsgrundsatz der Demokratie im Gemeinschaftsrecht verankert und daraus die Folgerung abgeleitet, daß wesentliche Formvorschriften verletzt seien, wenn die vorgeschriebene Anhörung des Europäischen Parlaments im Rahmen der Rechtssetzung der Gemeinschaft unterblieben ist95. Dieser Einstieg wurde nicht von ungefähr gewählt; denn die Legitimationsgrundlage des Parlaments ist es gerade, die den EuGH bewegt, einen demokratischen Wesenszug im Gefüge der Gemeinschaft auszumachen, wenn dieser auch noch rudimentär ausgeprägt ist96. Der Verfassungsgeber der Gemeinschaft ist dem nachgefolgt. Die Präambel zur einheitlichen europäischen Akte verpflichtet die Gemeinschaft unter Verweisung auf die Stuttgarter Erklärung des Rats auf eine demokratische Verfassung 97.

89

EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche/Kommission), Slg. 1979, 461 (511). EuGH, Rs. 14/68 (Wühelm/Bundeskartellamt), Slg. 1969, 1 (15). 91 R. H. Lauwaars, Lawfulness and Legal Force of Community Decisions, Leiden 1973; Schwarze I (Fn. 13), S. 193-488). 92 Nach BVerfG 73, 339 (380), enspricht das europäische Gemeinschaftsrecht mit diesem Standard rechtsstaatlichen Ansprüchen. 93 M. Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäische Gemeinschaft, Der Staat Bd. 17 (1978), S. 27-47. 94 P. Pescatore , Les exigences de la démocratie et la légitimité de la Communauté Européenne, Cahiers de droit européen 1974, S. 499-514. 95 EuGH, Rs. 138/79 (Roquette Frères/Rat), Slg. 1980, 3333 (3360); Rs. 139/79 (Maizena/Rat), Slg. 1980, 3393 (3424); dazu Ai. Zuleeg , Demokratie und Wirtschaftsverfassung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, EuR 1982, S. 21 (22-26). 90

96

Slg. 1980, 3360.

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

243

Der EuGH hat die Rechtsstellung des Europäischen Parlaments konsequent ausgebaut, wie es dem Verfassungsgrundsatz der Demokratie entspricht98. Ein Klagerecht vor dem EuGH gegen rechtswidriges Handeln anderer Gemeinschaftsorgane hat dieser dem Parlament freilich nicht eingeräumt, wie es dem Text des einschlägigen Art. 173 EWGV entspricht". Aus Gründen des Rechtsschutzes hat er jedoch zugelassen, daß das Parlament über den Wortlaut der Bestimmung hinaus verklagt werden kann, wenn es verbindliche Rechtsakte erläßt100. Es bleibt vorläufig offen, ob dem Parlament für die Verteidigung seiner Rechte nicht doch ein beschränktes Klagerecht zusteht. Der EuGH entdeckt in den Gründungsverträgen Anzeichen einer sozialen Verantwortung der Gemeinschaft101. Die Parallele zum Sozialstaatsprinzip ist augenfällig 102. Gewiß ist die Sozialgemeinschaft keineswegs vollendet103. Dennoch lassen sich auch dem dahinterstehenden Grundsatz, den man Sozialprinzip nennen kann, im einen oder anderen Fall rechtliche Konsequenzen abgewinnen. Es liegt nahe, den Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht auch auf europäischer Ebene auszufechten, bewegt sich das Gemeinschaftsrecht doch vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich auf dem Gebiet der Wirtschaft. In der Bundesrepublik Deutschland wird die Vorstellung einer Wirtschaftsverfassung vorwiegend abgelehnt. Selbst die Anhänger dieser Lehre müssen aber zugeben, daß das Grundgesetz einige Festlegungen für den Sachbereich der Wirtschaft getroffen hat, namentlich durch die Grundrechte. Im europäischen Gemeinschaftsrecht kommen die Regeln noch stärker zum Vorschein, die der Wirtschaftspolitik Fesseln anlegen. Sie zeigen sich wie im deutschen Verfassungsrecht in den Grundrechten, aber noch wesentlich stärker in den Grundfreiheiten des Gemeinsamen Markts, die selbst keine 97 Weiterführend J. Ahr. Frowein, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, EuR 1983, S. 301-317; Af. Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie, EuR 1984, S. 9-40; G. Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, in: Gedächtnisschrift für Wühelm Karl Geck, 1989, S. 625-684. 98 M. Zuleeg, Le Parlament face à la Cour, in: Parlament Européen dans l'évolution institutionelle, J. V. Louis/D. Waelhroeck (Hrsg.), Brüssel 1988, S. 177-193. 99 Urteil vom 27.9.1988, Rs. 302/87 (Parlament/Rat), noch nicht in Slg. 100 EuGH, Rs. 294/83 (Les Veits/Europäisches Parlament), Slg. 1986, 1339 (1366). 101 EuGH, Rs. 43/75 (Defrenne/Sabena), Slg. 1976, 455 (473). 102 Tomuschat, Bonner Komm. (Fn. 4), Rn. 59 zu Art. 24 GG, gegen O. Rojahn, Grundeesetz-Kommentar, I. von Münch (Hrsg.), 1976, Rn. 37 zu Art. 24 GG, der allerdings eine Übertragung des Sozialstaatsprinzips „in abgewandelter Form" durchaus anerkennt. 103 So aber wohl Pescatore, FS Kutscher 1981 (Fn. 9), S. 319 (334).

16 *

244

Manfred Zuleeg

Grundrechte darstellen, hinter denen jedoch Grundrechte wie Berufs- und Vereinigungsfreiheit, Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit stehen104. Der EuGH hat das Wettbewerbsprinzip besonders hervorgehoben105. Der Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft ist somit ein liberaler Grundzug zu eigen, den sie mit dem Grundgesetz in dessen Grundrechtsteil gemeinsam hat. Man kann aus allem den Schluß ziehen, daß das Grundgesetz in wesentlichem Maße zur Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts beigetragen hat106. Die Hartnäckigkeit der deutschen Lehre und Rechtsprechung, auf die Einhaltung verfassungsrechtlicher Errungenschaften zu pochen, hat dabei sicher eine Rolle gespielt. Darüber hinaus dürfen die Leistungen aus anderen Rechtsordnungen keineswegs in Vergessenheit geraten. Zu beachten ist auch, daß die Rechtsprechung des EuGH auf einer gemeinsamen Rechtskultur aufbauen kann107. Zu Ehren des Geburtstagskinds ist es aber wohl erlaubt, dessen Verdienste ins Licht zu rücken. Das Grundgesetz hat sich auch in seiner Wirkung nach außen hin bewährt. Es sei mir gestattet, daran noch einige übergreifende Gedanken anzuknüpfen. Ohne die Vielfalt der Verfassungsinterpreten, die Vertreter der Doktrin, die Richter an den deutschen Gerichten, aber auch einzelnen, die ihre Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht wahrgenommen haben, wäre der Brückenschlag sicher nicht so gut gelungen. Die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 108 hat sich in die europäische Dimension erweitert. Bemerkenswert ist auch, daß sich der EuGH nicht so sehr am Text, sondern mehr an der Dogmatik des Grundgesetzes ausgerichtet hat, wie insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beweist. Die große Bedeutung der Rechtsprechung für die Gestalt der Europäischen Gemeinschaft wird durch die aufgezeigte Rechtsfortbildung unterstrichen. Die Bundesre104

M. Zuleeg, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaften, in: Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften, Arbeitskreis Europäische Integration (Hrsg.), 1978, S. 73 (76-83); ebenso P.-Ch. Müller-Graf, Unternehmensinvestition und Investitionssteuerung im Marktrecht, 1984, insbes. S. 266-272, 280-309, 320-360. 105 EuGH, Rs. 6/72 (Europemballage und Continental Can/Kommission), Slg. 1973, 215 (245); Rs. 139/79 (Maizena/Rat), Slg. 1980, 3393 (3421); dazu Zuleeg, EuR 1982 (Fn. 95), S. 21 (26-29). 106 Eher skeptisch, vor allem mit Rücksicht auf die Sprachbaniere, Everling, in Lüneburger Symposion (Fn. 14), S. 63-65. 107 C. O. Lenz, Gemeinsame Grundlagen und Grundwerte des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, ZPR 1988, S. 449-453. 108 P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297305; ders., Verfassungsinteipretation als öffentlicher Piozeß; ein Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1978, S. 121 (124 ff.).

Das Grundgesetz und der Europäische Gerichtshof

245

publik Deutschland, in ihrem Verhältnis nach außen treffend als kooperativer Verfassungsstaat gekennzeichnet109, erweist sich bei der Weitergabe ihrer Verfassungsideen als offener Nationalstaat „in Aktion", der nicht nur seinen Binnenraum nach außen hin aufmacht, sondern auch die Außenwelt, hier die Europäische Gemeinschaft, bereichert.

109

177.

P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, FS Helmut Schelsky, 1978, S. 141-

Podiumsdiskussion am 15. April 1989 unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts E. G. Mahrenholz, Karlsruhe

Teilnehmer G. Csalótzky, P. Häberle, Ζ. Kedzia, Η. J. Kim, A. Morita und M. Zuleeg Mahrenholz: Pausen können nie lang genug sein. Aber es darf nachher die Situation nicht eintreten, die ich Magnifizenz Battis schilderte: Alfred Kerr stand, als die Leute bei einem langweiligen Theaterstück alle schon den Theaterraum verließen, auf und rief in den Saal hinein: Frauen und Kinder zuerst! Wir wollen uns das ersparen. Der Dritte, der den Raum verläßt, setzt das Signal, hier schleunigst zu Ende zu kommen - und bis dahin - wir schätzen gute anderthalb Stunden - wollen wir miteinander zusammen bleiben. Die Podiumsdiskussion will versuchen, ein Fazit zu ziehen. Es gilt, zuerst ein Fazit aus dem Nachmittag des Freitags zu ziehen, das an die zweite bedeutende Rolle von Herrn Häberle anknüpft: nämlich als Musikus. Ich war sehr stolz, ihm gegenüber in einer kleinen musik-historischen Sache Recht behalten zu haben. Und damit er mir wirklich glaubt, daß es Konzerte für vier Klaviere gibt, möchte ich ihm das von Bach gleich überreichen. So werden Sie als Musikus und als Jurist immer an Hagen zurückdenken. Das hat mich noch nicht verlegen gemacht. Verlegen macht mich natürlich jetzt das Folgende: Wenn man im Podium zusammenfassen und das, was wir miteinander erörtert haben, zu Faden schlagen will, kommt Subjektives mit hinein. Das schadet vielleicht auch nichts. Ich möchte nur drei, vier kurze Punkte aufgreifen und schlage vor, daß wir so verfahren, daß das Podium dann einfach aus der je eigenen Sicht der Podiumsteilnehmer ergänzt, was vielleicht als subjektives Resümee oder als neue Einsicht hinzugekommen ist oder was noch unter Umständen kritisch hinterfragt werden muß, und daß wir nach einiger Zeit das Publikum mit einbeziehen. Gerade weil wir die zwei Referate von heute morgen ohne spezifische Diskussion gelassen haben, sind vielleicht noch einige Punkte übrig.

248

E. G. Mahrenholz

Ganz kurz von meiner Seite aus, um das Thema ein wenig anzuwärmen: Ich glaube, wir müssen, wenn wir bei Verfassungen fragen, was der deutsche Beitrag oder der deutsche Überfluß in andere Verfassungsrechtsordnungen hinein ist, nicht nur bedenken, was Herr Tsatsos einleitend hervorhob: daß es eine Konvergenz gibt. Das ist wohl wahr. Aber es gibt sicher auch eine Identität der je eigenen Verfassung mit der je eigenen Nation. Wenn ich mir vorstelle, das Grundgesetz wäre eine Musterverfassung geworden für all die zahlreichen Verfassungen, die tatsächlich doch jünger sind als die Verfassung des Grundgesetzes, die ihrerseits noch gar nicht so alt ist, dann wäre das eine Vorstellung, die ich ziemlich schrecklich fände. Denn das deutsche Grundgesetz kann, wenn man es liest, von der Präambel über Art. 1 bis hin zum konstruktiven Mißtrauensvotum - Art. 67 - nicht verleugnen, daß es versucht, die Spuren einer eigenen schweren Vergangenheit im Text aufzuarbeiten; d. h., es hat seine eigene und nicht übertragbare Identität. Ich war am ersten Tag sehr beeindruckt davon, wie unser türkischer Kollege uns von einer Verfassung der Türkei berichtete, einer neuen, die bestimmte spezifische Stärken der Exekutive aufweist, was hier auch einigen Widerspruch hervorrief. Das ist, glaube ich, eine Folge dessen, was die Türkei in ihrer jüngsten Verfassungsgeschichte erlebt hat. Oder Griechenland: Ich habe aus Griechenland mitgenommen, daß die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit diskreditiert worden ist durch Papadopoulos, der ähnliche Projekte wälzte. Damit war offenbar für eine demokratische Verfassung in Griechenland dieses Projekt schon nicht mehr möglich. Jedenfalls sicher nicht jetzt. Zweitens müssen wir auch im Auge behalten, daß, wenn man von der Identität einer Verfassung spricht, es auch dazu gehört, daß eine Nation sich mit einer solchen Verfassung identifizieren kann. Es kommt nicht nur darauf an, je deutsche, griechische oder sonstige Besonderheiten in der Verfassung zu haben, sondern auch, daß diese der Niederschlag von erlebtem Leben sind. Die Weimarer Verfassung und damit die erste Republik in Deutschland scheint - wenn man das mit einem Satz sagen kann - daran gescheitert zu sein, daß es nicht gelang, mit dieser Verfassung eine Identität zwischen der Nation und der Verfassung herzustellen. Dies, glaube ich, ist wichtig. Erst wenn eine bestimmte geschichtliche Erfahrung dazu geführt hat, daß ein Volk eine Verfassung auch annehmen kann, so, glaube ich, hat sie die Chance einer Stabilität. Drittens ist mir wichtig zu sagen, daß dort, wo Verfassungen konvergieren, es nicht nur um die Grundrechte, nicht nur um den Rechtsstaat geht und nicht nur um das Prinzip der nationalen Souveränität, sondern doch schon um mehr und Spezielleres. Es geht zum Beispiel um den Verhältnismäßig-

