Grundsätze im methodischen Umgang mit der Dynamik des Europäischen Prozessualen Sekundärrechts: Untersucht am Beispiel des Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO [1 ed.] 9783428581948, 9783428181940

Durch die fortschreitende wirtschaftliche und politische Integration der Mitgliedstaaten befindet sich die Rechtsordnung

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German Pages 208 [209] Year 2021

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Grundsätze im methodischen Umgang mit der Dynamik des Europäischen Prozessualen Sekundärrechts: Untersucht am Beispiel des Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO [1 ed.]
 9783428581948, 9783428181940

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Schriften zum Prozessrecht Band 275

Grundsätze im methodischen Umgang mit der Dynamik des Europäischen Prozessualen Sekundärrechts Untersucht am Beispiel des Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i.V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO

Von Christian Philipp Kalusa

Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTIAN PHILIPP KALUSA

Grundsätze im methodischen Umgang mit der Dynamik des Europäischen Prozessualen Sekundärrechts

Schriften zum Prozessrecht Band 275

Grundsätze im methodischen Umgang mit der Dynamik des Europäischen Prozessualen Sekundärrechts Untersucht am Beispiel des Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO

Von Christian Philipp Kalusa

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-18194-0 (Print) ISBN 978-3-428-58194-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Murmel

Vorwort Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 2020 als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung konnten Literatur und Rechtsprechung bis Februar 2020 berücksichtigt werden. Mein ganz besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Roth, für das Entfachen meiner Leidenschaft für die Rechtswissenschaften, für die hervorragende Betreuung meiner Dissertation und für das ausführliche Erstgutachten trotz Pandemie und sonstiger Unwägbarkeiten des Jahres 2020. Besonderer Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Christoph Althammer für die besonders zügige Verfassung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich zudem allen, die mich während der Zeit meiner Promotion unterstützt haben. Besonderer Dank gebührt dabei Frau Dr. Sophie Sitter, LL.M. (UC Berkeley) für ihre große Unterstützung und vor allem ihre Unnachgiebigkeit. Die Vollendung dieser Arbeit wäre ohne Dich nicht möglich gewesen. Zuletzt möchte ich meiner Familie danken, die mich stets und bedingungslos unterstützt. München, im Februar 2021

Christian Kalusa

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einführung in das Thema

15

§ 1 Eigenständigkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 § 2 Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 § 3 Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 I. Die internationale Zuständigkeit für Direktklagen des Geschädigten nach der EuGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Sachverhalt der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Ergebnis: Eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Entwicklung des heute herrschenden Auslegungsergebnisses . . . . . . . . . . . . . 20 a) Internationale Zuständigkeit für Versicherungssachen nach Art. 11 ff. EuGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 b) Bislang herrschende Meinung und Entscheidung des Amtsgerichts Aachen 21 c) Wandel des Auslegungsergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 d) Methodische Besonderheiten bei der Begründung des Ergebnisses . . . . . . 23 § 4 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Teil 2 Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

28

§ 1 Dynamik als Grundprinzip der Europäischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 § 2 Dynamische Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Der Vertrag von Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Der Beschluss von Tampere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Nachfolgende Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 § 3 Exkurs: Der „Spillover-Effekt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

10

Inhaltsverzeichnis

§ 4 Innere Ordnung des Europäischen Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I. Relationsnormen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Die lex superior-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Die lex posterior-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Die lex specialis-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4. Verhältnis der Relationsnormen untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Systemischer Zusammenhang der Unionsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Vertikale Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Horizontale Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Verhältnis von neu geschaffenem zu bestehendem Unionsrecht . . . . . . . . . 46 b) Verhältnis von bestehendem zu neu geschaffenem Unionsrecht . . . . . . . . . 47 § 5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Teil 3 Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

52

§ 1 Einführung in die Methodik des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. „Methode“, „Methodenlehre“ und „Methodik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. „Anwendung“ und „Auslegung“ des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Grundlagen der Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Notwendigkeit eines methodischen Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 a) Notwendigkeit einer Methodik im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 b) Notwendigkeit einer Methodik im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Funktionen der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Allgemeine Funktionen der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Besondere Funktion der Methodik im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 aa) Einheitliche Rechtsanwendung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 bb) Einheitliche Rechtsanwendung durch die Methodik des Unionsrechts 60 II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 § 2 Die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 62 I. Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Vertikale Bindungswirkung von EuGH Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Horizontale Bindungswirkung von EuGH Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 66 II. Bindungsgehalt der Entscheidungen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

Inhaltsverzeichnis

11

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I. Die autonome Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Subjektive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Objektive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Vereinigungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen der Vereinigungslehre 81 III. Modifizierter Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 a) Besonderheiten der grammatischen Auslegung auf Unionsebene . . . . . . . . 83 aa) Mehrsprachenauthentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 bb) Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Besonderheiten auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Besonderheiten auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Besonderheiten auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 aa) Motor der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 bb) Effet Utile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Subjektiv-teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Objektiv-teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5. Rechtsvergleichende Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Teil 4 Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

102

§ 1 Zeitliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Entwicklung des Gerichtsstands des Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Entwicklungen im systematischen Umfeld von Art. 11 Abs. 2 EuGVO . . . . . 102 2. Bipolarität des Gerichtsstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Vom EuGVÜ zur EuGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Zeitstrahl der Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

12

Inhaltsverzeichnis

§ 2 Verkehrsopferschutz und Zuständigkeiten der angerufenen Gerichte . . . . . . . . . 107 I. Das System des europäischen Verkehrsopferschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Die außergerichtliche Schadensregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Die Direktklage gegen den Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 II. Zuständigkeiten für Versicherungssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Die Art. 10 ff. EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Ein Abschnitt basierend auf sozialpolitischen Erwägungen . . . . . . . . . . . . 115 b) Der systemfremde Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.)

116

c) Rechtsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 aa) Schutz der Vertragspartei des Versicherers in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Schutz des Geschädigten in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . 119 cc) Gegenüberstellung des Schutzes in der deutschen und europäischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Exkurs: Die Rom II-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 § 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I. Die sich gegenüberstehenden Auslegungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Ehemals herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Heute herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Mindermeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II. Der gemeinsame Ausgangspunkt im EuGVÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Der Bericht von P. Jenard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Mindermeinung zur Zeit des EuGVÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3. Verhältnis von EuGVÜ zu EuGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 III. Argumentation der sich gegenüberstehenden Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Die Mindermeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Die ehemals herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Die heute herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Grammatische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 e) Erwägungsgrund 16a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhaltsverzeichnis

13

4. Bewertung des Meinungsstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV. Probleme und Vorteile der sich gegenüberstehenden Meinungen . . . . . . . . . . . . 159 1. Die ehemals herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Die heute herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 V. Die Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Der Instanzenzug in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen . . . . . . . . . 162 a) Erste Instanz: AG Aachen vom 27.04.2005 (Az.: 8 C 545/04) . . . . . . . . . . 162 b) Zweite Instanz: OLG Köln, 12.09.2005 (Az.: 16 U 36/05) . . . . . . . . . . . . . 162 aa) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 bb) Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 cc) Reaktionen der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (1) LG Hamburg, 28.04.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (2) OLG Wien, 28.07.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (3) OLG Brandenburg, 13.09.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Dritte Instanz: BGH, 26.09.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (1) Darstellung der ehemals herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . 170 (2) Erkenntnisweg des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. Entscheidung des EuGH, 13.12.2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Argumentation in den eingereichten Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Begründung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. Bewertung der dargestellten Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Teil 5 Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts

182

§ 1 Ein Recht im Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 § 2 Abgrenzung von der dynamischen Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 § 3 Methodischer Umgang mit der Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Probleme der dynamischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Kriterien einer dynamischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 a) Auslegungskorridor des historischen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

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Inhaltsverzeichnis b) Der Einfluss des aktuelleren Willen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Teil 1

Einführung in das Thema § 1 Eigenständigkeit des Unionsrechts Der Europäische Gerichtshof1 brachte in der Entscheidung van Gend & Loos2 am 5. Februar 1963 erstmals zum Ausdruck, dass die Europäische Gemeinschaft „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt“3 und damit mehr ist, als nur ein Abkommen mit wechselseitigen Verpflichtungen zwischen den Vertragsstaaten.4

1 Nach der Reform durch den Vertrag von Lissabon umfasst die Gerichtsbarkeit der Europäischen Union den Gerichtshof (EuGH), das Gericht (EuG) und die Fachgerichte, die nach Art. 19. Abs. 1 S. 1 EUV zusammen den Gerichtshof der Europäischen Union bilden. Im Dienste der Lesbarkeit dieser Arbeit wird zusammenfassend vom „EuGH“ gesprochen und nur zwischen dem Gerichtshof und dem Gericht differenziert, wenn dies aus sachlichen Gründen sinnvoll erscheint bzw. notwendig ist; ausführlich zur Änderung des Rechtsschutzsystems der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon: Kotzur, Neuerungen auf dem Gebiet des Rechtsschutzes durch den Vertrag von Lissabon, in J. Schwarze (Hrsg.), Europarecht (EuR), Beiheft 1/2012, S. 7 ff. 2 EuGH vom 05.02.1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen), Slg. 1963, 1. 3 EuGH vom 05.02.1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen), Slg. 1963, 1, 25; wörtlich heißt es dort: „Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt“. Vgl. hierzu auch Schröder, JuS 2004, 180 (181); W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), S. 787 (797); Flessner, JZ 2002, 14 (14, 16); EuGH vom 15.07.1964, Rs. 6/ 64 (Costa ./. ENEL), Slg. 1964, 1251 (1269); EuGH vom 13.12.1968, Rs. 14/68 (Wilhelm ./. Bundeskartellamt), Slg. 1969, 1 (14); EuGH vom 17.12.1970, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, 1125 (1135); a. A.: Schilling, Harvard International Law Journal, Volume 37, 1996, 389 (395 ff.), der die Auffassung vertritt, es handele sich um eine Rechtsschöpfung des EuGH, der aber auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht gefolgt wird. 4 Flessner, JZ 2002, 14 (16); Roder, Die Methodik des EuGH im Urheberrecht, 2016, S. 93 f.

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Teil 1: Einführung in das Thema

Diese für die Entwicklung der Europäischen Union wohl wichtigste Leitentscheidung des EuGH5 ist für den Rechtsanwender auch noch nach über fünfzig Jahren von zentraler Bedeutung.6 Denn die darin vom EuGH attestierte Eigenständigkeit des Unionsrechts muss bei dessen Anwendung und Auslegung entsprechend berücksichtigt werden.7 Ein Rückgriff auf die Methoden zur Anwendung und Auslegung des Rechts der Mitgliedstaaten ist aufgrund der zahlreichen Besonderheiten der Unionsrechtsordnung nur sehr eingeschränkt möglich.8 Es bedarf daher nach der heute ganz überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung einer eigenen Methodik zur Anwendung und Auslegung des Unionsrechts.9 Trotz des „BREXIT“ ist die fortschreitende wirtschaftliche und politische Integration der Mitgliedstaaten weiterhin vorderstes Ziel der Europäischen Union. Nebeneffekt dieses Fortschritts ist die „Evolution“ des europäischen Sekundärrechts,10 zu der es sowohl durch den Erlass von neuem als auch durch die Änderungen und Neufassungen des bereits bestehenden Sekundärrechts kommt. Von außen betrachtet führt dies dazu, dass sich die Unionrechtsordnung ständig weiter ausdehnt und 5 So auch Pernice, EuZW 2013, 441 (441); ausführlich zur Bedeutung der Entscheidung: Mayer, Van Gend en Loos: The Foundation of a Community Law, in: Maduro/Azoulai (Hrsg.), The Past and Future of EU Law, 2010, S. 16 (19 ff.). 6 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, Einführung mit Synopse, 3. Auflage 2010, S. 91. 7 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, Einführung mit Synopse, 3. Auflage 2010, S. 91. 8 Flessner, JZ 2002, 14 (14, 16). 9 Vgl. etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 1 ff.; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 68 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, S. 1 ff.; Langenbucher, Europäische Methodenlehre, in: dies./Engert (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 4. Auflage 2017, § 1; Bleckmann, NJW 1982, 1177 ff.; Ophüls, in: FS für Müller-Amrack, 1961, S. 279 ff.; Schröder, JuS 2004, 4 ff. und 180 ff.; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009; Flessner, JZ 2002, 14 ff.; Gisewski, Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht, 2008; Everling, RabelsZ 50 (1986), S. 193; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof – Zugleich eine rechtsvergleichende Studie zur Auslegung im Völkerrecht und im Gemeinschaftsrecht, 1997; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013. 10 Definition „Sekundärrecht“ von Bergmann, in: ders./Mickel (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 5. Auflage 2015: „Zum sekundären Unionsrecht, dem ,Gesetzesrecht der EU‘, gehören alle von den Unionsorganen erlassenen Rechtsakte, deren Rechtsquellen in den Verträgen (dem Primärecht) zu finden sind, insb. Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse (vgl. Art. 288 AEUV). Auch Rechtsakte, die aufgrund einer Ermächtigung durch einen anderen Rechtsakt, den sog. Basisrechtsakt, erlassen worden sind, zählen juristisch zum Sekundärrecht, werden aber gerne auch ,Tertiärrecht‘ genannt. Über dem Sekundärrecht steht das Primärrecht, als ,Verfassungsrecht der EU‘“. Allgemein zum Europäischen Sekundärrecht: Oppermann/ Classen/Nettensheim, Europarecht, 7. Auflage 2016, § 9 Rn. 64 ff.

§ 2 Problemaufriss

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laufend neue Rechtsgebiete europäisiert werden.11 Innerhalb des Unionsrechts führt die Evolution insbesondere dazu, dass sich das systematische Umfeld des bereits bestehenden Sekundärrechts in einem stetigen Wandel befindet.

§ 2 Problemaufriss Bei der Entwicklung einer eigenen Methodik zur Anwendung und Auslegung des Unionsrechts stellt sich das in der Literatur und Rechtsprechung diskutierte Problem,12 wie mit diesem Wandel im systematischen Umfeld des bestehenden Sekundärrechts bei dessen Anwendung und Auslegung methodisch umzugehen ist. Kern der Diskussion ist dabei die grundsätzliche Frage, ob das im Rahmen der fortschreitenden Evolution des Sekundärrechts neu erlassene oder abgeänderte Recht auch bei Anwendung und Auslegung des bereits bestehenden, unverändert gebliebenen Sekundärrechts zu beachten ist.13 Würde man diese Frage bejahen, müsste beispielsweise eine Verordnung, die im Jahr 2000 erlassen wurde, unter Beachtung eines nachfolgenden, etwa im Jahr 2005 in ihrem systematischen Umfeld erlassenen Rechtsakts ausgelegt werden.14 Für ein solches Auslegungs- und Anwendungsverständnis des Unionsrechts spricht, dass der mit der Anwendung und Auslegung des Europäischen Rechts betraute EuGH in der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung15 davon ausgeht, dass „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“16

ist. Ziel dieser Arbeit ist es, den Einfluss des „jüngeren“ auf das „ältere“ Sekundärrecht zu analysieren und die methodischen Grundsätze im Umgang mit der Dynamik des Unionsrechts zu untersuchen. Neben möglichen Lösungswegen sollen auch die Probleme und Schwächen der vorstehend zitierten Formel des EuGH 11

Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 23. So zum Beispiel bei Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 78; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 46; Bleckmann, EuR 1979, 239 (256 f.); Leisner, EuR 2007, 689 (694); vgl. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 383. 13 Joussen, Die Auslegung des europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 66 f. 14 Näheres zu diesem Beispiel sogleich in Teil 1 § 3. 15 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415. 16 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, Rn. 20. 12

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Teil 1: Einführung in das Thema

aufgezeigt und damit ein Beitrag zur einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts geleistet werden.

§ 3 Gang der Untersuchung Die nachstehende Untersuchung erfolgt unter Zuhilfenahme eines konkreten Beispiels: dem eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO17 (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.18). Nach Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ist Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.) auf eine Klage, die ein Geschädigter unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist. Unklar und daher umstritten ist, ob der Verweis von Art. 13 EuGVO (Art. 11 EuGVO a. F.) auf Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.) dem Geschädigten das Recht einräumt, am eigenen Wohnsitz gegen den Versicherer zu klagen. Entsprechend dem vorstehend zitierten Auszug aus der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH19 hat sich das von der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung vertretene Auslegungsergebnis des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) – trotz seines unverändert gebliebenen Wortlauts – gestützt auf Entwicklungen des Sekundärrechts im systematischen Umfeld der auszulegenden Vorschriften, von einer Rechtsgrundverweisung zu einer Rechtsfolgenverweisung gewandelt. Die Analyse der in diesem Zusammenhang ergangenen Rechtsprechung, veröffentlichten Aufsätze, Kommentarstellen und Monographien eignet sich daher besonders, um an diesem Beispiel den methodischen Umgang mit der Evolution des Europäischen Sekundärrechts in Literatur, Rechtsprechung und Praxis zu untersuchen und die bereits existenten Lösungsansätze zu analysieren, um hieraus abstrakte Anwendungsregeln zu entwickeln.

17 Verordnung (EG) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU 2012 L 351/1. 18 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 L 12/1. 19 Siehe oben Teil 1 § 2.

§ 3 Gang der Untersuchung

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I. Die internationale Zuständigkeit für Direktklagen des Geschädigten nach der EuGVO Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen vom 13. Dezember 2007,20 mit der die Entwicklung des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ihren vorläufigen Abschluss fand.21 1. Sachverhalt der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen Der Entscheidung liegt ein Verkehrsunfall zugrunde, der sich am 28. Dezember 2003 in den Niederlanden auf der A76 zwischen Maastricht und Aachen ereignete. Unfall- und Schadensverursacher war ein in den Niederlanden wohnhafter Fahrzeugführer, der das Fahrzeug des in Deutschland wohnhaften Unfallgegners beschädigte.22 Zur Regulierung seines Schadens erhob der Unfallgegner in seiner Eigenschaft als Geschädigter gestützt auf Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) an seinem Wohnsitzgericht,23 dem Amtsgericht Aachen, unmittelbar Klage gegen den niederländischen Haftpflichtversicherer des Schadensverursachers, die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung FBTO Schadeverzekeringen NV.24 2. Ergebnis: Eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten Dem angerufenen Amtsgericht stellte sich im Rahmen seiner Zuständigkeitsprüfung die Frage, ob dem Geschädigten von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) die Möglichkeit eröffnet wird, am eigenen Wohnsitz gegen die Versicherung zu klagen. Das Amtsgericht verneinte diese Frage; nach insgesamt drei Instanzen und einer Vorabentscheidung durch den EuGH war jedoch rechtsverbindlich geklärt, dass die Gerichte am eigenen Wohnsitz des Geschädigten für Direktklagen gegen den 20

EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, NJW 2008, 819. 21 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 31; Wittmann, r+s 2011, 145 (145), spricht von einem „weichenstellenden Urteil“; vgl. auch H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (873); Riedmeyer, in: FS für Müller, 2009, S. 473 (473); Lemor/Becker, DAR 2004, 677 (684). 22 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2006 – Az. 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1721). 23 Vgl. Art. 62 EuGVO (Art. 59 Abs. 1 EuGVO a. F.). 24 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321 (I-11328).

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Teil 1: Einführung in das Thema

Haftpflichtversicherer international zuständig sind. Dieses Ergebnis entspricht der heute in der Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung. 3. Entwicklung des heute herrschenden Auslegungsergebnisses Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten wurde von der bis zum Zeitpunkt der EuGH-Entscheidung herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung abgelehnt, die Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) als Rechtsgrundverweis ausgelegt hatten: a) Internationale Zuständigkeit für Versicherungssachen nach Art. 11 ff. EuGVO Ausgangspunkt zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit für Direktklagen bilden Art. 13 EuGVO (Art. 11 a. F.) und Art. 11 EuGVO (Art. 9 a. F.); beide Vorschriften sind Teil des Dritten Abschnitts der EuGVO, einem geschlossenen System, in dem die Zuständigkeiten für Versicherungssachen selbstständig und erschöpfend geregelt sind.25 Zentrale Regelung des Abschnitts ist Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.), der in Absatz 1 lit. a bis c für Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten und des Begünstigten gegen einen Versicherer mit Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats,26 verschiedene Gerichtsstände zur Wahl stellt.27 Dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten und dem Begünstigten wird dabei in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ein eigener Klägergerichtsstand eingeräumt, der es den genannten Personengruppen, die gegenüber dem Versicherer Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag geltend machen können, ermöglicht, jeweils an ihrem eigenen Wohnsitz gegen den Versicherer zu klagen. Für den Fall, dass ein Geschädigter, der keine vertraglichen Ansprüche gegen den Versicherer hat, wie in der vorstehend geschilderten Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen, über eine sogenannte action directe28 unmittelbar Klage gegen den Haftpflichtversicherer des Schadensverursachers erhebt, ist nach Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) unter anderem Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.) „anzuwenden“. Einzige Voraussetzung der besonderen Zuständigkeit nach 25 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Vor Art. 8 EuGVO Rn. 1. Zum Begriff „Versicherungssachen“ siehe ebenfalls Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Vor Art. 8 EuGVO Rn. 5: „Im Lichte des Schutzzwecks des 3. Abschnitts ist der Begriff weit auszulegen, so dass alle Arten von Verträgen erfasst werden, die aufgrund der aktuellen Gepflogenheiten regelmäßig von Versicherern als ,Versicherungsverträge‘ angeboten werden.“ 26 Der Wohnsitz von Gesellschaften und juristische Personen wird nach Art. 62 EuGVO (Art. 60 a. F.) bestimmt, siehe hierzu Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 62 Brüssel Ia-VO Rn. 1 ff. 27 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 9 EuGVO Rn. 1; Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 8 Brüssel Ia-VO Rn. 1. 28 Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 A. 1 Rn. 15.

§ 3 Gang der Untersuchung

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Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ist nach dessen 2. HS, dass die nach dem internationalen Privatrecht der lex fori maßgebliche lex causae eine Direktklage gegen den Versicherer vorsieht.29 Das in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen anwendbare niederländische Recht sieht eine solche Möglichkeit in Art. 7 Nr. 2 Gesetz über die Kfz-Haftpflichtversicherung vom 30. Mai 1963 (Wet aansprakelijkheidsverzekering motorrijtuigen) vor,30 so dass es im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung im Schwerpunkt um die Frage ging, wie Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgrund der Verweisung in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) „anzuwenden“ ist.31 b) Bislang herrschende Meinung und Entscheidung des Amtsgerichts Aachen Einleitend verkürzt dargestellt und zunächst eine Mindermeinung außer Acht lassend, deren Vertreter den „Geschädigten“ im Sinne des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) mit dem „Begünstigten“ im Sinne des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gleichsetzen wollen,32 sind ausgehend vom Wortlaut der auszulegenden Vorschriften drei Auslegungsergebnisse vertretbar: Auslegungsergebnis 1: Zunächst könnte es sich bei Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) um einen Rechtsgrundverweis handeln. In diesem Fall würde dem Geschädigten nach Maßgabe des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) die Möglichkeit eröffnet, den Versicherer am Wohnsitz des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten zu verklagen.33

29 Siehe hierzu Heiss, in: Magnus/Mankowski, Brussels I Regulation, 2nd Edition 2011, Art. 11 Rn. 5; Mayr, in: unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 11 Rn. 5. 30 Das Amtsgericht Aachen ermittelte das anzuwendende Recht noch nach Art. 40 Abs. 4 EGBGB a. F.; der Anspruch war danach zulässig, wenn entweder das Delikts- oder Versicherungsstatut ihn vorsah; vgl. hierzu auch Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 8. Seit dem 11. Januar 2009 genießt die Rom-II-VO hier Anwendungsvorrang. Nach Art. 18 Rom-II-VO ist für die Direktklage ebenso das Delikts- oder Versicherungsstatut maßgeblich, sodass auch zum heutigen Zeitpunkt niederländisches Recht anzuwenden wäre. 31 So auch Herrmann, VersR 2007, 1470 (1470). 32 So etwa die polnische Regierung in ihrer Stellungnahme zur Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen, EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 17. 33 Diese Auffassung vertraten u. a. Heiss, VersR 2007, 327 (328); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (287 f.); Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 Rn. 16; Kropholler, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 7. Auflage 2002, Art. 11 Rn. 4.

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Teil 1: Einführung in das Thema

Auslegungsergebnis 2: Auch ein Rechtsfolgenverweis könnte in Betracht kommen, so dass neben dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten und dem Begünstigten auch dem Geschädigten über Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ein eigener Wohnsitzgerichtsstand eröffnet werden würde.34 Auslegungsergebnis 3: Neben diesen beiden Alternativen erscheint zudem eine Mischform aus Rechtsfolgen- und Rechtsgrundverweis vertretbar. Danach wäre es dem Geschädigten nicht nur gestattet am Wohnsitz der drei in Art. 11 Abs. 1 lit b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personengruppen zu klagen, sondern zusätzlich auch am eigenen Wohnsitz.35 Im Zeitpunkt, zu dem das Amtsgericht Aachen zu entscheiden hatte, ob der Geschädigte an seinem eigenen Wohnsitz Direktklage gegen den gegnerischen Haftpflichtversicherer erheben kann, war die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) in der deutschen Literatur und Rechtsprechung bereits Gegenstand eines intensiv geführten Meinungsstreits.36 Die Vertreter der damals herrschenden Meinung gingen davon aus, dass Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) als Rechtsgrundverweis auszulegen ist,37 der Geschädigte also am Sitz der Versicherung (lit. a) oder am Wohnsitz des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten (lit. b) gegen die Versicherung klagen muss. Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten wurde hingegen von der überwiegenden Zahl der Stimmen abgelehnt.38 Diesem Ergebnis schloss sich das Amtsgericht Aachen an.39 Es wies daher die Klage des Geschädigten in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen mit Urteil vom 27. April 2005 wegen fehlender internationaler Zuständigkeit deutscher Gerichte ab.40

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So bspw. Rothley, DAR 2006, 575 (577). In diesem Sinne H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (870 ff.). 36 Darstellung des Meinungsstreits bei Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6 ff. 37 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 11 Brüssel Ia-VO Rn. 6 ff. 38 So zum Beispiel: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 EuGVO Rn. 16; Kropholler, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 8. Auflage 2005, Art. 11 EuGVVO Rn. 4; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2. Auflage 2003, Art. 11 EuGVVO Rn. 2; Lemor, NJW 2002, 3666 (3668); Fuchs, IPRax 2001, 425 (426); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (285 ff.). 39 Entscheidungsergebnis wiedergegeben in OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, juris-Rn. 10. 40 Entscheidungsergebnis wiedergegeben in OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, juris-Rn. 10. 35

§ 3 Gang der Untersuchung

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c) Wandel des Auslegungsergebnisses Auf die Berufung des Geschädigten hin stieß das Oberlandesgericht Köln mit seinem Zwischenurteil vom 12. September 2005 einen Richtungswechsel im Meinungsstreit an:41 Entgegen der bisher herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung ging das Oberlandesgericht Köln davon aus, dass Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO n. F.) einen Rechtsfolgenverweis enthalte und der Geschädigte eine Direktklage gegen den Versicherer am eigenen Wohnsitzgericht erheben könne.42 Der Bundesgerichtshof setzte das hiergegen von der niederländischen Haftpflichtversicherung angestrengte Revisionsverfahren aufgrund der oben dargestellten Meinungsverschiedenheiten aus und legte die Frage zur Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.43 Beide Gerichte, sowohl der Bundesgerichtshof als auch der EuGH schlossen sich im Ergebnis dem Urteil des Oberlandesgerichts Köln an.44 Damit war verbindlich geklärt, dass Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) einen Rechtsfolgenverweis enthält. Dieses Ergebnis wurde von der Literatur überwiegend angenommen und nicht mehr in Frage gestellt; ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) wurde fortan von der überwiegenden Zahl der Stimmen in Literatur und Rechtsprechung bejaht.45 d) Methodische Besonderheiten bei der Begründung des Ergebnisses Die Besonderheit der dargestellten Entwicklung zu einem eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) und Grund für die Eignung einer beispielhaften Analyse für die nachfolgende Arbeit ist, dass zur Begründung des „neuen“ Auslegungsergebnisses auch die Entwicklungen innerhalb des europäischen Sekundärrechts herangezogen wurden, zu denen es erst nach Erlass der auszulegenden Vorschriften gekommen ist.46 41 42 43

71.

OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, juris-Rn. 11 ff. OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, juris-Rn. 11 ff. BGH, Beschl. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, BeckRS 2006, 13550, Rn. 4 = NJW 2007,

44 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 31; BGH, Urt. v. 06.05.2008 – VI ZR 200/05, NJW 2008, 2343 (2344), Rn. 4 ff.; bestätigt in BGH, NJW 2015, 2429. 45 So auch Mayr, in: unalex Kommentar Brüssel I-VO, Art. 11 Rn. 5. 46 Vgl. EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg 2007, I-11321, Rn. 29; BGH, Urt. v. 06.05.2008 – VI ZR 200/05, Rn. 5 ff.; OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, juris-Rn. 11 ff.; vergleichbare Erwägungen finden sich auch in anderen obergerichtlichen Entscheidungen, so etwa in OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006

24

Teil 1: Einführung in das Thema

Das Oberlandesgericht Köln ging beispielsweise davon aus, dass das heute herrschende Auslegungsergebnis dem ausdrücklichen Willen des Verordnungsgebers entspreche, der in der vier Jahre nach der EuGVO erlassenen Richtlinie 2005/14/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 200547 zum Ausdruck kommt.48 Durch diese 5. KH-Richtlinie wurde unter anderem die Richtlinie 2000/26/ EG vom 16. Mai 200049 geändert und um folgenden Erwägungsgrund ergänzt: „(16a) Nach Artikel 11 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen kann der Geschädigte den Haftpflichtversicherer in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, verklagen.“

Die vermeintliche Eindeutigkeit des Wortlauts des Erwägungsgrunds 16a der 4. KH-Richtlinie soll nicht über die bemerkenswerte Tatsache hinwegtäuschen, dass das OLG Köln sein Urteil und damit die Auslegung von Vorschriften einer im Jahr 2000 erlassenen Verordnung, auf den Willen des Unionsgesetzgebers aus dem Jahr 2005 stützt.50 Obwohl sich die Urteilsbegründungen im Einzelnen deutlich unterscheiden, kommen sowohl der Bundesgerichtshof in der Begründung zum Vorlagebeschluss51 als auch der EuGH52 zum gleichen Ergebnis. Beide Gerichte ziehen den Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie als argumentative Stütze für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) heran. Zwar handelt es sich bei dem Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie letztlich um ein rechtliches Unikum, da sich ein vergleichbarer „nachträglicher“ Erwägungsgrund zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit im Europäischen Sekundärrecht nicht finden lässt. Es stellt sich trotzdem die für diese Arbeit entscheidende Frage, ob hinter dem Erwägungsgrund auf der einen und dem damit verbundenen Begründungsweg der heute herrschenden Meinung auf der anderen Seite eine generell zu beachtende Besonderheit bei der Auslegung des Europäischen Sekundärrechts im Sinne der vorstehend zitierten C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des Az. 15 R 117/06, DAR 2007, 215 (215); OLG Brandenburg, Urt. v. 13.09.2006 Az. 12 W 35/06, NJW-RR 2007, 216 (216). 47 Richtlinie 2005/14/EG vom 11.05.2006 (Fünfte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie), ABl. EG vom 11.06.2005, L 149/14, in der nachfolgenden Arbeit als „5. KH-Richtlinie“ bezeichnet. 48 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2006 – Az. 16 U 36/05, NJW-RR 2006, 70 (70). 49 Richtlinie 2000/26/EG vom 16.05.2000 (Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie), ABl. EG vom 20.07.2000, L 181/65, in der nachfolgenden Arbeit als „4. KH-Richtlinie“ bezeichnet. 50 Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Auflage 2017, Band 12, Art. 11 EuGVVO Rn. 11. 51 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – Az. VI ZR 200/05, IPRax 2007, 324 (324) = NJW 2007, 71. 52 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 29 = NJW 2008, 819.

§ 3 Gang der Untersuchung

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EuGH steht.53 Erscheint es mit Blick auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen zunächst naheliegend, dass die Vorschriften der EuGVO, die Teil des sich ständig weiterentwickelnden Europäischen Sekundärrechts sind, auch unter Beachtung dieser laufenden Entwicklungen ausgelegt werden und so die Wertungen aus dem zwischenzeitlich weiter ausgebauten Verkehrsopferschutz, denen auch der Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie zuzurechnen ist, bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) Beachtung finden.54 Ein zu ermittelndes Auslegungsergebnis würde zumindest zusätzlich vom status quo des Europäischen Sekundärrechts abhängen, so dass bereits ermittelte Auslegungsergebnisse anzupassen und zu korrigieren wären, wenn sich die Rechtsordnung zwischenzeitlich weiterentwickelt und diese Entwicklung maßgeblichen Einfluss auf die auszulegende Vorschrift hätte.55 Wiederum mit Blick auf den Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) wäre es so möglich, dass das Auslegungsergebnis der vormals herrschenden Meinung, die einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten abgelehnt hatte,56 zum Zeitpunkt als die EuGVO erlassen worden war, naheliegend war. Sich das Auslegungsergebnis aber durch nachfolgende Entwicklungen innerhalb der Europäischen Sekundärrechts zum Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung entwickelt hat. Aber selbst wenn eine solche als „dynamisch“ oder „evolutiv“ diskutierte Auslegung des Rechts 57 zunächst naheliegend erscheint, ist unklar, ob sie „am derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts“ – so der EuGH zehn Jahre nach der

53

Siehe oben Teil 1 § 2. In diesem Sinne auch Schlochauer, in: FS für Hallenstein, 1996, S. 431 (431); vgl. auch Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 2 ff. 55 Joussen, Die Auslegung des europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, S. 66 f. 56 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. b). 57 So zum Beispiel: Everling, RabelsZ 50 (1986), S. 231; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 78; Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Einl. Brüssel Ia-VO Rn. 40; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 3 Rn. 7, § 4 Rn. 73; ders., IPRax 2006, 348 (348); Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 46; Herresthal, ZEuP 2009, 600 (606); Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 238 ff.; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 381 ff.; Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1180); ders., EuR 1979, 239 (255); Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 290 f.; H. Roth, RablesZ 2011, S. 787 (804 f.); Ophüls, in: FS für MüllerArmack, 1961, S. 279 (288 ff.); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 213 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 504 ff.; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 78 ff.; Joussen, Die Auslegung des europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 66 f.; H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (879 ff.). 54

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Teil 1: Einführung in das Thema

C.I.L.F.I.T.-Entscheidung in der Rechtssache Bachmann vom 28. Januar 199258 – überhaupt mit den Grundsätzen der Unionsrechtsordnung vereinbar ist.59 Schließlich ist es Aufgabe des Unionsgesetzgebers, Sekundärrecht zu schaffen und dieses gegebenenfalls auch zu ändern.60 So bemängeln die Kritiker der heute herrschenden Meinung zur Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht grundlos, dass der Unionsgesetzgeber Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) hätte entsprechend konkretisieren können, hätte er dem Geschädigten die Möglichkeit einer Direktklage gegen den Versicherer der Gegenseite am eigenen Wohnsitz einräumen wollen. Eine derartige Konkretisierung erfolgte aber auch im Zuge der Neufassung der EuGVO nicht; vielmehr wurden die maßgeblichen Vorschriften wortlautgleich übernommen. Diese Kritik verfängt insoweit, weil über eine Auslegung im Sinne der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung der vorgesehene Rechtssetzungsweg der Europäischen Union nicht umgangen werden darf, da so nicht zuletzt auch die Souveränität der Mitgliedstaaten indirekt und auf undemokratische Weise eingeschränkt werden würde.61 Neben diesen offenen Fragen stellt sich auch die der konkreten Ausgestaltung einer solchen Auslegungsmethode, um die zahlreichen praktischen Probleme einer dynamischen bzw. evolutiven Auslegung des Rechts in den Griff zu bekommen. So ist beispielsweise fraglich, wie Rechtssicherheit gewährleistet werden kann, wenn die grundsätzliche Möglichkeit besteht, dass sich Auslegungsergebnisse laufend ändern.62 Selbiges gilt für das Leitprinzip der Rechtseinfachheit und Rechtsklarheit, das generell in den Methodenlehren des internationalen Einheitsrechts einfließt.63 Nur wenn die supranationale Rechtsordnung der Europäischen Union diesem Leitprinzip gerecht wird, können die Nachteile, die mit der Anwendung von nationalem Kollisions- und Sachrecht verbunden wären, mit Hilfe der einheitlichen supranationalen Unionsrechtsordnung überhaupt überwunden werden.64

58

EuGH vom 28.01.1992, Rs. C-204/90 (Bachmann ./. Belgischer Staat), Slg. 1992, I-249, Rn. 24. 59 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts als Rechtsquellen, die bei der Anwendung und Auslegung des Sekundärrechts beachtet werden müssen, vgl. u. a. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 147 ff. 60 Zum Rechtssetzungsverfahren siehe Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 13. Auflage 2019, § 7. 61 Bleckmann, EuR 1979, 239 (255). 62 So bereits einleitend: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 1. 63 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 69 f. 64 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 69.

§ 4 Aufbau der Arbeit

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§ 4 Aufbau der Arbeit In sechs Teilen untergliedert erfolgt eine praxisnahe Darstellung und Beantwortung der aufgeworfenen methodischen Fragen rund um die Grundsätze im Umgang mit der Evolution des Europäischen Sekundärrechts: Der soeben entfaltete Teil 1 enthält eine Einführung in das Thema. In Teil 2 folgt eine Darstellung der Dynamik des Europäischen Sekundärrechts, in der ihre Hintergründe und ihr Umfang sowie die innere Ordnung des sich fortlaufend entwickelnden Sekundärrechts am Beispiel des Europäischen Zivilprozessrechts aufgezeigt und analysiert werden. Anschließend wird in Teil 3 die von der herrschenden Meinung anerkannte, dem Rechtsanwender grundsätzlich zur Verfügung stehende Methodik dargestellt, um auf die Entwicklungen des Europäischen Sekundärrechts zu reagieren. In Teil 4 wird der Meinungsstreit um die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) dargestellt und analysiert, um den methodischen Umgang mit der fortschreitenden Entwicklung des Europäischen Sekundärrechts in Literatur und Rechtsprechung anhand eines praktischen Beispiels aufzuzeigen. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen anschließend in Teil 5 dazu genutzt werden, die Grundsätze des methodischen Umgangs mit der dynamischen Entwicklung des Sekundärrechts zu konkretisieren und dem Rechtsanwender dadurch ergänzendes Handwerkzeug im Umgang mit dieser Besonderheit der Unionsrechtsordnung zur Seite zu stellen. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit in einer Schlussbetrachtung zusammengefasst.

Teil 2

Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts § 1 Dynamik als Grundprinzip der Europäischen Rechtsordnung Grundsätzlich sind Veränderungen innerhalb einer Rechtsordnung bzw. deren Weiterentwicklung dem deutschen Rechtsanwender nicht unbekannt. Pandektistische Kodifikationen, wie die des deutschen Zivilrechts, bieten zwar den grundsätzlichen Vorteil, dass der Gesetzgeber den Rechtsanwender in die Lage versetzt, für die sich ständig veränderten Lebensverhältnisse passende Lösungen zu finden, ohne dass es jeweils eines gesonderten Richterspruchs zur Regelung des strittigen Einzelfalls bedarf.1 Trotzdem ist es auch in diesen Rechtsordnungen, aufgrund von Neubildungen des Geschäftslebens,2 technischen Neuerungen3 oder geänderten Wertevorstellungen,4 regelmäßig notwendig, neues Recht zu schaffen oder bestehendes zu ergänzen oder zu ändern. Ein Beispiel für diese Veränderungen ist das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1991,5 mit dem der Gesetzgeber auf die Neuerungen in der Fortpflanzungsmedizin reagiert hat. Neue Möglichkeiten der medizinisch assistierten Fortpflanzung wie die In-Vitro-Fertilisation, Embryonentransfer, Eizellspende und Leihmutterschaft wurden durch den medizinischen Fortschritt technisch möglich und für jedermann greifbar. Der Gesetzgeber sah sich daher im Jahr 1990 dazu veranlasst, 1

Honsell, in: Staudinger, Neubearbeitung 2018, Einl. zum BGB Rn. 105. Honsell verweist hier auf das Leasing, Factoring und Franchising. Ursprünglich amerikanische Vertragsformen, die im deutschen Recht übernommen worden sind, vgl. Honsell, in: Staudinger, Neubearbeitung 2018, Einl. zum BGB Rn. 105. 3 So wurde beispielsweise im Rahmen des Gesetzes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsverkehr vom 13.07.2001, BGBl 2001, I 1542, mit Wirkung zum 01.08.2001 der § 126a BGB geschaffen, der mit der elektronischen Form eine zusätzliche Option zur Wahrung der gesetzlichen Schriftformerfordernisse anbietet; vgl. hierzu Hertel, in: Staudinger, Neubearbeitung 2012, § 126a Rn. 2 ff. 4 Honsell greift hier beispielhaft das Familienrecht auf, das durch eine Reihe von Gesetzen völlig umgestaltet worden ist, Honsell, in: Staudinger, Neubearbeitung 2018, Einl. zum BGB Rn. 105; so zum Beispiel: Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts vom 18.06.1957, BGBl. I, S. 609; Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.08.1969, BGBl. I, S. 1243. 5 Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 (BGBl. I, S. 2746) das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. November 2011 (BGBl. I, S. 2228) geändert worden ist, im Folgenden als „ESchG“ bezeichnet. 2

§ 1 Dynamik als Grundprinzip der Europäischen Rechtsordnung

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deren Zulässigkeit (in Form eines restriktiven Verbots6) zu regeln. Im gleichen Zuge kam es auch zu einer Änderung des Familienrechts. Mit § 1591 BGB führte der Gesetzgeber erstmalig eine Regelung zur mütterlichen Abstammung ein. Der bisher geltende ungeschriebene Grundsatz mater semper certa est wurde durch die vorstehend erwähnten neuen medizinischen Methoden in Frage gestellt. Eine ausdrückliche Regelung dahingehend, dass die gebärende Frau unveränderlich und unabhängig von der genetischen Abstammung des Kindes die Mutter eines Kindes ist, war daher erforderlich.7 Auch die Unionsrechtsordnung ist diesem sprichwörtlichen „Wandel der Zeit“ ausgesetzt. Gesetzliche Neuerungen der vorstehend beschriebenen Art finden daher auf europäischer Ebene statt. So wurde beispielsweise die für die Chemie- und Pharmaindustrie so wichtige REACH-Verordnung,8 die der Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien dient, „zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt“ mittels Verordnung vom 23. März 2015 geändert.9 Die eingangs beschriebenen Veränderungen infolge der fortschreitenden europäischen Integration, die ursächlich für die Entwicklung und Dynamik der Unionsrechtsordnung sind, sind allerdings von den vorstehend beschriebenen Veränderungen zu differenzieren; sie sind eine Besonderheit der Unionsrechtsordnung. Denn Ursache dieser Dynamik ist nicht allein der Wandel der Zeit, sondern die Europäische Union selbst; deren weitere Entwicklung ein integrativer Prozess ist.10 Ziele und Grenzen dieses Prozesses werden durch die der Union zugrundeliegenden Verträge gesetzt.11 Während die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf den ge6

Kritisch hierzu: Sitter, Grenzüberschreitende Leihmutterschaft, 2016, S. 70 ff. BT-Drucks. 13/4899, S. 82; BR-Drucks. 180/96, S. 61; Wellenhofer, in: MünchKommBGB, 7. Auflage 2017, § 1591 Rn. 14. 8 Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission, ABl. Nr. L 396 S. 4. 9 Verordnung (EG) Nr. 491/2015 der Kommission vom 23. März 2015 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 605/2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen zwecks Einfügung von Gefahren- und Sicherheitshinweisen in kroatischer Sprache und zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, ABl. 2015, Nr. L 78 S. 12. 10 Vgl. Präambel EUV; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 1 EUV Rn. 9; zu den Integrationstheorien: Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 1 EUV Rn. 18 ff. 11 Schlochauer, in: FS für Hallstein, 1966, S. 431 (431); i. d. S. auch Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 288 AEUV Rn. 8 f.; EuGH vom 05.07.1967, Rs. 1/ 7

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

sellschaftlichen und politischen Wandel lediglich reagieren und ihm bestenfalls offen gegenüberstehen, soll die Rechtsordnung der Europäischen Union den für die weitere Integration der Mitgliedstaaten notwendigen Wandel initiieren und selbst auslösen.12 Wichtigstes Werkzeug, um diese primärrechtlichen13 Ziele zu erreichen, ist das Europäische Sekundärrecht.14 Integrative Entwicklungen, die nicht schon durch das Primärrecht selbst angestoßen werden, gehen daher regelmäßig mit der Weiterentwicklung und dem Ausbau des Europäischen Sekundärrechts einher.15 Dieses Wachstum bzw. diese Weiterentwicklung der Unionsrechtsordnung hat eine Dynamik, eine innere Bewegung der Rechtsordnung zur Folge, die zu einer stetigen Zunahme der Regelungsdichte führt.16 In Konsequenz wird der Einfluss des Europäischen Rechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten mit fortschreitender Integration immer größer,17 denn gleichzeitig mit dem Wachstum des supranationalen Rechts wird das autonome nationale Recht der Mitgliedstaaten in zunehmenden Maß verdrängt.18 Aus der Perspektive der Mitgliedstaaten stellt sich der beschriebene Prozess daher als dynamische Europäisierung des Rechts dar.19 Wie weit diese integrativen Entwicklungen heute fortgeschritten sind, lässt sich schwer bestimmen. Hoppe,20 auf den auch das Bundesverfassungsgericht in der Lissabon-Entscheidung Bezug nimmt, stellte schon 2009 fest, dass über achtzig Prozent der nationalen Rechtsordnungen unter dem Einfluss des Europarechts stehen,21 so dass heute, im Jahr 2019, davon auszugehen ist, dass dieser Einfluss sogar noch größer ist.22

76 (Ciechelski), Slg. 1967, 240 (250); EuGH vom 05.10.1978, Rs. 26/78 (Viola), Slg. 1978, 1771, Rn. 9, 14; EuGH vom 11.03.1982, Rs. 93/81 (Knoeller), Slg. 1982, 951, Rn. 9. 12 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 133 f. 13 Zum Begriff des Primärrechts vgl. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 17 ff. 14 Rabe, NJW 1997, 2631 (2631); Everling, RabelsZ 50 (1986), S. 193 (193). 15 In der Entscheidung des EuGH vom 15.07.1964, Rs. 6/64 (Costa ./. E.N.E.L.), Slg 1964, 1259 (1269) hat der EuGH erstmals von einer eigenen Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft gesprochen; Darstellung bei Henninger, Europäisches Recht und Methode, 2009, S. 270 f. 16 So auch Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 2 ff. 17 BVerfG, Urt. v. 09.06.1971 – Az. 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145 (173 f.); Gilles, ZZPInt 7, 2002, 3 (7). 18 Hierzu ausführlich H. Roth, in: ders. (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, 2010, S. 163 ff. 19 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, 2010, Kapitel 4, § 1 B Rn. 341; zur Europäisierung der deutschen Rechtsordnung vgl. auch Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, 2011. 20 Hoppe, EuZW 2009, 168 (168). 21 Hoppe, EuZW 2009, 168 (168); Hoppe hat in seiner Untersuchung den Gesamtbestand der mitgliedstaatlich verbindlichen Rechtsakte der Union (vgl. Art. 288 AEUV) dem Gesamtbestand autonomer nationaler Rechtsakte gegenübergestellt.