Podiumsdiskussion

249

keitsgrundsatz. Dieser ist - wie ich seit heute weiß - jetzt auch in Luxemburg verankert. Es geht um die Frage, welche Grundrechte einer Ewigkeitsklausel unterworfen werden. Das sind Dinge, die, was das Konvergieren von Verfassungen betrifft, sehr viel weiter greifen als nur die überkommenen Grundsätze neuzeitlicher Verfassungen. Das halte ich für eine Entwicklung, die festgehalten zu werden verdient. Schließlich als Letztes zwei textliche Bemerkungen: Auf die eine hat mich Herr Häberle gebracht, als er einige Punkte in Mittelamerika aufzeigte, um zu demonstrieren, was in Verfassungen erscheinen kann, wie heute die konkrete Gestalt einer Verfassung aussehen kann. Man fragt sich unwillkürlich: Ist Mittelamerika eigentlich für uns in irgendeiner Weise relevant, weil wir doch bestimmte Vorurteile und Urteile mit mittelamerikanischen Staaten verbinden. Mir scheint aber wichtig daran zu sein - und deswegen glaube ich, verdient es festgehalten zu werden - daß Verfassungstexte, auch wenn sie nicht gleich realisiert werden, auch wenn sie gleichsam in Häkchen auf dem Papier stehen, dadurch, daß sie als Verfassungstexte niedergeschrieben sind und Verfassungsrang haben, auch ihr eigenes Schicksal haben. Was einmal da ist, ist in der Welt. Es kann nicht mehr zurückgeholt werden, auch nicht mehr von den Machthabers die solche Texte als hinderlich empfinden. Auf die Dauer, glaube ich, setzen sich die Dinge, die nun einmal in einer Verfassung als Ideen stehen, auch durch. Sie haben ihr eigenes Schicksal, und der Leser und der homo politicus antwortet in seiner Weise auf die Lektüre solcher Verfassungen, vor allen Dingen natürlich in der Nation, die es angeht. Als zweite textliche Bemerkung: Der deutsche Begriff des Rechtsstaats ist offenbar schwer zu übersetzen. Man muß, glaube ich, auch an den Kontext denken - von dem Kontext sprach ja auch Herr Häberle gestern ausführlich - man muß sich fragen, was ist eigentlich übersetzbar, und was nicht. Herr Tsatsos hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß die griechische Verfassung für den Begriff „Macht" oder das, was wir in Deutschland mit „Macht" übersetzen, zwei verschiedene Ausdrücke hat. Solchen Fragen muß man nachspüren, um zu wissen, was steckt eigentlich hier und dort dahinter. Es gibt also möglicherweise - hoffentlich nicht unüberwindbare Grenzen des ganz spezifischen Verständnisses einer Verfassung, die damit zusammenhängen, daß auch die eigene sprachliche Kompetenz bezüglich des fremden Textes immer nur begrenzt ist. Und damit möchte ich es von mir aus bewenden lassen und möchte das Podium um das bitten, was es zu sagen hat. Herr Kedzia, falls wir Sie nicht daran erinnert haben, dann sollten wir es wenigstens heute festhalten: Wenn wir hier von 40 Jahren Grundgesetz sprechen, dann können Sie demnächst 200 Jahre Ihrer polnischen Verfassung feiern.

250

E. G. Mahrenholz

Kedzia: In zwei Jahren, 1991. Mahrenholz: Sie ist einige Monate älter als die Verfassung von Frankreich, wenn ich das monatsmäßig richtig in Erinnerung habe. Kedzia: Ja, ich muß sagen, daß wir Polen sehr oft sehr stolz betont haben, daß wir die erste geschriebene Verfassung in Europa haben. Aber das stimmt leider nicht 1776 gab es schon die schwedische Verfassung. Zwar war die schwedische Verfassung eine oktroyierte Verfassung, verabschiedet innerhalb von 20 Minuten, die polnische dagegen nach vier Jahren Beratung im polnischen Parlament, aber die polnische Verfassung war erst die zweite auf diesem Kontinent. Häberle: Meine Damen und Herren, Magnifizenz, darf ich vielleicht noch einmal einige Punkte des gestrigen Nachmittags zur Sprache bringen mit dem Versuch, auf der Abstraktionshöhe unseres verehrten Präsidenten zu arbeiten. Mahrenholz: - Das brauchen Sie aber nicht Häberle: Sie haben mich erneut „geschlagen", zuerst mit dem Wissen um J. S. Bach und jetzt zum zweiten Mal! Ich habe gestern nachmittag nach dem eindrucksvollen Referat unseres Gastes aus Polen, Herrn Kedzia, die Frage gestellt, ob nicht der „runde Tisch" in Polen von 1989 so etwas sei wie ein gelebter Gesellschaftsvertrag im offenen und öffentlichen Prozeß der pluralistischen Verfassungsgebung („Verfassung als Vertrag"). Schon das Paradigma „Runder Tisch" ist bemerkenswert, mehr als ein bloßes „Bild" oder Zufall. Alle Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen bzw. alle Einzelpersönlichkeiten sitzen in gleicher Nähe und Distanz zu allen: Als „Gemeinschaft von Freien und Gleichen". Der Tisch ist nicht vier-, sechs- oder x-eckig, sondern eben „rund". Das kulturelle Symbol des Kreises sollte hier in seiner ganzen Tiefe verstanden werden. Es geht also nicht um den erhöhten Tisch, auf dem - Herr Vizepräsident Mahrenholz - die deutschen Bundesverfassungsrichter sitzen oder die Bundesregierung in Bonn. Abgeordneter Toetemeyer:

Noch!

Häberle: Danke, Herr Abgeordneter, esfreut mich sehr, daß Sie den Zusammenhang zwischen Demokratie und architekturischen Strukturen, auch

Podiumsdiskussion

251

den „Geist" eines Verfassungs- bzw. Rechtsgesprächs sofort aufgreifen. Die Entwicklung im heutigen Polen ist eine glückliche Fügung. Der runde Tisch ist das „Zeichen" auf dem Weg zu Kompromissen. Der große Gedanke des Gesellschaftsvertrages beweist hier erneut seine Tragfähigkeit. Zugleich zeigt sich, wie sich kulturelle Paradigmen in der Menschheitsgeschichte - hier Verfassungsgeschichte - immer wieder durchsetzen. Sie alle kennen das Paradigma des Gesellschaftsvertrags in der Rechts- und Staatsphilosophie, neuerdings aktuell in Gestalt des Generationenvertrages, den wir in Sachen Umweltschutz „konstruieren" müssen, also weit über das Sozialversicherungsrecht hinaus. Seit J. Rawls erlebt der Gesellschaftsvertrag eine Art „Renaissance", in der Staatsrechtslehre wurde er fast gleichzeitig wieder aufgegriffen. Jetzt hat man in Polen praktisch ernst mit ihm gemacht: es ist ein Vertrag, ein Verhandeln aller mit allen, ein aufregender Prozeß. Fast könnte man meinen, daß unsere „kulturellen Gene" dieses Paradigma enthielten - sofern man in den Bildern eines kulturanthropologischen Ansatzes in Sachen Verfassungsstaat sprechen darf. Ferner: Es ist uns allmählich gelungen, den Austauschprozeß zwischen den Verfassungen oder wie ich gerne sage, die Prozesse kultureller Produktion und Rezeption i. S. eines „schubweisen Stoffwechsels" zu verfeinern. Ich unterstreiche nochmals meine Referats-These, daß die Textrezeption dabei ein wichtiger Aspekt ist, der sich als Textstufenentwicklung darstellen läßt. Sodann: Ich war beeindruckt von dem Referat von Herrn EuGH-Richter Zuleeg: Er hat uns gezeigt, wie einzelne Grundsätze, z. B. das bundesdeutsche Prinzip der Verhältnismäßigkeit, vom BVerfG ausgeformt, zunächst vom EuGH beachtet und aufgenommen wurden und von ihm aus in andere Mitgliedsländer der EG hineinwirken. In meinem „Theorie-Raster": dies ist eine Art „doppelter Rezeption", der EuGH ist „Rezeptionsvermittler". Hier hilft der schöne Gedanke von unmittelbarer und mittelbarer Rezeption (Herr Kedzia) weiter. Wichtig ist auch der Beitrag von Herrn Schefold in Sachen Theorierezeption. Sie kann sich mitunter verzögern oder beschleunigen, als „Sprungrezeption". Auch kann ein rezipierter Text letztlich verschiedene „Stammbäume" haben, die irgendwo wieder zusammenwachsen. Ein weiterer Aspekt: Im Anschluß an die Referate von Herrn Zuleeg, der ja „auch" Kollege ist, sowie von Herrn Gusy sollten wir uns nochmals die Rolle der Rechtsvergleichung bei den Prozessen der Produktion und Rezeption in Sachen Verfassungsstaat vergegenwärtigen. Das könnte dem universalen Vorhaben des Verfassungsstaates dienen, das Herr Tsatsos so eindrucksvoll geschildert hat: in seinem schönen Wort vom „universalen Projekt" des Verfassungsstaates, das in Wahlverwandtschaft steht zu meiner Wendung von der „Familie" oder „Internationale" in Sachen Verfassungs-

252

E. G. Mahrenholz

Staat; meine eigenen Bemühungen dienen dem Nachweis der „universalen Herkunft" des Typus Verfassungsstaat. Beides gehört zusammen: man denke von 1778/1787 über 1848 bis zu den aufregenden Vorgängen in Polen unserer Tage (,/under Tisch"), auch Ungarn. Der Verfassungsstaat ist also kulturelles Erbe und Projekt im Menschheitsrahmen. So können wir dem „esprit des constitutions" auf der Spur bleiben, im Rahmen einer universellen Verfassungslehre. Meine vorletzte These lautet: Die Rechtsvergleichung, deren sich zunehmend auch das hohe Bundesverfassungsgericht bedient - offen oder versteckt - , erklärtermaßen der EuGH bei der Gewinnung „allgemeiner Rechtsgrundsätze", ist ein ganz spezifisches Vehikel in den Prozessen der Produktion und Rezeption in Sachen Verfassungsstaat. Vieles ist noch ungeklärt, z. B. Rechtsvergleichung als Methode der Auslegung und Rechtsfortbildung? Welchen Stellenwert hat sie im Kanon der klassischen und ergänzenden neueren Interpretationsmethoden? M. E. hat sie im Rahmen der Verfassungsinterpretation den Rang einer „fünften* 4 Auslegungsmethode - von Savigny zum Typus Verfassungsstaat weitergedacht! Wir sollten im übrigen den Typus Verfassungsstaat einerseits als Typus auf einer mittleren Abstraktionsebene anerkennen, der sich aber andererseits individuell, Herr Präsident Mahrenholz, wie Sie das eben formuliert haben, in der je eigenen Identität der verschiedenen Kultumationen ausformt. Beides gehört zusammen: Die Abstraktion des bzw. zum Typischen wie auch das Konkret-Individuelle der einzelnen Beispielsverfassungen. Dann besteht die Möglichkeit, die „Brücke der Rechtsvergleichung" als Instrument für die Gemeinschaftsarbeit am Typus Verfassungsstaat im Sinne eines Konzerts der Völker (hier - sehr idealistisch gesehen - im Sinne von Herder - ) fruchtbar machen zu können. Als letzten Punkt nenne ich: Abgesehen von den eindrucksvollen Vortragen aus Ostasien (Prof. Kim und Morata) hat mich besonders bewegt, die beiden Repräsentanten aus Polen und Ungarn, die Herren Kedzia und Csalótzky, hier zu haben und in ihren Beiträgen etwas von einem vielleicht sogar weltgeschichtlich besonderen Reform-Prozeß im Osten zu erleben: dieser atemberaubende Aufbruch zu offenen Formen, zu einem Stück offener Gesellschaft, diese Aneignung einzelner Elemente des Verfassungsstaates, seiner Grundrechte, seiner Demokratie. Ich habe mir überlegt, ob in all dem nicht endlich auch einmal eine kleine glückliche Fügung für uns Deutsche erkennbar wird. Wir haben die Welt überzogen mit Kriegen, Unrecht und Leid. Auf dieser Tagung in Hagen konnten wir aber auch dies beobachten: Ab und zu ist dem Grundgesetz durch seinen Text, dem Grundgesetz durch die Verfassungsrechtsprechung und dem Grundgesetz durch die Wissenschaft geglückt, zur Idee des Verfassungsstaates die eine oder andere Bereicherung beizusteuern. So wäre es ein schöner, ermutigender Gedan-

Podiumsdiskussion

253

ke, wenn wir durch die Arbeit am Verfassungsstaat hier und heute nach fast vierzig Jahren Grundgesetz im Blick auf den Osten in Europa einiges ausgleichen könnten, im Blick auf das, was wir der Völkerrechtsgemeinschaft früher an Unsegen und Unglück in der Form unseres totalitären und aggressiven NS-Staates gebracht haben. Zuleeg: Ich möchte nur drei kleine Anmerkungen machen. Die erste Anmerkung ist gewissermaßen eine Selbstbeobachtung, während ich diesen Vortrag ausgearbeitet habe. Ich habe mich ja mit diesen Dingen immer wieder beschäftigt. Aber unter diesem besonderen Blickwinkel der Einwirkung des Grundgesetzes auf das Gemeinschaftsrecht habe ich dann gemerkt, in wie geringem Maße die Einwirkungen vom Verfassungstext selbst und in wie starkem Maße die Einwirkungen dagegen davon ausgegangen sind, was aus diesem Text gemacht worden ist - und hier sehe ich natürlich in erster Linie auf Herrn Mahrenholz als Mitglied des Bundesverfassungsgerichts zu meiner Rechten. Die Gedanken über die Verfassung und die Anwendung dieser Gedanken auf die Praxis haben im Laufe der Zeit eine immer größere Rolle gespielt. Die zweite Anmerkung, jetzt als Mitglied des Podiums: Meine Aufgabe war es, in einem Referat darzustellen, inwieweit die Vorstellungen des Grundgesetzes nach außen wirken. Aber darüber sollte keinesfalls die Bereitschaft vergessen werden, eine Errungenschaft, die in der Bundesrepublik scheinbar festgefügt ist, auch einmal in Frage zu stellen. Man sollte sich überlegen, ob nicht auch Betrachtungsweisen aus anderen Verfassungsvorstellungen aufgenommen und kombiniert werden könnten. Das ist - insoweit mit Herrn Häberle übereinstimmend - ein Plädoyer für mehr Rechtsvergleichung. Wenn man die anderen Verfassungen oder methodischen Vorstellungen nicht kennt, kann man auch herzlich wenig davon profitieren. Ich wünsche mir gerade nach meinen jüngsten Erfahrungen in der Praxis in Luxemburg, daß solche Gedanken in den akademischen Unterricht wesentlich mehr Eingang finden. Diese Betrachtung führt mich noch zu einer dritten und letzten Anmerkung. Mahrenholz: Ehe Sie das tun, würde uns doch interessieren, was Sie praktisch denken, wenn Sie sagen: Wir müssen uns auch einmal von deutschen, lieb gewordenen Vorstellungen trennen. Haben Sie da ein Beispiel? Zuleeg: Ich habe ein Beispiel aus dem Bereich des Verwaltungsrechts, aufgehängt an § 42 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung: Wir gehen

254

E. G. Mahrenholz

immer davon aus, wenn eine Klagebefugnis gegeben sein soll, dann setzt diese ein Recht voraus. Wenn dieses Recht gar nicht ausdrücklich formuliert ist, es soll aber eine Verwaltungsmaßnahme überprüft werden, dann sucht man eben im Wege der Interpretation des Gesetzes nach einem subjektiven Recht; statt, wie in Frankreich, zu sagen: Für die Klagebefugnis ist ausreichend „intérêt à agir": Es genügt, daß der Kläger tatsächlich beeinträchtigt ist. Die tatsächliche Betroffenheit soll ausschlaggebend sein und die Klagebefugnis von der Popularklage abgrenzen. Aber an unserer Vorstellung wird hartnäckig festgehalten Mahrenholz: Ist das eine Parallele zu der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die Grundrechtsbetroffenheit müsse sich im Faktischen darstellen? Zuleeg: Ja, soweit es die Betroffenheit im Faktischen betrifft. Zuleeg: Eine letzte Anmerkung: Ich greife damit über unseren Gegenstand hinaus, aber das Problem wird mir immer wieder im Bereich der Gemeinschaft besonders stark vor Augen geführt und auch von meinen Kollegen immer wieder betont. Wenn wir rechtlich irgendwie ein Bollwerk aufgebaut haben, dann glauben wir uns gesichert. Als Juristen sollte uns bewußt sein, daß eine rechtliche Sicherung - selbst wenn es eine verfassungsrechtliche Sicherung ist - die politische Durchsetzung von Vorstellungen wie Demokratie und Rücksichtnahme auf den Einzelnen keineswegs überflüssig macht, so daß man sich auf die politische Notwendigkeit und Relevanz immer wieder besinnen muß. Bezeichnenderweise kommt diese deutsche Neigung in der dritten Strophe des Deutschlandliedes zum Ausdruck: Einigkeit und Recht und Freiheit. Ich will das rechtliche Moment nicht ausscheiden, das wäre ja gegen meinen Beruf und meine Berufung. Aber man soll sich bewußt sein: Alles kann man mit dem Recht nicht durchsetzen. Politik spielt eine ganz, ganz wesentliche Rolle. Csalótzky : Gestern habe ich die Gelegenheit gehabt, ein bißchen ausführlicher über die Vorbereitung der ungarischen Verfassung zu sprechen. Das möchte ich nicht noch einmal wiederholen, aber ich möchte dreierlei zum Ausdruck bringen: Erstens: Wenn man im Leben in die Lage kommt, einige Tage oder einige Wochen nichts zu essen - etwa wegen eines Hungerstreiks oder eines Unfalls - darf man danach nicht alles essen. Man muß zuerst etwas Leichtes bekommen, und nach einigen Wochen kann man wieder essen, wie es die

Podiumsdiskussion

255

Leute im allgemeinen tun. Das kann man als Symbol ansehen. Wenn wir befreit sein werden von der Unterdrückung, die bei uns 40 Jahre lang herrschte, dann müssen wir uns das sehr deutlich vor Augen führen. Wenn wir eine große Menuauswahl verfassungsrechtlicher Institute aus den verschiedenen Ländern haben, müssen wir ganz sorgfältig die Lösungen, die für uns Ungarn die besten sind, aussuchen und einführen. Ein noch besseres Beispiel wäre vielleicht dieses: Wenn ein Kind einmal die Gelegenheit hat, in ein Spielzeugwarenhaus hineinzugehen und möchte dieses und alles haben, muß jemand da sein, der sagt, welche Dinge am besten für es sind. Zweitens: Ich sehe ein schweres Problem in folgendem: Wenn wir in Ungarn die Zeitungen lesen und fernsehen und radiohören, stehen die Begriffe der Freiheit, der Demokratie usw. immer mehr im Vordergrund: Aber vielleicht in einem Sinn, wie sie in den westlichen Ländern vor einigen Jahrhunderten gebraucht wurden. Darum war die These von Herrn Prof. Gusy und Herrn Prof. Zuleeg sehr interessant, daß die verfassungsrechtlichen Fragen, die Verfassungspolitik nicht Sache der einzelnen Länder ist, sondern Sache der Gemeinschaft der Länder. Es ist sehr schwer, das den Leuten zu erklären. So hat man zum Beispiel sehr eingehend diskutiert über Wappen und Flaggen. Es wurde immer wieder gefordert: Wir Ungarn sollen unabhängig von allen sein, wir werden über unser Schicksal selbst entscheiden. Aber wie ich in diesem Saal erfahren habe, ist das schon nicht mehr nur unsere eigene Sache; das ist eine Sache der Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Aber das müssen wir in unserem Volk sehr taktisch und sehr politisch durchführen. Die dritte Bemerkung: Wir haben auch darüber gesprochen, daß Verfassungsrecht und Verfassungspraxis und Politik in engem Zusammenhang stehen. Ich habe hier gelernt, daß wir eine sehr konsequente Verfassungspolitik durchführen müssen, obwohl sich die Bedingungen von Monat zu Monat verändern. Aber wir müssen einen klaren Kurs bestimmen und in groben Umrissen sehen, in welche Richtung wir gehen müssen. Und zuletzt habe ich auch erfahren, daß Verfassung und Wirtschaft in sehr engem Zusammenhang stehen. Noch heute wird bei uns die Wirtschaft von der Regierung und die Regierung von der kommunistischen Partei sehr direkt gelenkt und beeinflußt. Aber im Ergebnis ist dies mißlungen. Wir sind in einer Wirtschaftskrise. Eine der wichtigsten Ursachen für sie ist vielleicht, daß dieses System so war. Aber wir dürfen nicht ins andere Extrem verfallen. Viele Oppositionelle verlangen, der Staat solle mit der Wirtschaft nichts zu tun haben, die Wirtschaft müsse das ganz allein ordnen. Aber ich denke, das kann auch nicht der Fall sein. Der Staat muß der Wirtschaft einen großen Spielraum sichern. Aber der Staat muß auch die Mittel

256

E. G. Mahrenholz

dazu haben, die wichtigsten und grundlegendsten Probleme in eine positive Richtung zu beeinflussen. Mahrenholz: In Budapest beginnt am Dienstag in acht Tagen eine wissenschaftliche Konferenz auf internationaler Ebene, die das Justizministerium ausrichtet mit dem zentralen Thema: Verfassungsgerichtsbarkeit Der Kreis der Teilnehmer besteht vornehmlich aus Praktikern der Verfassungsgerichtsbarkeit Da mein Präsident, Gott sei Dank, verhindert ist, kann ich daran teilnehmen. Ich freue mich sehr, daß wir uns dort wiederbegegnen und das ganz wichtige Thema, das wir heute behandelt haben, noch einmal aufnehmen dürfen. Kedzia: Herr Präsident, verehrte Damen und Herren. Die Zuhörer einer Podiumsdiskussion, nicht die Teilnehmer des Podiums selbst, erwarten, daß es zwischen den Podiumsteilnehmern auch Spannungen gibt. Und bis jetzt gibt es überhaupt keine Spannungen. Deshalb möchte ich mit einer Polemik beginnen. Ich habe gestern sehr oft Prof. Häberle zitiert, aber heute muß ich mich gegen ihn wenden. Er hat sich nämlich sehr bescheiden über den Beitrag der deutschen Verfassungsrechtslehre geäußert. Das stimmt nicht. Meines Erachtens ist der Beitrag sehr groß und erfolgt, wie ich gestern versucht habe zu zeigen, auf zwei Wegen: Einerseits erfolgt der Einfluß der deutschen Verfassungslehre durch den Beitrag zu der allgemeinen universellen Verfassungslehre. Was besonders wichtig an dem universellen Beitrag erscheint, ist der Komplex des Rechtsstaatsgedankens. Ich glaube, daß es hier wirklich gelungen ist, ein Doppeltes einzuführen: Einerseits die Grundrechte nicht nur als rechtlich verpflichtenden moralischen Maßstab für das gemeinschaftliche Leben, sondern auch als Kontrollmechanismus der Staatsgewalt fruchtbar zu machen. Zum anderen erfolgt der deutsche Beitrag durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich durch die Grundrechte leiten läßt und zu der der Einzelne Zugang hat. Das ist insoweit wichtig, als diese Verbindung in einem Staat stattgefunden hat, der dem Wesen nach dem kontinentalen System des Rechts angehört Dadurch vergrößert sich die Möglichkeit der Einwirkung dieses Konzeptes. Wir waren jahrelang an diese dychotomische Teilung gewöhnt: Auf der einen Seite das angelsächsische System, wo man es für selbstverständlich erachtete, daß der Einzelne den Zugang zu allen Gerichten und zu allen möglichen Einrichtungen hat, und auf der anderen Seite das kontinentale System, wo plötzlich auf einer bestimmten Ebene die Möglichkeiten des Einzelnen aufhörten. Und gerade hier wurde diese Kon-

Podiumsdiskussion

257

struktion des status activus processualis - jetzt bin ich wieder mit Prof. Häberle einverstanden - auf allen Ebenen realisiert. Das ist, glaube ich, eine sehr große Errungenschaft, und ich muß sagen, daß dieses Konzept für verschiedene Länder ein Beispiel und ein sehr hilfreiches Mittel in der Diskussion sein kann. Es gibt natürlich auch andere Elemente, die ich noch betonen möchte: Ich habe gestern überhaupt nicht über Rechtstechnisches gesprochen, obwohl dieses Element auch sehr wichtig ist. Man hat in der Bundesrepublik eine sehr präzise Terminologie des Rechtsstaates herausgearbeitet Ich kann das nicht so schön ausdrücken, wie es gestern Prof. Häberle getan hat mit dem Begriff der Literatur der Verfassungslehre. Aber die Literatur der Verfassungslehre könnte nur dann universell eine integrierende Funktion haben, wenn sie in einer gemeinsamen Sprache publiziert wird. Und mit gemeinsamer Sprache meine ich nicht die nationale Sprache, sondern ich spreche von der Fachsprache. Und hierzu ist der Beitrag der deutschen Verfassungslehre außerordentlich groß. Ich würde sogar sagen: Zum großen Teil wird die Terminologie des Rechtsstaates hier erarbeitet. Ein wirklich wichtiger Punkt ist das Verhältnis Verfassung und Gerichtsbarkeit, der Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Mir scheint, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit eigentlich tot geblieben wäre, wenn der generelle methodische Ansatz im Verhältnis zum 19. Jahrhundert nicht geändert worden wäre. Es ist gelungen, den dogmatischen und den funktionellen Ansatz zu kombinieren. Das ist eine sehr wichtige Erscheinung. Manche Autoren betrachten diese Kombination als zu selbstverständlich. Sie ist nur selbstverständlich, wenn man ausschließlich von Theorie redet. Aber wenn man sie praktisch durchzuführen versucht - sagen wir in der Rechtsprechung - wird es schwieriger. Die Versuche auf diesem Gebiet schätze ich sehr hoch. Wichtig ist weiter, an den Gedanken des Präsidenten Mahrenholz anknüpfend, die Idee einer gewissen Ewigkeit der Grundrechte, wenigstens mancher Grundrechte. Auch sehr wichtig sind zwei oder drei Prinzipien, die einen Beitrag zur universellen Verfassungslehre darstellen. Das ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Subsidiaritätsprinzip und letzten Endes die Wesensgehaltsgarantie. Man versucht immer zu vermeiden, über Kollisionsnormen in der Verfassungslehre zu reden. Man glaubt, die Verfassungslehre stehe auf so hohem Niveau der Abstraktion, daß es praktisch schwierig sei, vonrichtigenKollisionsnormen zu sprechen. Wenn wir den Grundrechtskatalog und die Verfassung im übrigen als eine Wertordnung betrachten und wenn wir uns bewußt sind, daß diese Wertordnung keineswegs eine für alle Zeiten festge1 Β attis/Ts ats os/Mahrenholz