§ 1 Dynamik als Grundprinzip der Europäischen Rechtsordnung

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Auch mit Blick in die Zukunft ist zu erwarten, dass die beschriebene Dynamik – trotz der gegenwärtigen Herausforderungen in Form der Schulden- und Flüchtlingskrise sowie dem bevorstehenden „BREXIT“ – weiter zunehmen wird, haben doch die Mitgliedstaaten im Vertrag von Lissabon beschlossen, den Prozess der Integration „auf eine neue Stufe“ zu stellen, Art. 1 Abs. 2 EUV.23 Die nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV) geschaffenen und für eine fortschreitende Integration und Dynamik des Europäischen Sekundärrechts notwendigen Gesetzeskompetenzen der Europäischen Union24 wurden dazu so sehr erweitert,25 dass die Gegner des Vertrages von Lissabon ihre Verfassungsbeschwerde auch auf die Gefahr der Entstaatlichung der Mitgliedstaaten stützten.26 Zwar spielt nach überzeugender Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Quantität möglicher Regelungen des Gemeinschaftsrechts für die souveräne Staatlichkeit Deutschlands keine Rolle.27 Es komme nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts vielmehr entscheidend darauf an, dass keine staatsbegründenden Elemente betroffen sind und in Deutschland für zentrale Regelungs- und Lebensbereiche substantielle mitgliedstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben, was durch den Vertrag von Lissabon grundsätzlich gewährleistet sei.28 Allerdings schaffen die erweiterten Gesetzeskompetenzen der Europäischen Union – auch bei festgestellter Verfassungskonformität des Vertrages von Lissabon – Grund für die Annahme, dass die Mitgliedstaaten zumindest ihr Ziel, den Integrationsprozess nach Abschluss des Vertrages zu intensivieren, erreichen werden und daher auch die Zahl der Regelungen des Europäischen Sekundärrechts weiter zunehmen wird.29 22 Herresthal ging bereits 2006 davon aus, dass es zumindest im Privatrecht keinen Bereich mehr gibt, der vom Gemeinschaftsrecht unberührt geblieben ist, vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 3. 23 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 1 EUV Rn. 10; zum Begriff des Primärrechts vgl. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 288 AEUV Rn. 17 ff.; kritisch hinsichtlich der fortschreitenden Europäisierung: Kirchhoff, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 1010. 24 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – Az. 2 BvR 2134, BVerfGE 89, 155 (209 f.); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – Az. 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (233); Wyatt/Dashwood’s, European Union Law, 2011, S. 99 ff.; Streinz, ZEuS 2004, 387 (388 f.). 25 Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 86. Ergänzungslieferung 2019, Art. 23 Rn. 16; so auch BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – Az. 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/ 08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 1 BvR 182/09 , BVerfGE 123, 267, Rn. 351. 26 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – Az. 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/ 08, 2 BvR 1259/08, 1 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267, Rn. 351, BVerfGE 123, 267, Rn. 100; so auch Hoppe, EuZW 2009, 168 (168). 27 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – Az. 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/ 08, 2 BvR 1259/08, 1 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267, Rn. 351. 28 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – Az. 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/ 08, 2 BvR 1259/08, 1 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267, Rn. 351. 29 In ihrer jährlichen Zusammenfassung der Entwicklungen im Europäischen Kollisionsrecht schreiben Mansel/Thorn/Wagner über die Entwicklungen 2011, „dass die Brüsseler Gesetzgebungsmaschinerie wieder auf vollen Touren läuft“, IPRax 2012, 1 (31).

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

Zusammenfassend ist die in dieser Arbeit zu untersuchende Entwicklung bzw. Dynamik der Unionsrechtsordnung eines ihrer Wesensmerkmale und Konsequenz einer fortschreitenden europäischen Integration. Neben den auch in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannten Entwicklungen, die überwiegend durch den „Wandel der Zeit“ angestoßen werden, führt dieses Wesensmerkmal dazu, dass sich das auf Basis der Verträge geschaffene Sekundärrecht laufend „dynamisch“ beziehungsweise „evolutiv“ fortentwickelt.

§ 2 Dynamische Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts Um das Ausmaß der Dynamik des Europäischen Sekundärrechts zu veranschaulichen, bietet sich ein Blick in das Europäische Zivilprozessrecht an. In keinem anderen Bereich des Sekundärrechts ist die dynamische Entwicklung so deutlich zu beobachten wie hier. Es handelt sich um einen der am schnellsten wachsenden Bereiche des Sekundärrechts,30 der mittlerweile ein engmaschiges unionsrechtliches Netzt bildet, einen europäischen Justizraum.31 Demgegenüber verlieren die autonomen Regelungen des Internationalen Zivilprozessrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten rasant an Bedeutung.32 Grund für die starke Dynamik innerhalb des Europäischen Zivilprozessrechts sind dessen Funktion und Bedeutung für die Europäischen Integration: Mit Hilfe des Europäischen Zivilprozessrechts werden die nationalen Prozessordnungen für Parteien aus anderen Mitgliedstaaten geöffnet, koordiniert und es wird versucht, die Effektivität der jeweiligen Prozessordnungen zu steigern.33 Dadurch kommt dem Europäischen Zivilprozessrecht in der Europäische Integration und insbesondere beim Aufbau des gemeinsamen Binnenmarktes (Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV, Art. 26 AEUV) eine Hebelwirkung zu.34 Denn mit dem stets weiter zunehmenden Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Union und der damit verbundenen steigenden Zahl grenzüberschreitender Rechtsbeziehungen zwischen den Marktakteuren liegt es in der Natur der Dinge, dass auch

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So auch Frattini, ZEuP 2006, 225 (230 ff.); Koch, JuS 2003, 105 (105); Tulibacka, C.M.L. Rev. 2009, 1527 (1527); Netzer, Status quo und Konsolidierung des Europäischen Zivilverfahrensrechts, 2011, S. 3. Hess spricht von einem „Handlungsschwerpunkt“ der Vereinheitlichung, IPRax 2001, 389 (390); vgl. auch: Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, Rn. 6; Stadler, IPRax 2004, 2 (2). 31 Stadler spricht insoweit von einer Vorreiterrolle des Europäischen Zivilprozessrechts, IPRax 2004, 2 (3). 32 H. Roth, in: ders. (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, 2010, S. 163 ff. 33 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 2 und § 3 Rn. 1. 34 Hierzu ausführlich Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 3 Rn. 1 ff.

§ 2 Dynamische Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts

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die Zahl der Rechtstreitigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug zunimmt.35 Für die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes ist es daher von entscheidender Bedeutung, dass die Marktakteure schon vor dem Zeitpunkt einer möglichen prozessualen Geltendmachung ihres Anspruchs das notwendige Vertrauen in Funktionalität und Effektivität des europäischen Justizraums haben.36 Letztlich gilt nach der EU-Kommission hier die einfache Formel: Je geringer der Unterschied zwischen der Durchsetzung rein nationaler Ansprüche auf der einen Seite und der Durchsetzung grenzüberschreitender Ansprüche auf der anderen Seite ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der gemeinsame Binnenmarkt ungehindert weiterentwickelt.37 Der fortschreitende Ausbau und die Funktionalität des europäischen Justizraums sind daher kausal mit dem Wachstum und der Funktionalität des Binnenmarktes verknüpft.38

I. Historischer Hintergrund Der Zusammenhang zwischen Fortschritt und Geschwindigkeit der Europäischen Integration auf der einen Seite und einer funktionierenden grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung auf der anderen Seite wurde verhältnismäßig früh erkannt.39 Das Rechtsgebiet kann daher auf eine relativ lange Wachstumsspanne zurückblicken. Schon mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1958 wurde den Vertragsstaaten in Art. 220 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) aufgegeben, Verhandlungen einzuleiten40 um die

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So schon Hallstein, RabelsZ 28 (1964), S. 211 (222 f.); vgl. Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 1 und § 3 Rn. 1. 36 Vgl. zur Funktion der EuGVO Schlussanträge GA Cruz Villalon vom 02.02.2012, Rs. C514/10 (Wolf Naturprodukte GmbH ./. SEWAR spol. sr. o.), NJW 2012, 2639 Rn. 39. In diesem Sinne auch der Erwägungsgrund 4 der (neuen) EuGVO vom 12.12.2015, ABl. EU vom 20.12.2012, L 351/1, in dem es heißt: „Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivilund Handelssachen zu vereinheitlichen und eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zu gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.“ 37 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen vom 22.09.2000, KOM (2000) 592, S. 3; siehe auch Grünbuch der Kommission, Prozesskostenhilfe in Zivilsachen: Probleme der Parteien bei grenzüberschreitenden Streitsachen, KOM (2000) 51 endg. vom 09.02.2000, S. 4. 38 So auch Kerameus, RabelsZ 66 (2002), S. 1 (9 f.). 39 Siehe hierzu auch: Raitio, The Priciple of Legal Certainty in EC Law, 2003, S. 59 ff.; anders sieht das wohl Frattini, ZEuP 2006, 225 (225). 40 Wagner, IPRax 2005, 66 (66).

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

grenzüberschreitende Forderungsdurchsetzung zu effektuieren.41 Ein vielzitiertes und historisches Beispiel aus den Anfängen des gemeinsamen Europäischen Justizraums ist die Einladung der Kommission an die Mitgliedstaaten der damaligen Wirtschaftsgemeinschaft zur Erarbeitung des späteren Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) aus dem Jahr 1959. Darin heißt es unter anderem: „Ein echter Binnenmarkt zwischen den sechs Staaten wird erst dann verwirklicht sein, wenn ein ausreichender Rechtsschutz gewährleistet ist. Es wären Störungen und Schwierigkeiten im Wirtschaftsleben der Gemeinschaft zu befürchten, wenn die sich aus den vielfältigen Rechtsbeziehungen ergebenden Ansprüche nicht erforderlichenfalls auf dem Rechtswege festgestellt und durchgesetzt werden könnten.“42

Trotz der frühen Erkenntnis, dass es, um die Ziele Europas verwirklichen zu können, notwendig ist, einen Europäischen Justizraum aufzubauen,43 ist es erst im letzten Jahrzehnt zu den galoppierenden Entwicklungen dieses Rechtsgebiets gekommen, die auch in der nachfolgenden Arbeit eine entscheidende Rolle spielen. Maßgeblich verantwortlich dafür waren zwei politische Ereignisse: Zunächst wurde mit dem Vertrag von Amsterdam der gestalterische Rahmen des Integrationsprozesses erweitert. Neues primärrechtlich vorgegebenes Ziel der damaligen Europäischen Gemeinschaft war die schrittweise Errichtung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.44 Darauf folgte der Sondergipfel von Tampere, auf dem sehr weitgehende Beschlüsse zur Erreichung dieses Ziels gefasst wurden.45 1. Der Vertrag von Amsterdam Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde der damaligen Europäischen Gemeinschaft die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der „justiziellen Zusammenarbeit“ übertragen, die zur schrittweisen Errichtung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erforderlich war, vgl. Art. 61 lit. c i. V. m. Art. 65 EGV

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Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 2 Rn. 2; Peers, EU Justice and Home Affairs Law, 3. Auflage 2011, S. 595 ff. 42 Zitiert nach dem Bericht von P. Jenard, ABl. EG 1979, C 59, S. 4, auch wiedergegeben bei: Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 1 I Rn. 1 und Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 14. 43 Siehe auch die Präambel des EuGVÜ vom 27.09.1968, die sich als Ziel setzt, „innerhalb der Gemeinschaft den Rechtsschutz der dort ansässigen Personen zu verstärken“; zitiert nach Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 13. 44 Siehe hierzu ausführlich: Thun-Hohenstein, Der Vertrag von Amsterdam, Wien 1997, S. 28 ff. 45 Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 02.06.2004, KOM (2004) 401 endg., S. 5.

§ 2 Dynamische Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts

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(heute Art. 81 AEUV).46 Zwar war schon im Vertrag von Maastricht eine Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres vereinbart worden.47 Der Vertrag von Amsterdam brachte aber eine wesentliche Erleichterung: Mit der Übertragung der justiziellen Zusammenarbeit von der dritten auf die erste Säule48 war es fortan nicht mehr erforderlich, das Europäische Zivilprozessrecht mit Hilfe von schwerfälligen völkerrechtlichen Verträgen zu gestalten. Stattdessen konnte auf das europäische Rechtssetzungsinstrumentarium zurückgegriffen werden. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, das Europäische Zivilprozessrecht und letztlich die Europäische Integration insgesamt in einem bisher ungekannten Tempo voranzutreiben.49 2. Der Beschluss von Tampere Welch weitgehende Entwicklungen der Vertrag von Amsterdam bringen würde und wie umfangreich die Neuerungen im Europäischen Zivilprozessrecht werden würden, ließ sich allerdings erst auf dem Sondergipfel von Tampere vom 15. – 16. Oktober 1999 erahnen.50 Das dort beschlossene Arbeitsprogramm macht die angestrebte Regelungstiefe der neuen Gemeinschaftspolitik sehr viel deutlicher als jede auf den Wortlaut und Systematik gestützte Interpretation der Art. 61 und Art. 65 EG (heute Art. 81 AEUV).51 Im Einzelnen wurde in Tampere vereinbart, dass ein „besserer Zugang zum Recht in Europa“ ermöglicht, die „gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen“ gewährleistet und bei Bedarf hierzu auch für eine „größere Konvergenz im Bereich des Zivilrechts“ gesorgt werden sollte.52 Damit wurde die Schaffung eines 46

Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 02.06.2004, KOM (2004) 401 endg., S. 3; vgl. Kohler, in: FS für Geimer, 2002, S. 461 (461); sowie grundlegend EuGH vom 08.11.2005, Rs. C-443/03 (Leffler ./. Berlin Chemie AG), Slg. 2005, I-9611, Rn. 45. 47 Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2013, § 1 Rn. 57. 48 Leisle, Dependenzen auf dem Weg vom EuGVÜ über die EuGVO zur EuZPO, 2002, S. 13; Duff, The Treaty of Amsterdam, 1997, S. xxxvii; Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Einl. A 1 Rn. 18; Wagner, IPRax 2005, S. 66 (66). Weitere Erläuterung zum Säulenmodell beispielsweise bei Bauer, in: Weidenfeld, Lissabon in der Analyse, 2008, S. 99 (100); Peers, EU Justice and Home Affairs Law, 3. Auflage 2011, S. 598 ff. 49 Vgl. Wagner, IPRax 2010, 97 ff. Ausführlich dazu auch Storskrubb, Civil Procedure and EU Law, 2008, S. 33 ff., die zwischen „Pre-Amsterdam“ und „Post-Amsterdam“ differenziert; so auch Bauer, in: Weidenfeld, Lissabon in der Analyse, 2008, S. 99 (101); Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 6. Auflage 2007, § 3 Rn. 6; ebenso Weiß/Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 67 AEUV Rn. 2; siehe auch Duff, The Treaty of Amsterdam, 1997, S. xxxvii; in diesem Sinne auch Hess, IPRax 2006, 348 (349). 50 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 2 Rn. 34; Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2013, § 1 Rn. 58. 51 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 2 Rn. 34. 52 Siehe Punkt B der „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ abrufbar unter: http://www.europ arl.europa.eu/summits/tam_de.htm#union (zuletzt abgerufen am 23.06.2019); Schlosser, IPRax

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

Europäischen Justizraums und die Reform und Effektuierung des Europäischen Zivilprozessrechts als vorrangige Gemeinschaftsaufgabe auf die politische Agenda gesetzt.53 Die durch den Vertrag von Amsterdam neu geschaffene Rechtsetzungskompetenz sollte hierzu voll ausgeschöpft werden.54 Erster hervorzuhebender Schritt war die Überführung des Brüsseler EWG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil und Handelssachen vom 27. September 196855 mit Hilfe der neuen Gesetzgebungskompetenz von der Form eines Übereinkommens in die Form einer Verordnung um so die EuGVO zu schaffen.56 Daneben wurden aber auch zahlreiche Verordnungen erlassen, wie etwa die Verordnung über Insolvenzverfahren vom 29. Mai 2000 (EuInsVO)57, die Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten vom 29. Mai 2000 (Brüssel II-VO)58 und die Verordnung über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten vom 29. Mai 2000 (EuZustVO).59 Es folgten zahlreiche weitere Rechtsakte, die noch durch das Programm von Tampere oder bereits durch dessen Nachfolger, dem Haager Programm, angestoßen wurden.60 Zu nennen ist hier beispielsweise die Verordnung über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen vom 28. Mai 2001 (EuBewVO)61, die Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 vom 1. März 2005 (Brüssel IIa-

2010, 101 (101); Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 2 Rn. 34; kritisch zu der sehr ungenauen Definition der Ziele: Schlosser, IPRax 2010, 101 (101). 53 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 2 Rn. 36. 54 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 2 Rn. 36. 55 BGBl 1972 II 774 ff., nachfolgend als „EuGVÜ“ bezeichnet. 56 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 22; Geimer spricht in Bezug auf die EuGVO von einem „Meilenstein auf dem Weg zu einem einheitlichen Europäischen Justizraum“, Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Einl. A. 1 Rn. 1; Netzer, Status quo und Konsolidierung des Europäischen Zivilverfahrensrechts, 2011, S. 3; allgemein Stadler, C.M.L.R., 2005, 1637 ff. 57 ABl. EG, 30.06.2000, L 160/1. 58 ABl. EG, 30.06.2000, L 160/19. 59 ABl. EG, 30.06.2000, L 160/37. 60 Nachdem die Kommission am 2. Juni 2004 eine erste Bilanz des Programms von Tampere veröffentlichte (vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Parlament vom 26.04.2004, KOM (2004) 401 endg., S. 39 – 43) wurden im Haager Programm für die folgenden fünf Jahre weitere Rechtsakte geplant; vgl. ABl. EU vom 03.03.2005, C 53/1. 61 ABl. EG, 27.06.2001, L 174/1.

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VO)62, die Verordnung zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen vom 21. April 2004 (EuVTVO)63, die Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens vom 12. Dezember 2006 (EuMVO)64, die Verordnung zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen vom 11. Juli 2007 (EuBagatellVO)65, die Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 11. Juli 2007 (Rom II-VO)66, die Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 17. Juni 2008 (Rom I-VO)67, die Verordnung über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen vom 18. Dezember 2008 (EuUnthVO)68 und letztlich auch die Verordnung zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts vom 20. Dezember 2010.69

II. Nachfolgende Entwicklungen Das Scheitern der Verfassung für Europa und die Verzögerungen bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon konnten die weitere Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts nicht aufhalten. Im Gegenteil, die Rahmenbedingungen für eine fortschreitende Dynamik wurden gleichwohl weiterentwickelt.70 Hervorzuheben ist, dass zwischenzeitlich auch die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – und damit der letzte Teil des Bereiches „Inneres und Justiz“ gem. Titel IV des Vertrages von Nizza – in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union überführt wurde und damit ebenfalls Teil der supranationalen Rechtssetzung ist.71 Zudem verabschiedete der Europäische Rat fast gleichzeitig mit dem Vertrag von Lissabon das Stockholmer Programm.72 Anknüpfend an die Programme von Tampere und Haag gab es den europäischen Or62

ABl. EG, 23.12.2003, L 338/1; Reform: ABl. EU, 25. Juni 2019, L 178 S.1, Schönfelder 2. Nr. 103 b/1. 63 ABl. EG, 30.04.2004, L 143/15. 64 ABl. EG, 30.12.2006, L 399/1. 65 ABl. EG, 31.07.2007, L 199/1. 66 ABl. EG, 31.07.2007, L 199/40. 67 ABl. EU, 17.06.2008, L 177/6. 68 ABl. EU, 10.01.2009, L 7/1. 69 ABl. EU, 29.12.2010, L 343/10. 70 Weiß/Satzger, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 67 AEUV Rn. 2; ausführlich dazu: Bauer, in: Weidenfeld, Lissabon in der Analyse, 2008, S. 99 (103); Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 3 Rn. 5. 71 Bauer, in: Weidenfeld, Lissabon in der Analyse, 2008, S. 99 (103). 72 ABl. EU vom 04.05.2010, C 115/1.

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

ganen nochmals auf, alle durch den Vertrag von Lissabon gebotenen Möglichkeiten zur Stärkung des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Vorteil der Unionsbürger zu nutzen.73 In diesem Zusammenhang wurde die EuGVO am 12. Dezember 2012 neugefasst.74 Bedeutendste Änderung der neuen EuGVO vom 10. Januar 2015 war der Wegfall des Exequaturverfahrens, so dass ein Gerichtsurteil aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in einem anderen Mitgliedstaat ohne besondere Vollstreckbarerklärung vollstreckt werden kann, vgl. Art. 39 EuGVO n. F.75 Die in dieser Arbeit in den Fokus gerückten Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F. wurden in der Neufassung der EuGVO wortgleich übernommen. Das einleitend dargestellte Auslegungsproblem besteht daher bei derzeitiger Rechtslage fort.

§ 3 Exkurs: Der „Spillover-Effekt“ Neben den vorstehend dargestellten politischen Entscheidungen, die für eine besonders schnelle Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts verantwortlich waren und es heute noch sind, ist der sogenannte „Spillover-Effekt“ oder „ÜberlaufEffekt“ ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor für die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts.76 Der Spillover-Effekt beschreibt den Prozess, dass die Integration in einem Bereich weitere integrative Schritte in anderen, angrenzenden Bereichen notwendig macht.77 Man kann insoweit auch von einem „Integrationsdruck“ sprechen, der von bereits harmonisierten auf nicht harmonisierte Bereiche überschwappt und weitere Rechtsangleichungen anstößt.78 Fallen beispielsweise die Zollschranken, so entsteht ein Binnenmarkt, in dem im nächsten Schritt die Herstellungs- und Qualitätsnormen sowie die wettbewerbsverzerrenden flankierenden Politiken harmonisiert werden müssen,79 um für Wettbewerber aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten Chancengleichheit zu schaffen. Die dadurch entstehende Eigendynamik der Integration führt zum einen zu einer zusätzlich beschleunigten inneren Dynamik des Europäischen Sekundärrechts und zum

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ABl. EU vom 04.05.2010, C 115/4; vgl. Wagner, NJW 2010, 1707 (1707). ABl. EU vom 20.12.2012, L 351/1. 75 ABl. EU vom 20.12.2012, L 351/14. 76 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 1 EUV Rn. 21; Hess, IPRax 2001, 389 (390); zum „Spillover-Effekt“ auch Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 3 Rn. 45. 77 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 1 EUV Rn. 21. 78 Craig, in: Craig/de Búrca, The Evolution of EU Law, 2011, S. 14 f.; siehe auch Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 3. 79 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 1 EUV Rn. 21. 74

§ 3 Exkurs: Der „Spillover-Effekt“

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anderen dazu,80 dass auch nationale Gesetzgeber ihre Rechtsordnungen entsprechend angleichen müssen, damit die heimische Wirtschaft keinen Nachteil erfährt. Wollte man die Eigendynamik der Europäisierung plastischer beschreiben, könnte man auch von einer „Sogwirkung“ der Harmonisierung sprechen. Durch das schnelle Wachstum des europäischen Justizraums kommt dem Europäischen Zivilprozessrecht denknotwendig auch hier wieder eine Sonderrolle zu. Als Vorreiter des Gemeinschaftsrechts81 treibt das einen hohen Integrationsdruck auf umliegende Bereiche ausübende Europäische Zivilprozessrecht die Vergemeinschaftung gerade über den Spillover-Effekt an.82 Ein vielbesprochenes Beispiel dafür ist das durch die Wahlgerichtsstände der EuGVO ermöglichte „forum shopping“:83 Solange es sich nur um einen teilharmonisierten Europäischen Justizraum handelt, ist es legitim,84 dass Parteien die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und Prozessrechten der Mitgliedstaaten ausnutzen und so in gestaltender Weise auf ihre prozessualen Erfolgschancen einwirken.85 Wäre das internationale Privatrecht nicht vereinheitlicht, besteht die Möglichkeit, dass verschiedene Mitgliedstaaten ein und denselben Fall nach unterschiedlichen Rechtsordnungen beurteilen und damit zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Da aber das Ausnutzen derartiger Verzerrungen schon aus politischen Gründen nicht gewollt ist, muss zum einen der nationale Gesetzgeber harmonisierende Maßnahmen ergreifen und zum anderen der Unionsgesetzgeber im Rahmen seiner Kompetenzen mit weiteren Harmonisierungsmaßnahmen reagieren.86 So entwickelt die Europäisierung eine eigene Dynamik, die den Umfang der Europäischen Rechtsordnung weiter vergrößert. Unterstützung findet diese These in der Rom I-VO und Rom II-VO: Um die Verzerrungen aufgrund des „forum shoppings“ zusätzlich einzuschränken, macht der Unionsgesetzgeber in Erwägungsgrund 7 der Rom IVO87, der wortlautgleich in der Rom II-VO enthalten ist, deutlich, dass beide Verordnungen mit der EuGVO im Einklang stehen sollen.88

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Beispielhaft Bitter, IPRax 2008, 96 (97). Stadler, IPRax 2004, 2 (3). 82 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 3. 83 Zum Begriff siehe Patzina, in: MünchKommZPO, 5. Auflage 2016, § 12 Rn. 103; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Auflage 2006, § 58 VI, S. 635 f. 84 Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Auflage 2006, § 58 VI, S. 636. 85 Darstellung und weitere Beispiele bei Hess, Europäischen Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 5 f. 86 Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Auflage 2006, § 58 VI, S. 636 f. 87 Erwägungsgrund 7 der Rom I-VO: „Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (,Brüssel I‘) und der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (,Rom II‘) im Einklang stehen.“ 81

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

§ 4 Innere Ordnung des Europäischen Sekundärrechts Wie eben aufgezeigt wurde, ist das europäische Sekundärrecht einem ständigen Wachstum und Wandel unterworfen. Noch nicht beantwortet ist jedoch die Frage, ob diese dynamische Entwicklung des Sekundärrechts in sich geordnet erfolgt. Da im Sinne der einleitend dargestellten C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts […] im Lichte […] seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift“89

auslegt werden soll, stellt sich bei Analyse der Entwicklungen des Europäischen Sekundärrechts gezwungenermaßen die Frage nach dem Verhältnis, in dem die unterschiedlichen Rechtsakte und deren Vorschriften zueinanderstehen und vor allem fortschreitend entstehen und damit die Frage nach einer inneren Ordnung des Sekundärrechts. Erst im Anschluss kann geklärt werden, welchen Einfluss das neu hinzukommende Sekundärrecht auf das zuvor bereits erlassene Sekundärrecht haben könnte. Wird neues Sekundärrecht geschaffen, das im Widerspruch zum bereits bestehenden Recht steht, lässt sich dessen inneren Ordnung über die Relationsnormen des Unionsrechts lösen (dazu sogleich unter I.). Aufbauend auf den Wertungen dieser Relationsnormen muss die für diese Arbeit zentrale und schwieriger zu beantwortende Frage geklärt werden, welche grundsätzliche Verbindung zwischen den einzelnen Unionsrechtsakten besteht, wenn es zu keinem direkten Widerspruch zwischen altem und neuen Recht kommt. Dafür ist der systematische Aufbau der Unionsrechtsordnung zu untersuchen (dazu sogleich unter II.).

I. Relationsnormen des Unionsrechts Wird Sekundärrecht geschaffen, das im Widerspruch zu bestehendem Unionsrecht steht, finden auch in der Unionsrechtsordnung die allgemein anerkannten Relationsnormen Anwendung:90

88 von Hein, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, A.IV. I, Einl. Rom I-VO Rn. 21; ausführlich zum Auslegungszusammenhang der EuGVO mit der Rom I-VO: Bitter, IPRax 2008, 96 ff.; ausführlich zum Problem des „Italien torpedo“ und möglichen Lösungen: Bader, Koordinationsmethoden im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 395 ff. 89 Siehe oben Teil 1 § 2. 90 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 585; van der Krechove/ Ost, Legal System Between Order and Disorder, 1994, S. 52; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 423; zurückhaltender Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1987, S. 47.

§ 4 Innere Ordnung des Europäischen Sekundärrechts

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lex superior derogat legi inferiori (dazu unter 1.), lex posterior derogat legi priori (dazu unter 2.) und lex specialis derogat legi generali (dazu unter 3.).91 1. Die lex superior-Regel Die Anwendbarkeit der lex superior-Regel in der Unionsrechtsordnung folgt aus deren Stufenaufbau:92 Auf Grundlage des Primärrechts wird Sekundärrecht geschaffen. Widerspricht das Sekundärrecht dem höherrangigem Primärrecht geht das Primärrecht dem Sekundärrecht vor. Bei Anwendung der lex superior-Regel ist allerdings ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Regel in Bezug auf das Unionsrecht nicht zwingend zur Nichtigkeit des Sekundärrechts führt. Die Nichtigkeit als schärfste denkbare Sanktion wird vom EuGH nur als ultima ratio eingesetzt.93 Art. 264 Abs. 2 AEUVerlaubt es dem EuGH vielmehr, einzelne Regelungsinhalte eines mit dem Primärrecht in Konflikt stehenden Gesetzgebungsaktes aufrechtzuerhalten. 2. Die lex posterior-Regel Nach der lex posterior-Regel geht das jüngere Recht dem älteren Recht vor. Auch im Unionsrecht wird die Anwendung der lex posterior-Regel mit dem implizierten Willen des Gesetzgebers begründet, mit dem neuen Gesetz das alte, nunmehr konfligierende Gesetz abändern zu wollen.94 Allerdings findet die lex posteriorRegel anders als die dargestellte lex superior-Regel im Unionsrecht keine grundsätzliche Anwendung. Vielmehr ist vor Anwendung dieser Kollisionsregel jeweils einzelfallbezogen zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber den alten Rechtsakt mit dem neuen Rechtsakt ganz oder teilweise verdrängen wollte oder ob ein Alternativverhältnis zwischen den betroffenen Unionsrechtsakten gewollt war. Um etwaigen Anwendungsproblemen vorzubeugen, bestimmt der Unionsgesetzgeber das Verhältnis jüngeren Unionsrechts zu bereits bestehendem, älteren Unionsrechts regelmäßig durch eine explizite Regelung im neu geschaffenen Unionsrechtsakt.95 Nur wenn keine solchen intertemporalen Relationsvorschriften vorhanden sind, kommt die lex posterior-Regel zur Anwendung.96 91 Ausführlich zur Anwendung der Relationsregeln im Unionsrecht Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 423 ff., der darauf hinweist, dass ihr Verhältnis untereinander noch nicht geklärt ist. 92 Zurückhaltender Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 424. 93 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 425. 94 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 266; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 426. 95 Vgl. z. B. Art. 80 Satz 1 EuGVO n. F., der explizit bestimmt, dass die vorherige Fassung der EuGVO durch die neue EuGVO aufgehoben wird.

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

Eine wichtige Besonderheit ist dabei, dass die lex posterior-Regel nach überzeugender Auffassung im Unionsrecht nur dann zur Anwendung kommt, wenn sowohl der alte als auch der neue Rechtsakt vom gleichen Organ erlassen worden sind.97 Für alle übrigen Fälle muss eine Lösung gefunden werden, die dem jeweiligen Einzelfall gerecht wird. Weiter ist auch hinsichtlich der lex posterior-Regel zu beachten, dass die Nichtigkeit des älteren Rechtsaktes lediglich ultima ratio sein kann und gegebenenfalls über eine analoge Anwendung des Art. 264 Abs. 2 AEUV eine zeitliche Übergangsreglung zu entwickeln ist.98 3. Die lex specialis-Regel Die wichtigste, weil gebräuchlichste der drei genannten Relationsvorschriften ist die lex specialis-Regel.99 Anders als die übrigen Kollisionsregeln erfordert die lex specialis-Regel grundsätzlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den konfligierenden Normen, da der Rechtsanwender zunächst ermitteln muss, ob die Norm eines Rechtsaktes lex specialis zu einer Norm eines andern Rechtaktes ist.100 Dies ist regelmäßig dann der Fall wenn zwei Normen den gleichen Tatbestand regeln, mit einer der beiden Normen aber ein speziellerer Fall geregelt werden soll. In diesem Fall verdrängt die speziellere die allgemeinere Norm.101

96 GA Jääskinen, Schlussanträge vom 29.04.2010, Rs. C-72/09 (Établissements Rimbaud ./. Directeur général des impôts, Directeur des services fiscaux d’Aix-en-Provence), Slg. 2010, I10659, Rn. 28; GA Kokott, Schlussanträge vom 18.07.2007, C-275/06 (Promusicae ./. Telefónica de España SAU), Slg. 2008, I-271; GA Stix-Hackl, Schlussanträge vom 03.05.2001, Rs. C-145/99 (Kommission ./. Italien), Slg. 2002, I-2235, Rn. 49. 97 GA Kokott, Schlussanträge vom 14.10.2010, Rs. C-524/09 (Ville de Lyon ./. Caisse des dépôts et consignations), Slg. 2010, I-14115, Rn. 57; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 427. 98 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 427. 99 Vgl. etwa Trstenjak, Schlussanträge vom 07.10.2010, Rs. C-270/09 (Macdonald Resorts ./. The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs), Slg. 2010, I-13179, Rn. 66; GA Jääskinen, Schlussanträge vom 15.07.2010, Rs. C-345/09 (van Delft u. a. ./. College voor zorgverzekeringen), Slg. 2010, I-9879, Rn. 45; GA Jääskinen, Schlussanträge vom 29.04.2010, Rs. C-72/09 (Établissements Rimbaud ./. Directeur général des impôts, Directeur des services fiscaux d’Aix-en-Provence), Slg. 2010, I-10659, Rn. 28; GA Geelhoed, Schlussanträge vom 04.07.2002, Rs. C-221, 421 und 426/9900 und Rs. C-16/01 (Kommission u. a. ./. Österreich u. a.), Slg. 2003, I-1007, Rn. 48; EuGH vom 02.12.2009, Rs. C-89/08 P (Kommission ./. Ireland u. a.), Slg. 2009, I-11245, Rn. 14; EuGH vom 13.12.2001, Rs. C-481/99 (Heininger ./. Bayerische Hypo- und Vereinsbank AG), Slg. 2001, I-9965, Rn. 37; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 428. 100 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 428. 101 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 465.

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4. Verhältnis der Relationsnormen untereinander Abschließend stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Relationsnormen zueinander stehen.102 Dabei muss insbesondere geklärt werden, wie der Konflikt aufzulösen ist, wenn eine ältere, allgemeine und höherrangige Norm im Konflikt mit einer jüngeren, speziellen und niederrangigen Vorschrift steht. Insoweit ist davon auszugehen, dass im Unionsrecht grundsätzlich von einem Vorrang der lex superior-Regel auszugehen ist.103 Denn das Sekundärrecht als vom Primärrecht abgeleitetes Recht kann eine konfligierende primärrechtliche Regelung nie abändern bzw. verdrängen, selbst wenn es spezieller oder jünger ist. Vielmehr wäre die konfligierende Vorschrift des Sekundärrechts als ultima ratio für nichtig zu erklären. Zu einem anderen Ergebnis kann man hier nur kommen, wenn die jeweilige primärrechtliche Vorschrift selbst den Konflikt anders regelt.104 Das Verhältnis der lex specialis-Regel zur lex posterior-Regel kann hingegen nicht durch einen solch apodiktischen Befund aufgelöst werden, da es zwischen der lex specialis-Regel und der lex posterior-Regel kein klares Rangverhältnis gibt. Steht eine jüngere, allgemeinere Regelung mit einer älteren, spezielleren Regelung im Widerspruch, hat der Unionsgesetzgeber den möglichen Konflikt bei Erlass des jüngeren Rechtsaktes idealerweise erkannt und eine entsprechende Regelung zu ihrem Rangverhältnis gefasst. Sollte dies nicht der Fall sein, erscheint es zunächst problematisch, dem Unionsgesetzgeber den (konkludenten) Willen zu unterstellen, die ältere speziellere Vorschrift mittels der jüngeren, allgemeineren Vorschrift aufheben zu wollen.105 Vielmehr ist davon auszugehen, dass dieser Konflikt nur durch Auslegung aufgelöst werden kann.106 Es muss daher in jedem Einzelfall das Rangverhältnis der Regelungen bestimmt werden.107 5. Zusammenfassung Für den ersten Problemkreis der Widersprüche innerhalb der Unionsrechtsordnung lässt sich festhalten, dass sich diese unter Beachtung der aufgezeigten unionsrechtlichen Besonderheiten mit relativ einfachen Mitteln in den Griff bekommen lassen. Aufwändiger ist dabei lediglich der Umgang mit der lex specialis-Regel, da der Rechtsanwender eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den betroffenen 102

Ausführlich hierzu Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 429 f. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 429. 104 Dies ist etwa in Art. 290 Abs. 1 Satz 1 AEUV ausdrücklich vorgesehen, der bestimmt, dass im Fall einer Befugnisübertragung zum Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter auf die Kommission Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisse der Kommission ausdrücklich festgelegt werden. 105 Ein solch konkludenter Wille wird dem Gesetzgeber beispielsweise im englischen Recht unterstellt; Nachweise hierzu bei Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 429. 106 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 430. 107 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 430. 103

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

Rechtsakten nicht umgehen kann. Das Verhältnis der einzelnen Relationsnormen untereinander ist abgesehen von der lex superior-Regel, die stets Vorrang genießt, ebenfalls über eine Einzelfallauslegung zu lösen.

II. Systemischer Zusammenhang der Unionsrechtsordnung Mit Verweis auf den einleitend zitierten Auszug aus der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH108 stellt sich neben den Fällen, in denen es zu direkten Konflikten innerhalb der Unionsrechtsordnung kommt, auch die Frage, ob es einen grundsätzlichen systemischen Zusammenhang des Unionsrechts gibt. Bezogen auf den dieser Arbeit zugrunde gelegten Beispielfall,109 dem eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten, wird deutlich, wie maßgeblich ein solcher – wie auch immer gearteter – systemischer Zusammenhang des Unionsrechts ist: Nur wenn geklärt ist, ob eine, und wenn ja welche Verbindung zwischen der 4. KH-Richtlinie mit ihrem Erwägungsgrund 16a und Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) besteht, kann im nächsten Schritt darüber nachgedacht werden, wie, also über welche methodischen Grundsätze, der Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie bei der Auslegung der EuGVO heranzuziehen ist. Besteht keinerlei wie auch immer geartete Verbindung zwischen beiden Rechtsakten, wäre die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) unter Einbeziehung des Erwägungsgrunds 16a der 4. KH-Richtlinie schlicht falsch. Der Unionsgesetzgeber versuchte hier zwar zweifelsohne, über den Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie Einfluss auf das Auslegungsergebnis von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) zu nehmen. Mit dieser bloßen Absicht ist aber noch nicht geklärt, warum der Erwägungsgrund bei der Auslegung von Vorschriften der EuGVO überhaupt zu beachten ist. Immerhin steht dem Unionsgesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit offen, die EuGVO entsprechend zu ändern, um seinem Willen (eindeutige) Geltung zu verschaffen. Die einzige Verbindung, mit der es dem Rechtsanwender tatsächlich möglich wäre, dem Willen des Unionsgesetzgebers aus dem Jahr 2005 zu entsprechen und den Erwägungsgrund 16a bei Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) heranzuziehen, wäre somit eine systemische Verknüpfung des gesamten Unionsrechts in Form einer inneren Ordnung.110 108

Siehe oben Teil 1 § 2. Siehe oben Teil 1 § 3 I. 110 Nach der Begrifflichkeit von Heck, der zwischen einem „äußerem“ und einem „inneren“ System unterscheidet, stellt sich hier die Frage nach einem „inneren“ System des Unionsrechts. Mit dem „äußeren“ System beschreibt Heck lediglich die grundsätzliche Gliederung einer Rechtsordnung in Sach- und Themengebiete, vgl. Heck, Begriffsbildung und Interessensju109

§ 4 Innere Ordnung des Europäischen Sekundärrechts

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1. Vertikale Verknüpfung Eine derartige systemische Verknüpfung gibt es zweifelsohne auf vertikaler Ebene. Ähnlich wie im Fall der vorstehend dargestellten lex superior-Regel lässt sich eine solche über die Normenhierarchie auf der vertikalen Achse noch verhältnismäßig einfach nachweisen.111 Es steht letztlich außer Frage, dass das Sekundärrecht möglichst so auszulegen ist, dass es mit höherrangigem Recht wie dem Primärrecht oder den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Union vereinbar ist.112 Lässt sich ein solches Auslegungsergebnis nicht ermitteln, kommt es zu einem Konflikt zwischen Sekundärrecht und höherrangigem Recht, der im letztmöglichen Fall (ultima ratio) über die vorstehend dargestellte lex superior-Regel zur Nichtigkeit des Sekundärrechtsakts führt.113 2. Horizontale Verknüpfung Neben einer vertikalen Verknüpfung stellt sich zudem die Frage nach einer horizontalen Verknüpfung, also einer Verknüpfung zwischen Rechtsakten des Unionsrechts auf der gleichen Hierarchieebene. Denn für eine Auslegung am Entwicklungsstand des Unionsrechts und letztlich einer Begründung des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten über den Erwägungsgrund 16a der 4. KHRichtlinie114 bedarf es einer solchen horizontalen Verknüpfung der Rechtsakte und Regelungen des Sekundärrechts. Diese ist schwieriger zu begründen als die vorstehend dargestellte vertikale Verknüpfung,115 da insoweit nicht auf die Normenhierarchie zurückgegriffen werden kann. Dementsprechend wird eine horizontale Verknüpfung im Unionsrecht auch von zahlreichen Stimmen in der Literatur abgelehnt.116 Vorgebracht wird von diesen Stimmen insbesondere, dass das Sekunrisprudenz, 1932, S. 139 ff. Vgl. auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 19; vgl. auch Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 407. 111 Ausführlich hierzu Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 440 ff. 112 So die ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z. B.: EuGH vom 12.12.1983, Rs. 218/ 82 (Kommission ./. Rat), Slg. 1983, I-4063, Rn. 15; EuGH vom 25.11.1986, Rs. 201 und 202/85 (Klensch u. a. ./. Staatssekretär Für Landwirtschaft und Weinbau), Slg. 1986, 3477, Rn. 21; EuGH vom 21.03.1991, Rs. C-314/89 (Rauh ./. Hauptzollamt Nürnberg-Fürth), Slg. 1991, I1647, Rn. 17; EuGH vom 04.10.2007, Rs. C-457/05 (Schutzverband der Spirituosen Industrie ./. Diageo Deutschland GmbH), Slg. 2007, I-8075, Rn. 22; EuGH vom 10.07.2008, Rs. C-413/06 P (Bertelsmann u. a. ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften u. a.), Slg. 2008, I-4951, Rn. 174. 113 Siehe oben Teil 2 § 4 I. 1.; siehe hierzu ausführlich Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 440 ff. 114 Siehe oben § 3 I. 3. d). 115 Kritisch hierzu zum Beispiel Höpfner/Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1 (12). 116 Vgl. zum Beispiel: Höpfner/Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1 (12); vgl. (wenn auch etwas veraltet) Lutter, JZ 1992, 593 (603); Hummer/

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

därrecht hierzu nicht systemisch genug angelegt und die Unzahl von einzelnen Regelungen nur ansatzweise aufeinander abgestimmt sei.117 Bei einer differenzierteren Betrachtungsweise zeichnet sich aber ein anderes Bild: a) Verhältnis von neu geschaffenem zu bestehendem Unionsrecht Zunächst lässt sich die Frage nach einer horizontalen Verknüpfung des Sekundärrechts an den Stellen relativ einfach beantworten, an denen der Unionsgesetzgeber die Kohärenz zwischen den Rechtsakten ausdrücklich geregelt hat. Regelungen dieser Art, beispielsweise in den Erwägungsgründen oder in den neu hinzukommenden Rechtsakten selbst, bieten dem Unionsgesetzgeber die Möglichkeit, die fortschreitende Entwicklung des Sekundärrechts unmittelbar zu steuern und ein systematischeres Wachstum des Sekundärrechts sicherzustellen. So wird in dem bereits im Exkurs zum „Spillover-Effekt“ angeführten Erwägungsgrund 7 der Rom I-VO und der Rom II-VO hervorgehoben,118 dass der materielle Anwendungsbereich der Verordnungen im Einklang mit der EuGVO stehen soll.119 Oder es wird in Erwägungsgrund 17 der Rom I-VO vorgegeben, dass die Begriffe „Einbringung von Dienstleistungen“ und „Verkauf beweglicher Sachen“ so ausgelegt werden sollen, wie im Rahmen des Art. 7 EuGVO (Art. 5 EuGVO a. F.). Als weiteres Beispiel findet sich im Erwägungsgrund 16 der EuBagatellVO der Hinweis, dass der Begriff der „Widerklage“ im Sinne des Art. 8 Nr. 3 EuGVO (Art. 6 Nr. 3 EuGVO a. F.) als Widerklage verstanden werden soll, „die auf denselben Vertrag oder Sachverhalt wie die Klage selbst gestützt wird“.120 Weiter grenzt der Unionsgesetzgeber beispielsweise in der Brüssel IIa-VO den Anwendungsbereich dieser Verordnung vom Anwendungsbereich der EuGVO wie folgt ab:121 „Das Vermögen des Kindes betreffende Maßnahmen, die nicht den Schutz des Kindes betreffen, sollten weiterhin unter die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen fallen.“122

Obwexer, EuZW 1997, 295; weitere Vertreter dieser Meinung aufgelistet bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 54 Fn. 14. 117 Vgl. Höpfner/Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1 (12); vgl. Lutter, JZ 1992, 593 (603); Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295; weitere Vertreter dieser Meinung aufgelistet bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 54 Fn. 14; ausührlichen zu den Methoden der inhaltlichen Koordination: Bader, Koordinationsmethoden im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 69 ff. 118 Siehe oben Teil 2 § 3; siehe hierzu auch Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 74. 119 Vgl. hierzu Bitter, IPRax 2008, 96 ff. 120 ABl. EU vom 31.07.2007, L 199/2. 121 ABl. EG vom 27.11.2003, L 338/3. 122 Weitere Beispiele bei Hess, IPRax 2006, 348 (355).

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Regelmäßig werden die Verzahnungen zwischen den einzelnen Sekundärrechtsakten auch in den Rechtsakt selbst eingebaut. So sind beispielsweise die EuZustVO, die EuGVO und die Brüssel IIa-VO an verschiedenen Punkten miteinander verknüpft.123 Dies gilt zum einen für die Fälle der Nichteinlassung des Beklagten und zum anderen für die Verzichtbarkeit der Zustellung, vgl. Art. 28 Abs. 3 EuGVO (Art. 26 Abs. 3 EuGVO a. F.) und Art. 18 Abs. 3 Brüssel IIa-VO, die dazu jeweils auf Art. 19 EuZustVO verweisen.124 b) Verhältnis von bestehendem zu neu geschaffenem Unionsrecht Eine ausdrückliche Regelung der Kohärenz zwischen verschiedenen Rechtsakten ist freilich nur hinsichtlich der Rolle und Funktion des neu hinzukommenden Rechts im Verhältnis zum bereits bestehenden Recht möglich. Offen bleibt zunächst, welche systematische Verbindung besteht, wenn der Unionsgesetzgeber keine ausdrückliche Regelung zu einem systematischen Zusammenhang schafft. Fraglich ist zudem, ob eine solche horizontale Verbindung nicht nur in Bezug auf das neu geschaffene Sekundärrecht besteht, dessen Vorschriften unter Beachtung des älteren, bereits bestehenden Sekundärrechts ausgelegt werden müssten, sondern auch in die entgegengesetzte Richtung dergestalt, dass das neu geschaffene Recht Einfluss auf die Auslegung des bereits bestehenden Rechts haben könnte. Wendet man sich zunächst der zweiten Frage zu, könnte man gegen eine solche Verbindung grundsätzlich einwenden, dass der Unionsgesetzgeber, wenn er eine Verbindung wollte, bestehende Rechtsakte entsprechend ändern und Kohärenzen ausdrücklich hätte regeln können; tut er dies nicht, ist sein entsprechender Wille zu respektieren. So argumentieren auch die Gegner der heute herrschenden Meinung zur Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.).125 Hinsichtlich des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten126 hätte der Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie schlicht in die Erwägungsgründe der EuGVO aufgenommen werden können – insbesondere im Zuge der Neufassung der EuGVO im Jahr 2012 – womit keine Zweifel mehr an einem eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten bestehen würden. Da dies aber nicht geschehen ist, stellt sich die Frage, wie die Vertreter der heute herrschenden Meinung in ihrer Begründung des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten die Brücke zum besagten Erwägungsgrund schlagen konnten. Zwar knüpft der Erwägungsgrund direkt an die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) an und stellt so auch eine Kohärenz zu den Vorschriften der EuGVO 123 124 125 126

Heiderhoff, in: Rauscher, Bearbeitung 2010, Einl. EG-ZustVO 2007, Rn. 15. Heiderhoff, in: Rauscher, Bearbeitung 2010, Einl. EG-ZustVO 2007, Rn. 15. Siehe oben Teil 1 § 2 II. Siehe oben Teil 1 § 3 II.