258

E. G. Mahrenholz

schriebene sein kann, dann muß man sich damit abfinden, daß die Konkurrenz zwischen Werten und die Kollision zwischen Normen etwas Offensichtliches ist. Dann brauchen wir Kollisionsnormen. Das ist auch in Deutschland vorgeschlagen worden. Diese Gedanken werden jetzt in Polen diskutiert, in der Diskussion über die neue Verfassung, weil wir uns nicht mit der alten Verfassung von 1791 zufrieden geben können. Wir versuchen, eine neue Verfassung zu erarbeiten, die diese Vorschläge und diese Konstruktionen berücksichtigt Zum Schluß noch eine Bemerkung: Ich möchte hier meinen generellen Eindruck darstellen: Ich bin wirklich beeindruckt von dieser Tagung und von der Diskussion über die Dynamik der Wechselwirkungen der Verfassungen, die hier dokumentiert worden ist. Die Diskussion war außerordentlich bunt. Man konnte sich vorher nicht vorstellen, wie weit direkte Rezeption oder indirekte Rezeption oder die bloß indirekte Einwirkung gehen kann. Ich hoffe, daß diese Wechselwirkung, diese Dynamik der Wechselwirkung noch zu einer weiteren Verbreitung der Idee des Verfassungsstaats führen wird. Obwohl ich andererseits auch hoffe, daß auch die Besonderheiten bleiben werden: Wir sollen uns nicht uniformisieren lassen. Ich glaube, daß dieses Nebeneinander auch hier sehr überzeugend und sehr deutlich betont wurde. Und zum Schluß möchte ich noch sagen: Diese Tagung hier ist eine sehr schöne Ouvertüre zu dem Dritten Weltkongreß der Weltvereinigung der Staatsrechtler, welcher 1991 in Warschau stattfinden und den Tendenzen des universellen Verfassungsstaates gewidmet werden soll. Vielen Dank. Mahrenholz: Wir merken uns das für 1991 einstweilen vor und hoffen, daß wir in Warschau dabei sein werden. Kedzia: Wir laden Sie herzlich ein. Kim: Zum Abschluß dieser Tagung möchte ich zwei Fragen stellen. Die erste ist: Was hat Deutschland aus den Referaten der verschiedenen Länder gelernt? Die zweite ist: Wie würden Sie als Europäer darüber denken, wenn die Asiaten eine Asiatische Gemeinschaft wie die Europäische Gemeinschaft gründen würden? Mahrenholz: So kommen wir doch noch zu einem Dialog. Morita: Ich kann nur ganz kurz mein Vortrag ergänzen. Ich habe am Schluß von zwei Dingen gesprochen. Erstens von der Rezeptionsgeschichte Japans seit Anfang der Meiji-Restauration, das Wichtige habe ich betont. Eine andere Frage ist der Freiheitsbegriff. Gestern abend konnte ich nur

Podiumsdiskussion

259

spontan über diesen Freiheitsbegriff sprechen. Aber jetzt habe ich alle diese Ergänzungen gehört, und ich bin überzeugt, daß wir die Universalität von Freiheit in Gestalt von Menschen- oder Grundrechten in spezifischer Form in unsere eigenen Länder und Kulturen aufnehmen müssen. Die Erfahrung in Japan, Japan ist, wie gesagt eine Insel, und deshalb besonders kompliziert - kann ein Beitrag sein, wie dieser universale Begriff von Freiheits- oder Grundrechten in allen Ländern der Welt verwirklicht werden kann. Ergänzend zu diesem Freiheitsbegriff möchte ich sagen, daß wir in Japan seit der Meiji-Restauration zwei Arten von Freiheitsbegriffen haben, um es einfach auszudrücken. Der erste ist von Rössler, er ist in seinem sozialen Kontext zu verstehen. Nach meiner Vermutung basierte seine Idee auf der Vorstellung organischer Stabilität, wie sie Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland bestand. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir jetzt einen mehr vorstaatlichen oder mehr emanzipatorischen Freiheitsbegriff. Im übrigen, wenn wir die Praxis ansehen, wird schnell klar, daß z.B. der Oberste Gerichtshof nicht sehr geneigt ist, diesen Freiheitsbegriff zu akzeptieren und auf Verfassungswidrigkeit zu erkennen. Wenn wir Universalität erreichen wollen, müssen wir gleichzeitig die Besonderheiten und den bestimmten eigentümlichen Charakter finden und mit dem universellen Gesichtspunkt vereinbaren. Nur dann können wir die Universalität des Verfassungsstaats verwirklichen. Mahrenholz: Herr Häberle, Sie hatten sich freundlicherweise bereit erklärt, die beiden Fragen zu beantworten, die Herr Kim gestellt hat. Häberle: Ich versuche gerne, auf meinen werten, hier benachbart sitzenden Kollegen Kim kurz einzugehen. Er hat als erstes die Frage gestellt: Was haben wir Deutschen von dieser Tagung gelernt? Hierzu fallen mir spontan zwei Aspekte ein: Wir haben gelernt, daß in den kulturellen Prozessen die Produktion und Rezeption, in denen sich der Verfassungsstaat und das je einzelne Land entwickeln, die „Rezeption" kein bloß passiver Vorgang ist: Der aufnehmende Verfassungsstaat bringt jeweils seine ganz besondere Individualität als kulturelle Nation mit ein. Darum hatte ich schon in meinem Vortrag „Rezipient" und „Rezeption" meist in Anführungszeichen gesetzt. Gestern fiel von einer Seite das schöne Wort von der „Assimilation". Vielleicht bringt er das aktive Moment auf der Seite des „Rezipienten" zum Ausdruck. „Rezeption" ist im Verbund der Verfassungsstaaten immer auch schöpferisch, ζ. B. im Blick auf die spätere Aktualisierung der rezipierten Texte, die ja in einem neuen kulturellen Gesamtkontext wirken. Oft kommt es ja auch zu fruchtbaren Spannungen aus einer „Konkurrenzsituation" verschiedener Rezeptionsgegenstände: man denke an die Genealogie mancher deutscher und französischer Texte und Ideen in Polen, wohl 17 *

260

E. G. Mahrenholz

auch in Ungarn, aber auch an das Nebeneinander deutscher und französischer Gedanken in Italien (wie die Herren Ridola und Schefold zeigten). Im Rahmen einer kulturwissenschaftlich arbeitenden Rezeptionstheorie müssen wir noch viel nachdenken, z. B. über den je eigenen „kulturellen Boden" auf dem - „gewandelt" und „wandelnd" - rezipiert wird. Herr Morita und Herr Kim haben dies für ihre Länder gezeigt. Der „Rechts-Quellen"Begriff taugt hier wie sonst nicht: da selbst übernommene Texte nichts Vorhandenes sind, sondern sich erst im kulturellen Kontext entwickeln. Auch wäre zu fragen, ob wir in einer kulturell arbeitenden Rezeptions-Theorie den Begriff der unterschiedlichen „Einstellung" der aufnehmenden Völker i. S. des Landesberichts von Herrn Morita über Japan aufgreifen sollten. Ich schlage den Begriff der „Mentalität" vor, wie er in der neueren französischen Geschichtswissenschaft gebraucht wird: Rezeptionen hängen auch von der Mentalität der Völker ab. Zu fragen wäre auch, wie wir die in Japan beobachtete Zurückhaltung gegenüber fremden Doktrinen auswerten. Und: eine oft unterschätzte Rolle spielen bei Rezeptionen einzelne Persönlichkeiten (H. Rössler in Japan, Mortati in Italien). Schließlich habe ich von dem Begriff der Makro- und Mikrobeobachtung im Sinne von Herrn Azraks gestrigem Vortrag gelernt. Dank des Beitrags aus Ungarn wurde ich in der Auffassung bestätigt, daß Wappen, Flaggen und wie ich gerne hinzufüge, Hymnen und Feiertage „kulturelle Identitätselemente" auch im werdenden Verfassungsstaat (wie Ungarn) sind. Ich denke daran, wie überall um die Staatssprache gerungen wird (ich sage heute nur: Georgien!). Der Mensch ist eben nicht nur ein rationales Wesen, gerade auch im Verfassungsstaat muß er auch von seiner emotionalen Seite angesprochen werden. Der Verfassungsstaat braucht Identifizierungschancen. Das kommt zum Ausdruck in der „verfassungsstaatlichen Trias": Wappen, Flaggen und Feiertage - Ungarn hat sie im Rahmen seines Weges zum Verfassungsstaat jüngst und auf seine gesamte (Verfassungs)Geschichte erstreckt, wie einer Meldung der FAZ von vor etwa drei Wochen zu entnehmen war. Ein letztes Wort zu einer asiatischen Wirtschaftsgemeinschaft: Gefahr des Dilettierens hin: M. E. könnte eine asiatische Wirtschaftsgemeinschaft dazu beitragen, daß im Rahmen einer Gemeinschaft Kleine und Große friedlich gleichberechtigt zusammenleben: so etwa wie in der EG die Beneluxländer mit dem angeblichen oder wirklichen „Wirtschafts-Riesen" Bundesrepublik. Auch bei Ihnen in Asien gibt es doch starke Gefälle-Situationen in wirtschaftlicher Hinsicht. In einer Wirtschaftsgemeinschaft könnte eine neue Nähe zwischen den asiatischen Völkern entstehen. Hinzu kommt folgendes: Einer der Podiumsredner, ich glaube, es war Herr Csalótzky, hat soeben an den Zusammenhang von Wirtschaft und Verfassung erinnert. In der Tat: Der Verfassungsstaat beruht - bei aller kulturwissen-

Auf die

Podiumsdiskussion

261

schaftlichen Fundierung - auf wirtschaftliche Freiheiten, die auf den Eigennutz setzen, und auf das Konkurrenzmodell im Wirtschaftlichen und Geistigen. Bekanntlich kommt Europa „von der Wirtschaft her". Vielleicht entwickelt sich eine „Familie der Verfassungsstaaten" in Ostasien gerade auch aus einer Wirtschaftsgemeinschaft. Es ist eine weltpolitische Pointe, auch Dialektik, daß es ausgerechnet die Wirtschaft ist, die heute die osteuropäischen Reformbewegungen vorantreibt. Gewiß, die Wirtschaft ist um des Menschen willen da, wie einige deutsche Länderverfassungen nach 1945 sagen. Die Menschenwürde ist Grundlage der Wirtschaftsordnung, mit Folgen für die „Wirtschaftsethik". Der Verfassungsstaat setzt ein Mindestmaß an „guter Wirtschaft" voraus, umgekehrt schafft er solche Voraussetzungen, das ist die crux im Osteuropa von heute. So sehen wir, daß Ungarn in dem neuen Verfassungsentwurf von letzter Woche neben den Menschenund Bürgerrechten und der Gewaltenteilung die Gleichberechtigung der Eigentumsfrage und sogar die Marktwirtschaft verankern will. Was bleibt dann vom Sozialismus? Vielleicht ist es eine Pointe der Weltgeschichte, daß ausgerechnet die sozialistischen Länder um der Wirtschaft willen Elemente des Verfassungsstaates, die wirtschaftlichen und zwangsläufig dann auch die politischen Freiheiten fordern (müssen). Mahrenholz: Dazu wollte Herr Zuleeg noch eine Bemerkung machen. Zuleeg: Ich kann nur zur zweiten Frage Stellung nehmen. Leider konnte ich nicht an der ganzen Tagung teilnehmen. Aber ich kann fortführen, was Herr Häberle gesagt hat, und es zunächst einmal mit einem historischen Beispiel belegen. Weil der Weltkrieg eben in Europa ausgebrochen ist und dieser Weltkrieg sicherlich dem Gegeneinander der Nationalstaaten seine Entstehung verdankte, sind die Vereinigten Staaten von Amerika bereit gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg ein Vereintes Europa zu unterstützen. Auch im internationalen Bereich im GATT-Vertrag ist eine Ausnahmeklausel eingefügt worden, die solche Zusammenschlüsse ermöglicht. Die Vereinigten Staaten haben in theoretischer Hinsicht Schützenhilfe geleistet. Das Wettbewerbsrecht der Vereinigten Staaten ist in die Verträge aufgenommen worden. Politisch - das ist das wichtigste - haben die Vereinigten Staaten diesen Zusammenschluß Europas gefördert. Das schließt keineswegs aus, daß die Vereinigten Staaten nun mit diesem Gebilde, das sie mit ins Leben gerufen haben, indirekt ihre großen Schwierigkeiten haben. Schon früher unter Kennedy gab es den sog. Hähnchenkrieg, und auch jetzt ist eine Spannung zwischen den USA und Europa nicht zu verkennen. Wenn in anderen Teilen der Welt solche Zusammenschlüsse entstehen und wenn die Welt mit einem Teppich solcher Zusammenschlüsse überzo-

262

E. G. Mahrenholz

gen wird, die sich gegenseitig auch begrenzen und auf diese Weise die Gefahr der Macht der Nationalstaaten vermindern, dann ist das auch von Vorteil für Europa. Auch wenn dann möglicherweise abzusehen sein wird, daß mit diesem asiatischen Zusammenschluß vielleicht nicht Hähnchenkriege, aber Computerkriege, oder ich weiß nicht was sonst für Handelsgüter in Frage kommen, entstehen können. Und deshalb würde ich befürworten, daß, wenn es zu einem solchen asiatischen Zusammenschluß kommt, die europäischen Staaten und vor allem die Gemeinschaft sich dazu bereit finden, einen Beitrag zu einem solchen Zusammenschluß zu leisten. Mahrenholz: Darf ich noch einmal eine Frage an unsere Gäste aus Ungarn und Polen richten? Ist es richtig, daß eine Prosperität in der Wirtschaft geradezu eine Bedingung dafür ist, daß eine Nation wie die ungarische oder die polnische verfassungsrechtlich einen neuen Weg gehen kann?

Csalótzky: Es wäre gut, wenn wir unsere Verfassung unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen ausarbeiten könnten. Aber wir haben jetzt eine ausgesprochen schlechte Situation in der Wirtschaft, die sehr gefährlich ist für Politik und Verfassung. Doch müssen wir unter diesen schwierigen Bedingungen solche Vorbereitungen treffen, die in der Zukunft bestehen können. Darum ist, nicht nur in politischer Hinsicht, mit einer Übergangsperiode zu rechnen. Aber wirtschaftlich müssen wir auch einige Maßnahmen durchführen, die in den kommenden Wochen und Monaten und in diesem Jahr notwendig sind. Aber wir müssen für die Wirtschaft einen solchen Rahmen in der Verfassung sichern, daß sich die Wirtschaft im Einklang mit der Wirtschaftsordnung Europas weiter entwickeln kann - mit Kultur und Eleganz.

Kedzia: Vor einigen Jahren hat die soziologische Schule aus Chicago eine große Untersuchung durchgeführt und ist zu dem Schluß gekommen, daß in allen Ländern, wo man die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen will, das autoritäre Element verstärkt wird. Ich muß sagen, daß dieses Ergebnis, euphemistisch ausgedrückt, nicht zutreffend ist, wenn es sich um Osteuropa handelt. Weil das autoritäre Element die Wirtschaftsentwicklung stört, so muß es entweder wesentlich geschwächt oder abgeschafft werden. Mit anderen Worten: Es muß also die freiheitlich- demokratische gesellschaftliche Ordnung eingeführt werden mit allen dazu nötigen Garantien. Es existiert - wie Prof. Häberle gesagt hat - eine Wechselbeziehung. Die wirtschaftliche Entwicklung ist Bedingung für die demokratische Entwicklung - und umgekehrt. Welche wirtschaftliche Lage wir haben, ist

Podiumsdiskussion

263

wohl bekannt. Ich brauche das nicht näher zu beschreiben. Auf jeden Fall befürchte ich, daß, wenn wir unsere wirtschaftliche Lage nicht meistern, wir mit einem sehr langen Prozeß der Demokratisierung rechnen müssen. Mahrenholz: Ich habe die Frage gestellt vor einem bestimmten Hintergrund. Wenn wir von dem Beitrag des Grundgesetzes zu möglichen Verfassungsentwicklungen in Ungarn, Polen sprechen, ist vielleicht die Situation z. Zt. so, daß wir überlegen müssen, ob wir nicht sehr viel aktuellere contributions leisten müßten, etwa in Form von Krediten, etwa in Form von joint ventures, - Dinge, die lange Zeit tabu waren, insbesondere nach dem Dezember 1981, wo die USA sofort sehr harsch reagierten. Ich glaube, die Bundesrepublik war da sehr viel moderater. Aber diese Angelegenheit nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten anzusehen, dies schiene mir wirklich der Situation, die wir haben, nicht angemessen zu sein. Und so glaube ich, weitet sich die Verantwortung auch der Bundesrepublik für diesen Punkt sehr viel stärker aus, als es in unserem öffentlichen Bewußtsein verankert ist. Wir werden diese Entwicklungen von außen her nur stabilisieren können, wenn wir andere Maßstäbe anlegen als die Fragen von wirtschaftlicher Rentabilität und Rückzahlung innerhalb bestimmter Zeit. Das, befürchte ich, ist unsere Situation; so wie beim Umweltschutz sich inzwischen der Gedanke Bahn bricht, daß man die DDR mit Krediten bedenken muß, wenn die Elbe jemals wieder sauber werden soll. Ebenso gibt es hier vermutlich für uns politische Notwendigkeiten, die über das rein Verfassungsrechtliche hinausreichen, die aber eine Bedingung dafür sind, daß Verfassungsrecht so, wie es die Polen und Ungarn sich vorstellen, überhaupt glükken kann. Kedzia: Zwei Gedanken. Erstens, ich glaube, daß auch die Beschlüsse des „runden Tisches" in Polen ein Beweis sind für diese Wechselbeziehung zwischen dem Wirtschaftlichen und Politischen. Diese Beschlüsse umfassen sowohl das Politische wie auch das Wirtschaftliche, und man kann aus diesen Beschlüssen, die durch die Opposition und die Regierungsseite verabschiedet wurden, erkennen, daß beide Seiten diese Wechselbeziehung gesehen haben. Zweitens: Wenn wir jetzt über die Umwelt der Grundrechte und die Umwelt des Verfassungslebens reden, dann muß ich eine Befürchtung ausdrücken. Ich verstehe natürlich völlig die Integrationsbestrebungen Westeuropas. Aber von 1992 an befürchte ich einen Doppelstandard von Grundrechten und Verfassungsleben in Europa. Wenn wir die wirtschaftlichen Differenzen noch vertiefen, dann werden die soziologischen und politischen Folgen sich eindeutig negativ auswirken. Ich glaube, wenn wir über die

264

E. G. Mahrenholz

Verfassung einerseits oder über die Wirtschaft andererseits diskutieren, dann müssen wir das je andere Element immer vor Augen haben. Mahrenholz: Einen Satz noch von Herrn Häberle. Dann schlage ich vor, daß wir zur Einbeziehung des Publikums übergehen, da es uns offenbar nicht gelingt, in Streit auszubrechen. Das hat natürlich mit der Situation und dem Tagungsgegenstand und der eigenen Rezeption der Tagung zu tun. Aber vielleicht gelingt es uns, mittels des Publikums doch noch etwas Farbe hinzuzufügen. Häberle: Die Intervention des Herrn Präsidenten Mahrenholz, ergänzt durch unseren Gast aus Ungarn, veranlaßt mich zu folgender Überlegung: Müssen wir uns heute nicht dringlicher denn je die Frage stellen, ob es einen weltweiten Verantwortungszusammenhang der je nationalen Verfassungsstaaten gibt: In Sachen Umweltschutz - wie Sie es angedeutet haben - , in Sachen Wirtschaft - wie Sie es angedeutet haben. Konkreter formuliert: es müßte einen John Locke geben, jetzt in unseren Tagen, für die universalen, weltweiten Zusammenhänge, einen John Locke im Weltmaßstab sozusagen. Was John Locke als Wegbereiter für den nationalen Verfassungsstaat getan hat, müßte jetzt fortgeschrieben, kongenial verarbeitet werden für den universalen und weltweiten Zusammenhang: Kooperation, Solidarität für die eine Welt des blauen Planeten Erde, Verantwortung dank eines fiktiven oder realiter nach und nach abgeschlossenen „Welt-Gesellschaftsvertrags" zwischen Nord und Süd, Ost und West, Großen und Kleinen, im Blick auf eine gemeinsame Umwelt, auch Wirtschaft und Arbeit und das „kulturelle Erbe". Notwendig wäre ein relativ optimistisches Welt- und Menschenbild - es kann nur das in und aus dem Verfassungsstaat entwickelte sein. Die Elemente des Verfassungsstaates müßten aus den weltweiten Verantwortungszusammenhängen bzw. Aufgaben entwickelt werden, mit Folgen für sein „Inneres". Der einzelne Verfassungsstaat und der Verfassungsstaat als Typus hat heute spezifische Aufgaben im Blick auf die ganze Menschheit, nicht nur im Sinne der individuellen Menschenrechte, das auch. Tsatsos: Herr Präsident, drei ganz kurze Punkte. Erste Bemerkung an unseren Freund aus Polen, Herrn Kedzia. Einverstanden, - Ewigkeit der Grundrechte - sehr wichtig. Ich ergänze, was Sie sicher auch gemeint haben, Ewigkeit in ihrer geschichtlichen Fortentwicklung. Das sind kulturelle Güter, und sie sind geschichtlich bedingt.

Podiumsdiskussion

265

Die zweite Bemerkung an Herrn Mahrenholz: Ich war mitverantwortlich für die Verfassungsgebung Griechenlands, an die Sie gedacht haben in bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit. Und mein Argument gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit in Griechenland war weniger des Ursprungs, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit Bestandteil eines Entwurfes von Papadopoulos war, sondern des Ursprungs, daß wir bei der Rezeption auch an die Tradition denken müssen. Ich rezipiere ja nicht die abstrakte Regelung. Denn diese abstrakte Regelung wirkt auf mich durch die Praxis, die sie bewirkt hat, durch die Geschichte, die sie erfahren hat. Diese Erfahrung hat für mich Anziehungskraft oder wirkt abschreckend. Daß der gute Erfolg der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland - so mein Urteil - keine Chance hatte, sich in Griechenland zu wiederholen, hatte viele Gründe. Ein Stichwort nur: die Richtertradition. Das hat mich dann zu der Position gebracht, eine für mich erfolgreiche Institution der Verfassungsverwirklichung und der Kontrolle der Verfassungsverwirklichung nicht zu empfehlen, sogar dagegen zu kämpfen unter dem Aspekt der fehlenden entsprechenden Tradition. Eine dritte Bemerkung an Herrn Häberle: Sie ist nicht rechtswissenschaftlich und nicht verfassungsrechtlich. Sie haben bemerkt, daß wir alle sehr bewegt waren über Ihre Bemerkung bezüglich dessen, was Ihr Land verursacht hat. Ich gehöre zu einem der Völker, die Sie gemeint haben. Sie haben Anspruch, etwas zu erfahren, was ich fast am eigenen Leib erlebt habe. 1944: Es gibt eine Exilregierung, eine griechische Exilregierung in Kairo. Dort lebt der Kronprinz, der spätere König Paul mit Kronprinzessin Friederike, die später neben König Paul Königin wurde. Ich sage Königin, weil damals bei uns die Gattin des Königs verfassungsrechtliche Funktionen hatte. Der damalige Justizminister der griechischen Exilregierung hat pflichtgemäß einen Besuch sowohl beim König als auch beim Kronprinzen gemacht Dieser Justizminister wußte, daß die Kronprinzessin Deutsche ist. Er hat sie auf deutsch angesprochen, da dieser Mann in Deutschland studiert hatte und in Deutschland promoviert worden war. Und diese Dame hat auf englisch geantwortet: I cannot understand this language. Und der griechische Justizminister hat geantwortet - auf deutsch - : Er weigere sich aufzuhören, die Sprache Goethes zu sprechen. Ich weiß es, weil es mein Vater war. Hofmann: Herr Präsident, eine ganz kurze Anmerkung, zwei kurze Bemerkungen. Die Anmerkung zum Referat von Herrn Gusy: Auch die EMRK ist, ähnlich wie der EuGH, stärker von der deutschen Verfassungsrechtslehre beeinflußt worden, als Sie das in der Kürze der Zeit dargestellt haben. Auch dort sind das Verhältnismäßigkeitsprinzip und solche Dinge wie Schranken-Schrankenlehre durchaus eingeflossen. Zum Teil hängt das

266

E. G. Mahrenholz

mit dem Einfluß zusammen, den gewisse Personen in solchen Gremien haben. Das bringt mich zu meiner ersten Bemerkung. Wir sind uns wohl alle darüber einig, daß dies hier eine ganz besondere Tagung ist. Nicht nur von der Intensität der Diskussion und der Fülle von Information her, sondern auch, weil sie eine der wenigen Tagungen mit internationaler Beteiligung ist, auf der die Verhandlungssprache Deutsch ist. Wir haben vor allem an dem beeindruckenden Referat von Herrn Häberle gesehen, wie sich offenbar weltweit bestimmte verfassungsrechtliche Entwicklungen fortpflanzen, gegenseitig beeinflussen, aufeinander einwirken. Und das geschieht, obwohl jedenfalls bis vor ganz kurzem die jeweiligen Verfassungsrechtslehren der einzelnen Länder in einem höchst bedauerlichen Maße introvertiert und fixiert auf das eigene Rechtssystem waren. Das führt zu einem Appell auch an die deutsche Staatsrechtslehre: Man müßte viel mehr fremdsprachliche Literatur verarbeiten können. Dann könnte man wieder daran anknüpfen, wo das deutsche öffentliche Recht Ende des letzten, anfangs dieses Jahrhunderts war. Denn nur über die Kenntnis fremder Sprachen vermittelt sich das fremde Recht - das ist eine Platitüde. Wir müssen ungeheuer dankbar sein denjenigen ausländischen und deutschen Kollegen, die sich um diese Vermittlung von Wissen bemühen. Herr Zuleeg, ich kann Sie nur unterstützen bei der Klage über die geringe Rolle, die das internationale Recht und die Rechtsvergleichung in unserer Juristenausbildung spielen. Jeder redet davon, wie wichtig 1992 für Deutschland ist. Das Europarecht im Stellenwert der Juristenausbildung dagegen sinkt und sinkt von Jahr zu Jahr. Auch als deutsche Juristen müssen wir uns bemühen, mehr zu können als nur englisch zu sprechen und ein bißchen zu schreiben. Wir müssen uns auch darauf besinnen, daß es auch andere Sprachen gibt, die wichtig sind. Liegt diese nun unbestrittene gegenseitige Beeinflussung der Verfassungen daran, daß es einige Personen gibt, die kraft ihrer sprachlichen Kompetenz die Rechtsentwicklung/Rechtsgeschichte beeinflussen? Oder ist es vielleicht doch so, daß es auf gewissen historischen Entwicklungsstufen einfach etwas wie Gesetzmäßigkeiten oder Zwangsläufigkeiten gibt? Beziehen wir uns vielleicht doch auf die kulturellen Gemeinsamkeiten des universalen Verfassungsstaates, die weniger zahlreich sind als vielleicht die Prinzipien eines spezifisch europäisch geprägten Verfassungsstaats, der sicher beeinflußt ist von der griechischen Tradition, der römischen, dem Christentum, der Reformation und Gegenreformation, der Aufklärung, alledem? Das bringt mich zu meiner dritten Bemerkung. Es geistert dieses schöne Wort vom gemeinsamen europäischen Haus durch die Medien. Falls dies denn irgendwann einmal gebaut werden sollte - es hat sicher als Grundlagen