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

her. Hier geht es aber um die umgekehrte Wirkungsrichtung: Nicht die EuGVO soll bei Auslegung des Erwägungsgrundes 16a eine Rolle spielen, sondern der Erwägungsgrund 16a bei Auslegung der EuGVO. Einzige Verbindung zwischen beiden ist das Rechtssystem der Europäischen Union selbst. Die Vertreter der heute herrschenden Meinung legen daher Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) als Teil eines ganzheitlichen Systems aus und kommen so über die Systemanforderungen der Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts von den Vorschriften der EuGVO zum Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie.127 Entsprechend der Mindestanforderungen eines so aufgebauten Systems, dass sich die verschiedenen Rechtssätze nicht widersprechen dürfen,128 sei daher auch bei Auslegung der EuGVO dem Erwägungsgrund 16a Beachtung zu schenken, wobei er zumindest in die im Rahmen der Auslegung vorzunehmende Abwägung mit einbeziehen ist.129 Diese Auffassung beschreitet mit ihrem Systemverständnis des Europäischen Sekundärrechts nicht völlig neue Wege; auch der EuGH macht in der C.I.L.F.I.T.Entscheidung deutlich, dass die Unionsrechtsordnung eine Einheit ist, in deren Lichte die einzelnen Vorschriften auszulegen sind.130 Dem folgend hat die systematische Interpretation insbesondere mit fortschreitender Entwicklung des Sekundärrechts zwischenzeitlich eine wichtige Rolle eingenommen.131 Auch vom deutschen Bundesverfassungsgericht wird beispielweise in der Lissabon-Entscheidung vertreten, dass die Unionsrechtsordnung nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung als Systemganzes zu begreifen sei.132 Dieses Systemverständnis findet in der Literatur zunehmenden Zuspruch133 – und zwar unabhängig von der 127

In Bezug auf den Erwägungsgrund 16a wohl mit gleichem Ergebnis Kropholler/ von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 73. 128 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 16 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 6. 129 Zur Entwicklung der Meinungen siehe einleitend unter Teil 1 § 2 I. und II. 130 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, Rn. 16; siehe auch bereites einleitend unter Teil 1 § 2. In diesem Sinne auch EuGH vom 05.07.2012, Rs. C-49/11 (Content Services Ltd. ./. Bundesarbeitskammer), Slg. 2012, I-0000, Rn. 44; EuGH vom 21.07.2011, Rs. C-150/10 (Bureau d’intervention et de restitution belge ./. Beneo-Orafti), Slg. 2011, I-0000, Rn. 41 ff.; EuGH vom 24.06.2010, Rs. C375/08 (Luigi Pontini), Slg. 2010, I-5767, Rn. 64 ff.; EuGH vom 18.12.2008, Rs. C-306/07 (Ruben Andersen), Slg. 2008, I-10279, Rn. 41 ff. 131 So z. B. EuGH vom 05.07.2012, Rs. C-49/11 (Content Services Ltd.), Slg. 2012, I-0000, Rn. 44; EuGH vom 21.07.2011, Rs. C-150/10 (Beneo-Orafti), Slg. 2011, I-0000, Rn. 41 ff.; EuGH vom 24.06.2010, Rs. C-375/08 (Luigi Pontini), Slg. 2010, I-5767, Rn. 64 ff.; EuGH vom 18.12.2008, Rs. C-306/07 (Ruben Andersen ./. Kommunernes Landsforening), Slg. 2008, I10279, Rn. 41 ff. 132 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009, BVerfGE 123, 267, Rn. 337 („Einheit von der Gemeinschaftsrechtsordnung“). 133 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 70, der die Rechtseinheit als einen zentralen Leitgedanken der Methodenlehre des internationalen Einheitsrechts ansieht; Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 52 ff.; so auch:

§ 4 Innere Ordnung des Europäischen Sekundärrechts

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Auslegung von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.). Kleinster gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Lehrmeinungen ist dabei der Ausgangspunkt, dass die Rechtsordnung der Europäischen Union zumindest ein aufeinander abgestimmtes, in sich schlüssiges oder zumindest harmonisierbares Ganzes darstellen soll,134 so dass bei Anwendung des Rechts eine Lösung zu suchen ist, die mit dem übrigen Sekundärrecht sowie dem höherrangigen Primärrecht im Einklang steht.135 Diesem Systemverständnis ist zuzustimmen, da insbesondere der dagegen vorgebrachte Haupteinwand, es handle sich um ein unvollständiges System136 welches einer Systembildung nicht zugänglich sei,137 nicht verfängt. Denn auch für eine Teilrechtsordnung wie dem fragmentarischen Sekundärrecht, können die Systemanforderungen nach Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts gelten, lässt sich eine Gruppe von Rechtsakten, welche von der Gesamtheit der Regelungsfragen eines Lebensbereiches nur einen kleinen Ausschnitt erfasst, jedenfalls daraufhin untersuchen, ob sie nach Prinzipien geordnet ist.138 So ist beispielsweise Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) als prozessualer Arm des europäischen Verkehrsopferschutzes unter Einbezug der Entwicklungen in diesem Rechtsgebiet auszulegen, um die Folgerichtigkeit des Rechts zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere dann, wenn das systematisch gestützte Ergebnis, wie im Fall des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.), vom Wortlaut der auszulegenden Vorschriften umfasst ist.139 Wichtig bei der Anwendung dieser Systemanforderungen auf das Sekundärrecht ist freilich, dass der Rechtsanwender die Unterschiede der geregelten Rechtsgebiete beachtet und insoweit zwischen den unterschiedlichen Teilregelungen differenziert.140 Richtig ist daher auch der Einwand von Kropholler/von Hein, die in Bezug H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (877). Allgemein zum Begriff der Einheit der Rechtsordnung: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 16 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage 2012, S. 49; Looschelders/W.Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 180. 134 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 253. 135 EuGH vom 19.11.2009, Rs. C-402/07 und C-432/07 (Sturgeon ./. Condor Flugdienst GmbH), Slg. 2009, I-10923, Rn. 48 ff.; EuGH vom 14.12.2004, Rs. C-210/03 (Swedish Match u. a. ./. Secretary of State for Health), Slg. 2004, I-11893, Rn. 70; EuGH vom 10.01.2006, Rs. C-344/04 (IATA und ELFAA ./. Department for Transport), Slg. 2006, I-403, Rn. 95; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage 2012, S. 49. 136 So zum Beispiel Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295; weitere Vertreter dieser Meinung sind aufgelistet bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 54 Fn. 14. 137 Vollständige Darstellung der Einwände gegen eine Systembildung bezogen auf das Europäische Privatrecht bei Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 54 ff. 138 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 58. 139 So bereits einleitend unter Teil 1 § 2. 140 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 58.

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Teil 2: Die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts

auf die EuGVO von einer schematischen Übertragung von in anderen sachlichen Regelungszusammenhängen entwickelten Begrifflichkeiten warnen.141 So hat es beispielsweise auch der EuGH in der Entscheidung Falco Privatstiftung ausdrücklich abgelehnt, den Begriff der „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne des Art. 50 EGV (heute Art. 57 AEUV) und im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinien zu definieren.142 Nach Auffassung des EuGH verlangt in diesem Fall weder der Regelungszusammenhang noch die Systematik der EuGVO nach einer einheitlichen Auslegung. Auch diese besondere Vorsicht bei der Anwendung des Systemgedankens spricht aber nicht gegen ein Verständnis des Sekundärrechts als ein Systemganzes. Vielmehr macht er deutlich, dass der Grundsatz von der „Relativität der Rechtsbegriffe“ auch und im Besonderen für das Europäische Sekundärrecht gilt.143 Aufgrund der Geltung des Grundsatzes von Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts ist geklärt, welche systematische Verbindung besteht, wenn der Unionsgesetzgeber keine ausdrückliche Regelung hinsichtlich des systematischen Zusammenhangs des neu hinzukommenden Sekundärrechts schafft.

§ 5 Zusammenfassung Durch die vorstehenden und am Beispiel des Europäischen Zivilprozessrechts aufgezeigten Entwicklungen des Europäischen Sekundärrechts wird deutlich, dass die Dynamik ein Strutkurmerkmal dieser supranationalen Rechtsordnung ist, die auf eine immer weiter fortschreitende Integration der Völker Europas abzielt und zugleich deren Konsequenz ist. Jeder Rechtsakt ist Teil eines immer weiter fortschreitenden Prozesses. Gerade im Europäischen Zivilprozessrecht hat dieser Prozess aufgrund der umfassenden Rechtssetzungskompetenz der Europäischen Union bei der Schaffung eines Europäischen Justizraums zur Folge, dass das gesamte Rechtsgebiet rasant wächst und die autonomen Regelungen innerhalb der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zunehmend verdrängt werden. Darüber hinaus wächst mit der fortschreitenden Vergemeinschaftung der Druck auf den Unionsgesetzgeber und die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten, auch die übrigen Bereiche zu vergemeinschaften. Denn neu geschaffene Rechtsgebiete machen oftmals weitere Rechtsangleichungen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene erforderlich, um den durch die schrittweise stattfindende Europäisierung ausgelösten Verzerrungen entgegenzuwirken. 141

Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 73. EuGH vom 23.04.2004, Rs. C-533/07 (Falco Privatstiftung), Slg. 2009, I-3327, Rn. 33 ff.; siehe auch Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 73. 143 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 73; in diesem Sinne auch Hess: „Die Rechtsakt übergreifende systematische Interpretation hängt letztlich von der inhaltlichen Vergleichbarkeit der jeweiligen Vorschriften ab […]“, Hess, IPRax 2006, 348 (355). 142

§ 5 Zusammenfassung

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Diese Eigendynamik der Europäisierung vergrößert Umfang und Tempo der Integration zusätzlich. So wird aus den anfänglichen „Inseln des Rechts“144 nach und nach ein zusammenhängendes System;145 ein System, das aber nicht zusammenhangslos vor sich „hinwächst“, sondern einer inneren Ordnung unterliegt, die vom Grundsatz der Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts geprägt ist. Neues und bereits bestehendes Sekundärrecht stehen in einem wechselseitigen, systematischen Zusammenhang, der eine „dynamische“ Auslegung im Sinne der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung146 grundsätzlich möglich erscheinen lässt.

144 145 146

Kötz, in: FS für Zweigert, 1981, S. 481 (485); ders., RabelsZ 50 (1986), S. 1 (12). In diesem Sinne auch Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (529). Siehe oben Teil 1 § 2.

Teil 3

Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts Bevor mit der Analyse des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 2 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.)1 begonnen werden kann2 und im darauffolgenden Schritt abstrakt die Grundsätze im methodischen Umgang mit der Dynamik des Sekundärrechts erarbeitet werden können,3 muss zunächst geklärt werden, welche Werkzeuge dem Rechtsanwender bei der Anwendung und Auslegung des Europäischen Sekundärrechts grundsätzlich zur Verfügung stehen. Grundannahme der vorliegenden Arbeit ist dabei, dass der Prozess der Rechtsfindung, und damit auch der Auslegung, auch auf unionsrechtlicher Ebene – trotz der dargestellten Dynamik – ein kontrollierbarer und überprüfbarer Vorgang ist,4 dem eine abstrakte Methodik zu Grunde liegt. Denn würde, wie von manchen Stimmen in der Literatur kritisiert,5 die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere durch den EuGH, ohnehin nur praktischen Erwägungen folgen, wären Ausführungen zu einer Methodik des Unionsrechts gänzlich hinfällig. Auf eine umfassende Darstellung der Methodenlehre des Unionsrechts soll dabei verzichtet werden; insoweit wird auf die mittlerweile in großer Zahl bestehenden Monographien und sonstigen Publikationen verwiesen.6 Vielmehr wird der status quo der Methodik des Unionsrechts in diesem Teil 3 lediglich knapp erörtert, um einen Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen zu schaffen. § 1 enthält eine kurze Einführung in die Grundsätze der Methodik des Unionsrechts. Da die Rechtsprechung des EuGH bei der Entwicklung von Grundsätzen zum Umgang mit der dynamischen Auslegung des Unionsrechts eine maßgebliche Rolle spielt und die Idee für diese Arbeit auf der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH

1

Siehe oben Teil 1 § 3 I. Siehe unten Teil 4. 3 Siehe unten Teil 5. 4 So auch Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 44. 5 Vgl. etwa Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 75 f., 143; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 58 ff., 130; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 7 Rn. 18; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733 (738). 6 Anstelle vieler siehe Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013; weitere Beispiele siebe oben unter Fn. 9. 2

§ 1 Einführung in die Methodik des Unionsrechts

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gründet,7 wird in § 2 die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts besprochen, bevor in § 3 die methodischen Werkzeuge zur Anwendung und Auslegung des Europäischen Sekundärrechts dargestellt werden.

§ 1 Einführung in die Methodik des Unionsrechts I. Begriffsbestimmung 1. „Methode“, „Methodenlehre“ und „Methodik“ Der aus dem griechischen he methodos, „einem Weg nach“ gehen, abgeleitete Begriff der „Methode“, bezeichnet ein Modell des reflektierten Vorgehens.8 Davon ausgehend ist es weniger das Ziel der rechtswissenschaftlichen „Methodenlehre“, eine Aussage über das korrekte Ergebnis einer auszulegenden Norm zu treffen, als vielmehr, dem Rechtsanwender die erkenntnisleitenden Elemente der Rechtsgewinnung an die Hand zu geben.9 Man könnte insoweit auch von einer „Begründungslehre“ sprechen,10 die sich als Metadisziplin der Rechtswissenschaft nicht mit dem Inhalt und Ergebnis einer bestimmten Norm befasst, sondern mit der Art und Weise des Rechtsgewinnungsprozesses.11 Neben der Anwendung und Auslegung einer Norm ist von dieser Metadisziplin der Rechtswissenschaft nach dem allgemeinen Verständnis auch das Ermitteln der streitentscheidenden Norm umfasst.12 Die von der Methodenlehre entwickelte „Methodik“ gibt somit ein möglichst präzises Verfahren vor, über das sichere Aussagen zur Anwendung und Auslegung des geltenden Rechts ermöglicht werden.13 2. „Anwendung“ und „Auslegung“ des Rechts Unter dem Begriff „Anwendung“ wird in der vorliegenden Arbeit die Subsumtion des konkreten Lebenssachverhalts unter eine bestimmte Norm verstanden. „Auslegung“ definiert die von der Methodik geleitete Ermittlung des Sinngehalts einer 7

Teil 1 § 2. Henninger, Europäisches Privatecht und Methode, 2009, S. 41; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 5. 9 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 44 f. 10 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 15. 11 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 44. 12 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 15. 13 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 15; Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage 2016, S. 39; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 80; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 244; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage 1999, Rn. 6 ff. 8

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

Norm, wobei sich diese Interpretation in der Regel im Rahmen des üblichen Wortlauts bewegt, ihre Grenze jedenfalls im möglichen Wortlaut findet.14

II. Grundlagen der Methodenlehre 1. Notwendigkeit eines methodischen Vorgehens Mittlerweile ist es allgemein anerkannt, dass jede Rechtsordnung ihrer eigenen Methodik der Rechtsanwendung bedarf,15 welche die Regeln und Prinzipien für die Anwendung und Auslegung des Rechts vorgibt. Dabei ist das methodische Vorgehen des Rechtsanwenders regelmäßig schon aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten.16 a) Notwendigkeit einer Methodik im deutschen Recht Im deutschen Recht folgt die Notwendigkeit einer juristischen Methodik bereits aus der Gesetzesbindung des Richters nach Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG. Die Bindung an Recht und Gesetz führt nicht zu einer Bindung an dessen Buchstaben und einem daraus folgendem Zwang zur wörtlichen Auslegung,17 sondern zu einer Bindung an den Sinn und Zweck des Gesetzes.18 Integraler Bestandteil der den Richtern zugewiesenen Aufgabe der Rechtsprechung ist es daher, im Wege der Auslegung den Sinn und Zweck einer Gesetzesbestimmung unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung zu erforschen und auszulegen.19 Hinzu kommt, dass die Lückenlosigkeit der positiv staatlichen Rechtsordnung ein Zustand ist, der praktisch unerreichbar ist.20 Neben der Auslegung bestehender Gesetze hat die Rechtsprechung daher die Funktion, Lücken im Wege der „schöpferischen Rechtsfindung“ zu füllen.21 Ein dritter Aspekt der Rechtsprechung22 ist die 14

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 366; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, 2009, S. 21. 15 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 61; Schmidt, RabelsZ 59 (1995), S. 569 (572 f.). 16 In diesem Sinne auch Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 1. 17 BVerfG, Beschl. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221 (1225). 18 Hillgruber, in: Maunz/Düring, GG, 86. Ergänzungslieferung 2019, Art. 97 Rn. 55. 19 Hillgruber, in: Maunz/Düring, GG, 86. Ergänzungslieferung 2019, Art. 97 Rn. 55. 20 BVerfG, Beschl. v. 14.02. 1973 – 1 BvR 112/65, NJW 1221 (1225). 21 BVerfG, Beschl. v. 14.02. 1973 – 1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221 (1225); BVerfG, Beschluss v. 18.12.1953 – 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225 (242) = NJW 1954, 65; BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (286 ff.) = NJW 1973, 1221; BVerfG, 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94; BVerfGE 96, 375 (393 ff.) = NJW 1998, 519; BVerfG, Beschluss v. 22.02.2011 – 1 BvR 84/74, BVerfGE 128, 193 (210 f.) = NJW 2011, 836; kritisch zum Begriff der „schöpferischen Rechtsfindung“ und den Begriff der „Rechts-

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richterliche Gehorsamsverweigerung, die Auslegung „contra legem“. In diesem Fall verdrängen und ersetzen Gerichte gesetzliche Wertungen durch richterliche Eigenwertung.23 Stellt man zunächst die Diskussion über die grundsätzliche Zulässigkeit des Richterrechts praeter oder contra legem hinten an,24 muss für alle Aspekte der Rechtsprechung der Grundsatz gelten, dass die Richter aufgrund der Rechtsbindung nach Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG bei der Wahl der jeweiligen Methode der Auslegung und Fortbildung des Rechts nicht frei sein können.25 Vielmehr hat der einzelne Richter bei der Erfüllung seiner Aufgabe eine Methode zu wählen, die mit der Verfassung und ihren Grundsätzen, insbesondere denen des Art. 20 Abs. 3 GG – dem Vorrang des Gesetzes, dem Demokratieprinzip und der rechtsstaatlich gebotenen Gewaltenteilung – vereinbar ist.26 Jedes andere Vorgehen würde einen Verstoß gegen das Grundgesetz darstellen.27 Eine Methodik ist in Deutschland somit verfassungsrechtlich geboten. Deutlich wird dies am Beispiel der Rechtsfortbildung im Fall einer Regelungslücke: Wäre es dem Richter gestattet, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung ausnahmslos jede Lücke im Gesetz zu schließen, würde die Abgrenzung zwischen Judikative und Legislative aufgehoben. Der Richter würde sich zum Gesetzgeber aufschwingen.28 Dies wäre mit dem Prinzip der Gewaltenteilung nicht vereinbar. Die herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung geht daher davon aus, dass es dem Richter – um die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu wahren – nur dann gestattet ist, eine Lücke im Wege der Rechtsfortbildung zu schließen, wenn das Gesetz planwidrig eine Regelung vermissen lässt, obwohl die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit eine solche Regelung fordert.29 In diesem Fall setzt der Richter nicht primär fortbildung“ bevorzugend: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 10. Auflage 2018, S. 520; siehe hierzu auch Wiedemann, NJW 2014, 2407 (2408). 22 Siehe hierzu auch Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage 2016, S. 176. 23 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 10. Auflage 2018, S. 495; grundlegend zur Rechtsfindung contra legem: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2005. 24 Darstellung des Meinungsstreits mit ablehnendem Ergebnis von Hillgruber, in: Maunz/ Düring, GG, 83. Ergänzungslieferung 2019, Art. 97 Rn. 63 ff. 25 Hillgruber, in: Maunz/Düring, GG, 86. Ergänzungslieferung 2019, Art. 97 Rn. 55; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 10. Auflage 2018, S. 419. 26 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 10. Auflage 2018, S. 419. 27 BVerfG, Beschluss v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (280); BVerfG, Beschluss v. 11.10.1978, 1 BvR 84/74, BVerfGE 49, 304 (314); vgl. auch Looschelders/ W. Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 1. 28 Wiedemann, NJW 2014, 2407 (2408); Baldus, Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 3 Rn. 1 29 Vgl. grundlegend Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, S. 39; ständige Rechtsprechung, vgl. zum Beispiel: BGH, Urt. v. 22.04.2010 – I ZR 89/08, BGHZ 185, 224 (240) = GRUR 2010, 718; BGH, Urt. v. 17.11.2009 – XR 36/09, BGHZ 183, 169 (177) = NJW

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

den eigenen rechtspolitischen Gedanken um, sondern entwickelt die Grundgedanken der Rechtsordnung und ihre Wertvorstellungen mit systemimmanenten Mitteln weiter.30 b) Notwendigkeit einer Methodik im Unionsrecht Für die Rechtsordnung der Europäischen Union bedarf es ebenfalls einer eigenen Methodik der Rechtsanwendung. Hinter diesem Erfordernis stehen letztlich ähnliche Grundsätze wie im deutschen Recht.31 Die Europäische Union ist zwar kein Staat,32 sie weist aber parastaatliche Strukturen auf, die eine auf diese Strukturen angepasste Übertragung rechtsstaatlicher Grundsätze erfordern. Besonderheiten ergeben sich aber aufgrund der Tatsache, dass sich die Gründungsverträge der Europäischen Union an einigen Stellen von einer nationalstaatlichen Verfassung unterscheiden. So wird beispielsweise das Gewaltenteilungsprinzip im Rahmen der Europäischen Union als „Prinzip der Funktionsteilung“ bezeichnet.33 Zwar werden die Funktionen der Europäischen Union im Sinne eines Systems der checks and balances von verschiedenen Organen ausgeübt; Fundament dieses Systems ist aber keine klare Aufteilung zwischen den Staatsfunktionen der Legislative, Exekutive und Judikative, sondern das Prinzip der Wahrung des institutionellen Gleichgewichts.34 Danach werden die Funktionen der Union von verschiedenen Organen ausgeübt, die bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zusammenwirken;35 den Organen der Europäischen Union werden Kompetenzen aus allen drei Staatsfunktionen überantwortet. Beispielsweise verfügt der Rat als (Mit-)Rechtsetzungsorgan auch über exekutive Befugnisse oder

2010, 1144; BGH, Urt. v. 28.01.2009 – VIII ZR 8/08, BGHZ 179, 289 (297) = NJW 2009, 1200; BGH, Urt. v. 26.11.2008 – VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 (35) = NJW 2009, 427; BGH, Urt. v. 16.05.2006 – XI ZR 6/04, BGHZ 168, 1 (8) = NJW 2006, 1187; BGH, Urt. v. 13.11.2001 – X ZR 134/00, BGHZ 149, 165 (174) = GRUR 2002, 238; Wiedemann, NJW 2014, 2407 (2408). 30 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 290 mit Verweis auf BVerfG, Urt. v. 14.02.1973 – 1 BvR 112/65; BVerfGE 34, 269 (292). 31 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 18, der zur Notwendigkeit einer juristischen Methodenlehre Folgendes ausführt: „Nur die Berufung auf dem jeweiligen Fall vorausliegende, abstrakte Regeln kann dem formalen Gerechtigkeitspostulat der Gleichbehandlung genügen, das auf Aristoteles zurückgeht und allen westlichen Rechtsordnungen als ihr begrifflicher Kern zugrunde liegt. Denn das Konzept einer Rechtsordnung setzt zumindest den mit ihr erhobenen Anspruch einer abstrakten Behandlung der Einzelfälle und damit einer gewissen Regelhaftigkeit voraus.“ 32 Hierfür fehlt es nach der von der allgemeinen Staatslehre und dem Völkerrecht zugrunde gelegten Drei-Elementen-Lehre an einem europäischen Staatsvolk; ausführlich hierzu Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 1 EUV Rn. 10. 33 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 13 EUV Rn. 9. 34 Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 13 EUV Rn. 23. 35 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 13 EUV Rn. 9; Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 11. Auflage 2018, Rn. 204 ff.

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die Kommission neben ihren exekutiven Kompetenzen auch über Befugnisse zur Rechtssetzung.36 Trotz dieser Besonderheiten steht aber auch für die Unionsrechtsordnung fest, dass es nicht dem Rechtsanwender überlassen werden kann,37 die Methode zur Rechtsauslegung und Rechtsfindung frei zu wählen, da andernfalls die vertraglich vereinbarte Kompetenzverteilung aufgehoben werden würde. Eine eigene Methodik des Unionsrechts ist daher neben den sonstigen rechtstaatlichen Erwägungen wie etwa dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Grundsatz der Rechtssicherheit notwendig, um das institutionelle Gleichgewicht der Europäischen Union zu wahren. 2. Funktionen der Methodik Aus den vorstehend dargestellten verfassungsrechtlichen beziehungsweise primärrechtlichen Erwägungen sowie den genannten sonstigen rechtsstaatlichen Erwägungen lassen sich auch die allgemeinen Funktionen einer Methodik – sowohl für das deutsche Recht als auch für das Unionsrecht – ableiten.38 a) Allgemeine Funktionen der Methodik Zunächst wird durch ein methodisches Vorgehen die Rechtsgewinnung objektiviert.39 Die subjektiven Präferenzen des Rechtsanwenders sollen so weitestgehend ausgeräumt beziehungsweise im Rahmen der Rechtsanwendungsbegründung zumindest offengelegt werden.40 Insoweit kommt der Methodik einer Rechtsordnung auch eine Kontrollfunktion zu, macht sie doch Auslegungsergebnisse dahingehend überprüfbar, ob sie auf methodisch korrektem Weg ermittelt worden sind.41 Positive Folge der Objektivierung der Rechtsgewinnung und damit weitere Funktion der Methodik ist es, dass eine Rechtsordnung durch das methodenkonforme Auslegen und Anwenden des Rechts im Laufe der Zeit zunehmend systematisiert und weiterentwickelt wird; die Methodik hat somit auch eine Erkenntnisfunktion.42 Die Begründung für ein bereits bestehendes Auslegungsergebnis kann Wege auf36

Haratsch/König/Pechstein, Europarecht, 11. Auflage 2018, Rn. 205. Vgl. Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Auflage 2010, § 13 Rn. 10. 38 Ausführlich hierzu Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 49 ff. 39 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 49. 40 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 49; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 323. 41 Colneric, ZEuP 2005. 225 (225); Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 54. 42 Ausführlich bei Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 49 ff., der hier weitergehend differenziert. 37

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

zeigen, um verwandte rechtliche Probleme zu lösen. Hat eine Rechtsordnung länger Bestand, bilden sich durch ein methodisches Vorgehen stetig mehr Anwendungsstrukturen, die zu einer Stabilisierung und Vereinfachung der Rechtsanwendung beitragen. b) Besondere Funktion der Methodik im Unionsrecht Im Unionsrecht kommt der Methodik eine darüberhinausgehende, zentrale Funktion zu, die in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine weniger prominente Rolle einnimmt: Sie ist wichtiges Mittel, um die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten43 und sicherzustellen, dass innerhalb der Mitgliedstaaten nicht nur das gleiche Recht gilt, sondern dieses Recht auch auf die gleiche Art und Weise angewandt wird.44 Nach der Auffassung des EuGH handelt es sich dabei um „ein Grunderfordernis der gemeinschaftlichen Rechtsordnung“,45 denn – so das Bundesverfassungsgericht – „die Einheit einer Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.“46 Eine Erkenntnis, die sich generell auf das internationale Einheitsrecht übertragen lässt: Haben sich zwei oder mehr Staaten im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages das Ziel der Rechtsvereinheitlichung gesetzt, ist die Gefahr groß, dass dieses Ziel verfehlt wird, wenn sich die Parteien nicht darauf einigen, die gemeinsamen Vorschriften einheitlich auszulegen und anzuwenden.47 Das wohl bekannteste Beispiel für eine derartige Einigung der Vertragsstaaten ist der Art. 7 Abs. 1 des Wiener UN-Übereinkommens über Verträge über den internationalen Warenkauf (CISG).48 Die Vorschrift, die sich nahezu wortgleich in den meisten neueren Einheitsvertragskonventionen findet,49 enthält in Absatz 1 die zu beachtenden autonomen Auslegungsgrundsätze und in Absatz 2 eine Regelung für das Vorgehen bei Regelungslücken des CISG.50

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Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 336. Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (235). 45 EuGH vom 21.02.1991, Rs. C-143/88 und C-92/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG ./. Hauptzollamt Itzehoe), Slg. 1991, I-415, I-542, Rn. 26. 46 BVerfG, Urt. v. 09.11.1987 – Az. 2 BvR 808/82, EuGRZ 1988, 109; auch zitiert von Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (236). 47 Sänger, in: Ferrari, Internationales Vertragsrecht, 3. Auflage 2018, CISG, Art. 7 Rn. 1; Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (236). 48 Perales Viscasillas, in: Kröll/Mistelis/Perales Viscasillas, UN-Convention on the International Sales of Goods (CISG), 2. Auflage 2018, Art. 7 CISG Rn. 1; das Wiener UN-Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf wird nachstehend als „CISG“ bezeichnet. 49 Ferrari, in: Schlechtriem/Schwenzer/Schroeter, Kommentar zum Einheitlichen UNKaufrecht, 7. Auflage 2019, Art. 7 CISG Rn. 4. 50 Gruber, in: MünchKommBGB, 8. Auflage 2019, Art. 7 CISG Rn. 34 ff. 44

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Im Unterschied zum CISG und anderen völkerrechtlichen Verträgen wird die einheitliche Rechtsanwendung innerhalb der Unionsrechtsordnung nicht durch eine Auslegungsnorm abgesichert.51 Sichergestellt wird diese vielmehr durch den EuGH, der nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV mit der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge betraut ist (dazu sogleich unter 1.)52 – sowie durch eine eigene, nicht ausdrücklich geregelte Methodik zur Anwendung und Auslegung des Unionsrechts (dazu sogleich unter 2.) aa) Einheitliche Rechtsanwendung durch den EuGH Über die in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV normierte Aufgabe der Sicherung des Rechts wird dem EuGH die Auslegungshoheit für das Unionsrecht zugesprochen,53 von der sämtliche Normen des Unionsrechts erfasst sind:54 das Primär- und Sekundärrecht, die völkerrechtlichen Verträge sowie die ungeschriebenen Normen.55 Zur Erfüllung dieser Aufgabe wurde dem EuGH zum einen die ausschließliche Zuständigkeit für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 344 AEUV) zugewiesen,56 die im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 259 AEUV entschieden werden.57 Darüber hinaus wurde in Art. 267 AEUV das Vorabentscheidungsverfahren geschaffen58 – ein der Parteiherrschaft entzogenes, in Rechtsstreitigkeiten vor nationalen Gerichten integriertes Zwischenverfahren.59 Da es in der alleinigen Verantwortung der nationalen Gerichte liegt, die geltenden Rechtssätze des vorrangigen Unionsrechts aus51

Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 264. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 19 EUV Rn. 10; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EL Mai 2013, Art. 267 Rn. 1. 53 Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 264. 54 Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 66. EL Juni 2019, Art. 19 Rn. 23. 55 Rengeling/Kotzur, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Auflage 2014, § 4 Rn. 4; Pache, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, 2. Auflage 2018, Art. 19 EUV Rn. 6. 56 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 344 AEUV Rn. 1 ff., der darauf hinweist, dass die Zahl entsprechender Verfahren äußerst gering ist; Beispiele von Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten, die der EuGH entschieden hat: EuGH vom 04.10.1979, Rs. 141/78 (Frankreich ./. Vereinigtes Königreich), Slg. 1979, 2923 ff.; EuGH vom 16.05.2000, Rs. C-388/95 (Belgien ./. Spanien), Slg. 2000, I-3123; EuGH vom 12.09.2006, Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich), Slg. 2006, I-7917. 57 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 344 AEUV Rn. 1. 58 Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (237); Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 267 AEUV Rn. 2; zur Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens für den Individualrechtsschutz siehe ebenfalls Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 267 AEUV Rn. 2 und 5; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 54. 59 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 1. 52

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

zulegen und anzuwenden60 ist dieses Instrument der richterlichen Zusammenarbeit notwendig,61 um der Gefahr divergierender Entscheidungen durch die nationalen Gerichte zu begegnen und auf eine einheitliche Auslegung des Unionsrechts hinzuwirken.62 Dabei bleibt das mitgliedstaatliche Gericht bei Vorlage einer Auslegungsfrage zum EuGH für die Entscheidung des konkreten, bei ihm anhängigen Rechtsstreits verantwortlich.63 Der EuGH hat lediglich die Aufgabe, dem nationalen Gericht die Kriterien für die Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits benötigt.64 Über das Vorabentscheidungsverfahren gebührt dem EuGH somit das sprichwörtliche „letzte Wort“ bei der Auslegung sämtlicher Vorschriften des Unionsrechts.65 bb) Einheitliche Rechtsanwendung durch die Methodik des Unionsrechts Neben der Judikatur des EuGH und der daraus resultierenden justiziellen Rechtsangleichung66 bedarf es zur Sicherung einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts zudem einer eigenen Methodik; das Auslegungsmonopol des EuGH und das Vorabentscheidungsverfahren garantieren noch keine vollständige Rechtsanwendungsgleichheit.67 Nicht jeder strittige Sachverhalt mit unionsrechtlicher Komponente landet bei den nationalen Gerichten, die dann gegebenenfalls den EuGH zur Vorabentscheidung anrufen.68 Gelebtes Einheitsrecht setzt aber voraus, dass auch im Rahmen des außergerichtlichen Bereichs Rechtsanwendungsgleichheit herrscht.69 Hinzukommt, 60

Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 1. EuGH vom 04.07.2006, Rs. C-212/04 (Adeneler u. a. ./. ELOG), Slg. 2006, I-6057, Rn. 40. 62 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 5; Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 267 AEUV Rn. 2. 63 Schwarze, EU-Kommentar, 4. Auflage 2019, Art. 267 AEUV Rn. 4. 64 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EL Mai 2013, Art. 267 Rn. 1; zum Kooperationsverhältnis: Iglesias, NJW 2000, 1889 (1890 f.); EuGH vom 19.02.2002, Rs. C-35/99 (Arduino ./. Compagnia Assicuratrice RAS SpA), Slg. 2002, I-1529, Rn. 24. 65 Ähnlich Joussen, der vom „Auslegungskontrollmonopol“ spricht, da der EuGH das letzte Wort in Auslegungsfragen hat; vgl. Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 42 f.; ausführlich auch Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 54. 66 Begriff der „justiziellen Rechtsangleichung“ bei Schmid, Die Grenzen der Auslegungskompetenz des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG, 2005, S. 112. 67 Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (238). 68 Das Vorabentscheidungsverfahren ist seit dem Vertrag von Lissabon zweistufig aufgebaut und wird in letzter Instanz vor den nationalen Gerichten verpflichtend, Art. 267 Abs. 3 AEUV, vgl. Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 41. 69 Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (239). 61

§ 1 Einführung in die Methodik des Unionsrechts

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dass der Erfolg des Vorabentscheidungsverfahrens als Instrument zur Sicherung einer einheitlichen Auslegung maßgeblich von der unter den Mitgliedstaaten differierenden Vorlagebereitschaft der nationalen Gerichte abhängt.70 Als „methodische Waffe“, zur Einschränkung der Vorlagepflicht, bezeichnet Vogenauer die vom EuGH selbst entwickelte acte-clair-Doktrin.71 Danach entfällt die Vorlagepflicht,72 wenn „die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt.“73 Die acte-clair-Doktrin eröffnet nationalen Gerichten damit einen Spielraum, die für letztinstanzliche Gerichte bestehende Vorlagepflicht zu umgehen.74 Freilich ist bei der Anwendung der acte-clair-Doktrin durch ein deutsches Gericht zu beachten, dass der EuGH nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist.75 Eine willkürliche Anwendung der Doktrin verstieße nicht nur gegen Unionsrecht, sondern auch gegen Verfassungsrecht, was im Wege einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden könnte. Gleichwohl wird deutlich, dass die einheitliche Anwendung und Auslegung des Unionsrechts nur gewährleistet werden kann, wenn neben der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH zudem eine eigene Methodik des Unionsrechts existiert. Aufgrund der herausragenden Rolle des EuGH bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts76 ist es dabei wenig verwunderlich, dass dessen Rechtsprechung eine zentrale Rolle in dieser Methodik spielt (dazu ausführlich sogleich unter § 2) und beide Mittel zur Sicherung einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts dadurch eng miteinander verwoben sind.

70

Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (239). EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, 3430, Rn. 16; Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (239); in diesem Sinne auch Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, 2006, S. 294. 72 Zur Einschränkung der Vorlagepflicht der nationalen Gerichte bereits: EuGH vom 27.03.1963, Rs. 28 bis 30/62 (Da Costa en Schaake NV u. a. ./. Administratie der Belastingen), Slg. 1963, 63, 80 (81). 73 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, 3430, Rn. 16; siehe hierzu auch Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 Rn. 47. 74 Vogenauer, ZEuP 2005, 234 (239) mit Verweis auf Rasmussen, der fordert, die acteclairDoktrin noch weiter auszudehnen und die nationalen Gerichte über deutlich mehr Fragen der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts entscheiden zu lassen als bisher, vgl. Rasmussen, Remedying the Crumbling EC Judicial System, 2000, 37 Common Market Law Review (CMLR), 1071 (1109). 75 BVerfG, Urt. v. 22.10.1986, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 (366 ff.). 76 Siehe oben Teil 3 §1 II. 2. b) (1). 71

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

II. Zusammenfassung Ebenso wie im deutschen Recht ist auch im Unionsrecht eine eigene Methodik zur Anwendung und Auslegung des Rechts notwendig. Dem Rechtsanwender müssen Werkzeuge für einen rechtssicheren Umgang mit dem Unionsrecht an die Hand gegeben werden. Nur so kann insbesondere im großen außergerichtlichen Bereich die Rechtsanwendungsgleichheit des Unionsrechts sichergestellt werden. Zweifellos ist eine vollkommen einheitliche Anwendung und Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein schwer zu erreichender Idealzustand. Dennoch bietet die Kombination der Rechtsaufsicht und -kontrolle durch den EuGH zusammen mit einer eigenen Methodik des Unionsrechts die Chance, diesem Idealzustand möglichst nahe zu kommen.

§ 2 Die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts Zentrale Aufgabe der Methodenlehre ist es, eine Methodik zu entwickeln, die den genannten verfassungsrechtlichen bzw. primärrechtlichen Grundsätzen genügt.77 Wie diese Methodik konkret ausgestaltet ist, hängt von der jeweiligen Quelle des Rechts ab.78 Um eine Methodik entwickeln zu können, muss daher geklärt werden, welche Rechtsquellen79 existieren, aus denen eine Herleitung erfolgen kann.80 Im Dienste einer möglichst auf das Wesentliche beschränkten Erörterung der Methodik des Europäischen Sekundärrechts soll an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung der Rechtsquellenlehre des Unionsrechts verzichtet und insoweit auf die Ausführungen von Martens verwiesen werden.81 Trotzdem ist es notwendig, zumindest auf die Rechtsprechung des EuGH als eine der Rechtsquellen des Unionsrechts einzugehen. Schließlich war es der EuGH, der in seiner Urteilsbegründung in der Rechtssache C.I.L.F.I.T. erstmals betont hat,82 dass das Unionsrecht nicht statisch, sondern evolutiv auszulegen ist. Diese Vorgaben hat er in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen bestätigt und umgesetzt. Um die methodischen Grundsätze im Umgang mit der dynamischen Auslegung des Europäischen Sekundärrechts darzustellen, ist es daher unerlässlich, die Bedeutung der Rechtsprechung des EuGH für die Methodik des Unionsrechts zu untersuchen. 77

Siehe oben Teil 3 § 1. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage 1999, S. 8. 79 Zum Begriff der „Rechtsquelle“ ausführlich Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 127 ff. 80 Vgl. in diesem Sinne auch Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 123. 81 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 123 bis 293. 82 Siehe oben Teil 1 § 2. 78

§ 2 Die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts

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I. Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen Maßgeblich für die Rolle der Rechtsprechung des EuGH bei der Entwicklung einer eigenen Methodik des Unionsrechts ist die Bindungswirkung seiner Vorabentscheidungsurteile. Wie vorstehend beschrieben, steht dem EuGH letztverbindlich die Auslegungshoheit über das Unionsrecht zu.83 Damit ist jedoch noch nicht geklärt, welche Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen ausgeht und in welchem Umfang sie bei der Entwicklung der Methodik des Unionsrechts zu beachten ist.84 Die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs in Fragen der Auslegung von EU-Recht ist nicht ausdrücklich geregelt.85 Allgemein anerkannt ist lediglich, dass aus der Rechtskraft des Tenors86 eines Vorabentscheidungsurteils sowie dem Zweck des Verfahrens – der Sicherung der einheitliche Anwendung des Unionsrechts – folgt,87 dass das jeweils vorlegende mitgliedstaatliche Gerichte „an die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung gebunden“ ist.88 Diese inter partesWirkung erstreckt sich nach ganz überwiegender Meinung auf das vorlegende Gericht sowie auf die weiteren am Verfahren beteiligten Instanzgerichte.89 Umstritten ist hingegen die für die Entwicklung einer unionsrechtlichen Methodik relevante Bindungswirkung eines Vorabentscheidungsurteils für andere Verfahren

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Siehe oben Teil 3 § 1 III. 1. Zur Aufgabe der Methodik bei Sicherung der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts, siehe oben Teil 3 § 1 III. 2. 85 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 64. EL Mai 2018, Art. 267 Rn. 101. 86 Art. 91 Abs. 1 VerfOEuGH. 87 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 64. EL Mai 2018, Art. 267 Rn. 102. 88 EuGH vom 24.06.1969, Rs. 29/68 (Firma Milch-, Fett- und Eierkontor GmbH ./. Hauptzollamt Saarbrücken), Slg. 1969, 167, 178 Rn. 3; GA Lagrange, Schlussanträge vom 13.03.1963, C-28 bis 30/62 (da Costa u. a. ./. Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 85 (88). 89 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 48; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 64. EL Mai 2018, Art. 267 Rn. 102. Zu beachten ist, dass durch die inter partes-Wirkung nicht ausgeschlossen ist, dass das nationale Gericht den EuGH erneut anruft, (i) wenn es beim Verständnis oder der Anwendung des Vorabentscheidungsurteils Schwierigkeiten hat, (ii) wenn es dem EuGH eine neue Rechtsfrage stellt oder (iii) wenn es dem EuGH neue Gesichtspunkte unterbreitet, die den EuGH dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage zur Anwendung und/oder Auslegung des Unionsrechts anders zu beantworten; vgl. Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 64. EL Mai 2018, Art. 267 Rn. 103; EuGH vom 05.03.1986, Rs. 69/85 (Wünsche Handelsgesellschaft ./. Deutschland) Slg. 1986, 953, Rn. 15. 84

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

(erga omnes-Wirkung).90 Eine solche Wirkung von Vorabentscheidungsurteilen ist nicht unproblematisch, da von ihr die Gefahr ausgeht, dass es zu einer Funktionsverschiebung des EuGH von einem Rechtsprechungsorgan zu einem Ersatzgesetzgeber kommt.91 Diese Kompetenz steht dem EuGH mit Blick auf Art. 19 Abs. 1 EUV und dem dargestellten institutionellen Gleichgewicht nicht zu.92 Andererseits spricht für eine – wie auf immer geartete – erga omnes-Wirkung die auf diesem Wege erreichbare einheitliche Anwendung des Unionsrechts.93 Bei der Analyse der sich gegenüberstehenden Argumente wird deutlich, dass es sinnvoll ist, hinsichtlich der erga omnes-Wirkung der Urteile des EuGH zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Wirkung zu differenzieren. Vertikale Bindungswirkung meint, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte an die Entscheidungen des EuGH auch dann gebunden sind, wenn sie selbst kein Vorabentscheidungsersuchen gestellt haben – eine Bindung also über das Ausgangsverfahren hinaus besteht. Die horizontale Bindungswirkung betrifft die Frage, ob der EuGH durch seine eigenen Urteile selbst dergestalt gebunden ist, als er nicht ohne weiteres davon abweichen kann.

1. Vertikale Bindungswirkung von EuGH Entscheidungen Eine vertikale Bindungswirkung wird von der wohl herrschenden Meinung in der Literatur insofern bejaht, als von einer faktischen erga omnes-Wirkung der Urteile des EuGH ausgegangen wird.94 Von Ehricke wird diese faktische Bindungswirkung auch als „(gelockerte) stare decisis-Doktrin“95 bezeichnet.96 Begründet wird diese „faktische“ vertikale Bindungswirkung damit, dass eine bereits ergangene Entscheidung des EuGH zu einer bestimmten Frage des Unionsrechts letztinstanzlich entscheidende, mitgliedstaatliche Gerichte von ihrer Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nur dann entbinden, wenn diese sich der Auslegung des Gerichtshofs anschließen. Dagegen bleiben sie dort, wo sie von einer Auslegung des Gerichtshofs abweichen wollen, ausnahmslos zur Vorlage ver90 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69; ausführlich dazu Ehricke, Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschafsrecht, 1997, S. 44 ff. 91 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69. 92 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69; zum „institutionellen Gleichgewicht“ siehe oben Teil 3 § 1 II. 1. b). 93 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69. 94 An Stelle vieler: Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69 m. w. N. 95 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69. 96 Vgl. zur a. A., die mit dem Wortlaut des Art. 267 AEUV argumentiert, und lediglich eine Selbstbindung der entscheidenden Gerichte annimmt, welche sich aus einer „moralischen Verpflichtung“ der Richter ergäbe, die Nachweise bei Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 69 Fn. 338.

§ 2 Die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts

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pflichtet.97 So stellte der EuGH schon in der Da Costa-Entscheidung vom 27. März 1963 fest,98 dass die Vorlagepflicht der nationalen Gerichte nur entfällt, „wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist.“99 Ferner kann nach der C.I.L.F.I.T.Entscheidung die Vorlagepflicht nach Art. 276 Abs. 3 EUV entfallen, „wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofes vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind.“100 Dadurch, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte von einer Vorlage absehen können, wenn sie sich dem EuGH anschließen, demgegenüber aber zur Vorlage verpflichtet bleiben, wenn sie von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abweichen wollen, kommt es zu einer faktischen Bindungswirkung eines Vorabentscheidungsurteils. Darüber hinaus stellt es einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar, wenn das letztinstanzliche nationale Gericht seine Vorlagepflicht verletzt.101 Eine Verletzung kann gegebenenfalls zudem Staatshaftungsansprüche auslösen.102 Unklar und auch vom EuGH noch nicht entschieden ist, ob sich die Bindungswirkung auf unterinstanzliche Gerichte entfaltet, da diese ohnehin keine Vorlagepflicht trifft, von der sie befreit werden könnten. Nach der hier vertretenen Ansicht führt die oben dargestellte Kombination aus Entbehrlichkeit und Fortbestand der Vorlagepflicht auch auf unterinstanzlicher Ebene zu einer zumindest abgeleiteten faktischen Bindungswirkung, die aus dem Grundsatz der Prozessökonomie folgt. Zwar erlaubt es Art. 267 Abs. 2 AEUV den unterinstanzlichen Gerichten, über eine Vorlage frei zu entscheiden, sodass die oben geschilderten Staatshaftungsansprüche und das Grundrecht nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in gleicher Weise zu einer faktischen Bindung führen, wie dies auf letztinstanzliche Gerichte zutrifft. Das Entscheidungsmonopol des Gerichtshofs steht auch nicht in vergleichbarem Maße zur Disposition, wenn ein unterinstanzliches Gericht bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abweicht.103 Da das Abweichen von einer EuGH-Entscheidung der unterlegenen Partei regelmäßig einen Berufungs- oder Revisionsgrund 97

Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 51. EuGH vom 27.03.1963, Rs. 28 bis 30/62 (Da Costa & Schaake u. a. ./. Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 63. 99 EuGH vom 27.03.1963, Rs. 28 bis 30/62 (Da Costa & Schaake u. a. ./. Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 63 (81). 100 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3412, Rn. 14. 101 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 72. 102 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EL Mai 2013, Art. 267 Rn. 105; zur Staatshaftung wegen der Nichtbeachtung einer Entscheidung des EuGH, vgl. EuGH vom 30.09.2003, Rs. C-224/01 (Köbler ./. Österreich), Slg. 2003, I10239, Rn. 56. 103 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 51. 98

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

liefert und das letztinstanzliche Gericht wiederum dem Gerichtshof vorlegen oder folgen müsste, ist mittelbar von einer Bindungswirkung auch für unterinstanzliche Gerichte auszugehen.104

2. Horizontale Bindungswirkung von EuGH Entscheidungen Bedeutender ist die Frage, ob der EuGH an seine eigenen Urteile gebunden ist, ob also eine horizontale erga omnes-Wirkung besteht. Denn nur wenn der EuGH an seine eigenen Entscheidungen tatsächlich gebunden ist, lassen sich aus ihnen verbindliche Erkenntnisse für die Entwicklung einer Methodik aus der Rechtsprechung des EuGH als Quelle ableiten. Deutlicher wird dies anhand der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung:105 Gäbe es keine horizontale (Selbst-)Bindungswirkung, wäre es bedeutungslos, dass der EuGH bereits über die Auslegung des Unionsrechts im Lichte seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift entschieden hat.106 Würde diese Entscheidung keine fortdauernde Gültigkeit beanspruchen, könnte sie nicht als Begründung für eine dynamische Auslegung des Unionsrechts herangezogen werden. Anders liegt der Fall hingegen, wenn der EuGH bei Anwendung und Auslegung des Unionsrechts seinen bisherigen Urteilen Beachtung schenken müsste. In diesem Fall müsste auch der Rechtsanwender die methodischen Vorgaben des EuGH – insbesondere jene aus der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung – beachten und seiner Methodik zu Grunde legen. Ohne tiefgreifende Untersuchung kann zunächst eine tatsächliche Bindungswirkung des EuGH an seine eigenen Präjudizien verneint werden.107 Als unabhängiges Organ der Rechtsprechung im institutionellen System der Europäischen Union ist der EuGH allein an das Recht gebunden.108 Die Präjudizien des EuGH sind von diesem Recht nicht umfasst. Dem EuGH steht es daher grundsätzlich frei, seine Rechtsprechung jederzeit zu ändern. Mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH wird allerdings deutlich, dass sich nahezu keine Entscheidung findet, in der der EuGH nicht Bezug auf ein zuvor ergangenes Urteil genommen hat.109 Der EuGH 104 So auch Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 267 AEUV Rn. 72 m. w. N.; a. A.: Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 51 unter Verweis auf die sachliche Unabhängigkeit der Untergerichte. 105 Siehe oben Teil 1 § 2. 106 Siehe oben Teil 1 § 2. 107 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 226. 108 GA Trstenjak, Schlussanträge vom 28.03.2007, Rs. C-331/05 P (Internationaler Hilfsfonds ./. Kommission), Slg. 2007, I-5457, Rn. 84. 109 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 226, der auf die Dissertation von Dederichs verweist, die nach Auswertung aller Entscheidungen des EuGH im Jahr 1999 zu dem Ergebnis kommt, dass der Verweis auf die frühere Rechtsprechung die am häufigsten gebrauchte Argumentationsform des EuGH ist, vgl. Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004, S. 37 ff.

§ 2 Die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts

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hat damit ein eigenes Fallrechtssystem aufgebaut, von dem er nur selten abweicht.110 Regelmäßig benutzt er dabei sich wiederholende Formeln, in denen zahlreiche Entscheidungen zu „Fallreihen“ zusammengefasst werden,111 die die ständige Rechtsprechung des EuGH bilden. Neben diesen Fallreihen sind es oft einzelne Entscheidungen des EuGH, die die Rechtsanwendung prägen und zu stehenden Begriffen werden. Die bekanntesten Formeln dieser Art sind die „Dassonville“Formel,112 die „Cassis de Dijon“-Formel113 und die „Keck“-Formel.114 Nach zustimmungswürdiger Auffassung von Martens wird durch das Anknüpfen an die vorherige Rechtsprechung, sei es durch einfache Bezugnahme, Fallreihe oder sonstige Auslegungsformel, ein auslegungsbedürftiger Rechtssatz mit der normativen Autorität des EuGH verbunden.115 Eine Verbindung, die zumindest verfahrensrechtliche Konsequenzen hat: Der EuGH kann eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mittels vereinfachten Verfahrens beantworten,116 wenn er keine Rechtssprechungsänderung vornehmen möchte.117 Spiegelbildlich dazu schränkt er bei einem Abweichen von seiner früheren Rechtsprechung, diese in der Regel ex-

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Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 226. Pötters/Christensen, JZ 2012, 289 (294 ff.); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 227. 112 EuGH vom 11.07.1974, Rs. 8/74 (Procureur du Roi ./. Dassonville u. a.), Slg 1974, 837, 847; ständige Rechtsprechung des EuGH vgl. z. B.: EuGH vom 09.12.1981, Rs. 193/80 (Kommission ./. Italien), Slg 1981, 3019, 3034; EuGH vom 09.06.1981, Rs. 95/81 (Kommission ./. Italien), Slg 1982, 2187; EuGH vom 22.06.1982, Rs. 220/81 (Robertson), Slg 1982, 2349; EuGH vom 13.03.1984, Rs. 16/83 (Prantl), Slg 1984, 1299, 1300; EuGH vom 05.04.1984, Rs. 177, 178/82 (van de Haar), Slg 1984, 1797; EuGH vom 10.01.1985, Rs. 229/83 (Leclerc u. a. ./. SARL „Au blé vert“ u. a.), Slg 1985, 1, 2; EuGH vom 14.03.1985, Rs. 269/83 (Kommission ./. Frankreich), Slg 1985, 837; EuGH vom 05.06.1986, Rs. 103/84 (Kommission ./. Italien), Slg 1986, 1759, 1760; EuGH vom 14.07.1988, Rs. 407/85 (Drei Glocken GmbH ./. USL Centro-Sud), Slg 1988, 4233; EuGH vom 18.05.1993, Rs. C-126/91 (Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft e.V. ./. Yves Rocher), Slg 1993, I-2361, 2388, Rn. 9; EuGH vom 29.09.1995, Rs. C-391/92 (Kommission ./. Griechenland), Slg 1995, I-1621, 1646 Rn. 10; EuGH vom 06.07.1995, Rs. C-470/93 (Verein gegen Unwesen in Handel und Gewerbe Köln e.V. ./. Mars), Slg 1995, I-1923, 1940 Rn. 12. 113 EuGH vom 20.02.1979, Rs. 120/78 (Rewe-Zentral AG ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649; vgl. hierzu auch Mitteilung der Kommission hinsichtlich der Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 20.02.1979 in der Rs. C-120/78 („Cassis de Dijon“), ABl. 1980, C 256/2; seither ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. hierzu Brigola, in: Dauses, EU-Wirtschaftsrecht, 47. EL März 2019, C. I. Rn. 287 ff. 114 EuGH vom 24.11.2993, Rs. C-267 u. 268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6097 Rn. 14 und 16; ausführlich hierzu Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, AEUV Art. 34, Rn. 41 ff.; zu den Motiven des EuGH für die Änderung der Rechtsprechung vgl. Kingreen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (717). 115 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 227. 116 So auch Fennelly, Schlussanträge vom 06.06.1996, Rs. C-267/95 (Merck & Co ./. Europharm), Slg. 1996, I-6285, Rn. 142. 117 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 227. 111

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

plizit ein.118 Eine solche Einschränkung kommt nach Generalanwalt Lagrange aber nur dann in Frage, wenn eine Rechtsprechungsänderung durch stichhaltige Gründe geboten ist.119 Der EuGH, so Lagrange, müsse dazu seine Entscheidungen immer wieder neu in jedem Rechtsstreit an der Realität erproben, sie gegebenenfalls angesichts neuer Tatsachen oder Argumente verfeinern und so zur Rechtsfortbildung beitragen.120 Der EuGH folgt in seiner Rechtssprechungspraxis den vorstehenden Ausführungen des Generalanwalts Lagrange und hält grundsätzlich an einer einmal getroffenen Entscheidung fest,121 es sei denn, neue, vom EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht berücksichtigte Aspekte, erfordern eine Abweichung.122 Bereits aus der hier beschriebenen Rechtssprechungspraxis des EuGH folgt eine faktische horizontale Selbstbindung. Dieses Ergebnis wird auch durch den Grundsatz der Rechtssicherheit unterstrichen:123 Der EuGH hat nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV die Aufgabe, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern.124 Dieser Aufgabe wird er nur gerecht, wenn der Rechtsanwender sich grundsätzlich auf einmal getroffene Entscheidungen verlassen kann.125 Dies gilt insbesondere deshalb, weil große Bereiche des Unionsrechts nur lückenhaft geregelt sind, so dass an vielen Stellen durch den EuGH geschaffenes Richterrecht notwendig ist.126 Neuer spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „faktischen Gewalt“ des EuGH: Trotz der „grundsätzlichen Begrenzung der richterlichen Kompetenz auf die Einzelfallentscheidung entfaltet die Judikatur des Gerichtshofs im Rechtsleben eine sehr breite 118 Z. B. EuGH vom 24.11.1993, Rs. C-267 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6126, Rn. 16. 119 GA Lagrange, Schlussanträge vom 13.03.1963, Rs. C-28 bis 30/62 (da Costa ./. Administrative der Belastingen), Slg. 1963, 85 (91 f.); so auch GA Fennelly, Schlussanträge vom 06.06.1996, Rs. C-267/95 (Merck & Co ./. Europharm), Slg. 1996, I-6285, Rn. 142. 120 GA Lagrange, Schlussanträge vom 13.03.1963, Rs. C-28 bis 30/62 (da Costa ./. Administrative der Belastingen), Slg. 1963, 85 (91 f.); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 228. 121 In diesem Sinn: GA Warner, Schlussanträge vom 15.12.1976, Rs. 62/76 (Strehl ./. Nationaal Pensioenfonds voor Mijnwerkers), Slg. 1977, 219 (220). 122 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 228 f.; in diesem Sinne auch die zuvor zitierte C.I.L.F.I.T.-Entscheidung, nach der eine Pflicht zur Vorlage nicht besteht, wenn „bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollständig identisch sind“, EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3412, Rn. 14; auch in diesem Zusammenhang zitiert von GA Fennelly, Schlussanträge vom 06.06.1996, Rs. C-267/95 (Merck & Co ./. Europharm), Slg. 1996, I-6285, Rn. 142. 123 GA Warner, Schlussanträge vom 15.12.1976, Rs. 62/76 (Strehl ./. Nationaal Pensioenfonds voor Mijnwerkers), Slg. 1977, 219 (220). 124 Siehe oben Teil 3 § 1 II. 2. b) aa). 125 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 229. 126 GA Fennelly, Schlussanträge vom 06.06.1996, Rs. C-267/95 (Merck & Co ./. Europharm), Slg. 1996, I-6285, Rn. 142; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 13 Rn. 24.

§ 2 Die Rechtsprechung des EuGH als Rechtsquelle des Unionsrechts

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Wirkung und bildet eine faktische Rechtsquelle. Die Unionsbürger orientieren sich an ihr und erwarten Rechtssicherheit durch eine Gleichbehandlung ähnlicher Fälle.“127

II. Bindungsgehalt der Entscheidungen des EuGH Es bleibt damit zu klären, ob die vorstehend beschriebene Bindungswirkung auch für die vom EuGH herangezogene Methodik zur Anwendung und Auslegung des jeweils streitgegenständlichen Rechts gilt. Fest steht, dass die Methodik weder ratio decidendi noch obiter dicta einer Entscheidung ist, so dass insbesondere die differenzierenden Ausführungen der Generalanwälte zur Bindungswirkung einzelner Entscheidungen128 nicht weiterführen. Allerdings lassen sich die Gründe und Argumente, die für eine faktische horizontale erga omnes-Wirkung von EuGH-Entscheidungen sprechen, auch auf eine Bindungswirkung in Bezug auf das methodische Vorgehen des EuGH übertragen. Denn wie gezeigt, ist Grund für die Annahme einer Bindungswirkung das Gebot der Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz: Der Rechtsanwender muss sich darauf verlassen können, dass der EuGH grundsätzlich an einmal ermittelten Ergebnissen festhält und diese nicht ohne sachlichen Grund verwirft. Dieses Bedürfnis besteht gleichermaßen in Bezug auf die Methodik des EuGH. Ebenso wie auf die gefundenen Ergebnisse muss der Rechtsanwender darauf vertrauen können, dass der EuGH seine Ergebnisse mithilfe derselben Werkzeuge erlangt. Nur so besteht die Möglichkeit einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts auch in den Fällen, in denen es bislang noch keine Entscheidung des EuGH gibt. Dass es wohl zu weit geht, auch insoweit von einer faktischen Bindungswirkung zu sprechen, zeigen allerdings die Urteile und korrespondierenden Begründungen des EuGH: Denn der EuGH trifft im Dienste der fortschreitenden europäischen Integration regelmäßig Entscheidungen, die sich dogmatisch nur schwer begründen lassen und für die der Ausdruck „methodisches Vorgehen“ schon sehr weit verstanden muss.129 Gleichwohl versucht die Rechtslehre aus der Rechtsprechung des EuGH eine eigene Methodik zu entwickeln, die es dem Rechtsanwender ermöglichen soll, bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu demselben Er-

127 Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 13 Rn. 10. 128 Vgl. z. B. GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge vom 11.03.2004, Rs. C 150/03 P (Hectors ./. Europäisches Parlament), Slg. 2004, I-8691, Rn. 37; GA Sharpston, Schlussanträge vom 8. 7. 2010, Rs. C-484/07 (Pehlivan ./. Staatssecretaris van Justitie), Slg. 2011, I0000, Rn. 52. 129 Beispiele kritischer Stimmen zum methodischen Vorgehen des EuGH: Stein, EuZW 2007, 54 (56); Honsell, ZIP 2008, 621 (625); Jahn, NJW 2008, 1788; Lorenz, NJW 2011, 2241; Hailbronner, NJW 2004, 2185.

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

gebnis zu kommen wie der EuGH in einem später gegebenenfalls einzuleitenden Vorabentscheidungsverfahren. Neben der vielkritisierten methodischen Inkonsistenz des EuGH130 wird die Entwicklung einer aus der Rechtsprechung des EuGH abgeleiteten Methodik zusätzlich dadurch erschwert, dass die Urteile des EuGH regelmäßig sehr kurz sind.131 Der französischen Rechtsprechungstradition folgend, mangelt es oft an sauberen dogmatischen Begründungen.132 Dem Rechtsanwender verbleibt regelmäßig nur anhand der wenigen aufgezeigten Schritten darauf zu schließen, wie der EuGH bei der Urteilsfindung methodisch vorgegangen sein könnte. Zentrale Rolle bei der Entwicklung einer eigenen Methodik zur Anwendung und Auslegung des Unionsrechts spielen daher auch die Schlussanträge der Generalanwälte (Art. 252 AEUV). Da der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwälte in seinen Entscheidungen große Beachtung schenkt und diese – anders als die Entscheidungen des EuGH – in der Regel umfassend und dogmatisch begründet sind, kann über die Schlussanträge die zu bemängelnde Knappheit der Urteilsbegründungen des EuGH etwas abgemildert werden.133 Sie helfen jedoch ebenfalls nur bedingt weiter: Der EuGH hat nach Art. 20 Abs. 5 seiner Satzung die Möglichkeit, ohne Schlussanträge zu entscheiden, wenn er der Meinung ist, dass eine Rechtssache keine neue Rechtsfrage aufwirft.134 In der für diese Arbeit so wichtigen Entscheidung in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen135 wurden keine Schlussanträge gestellt.

III. Zusammenfassung Dem EuGH gebührt bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts das letzte Wort. Mit Hilfe der Methodik des Unionsrechts müssen daher Auslegungsergebnisse erreicht werden können, die vor dem EuGH Bestand hätten. Zugleich ist der EuGH maßgebliche Rechtsquelle des Unionsrechts und seine Entscheidungen entfalten Bindungswirkung, sodass sie für die Entwicklung einer eigenen Methodik besondere Relevanz haben. Die Entscheidungen des EuGH und die in diesem Zusammenhang erstellten Schlussanträge der Generalanwälte spielen daher bei Entwicklung einer eigenen Methodik eine wichtige Rolle, implizieren sie doch das 130 Stein, EuZW 2007, 54 (56); Honsell, ZIP 2008, 621 (625); Jahn, NJW 2008, 1788; Lorenz, NJW 2011, 2241; Hailbronner, NJW 2004, 2185. 131 Herresthal, ZEuP 2009, 599 (600 f.); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 61. 132 Zur Urteilsbegründung des Cour de cassation vgl. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 27. 133 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 252 AEUV Rn. 3. 134 Nach Auskunft der Pressestelle des EuGH sind im Jahr 2013 48 % der Entscheidungen ohne Schlussanträge ergangen. 135 Siehe oben Teil 1 § 3 I.

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts

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„richtige Vorgehen“ für die jeweils gegenständlichen Auslegungsfragen. Dem Rechtsanwender kommt dabei die – aufgrund der wenig dogmatischen und oft sehr kurz gehaltenen Entscheidungsgründe die schwierige Aufgabe zu, aus den Urteilen abstrakte Regeln zu erarbeiten, die eine rechtssichere Anwendung und Auslegung des Unionsrechts ermöglichen.136

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts Die von Literatur und Rechtsprechung entwickelte Methodik zur Anwendung und Auslegung des Unionsrechts und insbesondere die hier in den Fokus gerückte Methodik des europäischen Sekundärrechts unterscheiden sich nicht grundlegend von der Methodik der deutschen Rechtsordnung.137 Auch die Methodik des europäischen Sekundärrechts greift auf den Savigny’schen Auslegungskanon zurück. Allerdings wird dieser an vielen Stellen unter Berücksichtigung der Eigenheiten und der besonderen Schwierigkeiten bei der Auslegung des Unionsrechts modifiziert.138 Bevor der modifizierte Auslegungskanon zur Auslegung des Sekundärrechts nachstehend dargestellt wird (unter III.), ist zunächst der Grundsatz der autonomen Auslegung des Sekundärrechts und damit das Verhältnis von Unionsrechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bei Anwendung und Auslegung des Rechts darzustellen (unter I.) und in einem weiteren Zwischenschritt das Ziel der Auslegung zu bestimmen (unter II.).

136 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 130. 137 Vgl. zum Beispiel: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 8; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 75 ff.; siehe hierzu beispielsweise: Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998; Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004; Riesenhuber, Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, 653 ff.; Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Bezüge des Privatrechts, 2008, § 1; Bleckmann, NJW 1982, 1177; Ophüls, in: FS für Müller-Amrack, 1961, S. 279 ff.; Schröder, JuS 2004, 4 ff. und 180 ff.; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009; Flessner, JZ 2002, 14 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012; Gisewski, Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht, 2007; Everling, RabelsZ 50 (1986), S. 193; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013. 138 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, Rn. 17; Stotz, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 17, S. 414; Roder, Die Methodik des EuGH im Urheberrecht, 2016, S. 2.

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

I. Die autonome Auslegung Wie bereits einleitend festgestellt, bildet das Unionsrecht nach der heute ganz herrschenden Meinung eine eigene Rechtsordnung, zu deren Gunsten die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Souveränität abgegeben haben.139 So werden auch die Regelungen des Unionsrechtes grundsätzlich autonom von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ausschließlich unter Verwendung der unionsrechtlichen Rechtsquellen und Methoden ausgelegt.140 Ohne diesen Grundsatz bestünde die Gefahr, dass es trotz der anerkannten Unabhängigkeit der Unionsrechtsordnung bei der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts zur Renationalisierung des Rechts kommt.141 Der Grundsatz der autonomen Auslegung wird in folgenden zwei Ausnahmefällen durchbrochen: Dies ist zum einen der Fall, wenn gesetzlich angeordnet und daher vom Unionsgesetzgeber vorgesehen ist, dass ein Unionsrechtsakt unter Anwendung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auszulegen ist.142 Beispielsweise ist in Art. 62 EuGVO der Wohnsitz einer Partei nach der lex fori des zuständigen Gerichts zu bestimmen,143 so dass hier die nationalen Gerichte das Recht der eigenen Rechtsordnung anwenden. Zum anderen kommt es bei der im Wachstum befindlichen Unionsrechtsordnung vor, dass eine autonome Begriffsbildung zum jeweils gegenwärtigen Entwicklungsstand noch nicht möglich ist und aus diesem Grund der Grundsatz der autonomen Auslegung durchbrochen werden und auf das Recht der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden muss.144 Auch in einem solchen Ausnahmefall ist der Unionsrechtsakt unter Anwendung der Rechtsordnung des jeweiligen 139

Siehe oben, Teil 1 § 1. EuGH vom 27.01.2005, Rs. C-188/03 (Junk ./. Kühnel), Slg. 2005, I-885, Rn. 29 mit Verweis auf EuGH vom 19.09.2007, Rs. C-287/98 (Luxemburg ./. Linster u. a.), Slg. 2000, I6917, Rn. 43 und EuGH vom 12.10.2004, Rs. C-55/02 (Kommission ./. Portugal), Slg. 2004, I0000, Rn. 45; EuGH vom 14.01.1982, Rs. 64/81 (Corman ./. Hauptzollamt Gronau), Slg. 1982, 13, Rn. 8; EuGH vom 18.01.1984, Rs. 327/82 (Ekro BV Vee- en Vleeshandel ./. Produktschap voor Vee en Vlees), Slg. 1984, 107, Rn. 11; EuGH vom 27.02.2003, Rs. C-373/00 (Adolf Truley GmbH ./. Bestattung Wien GmbH), Slg. 2003, I-1931, Rn. 35; vgl. auch Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 4 m. w. N.; Langenbucher, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 4. Auflage 2017, § 1 Rn. 5; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, 335. 141 Colneric, ZEuP 2005, 225 (225); Hess, IPRax 2006, 348 (352); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 104; siehe auch bereits einleitend oben unter Teil 1 § 1; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 208. 142 Hess, IPRax 2006, 348 (352). 143 Vgl. Wortlaut von Art. 59 Abs. 1 EuGVO: „Ist zu entscheiden, ob eine Partei im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht sein Recht an.“ Hierzu Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 59 Rn. 1 ff. 144 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 69; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 8. 140

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts

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Mitgliedstaats auszulegen.145 Ein Bespiel für diese zweite Ausnahme, wenn auch mit primärrechtlichen Schwerpunkt, liefert die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cartesio:146 Der EuGH kam in der Entscheidung mit Bezug auf die Frage, ob die Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG (heute: Art. 49 AEUV) auf eine Gesellschaft anwendbar ist, zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Frage handelt, „die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalen Recht beantwortet werden kann.“ 147 Die Unabhängigkeit der Auslegungsmethode, als Vorfrage, ob es überhaupt zur Anwendung der europäischen Methodik kommt, hängt demnach auch vom Entwicklungsstand der Unionsrechtsordnung ab,148 da hierzu eine hinreichende Begriffs- und Systemdichte erforderlich ist.149 Die autonome Auslegung der Unionsrechtsordnung wurde daher erst im Laufe der Zeit möglich. Dementsprechend ging der EuGH in seinen frühen Entscheidungen nicht von dem beschriebenen RegelAusnahme-Prinzip zwischen der autonomen Auslegung und der Auslegung mit Hilfe der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aus, sondern stellte die Auslegungsmethoden der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten gleichrangig nebeneinander.150 Damit wird deutlich, dass das im vorstehenden Teil 2 dieser Arbeit beschriebene Wachstum der Unionsrechtsordnung nicht nur Auswirkungen auf das Auslegungsergebnis haben kann, sondern auch die für das Auslegungsergebnis benötigten Werkzeuge selbst unter dem Einfluss der fortschreitenden Integration stehen. Aufgrund der vorstehend dargestellten Ausnahmen vom Grundsatz der autonomen Auslegung ist vor jeder Auslegung eines Rechtsbegriffs des Unionsrechts vorab zu klären, ob es sich um einen einheitlich zu verstehenden Rechtsbegriff handelt, der losgelöst von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auszulegen ist oder ob ein Rückgriff auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gesetzlich angeordnet ist.151 Kommt der Rechtsanwender im Rahmen der unionsrechtlich autonomen Auslegung zu einem Punkt, an dem deutlich wird, dass das Unionsrecht selbst nicht ausreichend Anhaltspunkte gibt, um eine Begriffsbildung zu ermöglichen, ist in diesem (seltenen) Ausnahmefall entsprechend der Cartesio-Entscheidung, ebenfalls ein Rückgriff auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zur Auslegung von Unionsrechts möglich.

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Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 225. EuGH vom 16.12.2008, C-210/06 (Cartesio Oktató és Szolgáltató bt), Slg. 2008, 9641, Rn. 109. 147 EuGH vom 16.12.2008, C-210/06 (Cartesio Oktató és Szolgáltató bt), Slg. 2008, 9641, Rn. 109. 148 Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1180). 149 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 45. 150 Hess, IPRax 2006, 348 (352); so zum Beispiel ausdrücklich: EuGH vom 06.10.1976, Rs. 12/76 (Industrie Tessili Italiana Como ./. Dunlop AG), Slg. 1976, 1473, Rn. 10 ff. 151 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 336. 146

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

II. Ziel der Auslegung Für die Beantwortung der Frage, wie mit der Dynamik des Sekundärrechts methodisch umzugehen ist, spielt die Frage nach dem Ziel der Auslegung die entscheidende Rolle.152 Erst wenn dieses Ziel definiert ist, kann im nächsten Schritt darüber nachgedacht werden, wie es zu erreichen ist.153 Die Bedeutung dieser Zielbestimmung für die vorliegende Arbeit wird wiederum am Beispiel des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten und dem einleitend dargestellten Wandel des Auslegungsergebnisses deutlich:154 Ein Rechtsanwender, dessen Ziel es beispielsweise ist, im Wege der Auslegung den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, wird es als problematisch ansehen, den Erwägungsgrund 16a der 4. KHRichtlinie als argumentative Stütze zu verwenden,155 da in diesem Erwägungsgrund nicht der historische Wille des Gesetzgebers der EuGVO zum Ausdruck kommt, sondern der eines späteren, aus dem Jahre 2005.156 Dem Begründungsweg des EuGH in der Entscheidung zur Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen und dem der heute herrschenden Meinung kann der Rechtsanwender daher nur folgen,157 wenn er im Rahmen der Auslegung zumindest auch das Ziel verfolgt, den Entwicklungsstand der Rechtsordnung zum Zeitpunkt der Anwendung zu ermitteln.158 Spiegelbildlich zu diesen – am Beispiel des eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten dargestellten – sich gegenüberstehenden Auslegungszielen stehen sich in Rechtsprechung und Lehre sowohl für die deutsche als auch für die europäische Rechtsordnung zwei große Meinungsblöcke gegenüber:159 Die Vertreter der sogenannten Subjektiven Theorie, die auch als Willenstheorie bezeichnet wird,160 sind der Meinung, dass es Ziel der Auslegung sein müsse, den historisch-psychologischen Willen des Gesetzgebers zu erforschen, der die jeweils auszulegende Vorschrift erlassen hat.161 Dem treten die Vertreter der Objektiven Theorie oder Theorie der

152

In diesem Sinne auch: Fleischer, RabelsZ 75 (2011), S. 700 (717). In diesem Sinne Ophüls, in: FS für Müller-Armack, 1961, S. 279 (285); vgl. auch Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrecht, 2004, S. 86 ff. 154 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. b). 155 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. c). 156 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. c). 157 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. c). 158 Siehe oben Teil 1 § 1. 159 Stellvertretend für die deutsche Rechtsordnung: Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrecht, 2004, S. 87 ff.; stellvertretend für die Rechtsordnung der Europäischen Union Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 8; kritischer zur der Differenzierung Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 11. Auflage 2013, Rn. 442 – 444, die von der Unbrauchbarkeit der Subjektiven und Objektiven Theorie ausgehen. 160 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 316. 161 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 88; Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 428. 153

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immanenten Gesetzesdeutung,162 entgegen.163 Sie sind der Ansicht, dass es Ziel der Auslegung sei, den objektiv-geltungszeitlichen Normzweck der auszulegenden Vorschrift zu ermitteln.164 Metaphorisch wird dieser objektiv-geltungszeitliche Normzweck auch als „Wille des Gesetzes“ bezeichnet,165 wird doch versucht, den objektiven Sinn der auszulegenden Vorschrift zum Zeitpunkt der Anwendung festzustellen.166 Letztlich sprechen für beide Meinungsblöcke gewichtige Argumente (siehe sogleich),167 womit der Weg für den dritten, vermittelnden Ansatz der sogenannten Vereinigungslehre eröffnet wird.168 Die Vertreter der Vereinigungslehre vereinen sowohl Elemente der Subjektiven Theorie als auch Elemente Objektiven Theorie.169 Das Mischverhältnis der Elemente der beiden Theorien innerhalb der Lehre wird dabei von den jeweiligen Vertretern der Vereinigungslehre unterschiedlich bewertet.170 Gemeinsam ist allen Ausprägungen lediglich, dass Ausgangspunkt der Wille des historischen Gesetzgebers ist und das Ergebnis – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – anhand der Kriterien der Objektiven Theorie den tatsächlichen Verhältnissen angepasst wird.171 Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass neben diesen drei Hauptströmungen zahlreiche weitere Positionen vertreten werden, die sich aber bisher nicht durchgesetzt haben.172 Von besonderem Interesse und daher nachfolgend kurz erläutert ist 162

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 316. Ausführlich zur Objektiven Theorie: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 32 – 35. 164 In diese Richtung etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 428 – 436. 165 Hierzu kritisch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 139. 166 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 88; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 137. 167 Nach Larenz liegen jeder der beiden Theorien Teilwahrheiten zugrunde, so dass keine der beiden ohne Einschränkung akzeptiert werden kann, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 316. 168 Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 430; zur Bedeutung der subjektiven Theorie im Völkerrecht siehe Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 62 ff. 169 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 137 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage 2012, S. 21; Looschelders/W. Roth, Juristische Methoden im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 29 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 61 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 88. In anderen Mitgliedstaaten stellt sich die Situation anders dar. So wird im englischen Recht eine „objektive Theorie“ so nicht vertreten, vgl. hierzu ebenfalls Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 96 ff. 170 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 88. 171 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 318. 172 Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 428. 163

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die sogenannte subjektiv-geltungszeitliche Theorie.173 Danach ist zwar ebenfalls der Wille des Gesetzgebers zu ermitteln; anders als von den Vertretern der Subjektiven Theorie wird dabei aber der erkennbare letzte Wille des gegenwärtigen Gesetzgebers für maßgeblich gehalten.174 Gegen diesen Ansatz wird eingewandt, dass sich der gegenwärtige Gesetzgeber zu älteren Normen in der Regel überhaupt keinen Willen gebildet habe oder dieser zumindest nicht erkennbar bzw. objektiv nachweisbar sei. Die subjektiv-geltungszeitliche Theorie scheitere daher schon an dem praktischen Problem, dass der Wille des gegenwärtigen Gesetzgebers zu älteren Normen nicht ermittelbar sei.175 Freilich lässt sich gegen dieses Argument der Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie mit Blick auf Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b anführen, so dass der Ansatz der subjektiv-geltungszeitliche Theorie zumindest bei Auslegung dieser Vorschriften zu funktionieren scheint. Bei genauer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass der Ansatz dieser Theorie auch in diesem besonderen Fall zu keiner brauchbaren Lösung führt. Konnte man im Jahr 2005, zum Zeitpunkt, als der damalige Gesetzgeber den Erwägungsgrund 16a in die 4. KH-Richtlinie integrierte,176 noch davon ausgehen, den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers ermitteln zu können, ist dies im Jahr 2016 nicht mehr zweifelsfrei möglich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Wille des gegenwärtigen Gesetzgebers ein anderer ist, als der des Gesetzgebers im Jahr 2005. Welchen Willen der derzeitige Gesetzgeber in Bezug auf den eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten hat, ist weder bekannt noch ermittelbar. Die subjektiv-geltungszeitliche Position führt daher selbst im Ausnahmefall des eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten und den damit verbundenen Erwägungsgrund 16 a der 4. KH-Richtlinie zu keinem belastbaren Ergebnis. Ihr kann daher auch in diesem Fall nicht gefolgt werden.177 Das Besondere am nachfolgend dargestellten Streit um das Auslegungsziel ist, dass die Mittel der Auslegung, die Auslegungskriterien (siehe hierzu sogleich unter III.), trotz unterschiedlicher Ziele immer gleich bleiben. Das Auslegungsziel hat nur Einfluss darauf, welche Gewichtung den Auslegungskriterien im Einzelnen zukommt, ob beispielsweise der objektive Telos einer Vorschrift größere Beachtung findet als der aus den Gesetzmaterialien zu ermittelnde subjektive Wille des historischen Gesetzgebers. Bydlinski ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass es sich bei dem Streit bezüglich der Auslegungsziele letztlich nur um die Frage nach dem Rangverhältnis der einzelnen Auslegungskriterien handelt.178 Abhängig vom je173 Auch dargestellt bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 317. 174 Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 428. 175 Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 429. 176 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. c). 177 So im Ergebnis auch Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 429. 178 Bydlisnki, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 430; weiter gehen Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, 11. Auflage 2013, S. 504 ff., die von der „Unbrauchbarkeit der ,subjektiven‘ und der ,objektiven Theorie‘“ sprechen.

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weiligen Ziel der Auslegung werden die Kriterien unterschiedlich gewichtet. Trotz dieser Besonderheit erscheint es schon aus Gründen des logischen Aufbaus sinnvoll, zunächst das Ziel der Auslegung zu bestimmen und in einem zweiten Schritt die Auslegungskriterien, als Werkzeuge um dieses Ziel zu erreichen. Dem steht nicht entgegen, dass sich durch das Ziel letztlich nur die Art und Weise des Einsatzes der einzelnen Werkzeuge verschiebt. 1. Subjektive Theorie Für die Subjektive Theorie spricht zunächst, dass hinter jedem Gesetz eine ganz bestimmte Regelungsabsicht steht, der die Wertungen, Bestrebungen und sachlichen Überlegungen des Gesetzgebers zugrunde liegen.179 So macht der Unionsgesetzgeber beispielsweise im Erwägungsgrund 18 der am 12. Dezember 2012 erlassenen neuen EuGVO, die am 10. Januar 2015 in Kraft trat, mit Bezug auf die in den Abschnitten 3, 4 und 5 geregelten Zuständigkeiten für Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträge deutlich, dass die Abschnitte geschaffen wurden, um die schwächere Partei durch spezielle, für sie günstigere Zuständigkeitsvorschriften zu schützen.180 Die Vertreter der Subjektiven Theorie schenken diesen Erwägungen des Unionsgesetzgebers, etwa bei der Auslegung der Vorschriften über die Gerichtsstände des Geschädigten in der EuGVO, besondere Beachtung und schützen so auch das bereits besprochene Zuständigkeitssystem der Unionsrechtsordnung, das jedem Organ eine eigene Aufgabe zuweist und so ein institutionelles Gleichgewicht herstellt.181 Hat der EuGH die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV),182 so ist mit dieser Aufgabe ausdrücklich keine eigene Rechtsetzungskompetenz verbunden. Wie bereits vorstehend besprochen,183 handelt es sich insoweit bei dem Zuständigkeitssystem um eine staatstypische Parallele in der Europäischen Rechtsordnung, die mit dem nationalstaatlichen Prinzip der Gewaltenteilung vergleichbar ist.184 Das Auslegungsziel der Subjektiven Theorie, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, schützt diesen Teil des Demokratieprinzips und damit auch ein Leitprinzip der Europäischen Union, Art. 2 S. 1 EUV.185 179 In diesem Sinne Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 430. 180 ABl. EU vom 20.12.2012, L 351/3. 181 Vgl. oben unter Teil 3 § 1 II. 1. b); zum institutionellem Gleichgewicht: EuGH vom 05.07.1995, Rs. C-21/94 (Parlament ./. Rat), Slg. 1995, I-1827, Rn. 17 f.; EuGH vom 29.10.1980, Rs. 138/79 (SA Roquette Frères ./. Rat), Slg. 1980, 3333, Rn. 33; vgl. auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 278. 182 Siehe oben Teil 3 § 1 II. 2. b) aa). 183 Siehe oben Teil 3 § 1 III. 184 Siehe oben Teil 3 § 1 II. 1. b); vgl. hierzu auch: Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 9. 185 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 430; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 9; Hen-

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2. Objektive Theorie Für die Objektive Theorie spricht, dass aufgrund der sich fortschreitend entwickelnden Rechtsordnung der Europäischen Union186 das Gesetz vom Zeitpunkt der Anwendung an eine eigene Wirksamkeit entfaltet, die über die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers hinausgehen kann.187 Dies kann zum einen daran liegen, dass der Gesetzgeber die durch den „Wandel der Zeit“ angestoßenen Entwicklungen schlicht nicht vorhersehen kann,188 aber eben auch an der besprochenen Dynamik des Europäischen Sekundärrechts,189 die dafür sorgt,190 dass das Gesetz proportional zum Faktor Zeit eine eigene, von der ursprünglichen Vorstellung des historischen Gesetzgebers zu differenzierende Bedeutung erlangt.191 Zu diesen Vorzügen der Objektiven Theorie führen daher Larenz/Canaris treffend aus: „Wer ein Gesetz jetzt auslegt, sucht in ihm eine Antwort auf Fragen der Gegenwart, nicht der Vergangenheit.“192 Die Befürworter der Objektiven Theorie vertreten daher die Auffassung, dass es bei der Auslegung entscheidend auf die objektive Bedeutung einer Norm zum Zeitpunkt der Auslegung ankommt und nicht auf den Willen des historischen Gesetzgebers.193 3. Vereinigungslehre Lässt man die Möglichkeit, dass dem Gesetzgeber beim Entwurf einer Norm auch Fehler unterlaufen können, die das spätere Auslegungsergebnis beeinflussen können, wie zum Beispiel ein widersprüchlicher Wortlaut, außer Acht und konstruiert eine hypothetische Idealsituation, so kommen zum Zeitpunkt, an dem ein Gesetz erlassen wird, Subjektive und Objektive Theorie trotz ihrer unterschiedninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 278; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (529). 186 Siehe oben ausführlich in Teil 2, dargestellt am Beispiel des Europäischen Zivilprozessrechts. 187 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 138; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 65; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 317. 188 Siehe oben Teil 2 § 1. 189 Siehe oben ausführlich unter Teil 2. 190 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 65; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (529). 191 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 429; in diesem Sinne auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 138. 192 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 139; auch zitiert von Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 65. 193 Leisner, EuR 2007, 689 (690).

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lichen Ansätze zum gleichen Auslegungsergebnis: Der historische Wille des Gesetzgebers und der objektiv-geltungszeitliche Normzweck stimmen zu diesem Zeitpunkt noch überein.194 Erst die Veränderungen durch den Wandel der Zeit und auch die Dynamik des Rechts führen dazu, dass die Ergebnisse beider Theorien auseinanderfallen. Mit den Worten von Larenz/Canaris195 gewinnt das Gesetz „[…] mit der Länge der Zeit mehr und mehr gleichsam ein eigenes Leben und entfernt sich damit von den Vorstellungen seines Urhebers“. Während die Subjektive Theorie an einem Fixpunkt festhält,196 ist Sinn und Zweck der Objektiven Theorie auf Veränderungen der Rechtsordnung und der auf sie wirkenden Faktoren reagieren zu können.197 Mit Verweis auf die Bedenken gegen eine vom EuGH geforderte dynamische Auslegung, die auch von den Gegnern der heute herrschenden Meinung bei der Auslegung des Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b vorgetragen werden,198 wird allerdings deutlich, dass die dargestellten Schutzgüter der Subjektiven Theorie auch in einer sich fortschreitend entwickelnden Rechtsordnung nicht an Bedeutung verlieren.199 Man würde es sich daher zu leicht machen, das Problem des methodischen Umgangs mit der Dynamik über eine ausschließliche Anwendung der Objektiven Theorie zu lösen. Insbesondere läuft eine Auslegung, deren ausschließliches Ziel es ist, den objektiv-geltungszeitlichen Normzweck zu ermitteln, Gefahr mit dem dargestellten Zuständigkeitssystem der Europäischen Rechtsordnung in Konflikt zu geraten.200 Es ist daher überzeugend und richtig, dass die Auslegungskriterien der Subjektiven Theorie auch in der Rechtsprechung des EuGH eine Rolle spielen. So spricht sich der EuGH beispielsweise in der Rechtssache Junk dafür aus, die Vorschriften des Unionsrechts „nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck“ auszulegen.201

194 Eine Auslegung, die versucht mit Hilfe von objektiven Kriterien den Norminhalt zum Entstehungszeitpunkt zu ermitteln wird als objektiv-historische Auslegung bezeichnet, vgl. Leisner, EuR 2007, 689 (690). 195 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 138. 196 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 1. 197 So auch Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 89. 198 Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. c). 199 A. A. scheinbar: Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 67 f. 200 Siehe oben Teil 3 § 1 II. 1. b); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 104. 201 EuGH vom 27.01.2005, Rs. C-188/03 (Junk ./. Kühnel), Slg. 2005, I-885, Rn. 33; so auch: EuGH vom 12.11.1969, Rs. 26/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419, Rn. 3; EuGH vom 07.07.1988, Rs. 55/87 (Moskel ./. BALM), Slg. 1988, 3845, Rn. 15; EuGH vom 20.11.2001, Rs. C-268/99 (Aldona Malgorzata Jany u. a. ./. Staatssecretaris van Justitie), Slg. 2001, I-8615, Rn. 47; auch zitiert bei Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 11.

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Eine Lösungsmöglichkeit, um diesen eher in Richtung Subjektive Theorie weisenden Ansatz in der Rechtssache Junk mit der beschriebenen Dynamik innerhalb der Europäischen Rechtsordnung zu vereinen, wäre es, den generellen Willen zur fortschreitenden Integration der Völker Europas (Art. 1 Abs. 2 EUV) immer auch als Teil des zu ermittelnden historischen Willen des Gesetzgebers anzusehen. So würde die Beachtung etwaiger Änderungen innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung auch im Rahmen der Auslegung nach der Subjektiven Theorie mit einbezogen.202 Dieser gerade in Anbetracht der am Europäischen Zivilprozessrecht dargestellten Auswüchse der Dynamik203 wohl als „Kunstgriff“ zu bezeichnende Lösungsweg steht aber im Widerspruch mit der einleitend zitierten C.I.L.F.I.T. Entscheidung:204 Sind es doch auf den objektiven Telos der Vorschriften zur Zeit der Anwendung abzielende Kriterien, auf die der EuGH hier abstellt.205 Um beiden Theorien gleichsam Beachtung zu schenken und die Vorschriften des Sekundärrechts sowohl im Sinne der Entscheidung in der Rechtssache Junk als auch im Sinne der Rechtssache C.I.L.F.I.T. auszulegen, greift auch der EuGH auf eine Mischform zwischen Subjektiver und Objektiver Theorie zurück.206 Mit dem Ansatz der Vereinigungslehre207 ist es dem EuGH möglich, einen objektivierten Willen des Gesetzgebers zu ermitteln und so, wie in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen geschehen, beispielsweise den Erwägungsgrund 16a in die Auslegung des Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b mit einzubeziehen.208 Die Vereinigungslehre wird vom Bundesverfassungsgericht wie folgt umschrieben:209 „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist.“

202 In diese Richtung: Looschelders/W. Roth, Juristische Methoden im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 62 ff. 203 Siehe oben Teil 2 § 2. 204 Siehe oben Teil 1 § 1. 205 Siehe oben Teil 1 § 1; EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, Rn. 20. 206 Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 278 f. 207 Vgl. Vereinigungstheorie des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG, Urt. v. 21.05.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299 (312); BVerfG, Urt. v. 17.05.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60, BVerfGE 11, 126 (129 ff.); BVerfG, Urt. v. 22.10. 1985 – 1 BvL 44/83, BVerfGE 71, 81 (106); BVerfG, Urt. v. 9.11.1988 – 1 BvR 243/86, 79, 106 (121); vgl. Leisner, EuR 2007, 689 (692); siehe hierzu auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 53 f. 208 Siehe oben Teil 3 § 1. 209 BVerfG, Urt. v. 21.05.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299 (312).

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4. Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen der Vereinigungslehre Die zitierte Umschreibung des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich,210 dass es innerhalb der Vereinigungslehre unklar bleibt, was genau unter dem „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ zu verstehen ist und wie sich dieser zusammensetzt.211 Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich aufgrund der unterschiedlichen Beurteilung des Verhältnisses von subjektiven und objektiven Elementen in der Literatur ein Anschlussstreit entwickelt hat.212 Dabei stehen beide Elemente für grundlegende Bausteine der Unionsrechtsordnung, die, wie es Leisner ausdrückt, zu einer Spannungslage zwischen Kontinuität der Rechtsordnung auf der einen und Wandel hin zu einer stärkeren Integration auf der anderen Seite führen.213 Für den methodischen Umgang mit der Dynamik der Rechtsordnung kommt es daher darauf an, wie dieses Spannungsverhältnis zwischen Kontinuität und Wandel aufgelöst wird. Es kann dabei kein abstraktes Ergebnis aufgezeigt werden. Vielmehr ist in jedem Einzelfall ein unterschiedliches Ergebnis zu erzielen.214 Es ist daher auch Ziel dieser Arbeit, die zu beachtenden Grundsätze aufzuzeigen und keine Grundregel im Sinne einer auf jeden Fall anzuwendenden Formel zu schaffen. Trotzdem lässt aber die Tatsache, dass es sich bei der Unionsrechtsordnung um eine Integrationsrechtsordnung handelt,215 zumindest den ersten Schluss zu, dass die auf Kontinuität setzenden subjektiven Auslegungselemente weniger starke Beachtung finden dürfen216 als dies beispielsweise in der deutschen Rechtsordnung der Fall ist,217 da die Kontinuität der Auslegung hinter dem Fernziel der Europäischen Integration zurücktreten muss.218 Es ist daher davon auszugehen, dass das Mischverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Elementen eher zugunsten der objektiven Elemente ausfällt.

210 211

S. 30. 212

Siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. Looschelders/W. Roth, Juristische Methoden im Prozess der Rechtsanwendung, 1996,

Vgl. z. B. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S.104 f. Leisner, EuR 2007, 689 (692); in diesem Sinne auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 67. 214 In diesem Sinne auch Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 476. 215 Siehe oben Teil 2 § 1. 216 Vgl. Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1181); Streinz, ZEuS 2004, 387 (402, 404 f.). 217 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 76; a. A.: Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 12 („zentrale Rolle“). 218 So auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 67. 213

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III. Modifizierter Auslegungskanon Die Auslegung erfolgt auch in der Unionsrechtsordnung mit Hilfe der vier auch aus der Methodik der deutschen Rechtsordnung bekannten Auslegungskriterien: - der grammatischen Auslegung, - der historischen Auslegung, - der systematischen Auslegung und - der teleologischen Auslegung.219 Die Autoren,220 die der Ausfassung sind, der EuGH verfolge einen völkerrechtlichen Ansatz für die Unionsauslegung, überzeugen nicht. Zum einen lehnt der EuGH dies selbst ab221 und zum anderen lässt sich zwar der völkerrechtliche Ursprung der Unionsrechtsordnung nicht verleugnen, spätestens seit der Entscheidung van Gend & Loos222 am 5. Februar 1963 steht aber fest, dass sich die Unionsrechtsordnung zwischenzeitlich zu einer Rechtsordnung sui generis weiterentwickelt hat. Neben dieser Besonderheit spricht gegen eine Anwendung völkerrechtlicher Grundsätze bei der Auslegung, dass es sich bei der Union um eine Rechtsgemeinschaft handelt und Durchsetzungsmechanismen in den Verträgen existieren,223 um eine eigene Rechtsanwendung zu gewährleisten.224 Eine besondere Bedeutung bei der Auslegung des Europäischen Sekundärrechts spielt allerdings der Rechtsvergleich, insoweit wird auch von einem fünften Auslegungskriterium gesprochen.225 Nachstehend werden die fünf Auslegungskriterien zur Auslegung des Sekundärrechts einleitend dargestellt und die Besonderheiten bei deren Anwendung auf Normen des Sekundärrechts aufgezeigt. Ähnlich wie im Fall der autonomen Auslegung verändern sich die Auslegungskriterien,226 insbesondere deren Bedeutung, mit der fortschreitenden Entwicklung und Veränderung der Unionsrechtsordnung. Im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung der Entwicklung des Meinungsstreits 219 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 13. 220 So etwa: Bleckmann, Europarecht, 6. Auflage 1997, Rn. 537; Streinz, ZEuS, 2004, 387 (405 ff.). 221 EuGH vom 23.02.1998, Rs. 68/86 (Vereinigtes Königreich ./. Rat – Hormone), Slg. 1998, 855, Rn. 24. 222 EuGH vom 05.02.1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen), Slg. 1963, 1. 223 So zum Beispiel die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV, das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV und das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV. 224 So auch Roder, Die Methodik des EuGH im Urheberrecht, 2016, S. 94. 225 Streinz, ZEuS 2004, 387 (405); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 189. 226 Siehe oben Teil 3 § 3 I.