Podiumsdiskussion

267

oder muß als Grundlagen haben Begriffe wie Rechtsstaat, Verfassungsstaat, Schutz von Grundrechten als gemeineuropäische, kulturelle Entwicklung und Tradition. Jeder von uns, der einmal außerhalb Europas gelebt hat und dann die Trennung zwischen Westeuropa und Osteuropa betrachtet - diese Trennung, die ja nun 40 Jahre alt ist - sieht, daß sie künstlich ist. Das ist an den Beiträgen unserer ungarischen und polnischen Kollegen sehr deutlich geworden. Es gibt eine ganz starke gemeineuropäische Identität. Deren Pflege und Vermittlung wäre auch eine weitere Aufgabe für die akademischen Lehrer, für die Abgeordneten, für die Presse - für wen auch immer. So gut die europäische Integration, die westeuropäische Integration ist und für so wichtig ich sie halte und so sehr ich sie unterstütze, es darf nicht das geschehen, was von Herrn Kedzia als Mahnung an die Wand geschrieben wurde und was in unserem - gerade westdeutschen - Bewußsein sehr häufig auftaucht: daß für uns Europa an der Elbe und am Böhmerwald aufhört. Europa reicht sehr, sehr viel weiter. Das hört sich jetzt sehr pathetisch an, ist aber etwas, das wir uns wirklich bewußt machen müssen. Zuleeg: Herr Hofmann, es gibt sicher objektive Tendenzen, die Grenzen überschreitenJch kann aber darauf hinweisen, daß an manchen Stellen durchschimmert, welche wichtige Rolle Personen, die Sie als Vermittler bezeichnen, spielen. Ich denke dabei an den früheren Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Pièrre Pescatore, einen Luxemburger, der es verstanden hat, gerade durch seine Sprachkenntnisse und durch seine Kenntnisse des deutschen Rechts dem europäischen Gemeinschaftsrecht deutsche Verfassungsgedanken zu vermitteln. Herr Pescatore ist nicht müde geworden, diese Gedanken auch zu Papier zu bringen und hat auf diese Weise dokumentiert, daß er ein solcher Vermittler sein kann. Und die Ergebnisse der Rechtssprechung haben das auch gezeigt. Gusy: Herr Vorsitzender, meine sehr verehrten Damen und Herrn, ich möchte zunächst ganz kurz auf das Einleitungsstatement des Vorsitzenden zur Podiumsdiskussion eingehen, weil das ganz bezeichnend war. Ich knüpfe an an die Forderung, die nationalen Identitäten zu wahren und daran, daß es wichtig sei, daß ein Volk sich auch mit seiner Verfassung identifizieren könne. Die Identifikation mit der eigenen Verfassung ist eine Forderung, die, wenn ich dasrichtigsehe, ganz spezifisch deutsch ist und sonst in dieser Intensität nur noch in den Ländern erhoben wird, in denen die Verfassung ungeschriebenes Recht ist. Sonst ist der Gegenstand der Identifikation doch eher in anderem zu suchen. Es ist bezeichnend, Herr Häberle, wenn Sie die Feiertage angesprochen haben, daß sich die Ungarn eben jetzt nicht am

268

E. G. Mahrenholz

Grabe irgendeiner Verfassung versammelt haben, sondern am Grabe von Kossuth. Das zweite knüpft an an das, was Sie gesagt haben, Herr Zuleeg. Sie hatten auf die wichtige rüstungskontrollierende und abrüstungspolitische Funktion des EGKS hingewiesen. Sehr interessant ist, daß auf der Tagung der Völkerrechtler - gerade in Hamburg - betont worden ist, daß es sich hier um eine Friedensorganisation handelte. Und daß gerade der Beitrag der europäischen Integration zur Herstellung der Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht unterschätzt werden könne. Herr Hofmann, Sie haben natürlich völlig Recht, daß alles in der Kürze unserer Zeit nicht vorgetragen werden kann. Es ist aber so, daß beispielsweise die Idee der Schranken/Schranken eine Idee ist, die nicht nur und originär im deutschen Recht zuhause ist. Ich darf Sie nur an Art. 10 Abs. 2, 14, 18 der EMRK erinnern. Man müßte hier vorsichtig sein und schauen: Wo liegen hier die Einwirkungsströme, und was davon ist spezifisch deutsch. Ich möchte aber noch auf zwei offene Dimensionen der Wechselwirkungen und Wirkungszusammenhänge im Verfassungsrecht hinweisen. Sie knüpfen - Herr Zuleeg - beide an Ihre Ausführungen an. Es sind zwei Dimensionen, die desiderat geblieben sind und auch desiderai bleiben mußten, desungeachtet aber nicht unwichtig sind. Das Erste ist die demokratische Dimension, die von Ihnen angesprochen worden ist. M. E. zeigt die dramatische Kompetenzverlagerung nach oben, die wir derzeit in Europa beobachten, doch deutlich an, daß hier eine Kompetenzverlagerung mit einer gewissen Tendenz zur Entdemokratisierung vor sich geht. Wir müssen sehen, daß die demokratische Legitimation der nationalen Gesetzgebung und Rechtsetzung wesentlich stärker ausgeprägt ist als die der Europäischen Gemeinschaften. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht und noch mehr die Lehre betont hat, daß Voraussetzung für die Integration der Bundesrepublik in supranationale Gemeinschaften eine gewisse Strukturgleichheit der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung und der supranationalen Ordnung sein muß, so ist doch zu erwägen, daß hier die Demokratisierung sehr im Rückstand ist und die Einwirkungen nicht nur deutsch sein dürfen, sondern von allen Mitgliedsstaaten dringend eingefordert werden müssen. Es geht nicht an, daß die Kommission und sonstige Gemeinschaftsorgane ihre Kompetenzen dauernd weit interpretieren, um es vorsichtig auszudrücken, und damit Kompetenzen an sich und weg von den demokratisch legitimierten Parlamenten ziehen. Der zweite Zusammenhang, der hierzu noch betont werden sollte, ist der Umstand, daß selbstverständlich auch umgekehrt vom europäischen Recht Wirkungen auf das nationale Recht ausgehen. Diese Wirkungen äußern sich

Podiumsdiskussion

269

natürlich u. a. auch im Anpassungsdruck. Nun hatte ich das Vergnügen, an Ihrer Stelle und wahrscheinlich auf ihre Initiative hin am 20. Februar bei der Anhörung des Bundestages zu Asylfragen dabei zu sein. Hier bestand die allgemeine Tendenz, daß im Hinblick auf Europa 1992 das deutsche Asylrecht quasi obsolet sei und entweder weginterpretiert oder gar abgeschafft werden müßte. Einige Kollegen, die wir beide bestens kennen - ich darf nur Herrn Quaritsch oder Herrn Hailbronner nennen - forderten das dann auch mit mehr oder weniger großem Engagement. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß mich der Abgeordnete Hirsch ausdrücklich fragte: Halten Sie es für zwingend erforderlich, daß hier ein Wettlauf nach unten stattfindet, daß also durch die Wechselwirkungen Europas in das nationale Recht die rechtsstaatlichen Standards nach unten hin harmonisiert werden? Und die Verneinung dieser Frage setzt viel voraus. Das muß nicht nur im Asylrecht, auch im Arbeitsrecht, im Sozialrecht usw. wohl erst noch geleistet werden. Mahrenholz: Jetzt kommt endlich Streit auf. Da Sie mich als ersten angegriffen haben, darf ich zwei Sätze erwidern: Ich halte an meiner These fest und verweise auf Max Weber, der ja nicht müde wurde, während des Kaiserreichs und während des Krieges darauf zu verweisen, wie dumm die Einstellung der deutschen nationalen Rechten sei, die Demokratie sei etwas typisch französisches oder angelsächsisches und gehöre nicht auf deutschen Boden. Diese Einstellung hat die Rezeptionsmöglichkeiten der Weimarer Verfassung doch eben außerordentlich erschwert. Es kommt schon darauf an, daß die Lebensform einer freiheitlichen Demokratie angeeignet werden muß. Wenn Sie nach Polen kommen - und ich habe in den letzten Jahren das Vergnügen zweimal gehabt - dann merkt man, wie fremd einem Volk eine Verfassung ist, weil ganz selbstverständliche Freiheitsrechte nicht aufgenommen worden sind. Eine Nation muß zu der Verfassung, mit der sie leben soll, ein Verhältnis gewinnen. Raisch: Als Zivil- und Wirtschaftsrechtler traue ich mich natürlich kaum, in dem gehobenen Kreis der Verfassungsrechtler das Wort zu ergreifen, und es wird auch gleich etwas nüchterner. Mahrenholz: Reine Koketterie Raisch: Ich möchte mich auf mein Fach beschränken - Wirtschaftsrecht. Ich bin initiiert worden und auch sehr betroffen von dem, was Sie aus Ihrer polnischen und Ihrer ungarischen Sicht gesagt haben: Wir müssen die Wirtschaft ankurbeln, dann sind die Möglichkeiten für eine günstige Verfassung, auch politisch, besser. Ich bin aber durch das Wort Chicago-School

270

E. G. Mahrenholz

gereizt worden, das Sie gebracht haben. Ich war auch ganz erstaunt, daß Sie diese Chicago-School hier genannt haben - ich liebe sie nicht unbedingt. Aber sie hat eines erkannt, und das betrifft natürlich den Teufelskreis, in dem Sie in Ihrem Land möglicherweise stehen: Die Chicago-School und der Ordoliberalismus, der, bei uns gemäßigter herrschen, meinen, daß der Staat im ganzen gesehen nicht so gut in der Lage sei, die Wirtschaft anzukurbeln - so etwa die Gedanken von Hayek und von anderen - und der Staatsintervenismus könne dies jedenfalls in großem Maße nicht. Denn, was geschieht mit den Geldern, die wir einsetzen, wenn nicht schon die Wirtschaft in ihren rechtlichen Möglichkeiten etwas frei bleibt. Allerdings ist, was die Verfassung anbetrifft, dann manches schwierig: Eine Verfassung kann nicht nur für die Wirtschaft da sein. Aber wenn Wirtschaft eine menschliche ist und der Mensch auf Freiheit angelegt ist - und jetzt zitiere ich nicht schon John Locke, sondern Adam Smith und die Nachfolger von John Locke, solche gibt es ja bereits, dann frage ich mich, wie Sie diesen gordischen Knoten lösen wollen. Ich denke, Sie müssen vielleicht auf beiden Seiten beginnen: Verfassung auch bei schlechter Wirtschaft. Ein Rezept für Sie kann ich natürlich nicht liefern. Denn die bis in die tiefe Weltanschauung gehenden Vorschläge der heutigen Wirtschaftswissenschaft, die sich auch auf die Aufklärung gründen und auf deren freiheitliche Konzepte, die stehen natürlich mit dem, was Marxismus genannt wird und real in verschiedenen Formen ausgeübt wird, in einem elementaren Widerspruch, der sich vergleichen läßt mit dem Widerspruch der Verfassungsordnungen. Man sollte vielleicht von unten beginnen. Ich weiß, daß es eine ganze Reihe von wirtschaftsrechtlichen Abkommen gibt und von paritätisch besetzten Gesellschaften auf unterer Ebene. Ich denke, daß da auch - Sie haben das schöne Wort gesagt: Man muß langsam wieder zu Essen beginnen - beiderseits wieder langsam gegessen wird. Vielleicht kommt doch wieder ein Gericht zustande, das beiden Seiten schmeckt. Ich habe heute mit Freuden gehört, daß die deutsche Verfassungsrechtslehre bei ihnen ankommt. Das ist ein schöner Beitrag deutscher Wiedergutmachung der deutschen Staatsrechtslehrer früherer Zeit. Allerdings haben wir es nach dem Zweiten Weltkrieg relativ leicht gehabt, bei schlechter wirtschaftlicher und politischer Lage eine solche Verfassung mit beraten zu dürfen und dann erlaubt zu bekommen. Daß diese Verfassung einen weiteren Beitrag liefert, finde ich, auch als Zivilrechtler, eigentlich sehr schön. Azrak: Ich will hier eine Frage ganz kurz anschneiden, die Sie, Herr Zuleeg, aufgegriffen haben. Es geht um die Grundrechtsdefizite, die immer noch innerhalb der EG herrschen. Herr Zuleeg, Sie haben hier die Konzeption des Grundrechtsschutzes des Europäischen Gerichtshofs an einigen