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über einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten ist es daher wichtig, diese Veränderungen herauszufiltern, um sich auf den durch die Entwicklungen des Unionsrechts angestoßenen Wandel des Auslegungsergebnisses fokussieren zu können. Um diesen Vorgang zu erleichtern, werden nachstehend zudem die Auswirkungen der im Teil 2 beschriebenen Dynamik des Sekundärrechts auf die jeweiligen Kriterien selbst dargestellt. 1. Grammatische Auslegung Ausgangspunkt und Rahmen der Auslegung des Europäischen Sekundärrechts ist der Wortlaut des jeweils auszulegenden Rechtsakts.227 Für den Fall, dass sich über die grammatische Auslegung Sinn und Zweck des Rechtsakts nicht zweifelsfrei ermitteln lassen,228 ist ergänzend auf Historie, Systematik und Teleologie des Rechtsakts zurückzugreifen.229 Die grammatische Auslegung erstreckt sich sowohl auf den Sinn des Wortlauts nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als auch auf den nach der speziellen Sprachregelung des betreffenden Normgefüges.230 Da ein eindeutiger Sinngehalt oftmals schwer zu ermitteln ist, dient die grammatische Auslegung dem EuGH in der Regel nur dazu, der nachfolgenden Auslegung einen Rahmen zu geben (eingrenzende Funktion).231 a) Besonderheiten der grammatischen Auslegung auf Unionsebene aa) Mehrsprachenauthentizität Ein Grund dafür, warum die grammatische Auslegung im Auslegungsprozess innerhalb der Unionsrechtsordnung keine herausragende Rolle spielt, ist die aufgrund der Sprachenvielfalt innerhalb der Unionsrechtsordnung nochmals geringere Wahrscheinlichkeit, anhand des Wortlauts einen eindeutigen Sinngehalt zu ermitteln.232 Die Rechtsakte der Europäischen Union werden zum heutigen Zeitpunkt in 227 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 152; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 162 f. 228 Im Fall eines eindeutigen Wortlauts ist der Auslegungsvorgang nach der Regel „in claris non fit interpretatio“ beendet; vgl. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, S. 359. 229 Vgl. EuGH vom 05.05.2011, Rs. C-434/09 (Shirley McCarthy ./. Secretary of State for the Home Department), EuZW 2011, 522, Rn. 31. 230 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 152; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage 2012, S. 42 f. 231 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 125; in diesem Sinne auch: Roder, Die Methodik des EuGH im Urheberrecht, 2016, S. 99. 232 W-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), S. 787 (799); Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 53; Hess, IPRax 2006, 348 (354); H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (882).

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vierundzwanzig Amtssprachen abgefasst, die alle im gleichen Maß verbindlich sind (Mehrsprachenauthentizität), Art. 55 EUV, Art. 358 AEUV. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist daher, selbst wenn eine Regelung in einer Sprachfassung eindeutig erscheint, der Wortlaut der Regelung mit allen übrigen Sprachfassungen zu vergleichen (sog. Textkritik).233 Zweifel am Sinn und Zweck einer Regelung können trotz eines (vermeintlich) eindeutigen Wortlauts in einer Sprachfassung erst im Vergleich zu einer anderen Sprachfassung entstehen.234 Durch den Vergleich soll eine unionsrechtliche Wortbedeutung gesucht werden.235 Da Worte in den verschiedenen Sprachfassungen grundsätzlich dieselbe Bedeutung haben sollen, muss im Fall von Divergenzen auf andere Auslegungskriterien ausgewichen werden.236 So hatte der EuGH in der Rechtssache Koschniske einen Fall zu entscheiden,237 in dem die niederländische Sprachfassung der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern von der Ehefrau (Niederländisch: „echtgenote“) sprach, wohingegen die deutsche, französische, englische, italienische und dänische Fassung den geschlechtsneutralen Begriff „Ehegatte“ verwendeten.238 Der EuGH machte in seiner Urteilsbegründung deutlich, dass auch wenn die niederländische Fassung der Verordnung den Eindruck erweckt, dass sich das entscheidende Tatbestandmerkmal ausschließlich auf eine Person weiblichen Geschlechts bezieht, die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung der Gemeinschaftsverordnung verbietet, „diese Fassung für sich alleine zu betrachten“, und dazu zwingt, „die Vorschrift unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen“.239 Der Vergleich mit den anderen sprachlichen Fassungen der Vorschrift zeigte sodann, 233

EuGH vom 06.10.1982 – Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, Rn. 18; vgl. Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 45. EL August 2011, Art. 55 EUV Rn. 4 f.; Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 56; Fleischer, RabelsZ 66 (2002), S. 700 (713). 234 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Union, 1996, S. 148 ff.; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 71. 235 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 208; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 71. Ein passendes Beispiel für die Probleme der Mehrsprachenauthentizität findet sich im Schlosser-Bericht vom 09.10.1978, ABl. EG 1979, C-59/71. Auf Seite 117 wird der deutsche Begriff „Versicherungsnehmer“ mit dem englischen Begriff „policy holder“ verglichen, der nicht nur den Vertragspartner des Versicherers beschreibt, sondern auch den Begünstigten. 236 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 71; so letztlich auch Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 158 ff. 237 EuGH vom 12.07.1979, Rs. 9/79 (Koschniske ./. Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717. 238 Beispiel auch bei Kreße, ZRP 2014, 11 (12). 239 EuGH vom 12.07.1979, Rs. 9/79 (Koschniske ./. Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717 (2724), Rn. 6.

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„dass diese sämtlich einen Begriff verwenden, der sowohl männliche als auch weibliche Arbeitnehmer erfasst.“240 Der EuGH kam so – auch auf teleologische Erwägungen gestützt – zu dem Ergebnis, dass von dem Begriff „echtgenote“ in diesem Fall auch der Ehemann erfasst ist.241 Durch die Besonderheit der Mehrsprachenauthentizität büßt das Auslegungskriterium im Vergleich zu den anderen Kriterien an Bedeutung ein242 und dient daher in der Regel nur als Rahmen für die weitere Auslegung.243 Dies gilt insbesondere, wenn es sich nicht nur wie in der Rechtssache Koschniske um einen Ausreißer in einer Sprachfassung handelt, sondern sich das Auslegungsergebnis nur unter Zuhilfenahme der übrigen Auslegungskriterien ermitteln lässt. Passende Beispiele dazu bieten die Rechtssachen Buttergutscheine244 und Spinnfasern und Scherstaub.245 In der Rechtssache Buttergutscheine ging es um eine Entscheidung der Kommission, anhand derer die Mitgliedstaaten zur Abgabe von Butter unter Marktpreis an sozialschwache Verbrauchergruppen ermächtigt wurden. Um Missbrauch auszuschließen, sollten die Begünstigten nach der deutschen und niederländischen Fassung der Kommissionsentscheidung die Butter nur gegen einen „auf ihren Namen ausgestellten Gutschein“ erhalten (Niederländisch: „op nam gestelde bon“), wohingegen in der französischen und italienischen Fassung lediglich ein individualisierter Gutschein verlangt wurde (Französisch: „bon individualise“; Italienisch: „buono individualizzato“).246 Zunächst betonte der EuGH auch hier, dass die einzelnen in den Mitgliedstaaten veröffentlichten Fassungen nicht isoliert betrachtet werden dürften. Anders als in der Rechtssache Koschniske lieferte aber hier der Vergleich zwischen den unterschiedlichen Sprachfassungen kein Ergebnis, so dass der EuGH sogleich auf andere Auslegungskriterien auswich und die Vorschrift „nach 240 EuGH vom 12.07.1979, Rs. 9/79 (Koschniske ./. Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717 (2724), Rn. 7. 241 EuGH vom 12.07.1979, Rs. 9/79 (Koschniske ./. Raad van Arbeid), Slg. 1979, 2717 (2724), Rn. 9. 242 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 169; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 159; anders: Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004, S. 79; die Argumente von Dederichs können allerdings nicht überzeugen, denn an der bloßen Anzahl der verwendeten Wortlautargumente lässt sich deren Bedeutung für die gesamte Auslegung nur bedingt messen, da es sich immer um den Ausgangspunkt der Auslegung handelt. 243 So z. B. EuGH vom 21.02.1973, Rs. 6/72 (Europenballage Corp. u. a. ./. Kommission), Slg. 1973, 215 (245 f.); EuGH vom 28.02.1980, Rs. 67/79 (Fellinger ./. Bundesanstalt für Arbeit), Slg. 1980, 535 (544 f.); Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 58; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 10 Rn. 19; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 282. 244 EuGH vom 12.11.1969, Rs. 29/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419. 245 EuGH vom 16.10.1980, Rs. 816/79 (Mecke & Co ./. Hauptzollamt Bremen-Ost), Slg. 1980, 3029. 246 EuGH vom 12.11.1969, Rs. 29/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419 (420); Beispiel auch bei Kreße, ZRP 2014, 11 (12).

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dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Lichte ihrer Fassung in allen vier Sprachen“ auslegte.247 Da nicht davon auszugehen ist, dass einem Mitgliedstaat weitergehende Pflichten auferlegt werden sollen als einem anderen, ist nach der Rechtsprechung des EuGH, ausgehend vom Zweck der auszulegenden Vorschrift der am wenigsten belastenden Auslegung der Vorzug zu geben.248 In der Rechtssache Buttergutscheine kam der EuGH so zu dem Ergebnis, dass die Vorschrift eine namentliche Unterscheidung nicht vorschreibt, aber auch nicht untersagt, so dass die Mitgliedstaaten zwischen den Individualisierungsmethoden wählen können.249 Ähnlich war der Fall in der Rechtssache Spinnfasern und Scherstaub gelagert.250 Im Rahmen der sprachvergleichenden Untersuchung des hier gegenständlichen Zolltarifs wurde deutlich, dass die sechs untersuchten Sprachfassungen „recht uneinheitlich“ sind und es daher einer Klarstellung bedarf,251 „um unterschiedliche Auslegungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten je nach der verwendeten Fassung zu verhindern.“252 Wiederum beginnend mit einer Auslegung am Wortlaut, musste der EuGH auch hier sein Auslegungsergebnis über die sonstigen Auslegungskriterien begründen.253 bb) Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe Neben der europäischen Besonderheit der Sprachenvielfalt ist mit Blick auf die grammatische Auslegung zu beachten, dass auch in der Rechtsordnung der Europäischen Union der Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe gilt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsakten unterschiedliche Bedeutung haben.254 Bei heutiger Anwendung dieses Grundsatzes ist zu beachten, dass, wie im vorstehenden Teil 2, § 3 gezeigt, durch die beschriebene Dynamik des Sekundärrechts 247 248 249

und 6. 250

EuGH vom 12.11.1969, Rs. 29/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419 (425) Rn. 3. EuGH vom 12.11.1969, Rs. 29/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419 (425) Rn. 4. EuGH vom 12.11.1969, Rs. 29/69 (Stauder ./. Stadt Ulm), Slg. 1969, 419 (425) Rn. 4

EuGH vom 16.10.1980, Rs. 816/79 (Mecke & Co ./. Hauptzollamt Bremen-Ost), Slg. 1980, 3029 (3039), Rn. 13. 251 EuGH vom 16.10.1980, Rs. 816/79 (Mecke & Co ./. Hauptzollamt Bremen-Ost), Slg. 1980, 3029 (3039), Rn. 13. 252 EuGH vom 16.10.1980, Rs. 816/79 (Mecke & Co ./. Hauptzollamt Bremen-Ost), Slg. 1980, 3029 (3039), Rn. 14. 253 EuGH vom 16.10.1980, Rs. 816/79 (Mecke & Co ./. Hauptzollamt Bremen-Ost), Slg. 1980, 3029 (3040 f.). 254 Ausführlich hierzu Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 20; so zum Beispiel EuGH vom 23.04.2009, Rs. 533/07 (Falco Privatstiftung u. a. ./. Gisela Weller-Lindhorst.), Slg. 2009, I-3327, Rn. 33 ff.; siehe auch Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 62 m. w. N.

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auch die Kohärenzen innerhalb des Sekundärrechts zunehmen.255 Die Relativität der Rechtsbegriffe ist daher heute bereits die Ausnahme und nicht, wie im Fall einer stark fragmentierten Rechtsordnung, die Regel. Es darf nicht a priori vermutet werden, dass einem Rechtsbegriff in unterschiedlichen Rechtsakten auch unterschiedliche Bedeutung zukommt. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Rechtsbegriffe innerhalb des gesamten Sekundärrechts dasselbe meinen,256 so dass die Anwendung des Grundsatzes der Relativität der Rechtsbegriffe der gesonderten Begründung bedarf. b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass dem Wortlaut einer Vorschrift – bedingt durch externe oder interne Umstände des Wandels einer Rechtsordnung257 eine andere Bedeutung zukommt, als dies bei Erlass des Rechtsaktes der Fall war.258 Insoweit kann die fortschreitende Entwicklung der Unionsrechtsordnung auch Auswirkungen auf die grammatische Auslegung haben. Es stellt sich daher die Frage, ob bei der Ermittlung des Wortsinns auf den Sprachgebrauch zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorschrift oder auf den der Anwendung abzustellen ist.259 Da es Ziel der Auslegung ist,260 den objektivierten Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, ist sowohl der frühere als auch der aktuelle Wortsinn für die Auslegung von gewisser Bedeutung, so dass sich hier letztlich der Anschlussstreit der Vertreter der Vereinigungslehre über das Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen des Auslegungsziels wiederholen lässt.261 Da die Auslegung des Wortlauts262 Ausgangspunkt und Rahmen einer jeder Auslegung ist, birgt der Meinungsstreit an dieser Stelle das Risiko der Kopflastigkeit. Das strittige Verhältnis von historischen Argumenten und dem Telos wird vorverlagert, ohne dass sich hierdurch ein ersichtlicher Vorteil ergibt. Um das Auslegungskriterium der grammatischen Auslegung nicht zu überstrapazieren erscheint die Meinung von Müller/Christensen vorzugswürdig, die davon ausgehen, dass es in der grammatischen Auslegung tatsächlich nur um die Ermittlung des objektiven Sinns des Wortlauts gehe; das subjektive Meinen des historischen Gesetzgebers könne dagegen lediglich eine bestätigende Rolle 255

Siehe oben Teil 2 § 3. Vgl. Jung mit Blick auf das Gesellschaftsrecht, in: Jung, Die Kapitalverfassung der Societas Privata Europea (SPE), 2014, S. 122. 257 Zu den Faktoren des Wandels der Unionsrechtsordnung siehe oben Teil 2 § 1. 258 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Union, 1996, S. 85. 259 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 144. 260 Siehe oben Teil 3 § 3 II. Auch über das Ziel der Auslegung argumentierend Hassold, in: FS für Larenz, 1983, S. 211 (223); ähnlich Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Union, 1996, S. 85. 261 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. 262 Siehe oben Teil 3 § 3 III. 1. 256

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spielen.263 Die Relevanz etwaiger Unterschiede zwischen dem objektiven Wortsinn und dem, den der historische Gesetzgeber vor Augen hatte, ist mit Hilfe der übrigen Auslegungskriterien zu klären.264 Es ist daher im Rahmen der grammatischen Auslegung zunächst nur die gegenwärtige Gebrauchsweise des Wortlauts zu untersuchen.265 2. Systematische Auslegung Wie schon aus der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung deutlich wird,266 stützt der EuGH sein dortiges Auslegungsergebnis auch auf systematische Erwägungen:267 „Schließlich ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts […] auszulegen.“268

Auch im Rahmen der systematischen Auslegung gibt es zwischen europäischer und deutscher Methodik keine grundsätzlichen Unterschiede. Auch für die Europäische Rechtsordnung gilt der Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung.269 Aus diesem Grund kann über die systematische Auslegung versucht werden, den Sinn einer Vorschrift mit Hilfe des sich aus dem Rechtssystem ergebenden Bedeutungszusammenhangs zu ermitteln.270 Hinter dem Auslegungskriterium steht damit auch in der Europäischen Rechtsordnung die Erkenntnis, dass sich der Sinn eines Rechtssatzes nur dann vollständig erschließt, wenn man ihn als Teil der Rechtsordnung betrachtet, zu der er gehört.271 a) Besonderheiten auf Unionsebene Die verschiedenen Ebenen der systematischen Auslegung führen dazu, dass die Funktion dieses Auslegungskriteriums dadurch, dass es sich bei der Unionsrechtsordnung nicht um eine homogene Gesamtrechtsordnung handelt, nie vollständig aufgehoben wird. Denn der Sinn der auszulegenden Vorschrift kann sowohl anhand 263 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 44; in diesem Sinn letztlich auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, 3. Auflage 1995, S. 145. 264 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 144. 265 Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 79. 266 Siehe oben Teil 1 § 1. 267 EuGH vom 06.10.1982, Rs. 283/81 (C.I.L.F.I.T. u. a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, Rn. 20. 268 Vgl. auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 283. 269 Siehe oben Teil 2 § 4 II. 270 So z. B. EuGH vom 23.04.2009, Rs. C-167/08 (Draka NK Cables Ltd., u. a.), Slg. 2009, I-3477, Rn. 20 ff.; allgemein zur systematischen Auslegung Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 22 ff. 271 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, 146; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 149.

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der Stellung im jeweiligen Unionsrechtakt (Ebene 1) als auch anhand des jeweiligen Systems innerhalb der Rechtsordnung ermittelt werden, dem dieser Unionsrechtsakt angehört (Ebene 2).272 Lässt sich aufgrund des, wenn auch in zunehmenden Maße verschwindenden,273 fragmentarischen Charakters der Unionsrechtsordnung noch kein System innerhalb der Rechtsordnung erkennen, so ist eine systematische Auslegung eben nur auf Ebene 1 möglich und die zusätzliche systematische Auslegung auf Ebene 2 entwickelt sich erst mit der fortschreitenden Integration. Auch Hess differenziert hier ganz ähnlich zwischen „der systematischen Auslegung im engeren Sinn“ innerhalb des Unionsrechtsakts, in dem sich die auszulegende Vorschrift befindet (vorstehend als systematische Auslegung auf Ebene 1 bezeichnet), und der „systematischen Auslegung im weiteren Sinn“, zu der es kommt, wenn Rechtsakte aufeinander Bezug nehmen und ein größeres System bilden (vorstehend als systematische Auslegung auf Ebene 2 bezeichnet).274 Der Rechtsanwender kann über die systematische Auslegung im engeren Sinn auch in stark fragmentarischen Bereichen der Europäischen Rechtsordnung Ergebnisse erzielen,275 da jeder Rechtsakt für sich ein kleines Rechtssystem bildet.276 Eine Besonderheit der systematischen Auslegung auf der Ebene der Unionsrechtsordnung ist daher, dass es mittels der systematischen Auslegung auf Ebene 2 (auch: systematische Auslegung in weiteren Sinn) regelmäßig schwieriger sein wird, zu einem Ergebnis zu gelangen als dies beispielsweise in der kohärenten deutschen Rechtsordnung der Fall ist. Dies gilt insbesondere deshalb, weil regelmäßig nicht klar ist, in welcher Beziehung einzelne Rechtsakte zueinander stehen.277 Schon die angesprochene Relativität der Rechtsbegriffe278 verbietet es, Begrifflichkeiten ohne vorherige Prüfung eines systematischen Regelungszusammenhangs auf einen anderen Sekundärrechtsakt zu übertragen.279 Eine wichtige Rolle bei Beantwortung der 272 Langenbucher, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 4. Auflage 2017, § 1 Rn. 25; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 148 ff.; allgemein zur systematischen Auslegung, Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, 145 ff. 273 Zur Entwicklung der Rechtsordnung siehe oben Teil 2. 274 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 60; So z. B. EuGH vom 21.04.1993, Rs. C-172/91 (Sonntag ./. Waidmann), Slg. 1993, I-1963, Rn. 24. 275 Herresthal, ZEuP 2009, 598 (606); für das Europäische Zivilprozessrecht Kropholler/ von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 72; a. A.: Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 23; Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 58. 276 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 72; zur primärrechtskonformen Auslegung als Sonderfall der systematischen Auslegung vgl. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 284 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 150. 277 Das Problem anhand eines Beispiels dargestellt bei Fleischer, RabelsZ 75 (2011), S. 700 (711 f.). 278 Siehe oben Teil 3 § 3 III. 1. a) bb). 279 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 73.

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Frage, ob zwischen zwei Rechtsakten ein systematischer Zusammenhang besteht, spielen die Erwägungsgründe. Bestes Beispiel dafür sind die Erwägungsgründe in Rom I-VO und Rom II-VO, die im „Exkurs zum Spillover-Effekt“ dargestellt wurden (hierzu sogleich ausführlich in den Besonderheiten der historischen Auslegung).280 b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts Die dargestellten Formen der systematischen Auslegung auf Ebene 1 und Ebene 2281 auf der einen und die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts282 auf der anderen Seite machen deutlich, dass der fortschreitende Ausbau der Unionsrechtsordnung auch Auswirkungen auf dieses Auslegungskriterium hat. Durch die fortschreitende Integration wird die Funktionalität der systematischen Auslegung insbesondere auf Ebene 2 gesteigert, da sich der mögliche Bezugsrahmen der systematischen Auslegung laufend erweitert.283 Diese Entwicklungen können schließlich dazu führen, dass ein ehemals für richtig gehaltenes Auslegungsergebnis, das durch systematische Auslegung auf Ebene 2 ermittelt worden ist, den Veränderungen im Rechtssystem angepasst werden muss.284 Denkbar ist eine derartige evolutive Veränderung etwa, wenn der Unionsgesetzgeber durch horizontale Erweiterung einer ursprünglich allein stehenden Verordnung ein weiterreichendes Schutzsystem zukommen lässt. Nur wenn man diesen Ausbau auch in der systematischen Betrachtung berücksichtigt, kann sichergestellt werden, dass die Rechtsordnung zu einem zusammenhängenden, widerspruchsfreien Ganzen wird.285 H. Roth bezeichnet diese Form der systematischen Auslegung im weiteren Sinn als „übergreifende Systematische Interpretation“.286 Bestes Beispiel dafür, dass eine so verstandene systematische Auslegung auch der Rechtsprechung des EuGH entspricht, ist wiederum die Entscheidung in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen.287 Der EuGH hatte den Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO so ausgelegt, dass der Geschädigte vor dem Gericht, in dem er seinen

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Siehe oben Teil 2 § 3. Siehe oben Teil 3 § 3 III. 2. a); von Hess als „systematische Auslegung im engeren Sinn“ und „systematische Auslegung im weiteren Sinn“ bezeichnet. 282 Siehe oben Teil 2. 283 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 60. 284 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 60; so beispielsweise in EuGH vom 12.02.2009, Rs. C-339/07 (Seagon ./. Deko Marty Belgium NV), Slg. 2009, I-767, Rn. 19 ff. 285 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 25. 286 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (880). 287 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen NV ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321. 281

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Wohnsitz hat, Direktklage gegen den Versicherer der Gegenseite erheben kann.288 Zur Bestätigung dieses Auslegungsergebnisses zog der EuGH den Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie heran.289 Ein weiteres Beispiel für die Auswirkungen der Dynamik der Rechtsordnung auf die systematische Auslegung des bestehenden Rechts bietet zudem das Verhältnis von Rom I-VO und Rom II-VO zur EuGVO. Hier wird der Grundsatz der harmonischen Auslegung jeweils in deren Erwägungsgrund 7 ausdrücklich betont. Wie Kropholler/von Hein hervorheben, bedeutet dies eben nicht nur, dass bei der Auslegung der Rom-I und -II VO die EuGVO zu beachten ist, sondern dass umgekehrt auch die Wertungen der beiden Verordnungen bei der Auslegung der EuGVO zu beachten sind.290 3. Historische Auslegung Dem EuGH geht es bei der Auslegung einer Unionsvorschrift zunächst darum, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln.291 So sollen erste Erkenntnisse über Sinn und Tragweite einer unionsrechtlichen Norm aus dem Willen des historischen Gesetzgebers gewonnen werden.292 Dieser wird aufgrund rechtstaatlicher Prinzipien nur anhand veröffentlichter Materialien ermittelt.293 Unterlässt der Gesetzgeber die Veröffentlichung von Materialien, bringt er damit deutlich genug zum Ausdruck, dass diese bei der Auslegung der Vorschriften nicht beachtet werden sollen und eben nicht seinem zu ermittelnden Willen entsprechen.294

288 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen NV ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 31. 289 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen NV ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 29; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 65; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 73. 290 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 74; so auch H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (877). 291 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 4. So zum Beispiel Auslegung „im Lichte der Entstehungsgeschichte“: EuGH vom 23.04.2009, Rs. C-533/07 (Falco Privatstiftung u. a. ./. Gisela WellerLindhorst), Slg. 2009, I-3327, Rn. 20; Auslegung anhand „vorbereitender Arbeiten“ einer Verordnung: EuGH vom 22.05.2008, Rs. C-462/06 (Glaxosmithkline u. a. ./. Jean-Pierre Rouard.), Slg. 2008, I-3965, Rn. 24; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 147 f.; ausführlich: Leisner, EuR 2007, 689 (702 ff.). 292 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 246 und S. 252 ff. 293 Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 60; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 143 und 148; weitergehend Leisner, EuR 2007, 689 (696). 294 So zutreffend: Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 34; i. d. S. auch Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1178); ausführlich zum Problem der zu verwendenden Materialien Fleischer, RabelsZ 75 (2011), S. 700 (718).

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

a) Besonderheiten auf Unionsebene Eine Veröffentlichung der Materialien erfordert der Grundsatz der Offenheit aus Art. 15 Abs. 1 AEUV. Diesem Grundsatz entsprechend werden gemäß Art. 296 Abs. 2 AEUV alle Rechtsakte der Union (vgl. Art. 288 AEUV) mit einer Begründung versehen und nehmen auf die in den Verträgen vorgesehenen Vorschläge, Initiativen, Empfehlungen, Anträge oder Stellungnahmen Bezug. Rahmen der Veröffentlichung ist nach Art. 297 Abs. 3 S. 1 AEUV das Amtsblatt der Europäischen Union.295 Diese den Unionsrechtsakten regelmäßig vorangestellten Erwägungsgründe, spielen in der Rechtsprechung des EuGH, ausgehend von der Häufigkeit der Erwähnung und dem ihnen dabei zugemessenen Gewicht, eine herausragende Rolle für die Ermittlung des historischen Willens des Unionsgesetzgebers.296 Sie sind selbst nicht Bestandteil des Rechtsaktes,297 sondern begründen diesen lediglich.298 Rechte lassen sich aus den Erwägungsgründen freilich nicht ableiten.299 Die Besonderheit der historischen Auslegung auf Unionsebene mit Blick auf die Erwägungsgründe liegt darin, dass sie auch für andere Auslegungskriterien von Bedeutung sind. So finden sich darin oftmals allgemeine Ausführungen zu Motiven und Zielen eines Rechtsaktes.300 Sie geben Auskunft zum Verhältnis der Rechtsakte untereinander, sodass sie für die systematische Auslegung im weiteren Sinn ebenfalls von großer Bedeutung sind.301 Dass die Erwägungsgründe als Schnittstelle zwischen historischer, systematischer und subjektiv-teleologischer Auslegung dienen, ist letztlich eine Besonderheit der unionseigenen Methodenlehre, die auf das Integrationsprinzip zurückzuführen ist. Verfolgt der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass eines Rechtsaktes doch immer auch das Fernziel der fortschreitenden Europäischen Union, sodass aus den Materialien regelmäßig hervorgeht, welcher größere Zweck mit einer Vorschrift verbunden ist und welches System der Rechtsakt aufbauen bzw.

295 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 33. 296 Leisner, EuR 2007, 689 (703), Hess, IPRax 2006, 348 (354); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 148. 297 EuGH vom 13.07.1989, Rs. 215/88 (Casa Fleischhandels ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1989, I-2789, Rn. 31. 298 Hess, IPRax 2006, 348 (354); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2003, S. 171. 299 Vgl. Schlussantrag GA vom 25.11.2003, Rs. C-222/02 (Paul u. a. ./. Bundesrepublik Deutschland), Slg. I-9425 (I-9457 f.); zitiert von Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 36. 300 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 171; vgl. z. B. Erwägungsgrund 13 der EuGVO: „Bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitssachen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.“ 301 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 56.

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ergänzen soll.302 Eine klare Trennung zwischen den Auslegungskriterien ist an dieser Stelle oftmals nicht möglich. b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts Die mit der fortschreitenden Integration verbundenen Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die historische Auslegung. Zwar kann die Dynamik des Rechts keine Auswirkung auf das Ziel dieses Auslegungskriteriums selbst haben, da es sich bei dem historischen Willen des Gesetzgebers, wie oben gezeigt,303 um einen Fixpunkt in der Vergangenheit handelt.304 Allerdings haben primärrechtliche Veränderungen dazu geführt, dass die Quellen, die zur Ermittlung des historischen Willens des Gesetzgebers herangezogen werden, heute andere sind als noch vor zehn Jahren, wodurch sie die Bedeutung der historischen Auslegung verändert haben. Besonders deutlich wird dies wiederum am Beispiel des Europäischen Zivilprozessrechts: Vor dem im Vertrag von Amsterdam vereinbarten Kompetenzzuwachses,305 war das Herzstück dieses Rechtsgebiets das EuGVÜ, ein völkerrechtlicher Vertrag. Obwohl dieser Vertrag durch den EuGH nicht wie ein solcher behandelt wird,306 wurden zur Anwendung des Übereinkommens erläuternde Berichte erstellt – der bekannteste dieser Art stammt von P. Jenard.307 Die Berichte gehen in ihrer Ausführlichkeit weit über die heute zur Auslegung von Unionsrechtsakten vorliegenden Materialien hinaus. Es handelt sich vielmehr um kleine Kommentare zum Übereinkommen, die wissenschaftlich fundierte Erläuterungen zur Anwendung des EuGVÜ enthalten.308 Der historischen Auslegung kam daher in Bereichen, in denen Berichte der beschriebenen Art vorlagen, eine herausragende Bedeutung zu.309 302 Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 61, der auf den Schlussantrag des GA Cosmas zum Urteil des EuGH vom 19.09.1995, Rs. C-48/94 (Ledernes Hovedorganisation als Mandatar für Ole Rygaard ./. Dansk Arbejdsgiverforening als Mandatar für Strø Mølle Akustik A/S), Slg. I-2747 (2753) hinweist: „Es ist daran zu erinnern, dass diese Richtlinie Teil des sozialpolitischen Aktionsprogramms der Gemeinschaft ist.“ 303 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 1. 304 A. A.: Looschelders/Roth, Juristische Methoden im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 62 ff. 305 Siehe oben Teil 2 § 2 I. 1. 306 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 44; vgl. EuGH vom 06.10.1976, Rs. 12/76 (Industrie Tessili Italiana Como ./. Dunlop AG), Slg. 1976, 1473 Rn. 9. 307 Bericht von P. Jenard, ABl.EG 1979, C-59/1 ff.; im Übrigen Berichte von Schlosser, ABl.EG 1979, C-59/79 ff.; Evirgenis/Kerameus, ABl.EG 1986, C-298/1 ff.; Cruz/Desantes, Real/Jenard, ABl.EG 1990, C-189/35 ff. 308 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 55. 309 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 55; so zum Beispiel in folgenden EuGH-Entscheidungen: EuGH vom 04.02.1988, Rs. 145/86 (Horst Ludwig Martin Hoffmann ./. Adelheid Krieg), Slg. 1988, 645, Rn. 10 und 21; EuGH vom 27.09.1988, Rs. 189/87 (Kalfelis ./. Bankhaus Schröder u. a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 9 und 11; EuGH vom 29.04.1999, Rs. C-267/97

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

Abgesehen von wenigen Ausnahmen hat der EuGH das EuGVÜ auch stets nach den Auslegungsanweisungen in den Berichten ausgelegt.310 Die übrigen Auslegungskriterien traten daher schon aus Gründen der Praktikabilität hinter der historischen Auslegung zurück. Nach dem einleitend dargestellten Kompetenzausbau durch den Vertrag von Amsterdam und der Überführung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht wurde die Praxis der erläuternden Berichte aufgegeben.311 Zwar spielen die Berichte in denjenigen Bereichen, in denen die EuGVO auf das EuGVÜ aufbaut und die Verordnung mit dem Übereinkommen wörtlich übereinstimmt, nach wie vor eine Rolle in den Entscheidungen des EuGH.312 Bei Heranziehung der Berichte als Auslegungshilfe muss allerdings gerade in einem sich so schnell entwickelnden Rechtsgebiet wie dem Europäischen Zivilprozessrecht beachtet werden, dass die Berichte, auch wenn sie sich auf einen gleichen bzw. ähnlichen Wortlaut beziehen, aus der Zeit vor dem Amsterdamer Vertrag stammen und damit auch vor der Phase der vorstehend aufgezeigten rasanten Entwicklungen des Sekundärrechts.313 Die zwischenzeitlichen Veränderungen und Anpassungen sind nicht berücksichtigt, sodass der Stellenwert dieser Berichte und damit die historische Auslegung insgesamt heute im Vergleich an Bedeutung verloren haben.314 Aus diesem Grund halten Kropholler/von Hein die historische Auslegung im Europäischen Zivilprozessrechts grundsätzlich nicht für gleichermaßen geeignet wie etwa die teleologische Auslegung.315 Allerdings kann dieser Meinung nicht vollumfänglich gefolgt werden. Richtig erscheinen vielmehr auch hier die Ausführungen von Leisner zum Nutzen der „konservierend-kontinuitätssichernden“ historischen Auslegung.316 Primärrechtliche Veränderungen, wie der dargestellte Kompetenzausbau durch den Vertrag von Amsterdam, können zwar dazu führen, dass zur Ermittlung des historischen Willens des Gesetzgebers andere und möglicherweise weniger detaillierte Materialien zur Verfügung gestellt werden. Die mit Hilfe der historischen Auslegung ermittelten Ergebnisse werden dadurch unschärfer, wodurch das Kriterium selbst an Bedeutung verliert. Die Bedeutung des Kriteriums darf aber aufgrund solcher Veränderungen nicht unterschätzt werden. Vielmehr kommt der (Coursier ./. Fortis Bank u. a.), Slg. 1999, I-2543, Rn. 30; EuGH vom 09.11.2000, Rs. C-387/98 (Coreck Maritime ./. Handelsveem BV u. a.), Slg. 2000, I-9337, Rn. 19. 310 Eine Ausnahme findet sich zum Beispiel in der EuGH-Entscheidung vom 15.01.1985, Rs. 241/83 (Rösler ./. Rottwinkel), Slg. 1985, 99, Rn. 25; in der Entscheidung legt der EuGH Art. 16 Nr. 1 EuGVÜ anders aus als im Bericht von P. Jenard vorgeschlagen; auch beispielshaft aufgeführt bei Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 76. 311 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 55. 312 So z. B. Schlussantrag des GA Léger, Rs. C-281/02 (Owusu ./. N. B. Jackson u. a.), Slg. 2005, I-1383, Rn. 88 f. 313 Siehe ausführlich oben Teil 2 § 2. 314 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 55. 315 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 76. 316 Leisner, EuR 2007 689 (694).

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts

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historischen Auslegung in der besagten Spannungslage zwischen Kontinuität und Wandel hin zu einer stärkeren Integration nach wie vor eine entscheidende Rolle zu,317 um die hinter der Subjektiven Theorie stehenden Werte und Grundsätze zu schützen.318 Der Wegfall der erläuternden Berichte nach Überführung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht und der damit einhergehende Bedeutungsverlust der historischen Auslegung ist vielmehr als gesunde Korrektur zu verstehen,319 die das zuvor gestörte Kräftegleichgewicht zwischen subjektiven und objektiven Kriterien der Auslegung in den betreffenden Bereichen wieder hergestellt hat. 4. Teleologische Auslegung In der Methodik des Europäischen Sekundärrechts dient die teleologische Auslegung dazu, das Auslegungsergebnis anhand von Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift zu ermitteln.320 Hierzu wird Rückgriff auf den Gegenstand der Norm, des Rechtsaktes und des Rechtssystems genommen,321 wodurch es zu Überschneidungen mit den oben stehenden Auslegungskriterien kommt.322 Mit Verweis auf die vorstehend aufgezeigten Ziele der Auslegung ist es entscheidend, innerhalb der teleologischen Auslegung entsprechend zwischen der subjektiv-teleologischen Auslegung und der objektiv-teleologischen Auslegung zu differenzieren.323 Mit Hilfe der subjektiv-teleologischen Auslegung wird versucht, die vom historischen Gesetzgeber verfolgten Ziele und Zwecke zu ermitteln. Die objektiv-teleologische Auslegung nimmt hingegen vom Willen des historischen Gesetzgebers Abstand und versucht objektive Ziele und Zwecke einer Vorschrift zu ermitteln.324 In Bezug auf das Verhältnis der beiden Formen der teleologischen Auslegung kann auf die oben stehenden Ausführungen zum Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen in der Vereinigungslehre verwiesen werden.325 Auch hier stehen sich die Argumente für die Subjektive und die Objektive Theorie gegenüber. Und auch hier gilt in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen subjektiv- und objektiv-teleologischer Auslegung, dass sich eine abstrakte Antwort 317

Leisner, EuR 2007, 689 (694). Leisner, EuR 2007 689 (694). 319 A. A.: Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 Rn. 55, der den Wegfall der Berichte bedauert. 320 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 202. 321 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 202. 322 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 171. 323 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 4. 324 Ausführliche Darstellung bei Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 183 ff. 325 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 4. 318

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

auf dieses Problem nicht finden lässt, sondern die Antwort vielmehr vom jeweiligen Einzelfall abhängt.326 Unabhängig davon, ob eine subjektiv- oder objektiv-teleologische Auslegung vorgenommen wird, ist es für den Rechtsanwender wichtig zu beachten, dass für die Auslegung einer Vorschrift die allgemeinen Ziele innerhalb ihres Rechtsakts (Telos des Rechtsaktes), zunächst nicht ausreichen. Da sie sich auf den gesamten Rechtsakt beziehen, sind sie für die Ermittlung eines konkreten Auslegungsergebnisses nicht spezifisch genug. Ausgehend vom allgemeinen Ziel muss der konkrete Zweck der auszulegenden Vorschrift ermittelt werden (Telos der Norm).327 Das Verhältnis von allgemeinen und konkreten Zielen sieht Riesenhuber in einem Stufenmodell. Auf der ersten Stufe steht dabei der mit Hilfe des teleologischen Auslegungskriteriums zu ermittelnde, konkrete inhaltliche Regelungszweck einer auszulegenden Vorschrift (Telos der Norm).328 Erst wenn dieser nicht ermittelt werden kann, sind auf der zweiten Stufe, und damit subsidiär, die allgemeinen Regelungszwecke des Rechtsakts und im nächsten Schritt der Unionsrechtsordnung zu beachten (Telos des Rechtsaktes).329 a) Besonderheiten auf Unionsebene aa) Motor der Integration Hervorzuheben ist zunächst, dass eine an Ziel und Zweck orientierte Auslegung in besonderer Weise den Elementen der Europäischen Rechtsordnung gerecht wird.330 Die gesamte Unionsrechtsordnung ist auf das Erreichen bestimmter integrativer Ziele ausgerichtet.331 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die teleologische Auslegung im Zentrum der Auslegungsmethodik des EuGH steht.332 Einer am Telos von Norm und Rechtsakt ausgerichteten Auslegung, die im Zentrum der Methodik des EuGH steht, kommt insoweit die Funktion eines integrativen Motors zu, über die die 326

Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 187. Herresthal, ZEuP 2009, 598 (603 f.); Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 41; vgl. zum Beispiel: EuGH vom 12.11.1974, Rs. 32/ 74 (Haaga), Slg. 1974, I-11169, Rn. 15. 328 So auch Herresthal, ZEuP 2009, 598 (604). 329 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 42. 330 I. d. S.: Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 286. 331 Siehe oben ausführlich unter Teil 2 § 1. 332 So z. B.: EuGH vom 18.05.2000, Rs. C-301/98 (KVS International BV ./. Minister van Landbouw, Natuurbeheer en Visserij), Slg. 2000, I-3583, Rn. 21; EuGH vom 23.03.2006, Rs. C-465/04 (Honyvem Informazioni Commerciali Srl ./. Mariella De Zotti), Slg. 2006, I2879, Rn. 17 ff.; EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen NV ./. Jack Odenbreit), Slg. 2007, I-11321, Rn. 28; Herresthal, ZEuP 2009, 598 (603); Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 183; Hess, IPRax 2006, 348 (356); W-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), S. 788 (801). 327

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vorstehend beschriebenen primärrechtlichen Ziele einer fortschreitenden Integration weiter vorangetrieben werden. Wie bei der historischen und systematischen Auslegung spielen die Erwägungsgründe auch im Rahmen der teleologischen Auslegung eine entscheidende Rolle.333 Als Beispiel hierfür sei auf die Erwägungsgründe der EuGVO verwiesen.334 Um die subjektiv-teleologische Auslegung zu erleichtern, findet sich zusätzlich in vielen neueren Verordnungen eine Zielvorgabe am Anfang des Verordnungstextes.335 bb) Effet Utile Eine Besonderheit der teleologischen Auslegung im Europäischen Sekundärrecht ist der effet utile als besonderer Auslegungsgrundsatz.336 Nach diesem ursprünglich aus dem römischen Recht stammenden Grundsatz337 sollen die Vorschriften des Unionsrechts möglichst vollumfänglich ihren Zweck erreichen und praktische Wirksamkeit entfalten,338 so dass der darin angelegte integrative Nutzen vollständig ausgeschöpft wird.339 Der effet utile stellt ein zusätzliches Werkzeug dar, um die tatsächliche und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Er spiegelt die Rechtssprechungspraxis des EuGH wider, dass im Zweifelsfall eine die europäische Integration begünstigende und die nationalen Unterschiede überwindende Auslegung zu präferieren ist.340 333

Vgl. hierzu ausführlich im Rahmen der historischen Auslegung unter Teil 3 § 3 III. 3. a). Vgl. beispielsweise Erwägungsgründe 6 und 11 der EuGVO; diese auch von Hess hervorgehoben in IPRax 2006, 348 (357). 335 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 77, die beispielhaft jeweils Art. 1 EuVTVO, EuMVVO und EuGFVO nennen. 336 Ausdrücklich auf das effet utile verweisend: EuGH vom 08.03.2007, Rs. C-44/06 (Gerlach ./. Hauptzollamt Frankfurt (Oder)), Slg. 2007, I-2071, Rn. 28; siehe hierzu auch Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1180); vgl. Streinz, in: FS für Everling, Band II, 1995, S. 1491 ff.; ausführlich zum effet utile: M. Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft – Zugleich ein Beitrag zur Kompetenzordnung der Europäischen Gemeinschaft, 2003; S. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008; L. Tomasic, Effet utile – Die Relativität teleologischer Argumente im Unionsrecht, 2013. 337 Zur Entwicklung des effet utile vgl. auch H. Honsell, Der „effet utile“ und der EuGH, in: FS für Krejci, 2001, S. 1930 ff. 338 Mit der „praktischen Wirksamkeit“ argumentiert der EuGH beispielsweise in folgenden Entscheidungen: EuGH vom 14.12.2006, Rs. C-283/05 (ASML Netherlands BV ./. Semiconductor Industry Services GmbH (SEMIS)), Slg. 2006, I-12041, Rn. 41; EuGH vom 23.04.2009, Rs. C-533/07 (Falco Privatstiftung u. a. ./. Weller-Lindhorst), Slg. 2009, I-3327, Rn. 43; EuGH vom 16.07.2009, Rs. C-189/08 (Zuid-Chemie BV ./. Philippo’s Mineralenfabriek NV/SA), Slg. 2009, I-6917, Rn. 31. 339 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 183; Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 42a; noch weitergehend: Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 391; in Bezug auf das Völkerrecht vgl. Ipsen, Völkerrecht, 4. Auflage 1999, S. 120, Rn. 16. 340 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 78. 334

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Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

Der Grundsatz könnte auch ein Werkzeug sein, um mit der vorstehend dargestellten Dynamik des Rechts umzugehen.341 Ein ehemals herrschendes Auslegungsergebnis könnte über den effet utile und dem damit verbundenen Gedanken einer möglichst hohen Praktikabilität der jeweils auszulegenden Vorschrift entsprechend modernisiert werden. Um den Zweck des Erwägungsgrundes 14a der 4. KH-Richtlinie möglichst vollumfänglich zu erreichen, wäre so beispielsweise der Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO zugunsten eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten auszulegen. So könnte der effet utile zwar ein verhältnismäßig einfaches Mittel bieten, um die dargestellten Auslegungs- und Anwendungsfragen zu beantworten.342 Ein solches Verständnis birgt aber das Risiko, dass keine methodische Herangehensweise entwickelt, sondern eine argumentative Allzweckwaffe herangezogen wird, um das gewünschte Auslegungsziel zu erreichen.343 Die Grundsätze der dynamischen oder evolutiven Auslegung des Rechts wären aber nicht geklärt. Der Weg, das Problem des methodischen Umgangs mit der Dynamik des Sekundärrechts über den effet utile zu lösen, ist daher abzulehnen. b) Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts Bei den Auswirkungen der Dynamik des Sekundärrechts auf das Auslegungskriterium selbst ist wiederum zwischen subjektiv- und objektiv-teleologischer Auslegung zu differenzieren. aa) Subjektiv-teleologische Auslegung Zunächst kann die Dynamik des Sekundärrechts auch Auswirkungen auf die subjektiv-teleologische Auslegung haben. Wie oben gezeigt,344 bringt der historische Gesetzgeber in den Erwägungsgründen regelmäßig zum Ausdruck, welchem weiterführenden Ziel die jeweils auszulegende Vorschrift dienen soll. Es erscheint daher grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass auch über die subjektiv-teleologische Auslegung ein neues, abgewandeltes Auslegungsergebnis ermittelt wird, weil sich das umliegende Rechtssystem entsprechend diesen vom historischen Gesetzgeber vorgegebenen Zielen und damit auch getragen von dessen Willen schrittweise weiterentwickelt hat.345

341

Leisner, EuR 2007, 689 (694). Siehe oben Teil 1 § 1 und § 2. 343 So Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 112; so auch Herresthal, ZEuP 2009, 598 (603); hierzu auch kritisch Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 42a. 344 Siehe hierzu ausführlich Teil 3 § 3 III. 3. a). 345 Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 43. 342

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts

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bb) Objektiv-teleologische Auslegung Die größtmöglichen Auswirkungen hat die Dynamik des Sekundärrechts allerdings auf die objektiv-teleologische Auslegung. Über sie wird die Anpassung eines ehemals für richtig gehaltenen Auslegungsergebnisses an die durch interne und/oder externe Umstände geänderten Ziele und Zwecke einer Vorschrift möglich.346 So war es den Vertretern der heute herrschenden Meinung über einen eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO nur möglich, den vorstehend zitierten Erwägungsgrund 14a) der 4. KHRichtlinie in die von ihnen vertretene Auslegung miteinzubeziehen, weil sie vom Willen des historischen Gesetzgebers Abstand genommen und versucht haben, objektive Ziele und Zwecke der Vorschrift zu ermitteln. In den Worten von Gruber wurde so ein „verobjektivierter“ Gesetzeszweck ermittelt, der letztlich zu dem heute von der herrschenden Meinung vertretenen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten geführt hat.347 Deutlich wird damit auch hier schon, dass es zu dieser Verobjektivierung insbesondere kommen kann, wenn eine ältere Vorschrift auszulegen ist, bei der die Ausformung des historischen Willens des Gesetzgebers weit in der Vergangenheit liegt.348

5. Rechtsvergleichende Auslegung Einziges in der deutschen Rechtsordnung nicht vorkommendes Auslegungskriterium der Methodik der Unionsrechtsordnung ist die rechtsvergleichende Auslegung. Bei diesem Kriterium werden die Entscheidungen der nationalen Gerichte in die Auslegung von Unionsrecht mit einbezogen und vergleichend Rücksicht auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten genommen.349 Die Grundsätze des hermeneutischen Zirkels tragen dazu bei, dass Richter des EuGH, beeinflusst durch ihre nationalstaatliche Vorprägung, auf nationales Recht Bezug nehmen.350 Gleiches gilt für die Generalanwaltschaft,351 die regelmäßig die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einbindet. Zwar ist das Gewicht der rechtsvergleichenden Auslegung gering. Um ein gefundenes Auslegungsergebnis zu untermauern, argumentiert der EuGH trotzdem regelmäßig mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die sich aus der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, bzw. verweist darauf, dass es sich um in den meisten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten anerkannte 346 347 348 349 350 351

Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 186. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 188. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 188. Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 79. Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 80. Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 80.

100

Teil 3: Die Methodik des Europäischen Sekundärrechts

Lösungen handelt.352 Besonders hervorzuheben sind zudem Bezüge auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta der Europäischen Union.353

IV. Zusammenfassung Die vorstehende Darstellung macht deutlich, dass die Antworten auf die Frage nach dem methodischen Umgang mit der Dynamik des europäischen Sekundärrechts auf der einen Seite und die Frage nach dem Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen der Vereinigungslehre bei Auslegung des Sekundärrechts auf der anderen Seite eng miteinander verknüpft sind: Abhängig davon, ob im Rahmen der Auslegung überwiegend auf den historischen Willen des Gesetzgebers oder auf den geltungszeitlichen Normzweck abgestellt wird, kann den fortschreitenden Entwicklungen des Unionsrechts im Rahmen der Auslegung entweder geringere oder größere Beachtung geschenkt werden.354 Das Ziel der Auslegung hat daher für den methodischen Umgang mit der Dynamik des Sekundärrechts zentrale Bedeutung. Während die Subjektive Theorie eine evolutive bzw. dynamische Auslegung des Rechts a priori ausschließt,355 ist es gerade Sinn und Zweck der Objektiven Theorie, die betreffende Vorschrift anhand des Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung auszulegen. Die Vereinigungslehre, die diese beiden Theorien verknüpft, lässt einen Spielraum für Veränderungen eines Auslegungsergebnisses zu. Der abstrakte Streit um das Ziel der Auslegung und die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen subjektiven und objektiven Elementen innerhalb der Vereinigungslehre wird durch die Dynamik verkompliziert. Die Antwort auf die Frage nach dem methodischen Umgang damit ist zusätzlich davon abhängig zu machen, wie sich über den Auslegungskanon mit einem möglichst hohen Maß an Rechtssicherheit und Praktikabilität ein dem integrativen Fortschritt der Rechtsordnung entsprechendes Auslegungsergebnis ermitteln lässt. Die Grenzen der evolutiven bzw. dynamischen Auslegung des Europäischen Sekundärrechts liegen so beispielsweise nicht nur in der Beachtung der hinter den subjektiven Elementen der Vereinigungslehre stehenden demokratischen Grundsätzen, sondern auch in der Praxis: Legt man in einer sich dynamisch entwickelnden Rechtsordnung auch das Recht entsprechend dieser Veränderungen dynamisch bzw. evolutiv aus, so muss sich trotzdem zu jedem Zeitpunkt mit einem möglichst hohen Maß an Rechtssicherheit 352 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 81, heben beispielhaft die Entscheidungen des EuGH vom 14.12.2006, Rs. C-283/05 (ASML Netherlands BV/SEMIS), Slg. 2006, I-12041, Rn. 26 hervor. 353 EuGH vom 14.12.2006, Rs. C-283/05 (ASML Netherlands BV/SEMIS), Slg. 2006, I12041, Rn. 26. 354 Zum Verhältnis der subjektiven und objektiven Elemente innerhalb der Vereinigungslehre siehe oben Teil 3 § 3 II. 4. 355 Siehe oben Teil 3 § 3 V.

§ 3 Die Auslegung des europäischen Sekundärrechts

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ermitteln lassen, welches Auslegungsergebnis dem aktuellen Entwicklungsstand der Rechtsordnung entspricht. Auch wenn alle Indizien auf eine überwiegend objektivierte Auslegung deuten, muss daher geklärt werden, wie dieses Ziel noch unter Beachtung dieser Leitsätze zu erreichen ist. Hinzu kommt, dass sich die fortschreitende Entwicklung der Unionsrechtsordnung auch auf den Auslegungskanon selbst auswirkt.356 Richtig erscheint daher die Auffassung von Joussen,357 der die dynamische bzw. evolutive Auslegung nicht einem Auslegungskriterium zuordnet, sondern vom „dynamischem Charakter der einzelnen Kriterien“ spricht. Diese Auswirkungen verschärfen das Problem, dass sich trotz eines möglichen Wandels des Auslegungsergebnisses für den Rechtsanwender zum Zeitpunkt der Auslegung der aktuelle Entwicklungsstand der Rechtsordnung mit einem möglichst hohen Maß an Rechtssicherheit ermitteln lassen muss.

356 Siehe zur grammatischen Auslegung Teil 3 § 3 III. 1. b), zur systematischen Auslegung Teil 3 § 3 III. 2. b), zur historischen Auslegung Teil 3 § 3 III. 3. b), zur teleologischen Auslegung Teil 3 § 3 III. 4. b). 357 Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 145.

Teil 4

Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten Im Folgenden wird die Entwicklung des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) untersucht.1 Bezugnehmend auf die vorstehend dargestellten Ziele der Auslegung2 und die Besonderheiten des modifizierten Auslegungskanons auf Unionsebene3 wird dabei anhand des in diesem Zusammenhang in der deutschen Literatur und Rechtsprechung intensiv geführten Meinungsstreits analysiert, wie die unterschiedlichen Stimmen das vorstehend beschriebene Spannungsverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Elementen der Auslegung auflösen.4 Einerseits um so der fortschreitenden Entwicklung des Unionsrechts ausreichend Beachtung schenken zu können und andererseits um die hinter der Subjektiven Theorie stehenden rechtsstaatlichen Grundsätze nicht zu verletzten.5 Es ist zudem zu untersuchen, welche Funktion den Auslegungskriterien hierbei im Einzelnen zukommt und wie sie in Literatur und Rechtsprechung mit beispielhaften Blick auf den Einzelfall angewandt werden, um einerseits den Besonderheiten des sich fortschreitend entwickelnden Sekundärrechts gerecht zu werden und andererseits den Grundsatz der Rechtssicherheit zu wahren.

§ 1 Zeitliche Entwicklung I. Entwicklung des Gerichtsstands des Geschädigten 1. Entwicklungen im systematischen Umfeld von Art. 11 Abs. 2 EuGVO Auslöser der Diskussion über eine mögliche dynamische beziehungsweise evolutive Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) war der einleitend zitierte Erwä-

1 2 3 4 5

Siehe hierzu bereits einleitend unter Teil 1 § 2. Siehe oben Teil 3 § 3 II. Siehe oben Teil 3 § 3 III. Siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. und 4. Siehe oben Teil 3 § 3 II. 1.

§ 1 Zeitliche Entwicklung

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gungsgrund 16a,6 der nach Maßgabe des Art. 5 der 5. KH-Richtlinie vom 11.05.2005 in die 4. KH-Richtlinie vom 20.07.2000 integriert wurde.7 Der Erwägungsgrund wurde von der Literatur und Rechtsprechung auf sehr unterschiedliche Art und Weise aufgenommen. Während beispielsweise Staudinger davon ausgeht, dass es sich bei dem Erwägungsgrund lediglich um einen „deklaratorischen Hinweis“ handelt,8 sieht das OLG Köln darin den ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers, einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten zu schaffen.9 Der Meinungsstreit über die Bedeutung des Erwägungsgrundes 16a überrascht nicht: Immerhin äußerte sich hier nicht der historische Unionsgesetzgeber zur Auslegung von Vorschriften der EuGVO vom 22.12.2000, sondern der Unionsgesetzgeber aus dem Jahr 2005,10 der dabei nicht die EuGVO um einen Erwägungsgrund ergänzte und damit auf primärrechtlich vorgegebenem Weg die Verordnung veränderte,11 sondern mit Hilfe eines Erwägungsgrundes in einer Richtlinie versucht, auf das Auslegungsergebnis Einfluss zu nehmen.12 Bei genauerer Analyse des Meinungsstreits um die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) wird allerdings deutlich, dass der Erwägungsgrund 16a letztlich nur der Aufhänger für die sehr unterschiedlich beantworteten Fragen ist, „ob“ und „wie“ die Entwicklungen im systematischen Umfeld des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F. EuGVO) bei der Auslegung der Vorschrift zu beachten sind. So gibt es neben dem Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie weitere Beispiele aus dem systematischen Umfeld des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F. EuGVO) und des Art. 11 Abs. 1 EuGVO (Art. 9 Abs. 1 EuGVO), die erst nach Erlass der EuGVO entstanden sind und auf die die heute herrschende Meinung zurückgreift, um den eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten bei Direktklagen gegen den Versicherer der Gegenseite zu begründen.13 Hierzu zählen zum Beispiel die Wertungen der 6. KH-Richtlinie vom 16.09.200914 oder die Wertungen der Rom II-VO vom 11.07.2007. 6

Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. d). Siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. d); Richtlinie 2005/14/EG vom 11.05.2006 (5. KH-Richtlinie), ABl. EU vom 11.06.2005, L 149/14. 8 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 9 Siehe oben Teil 1 §3 I. c); OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005, 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722); siehe hierzu auch Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (288 ff.). 10 Siehe hierzu bereits oben Teil 1 § 2 II. 11 Zu diesem Argument siehe bereits einleitend Teil 1 § 2 II. 12 Ausführliche Darstellung der Problematik bei Heiss, VersR 2007, 327 (329); siehe auch Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633). 13 So zuletzt Micha, IPRax 2011, 121 (122). 14 Richtlinie 2009/103/EG vom 16.09.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (6. KH-Richtlinie), ABl.EG, 07.10.2009, L 263/11; vgl. Micha, IPRax 2011, 121 (122). 7

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

2. Bipolarität des Gerichtsstands Der Grund dafür, dass die Veränderungen innerhalb des Europäischen Sekundärrechts gerade auf Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) so großen Einfluss haben, liegt in der Bipolarität des Gerichtsstands. Der Gerichtsstand ist Teil zweier Schutzsysteme. Zum einen ist er im Abschnitt „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ geregelt und damit in das prozessuale Schutzsystem für Versicherungssachen der EuGVO integriert.15 Zum anderen muss bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) beachtet werden, dass es sich bei Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F. EuGVO) um den prozessualen Arm des europäischen Verkehrsopferschutzes handelt.16 Durch diese systematische Verknüpfung kommt es zu einer apriorisch angelegten Wechselwirkung beider Schutzsysteme.17 Diese Wechselwirkung führte aufgrund des Ausbaus des europäischen Verkehrsopferschutzes im ersten Jahrzehnt der Zweitausender Jahre zu einer Diskrepanz gegenüber den unverändert gebliebenen Vorschriften der EuGVO, die für den Meinungsstreit über die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) von maßgeblicher Bedeutung ist. Während ein Teil der Stimmen in der Literatur und Rechtsprechung den Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes für die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) als unerheblich erachteten, wollte der andere Teil die Veränderungen in dem einen Schutzsystem entsprechend auf das andere übertragen und so das Auslegungsergebnis anpassen. a) Vom EuGVÜ zur EuGVO Deutlich wird die Ursächlichkeit des Ausbaus des europäischen Verkehrsopferschutzes für den Meinungsstreit auch daran, dass es davor keinen Meinungsstreit über einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten gab. Die Vorschriften über den Gerichtstand des Geschädigten, die im EuGVÜ nahezu wortgleich existierten (vgl. Art. 10 Abs. 2 EuGVÜ i. V. m. Art. 8 Nr. 2 EuGVÜ) und bis zum 1. März 2002 anstelle des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) Anwendung fanden, wurden vor der Überführung des Übereinkommens in das Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) und damit vor dem Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes einheitlich 15

Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 6 Rn. 95 ff. So schon im Bericht von P. Jenard vom 05.03.1979, Abl.EG Nr. C 59, S. 32. Zu beachten ist freilich, dass von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auch alle anderen Direktklagen gegen den Versicherer erfasst werden, Heiss, VersR 2007, 327 (330); Thiede/ Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633). 17 Ausführlich zur systematischen Auslegung im weiteren Sinn oben unter Teil 3 § 3 III. 2. a). 16

§ 1 Zeitliche Entwicklung

105

ausgelegt.18 Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten wurde sowohl von der Literatur als auch von der Rechtsprechung nahezu „unisono“ abgelehnt.19 Das EuGVÜ und die EuGVO stehen aber nicht beziehungslos nebeneinander. Zwischen dem völkerrechtlichen Vertrag und der Verordnung herrscht grundsätzlich Auslegungskontinuität.20 Die Überführung des EuGVÜ in das Gemeinschaftsrecht war nur ein formaler Akt der Vergemeinschaftung.21 Aus diesem Grund wollte die zunächst noch herrschende Meinung nach Erlass der EuGVO auch am alten Auslegungsergebnis aus dem EuGVÜ festhalten.22 Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten wurde daher von der überwiegenden Zahl der Stimmen zu den Anfangszeiten der EuGVO weiterhin abgelehnt.23 Wie im EuGVÜ, sollte der Geschädigte nur die Möglichkeit haben, an den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Gerichtsständen zu klagen.24 Mit Verweis auf die durch die EuGVO eingeführten Veränderungen und den durch die 4. KH-Richtlinie vom 20.07.2000 ausgebauten europäischen Verkehrsopferschutz wollte dagegen ein anfänglich noch in der Minderheit stehender Teil der Literatur die Auslegungskontinuität zwischen EuGVÜ und EuGVO aufbrechen.25 Die Tragweite des Verweises in Art. 13 Abs. 2 (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) sollte im Vergleich zur Vorgängervorschrift im EuGVÜ neu ausgelegt werden.26 Mit dem fortschreitenden Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes durch weitere Richtlinien – hier ist auch der Erwägungsgrund 16a einzuordnen –,27 wuchs schließlich auch die Zahl der Stimmen, die sich für dieses neue Auslegungsergebnis aussprachen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass dem Geschädigten nicht nur die in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Gerichtstände offen stehen sollten, sondern dass ihm über Art. 13 Abs. 2 (Art. 11 18

Zur Überführung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht siehe oben Teil 2 § 2 I. Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6; einzige ersichtliche Ausnahme: Fricke, VersR 1997, 399 (402 f.). 20 Vgl. Erwägungsgrund 19 EuGVO; vgl. Kropholler, in: Basedow u. a. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa, 2001, S. 588 f. 21 Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht, Bearbeitung 2011, Einl. Brüssel I-VO Rn. 24. 22 Vgl. z. B. LG Saarbrücken, Urt. v. 6.12.1976 – 16 O 160/76, VersR 1977, 1164; Pamer, Neues Recht der Schadensregulierung bei Verkehrsunfällen im Ausland, 2003, S. 26; Lemor, NJW 2002, 3666 (3668); Fuchs, IPRax 2008, 104 (108); so stellen dies auch Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (126) dar. 23 An Stelle Vieler: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, A.1, Art. 11 Rn. 16; Kropholler, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 8. Auflage 2005, Art. 11 Rn. 4. 24 Kropholler, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 8. Auflage 2005, Art. 11 Rn. 4; zu den möglichen Ergebnissen der Auslegung siehe bereits einleitend unter Teil 1 § 3 I. 3. b). 25 Allgemein zum europäischen Verkehrsopferschutz nach der 4. KH-Richtlinie: Pamer, Neues Recht der Schadensregulierung bei Verkehrsunfällen im Ausland, 2003. 26 Darstellung dieses Wandels, wenn auch in Konsequenz mit ablehnenden Ergebnis, bei Fuchs, IPRax 2007, 302 (303 ff.). 27 Vgl. z. B. OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, SVR 2006, 73 (73). 19

106

Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Abs. 2 EuGVO a. F.) zusätzlich die Möglichkeit eröffnet werden sollte, am eigenen Wohnsitzgerichtsstand seinen Direktanspruch gegen den Versicherer der Gegenseite geltend zu machen.28 b) Zeitstrahl der Entwicklungen Die vorstehend besprochenen Entwicklungen, die für den Wandel des herrschenden Auslegungsergebnisses von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) von maßgeblicher Bedeutung waren, lassen sich auf einem Zeitstrahl wie folgt darstellen:

1968

1999

EuGVÜ

07/2000

12/2000

4. KH-Richtlinie

Vertrag von Amsterdam

2005

11/2007

Umsetzung 4. KH-Richtlinie

EuGVO

Kein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten = herrschende Meinung

2002

2009

Rom II-VO

5. KH-Richtlinie

6. KH-Richtlinie

Eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten = herrschende Meinung

Wandlung des Auslegungsergebnisses

Abbildung 1: Zeitliche Entwicklung der jeweils vorherrschenden Meinung

II. Gang der Untersuchung Um den einleitend beschriebenen Wandel und den damit einhergehenden methodischen Umgang der Literatur und Rechtsprechung bestmöglich darstellen zu können, werden nachstehend zunächst die zwei Schutzsysteme29 dargestellt und auf deren Besonderheit für die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) eingegangen (§ 2). Nach einem Exkurs zu den Veränderungen, die die Rom II-VO bei der Anwendung der auszulegenden Vorschriften hervorgerufen hat (§ 2 II. 3.), wird der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung dargestellt (§ 3). Im Anschluss 28 29

Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. Vgl. hierzu Teil 4 § 2.

§ 2 Verkehrsopferschutz und Zuständigkeiten der angerufenen Gerichte

107

werden die Entscheidungen in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen (§ 4) anhand des Instanzenzugs der deutschen Gerichte (§ 4 I.) und der Entscheidungsbegründung des EuGH (§ 4 II.) aufgezeigt. Abschließend werden die verwendeten methodischen Ansätze bei der besagten Metamorphose vom „alten“ zum „neuen“ Auslegungsergebnis zusammengefasst und bewertet (§ 5).

§ 2 Verkehrsopferschutz und Zuständigkeiten der angerufenen Gerichte Für die Frage nach der Tragweite des Verweises von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ist zu beachten, dass an dieser Stelle zwei Schutzsysteme besonders eng miteinander verflochten sind. Veränderungen in einem dieser Systeme, wirken sich daher insbesondere über die systematische und teleologische Auslegung auch auf das andere aus.30 So kommt es zu einer Wechselwirkung zwischen dem europäischen Verkehrsopferschutz (sogleich unter I.) und dem Europäischen Zivilprozessrecht (sogleich unter II.).31 Erschwerend für die Frage der richtigen Auslegung kommt hinzu, dass der Geschädigte über einen Verweis in das geschlossene Schutzsystem „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ der EuGVO integriert wird. Bei der systematischen, historischen und teleologischen Auslegung innerhalb dieses Schutzsystems muss daher zusätzlich geprüft werden, ob sich ein für die Art. 11 ff. EuGVO (Art. 9 ff. EuGVO a. F.) geltendes Auslegungsergebnis auch auf den Geschädigten im Sinne von Art. 9 EuGVO (Art. 11 EuGVO a. F.) als Fremdkörper in diesem System übertragen lässt.

I. Das System des europäischen Verkehrsopferschutzes Der europäische Verkehrsopferschutz in seiner heute existierenden Form war bei Unterzeichnung des EuGVÜ noch nicht angedacht. Während die Gerichtsstände des Geschädigten nach Art. 10 Abs. 2 EuGVÜ i. V. m. Art. 8 Nr. 2 EuGVÜ bei Straßenverkehrsunfällen mit grenzüberschreitenden Bezügen bereits eine wichtige Rolle spielten,32 war der übrige europäische Verkehrsopferschutz bis zur Übertragung des EuGVÜ in Unionsrecht noch ein System, mit dem der Verkehrsteilnehmer lediglich im eigenen Wohnsitzstaat vor den nachteiligen Konsequenzen eines Unfalls mit einem Verkehrsteilnehmer aus dem europäischen Ausland geschützt wurde. Zentrales Schutzinstrument dazu war das seit 1953 bestehende „System der Grünen 30 Ausführlich zur systematischen Auslegung oben unter Teil 3 § 3 III. 2.; zur teleologische Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 III. 4. 31 Vgl. oben unter Teil 4 § 3. 32 Bericht von P. Jenard vom 05.03.1979, Abl.EG Nr. C 59, S. 32.

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Karte“,33 das auch heute noch dann greift, wenn der Ersatzberechtigte (oder: Geschädigte) in seinem Wohnsitzstaat durch ein in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug geschädigt wird.34 Mit dem Ziel den gemeinsamen Binnenmarkt weiter auszubauen,35 wurde der europäische Verkehrsopferschutz mit der Umsetzung der 4. KH-Richtlinie vom 16.05.2000 im Jahr 2002 grundlegend erweitert.36 Der damalige Unionsgesetzgeber schuf neben dem „System der Grünen Karte“ ein System, das auch eine einfache Schadensregulierung von „Reisefällen“ ermöglichen sollte.37 Bei einem Verkehrsunfall zwischen Bürgern der Europäischen Union sollte grundsätzlich eine einfache und schnelle Schadensregulierung möglich sein und zwar unabhängig davon, ob sich der Verkehrsunfall im Heimatstaat des Geschädigten oder im europäischen Ausland ereignet hat.38 Nach dem Willen des damaligen Unionsgesetzgebers sollten möglichst alle denkbaren Barrieren und Hemmnisse beim Übergang von einem zum anderen Mitgliedstaat beseitigt werden. Nur so könne ein gemeinsamer und funktionierender Binnenmarkt geschaffen werden,39 da jede Hürde bei der Durchsetzung von grenzüberschreitenden Ansprüchen aus Verkehrsunfällen in einem anderen Mitgliedstaat dem Ziel eines freien Waren- und Personenverkehrs entgegensteht.40 Um dieses Ziel zu erreichen, wurde zur Regulierung der sogenannten „Reisefälle“ ein System geschaffen, das es dem Geschädigten ermöglicht, seinen Schaden in vergleichbarer Art und Weise zu seinem Heimatland geltend zu machen.41 Hierzu wurde mit Art. 3 der 4. KH-Richtlinie vom 16.05.2000 zunächst europaweit ein Direktanspruch des Geschädigten gegen das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckenden Versicherungsunternehmen eingeführt.42 Zwar war ein solcher Direktanspruch schon im Straßburger Übereinkommen vom 20.04.1959 vorgesehen,43 von 33

Zum System der Grüne-Karte-Büros: Schmitt, System der Grünen Karte, 1968. Wandt, Versicherungsrecht, 6. Auflage 2016, Rn. 1125; Mönnich, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, VersicherungsrechtsHandbuch, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 59; Buschbell, Münchener Anwaltshandbuch Straßenverkehrsrecht, 4. Auflage 2015, § 31 Rn. 19 ff.; Lemor/ Becker, DAR 2004, 677 (678). 35 Siehe hierzu oben unter Teil 2 § 2. 36 4. KH-Richtlinie 2000/26/EG, Abl.EG vom 20.07.2000, L 181/65; Wandt, Versicherungsrecht, 6. Auflage 2016, Rn. 1126. 37 Zum Begriff „Reisefälle“ vgl. Fuchs, IPRax 2011, 425 (425). 38 Vgl. Erwägungsgrund 1 4. KH-Richtlinie, Abl.EG vom 20.07.2000, Nr. L 181, 65. 39 So auch im Europäischen Zivilprozessrecht, siehe oben Teil 2 § 2. 40 Erwägungen der Richtlinie des Rates betreffend der Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (72/166/EWG) vom 24.04.1972 (im Folgenden: 1. KHRichtlinie), ABl. EG Nr. L 103 S. 1 vom 02.05.1972, abgedruckt in Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrtversicherung, Kommentar, 3. Auflage 2009, S. 1264 ff.; ausführlich hierzu auch Schewior, VersR 1998, 671 ff. 41 Schewior, 36. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1998, S. 119 (123). 42 Gottwald, in: MünchKommZPO, 5. Auflage 2017, Art. 13 EuGVO Rn. 2. 43 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (280). 34

§ 2 Verkehrsopferschutz und Zuständigkeiten der angerufenen Gerichte

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Großbritannien und Nordirland aber nicht umgesetzt,44 sodass die schon früh vorgesehene Vereinheitlichung erst mit der Umsetzung des Art. 3 der 4. KH-Richtlinie auch für das Vereinigte Königreich und Irland und damit für die vollständige Union abgeschlossen werden konnte.45 Da bei einem grenzüberschreitenden Verkehrsunfall die vorstehend beschriebenen und zu überwindenden Barrieren und Hemmnisse und in erster Linie bei der gerichtlichen Durchsetzung der Ansprüche gegen den Schädiger und seiner Haftpflichtversicherung entstehen, wurde ein zweigleisiges System zur Schadensregulierung installiert.46 Neben der hier näher zu untersuchenden Möglichkeit des Geschädigten, seinen Direktanspruch gegen den Versicherer klageweise geltend zu machen (sogleich unter Ziffer 2), die bereits im EuGVÜ im Rahmen besonderer prozessualer Schutzrechte vorgesehen war, steht dem Geschädigten seit Umsetzung der 4. KH-Richtlinie zusätzlich die Möglichkeit der außergerichtlichen Schadensregulierung offen (sogleich unter Ziffer 1).47 Beide Wege, der prozessuale und der außergerichtliche, stehen selbständig nebeneinander und können prinzipiell unabhängig voneinander beschritten werden.48 1. Die außergerichtliche Schadensregulierung Kernstück der 4. KH-Richtlinie ist, dass jeder in der EU oder EWR zugelassene Kfz-Haftpflichtversicherer in jedem anderen Mitgliedstaat einen Schadensregulierungsbeauftragten bestellen muss, Art. 4 Abs. 1 der 4. KH-Richtlinie. Mit der Hinzuziehung eines Schadensregulierungsbeauftragten im Wohnsitzstaat des Geschädigten will der Gesetzgeber den nach seiner Auffassung größten Hürden des Geschädigten bei der Regulierung eines bei einem Reisefall entstandenen Schadens entgegentreten: die oftmals fremde Sprache, das fremde Recht, die ungewohnte 44

Herrmann, VersR 2007, 1470 (1470); vgl. zudem die dem Übereinkommen beigefügten Bestimmungen: Art. 6 Abs. 1 des Straßburger Übereinkommens vom 20.04.1959, BGBl. 1965 II S. 281, auch abgedruckt in Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrtversicherung, 3. Auflage, 5. Teil, Texte, S. 1252 (1260); Lemor, Besserer Schutz des Verkehrsopfers im Inland nach Auslandsunfall, 36. Deutscher Verkehrsrichtertag 1998, S. 98 (103). 45 Fuchs, IPRax 2011, 425 (426), Mönnich, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 59; Lemcke, in: FS für Wälder, 2009, S. 179 (180). 46 Mönnich, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 55. 47 Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrzeugversicherung, 3. Auflage 2009, 3a PflVG Rn. 2. Zur Entwicklung des Kraftfahrthaftpflichtversicherungsrechts aufgrund europäischer Abkommen und Richtlinien vgl. Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrtversicherung, 3. Auflage 2009, 1. Teil Europarechtliche Grundlagen der Kfz-Haftpflichtversicherung; Mönnich, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, Harmonisierung und aktuelle Entwicklung mit Einfluss auf das Privatrecht; Riedmeyer, AnwBl 2008, 17; W-H Roth, in: Honsell, Berliner Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 1999, Europäisches Versicherungsrecht, Rn. 122. 48 Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrzeugversicherung, 3. Auflage 2009, 4. Teil B II Rn. 13.

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Regulierungspraxis und häufig die unvertretbar lange Dauer des Regulierungsprozesses selbst.49 Aus diesen Gründen sollte dem Geschädigten nach Umsetzung der 4. KH-Richtlinie die Möglichkeit zustehen, in Reisefällen die Schadensregulierung über einen Schadensregulierungsbeauftragten in seinem Wohnsitzstaat zu regeln.50 Dabei setzt die Richtlinie voraus, dass der Schadensregulierungsbeauftragte gegenüber dem Versicherer über ausreichende Vertretungsmacht verfügt, um den Fall zu regulieren und in der Lage ist, den Fall in der/den jeweiligen Amtssprache/n des Landes zu bearbeiten, vgl. Art. 4 Abs. 5 der 4. KH-Richtlinie.51 Im Einzelnen sieht das System vor, dass der Geschädigte zunächst über eine Auskunftstelle erfährt, bei wem der Schädigende haftpflichtversichert ist.52 In Deutschland ist die Auskunftstelle in § 8a PflVG geregelt.53 Die Aufgabe wird vom Zentralruf der Versicherer in Hamburg übernommen.54 Gleichzeitig soll der Zentralruf der Versicherer dem Geschädigten auch den von der entsprechenden Versicherung eingesetzten Schadensregulierungsbeauftragten nennen können, bei dem der Geschädigte seinen Direktanspruch geltend machen kann, vgl. § 3a PflVG. Der so eröffnete Weg der außergerichtlichen Schadensregulierung wird durch eine Entschädigungsstelle abgesichert:55 Sollte der Schadensregulierungsbeauftragte nicht innerhalb von drei Monaten nach Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs eine begründete Antwort erteilt haben (§ 12a Abs. 1 Nr. 1 PflVG), kein Schadensregulierungsbeauftragter im Wohnsitzland des Geschädigten benannt worden sein (§ 12a Abs. 1 Nr. 2 PflVG) oder das verantwortliche Fahrzeug bzw. der verantwortliche Versicherer nicht ermittelt werden können (§ 12a Abs. 1 Nr. 3 PflVG), so kann sich der Geschädigte zur Regulierung des Schadens an diese Entschädigungsstelle wenden.56 Eine Aufgabe, die in Deutschland von der Verkehrsopferhilfe übernommen wird, vgl. § 13a PflVG.57 Voraussetzung ist, dass der Geschädigte noch keine gerichtlichen Schritte gegen den Versicherer eingeleitet hat.58 Insoweit kommt es an dieser Stelle zu einer Verschränkung zwischen der außergerichtlichen und der prozessualen Schadensregulierung.

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Erwägungsgrund 6 der 4. KH-Richtlinie, Abl.EG vom 20.07.2000, Nr. L 181, S. 65 (65). Wandt, Versicherungsrecht, 6. Auflage 2016, Rn. 1126. 51 Mönnich, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 55; Fuchs, IPRax 2011, 425 (425). 52 Lemor, NJW 2002, 3666 (3666). 53 Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrzeugversicherung, 3. Auflage 2009, § 8a PflVG Rn. 1 ff. 54 Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrzeugversicherung, 3. Auflage, Europa, Rn. 70. 55 Wandt, Versicherungsrecht, 6. Auflage 2016, Rn. 1126. 56 Wandt, Versicherungsrecht, 6. Auflage 2016, Rn. 1126. 57 Zum weiteren Ausbau des Schutzes des Geschädigten durch die 5. KH-Richtlinie vom 15.05.2005 (2005/714/EG) siehe: Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrtversicherung, Kommentar, 3. Auflage 2009, 4. Teil D, S. 1206 ff. 58 Wandt, Versicherungsrecht, 6. Auflage 2016, Rn. 1126. 50

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2. Die Direktklage gegen den Versicherer Der Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ist im System des europäischen Verkehrsopferschutzes Teil der zweiten Möglichkeit des Geschädigten, seinen Schaden geltend zu machen und normiert die Direktklage gegen die Versicherung des Schädigenden. Die in der auszulegenden Vorschrift geregelten Zuständigkeiten bei einer Direktklage des Geschädigten wurden nach der europaweiten Umsetzung der 4. KHRichtlinie und das dadurch geschaffene standardisierte Verfahren zur außergerichtlichen Schadensregulierung von Teilen der Lehre bereits für bedeutungslos erachtet.59 Die außergerichtliche Variante der Schadensregulierung stellte nach Auffassung dieser Literaturmeinung einen so viel einfacheren Weg dar, dass der aufwändigere prozessuale Weg nun überflüssig erschien.60 Allerdings wurde durch die bloße Anzahl gerichtlicher Auseinandersetzungen nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen diese Auffassung widerlegt.61 Richtig ist daher die Auffassung von Lemor, dass sich das System der außergerichtlichen Schadensregulierung vor allem für die Masse derjenigen Verkehrsunfälle mit Bagatellschaden, also lediglich geringem oder mittleren Sach- und/oder Personenschaden eignet.62 Bei Unfällen mit größeren Sach- und/oder Personenschäden bleibt dem Geschädigten hingegen eine gerichtliche Geltendmachung oftmals nicht erspart.63 Die widerstreitenden Interessen sind außerhalb des Bagatellbereichs für eine außergerichtliche Schadensregulierung zu groß. Die prozessuale Forderungsdurchsetzung ist daher in der Praxis oftmals der einzige Weg, den entstandenen Schaden vom Versicherer der Gegenseite ersetzt zu bekommen. Aus diesem Grund ist auch die Entscheidung des Unionsgesetzgebers richtig, den Weg der außergerichtlichen Schadensregulierung einer Direktklage gegen den Versicherer des Un-

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Rn. 8. 60

So beispielsweise: Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Auflage 2002, Band 10, Art. 11

Wagner, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Auflage, Band 10, Art. 11 Rn. 8. So beispielsweise OLG München, Urt. v. 18.01.2008 – 10 U 4502/07, DAR 2008, 590; OLG Celle, Urt. v. 27.02.2008 – 14 U 211/06, NJW 2009, 86; OLG München, Urt. v. 14.03.2008 – 10 U 5007/06, BecksRS 2008, 7242; OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.07.2009 – 1 U 190/08, BeckRS 2009, 24910; OLG Zweibrücken, Urt. v. 29.09.2009 – 1 U 119/09, NJW 2010, 198; OLG Saarbrücken, Urt. v. 09.02.2010 – 4 U 449/09, NJOZ 2010, 1152; AG Geldern, Urt. v. 27.10.2010 – 4 C 356/10, NJW 2011, 686; BGH, Urt. v. 07.12.2010 – VI ZR 48/10, NJW-RR 2011, 417; LG Bonn, Urt. v. 21.09.2010 – 12 C 164/08, NZV 2010, 252; LG Saarbrücken, Urt. v. 09.03.2012 – 10 S 12/12, NJW 2012, 2819; AG Bergisch Gladbach, Urt. v. 02.02.2012 – 60 C 241/11, VersR 2012, 1027. 62 Lemor, 36. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1998, S. 98 (111); Lemor/Becker, DAR 2004, 677 (679). 63 Zur praktischen Bedeutung der Spezialregelung der Direktklage siehe auch, Heiss/ Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (283). 61

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

fallgegners nicht vorzuschalten, sondern beide Wege voneinander unabhängig auszugestalten.64

II. Zuständigkeiten für Versicherungssachen Für den Weg der Direktklage stellte sich die Frage, ob und wenn ja, wie sich der Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes auf die Auslegung der Vorschriften des Europäischen Zivilprozessrechts in dieser Alternative zur außergerichtlichen Schadensregulierung auswirkt. Insbesondere ist zu prüfen, ob die neu geschaffene Möglichkeit einer außergerichtlichen Schadensregulierung im Wohnsitzstaat auch dazu führt, dass der Geschädigte den erlittenen Schaden über eine entsprechende Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) auch klageweise in seinem Wohnsitzstaat regulieren kann. Indizien hierfür geben unter anderem die action directe – die mit der Umsetzung der 4. KHRichtlinie europaweit geschaffene Möglichkeit der Direktklage65 – und der besagte Erwägungsgrund 16a, der über die 5. KH-Richtlinie in die 4. KH-Richtlinie integriert wurde.66 So brachte der Unionsgesetzgeber mit der 4. KH-Richtlinie deutlich seinen Willen zum Ausdruck, alle Barrieren, die die Freizügigkeit und den freien Verkehr von Versicherungsleistungen behindern, abzubauen.67 Nach Auffassung des Unionsgesetzgebers gehört hierzu insbesondere die Schwierigkeit eines bei einem Verkehrsunfall im Ausland Geschädigten, die daraus entstanden Schäden zu regulieren.68 Das Mittel des Unionsgesetzgebers, diesen Schwierigkeiten entgegenzuwirken, ist zum einen die europaweite Einführung eines Direktanspruchs gegen den Haftpflichtversicherer der Gegenseite und zum anderen der Aufbau eines außergerichtlichen Schadensregulierungssystems, das dem Geschädigten die Möglichkeit gibt, den ihm entstandenen Schaden in seinem Wohnsitzstaat zu regulieren.69 Zwar hat der Unionsgesetzgeber auch deutlich gemacht, dass er durch das aus diesen Gründen aufgebaute, außergerichtliche Schadensregulierungssystem keine neuen Gerichtsstände begründen will.70 Dies schließt aber grundsätzlich nicht aus, dass die 64

Backu, in: Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrtversicherung, 3. Auflage 2009, 4. Teil E „AuslUnf“, Rn. 5. 65 4. KH-Richtlinie, 2000/26/EG vom 16.06.2000, ABl.EG vom 20.07.2000, L 181/65. 66 5. KH-Richtlinie, 2005/14/EG vom 11.05.2005, ABl.EG vom 11.06.2005, L 149/14 (20). 67 Erwägungsgrund 1 der 4. KH-Richtlinie vom 2000/26/EG vom 16.06.2000, ABl.EG vom 20.07.2000, L 181/65. 68 Erwägungsgrund 6 der Richtlinie 2000/26/EG vom 16.06.2000, Abl.EG vom 20.07.2000, L 181/65. 69 Erwägungsgründe 6 und 10 der Richtlinie 2000/26/EG vom 16.06.2000, Abl.EG vom 20.07.2000, L 181/65 f. 70 Erwägungsgründe 13 und 16 der Richtlinie 2000/26/EG, Abl.EG vom 20.07.2000, L 181/ 66.

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durch die 4. KH-Richtlinie vorgenommenen Wertungen auch auf den bereits bestehenden Gerichtsstand des Geschädigten übertragen werden können.71 Immerhin ist der in der 4. KH-Richtlinie vorgesehene Direktanspruch die Basis des zweigleisigen Systems und dessen Existenz tatbestandseröffnende Voraussetzung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.). Diese Voraussetzung wurde erst mit der Umsetzung des Art. 3 der 4. KH-Richtlinie europaweit erfüllt. Es kommt damit zu einer nicht nur über den Grundsatz von der Einheit der Rechtsordnung geschaffenen Verknüpfung der 4. KH-Richtlinie mit den streitentscheidenden Normen, sondern durch die europaweite Einführung des Direktanspruchs zu einer unmittelbaren Einflussnahme der Richtlinie auf den Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.). Es erscheint daher zunächst auch vertretbar, die Wertungen und Ziele der Richtlinie bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) heranzuziehen. Einen Hinweis auf die Richtigkeit dieser These bietet der Erwägungsgrund 16a, das Kuriosum im darzustellenden Meinungsstreit über die richtige Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.). Nicht nur durch die Frage, ob und wie die einzelnen Wertungen und Auslegungsanweisungen aus den KH-Richtlinien bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) zu berücksichtigen sind, wird das Problem verkompliziert. Erschwerend wirkt zusätzlich, dass dieser prozessuale Teil des europäischen Verkehrsopferschutzes nicht in einer eigenen Verordnung bzw. einem eigenen Abschnitt in der EuGVO geregelt ist, sondern die Gerichtsstände des Geschädigten in den Abschnitt „Zuständigkeiten für Versicherungssachen“ der EuGVO integriert wurden. Für den Rechtsanwender stellt sich damit die zusätzliche Frage, welchen Einfluss die systematischen, historischen und teleologischen Erwägungen aus dem Abschnitt „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ auf das Auslegungsergebnis haben. Insbesondere ist zu klären, ob sich aus dem Abschnitt Rückschlüsse auf die Ausgestaltung der Integration des Geschädigten in den Abschnitt ziehen lassen und dabei, inwieweit der Geschädigte durch den Verweis den anderen im Abschnitt genannten Personengruppen gleichgestellt wird. 1. Die Art. 10 ff. EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) Ausgangspunkt bei der Analyse dieses Problems ist die Erkenntnis, dass es sich bei dem Abschnitt „Zuständigkeiten für Versicherungssachen“ um ein abgeschlossenes System innerhalb der EuGVO handelt, das geschaffen wurde, um die Zu-

71 A. A.: Fuchs, IPRax 2008, 104 (108), die davon ausgeht, dass der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten durch die 4. KH-Richtlinie implizit abgelehnt wurde.

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

ständigkeiten für „Versicherungssachen“ selbständig und erschöpfend zu regeln.72 Welche Klagen von dem Begriff „Versicherungssachen“ umfasst sind, ist in der EuGVO nicht legal definiert und daher – da kein wie vorstehend beschriebener Ausnahmefall vorliegt – autonom zu ermitteln.73 Die herrschende Meinung geht davon aus, dass von dem Begriff grundsätzlich alle Vertragsarten, die im freien Markt regelmäßig von Versicherern als Versicherungsverträge angeboten werden, erfasst werden.74 Mit den Art. 10 ff. EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) sollen demnach grundsätzlich besondere Zuständigkeiten für Streitigkeiten geschaffen werden, die ihren Ursprung im Versicherungsverhältnis selbst haben: Anbahnung, Durchführung und Beendigung des Versicherungsverhältnisses.75 Aufgrund der Geschlossenheit dieses Systems besteht neben den besonderen Zuständigkeiten in Art. 10 ff. EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) nur die Möglichkeit, die internationale Zuständigkeit eines angerufenen Gerichts durch rügeloses Einlassen nach Art. 26 Abs. 1 EuGVO (Art. 24 EuGVO a. F.) zu begründen.76 Die Art. 4, 7 oder 8 EuGVO (entsprechen Art. 2, 5 oder 6 EuGVO a. F.) sind hingegen nicht anwendbar.77 Bei dem Vorbehalt in Art. 10 EuGVO (Art. 8 EuGVO a. F.) zugunsten von Art. 6 EuGVO (Art. 4 EuGVO a. F.) handelt es sich um eine Klarstellung, dass auch für den Abschnitt „Versicherungssachen“ die Grundregel gilt, dass die EuGVO nur zur Anwendung kommt, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat hat, vgl. Art. 6 Abs. 1 EuGVO (Art. 4 Abs. 1 EuGVO a. F.).78 Gleiches gilt für den Vorbehalt zugunsten von Art. 7 Nr. 5 EuGVO (Art. 5 Nr. 5 EuGVO a. F.). Auch hier liegt keine Öffnung des geschlossenen Systems vor.79 Klagen können durch den Vorbehalt in Art. 10 EuGVO (Art. 8 EuGVO a. F.) bei Streitigkeiten aus 72 Vgl. Bericht von P. Jenard zu Art. 7 EuGVÜ, zitiert in Kropholler/von Hein, Europäischer Zivilprozessrecht, 9. Auflage 2011, vor Art. 8 EuGVO Rn. 1; so auch EuGH 12.05.2005, Rs. C-112/03 (Société financière et industrielle du Peloux), Slg. 2005, I-3727, Rn. 29; Fricke, VersR 2009, S. 429 (429). Zum Begriff Versicherungssachen: Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 8 EuGVO Rn. 5; Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 10 Brüssel Ia-VO Rn. 10: Erfasst werden grundsätzlich alle Arten von Verträgen die im freien Markt regelmäßig von Versicherern als „Versicherungsverträge“ angeboten werden. Folglich werden alle Streitigkeiten mit einbezogen, deren Streitgegenstand im Versicherungsverhältnis selbst liegt; insbesondere Anbahnung, Durchführung und Beendigung. 73 Siehe oben Teil 3 § 3 I. 74 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 8 EuGVO Rn. 5. 75 Vgl. Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 8 EuGVO Rn. 5; Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 10 Brüssel Ia-VO Rn. 10. 76 ˇ PP ./. Vienna Insurance Group), Slg. 2010, IEuGH vom 20.05.2010 – Rs. C-111/09 (C 4545, Rn. 31. 77 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, vor Art. 8 EuGVO Rn. 1. 78 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 8 EuGVO Rn. 2, mit Verweis auf die Entscheidung des EuGH zum Art. 13 EuGVÜ (jetzt: Art. 15 Abs. 1 EuGVO), EuGH vom 15.09.1994, Rs. C-318/93 (Brenner), Slg. I-4284, Rn. 20, die aufgrund des gleichen Aufbaus der Vorschrift herangezogen werden kann. 79 Hierzu eingehend (noch zur EuGVÜ): Looschelders, IPRax 1998, 86 (89).

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dem Betrieb einer Zweigniederlassung, Agentur oder sonstiger Niederlassung auch in deren Sitzstaat erhoben werden.80 a) Ein Abschnitt basierend auf sozialpolitischen Erwägungen Inselsysteme, wie das System für Zuständigkeiten bei Versicherungssachen, sind in der EuGVO keine Seltenheit. In System und Aufbau ist der Abschnitt für Versicherungssachen mit dem Abschnitt für Verbrauchersachen (Art. 17 bis Art. 19 EuGVO (Art. 15 bis Art. 17 EuGVO a. F.)) und zumindest grundsätzlich mit dem Abschnitt für individuelle Arbeitsverträge (Art. 20 bis 23 EuGVO (Art. 18 bis Art. 21 EuGVO a. F.)) verwandt. Auch dort handelt es sich um abgeschlossene Zuständigkeitssysteme, die den jeweiligen Bereich selbständig und erschöpfend regeln und den in den Fokus gerückten Personengruppen besondere Rechte zusprechen. Dabei gleichen sich die gennannten Zuständigkeitssysteme nicht nur in Struktur und Aufbau. In allen drei Abschnitten waren es die bestehende Möglichkeit einer gestörten Vertragsparität zwischen den Parteien und die daraus resultierenden Gefahren für die Rechte der schwächeren Partei,81 die den Gesetzgeber dazu bewogen haben, die von den Abschnitten erfassten Personengruppen mit besonderen prozessualen Rechten auszustatten.82 So hielten es im Abschnitt „Zuständigkeiten für Versicherungssachen“ sowohl die Signatarstaaten bei der Ratifizierung des EuGVÜ als auch der Verordnungsgeber bei Erlass der EuGVO für notwendig, die der Versicherung gegenüberstehende Vertragspartei durch besondere Zuständigkeitsvorschriften zu schützen, die privilegierender sind als die allgemeinen Regelungen der EuGVO bzw. des EuGVÜ.83 Nach der Vorstellung des damaligen Unionsgesetzgebers sind der Versicherer, der am Verbrauchergeschäft beteiligte Unternehmer und der Arbeitgeber grundsätzlich wirtschaftlich stärker und rechtlich erfahrener als ihr jeweiliger Vertragspartner.84 In 80

Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 8 EuGVO Rn. 3. Looschelders, IPRax 1998, 86 (87); Geimer, in: FS für Heldrich, 2005, S. 627 (627). 82 Vgl. Erwägungsgrund 13 der EuGVO; hierzu zuletzt EuGH vom 20.05.2010, Rs. C-111/ ˇ eská podnikatelská pojisˇˇtovna as ./. Michal Bilas), Slg. 2010, I-4545, Rn. 30; Geimer, in: 09 (C FS für Heldrich, 2005, S. 627 (627). 83 Vgl. Erwägungsgrund 13 EuGVO; so auch in ständiger Rechtsprechung der EuGH: vgl. EuGH vom 14.07.1983, Rs. 201/82 (Gerling Konzern Speziale Kreditversicherungs-AG u. a. ./. Amministrazione del Tesoro dello Stato), Slg. 1983, 2503, Rn. 17; EuGH vom 13.06.2000, Rs. C-412/98 (Group Josi Reinsurance Company SA ./. Universal General Insurance Company (UGIC)), Slg. 5925, Rn. 64; EuGH vom 12.05.2005, Rs. C-112/03 (Société financière et industrielle du Peloux ./. Axa Belgium u. a.), Slg. I-3707, Rn. 29; EuGH vom 26.05.2005, Rs. C77/04 (Groupement d’intérêt économique (GIE) Réunion européenne u. a. ./. Zurich España und Société pyrénéenne de transit d’automobiles (Soptrans)), Slg. 4509, Rn. 17. 84 Vgl. Erwägungsgrund 13; EuGH vom 13.07.2000, Rs. C-412/98 (Group Josi Reinsurance Company SA ./. Universal General Insurance Company (UGIC)), Slg. 5925, Rn. 64; EuGH vom 14.07.1983, Rs. 201/82 (Gerling Konzern Speziale Kreditversicherungs-AG u. a. ./. 81

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

allen drei Bereichen wurde daher versucht, diesem Ungleichgewicht durch von den allgemeinen Grundsätzen der EuGVO abweichende Regeln zu begegnen.85 Für den hier in den Fokus gerückten Bereich der Versicherungssachen ist eine grundsätzliche Schutzbedürftigkeit wohl als zutreffend anzusehen, ist das Versicherungsrecht doch eine schwierige, komplexe und in hohem Maß durch die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Versicherer geprägte Materie.86 Der prozessuale Schutz bietet dem der Versicherung gegenüberstehenden Kläger die Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Gerichtsständen. So kann der Versicherer aus versicherungsvertraglichen Ansprüchen am eigenen Sitz nach Art. 11 Abs. 1 lit. a EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. a EuGVO a. F.) und an den Wohnsitzen des Versicherten, des Versicherungsnehmers und des Begünstigten nach Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) verklagt werden.87 Der in Art. 4 Abs. 1 EuGVO (Art. 2 Abs. 1 EuGVO a. F.) kodifizierte Grundsatz „actor sequitor forum rei“ wird dadurch an dieser Stelle zugunsten des Schwächeren aufgebrochen.88 Voraussetzung für die Anwendung von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ist, dass der Sitz des Versicherers und der Wohnsitz/Sitz der dem Versicherer gegenüberstehenden Vertragspartei in unterschiedlichen Mitgliedstaaten liegen.89 Zudem besteht nach Art. 12 EuGVO (Art. 10 EuGVO a. F.) die Möglichkeit, eine Haftpflichtversicherung oder eine Versicherung von unbeweglichen Sachen an dem Ort zu verklagen, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist. b) Der systemfremde Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) fällt aus dem dargestellten System heraus.90 Wie erläutert wurde der Verweis insbesondere deshalb geschaffen, um die Durchsetzung von Ansprüchen gegen den Versicherer bei grenzüberschreitenden Verkehrsunfällen zu erleichtern.91 Dabei ist der durch das System des euroAmministrazione del Tesoro dello Stato), Slg. 2504, Rn. 17; EuGH vom 12.05.2005, Rs. C-112/ 03 (Société financière et industrielle du Peloux ./. Axa Belgium u. a.), Slg. 2005, I-3727, Rn. 30; Bülow, RabelsZ 29 (1965), S. 473 (486). 85 Looschelders, IPRax 1998, 86 (87). 86 Fricke, VersR 2009, S. 429 (429); Looschelders, IPRax 1998, 86 (87). 87 Schlosser, EU- Zivilprozessrecht, 3. Auflage 2009, Art. 9 Rn. 1. Zur Schutzbedürftigkeit des Versicherten und des Begünstigten siehe Begründung des Verordnungsentwurfs durch die Kommission, KOM 1999 (348) endg., Rn. 16 = BR-Drucks. 534/99, S. 15. 88 Looschelders, IPRax 1998, 86 (87). 89 Vgl. Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 lit. b) (Art. 9 Abs. 1 lit b) a. F.) EuGVO: „in einem anderen Mitgliedstaat…“; so auch Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 11 Brüssel Ia-VO Rn. 4. 90 A. A.: Rothley, DAR 2006, 575 (577): „Die Klage des Geschädigten kann mühelos unter dem Begriff Versicherungssachen subsumiert werden“. 91 Bericht von P. Jenard zu Art. 10 EuGVÜ; Richter, VersR 1978, 801 (803); Bülow, RabelsZ 29 (1965), S. 473 (488).