Podiumsdiskussion

271

interessanten Beispielen veranschaulicht. Dennoch, ich glaube, es bleibt die Frage offen, an welchen Grundrechtskonzeptionen sich der Gerichtshof orientiert und auch in Zukunft orientieren soll: an der Konzeption der Menschenrechtskonvention oder an den unterschiedlichen Konzeptionen der Mitgliedsstaaten. Im ersten Fall könnte man einige Bedenken haben, weil manche Mitgliedsländer die Konvention mit Vorbehalten unterzeichnet haben: England, Frankreich. Im letzteren Fall können noch mehr Schwierigkeiten entstehen, weil die Mitgliedsstaaten die Grundrechte recht unterschiedlich geregelt haben. Mit einem Mindestmaß gibt man sich auch nicht zufrieden. Wenn man dieses Problem nach dem Motto »Jeder nach seinem nationalen Recht" lösen wollte, wäre dies sicher kein guter Beitrag zur europäischen Integration. Soll man in Zukunft den Versuch machen, die Grundrechtskonzeption der Europäischen Menschenrechtskonvention in die EG-Verträge miteinzubeziehen? Papadimitriou: Ich will mich ganz kurz fassen. Herr Zuleeg hat uns in vorzüglicher Weise aufgezeigt, wie wichtig der deutsche Beitrag zur Präzisierung und Artikulierung des Rechtsstaats auf der Gemeinschaftsebene gewesen ist. Die Frage ist nur, wie wichtig der Beitrag bei der Präzisierung des Sozialstaatsprinzips oder der Sozialgemeinschaft ist. Ich würde sagen, daß in diesem Bereich ein Defizit zu verzeichnen ist, welches in der Zukunft von besonderer Bedeutung sein wird, vor allem in der Perspektive auf Europa nach 1992. Das ist für alle, - besonders für uns Südländer - von besonderer Bedeutung. Es ist natürlich, daß wir daran großes Interesse haben. Mahrenholz: Ich sehe, Herr Zuleeg, Sie haben mit ihrem Schlußwort noch einiges zu leisten. Jetzt kommen Sie, Herr Toetemeyer, als Vertreter der ersten Gewalt. Toetemeyer: Ich möchte mich zuerst an Sie wenden, Herr Professor Kedzia aus Polen. Sie haben darauf hingewiesen, daß die europäische Einigung ab 1. Januar 1993 eine teileuropäische Integration ist - ich glaube, das sollten die Politiker sehen. Es ist ganz wichtig, dafür Sorge zu tragen, daß auch in der Rechtsentwicklung keine Abschottung vom übrigen Teil Europas geschieht, weil dies die Osteuropäer zurückwerfen würde. Das habe ich heute von Ihnen gelernt. Ich möchte Sie aber fragen, ob Ihre kritische Bemerkung bedeutet, daß wir diesen Schritt nicht gehen sollten. Ich würde um Verständnis dafür werben, daß wir ihn gehen müssen. Damit komme ich zur zweiten Bemerkung: Ich glaube, der Beitrag von Herrn Zuleeg heute morgen bestätigt meine These, daß es eine positive Fortentwicklung von den nationalen Verfassungen zur Europäischen Gemein-

272

E. G. Mahrenholz

schaft hin gegeben hat; sie sollte fortgesetzt werden. Ich würde von Ihnen gerne wissen, ob Sie diese These unterstützen. Die dritte Bemerkung - da würde ich Herrn Gusy widersprechen: ich glaube, daß existentiell erforderlich ist eine Identifikation des Staatsbürgers mit seiner Verfassung, nicht nur mit den nationalen Verfassungen, sondern auch mit der künftigen europäischen Verfassung. Ich bin in der Außenpolitik, insbesondere der Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit tätig. Aus dieser praktischen Arbeit im Bundestag leite ich die Erfahrung her, daß es heute schon eine Rechtsbestimmung auf europäischer Ebene geben müßte, die beinhaltet, daß Entwicklungspolitik nur europäisch betrieben werden kann und nicht auf der Ebene nationaler Parlamente. Letzteres hat in der Dritten Welt zur unliebsamen und schädlichen Konkurrenz der nationalen Entwicklungspolitiken geführt. Auch hier ist von der Sache her eine Fortentwicklung zum europäischen Recht unter Beachtung verfassungsrechtlicher Kontinuitäten unbedingt erforderlich. Die Entwicklung in Europa ist zwingend notwendig, muß aber die Frage der Identifikation berücksichtigen. Verehrte Damen und Herren, die Feiern, die in diesem Jahr zum 40jährigen Jubiläum des Grundgesetzes stattfinden, finden nicht nur in Hagen, sondern überall außerhalb der Öffentlichkeit statt. Das heißt, eine Identifikation unserer Bevölkerung mit diesem Ereignisfindet so gut wie überhaupt nicht statt. Wenn das so ist, dann müssen wir alles tun, daß das geändert wird. Herzlichen Dank. Mahrenholz: Wir haben ein Namensproblem zu lösen. Ich möchte Herrn Kedzia trösten. Das Deutsche Fernsehen hat acht Jahre gebraucht, den Namen Walesa richtig auszusprechen. Ich hoffe, daß es uns mit Ihrem Namen schneller gelingt Ich gebe das Wort an Herrn Kedzia. Kedzia: Ich kann die Frage damit beantworten, daß ich mich völlig der Meinung zu dieser Frage, wie sie hier von Herrn Dr. Hofmann dargestellt wurde, anschließe. Ich teile also seine Meinung, daß die Integrationsprozesse in Westeuropa etwas völlig Verständliches sind. Diese Integrationsprozesse sind natürlich für jeden Westeuropäer wünschenswert und sollten unterstützt werden. Ich wollte mit meiner Behauptung nur sagen: Es wäre wirklich sehr schädlich, nicht nur für Osteuropa, sondern auch für Westeuropa selbst, wenn diese Integration zu einer Abgrenzung führen sollte. Im übrigen bin ich auch der Meinung, daß wir nach der existierenden Identität suchen müssen. Das ist vielleicht paradox. Diese Identität existiert Aber sie muß neu definiert werden. Das ist unsere Aufgabe. Ein Beispiel: Wenn wir über europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte

Podiumsdiskussion

273

reden, habe ich manchmal den Eindruck, es handele sich um einen Austausch, um Handel, zwischen Ost und West. Wir sollten nicht vergessen, nach bestehenden gemeinsamen Standards zu suchen. Morita: Mein Beitrag betrifft den Begriff der Freiheit. Die Diskussion über diese Frage ist zwischen Ost und West sehr schwierig. Wir im Osten haben nach meinem Verständnis immer noch sehr große Schwierigkeiten, diese Begriffsprobleme zu klären. Wie kann man diesen westlichen Begriff der Freiheit ins Japanische übersetzen? Jetzt hat man einen Freiheitsbegriff, der sich herleitet von einem zen-buddhistischen Begriff und Zustand der Erleuchtung bedeutet. Wenn man in der Zen-Praxis ein sehr gutes Ende erreicht, dann hat das eine ethische Bedeutung. In Japan ging man bei der Ausarbeitung der Verfassung von der Voraussetzung aus, daß eine Verfassung unbedingt eine ethische Grundlage braucht. Die ethische Grundlage ist auch für den Freiheitsbegriff zu fordern. Ohne eine ethische Grundlage - so ein Wort von Ito - wäre der Verfassungsstaat nicht denkbar und würde auf Anarchie hinauslaufen. Ich kann Verfassungsstaat und Freiheit nicht trennen. Beide sind nicht denkbar ohne ethische Grundlage. Zuleeg: Ich will versuchen, in der Reihenfolge der Punkte, wie ich sie vorgetragen habe, zu antworten, nicht in der chronologischen. Zunächst zu Herrn Azrak. Sie fragen nach der Grundrechtskonzeption. Da kann ich ein bißchen aus dem Nähkästchen plaudern. Ich habe als Theoretiker auch zu den Leuten gehört - und werde es auch in Zukunft nicht unterlassen - die versuchen, aus der Rechtsprechung eines Gerichts eine durchgehende Linie abzuleiten, wahrscheinlich mit dem Hintergedanken, diese Linie auch zu beeinflussen, indem man bestimmte Züge hervorhebt und andere Züge etwas zurückdrängt. Aber bei der Tätigkeit im Gerichtshof merkt man dann doch, daß generelle Konzeptionen sehr schwer anzuwenden sind. Die Fälle sind verschieden, die Einstellungen der beteiligten Richter sind verschieden. Manchmal ergibt sich alledem auch ein Zickzack - Herr Mahrenholz, Sie werden mir das sicher bestätigen - es bedarf dann der Ergänzung durch die Verfassungslehre, um eine Grundrechtskonzeption zu entdecken oder zu korrigieren und so Einfluß auf das Recht zu nehmen. Die EMRK wird ganz erheblich in die Rechtsprechung des EuGH einbezogen, auch die ihr zugrundeliegenden Konzeptionen. Das war nur am Anfang anders aus dem einfachen Grund: Der Gerichtshof versteht die allgemeinen Rechtsgrundsätze so, daß Voraussetzung ist, daß alle Mitgliedsstaaten sich dazu bekennen. Wegen Algerien hat Frankreich lange Zeit, obwohl Unterzeichnerstaat, obwohl Sitzstaat für die Organe, die die Europäische Menschenrechtskonvention anwenden sollten, die EMRK nicht ratifiziert. Solange hat der Gerichtshof die Europäische Menschenrechtskonvention nicht als Ausdruck 18 Β attis/Ts ats os/Mahrenholz

274

E. G. Mahrenholz

allgemeiner Rechtsgrundsätze aller Mitgliedsstaaten verstanden. Seit dieses Hindernis beseitigt ist, hat die Europäische Menschenrechtskonvention wesentliche Bedeutung. Nächster Punkt nach der Reihenfolge meines Vortrages ist die Frage der Demokratisierung. Herr Gusy, ich bin in diesem Punkt - Herr Mahrenholz wird das mit Bedauern hören, Sie wollen immer Streit - mit Ihnen völlig einer Meinung. Je mehr Macht der Gemeinschaft zuwächst, desto stärker muß die Demokratisierung ausgestaltet sein. Auch hier ist mit Sicherheit eine Wechselwirkung zu verspüren dergestalt, daß diese ständigen Forderungen auch auf die Gemeinschaftsorgane, vor allem aber auf die Mitgliedsstaaten, die Verfassungsgeber dieser Gemeinschaft sind, einwirken und einwirken sollen. In dieser Hinsicht ist in jüngster Zeit mit der einheitlichen europäischen Akte auch ein Erfolg errungen worden. Die Parlamentarier in Straßburg werden diese Auffassung keineswegs teilen. Dies aber deswegen, weil sie aufgrund ihres Verfassungsvorschlags ganz hochgespannte Erwartungen hatten, denen die Mitgliedsstaaten - das kann man durchaus sagen in nur kläglicher Weise nachgekommen sind. Aber absolut gesehen war es ein ganz wesentlicher Fortschritt, daß jetzt das Parlament, wenn auch auf begrenzten Gebieten, ein echtes Mitentscheidungsrecht hat. Dementsprechend ist der Ausbau in Richtung auf weitere Demokratisierung notwendig, aber er ist auch im Gange. Damit wird eine Stärkung der Gemeinschaft verbunden: sowohl was die Kompetenzen anbelangt, die ihr neu zuwachsen, als auch, was die Art angeht, wie auf europäischer Ebene entschieden wird. Herr Kedzia, ich teile vollkommen Ihre Bedenken, daß eine solche immer mehr stabilisierte Gemeinschaft nach außen hin von nachteiliger Wirkung sein kann, wenn das geschieht, was manche für 1992 befürchten: nämlich die „Festung Europa". Ich kann Ihnen hier keine beruhigenden Angaben machen. Man weiß, daß eine solche Gefahr besteht Die Kommission vor allem weist immer wieder darauf hin, daß das nicht geschehen darf. Aber wenn Sie nur ein Gebiet herausgreifen, den Welthandel - die Gemeinschaft betont immer seine Freiheit Wenn es aber darum geht, irgendwelche Unternehmensbereiche, meinetwegen Textilunternehmen, in der Gemeinschaft zu schützen, dann werden den Entwicklungsstaaten Selbstverpflichtungsabkommen auferlegt, nicht so viel Textilien in die Gemeinschaft zu exportieren. Insofern ist die „Festung Europa" wirklich eine reale Gefahr, und es bleibt nur zu hoffen, daß nicht die pessimistischen Erwartungen Wirklichkeit werden. Das Defizit der Sozialgemeinschaft ist leider im Vertrag angelegt. Der Gerichtshof hat alles getan, was er in ganz bescheidenem Umfang dazu beitragen konnte, das zu ändern. Insbesondere den Ansatz „Gleichberechtigung von Mann und Frau" hat er in ganz erheblichem Maße ausgebaut: Er

Podiumsdiskussion

275

bedeutet zwar nicht nur gleiche Entlohnung, beschränkt sich jedoch auf das Berufsleben. Hier ist ein Recht entstanden, das in den Mitgliedsstaaten gilt und das bemerkenswerter Weise im deutschen Arbeitsrecht lange Jahre nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Art. 119 EWG-Vertrag und die Richtlinien haben Auswirkungen auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Arbeitsleben. Das Bundesarbeitsgericht hat seinerseits mühselig einen Gedanken der Gleichberechtigung entwickelt - ich weiß nicht auf welcher Grundlage - es hätte nur auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zurückzugreifen brauchen - Herr Gusy hat es ja erwähnt. Der Gerichtshof hat entschieden, daß Art. 119 EWG-Vertrag unmittelbar anwendbar ist und alle Arbeitgeber in der Gemeinschaft zu einer Gleichbehandlung bei der Entlohnung und bei den Arbeitsbedingungen verpflichtet Das Bundesarbeitsgericht hat davon überhaupt keine Kenntnis genommen, hat sich aber feiern lassen als Erfinder eines wie auch immer verankerten arbeitsrechtlichen Grundsatzes der Gleichbehandlung. Hier tritt eben ein, Herr Papadimitriou, was ich in meiner dritten Anmerkung zu Beginn des Podiumsgesprächs gesagt habe: Wir dürfen im Verfassungsleben die politische Seite nicht vergessen. Es wird eine politische Aufgabe sein, die Züge der Sozialgemeinschaft in Europa zu verstärken. Damit bin ich bei Ihrem Beitrag, Herr Toetemeyer. Ich möchte dazu sagen, daß mir dieser Beitrag als Schlußpunkt sehr willkommen ist. Denn es läßt sich aufzeigen, daß eben nicht nur die Gerichte der Mitgliedsstaaten, der Europäische Gerichtshof, die Verfassungslehre und die Klagen der Einzelnen, sondern auch und gerade der Gesetzgeber in der Gemeinschaft für diese Verfassungsentwicklung gesorgt hat, dazu beigetragen hat. Die einheitliche Europäische Akte habe ich erwähnt, auch wenn das Ergebnis, gemessen an großen Erwartungen, nicht bemerkenswert war. Aber das Parlament hat sich für eine Demokratisierung, für mehr parlamentarische Rechte eingesetzt. Die einheitliche Europäische Akte war die unvollkommene Antwort auf diese Verfassungsentwicklung. Ich möchte Ihnen jetzt am Schluß der Tagung noch einen persönlichen Eindruck wiedergeben: Es ist schon ungeheuer faszinierend, an dieser Verfassungsentwicklung mitarbeiten zu dürfen. Danke schön. Häberle: Eine kurze Bemerkung: In der letzten Diskussionsrunde haben wir uns wohl einer „Gretchenfrage" genähert. Sie lautet: Welchen Stellenwert hat die Verfassung im jeweiligen Selbstverständnis der einzelnen Nationen? Hier gibt es in den verschiedenen Verfassungsstaaten eine große Bandbreite von möglichen und wirklichen Antworten: Denken wir zunächst an Frankreich, das ganz von der „Nation", der Republik, von den Ideen von 1789 her denkt. Die USA identifizieren sich besonders mit ihrer Verfassung, die Schweiz wohl vor allem mit dem Föderalismus- und Demokratie-Prinzip 1