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päischen Verkehrsopferschutzes gewährte Schutzumfang, wie gezeigt,92 Kern des Problems bei der Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.). Die Suche nach der Antwort auf diese Frage wird heute zum einen durch die dargestellten Wertungen der KH-Richtlinien bestimmt und zum anderen generell durch die Stellung des Geschädigten im Abschnitt für Versicherungssachen. Hier stellt sich dem Rechtsanwender die Frage, inwieweit der Geschädigte durch den Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auf die vorstehenden Artikel mit den anderen vom Abschnitt „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ erfassten Personengruppen gleichgestellt wird. Die Beantwortung der Frage fällt nicht zuletzt deshalb besonders schwer, weil der Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ausgehend vom dargestellten Telos der Vorschriften des Abschnitts systemfremd ist. Denn eine durch den Versicherungsvertrag geprägte Anspruchsgrundlage des Geschädigten als Kläger gegenüber dem Versicherer als Beklagter existiert nicht, sodass es auch nicht Ziel und Zweck des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) sein kann, dem Vertragspartner der Versicherung die Geltendmachung möglicher Ansprüche zu erleichtern.93 Gefahren durch eine gestörte Vertragsparität kann es denknotwendig nur dort geben, wo ein Vertrag geschlossen wird, was zwischen dem Versicherer und dem Geschädigten nicht der Fall ist. Daher lassen sich auch die sozialpolitischen Erwägungen, die den Gesetzgeber dazu veranlasst haben, den Versicherungsnehmer, den Versicherten und den Begünstigten mit besonderen prozessualen Rechten auszustatten, nicht ohne weiteres auf den Geschädigten übertragen. c) Rechtsvergleich Im Rechtsvergleich wird deutlich wie wichtig es ist, dass der nationalstaatlich geprägte Rechtsanwender die Besonderheiten der Europäischen Rechtsordnung, namentlich die Aufgaben und Ziele der Europäischen Union, in die Auslegung der streitentscheidenden Vorschriften mit einbezieht. aa) Schutz der Vertragspartei des Versicherers in der deutschen Rechtsordnung Wendet man sich bei diesem Rechtsvergleich zunächst dem prozessualen Schutz der Vertragsparteien des Versicherers zu, wird deutlich, dass sich die Probleme, denen der Unionsgesetzgeber in der supranationalen Rechtsordnung durch besonderen prozessualen Schutz entgegentreten will, auf nationaler Ebene widerspiegeln. Denn das Problem des durch Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Versicherers und dem komplexen Versicherungsrecht geprägten Verhältnisses zwischen dem Versicherer und seinem vertraglichen Gegenüber tritt nicht erst durch die Beson92 93

Siehe oben Teil 4 § 2 I. Fricke, VersR 2009, 429 (432); Looschelders, IPRax 1998, 86.

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

derheiten einer innereuropäischen Grenzüberschreitung auf. Es ist daher wenig überraschend, dass in Deutschland für reine Inlandsfälle durch § 215 VVG ein in weiten Teilen vergleichbarer prozessualer Schutz für das vertragliche Gegenüber eines Versicherers besteht.94 Der § 215 VVG erweitert dabei nicht nur erheblich den Schutz der Vorgängernorm § 48 VVG a. F. und nähert sich den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben an, sondern geht sogar über diese hinaus. Im Konkurrenzverhältnis wird der § 215 VVG bei grenzüberschreitenden Sachverhalten von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgrund dessen Doppelfunktionalität verdrängt.95 Im übrigen Bereich des Abschnitts, in dem die Vorschriften der EuGVO nicht auch gleichzeitig die örtliche Zuständigkeit regeln (Art. 9 Abs. 1 lit. a, c und Art. 12 Abs. 1 EuGVO), normiert § 215 VVG auch im Anwendungsbereich der EuGVO die örtliche Zuständigkeit.96 Der Schutzzweck der Norm ist sowohl auf Ebene des Europäischen Zivilprozessrechts als auch auf nationaler Ebene der gleiche. Auch § 215 VVG dient dem prozessualen Schutz der schwächeren Vertragspartei.97 Darüber hinaus gleichen sich die gewählten Mittel, um diesen Schutz zu gewährleisten. Im deutschen Recht wird ebenfalls zugunsten der schwächeren Partei der Grundsatz „acto sequitur forum rei“ (§§ 13, 17 ZPO) aufgebrochen.98 Dem Kläger steht wahlweise die Möglichkeit offen, die Klage an seinem eigenen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort zu erheben.99 Der Versicherer auf der anderen Seite wird in seinen Möglichkeiten, eine Klage gegen sein vertragliches Gegenüber zu erheben, beschränkt. Denn bei Klagen gegen den Versicherungsnehmer ist der Wohnsitz bzw. gewöhnliche Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers ausschließlicher Gerichtsstand, § 215 Abs. 1 S. 2 VVG. Der Unterschied zwischen deutschem und europäischem Prozessrecht ist, dass im deutschen eine Abweichung von dem ausschließlichen Gerichtsstand nach § 215 Abs. 1 S. 2 VVG durch eine rügelose Einlassung des Versicherungsnehmers nicht möglich ist. § 40 Abs. 2 S. 2 ZPO steht der Gerichtsstandbegründung durch rügeloses Verhandeln zur Hauptsache im Fall eines ausschließlichen Gerichtsstands entgegen.100 Eine rügelose Einlassung zu Lasten des Versicherungsnehmers nach § 40 Abs. 2 S. 2 ZPO i. V. m. § 215 Abs. 1 S. 2 VVG ist damit ausgeschlossen.101 So wird zum Beispiel die Klage eines Versicherers bei reinen Inlandsfällen, die an einem andern Ort als dem Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort des Versiche94

Ausführlich zur Entstehungsgeschichte des § 215 VVG: Fricke, VersR 2009, 15 (15 ff.). Eichelberg, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Auflage 2016, § 215 VVG Rn. 1; Looschelders, in: MünchKommVVG, 2. Auflage 2017, § 215 VVG Rn. 64. 96 Looschelders, in: MünchKommVVG, 2. Auflage 2017, § 215 VVG Rn. 66. 97 Begr. RegE BT-Drucks. 16/3945, S. 117; Fricke, VersR 2009, 15 (16); Looschelders/ Heinig, JR 2008, 265 (265); Franz, VersR 2008, 298 (269). 98 Zu diesem Grundsatz in der ZPO: Patzina, in: MünchKommZPO, 3. Auflage 2008, § 13 Rn. 1; Heinrich, in: Musilak, ZPO, 9. Auflage 2012, § 13 Rn. 1. 99 Looschelders/Heinig, JR 2008, 265 (265). 100 Bork, in: Stein/Jonas, 22. Auflage 2003, § 40 Rn. 2. 101 Eichelberg, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Auflage 2016, § 215 Rn. 8. 95

§ 2 Verkehrsopferschutz und Zuständigkeiten der angerufenen Gerichte

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rungsnehmers erhoben wird, als unzulässig abgewiesen. Hingegen muss der verklagte Versicherungsnehmer bei einem grenzüberschreitenden Fall die fehlende Zuständigkeit aktiv rügen, um nicht an einem anderen Ort, der möglicherweise außerhalb seines Wohnsitzstaats liegt, wirksam verklagt zu werden.102 Der prozessuale Schutz der Vertragspartei der Versicherung im deutschen Prozessrecht ist daher bei reinen Inlandsfällen sogar größer als der bei grenzüberschreitenden Schadensfällen durch das Europäische Zivilprozessrecht.103 bb) Schutz des Geschädigten in der deutschen Rechtsordnung Anders stellt sich die Situation allerdings dar, wenn man die prozessualen Möglichkeiten des Geschädigten bei grenzüberschreitenden Fällen mit denen bei reinen Inlandsfällen vergleicht. Einen Verweis auf § 215 VVG, wie ihn Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) bietet, der die prozessualen Möglichkeiten und den Schutz des Geschädigten in das Zuständigkeitssystem für Versicherungssachen integriert, gibt es im deutschen Recht nicht. Das gilt unabhängig davon, ob Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) als Rechtsgrundoder Rechtfolgenverweis ausgelegt wird. Einzige Möglichkeit dem Geschädigten zu einem vergleichbaren prozessualen Schutz zu verhelfen, wäre eine entsprechend weite Auslegung des persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs von § 215 VVG und so den Geschädigten zu integrieren. Dies erscheint allerdings problematisch, da nach seinem Wortlaut § 215 VVG nur im Verhältnis von Versichertem und Versicherer greift.104 So heißt es in § 215 Abs. 1 VVG: „Für Klagen aus dem Versicherungsvertrag oder der Versicherungsvermittlung ist auch das Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Versicherungsnehmer zur Zeit der Klageerhebung seinen Wohnsitz, in Ermangelung eines solchen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für Klagen gegen den Versicherungsnehmer ist dieses Gericht ausschließlich zuständig.“

Eine wie auch immer geartete Anwendung der Vorschrift auf den Geschädigten erscheint zwar noch möglich, immerhin könnte man die Meinung vertreten, dass auch die Ansprüche des Geschädigten zumindest indirekt mit dem Versicherungsvertrag in Verbindung verstehen.105 Auf eine tiefergehende Analyse kann jedoch verzichtet werden, da die Anwendung der Vorschrift auf Klagen des Geschädigten ausscheidet, weil zumindest der sachliche Anwendungsbereich des § 215 VVG 102

Sperlich/Wolf, VersR 2010, 1099 (1102). Sperlich/Wolf, VersR 2010, 1099 (1102). 104 LG Halle, Urt. v. 15.10.2010 – 5 O 406/10, NJW-RR 2011, 114. 105 § 115 VVG ist nichts anderes als ein gesetzlich angeordneter Schuldbeitritt, der aufgrund eines Versicherungsvertrags besteht, vgl. Schwartze, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Auflage 2016, § 115, Rn. 3; in diese Richtung wohl auch Fricke, VersR 2009, 15 (15); hier auch ausführlich: H. Roth, Der Direktanspruch des Geschädigten nach § 115 VVG und die Streitgenossenschaft zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer, in: Festschrift E. Lorenz, 2014, S. 407 ff. 103

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unstrittig nicht eröffnet ist.106 Wie aus dem oben zitierten Wortlaut der Vorschrift ersichtlich, ist der sachliche Anwendungsbereich des § 215 VVG eröffnet, wenn Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag oder der Versicherungsvermittlung geltend gemacht werden.107 Der Geschädigte macht hingegen Ansprüche aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis geltend, das zwar in einer gewissen Verbindung zu dem Versicherungsvertrag steht, aber eben nicht mit diesem gleichgesetzt werden kann.108 Die überzeugende herrschende Meinung geht daher davon aus, dass der Geschädigte seinen Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer nach § 115 VVG nicht am Gerichtsstand des § 215 Abs. 1 S. 1 VVG geltend machen kann.109 Als möglicher Gerichtstand des Geschädigten bei Klagen gegen die Versicherung, kommt daher zunächst nur der allgemeine Gerichtsstand, der Sitz des Versicherers nach §§ 17, 12 ZPO in Frage.110 Zusätzlich kann die Zuständigkeit eines ordentlichen Gerichts nach § 32 ZPO begründet werden.111 cc) Gegenüberstellung des Schutzes in der deutschen und europäischen Rechtsordnung Es kann nicht abschließend beurteilt werden, warum sich der deutsche Gesetzgeber gegen einen besonderen prozessualen Schutz des Geschädigten entschieden hat, ob es überhaupt zu einer Entscheidung kam oder der Bereich lediglich noch nicht erfasst wurde, da es sich letztlich um eine rechtspolitische Entscheidung handeln würde. Allerdings geben die Erkenntnis, dass eine vergleichbare Regelung in der deutschen Rechtsordnung fehlt, und der Blick auf die oben dargestellten Erwägungen, die den Gesetzgeber dazu veranlasst haben, den europäischen Verkehrsopferschutz weiter auszubauen,112 einen Hinweis darauf, warum die Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) dem durch die deutsche Rechtsordnung vorgeprägten Rechtsanwender besonders schwer fällt. Die Schutzbedürftigkeit des Geschädigten entsteht nicht durch den übermächtigen Versicherer, der seine Verhandlungsposition möglicherweise dazu nützen könnte, seinem vertraglichen Gegenüber mit Hilfe Allgemeiner Geschäftsbedingungen und besonderer Kenntnis des für den Laien schwer zu ver106

Looschelders, in: MünchKommVVG, 2. Auflage 2017, § 215 VVG Rn. 27. Looschleders, in: MünchKommVVG, 2. Auflage 2017, § 215 VVG Rn. 28. 108 Looschelders, in: MünchKommVVG, 2. Auflage 2017, § 215 VVG Rn. 37. 109 So schon zum alten Recht nach § 48 VVG: LG München I, Urt. v. 11.04.1974 – 17 O 55/ 74, VersR 1974, 738 mit Anm. von Schade; nach neuem Recht: Looschelders/Heining, JR 2008, 265 (269); Looschelders, in: MünchKommVVG, 2. Auflage 2017, § 215 VVG Rn. 27; Franz, VersR 2008, 298 (307); a. A.: Fricke, VersR 2009, 15 (15). 110 Schwartze, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Auflage 2016, § 115 VVG Rn. 8. 111 Schwartze, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Auflage 2016, § 115 VVG Rn. 8; van Bühren, Besonderheiten des Unfallprozesses, zfs 2011, 549. 112 Siehe oben Teil 4 § 1 I. 107

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stehenden Versicherungsrechts zu übervorteilen.113 Die Schutzbedürftigkeit des Geschädigten entsteht durch die Besonderheiten des Binnenmarkts selbst. Ein Gesetzgeber, der das Ziel hat, einen Binnenmarkt zu errichten und weiter zu entwickeln (Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV) muss Lösungen für die Probleme anbieten, die durch dessen Besonderheiten auftreten, wie etwa bei der Durchsetzung von Ansprüchen eines sich im europäischen Ausland ereignenden Verkehrsunfalls. Wie gezeigt, entsteht die Schutzbedürftigkeit hier durch die oftmals fremde Sprache, ein fremdes Rechtssystem, eine fremde Regelungspraxis und häufig eine lange Dauer der Regulierung.114 Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) dient daher insbesondere dazu, „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln“.115 Für diesen Raum hat der freie Personen- und Warenverkehr eine entscheidende Bedeutung.116 Es ist dabei das erklärte Ziel des Unionsgesetzgebers, die Freizügigkeit von Personen und Waren im Binnenmarkt so unkompliziert wie möglich zu gestalten.117 Er hat dabei gerade dem Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung größte Aufmerksamkeit geschenkt.118 Die zahlreichen Harmonisierungsschritte zielen auf der einen Seite darauf ab, das Vertrauen in den grenzüberschreitenden Verkehr zu stärken, womit die Freizügigkeit von Personen innerhalb des Binnenmarktes so unkompliziert wie möglich gemacht werden soll und auf der anderen Seite, den Verkehrsopferschutz in den europäischen Staaten nicht zu schwächen.119 Wie bereits dargestellt, wurde diese Entwicklung schon durch das Straßburger Übereinkommen vom 20.04.1959, in dem die Einräumung eines Direktanspruchs des Geschädigten auf materiell-rechtlicher Ebene als zu erreichendes Ziel vereinbart wurde, angestoßen.120 Die Signatarstaaten des Übereinkommens waren sich bewusst, dass sie nur mit einer europaweiten Vereinheitlichung der KH-Versicherung dem ständig zu113

Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633). Vgl. dazu nochmals den Erwägungsgrund 6 der 4. KH-Richtlinie vom 16.05.2000, ABl. EG Nr. L 181 S. 65 vom 20.07.2000; so auch: Schewior, 36. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1998, S. 119 (119). 115 Erwägungsgründe 1 und 6 der EuGVO; vgl. auch Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 Abs. 1 AEUV. 116 Siehe Erwägung der Richtlinie des Rates betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (72/166/EWG) vom 24.04.1972 (1. KHRichtlinie), ABl.EG Nr. L 103, S. 1 vom 02.05.1972. 117 Müller, Versicherungsbinnenmarkt, 1995, S. 52; so auch in den Erwägungen zur 1. KHRichtlinie, ABl.EG Nr. L 103 S. 1 vom 02.05.1972. 118 Müller, Versicherungsbinnenmarkt, 1995, S. 51 f. 119 Mönnich, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, § 2 Rn. 2, 55. 120 Lemor, in: Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrzeugversicherung, 3. Auflage 2009, 1. Teil B Rn. 5; Mönnich, a. a. O. 114

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nehmenden grenzüberschreitenden Verkehr gerecht würden.121 Der prozessuale Teil dieses letztlich erst mit der Umsetzung der 4. KH-Richtlinie in allen Mitgliedstaaten eingeführten Direktanspruchs ist der Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.). Mit dem besonderen Gerichtstand werden die prozessualen Möglichkeiten des Geschädigten erweitert, wodurch im Fall einer Klage den Nachteilen eines Unfalls im Ausland gegenüber einem Unfall im Inland entgegengewirkt werden soll.122 Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) unterscheidet sich von den übrigen Vorschriften des Abschnitts über die „Zuständigkeit für Versicherungssachen“, was im Zusammenhang mit den Regelungen des EU-Vertrags beachtet werden muss: Während sich die übrigen Vorschriften einem Problem widmen, dass sich auch in den Nationalstaaten stellt und aus Gründen der Vereinheitlichung des Rechts europaweit geregelt wurde, dient Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) dazu, einem Problem gerecht zu werden, das sich nur bei der Grenzüberschreitung stellt. Das Fehlen einer vergleichbaren nationalstaatlichen Regelung ist daher wenig verwunderlich, da es nur im europäischen Kontext derartigen Regelungsbedarf gibt. Gerade bei der Anwendung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) müssen daher die schon oben aufgezeigten europäischen Besonderheiten Beachtung finden. 2. Exkurs: Die Rom II-VO In der Argumentation zur Begründung eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) wird auch auf die Rom II-VO abgestellt, so dass im Folgenden auf diese jüngere Entwicklung des Europäischen Sekundärrechts eingegangen wird.123 Aufgrund des oben dargestellten Grundsatzes der autonomen Auslegung Europäischen Sekundärrechts, der nach einer Vorprüfung auch für die auszulegenden Vorschriften gilt,124 spielen die nationalen Kollisionsnormen für die Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) im Rahmen der Meinungsstreitigkeit keine Rolle.125 So kommt es beispielsweise nicht darauf an, wie im nationalen Kollisionsrecht die action directe rechtlich qualifiziert wird.126 Wie oben gezeigt127 kommt es nur in121

Rn. 9.

Lemor, in: Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrversicherung, 3. Auflage 2009, 1. Teil B

122 Bericht von P. Jenard zu Art. 10, S. 32; zur Funktion des Direktanspruchs: Lemor, in: Feyock/Jacobsen/Lemor, Kraftfahrversicherung, 3. Auflage 2009, 1. Teil B Rn. 9. 123 Siehe dazu auch Staudinger/Czaplinsky, NJW 2009, 2249. 124 Siehe oben Teil 3 § 3 I. 125 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (874). 126 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (874). 127 Siehe oben Teil 4 § 2 II.

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soweit zu einer Verknüpfung, als eine solche Direktklage in der berufenen nationalen Rechtsordnung abstrakt generell vorgesehen sein muss.128 Mit der Rom II-VO vom 11.07.2007, die am 11.01.2009 in Kraft getreten ist (Art. 32 Rom II-VO), hat sich diese Situation geändert. Denn mit der Verordnung wurde das nationale Kollisionsrecht der Mitgliedstaaten vergemeinschaftet, welches das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht regelt.129 Ermittelte ein deutsches Gericht das Deliktstatut bzw. Statut des Versicherungsvertrags bei grenzüberschreitenden Verkehrsunfällen vor dem 11.01.2009 noch nach Art. 40 Abs. 4 EGBGB,130 findet nun Art. 18 Rom II-VO Anwendung.131 Nach der wohl noch herrschenden Meinung bestimmt Art. 18 Rom II-VO das anzuwendende Recht bei einer Direktklage gegen den Versicherer des Haftenden für alle schadensbegründenden Ereignisse, die nach dem 11.01.2009 eingetreten sind, vgl. Art. 31, 32 Rom II-VO.132 Demnach wäre eine Klage am Gerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) zulässig, wenn dieser im Deliktstatut (Art. 18 Alt. 1 Rom II-VO) oder Versicherungsstatut (Art. 18 Alt. 2 Rom II-VO) vorgesehen ist.133 Da Art. 18 Rom II-VO dem Schutz des Geschädigten dienen soll,134 stehen beide Möglichkeiten dem Günstigkeitsprinzip folgend in dem Verhältnis uneingeschränkter Alternativität.135 Das Deliktstatut knüpft gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO an den Erfolgsort an (lex loci damni).136 Die Auflockerungen des Tatortprinzips durch die Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 Rom II-VO sind hier nicht einschlägig.137 Von den außervertraglichen Schuldverhältnissen aus unerlaubter Handlung sind dem 3. Satz des Erwägungsgrunds 11 der EuGVO zufolge auch die bei einem Verkehrsunfall wichtigen Ansprüche aus Gefährdungshaftung umfasst.138 Das Versicherungsstatut ist nach Art. 7 Abs. 1 Rom I-VO zu bestimmen.139 Nach Art. 7 Abs. 1 i. V. m. Abs. 6 Rom I-VO ist auf die Risikobelegenheit abzustellen. Bei Kfz-Versicherungen ist dies der Ort der Zulassung.140 Zu einer von der oben stehenden kollisionsrechtlichen Anknüpfung 128 129 130 131 132

Rn. 4. 133

So auch H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (874). Allgemein zur Rom II-VO: Junker, NJW 2007, 3675 und von Hein, VersR 2007, 440. Hierzu ausführlich Junker, JZ 2008, 169. Staudinger/Czaplinski, NJW 2009, 2249 (2250). An Stelle Vieler: Junker, in: MünchKommBGB, 7. Auflage 2018, Art. 32 Rom II-VO

Junker, in: MünchKommBGB, 7. Auflage 2018, Art. 18 Rom II-VO Rn. 1. Micha, Der Direktanspruch im europäischen Internationalen Privatrecht, 2010, S. 11. 135 Spickhoff, in: Bamberger/H. Roth, 4. Auflage 2019, Art. 18 Rom II-VO Rn. 2. 136 Erwägungsgrund 16 Rom II-VO; zur zu dieser Anknüpfung vorgehenden Rechtswahl, siehe Spickhoff, in: Bamberger/H. Roth, 4. Auflage 2019, Art. 14 Rom II-VO. 137 Siehe dazu: Spickhoff, in: Bamberger/H. Roth, 4. Auflage 2019, Art. 4 Rom II-VO Rn. 11 ff. 138 Spickhoff, in: Bamberger/H. Roth, 4. Auflage 2019, Art. 4 Rom II-VO Rn. 3. 139 Spickhoff, in: Bamberger/Roth, 4. Auflage 2019, Art. 4 Rom II-VO Rn. 1. 140 Spickhoff, in: Bamberger/Roth, 4. Auflage 2019, Art. 7 Rom I-VO Rn. 5. 134

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

abweichenden Lösung kann es nach Art. 28 Abs. 1 Rom II-VO nur dann kommen, wenn sie sich mit internationalen Übereinkommen überschneiden, denen ein oder mehrere Mitgliedsstaaten zum Zeitpunkt der Annahme der Rom II-VO angehören, und diese Kollisionsnormen für außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten.141 Damit räumt die Rom II-VO bei internationalen Straßenverkehrsunfällen dem Haager Übereinkommen über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht von 1971 Vorrang ein.142 Aufgrund des Wortlauts des Art. 18 Rom II-VO macht es zwar zunächst den Eindruck, als sei es durch die Vergemeinschaftung zu keinen Veränderungen gekommen, die sich auf die Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ausgewirkt haben könnten. Trotzdem ist mit der Rom II-VO neues supranationales Recht entstanden, das aufgrund des oben dargestellten Grundsatzes von der Einheit der Rechtsordnung und der bereits festgestellten systematischen Verknüpfung im weiteren Sinn143 bei der Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) zu beachten ist.144 Wie gezeigt, wurde der systematische Zusammenhang zwischen der EuGVO und der Rom II-VO zudem im Erwägungsgrund 7 explizit hervorgehoben.145 Aus der aktuellen Kommentierung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) wird deutlich, dass die neue Rom II-VO bereits in die Auslegung der Vorschriften miteinbezogen wird. So zieht Staudinger bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) den Erwägungsgrund 33 der Rom II-VO heran.146 Ausgehend von der heute herrschenden Meinung soll für die Klage des Geschädigten der Wohnsitz zum Zeitpunkt der Klageerhebung und nicht der zum Zeitpunkt der

141

Zu dieser Vorrangregel vgl. Junker, in: MünchKommBGB, 5. Auflage 2010, Rn. 11 ff. Jakob/Picht, in: Rauscher, Bearbeitung 2011, Art. 28, 29 Rom II-VO Rn. 2; Graziano, RabelsZ 73 (2009), S. 1 (26); eine aktuelle Liste der Mitgliedsstaaten findet sich unter: http:// www.hcch.net/index_de.php?act=conventions.status&cid=81 (zuletzt aufgerufen am 10.02.2020). 143 Siehe oben Teil 2 § 4; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 74; so auch der BGH, Urt. v. 09.07.2009 – Xa ZR 19/98 zu Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO und dessen Verhältnis zu Art. 5 Nr. 3 EuGVO, NJW 2009, 3371 (3372). Zu den Parallelen und Divergenzen zwischen IPR und IZPR siehe auch Mankowski, in: FS für Heldrich, 2005, S. 867 ff. 144 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (877); Tomson, EuZW 2009, 204; Staudinger, NJW 2007, 71 (73). 145 Vgl. Erwägungsgrund 7 der Rom II-VO: „Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 de Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (,Brüssel I‘) und den Instrumenten, die das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht zum Gegenstand haben, in Einklang stehen.“ 146 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 142

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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Schädigung der maßgebliche sein.147 Staudinger führt hierfür insbesondere die Sachund Beweisnähe der Spruchkörper an.148 Mit Verweis auf Erwägungsgrund 33 der Rom II-VO, nach dem das Gericht im Rahmen der Schadensberechnung für Personenschäden alle relevanten und tatsächlichen Umstände des jeweiligen Opfers berücksichtigen sollte,149 macht er deutlich, dass dieses Auslegungsergebnis auch vom Unionsgesetzgeber gewollt ist.150

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung In der deutschen Literatur und Rechtsprechung stehen sich bei der Frage, wie der Geschädigte in den Abschnitt „Zuständigkeiten für Verssicherungssachen“ der EuGVO zu integrieren ist und konkret, ob dem Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ein eigener Wohnsitzgerichtsstand zustehen soll, zwei große Meinungsblöcke gegenüber. Der bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen herrschende Meinungsblock legte dabei den im Zentrum des Meinungsstreits stehenden Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) zumindest auch als Rechtsgrundverweisung auf Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aus.151 Ein eigener Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten wurde abgelehnt, da der Geschädigte nicht in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgezählt wird.152 Demgegenüber ging der bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen in der Minderheit befindliche Meinungsblock davon aus, dass es sich bei Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) überwiegend um eine 147

Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 149 Vgl. Erwägungsgrund 33 der Rom II-VO: „Gemäß den nationalen Bestimmungen über den Schadensersatz für Opfer von Straßenverkehrsunfällen sollte das befasste Gericht bei der Schadensberechnung für Personenschäden in Fällen, in denen sich der Unfall in einem anderem Staat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Opfers ereignet, alle relevanten tatsächlichen Umstände des jeweiligen Opfers berücksichtigen, insbesondere einschließlich tatsächlicher Verluste und Kosten für Nachsorge und medizinische Versorgung.“ 150 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel I-VO Rn. 6; zu den Grenzen dieser „Auslegungsharmonie“ siehe ausführlich Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 74 m. w. N. 151 Vor der EuGH-Entscheidung gegen einen eigenen Gerichtsstand des Geschädigten: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 EuGVO Rn. 16; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht 8. Auflage 2005, Art. 11 EuGVVO Rn. 4; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2. Auflage 2003, Art. 11 EuGVVO Rn. 2; Lemor, NJW 2002, 3666 (3668); Fuchs, IPRax 2001, 425 (426); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (285 ff.). 152 Siehe oben einleitend unter Teil 1 § 3 I. 3.; Kropholler, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 7. Auflage 2002, EuGVO, Art. 11 Rn. 4. 148

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Rechtsfolgenverweisung handelt.153 Auf eine zusätzliche Erwähnung in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) kam es den Vertretern dieser Meinung nicht an, sodass ein eigener Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten bejaht wurde. Mit der Entscheidung des EuGH in der Sache FBTO Schadeverzekeringen verlagerte sich,154 durch die einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten befürwortende Entscheidung der obersten europäischen Gerichts, das Stimmenverhältnis innerhalb des Meinungsstreits, sodass das ursprünglich nur von einer Minderheit vertretene Auslegungsergebnis heute die herrschende Meinung ist und umgekehrt.155 Neben diesen zwei großen Meinungsblöcken ist der Vollständigkeit halber noch ein drittes Auslegungsergebnis darzustellen, welches von den beiden Meinungsblöcken intensiv diskutiert aber einheitlich abgelehnt wurde.156 Im Zentrum der Argumentation dieser Mindermeinung steht nicht die Kategorisierung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.), sondern es wird versucht, das Problem eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten über eine direkte Anwendung des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) auf den Geschädigten zu lösen. Der „Geschädigte“ im Sinne von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) wird von dieser Mindermeinung dem „Begünstigen“ im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gleichgestellt.

I. Die sich gegenüberstehenden Auslegungsergebnisse Bei der Analyse der sich gegenüberstehenden Auslegungsergebnisse wird deutlich, dass weder für die ehemals herrschende noch für die heute herrschende Meinung das Argument eines klaren Auslegungsergebnisses spricht. Vielmehr sehen sich die Vertreter beider Meinungsblöcke dazu gezwungen, einen jeweils klaren Rechtsfolgen- bzw. Rechtsgrundverweis über Mischformen der Verweise zu korrigieren, um zum gewünschten Auslegungsergebnis zu gelangen.

153

Siehe oben einleitend unter Teil 1 § 3 I. 3.; Rothley, DAR 2006, 575 (577); H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (871); Looschelders, ZZPInt 2007, 242 (248); Riedmeyer, AnwBl 2008, 17 (21). 154 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg. 2007, I11321, Rn. 31. 155 LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, DAR 2006, 575 (576). 156 Stellvertretend für die heute herrschende Meinung: Staudinger/Czaplinski, NJW 2009, 2249 (2250); stellvertretend für die ehemals herrschenden Meinung: Heiss, VersR 2007, 327 (328).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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1. Ehemals herrschende Meinung Nach den Vertretern der ehemals herrschenden Meinung habe der Geschädigte nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.), soweit nach der jeweils anzuwendenden Rechtsordnung ein Direktanspruch gegen den Versicherer gegeben ist,157 grundsätzlich die Möglichkeit, wahlweise am Wohnsitz des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten gegen den Versicherer des Schadensverursachers Klage zu erheben.158 Ein mit dem Geschädigten in sein Heimatland „zurückreisender“159 eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten wurde abgelehnt.160 Ein Auslegungsergebnis, das sich mit einer einfachen Rechtsgrundverweisung von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht begründen lässt.161 Im Gegenteil wird bei genauerer Analyse deutlich, dass die Vertreter dieser Meinung, um die beiden Schutzsysteme in Art. 10 EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) zu vereinen, auf eine Mischform aus Rechtsgrund- und Rechtsfolgenverweisung zurückgreifen mussten. Nur so lässt sich die gewollte Rechtsfolge erreichen. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass bei einer reinen Rechtsgrundverweisung nicht nur die Tatbestandsmerkmale der verweisenden Norm zu prüfen sind, sondern auch alle Tatbestandsmerkmale der Norm, auf die verwiesen wird.162 Im Fall des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) würde das bedeuten, dass neben den Tatbestandsmerkmalen des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auch die des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) erfüllt sein müssten. Nach dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ist die Möglichkeit, an den besonderen Gerichtsständen Klage gegen den Versicherer zu erheben, aber nur dann eröffnet, wenn der Wohnsitz des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten in einem anderen Mitgliedstaat liegt als der Sitz des zu verklagenden Versicherers (Art. 62, 63 EuGVO (Art. 59, 60 EuGVO a. F.)).163 Ohne die Anwendung des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) über den Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ist der Zweck dieses Tatbe157

Siehe dazu oben unter Teil 4 § 2 II. So z. B. Heiss, VersR 2007, 327 (328); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (287 f.); Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Auflage 2004, EuGVO Art. 11 Rn. 16; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2002, EuGVO Art. 11 Rn. 4. 159 Fuchs, IPRax 2007, 302 (306). 160 Lemor, NJW 2002, 3666 (3668); Fuchs, IPRax 2001, 425 (426); LG Saarbrücken, Urt. v. 6.12.1976 – 16 O 160/76, VersR 1977, 1164. 161 Zur Art des Verweises der ehemals herrschenden Meinung beispielsweise Fuchs, IPRax 2001, 425 (426); OLG Brandenburg, Urt. v. 13.09.2006 – 12 W 35/06, NJW-RR 216 (216). 162 Vgl. Rothley, DAR 2006, 575 (577). 163 Vgl. Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 lit b EuGVO; so auch: Stadler, in: Musilak, ZPO, 9. Auflage 2012, Art. 9 EuGVO Rn. 2; noch zur EuGVÜ: Looschelders, IPRax 1998, 86 (88). 158

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

standsmerkmals klar: Nur wenn es sich um ein grenzüberschreitendes Versicherungsverhältnis handelt, sollen die in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personengruppen vom Schutz des in sich geschlossenen Abschnitts „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ erfasst und ihnen die Möglichkeit eröffnet werden, an den besonderen Gerichtsständen Klage zu erheben.164 Dieses Tatbestandsmerkmal auch bei Anwendung über den Verweis von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) zu prüfen würde allerdings dazu führen, dass die ehemals herrschende Meinung dem Geschädigten nicht nur generell einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand bei einer Direktklage gegen den Versicherer verwehrt. Vielmehr wäre es für die Möglichkeit, an den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Gerichtständen Klage zu erheben, zusätzlich erforderlich, dass der Sitz des Versicherers und der Wohnsitz des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigen auseinanderfallen. Mit Blick auf die Tatsache, dass die grenzüberschreitenden Versicherungsverhältnisse im europäischen Binnenmarkt immer noch die Ausnahme sind,165 hätte das im heute noch vorherrschenden Regelfall zur Folge, dass es dem Geschädigten nicht nur verwehrt wäre, die Klage gegen den Versicherer an seinem Wohnsitzgerichtsstand zu erheben, sondern über den Verweis von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auf Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. lit. b EuGVO a. F.) auch in der Regel überhaupt an einem weiteren Gerichtsstand zu klagen. Der Geschädigte hätte so über Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) nur die Möglichkeit, nach Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) am Sitz des Versicherers zu klagen bzw. im Fall des Art. 11 Abs. 2 EuGVO (Art. 9 Abs. 2 EuGVO a. F.) am Sitz einer Niederlassung oder nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 12 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 10 EuGVO a. F.) am Unfallort.166 Dieses Ergebnis war so von den Vertretern der ehemals herrschenden Meinung nicht gewollt. Sie vertraten vielmehr die Meinung, dass es zwar keinen eigenen Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten geben solle, der Geschädigte aber grundsätzlich die Wahlmöglichkeit zwischen den drei besonderen Gerichtsständen des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) habe, und zwar nicht nur in Ausnahmefällen.167 Die zwei Schutzsysteme lassen sich im Sinne der ehemals herrschenden Meinung damit nur vereinen, wenn in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) keine reine Rechtsgrundverweisung gesehen wird. Richtig erscheint es daher, dass die Vertreter der ehemals herrschenden Meinung in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) neben einer Rechtsgrundverweisung teilweise auch einen Verweis auf die Rechtsfolge des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 164 Ausführlich zum Abschnitt „Zuständigkeiten für Versicherungssachen“ oben unter Teil 4 § 2 II. 165 So Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (283). 166 Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127). 167 Heiss, VersR 2007, 327 (328).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) angenommen haben, da die eröffnenden Tatbestandsvoraussetzungen nicht geprüft werden sollten. Es handelte sich daher bei der ehemals herrschenden Meinung um eine Mischform aus Rechtsgrund- und Rechtsfolgenverweisung: Eine Rechtsgrundverweisung, weil dem Geschädigten kein eigener Gerichtsstand zustehen, sondern dieser lediglich die Möglichkeit haben sollte, einen der von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Gerichtsstände des Versicherungsnehmers, des Versicherten und des Begünstigten zu wählen.168 Eine Rechtsfolgenverweisung, weil die weiteren Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.), ob der Versicherer seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedsstaat hat als Versicherungsnehmer, Versicherter oder Begünstigter, nicht vorliegen müssen, um dem Geschädigten die Möglichkeit zu eröffnen, an einem der drei Gerichtsstände zu klagen. 2. Heute herrschende Meinung Bei Analyse des Auslegungsergebnisses der nach der Entscheidung des EuGH in der Sache FBTO Schadeverzekeringen von der heute herrschenden Meinung vertretenen Auffassung wird deutlich, dass sich die Vertreter dieser Meinung ähnlich verbiegen mussten, um die beiden Systeme im Abschnitt für Versicherungssachen zu vereinen.169 Hier wird vertreten, dass der Geschädigte bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F.) auch das Recht habe,170 seinen Direktanspruch gegen den Versicherer der Gegenseite am eigenen Wohnsitz zu erheben.171 Dabei wird angenommen, dass dem Geschädigten nicht nur die Möglichkeit offenstehen solle, am eigenen Wohnsitzgericht zu klagen. Vielmehr komme diese Möglichkeit zu den bereits von der ehemals herrschenden Meinung bejahten Gerichtsständen hinzu.172 Das Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung bleibt also insoweit bestehen, als der Geschädigte neben seinem eigenen Wohnsitzgericht zusätzlich die Wahlmöglichkeit hat, vor dem Gericht des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, Versicherten oder Begünstigten zu klagen.173 Demnach fügt die heute herrschende Meinung dem Ergebnis der ehemals herrschenden Meinung aus gemischter 168

H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (873). Ausführliche Darstellung der Problematik bei H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (870 ff.). 170 Zu den weiteren Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EuGVO siehe oben Teil 4 § 2 II. 171 Tomson, EuZW 2009, 204 (205). 172 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (870 ff.); anders: Rothley, DAR 2006, 575 (577), er sieht nur das Wohnsitzgericht des Geschädigten für zuständig. Es handelt sich daher nach seiner Auffassung um eine reine Rechtsgrundverweisung. 173 An Stelle vieler: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 EuGVVO, Rn. 15. 169

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Rechtsfolgen- und Rechtsgrundverweisung, durch den jetzt möglichen eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten, ein weitere Rechtsfolgenverweisung auf Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) hinzu:174 Es handelt sich um eine Rechtsgrundverweisung, weil dem Geschädigten grundsätzlich weiterhin die Möglichkeit offenstehen soll, zwischen den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgezählten Gerichtsständen zu wählen.175 Insoweit bleibt es bei dem Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung. Es handelt sich auch um eine Rechtsfolgenverweisung, weil zum einen auch bei der heute herrschenden Meinung die tatbestandseröffnenden Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht geprüft werden. Zugunsten des Geschädigten kommt insoweit eine Rechtsfolgenverweisung hinzu, als ihm durch den Verweis von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F.) die Klagemöglichkeit am eigenen Wohnsitzgerichtsstand eröffnet wird. 176 3. Mindermeinung Am unproblematischsten stellt sich die Situation bei der besagten Mindermeinung dar.177 Auch die Vertreter dieser Meinung wollen dem Geschädigten einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand zusprechen. Sie wählen hierbei allerdings eine andere Begründung als die Vertreter der heute herrschenden Meinung. Nach der Mindermeinung komme es auf die Tatsache, dass in den Art. 10 EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) zwei Schutzsysteme zusammengefasst werden, nicht an, da der „Geschädigte“ in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F.) ohnehin mit dem „Begünstigten“ in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gleichzusetzen sei. Der große Meinungsstreit, ob es sich bei dem Verweis von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F.) im Schwerpunkt um eine Rechtsfolgen- bzw. Rechtsgrundverweisung handelt, sei daher nach dieser Auffassung entbehrlich. Der Geschädigte werde ohnehin von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) erfasst.

II. Der gemeinsame Ausgangspunkt im EuGVÜ Um den Meinungsstreit über die zu bevorzugende Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b 174 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (872); Hauptfleisch/Hirtler, ZVR 2005, 388 (390) gehen von einem einfachen Rechtsfolgenverweis aus: „Durch die Verweisung wird sohin auch der Geschädigte aus einem Verkehrsunfall in diesen privilegierten Kreis einbezogen.“ 175 Leible, NJW 2008, 819 (821); H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (870). 176 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (871 f.). 177 So zum Beispiel die polnische Regierung in der Erklärung zur Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen, EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg. 2007, I-11321, Rn. 17.

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

131

EuGVO a. F.) vollständig zu erfassen, ist es entscheidend zu erkennen, dass die ehemals herrschende Meinung und die heute herrschende Meinung einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Noch zu Zeiten des EuGVÜ wurde ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten – mit Fricke178 als einziger ersichtlicher Ausnahme – einheitlich abgelehnt. Hinter dieser Einigkeit über das Auslegungsergebnis der Vorgängervorschriften des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) steht die Einigkeit über das Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen bei der Auslegung der Vorschriften. Wie bereits im modifizierten Auslegungskanon unter den Besonderheiten der historischen Auslegung dargestellt, kommt dem historischen Willen der Signatarstaaten bei der Auslegung des EuGVÜ besondere Bedeutung zu. Zur Ermittlung dieses Willens wurde auf die besagten Berichte abgestellt, im konkreten Fall auf den Bericht von P. Jenard.179 Nachdem in diesem Bericht ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten zumindest indirekt abgelehnt wurde,180 kam man für die aus der Perspektive des Geschädigten nahezu gleichlautenden Vorschriften der EuGVÜ einheitlich zu dem Ergebnis, dass dieser auch für den damals „Verletzten“ abzulehnen sei.181 Über die besagte Auslegungskontinuität zwischen EuGVÜ und EuGVO wollte die ehemals herrschende Meinung an diesem Auslegungsergebnis festhalten,182 sodass der Meinungsstand zu Zeiten des EuGVÜ auch relevant ist für den Meinungsstreit über die Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.). 1. Der Bericht von P. Jenard Mit Blick auf den Wortlaut der Vorschriften und vor dem Hintergrund, dass auch im EuGVÜ der Wortlaut der Vorschriften Ausgangspunkt und Rahmen einer jeden Auslegung ist,183 und ohne Kenntnis des Berichts von P. Jenard überrascht es,184 dass über die Auslegung der Art. 10 Abs. 2 i. V. m. Art. 8 Nr. 2 EuGVÜ weitgehend Ei178

Fricke, VersR 1997, 399 (402 f.). Fuchs, IPRax 2007, 302 (303). So schon Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 1. Auflage 1982, Einl. Rn. 30: Eine historische Auslegung, welche auf die Ermittlung des tatsächlichen Willens der Verfasser gerichtet ist, kann sich an den Berichten von Jenard und Schlosser orientieren. 180 Bericht von P. Jenard, ABl. EG vom 02.03.1979, Nr. C 59/S. 32. 181 So schon Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 1. Auflage 1982, Art. 10 Rn. 4. 182 Schlosser, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Auflage 2003, Art. 11 Rn. 2; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 Rn. 16; Fuchs, IPRax 2007, 302 (304). 183 In diesem Sinne Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Auflage 1996, Einl. Rn. 34 f.; deutlich auch bei LG Saarbrücken, Urt. v. 6.12.1976 – 16 O 160/76, VersR 1977, 1164 (1164). 184 Fuchs, IPRax 2007, 302 (303). 179

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

nigkeit herrschte.185 Auch im EuGVÜ lässt der Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 offen, wie der Art. 8 Nr. 2 EuGVÜ anzuwenden ist.186 Es stellt sich daher die Frage, warum nicht auch hier neben dem Wohnsitzgerichtsstand des Versicherungsnehmers ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Verletzten bejaht werden soll. Maßgeblich verantwortlich dafür ist der Bericht von P. Jenard. Ausgehend vom Wortlaut der auszulegenden Vorschriften hob P. Jenard in seinem Bericht zunächst hervor, dass Grund für den in Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 EuGVÜ geregelten Wohnsitzgerichtsstand die besondere vertragliche Beziehung zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer ist. Wörtlich heißt es in dem Bericht zu Art. 8 EuGVÜ: „Wie von dem europäischen Versicherungsausschuss bemerkt wurde, hat der Versicherer als Erbringer der Leistung zum Geschäftspartner die andere Vertragspartei, d. h. den Versicherungsnehmer. Mit ihm steht er in Geschäftsverbindung, und es ist nicht mehr als recht und billig, dass er vor dem Gericht des Wohnsitzes dieses Geschäftspartners verklagt werden kann. Dagegen würde es zu weit gehen, wenn man ihn verpflichten wollte, sich in dem Gerichtsstand des Versicherten oder des Begünstigten verklagen zu lassen, deren genauen Wohnsitz er im Zeitpunkt des Entstehens des Rechtsstreits nicht zu kennen braucht.“187

Neben den Ausführungen zu einem möglichen Wohnsitzgerichtsstand des Versicherten und des Begünstigten, hieß es zu den möglichen Gerichtständen des Verletzten in Art. 10 EuGVÜ im Bericht von P. Jenard wörtlich: „Nach Artikel 10 Absatz 2 kann der Versicherer von dem Verletzten in Haftpflichtsachen auch unmittelbar außerhalb seines Wohnsitzstaates verklagt werden, und zwar vor jedem Gericht, das nach Artikel 7 bis 9 für eine Klage des Versicherungsnehmers gegen den Versicherten zuständig ist. Artikel 8 Absatz 1 regelt nur die Zuständigkeit nach dem Wohnsitz des Versicherungsnehmers. Dagegen gibt es keine Bestimmung, die den Gerichtsstand des Wohnsitzes des Verletzten vorsieht.“188

Zwar wurde damit ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nicht ausdrücklich abgelehnt, da aufgrund des Verweises eine eigene Bestimmung nicht nötig wäre, wenn man von einer Rechtsfolgenverweisung ausgeht. Aber aus den Aussagen von P. Jenard zu Art. 8 EuGVÜ wurde von Literatur und Rechtsprechung ein Erst-Recht Schluss entwickelt: Was für den Versicherten und den Begünstigten gelte, müsse erst recht für den Verletzten gelten, denn der Versicherte kenne zum Zeitpunkt des Entstehens des Rechtsstreits weder den Wohnsitz des Verletzten, noch gebe es eine vertragliche Beziehung zwischen dem Verletzten und dem Versiche-

185

So zum Beispiel Fricke, VersR 1997, 399 (402 f.). A. A.: Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (285), die davon ausgehen, dass das Auslegungsergebnis dem „eindeutigen Wortlaut“ des Übereinkommen entspricht; LG Saarbrücken, Urt. v. 6.12.1976 – 16 O 160/76, VersR 1977, 1164 (1164). 187 Bericht von P. Jenard, ABl. EG vom 02.03.1979, Nr. C 59/S. 31; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2005, Art. 9 Rn. 2. 188 Bericht von P. Jenard, ABl. EG vom 02.03.1979, Nr. C 59/S. 32. 186

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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rer.189 Aus diesem Grund ging die herrschende Meinung zu Zeiten des EuGVÜ davon aus, dass auch der besondere Schutz des Verletzten durch einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand zu verneinen sei.190 2. Mindermeinung zur Zeit des EuGVÜ Aufgrund des Übergewichts des Berichts von P. Jenard bei der Auslegung der streitentscheidenden Vorschriften im EuGVÜ lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren, ob die Meinungsführer in Literatur und Rechtsprechung zu Zeiten des EuGVÜ bei einer mehr an System und Telos (objektiv-historisch) der Vorschriften orientierten Auslegung zum gleichen Ergebnis gekommen wären. Zwar spricht für diese Annahme zumindest, dass die heute herrschende Meinung ihre Argumentation zu großen Teilen auf die nachfolgenden Entwicklungen stützt,191 ein eindeutiges Ergebnis kann dies jedoch nicht bieten. Im Gegenteil sprechen die wenigen kritischen Stimmen zum Auslegungsergebnis zu Zeiten des EuGVÜ dafür, dass sich auch schon damals beide Auslegungsergebnisse vertreten ließen.192 Fricke etwa bejahte einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Verletzten193 und war so weit ersichtlich als Einziger schon 1997 der Auffassung, dass der Verletzte durch Art. 10 Abs. 2 EuGVÜ mit dem Versicherungsnehmer gleichzustellen sei. Er vertrat die Meinung, dass dem Verletzten auch das Recht zustehen müsse, am eigenen Wohnsitzgerichtsstand Klage gegen den Versicherer des Haftenden zu erheben.194 Das argumentum a fortiori der ehemals herrschenden Meinung ließ Fricke nicht gelten.195 Die Situation des Verletzten ließe sich mit der des Begünstigten und des Versicherten nicht vergleichen. Der entscheidende Unterschied liege darin, dass man dem Verletzten nicht entgegengehalten könne, dass der Versicherer ihn nicht kenne und sich dieser deshalb auch nicht auf einen weiteren Wohnsitzgerichtsstand einstellen müsse, sei der Verletzte schließlich auch unfreiwillig in seine Position geraten.196 Im Gegensatz zu Looschelders, der zwei Jahre später nach allgemeinen methodischen Grundsätzen zu einem ähnlichen Ergebnis kam, aber einen eigenen 189 Mit weiteren Nachweisen Looschelders, IPRax 1998, 86 (89); Darstellung so auch in der aktuelleren Literatur: Heiss, VersR 2007, 327 (328); Fuchs, IPRax 2008, 104 (105); Heiss/ Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (285 f.); schon damals kritisch: Fricke, VersR 1997, 399 (400). 190 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2005, Art. 9 Rn. 2; Heiss, VersR 2007, 327 (328); Fuchs, IPRax 2008, 104 (105); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (285 f.); schon damals kritisch: Fricke, VersR 1997, 399 (400). 191 Indirekt auch von Fuchs, IPRax 2007, 302 (304) festgestellt. 192 Fricke, VersR 1997, 399 (402 f.); Looschelders, NZV 1999, 57 (58). 193 Fricke, VersR 1997, 399 (402 f.). 194 Fricke, VersR 1997, 399 (403); so auch H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (888 f.). 195 Fricke, VersR 1997, 399 (403). 196 Fricke, VersR 1997, 399 (403).