*

276

E. G. Mahrenholz

als Elementen der „Eidgenossenschaft". Wir Deutsche haben es schwer, bei uns sind die Dinge „gebrochen". Neuerdings ist das Wort vom „Verfassungspatriotismus" in Umlauf, es deutet auf die Verfassung, das Grundgesetz, das ja fast so etwas wie „Religionsersatz" geworden ist Wenn man dabei nicht nur an die hohe Grundrechtskultur, sondern auch an deren Elemente denkt, ist der Begriff „Verfassungspatriotismus" treffend. Sie kennen die große Tradition der Diskussion um die religion civile. Deutschland ist in der Tat, Herr Präsident Mahrenholz, wie nie zuvor auf ein Mindestmaß an Identifikationsmöglichkeiten mit seiner Verfassung angewiesen. Die volle Identifikationsmöglichkeit und -notwendigkeit hat es wohl erst dann erreicht - bei aller Geglücktheit des Grundgesetzes als Text und verfassungsstaatliche Wirklichkeit - , wenn wir Gesamtdeutschland in einem west- und osteuropäischen Kontext der Freiheit eingebunden haben. Csalótzky: Ich möchte jetzt nicht über fachliche Probleme sprechen. Ich möchte etwas Persönliches sagen, da wir bald am Ende der Tagung sind. Ich möchte mich in meinem eigenen Namen und im Namen der mit der Vorbereitung der neuen ungarischen Verfassung Befaßten herzlichst bedanken, daß ich die Möglichkeit gehabt habe, an diesen spannenden Diskussionen teilzunehmen. Ich denke, daß ich auch im Namen der anderen ausländischen Kollegen meine Anerkennung äußern kann für die sehr gute Organisation seitens der Fernuniversität und seitens aller Kollegen, die dazu beigetragen haben, daß wir uns hier wohl fühlen und daß wir zu guten Bedingungen diskutieren können. Ich hoffe, daß diese Zusammenarbeit auch nach der Konferenz weiter entwickelt wird und in Gestalt von Briefwechsel, Austausch von Materialien und zwei- und mehrseitigen Besprechungen noch weiter Nutzen bringen wird. Vielleicht darf ich noch etwas - vielleicht Phantastisches - sagen: Unsere Zusammenarbeit kann vielleicht in diesem Bereich, im Bereich der Verfassungspolitik, ein kleiner Anfang für ein gesamtes Europa, und nicht nur für ein gesamtes Europa, sondern auch vielleicht ein Anfang für eine gesamte Welt sein. Dieser kleine Beitrag, den wir als Verfassungspolitiker und Verfassungswissenschaftler dazu geleistet haben, wird vielleicht einmal ein guter Beitrag zu diesen Dingen sein. Also nochmals schönen Dank für alles. Mahrenholz: Vielen Dank, Herr Dr. Csalótzky. Sie haben in gewisser Weise für die Gäste insgesamt gesprochen. Bevor ich Magnifizenz Battis das Wort gebe, möchte ich mich nur hier vom Podium aus bedanken für das gute Reden und das gute Zuhören. Ich glaube, es war eine ganz bewegende und gute Diskussion. Ich möchte sie nicht zusammenfassen, weil bei einer Zusammenfassung, immer soviel verloren geht. Wir sind vielleicht alle ein bißchen anders in die Diskussion hineingegangen, als wir aus ihr herausge-

Podiumsdiskussion

277

hen werden. Das ist eigentlich doch das, was bei einer solchen Diskussion geleistet werden kann. Ich als Teilnehmer der Tagung muß sagen, ich habe mir nicht so viel von ihr versprochen, wie sie für mich gehalten hat und bin darüber sehr glücklich.

Schlußwort Von Ulrich Battis Nach so bewegenden Worten fällt es schwer, ein Schlußwort zu sprechen. Als erstes möchte ich sagen, daß der Begriff des Wirkungszusammenhangs, des internationalen Wirkungszusammenhangs der Verfassungen, und zwar der Verfassungstexte, daß diese Vorstellung getragen hat. Ich denke dabei an aktive und passive, an mittelbare und unmittelbare Rezeption und Assimilation. Das ist in dieser Tagung zweimal sehr grundsätzlich angegangen worden: Im Eingangsreferat vom Kollegen Tsatsos und dann in einer großen Tour d'horizon mit eindringlichen Vertiefungen auch von Herrn Kollegen Häberle, der weit mehr geboten hat als einen Länderbericht der Schweiz, der zu unserem Problem einen allgemeinen Teil in bisher so nicht da gewesener Weise geboten hat. Gehört haben wir aber auch ein Konzert der unterschiedlichen Modelle von Verfassungen und ihren Wirkungszusammenhängen. Das war vor allem der Fall, da bin ich Herrn Kollegen Schefold besonders dankbar, in einer großen, auch die historische Dimension voll aufnehmenden Darstellung der italienischen Rezeption oder besser des italienisch-deutschen Dialoges, der sich schwerpunktmäßig in der Lehre vollzogen hat. Wir haben sehr markant und deutlich den österreichischen Beitrag erlebt als weiteres, vielleicht Konkurrenzmodell, wenn man statt Konzert diesen Begriff verwenden will. Gleiches gilt sicher auch für die Schweiz. Was gefehlt hat auf den ersten Blick war Frankreich, aber, erstens war es so konzipiert und zweitens ist es sowohl im Beitrag von Herrn Zuleeg mittelbar als auch in dem von Herrn Gusy doch sehr deutlich geworden, was auch von hier gekommen ist und was sich ζ. T. auch nicht durchgesetzt hat. Ein Gewinn der Tagung ist auch, daß das Methodenproblem deutlich geworden ist: die Bedingungsfaktoren der Vermittlung. Insoweit haben wir zu danken Herrn Kollegen Papadimitriou, der dieses in seinem Griechenlandbeitrag schon sehr präzise herausgearbeitet hat, und Herrn Häberle. Besonders dankbar bin ich insoweit auch um die Ergänzung aus Ost-Asien vom Kollegen Morita, der uns auf unsere Gemeinsamkeiten, unsere kulturelle Identität in Europa aufmerksam gemacht hat und auf die Unterschiede zu Ost-Asien. Ich bin sehr wohl der Meinung, daß Verfassungstexte zur Identitätsstiftung eines Volkes gehören sollten, daß sie nicht immer dazu gehö-

280

Ulrich Battis

ren, ist wieder etwas anderes. Ich komme gerade aus den USA, und ich muß sagen, einer der bleibendsten Eindrücke für mich ist dort, daß die Eingangsformel der US-Verfassung „we the people", so präsent ist in der Bevölkerung wie das Vaterunser. Ich glaube, daß dieses für die Identitätsstiftung der amerikanischen Nation mit all ihren großen ethnischen Problemen und ihren auch gesellschaftlichen Klassenunterschieden von ganz großer Bedeutung ist. Ich meine auch, daß wir angesichts unserer gebrochenen, verständlicherweise gebrochenen Identität, hier einen Nachholbedarf haben. Nicht nur die Bibel sagt, am Anfang war das Wort, sondern der Fall Rushdie zeigt es uns doch eigentlich viel deutlicher, wie der Koran als Buchreligion von Texten lebt und welche Emotionen Texte freisetzen können. Deutlich geworden sind auch die Grenzen dieses Wirkungszusammenhanges, insbesondere die Grenzen der Übertragbarkeit. Das gilt einmal für die unterschiedlichen kulturellen Identitäten, Beispiel Korea und Japan. Aus Ungarn und Polen ist betont worden, welche Bedeutung die Ökonomie für die Realisierung und für die Identitätsfindung eines Volkes und damit auch für die Gestaltung und Ausgestaltung einer Verfassung hat Die Wege der Vermittlung sind in allen Referaten dargestellt worden. Bei der Verfassunggebung besonders deutlich in Spanien, in Griechenland, in der Türkei und in Korea; in Japan in ganz anderer Weise als wir erwartet hatten, nämlich zu Beginn dieses Jahrhunderts bzw. vor hundert Jahren und dann weltumfassend bei Häberle. Sicherlich das Bewegendste an dieser Tagung, für die meisten von uns, waren die Berichte über die atemberaubenden Dinge, die in Ungarn und Polen zur Zeit stattfinden und den Einfluß, den unverdientermaßen auch die deutsche Verfassung und die deutsche Verfassungslehre dabei spielen. Eine wichtige Erkenntnis, sowohl der Referate aus Japan, aus Italien, aus Spanien, Österreich, Schweiz, Polen und Korea ist der spezifische Einfluß der Verfassungslehre. Denken wir nur an den Begriff der „Drittwirkung", der, wie der Begriff „Kindergarten", weltweit exportiert worden ist. Festzuhalten sei, daß die Grundrechte bei der Verfassunggebung der hier vorgetragenen jungen Verfassungen eine große Rolle gespielt haben, vor allem dank „Solange I" auch beim EuGH in Luxemburg. Ohne „Solange I" hätte der EuGH die Grundrechte nicht so „implantiert". Es ist für die Veranstalter eine große Befriedigung, daß auch ein Mitglied des Gerichtshofes dieses jetzt heute hier so dargestellt hat. Bemerkenswert ist auch die „Karriere" des Bundesstaatsprinzips. Ich glaube, der derzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat einmal gesagt, dies sei der wichtigste verfassungsrechtliche Exportartikel, den wir hätten. Nun, das ist vielleicht ein bißchen relativiert worden. Unverändert

Schlußwort

281

exportieren können wir das Bundesstaatsprinzip nicht, sondern es wird als Modell hingestellt. In Zypern haben wir es erlebt, in Spanien haben wir es erlebt, in Italien haben wir es erlebt, aber es wird nicht übernommen, sondern es wird zur Diskussion gestellt und es gibt Impulse, aber sicherlich mit ganz deutlichen Modifikationen, abgesehen vielleicht von Belgien. Für mich persönlich, wenn ich das sagen darf, die größte Überraschung war, daß der Rechtsstaat als ein genuin dem deutschsprachigen Raum verhafteter Begriff sowohl bei der EG, in der Türkei, in Spanien und Korea, bei doch ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, eine ausgesprochene Renaissance erfährt, von Ungarn und Polen ganz zu schweigen. Deutlich geworden ist, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit eine große Familie ist mit vielen Geschwistern. Sie sind nicht alle gleich, die vertragen sich auch wahrscheinlich nicht immer, aber unzweifelhaft ist, daß ein starker Wirkungszusammenhang über die Verfassungsgerichtsbarkeit vermittelt wird. Man könnte uns vorwerfen, daß der US-amerikanische Einfluß nicht thematisiert worden ist. Wir hier, die Bundesrepublik, sind davon am meisten beeinflußt worden und auch von Korea und Japan haben wir das sehr deutlich gehört. Nun, wir haben gemeint, alle zwei Jahre erscheint ein Buch über den Einfluß des Supreme Courts auf diesem Gebiet oder auf jenem Gebiet. Das alles ist relativ gut aufgearbeitet. Außerdem ist es eine Einbahnstraße. Aber in der Fragestellung, wie sie gerade die beiden Kollegen aus Ost-Asien aufgeworfen haben und wie wir sie auch hier diskutiert haben - ich meine das Bild vom US-amerikanischen Rahmen, in dem die jeweils nationalen Gedanken in ihrem spezifischen Wirkungszusammenhang sich entfalten das ist ein Ansatzpunkt, den wir vielleicht künftig einmal aufgreifen sollten.

Autoren und Diskussionsteilnehmer Prof. Dr. A. Ülkü Azrak, Istanbul Prof. Dr. Ulrich Battis , Hagen Prof. Dr. Pedro Cruz Villalón, Sevilla Dr. György Csalótzsky, Budapest Prof. Dr. Bernd-Christian Funk, Graz Prof. Dr. Christoph Gusy, Mainz Prof. Dr. Peter Häberle, Bayreuth/St. Gallen Prof. Dr. Zdzislaw Kedzia, Poznaù Prof. Dr. Hyo-Jeon Kim, Bus an Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz, Karlsruhe Prof. Akira Morita, Tokio Prof. Dr. Georgios Papadimitriou,

Athen

Prof. Dr. Thilo Ramm, Hagen Dr. Paolo Ridola, Rom Prof. Dr. Dian Schefold, Bremen Prof. Dr. Marcello de Sousa, Lissabon Prof. Dr. Dimitris Tsatsos, Hagen/Athen Dr. Christodoulos Yallourides,

Zypern

Prof. Dr. Manfred Zuleeg, Luxemburg