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Gerichtstand aufgrund der gewichtigen Aussagen im Bericht von P. Jenard trotzdem ablehnte,197 fand Fricke auch für diesen Einwand und den damit verbundenen Hinweis auf den historischen Willen der Signatarstaaten bei Unterzeichnung des EuGVÜ Gegenargumente:198 Der Bericht von P. Jenard erwähne den Verletzten im Gegensatz zum Versicherten und zum Begünstigten bei der Erläuterung von Art. 8 EuGVÜ nicht. Hinsichtlich der Rechte des Verletzten könne daher auch kein Rückschluss auf den historischen Willen der Signatarstaaten gezogen werden.199 Hingegen würden die Ausführen des Berichts von P. Jenard zu Art. 10 EuGVÜ nach Auffassung von Fricke eher für als gegen einen eigenen Gerichtstand des Verletzten am eigenen Wohnsitz sprechen.200 3. Verhältnis von EuGVÜ zu EuGVO Hinter der Tatsache, dass die ehemals herrschende Meinung das Auslegungsergebnis für die Vorschriften des EuGVÜ auf die EuGVO übertragen wollte, steht das besondere Verhältnis zwischen dem völkerrechtlichen Vertrag und der Verordnung. Die Vorschriften der EuGVO stehen durch das EuGVÜ in einem historisch geprägten Kontext, da zwischen EuGVÜ und EuGVO Auslegungskontinuität herrschen soll.201 So werden die Vorschriften der EuGVO durch die Vorschriften des EuGVÜ historisch konkretisiert.202 Denn die Übertragung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht hat zwar auf formal-institutioneller Ebene zu einem Systemwechsel geführt (Art. 68 Abs. 1 EuGVO),203 aber inhaltlich sollte die neu geschaffene Verordnung an die EuGVÜ anknüpfen.204 Das EuGVÜ war nicht zuletzt wegen der zahlreichen EuGHEntscheidungen,205 die zur Auslegung der Vorschriften des Übereinkommens ergangen waren,206 eine Erfolgsgeschichte und hatte sich bewährt.207 Es ging dem 197

Looschelders, NZV 1999, 57 (58). Fricke, VersR 1997, 399 (403). 199 Fricke, VersR 1997, 399 (403). 200 Fricke, VersR 1997, 399 (403). 201 Vgl. Erwägungsgrund 19 EuGVO. 202 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 64. 203 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Einl. Brüssel Ia-VO Rn. 24. 204 Erwägungsgrund 19 der EuGVO; Kohler, in: FS für Geimer, 2002, S. 461 (482 f.); Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Einl. Brüssel Ia-VO Rn. 35; Hess, IPRax 2006, 348 (350). 205 Der EuGH hatte bereits für das EuGVÜ die Auslegungsbefugnis staatsvertraglich vereinbart durch das Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof vom 03.06.1971, vgl. EuGVÜ-Auslegungsprotokoll vom 03.06.1971 i. d. F. vom 26.05.1989, ABl. 1989, Nr. L 285, 7; Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 54; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, Rn. 3. 206 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 68. 207 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, Rn. 3. 198

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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Unionsgesetzgeber daher vordergründig darum, die mit der Form des völkerrechtlichen Vertrages verbundenen Nachteile des EuGVÜ zu beseitigen.208 So bedurfte jede Änderung des EuGVÜ der verfassungsrechtlichen Umsetzung in den Vertragsstaaten.209 Bei völkerrechtlichen Verträgen gilt auch das EuGVÜ in einem neuen Mitgliedstaat nicht ipso iure.210 Diese Nachteile konnten mit der neuen Form einer Verordnung, die in der Union allgemeine Geltung hat, in all ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt (Art. 288 Abs. 2 S. 1 und S. 2 AEUV), beseitigt werden.211 Die Vertreter der ehemals herrschenden Meinung kamen daher zu dem Ergebnis, dass das Auslegungsergebnis aus dem EuGVÜ auf die Vorschriften der EuGVO übertragen werden müsse.212 Ein deutliches Beispiel dafür sind die Ausführungen von Lemor zur Frage des Wandels des Auslegungsergebnisses von EuGVÜ zu EuGVO hin zu einem eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten:213 „Ziel der Verordnung war nur die Überführung der Grundsätze des Brüsseler Abkommens (EuGVÜ) in Gemeinschaftsrecht – es war nicht an eine grundlegende Neuerung der Gerichtszuständigkeiten gedacht.“

Auf der anderen Seite ist allgemein anerkannt, dass es nur dort zu einer Auslegungskontinuität kommen kann, wo die Vorschriften des EuGVÜ wortgleich in die EuGVO übernommen wurden.214 An allen anderen Stellen müssen die Vorschriften aus dem EuGVÜ gemäß ihrer abgeänderten Fassung in der EuGVO neu ausgelegt werden.215 Der gering abgewandelte Wortlaut in der EuGVO im Vergleich zu den Vorgängervorschriften im EuGVÜ gab der damals im Wachstum befindlichen, heute herrschenden Meinung die Möglichkeit, die streitentscheidenden Vorschriften neu auszulegen.216 Und so mehrten sich nach der Überführung des EuGVÜ in das Ge208 Piltz, NJW 2002, 789 (790); Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 22; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, Rn. 3. 209 Piltz, NJW 2002, 789 (790); Darstellung der fünf Neufassungen, die durch den Beitritt weiterer Mitgliedsländer notwendig wurden, bei Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 17 ff. 210 Kohler, in; FS für Geimer, 2002, S. 461 (462). 211 Die Neuerungen der EuGVO gelten aufgrund des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. 9. 1988, ABl. EG 1988 Nr. l 319/9 auch im Verhältnis zu Dänemark. 212 Besonders deutlich zum Beispiel bei Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Auflage 2005, Art. 11 Rn. 4; so auch Fuchs, IPRax 2008, 104 (108). 213 Lemor, NJW 2002, 3666 (3668). 214 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Einl. Brüssel Ia-VO Rn. 35; Schlosser, EUZivilprozessrecht, 3. Auflage 2009, Einl. Rn. 25; hierzu EuGH vom 14.05.2009, Rs. C-180/06 (Ilsinger), EuZW 2009, 489 (491). 215 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 68. 216 So Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6: „Die Vergemeinschaftung des EuGVÜ ging indes mit einem tatbestandlichen Ausbau der betreffenden Vorschriften einher, so dass sich der Streitstand nicht unbesehen übertragen lässt.“

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

meinschaftsrecht die Stimmen, die dem Willen des historischen Gesetzgebers, der über den Bericht von P. Jenard noch aus Zeiten des EuGVÜ stammte, deutlich weniger Gewicht beimaßen und den Schwerpunkt auf die systematische und teleologische Auslegung verschoben. Eben dadurch wurde es möglich, die zwischenzeitlich erfolgten Veränderungen, gerade im europäischen Verkehrsopferschutz, bei der Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) fruchtbar zu machen. 4. Zwischenergebnis Für die nachfolgende Darstellung der Argumentationen der sich gegenüberstehenden Meinungen ist dieser gemeinsame Ausgangspunkt zu Zeiten des EuGVÜ von maßgeblicher Bedeutung. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass die Veränderungen im Wortlaut der Vorschriften von EuGVÜ zur EuGVO nur ein Grund für den Meinungsstreit ist. Zweiter und wichtigerer Grund ist, dass mit der Überführung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht ein Teil der Lehre und Rechtsprechung einen anderen Auslegungsschwerpunkt gesetzt haben, wodurch sich das Ziel der Auslegung verschoben hat.217 Maßgebliche Bedeutung hatte dabei, dass mit Überführung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht die Tradition zur Auslegung und Anwendung der Vorschriften Berichte zu erstellen, aufgegeben wurde.218 Nachteil der Arbeit am konkreten Fall ist es, dass sich kein Laborzustand konstruieren lässt. Ob zu Zeiten des EuGVÜ – bei theoretischem Wegfall des Berichts von P. Jenard und dem damit verbundenen besonderen Gewicht der historischen Auslegung – ein eigener Gerichtsstand auch abgelehnt worden wäre, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Indizien sprechen dagegen. So überzeugen die Ausführungen von Fricke, der eben dem Bericht von P. Jenard keine Beachtung schenkte und damit auch schon zu Zeiten des EuGVÜ zu einem eigenen Gerichtsstand des Geschädigten kam.219 Im Folgenden muss daher versucht werden, aus der Argumentation der heute herrschenden Meinung herauszufiltern, welche Bedeutung die nachfolgenden Entwicklungen für das Auslegungsergebnis hatten.

III. Argumentation der sich gegenüberstehenden Meinungen Die aufgezeigten Besonderheiten des Meinungsstreits werden im Folgenden anhand der Argumentationen der sich gegenüberstehenden großen Meinungsblöcke 217 Deutlich bei Fuchs, IPRax 2007, 302 (304), die am Auslegungsergebnis aus Zeiten des EuGVÜ festhalten will: „Die Schlussfolgerung, auch der Geschädigte sei in einer schwächeren Position, sodass der Schutz des Art. 9 Abs. 1 lit. b) Brüssel I-VO auch für ihn gelten müsse, mag zwar teleologisch begründet sein, lässt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift jedoch nicht belegen.“ 218 Hierzu Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 4 II, Rn. 55. 219 Fricke, VersR 1997, 399 (403).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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dargestellt. Diesen vorangestellt wird auf die besagte Mindermeinung eingegangen, die den Geschädigten mit dem Begünstigten in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gleichstellt.220 1. Die Mindermeinung Von einzelnen Stimmen wird die Meinung vertreten, der Geschädigte aus Art. 13 EuGVO (Art. 11 EuGVO a. F.) sei mit dem Begünstigten in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gleichzustellen und könne deshalb auch ohne den Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) zulässig am eigenen Wohnsitz Klage gegen Versicherer der Gegenseite erheben.221 Da sich keine verwertbaren Argumente für dieses Auslegungsergebnis finden, werden im Folgenden die Argumente der beiden großen Meinungsblöcke zusammengefasst, die gegen dieses Auslegungsergebnis sprechen. So werde schon bei Auslegung des Wortlauts der Vorschriften deutlich, dass sich eine Gleichstellung von „Geschädigtem“ und „Begünstigtem“ mit den Mitteln der Auslegung nur schwer begründen lasse.222 Im Gegenteil erscheine die Grenze des Wortlauts und damit die Grenze der Auslegung bei Gleichstellung des Geschädigten i. S. v. Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) mit dem Begünstigten i. S. v. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) bereits überschritten,223 da diese dem nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu ermittelnden Sinn widerspreche.224 Ein Geschädigter werde durch einen Schadensfall nicht zum Begünstigten, weil ihm zur möglichst einfachen Schadensregulierung besondere Rechte, wie der gesetzliche Direktanspruch gegen den Versicherer der Gegenseite, zur Seite gestellt würden.225 Auch systematische Erwägungen würden nach der herrschenden Meinung gegen dieses Auslegungsergebnis sprechen. Die Gleichstellung würde zu dem Ergebnis führen, dass von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) plötzlich zwei Kategorien von Begünstigten erfasst werden würden. Die eine Kategorie würde aus vertraglichen Ansprüchen begünstigt und die andere aus gesetzlichen,226 wobei sich letzterer grundsätzlich von den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO 220

EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg. 2007, I11321, Rn. 17. 221 Vgl. Erklärung der polnische Regierung zur Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen, EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg. 2007, I-11321, Rn. 17. 222 Zur grammatischen Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 III. 1. 223 Riedmeyer, DAR 2004, 203 (205), mit Verweis auf eine Stellungnahme des Richterdienstes des Europäischen Parlaments; vgl. auch Lemor, NJW 2002, 3666 (3668). 224 Zur Funktion der grammatischen Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 III. 1. 225 Ausführlich zur Rechtsnatur des Direktanspruchs: Micha, Der Direktanspruch im europäischen Internationalen Privatrecht, 2010, S. 7 ff. 226 Gottwald, in: MünchKommZPO, 3. Auflage 2008, Art. 11 EuGVO Rn. 2.

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

(Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgezählten Versicherungsnehmern und Versicherten unterscheiden würde.227 Daneben wäre der Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auf den Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.) größtenteils obsolet,228 da der Geschädigte ohnehin schon von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) erfasst wäre.229 Auch der Wille des historischen Gesetzgebers stehe dem Auslegungsergebnis der Mindermeinung entgegen.230 Mit dem Begünstigten in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) solle neben dem Versicherungsnehmer und dem Versicherten eine weitere Personengruppe geschützt werden, der ein Anspruch aus einem Versicherungsvertrag zustehen könne.231 Die herrschende Meinung geht daher davon aus, dass es sich nach dem Willen des historischen Gesetzgebers bei dem Begünstigten um einen Begünstigten im versicherungsvertraglichen Sinne handeln müsse,232 auch wenn es sich bei dem Verhältnis zwischen Begünstigtem und Versicherer nur um eine indirekte vertragliche Beziehung handele.233 Auch durch diese indirekte vertragliche Bindung sei der Begünstige den oben dargestellten Besonderheiten des Versicherungsrechts ausgesetzt und bedarf daher nach dem Willen des Unionsgesetzgebers, aufgrund einer möglicherweise gestörten Vertragsparität, besonderen Schutzes; hier durch einen Klägergerichtstand.234 Damit werde deutlich, dass es Ziel und Zweck der tatbestandlichen Erweiterung des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gewesen sei, zusätzlich neben dem Versicherungsnehmer den Begünstigen und den Versicherten vor den besonderen Risiken des Versicherungsvertragsrechts zu schützen. Die besonderen Rechte des Geschädigten ließen sich hingegen größtenteils durch den europäischen Verkehrsopferschutz erklären. Staudinger weist zudem darauf hin, dass die gewollte strukturelle Ähnlichkeit der in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgezählten Personengruppen auch dadurch deutlich werde, dass sowohl der Versicherte als auch der Begünstigte gleichzeitig Versicherungsnehmer sein könnten.235 Auch aus diesem Grund sei davon auszugehen, dass es entgegen der Mindermeinung nur aufgrund einer versicherungsvertraglich geschuldeten Leistung zu einer Begünstigung i. S. v. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) kommen könne.236 In 227

Rothley, DAR 2006, 575 (577). Riedmeyer, DAR 2004, 203 (205). 229 Fricke, VersR 1999, 1055 (1058). 230 Zur Funktionsweise der historischen Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 III. 3. 231 Herrmann, VersR 2007, 1470 (1472). 232 An Stelle Vieler: Fricke, VersR 2009, 429 (429). 233 Fricke, VersR 2009, 429 (432); Lemor NJW 2002, 3666 (3668). 234 Riedmeyer, DAR 2004, 203 (205). 235 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 11 Brüssel Ia-VO Rn. 5. 236 Backu, DAR 2003, 145 (153); Lemor NJW 2002, 3666 (3668); LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2005 – Az. 331 O 109/05, VersR 2006, 1065. 228

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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der Diktion des deutschen Versicherungsrechts handele es sich dabei um Personen, denen der Versicherungsnehmer einen Anspruch auf Leistung aus dem Versicherungsvertrag zuwende,237 und damit um die übliche Situation eines Vertrages zugunsten eines Dritten.238 Eine Vereinbarung sei daher auch nur im Deckungsverhältnis nötig.239 Beispiele für eine solche Begünstigung im deutschen Recht seien die Bezugsberechtigten einer Lebens- und Unfallversicherung, §§ 150, 159 VVG,240 §§ 179, 1850 VVG.241 2. Die ehemals herrschende Meinung Nach den Ausführungen zum gemeinsamen Ausgangpunkt des Meinungsstreits und dem Verhältnis von EuGVÜ und EuGVO ist es wenig überraschend,242 dass die ehemals herrschende Meinung ihr Ergebnis hauptsächlich mit Hilfe der historischen Auslegung begründete.243 Das unstrittige Ergebnis aus Zeiten des EuGVÜ sollte in der EuGVO weiter gelten.244 Der Schwerpunkt der Argumentation lag daher in der Aufrechterhaltung der Auslegungskontinuität. Aus diesem Grund wurde hervorgehoben, dass es im Vergleich zum EuGVÜ in der EuGVO zu keinen, die Auslegung der streitentscheidenden Normen beeinflussenden Veränderungen gekommen sei und ein eigener Gerichtstand des Geschädigten daher nur gegen den Willen des Gesetzgebers angenommen werden könne.245 Um dieses Ergebnis zu stützen, wurde zusätzlich über den Wortlaut, das System und den Telos der auszulegenden Vorschriften argumentiert. Der systematischen Auslegung kam vor allem daher besondere Bedeutung zu, weil auch verstärkt gegen die oben dargestellte Mindermeinung argumentiert wurde. Insoweit wird auf die obenstehenden Ausführungen zur Mindermeinung verwiesen.246 Im Einzelnen stützen die Vertreter der ehemals herrschenden Meinung ihr Auslegungsergebnis auf die folgende Argumentation:

237 238 239 240 241 242

§ 3 II.

Fricke, VersR 2009, 429 (432). Fricke, VersR 1999, 1055 (1058). Vgl. Gottwald, in: MünchKommBGB, 8. Auflage 2012, § 328 Rn. 26. Patzer, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Auflage 2016, § 159 Rn. 6. Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 11 Brüssel Ia-VO Rn. 5. Zum Gemeinsamen Ausgangspunkt des Meinungsstreits im EuGVÜ siehe oben Teil 4

243 So zum Beispiel stellvertretend Lemor, NJW 2002, 3666 (3668) und Fuchs, IPRax 2001, 425 (426). 244 Lemor, NJW 2002, 3666 (3668). 245 Lemor, NJW 2002, 3666 (3668). 246 Siehe oben Teil 4 § 3 I. 3.

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

a) Grammatische Auslegung Zunächst hatte auch die ehemals herrschende Meinung ihren argumentativen Ausgangspunkt im Wortlaut der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.). Die führenden Stimmen der ehemals herrschenden Meinung gingen davon aus, dass der Wortlaut bei der Entscheidung zwischen Rechtsgrund- und Rechtsfolgenverweisung sowohl das von ihnen selbst vertretene Auslegungsergebnis als auch das Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung umfasse.247 Der Wortlaut lasse letztlich beide Auslegungsergebnisse zu und schließe im Gegenzug auch kein Auslegungsergebnis aus.248 Trotzdem fanden sich unter den Stimmen der ehemals herrschenden Meinung folgende Argumente, die sich auf den Wortlaut der auszulegenden Vorschriften stützen: Der Wortlaut des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) ergebe, dass die Art. 10, 11 und 12 EuGVO (Artikel 8, 9 und 10 EuGVO a. F.) auf eine Klage des Geschädigten „anzuwenden“ seien.249 Dies führe dazu, dass ein eigener Klägergerichtsstand des Geschädigten ausgeschlossen sei, da bei schlichter Anwendung des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) über den Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) nur Klage am Wohnsitz des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten erhoben werden könne.250 Es könne nicht von einer Rechtsfolgenverweisung ausgegangen werden, da Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) eben nicht normiert, dass die übrigen Vorschriften des Abschnitts für Versicherungssachen „entsprechend anzuwenden“ seien.251 Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten könne hingegen nur dann bejaht werden, wenn der Geschädigte in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgezählt würde, was nicht der Fall ist.252 Im Gegenteil mache der erweiterte Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) im Vergleich zur EuGVÜ deutlich, dass der besondere prozessuale Schutz eines Klägergerichtsstand nur auf den Begünstigten und 247 Heiss, VersR 2007, 327 (328); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (287 f.); generell dazu auch Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 248 So zum Beispiel: Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723); Fricke, VersR 1997, 399 (402). Zur Bedeutung des Wortlauts bei der Auslegung der EuGVO siehe Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 71; Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (287 f.). 249 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2002, Art. 11 Rn. 4. Beide Auslegungsergebnisse für möglich haltend: Heiss, VersR 2007, 327 (327); siehe hierzu auch: Herrmann, VersR 2007, 1470 (1472); so letztlich auch Fuchs, IPRax 2007, 302 (304). 250 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2002, Art. 11 Rn. 4. 251 Hub, Internationale Zuständigkeit in Versicherungssachen nach VO 44/01/EG (EuGVVO), S. 198 f.; Fuchs, IPRax 2001, 425 (426); hier undifferenzierter und daher auch einen eigenen Klägergerichtsstand des Geschädigten befürwortend: Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6: „Der Sekundärrechtsgeber erklärt jedenfalls in Abs. 2 die Art. 8, 9 und 10 für entsprechend anwendbar.“ 252 So zum Beispiel Fuchs, IPRax 2007, 302 (303); Heiss, VersR 2007, 327 (328).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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den Versicherten erweitert werden sollte und eben nicht auf den Geschädigten.253 Wenn Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) daher von dem Gericht des Ortes spreche, „an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat“, so beziehe sich dieses besondere Recht nach eindeutigem Wortlaut auch nur auf die zuvor in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personengruppen.254 b) Systematische Auslegung Auch anhand der auf der Systematik des Abschnitts beruhenden Argumente wird deutlich, dass das Ziel der Auslegung die Übertragung des Auslegungsergebnisses aus Zeiten des EuGVÜ auf die Nachfolgevorschriften in der EuGVO ist. Daneben ging es überwiegend darum, der Argumentation der heute herrschenden Meinung entgegenzutreten. Im Einzelnen wurden folgende Argumente vorgetragen: Ausgehend von der im EuGVÜ vorherrschenden Auslegung rechtfertige die tatbestandliche Erweiterung des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht, dass die Klägergerichtsstände des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) auf den Geschädigten erweitert würden.255 Im Gegenteil sei vielmehr anzunehmen, dass der Verordnungsgeber einen solchen Gerichtsstand nicht habe schaffen wollen, da eben nur der Begünstigte und der Versicherte in den Tatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) aufgenommen worden seien.256 Am deutlichsten wird dieses Argument bei Fuchs: „Die Erweiterung des Art. 9 Abs. 1 lit. b) Brüssel I-VO führt schließlich nicht dazu, dass aus der ursprünglich so verstandenen Rechtsgrundverweisung in Art. 11 Abs. 2 Brüssel I-VO nun eine Rechtsfolgenverweisung geworden ist. Vielmehr verdeutlicht die Rechtsgrundverweisung die zwischen Art. 9 Abs. 1 Brüssel I-VO und Art. 11 Abs. 2 Brüssel I-VO bestehenden Unterschiede: Art. 9 Abs. 1 lit b) Brüssel I-VO eröffnet denjenigen Personengruppen einen Gerichtsstand, die aufgrund des Versicherungsvertrages einen Anspruch gegen den Versicherer haben. Einen vertraglichen Anspruch hat der Geschädigte jedoch nicht; […].“257

253

Heiss, VersR 2007, 327 (328). Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (288). 255 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 4. Auflage 1993, Art. 11 Rn. 4; Schlosser, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Auflage 2003, Art. 11 Rn. 2; Fuchs, IPRax 2007, 302 (304). 256 Fuchs, IPRax 2007, 302 (304). 257 Fuchs, IPRax 2007, 302 (304) auch mit Verweis auf die englische Literatur: Collins, in: Dicey/Morris/Collins, The Conflict of Laws, 15th Edition 2018, Rule 28, 11-355: „Jurisdiction is therefore not extended to the places where the injured party is domiciled unless, for example, this is also the place where the policyholder (or insured or beneficiary, in the case of the Judgement Regulation) is domiciled.“ 254

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Ein weiteres Argument, das sowohl zur systematischen Argumentation als auch zur teleologischen gezählt werden kann, wurde aus Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) entwickelt.258 So bestehe bei der Annahme eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten grundsätzlich die Möglichkeit, dass dem Versicherungsnehmer bzw. dem Versicherten nach Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) in einem Prozess zwischen Geschädigtem und Versicherer am Wohnsitz des Geschädigten der Streit verkündet werde.259 Problem der Streitverkündung nach Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) sei, dass der Versicherungsnehmer bzw. der Versicherte jeglichen prozessualen Schutz verlieren würde. Entgegen dem eigentlichen Willen des Unionsgesetzgebers fänden sie sich an einem anderen Ort als ihrem Wohnsitz in einem Verfahren mit dem Versicherer wieder.260 Nach Auffassung der ehemals herrschenden Meinung würde ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten daher dazu führen, dass eine andere Personengruppe ein Nachteil treffe, die der Unionsgesetzgeber mindestens im gleichen Maße hätte schützen wollen wie den Geschädigten selbst.261 Teile der ehemals herrschenden Meinung stützten ihr Auslegungsergebnis scheinbar zusätzlich auf einen Vergleich mit dem Direktanspruch im deutschen internationalen Privatrecht. Zwar konnten hierzu keine Stimmen der ehemals herrschenden Meinung gefunden werden, aber der BGH weist in seinem Vorlagebeschluss vom 26.09.2006 auf diese Argumentation hin.262 Demnach sei der Direktanspruch als deliktischer Anspruch zu qualifizieren und unterliege daher dem Deliktstatut. Ein eigener Gerichtsstand des Geschädigten sei daher schon aus dem Grund abzulehnen, weil sich Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.) nur auf versicherungsvertragliche Ansprüche beziehe.263 Ein Argument, das aufgrund des Grundsatzes der autonomen Auslegung der EuGVO,264 der nach geklärter Vorfrage auch für die Auslegung der streitentscheidenden Normen gilt, als problematisch einzustufen ist.265

258

Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633). So beispielsweise Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127); Heiss, VersR 2007, 327 (330); Fuchs, IPRax 2008, 104 (107); Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633). 260 Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (291). 261 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 11 EuGVO Rn. 4; Darstellung dieses Arguments auch bei Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (126); Heiss, VersR 2007, 327 (330). 262 Dies auch feststellend der BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72); Herrmann, VersR 2007, 1470 (1472); Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6; Fuchs, IPRax 2007, 425 (426). 263 Heiss bemängelt ausdrücklich, dass der BGH hier die ehemals herrschende Lehre falsch darstellt, da ihr dieses Argument nicht zuzuschreiben sein, VersR 2007, 327 (328). 264 Siehe oben Teil 3 § 3 I. 265 Siehe oben Teil 3 § 3 I.; Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 11 Brüssel IaVO Rn. 5; ders., NJW 2007, 71 (72); so auch Leible, NJW 2008, 819 (821). 259

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

143

c) Historische Auslegung Wie bereits dargestellt266 liegt hier der argumentative Schwerpunkt der ehemals herrschenden Meinung.267 Der historische Wille des Unionsgesetzgebers bei Erlass der EuGVO habe sich im Vergleich zum Willen der Signatarstaaten bei Unterzeichnung des EuGVÜ hinsichtlich des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nicht geändert.268 Im Einzelnen werden hierzu folgende Argumente vorgetragen: Ähnlich wie schon im Rahmen der systematischen Auslegung wird argumentiert, dass aus dem tatbestandlichen Ausbau des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) deutlich werde, dass nach dem Willen des Gesetzgebers der gemeinsame Nenner für die Erforderlichkeit eines Wohnsitzgerichtsstands die besondere Schutzbedürftigkeit des vertraglichen Gegenübers des Versicherers sei.269 Da dies auch schon zu Zeiten des EuGVÜ der Grund für die besonderen prozessualen Rechte des Versicherungsnehmers in Art. 8 Nr. 2 EuGVÜ gewesen wäre, werde deutlich, dass sich der Wille des Gesetzgebers der EuGVO im Vergleich zum Willen der Signatarstaaten bei Unterzeichnung des EuGVÜ nicht verändert habe.270 Daher müsse auch das Auslegungsergebnis aus dem EuGVÜ weiter gelten,271 da es andernfalls Aufgabe des Gesetzgebers wäre, eine Rechtsänderung kenntlich zu machen.272 Besonders deutlich wird dieses Argument bei Thiede/Ludwichowska:273 „Dem historischen Verordnungsgeber kann schließlich kaum unterstellt werden, durch die Regelung von Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 b eine ungewollte Regelungslücke verursacht zu haben: Dieser hat doch in die EuGVVO, neben dem schon im EuGVÜ ausdrücklich erwähnten VN, nur den Versicherten und Begünstigten eingeführt, nicht aber den Geschädigten. Dies kann bei verständiger Würdigung nur als Zeichen dafür gewertet werden, dass der Verordnungsgeber den Klägergerichtsstand nur auf die zwei in EuGVVO neu erwähnten Kategorien ausdehnen wollte.“

Der Wille des Gesetzgebers zur Kontinuität des Auslegungsergebnisses von EuGVÜ zu EuGVO werde auch dadurch deutlich, dass der für die Auslegung des 266 267

(307).

Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. Vgl. Heiss/Kosma in FS für Wansink, 2006, S. 279 (288 ff.); Fuchs, IPRax 2007, 302

268 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Auflage 2002, Art. 9 Rn. 2; zu den Neuerungen der EuGVO im Vergleich zur EuGVÜ: Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Einl. EuGVO Rn. 24; dies auch feststellend Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (126). 269 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (288); Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Auflage 2010, Art. 11 EuGVVO Rn. 16. 270 Vgl. Piltz, NJW 2002, 789 (791). 271 LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, DAR 2006, 575 (576); Lemor, NJW 2002, 3666 (3668). 272 Fuchs, IPRax 2008, 104 (108). 273 Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633).

144

Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) maßgebliche Wortlaut des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 a. F. EuGVO) im Vergleich zum Art. 10 Abs. 2 EuGVÜ unverändert geblieben sei.274 Einziger Unterschied sei, dass man zu Zeiten des EuGVÜ den systematischen Vorteil gehabt habe, dass die Verknüpfung zwischen dem besonderen Schutz auf der einen Seite und der vertraglichen Übermacht der Versicherung auf der anderen Seite deutlicher hervorgetreten sei. Abgesehen von dem in der EuGVO nicht mehr möglichen Erst-Recht-Schluss habe sich an der Situation des Geschädigten nichts verändert, womit der Europäische Gesetzgeber zusätzlich deutlich mache, dass das Auslegungsergebnis des EuGVÜ auch in der EuGVO fortgelten solle.275 Entgegen der Argumentation der heute herrschenden Meinung, die ihr Auslegungsergebnis überwiegend auf den Wandel der Normensituation stützt,276 gingen die moderateren Vertreter der ehemals herrschenden Meinung davon aus, dass „jedenfalls derzeit noch“ ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten abzulehnen sei.277 Im Übrigen wurde mehrheitlich vorgetragen, dass der Unionsgesetzgeber einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten im Rahmen des ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahrens schaffen könne, wenn dies seinem Willen entspreche.278 An dem Auslegungsergebnis, dass ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten abzulehnen sei, ändere insbesondere die 4. KH-Richtlinie nichts, da selbst der Richtliniengeber alles getan habe, um die Begründung eines Klägergerichtsstands zu vermeiden.279 Denn neben dem Aufbau eines umfassenden Netzes aus Schadensregulierungsbeauftragten280 habe er in Art. 4 Abs. 8 der 4. KH-Richtlinie ausdrücklich hervorgehoben, dass durch den Schadensregulierungsbeauftragten im Mitgliedstaat des Geschädigten kein Gerichtstand geschaffen werde.281 Es sei zwar nicht unmöglich anzunehmen, dass dieser Vorbehalt nur den Schadensregulierungsbeauftragen betreffe, allerdings stehe hinter Art. 4 Abs. 8 der 4. KH-Richtlinie der generelle Wille des Gesetzgebers, keine Gerichtsstandpflicht des Versicherers im Wohnsitzstaat des Geschädigten zu begründen, sei es über den Schadensregulierungsbeauftragten oder den Versicherer selbst.282 Der Art. 5 der 5. KH-Richtlinie vom 11.05.2005, mit dem der Erwägungsgrund 16a in die 4. KH-Richtlinie integriert wurde, stelle lediglich einen nachträglich 274

Lemor, NJW 2002, 3666 (3668); Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (287). Heiss/Kosma, in; FS für Wansink, 2006, S. 279 (288). 276 Im Ergebnis dies auch feststellend: Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 11 EuGVO Rn. 4; Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). 277 LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/85, DAR 2006, 575 (576). 278 LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/85, DAR 2006, 575 (576). 279 Heiss, VersR 2007, 327 (328); 280 Heiss, VersR 2007, 327 (328). 281 Heiss, VersR 2007, 327 (328). 282 Heiss, VersR 2007, 327 (328). 275

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

145

geäußerten Willen dar,283 der nicht notwendigerweise zu einem neuen Auslegungsergebnis führe.284 Sehr deutlich drückt sich hierbei Wellner in seinem Vortrag auf der 4. Internationalen Interiura Konferenz vom 22.09.2005 aus:285 „[…] allein die Äußerung einer (unrichtigen) Rechtsauffassung zu einer Verordnung durch das Europäische Parlament vermag wohl noch keinen Gerichtsstand begründen.“

Im Übrigen komme hinzu, dass der Erwägungsgrund 16a nicht durch die Europäische Kommission in die 4. KH-Richtlinie eingefügt worden sei, sondern durch eine Initiative des Europäischen Parlaments, die zuvor sowohl durch die Europäische Kommission als auch durch den Europäischen Rat abgelehnt und schlussendlich nur durch erheblichen politischen Druck durch das Europäischen Parlament durchgesetzt worden sei.286 Die Vertreter der ehemals herrschenden Meinung hoben daher hervor, dass diese Entstehungsgeschichte eine Beachtung des nachträglich geäußerten Willens des Europäischen Gesetzgebers zusätzlich als falsch erscheinen lasse.287 Im Gegenteil handle es sich um einen zweifelhaften „Trick“ des Europäischen Gesetzgebers288 und sei allenfalls ein sehr schwaches Argument für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten.289 d) Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung nahm in der Argumentation der ehemals herrschenden Meinung eine untergeordnete Rolle ein. Teile der Argumente zum Sinn und Zweck der auszulegenden Vorschriften wurden bereits in der systematischen und historischen Auslegung behandelt. Im Übrigen wurde zwar der Schutzzweck des Art. 13 EuGVO (Art. 11 EuGVO a. F.) von der ehemals herrschenden Meinung anerkannt, es wurde aber deutlich gemacht, dass ein eigener Gerichtsstand über diesen Schutz hinausgehe. Im Einzelnen wurde vorgetragen: Während sich der Versicherer aufgrund der vertraglichen Bindung mit den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personengruppen auf einen Gerichtsstand im Ausland am Wohnsitz dieser Personengruppen einstellen könne, sei es für den Versicherer dagegen nicht vorhersehbar, wo der Geschädigte seinen Wohnsitz hat.

283

Wellner, Die 5. KH-Richtlinie im Blickwinkel der deutschen Richterschaft, Vortrag vom 22.09.2005 auf der 4. Internationalen Interiura-Konferenz, www.interiura.com, S. 4; Looschelders, VersR 2005, 1722 (1722 f.). 284 LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/85, DAR 2006, 575 (576). 285 Wellner, Die 5. KH-Richtlinie im Blickwinkel der deutschen Richterschaft, Vortrag vom 22.09.2005 auf der 4. Internationalen Interiura-Konferenz, www.interiura.com, S. 5. 286 Darstellung dieses Arguments auch bei Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (126). 287 Heiss, VersR 2007, 327 (329). 288 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (289). 289 Heiss, VersR 2007, 327 (329).

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Die Verpflichtung, bevollmächtigte Schadensregulierungsbeauftragte im Ausland zu bestellen, obwohl das Unternehmen möglicherweise in den jeweiligen Ländern nie tätig war, stelle bereits einen merklichen Eingriff in die unternehmerische Handlungsfreiheit und die innere Organisation von Versicherungsunternehmen dar.290 Es würde zu weit gehen, wenn der Versicherer darüber hinaus auch noch damit rechnen müsse, europaweit an jedem Gericht verklagt werden zu können.291 Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten führe zudem zu Wertungswidersprüchen, denn die Erwägung, dass der Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes eine maßgebliche Rolle für die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) spiele, lasse außer Acht, dass Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) neben diesem Fall jegliche Art von Direktklage regele.292 Mehrere Rechtsordnungen von Mitgliedsstaaten sähen nicht nur im Fall der Kfz-Haftpflichtversicherung einen Direktanspruch gegen den Versicherer vor. Diese tatbestandseröffnende Voraussetzung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) sei daher auch für andere Haftpflichtversicherungen gegeben.293 Damit werde deutlich, dass eine Argumentation, die sich nur auf den Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes stützt, in allen anderen von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) umfassten Fällen versage.294 Darüber hinaus wird angezweifelt, dass der Geschädigte durch einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand besonderen Schutz erfahre. Kropholler/von Hein sprechen insoweit von einem Danaergeschenk,295 da das Wohnsitzgericht des Geschädigten einen Fall entscheiden müsse, in dem die tatsächliche und rechtliche Nähebeziehung im europäischen Ausland läge. Dies stelle nicht nur die Qualität der Entscheidung in Frage,296 sondern sei oft auch mit erheblich höheren Verfahrenskosten verbunden als bei einer Klage am Unfallort nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 12 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 10 EuGVO a. F.).297 Daneben sei zu befürchten, dass durch die Anerkennung eines eigenen Klägergerichtstands der Weg der außergerichtlichen Schadensregulierung an Bedeutung verliere. Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten stehe daher nicht zuletzt dem Weg der außergerichtlichen Schadensregulierung entgegen.298

290

So bereits zu Zeiten des EuGVÜ Schewior, VersR 1998, 617 (673). In diesem Sinne Fuchs, IPRax 2007, 302 (306 f.). 292 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (290). 293 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (290). 294 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (290). 295 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 11 EuGVO Rn. 4. 296 Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (290); Heiss, VersR 2007, 327 (330). 297 Kropholler/von Hein, 9. Auflage 2011, Art. 11 EuGVO Rn. 4; so auch Heiss, VersR 2007, 327 (330 f.). 298 Fuchs, IPRax 2007, 302 (307); Heiss, VersR 2007, 327 (330 f.). 291

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

147

Fuchs hebt zudem hervor, dass es durch die weitere Anwendung des Haager Übereinkommens über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht von 1971 neben der Rom II-VO nach Art. 28 Rom II-VO zu einem verstärkten forum shopping und einem race to court kommen könne.299 Grund für die Gefahr des forum shoppings bestehe, weil die beiden Rechtsinstrumente bei Auflockerung des Deliktstatuts zu unterschiedlichen Ergebnissen führten:300 Während Art. 4 Abs. 2 des Haager Übereinkommens auf den gemeinsamen Zulassungsort aller am Unfall beteiligten Fahrzeuge abstelle, werde in Nicht-Vertragsstaaten, in denen die Rom II-VO gilt, nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO auf den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Parteien abgestellt.301 Den Grund für die Gefahr eines race to court sieht Fuchs darin, dass im Falle einer Massenkarambolage jeder Geschädigte am eigenen Wohnsitz klagen wollen würde.302 Art. 30 EuGVO (Art. 28 EuGVO a. F.) wende diese Gefahr nicht ab.303 e) Zwischenergebnis Zu Zeiten des EuGVÜ wurde ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten ausgehend vom Wortlaut der Vorschriften mit dem Verweis auf die Ausführungen im Bericht von P. Jenard abgelehnt. Der Bericht gab die richtige Auslegung des Art. 10 Abs. 2 i. V. m. Art. 8 Abs. 1 Nr. 2 EuGVÜ vor und spielte daher – gerade wegen der Einfachheit der Argumentation – die maßgebliche Schlüsselrolle. Dies wird dadurch besonders deutlich, dass bei einer Auslegung ohne Beachtung des Berichts von P. Jenard ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten vertretbar erscheint. Der Schwerpunkt der ehemals herrschenden Meinung lag daher auf dem noch aus dem EuGVÜ stammenden historischen Willen der Signatarstaaten, der sich nach ihrer Auffassung durch die Übertragung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht nicht verändert habe. Die Argumentation über die übrigen Auslegungskriterien diente weniger dazu, das Auslegungsergebnis aus Zeiten des EuGVÜ zu unterstreichen als vielmehr ein abweichendes Auslegungsergebnis, wie es von der heute herrschenden Meinung vertreten wird, abzulehnen. Besonders hervorgehoben wurden dabei die negativen Konsequenzen eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten.

299

Fuchs, IPRax 2007, 302 (307). Fuchs, IPRax 2007, 302 (307). 301 Fuchs, IPRax 2007, 302 (307). 302 Fuchs, IPRax 2008, 104 (106). 303 Fuchs, IPRax 2008, 104 (106); auch in diese Richtung: Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (633). 300

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

3. Die heute herrschende Meinung Hinter dieser Meinung steht die Abkehr von dem historisch geprägten Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung. Die Meinungsführer gehen davon aus, dass sich das Auslegungsergebnis zu Zeiten des EuGVÜ nicht unverändert auf die EuGVO übertragen lasse.304 Der Schwenk von dem ehemals im Fokus stehenden historischen Auslegungskriterium hin zum teleologischen Auslegungskriterium305 hängt dabei auch damit zusammen, dass die Erläuterungen zu den strittigen Vorschriften im Bericht von P. Jenard nicht auf die EuGVO übertragen werden könnten. Die Argumentation müsse daher vor allem über System, Regelungsgehalt und Ziele und Zweck der Vorschriften aufgebaut werden. Die heute herrschende Meinung orientiert sich überwiegend an den in Erwägungsgrund 18 EuGVO (Erwägungsgrund 13 EuGVO a. F.) ausgesprochenen Zielen des Abschnitts „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ sowie an dem Regelungsgehalt und Zweck des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.). Dieser am Telos der auszulegenden Vorschriften orientierte Erkenntnisweg hat insbesondere den Vorteil, dass laufenden Entwicklungen – hier im europäischen Verkehrsopferschutz – leichter Beachtung geschenkt werden könne.306 Im Einzelnen wird das Auslegungsergebnis auf folgende Argumente gestützt: a) Grammatische Auslegung Hier besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass sich aus dem Wortlaut der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) allein kein eindeutiges Ergebnis ermitteln lasse.307 Letztlich kommen die Vertreter dieser Meinung nur zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um eine Auslegung contra legem handele, wenn dem Geschädigten ein eigener Wohnsitzgerichtsstand zugesprochen werde.308 Daneben werden folgende Argumente anhand grammatischer Auslegung angeführt: Zunächst werde aus dem Wortlaut des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) deutlich, dass der Geschädigte in Bezug auf die Gerichtsstände den anderen Verfahrensbeteiligten gleichgestellt werde.309 304

Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. Wittmann, r+s 2011, 145 (145); Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). 306 Dies feststellend OLG Karlsruhe, Urt. v. 7.09.2007 – 14 W 31/07, VersR 2008, 202 (202). 307 So zum Beispiel: Looschelders, ZZPInt 2007, 242 (248); Leible, NJW 2008, 819 (821); Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 308 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6; Thiede/Ludwichowska, VersR 2008, 631 (632). 309 Staudinger, NJW 2007, 71 (73); ders., in: Rauscher, Bearbeitung 2011, Art. 11 Brüssel IVO Rn. 6; Fricke, VersR 1997, 399 (402 f.); Looschelders, NZV 1999, 57 (58). 305

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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Gegen die ehemals herrschende Meinung wird über den Wortlaut der Vorschriften hervorgehoben, dass der Verweis von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auf den Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) keine Rückschlüsse darüber liefere, um welche Art von Verweis es sich bei Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) handelt.310 So führt beispielsweise Looschelders in Anlehnung an die oben dargestellten Ausführungen von Fricke aus, dass das Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung keinesfalls zwingend sei.311 In seinem auch von den Gerichten des Instanzenzugs in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen zitierten Aufsatz stützt er sein Ergebnis auf „allgemeine methodische Grundsätze“.312 Danach führe ein Verweis, auch wenn es in diesem nicht ausdrücklich geregelt ist, immer zu einer „entsprechenden“ Anwendung der Zielvorschrift.313 Der Geschädigte werde durch den Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) in den Abschnitt für Versicherungssachen integriert und den anderen in diesem Abschnitt genannten Verfahrensbeteiligten gleichgestellt.314 Letztlich müsse daher mit Hilfe anderer Auslegungskriterien ermittelt werden, inwieweit sich die Ratio des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auf den Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) übertragen lasse.315 Auch aus diesem Grund sieht Looschelders den Schwerpunkt der Auslegung im teleologischen Auslegungskriterium.316 b) Systematische Auslegung Die systematische Auslegung wird hier zunächst dazu genutzt, das Ergebnis der Mindermeinung abzulehnen.317 Die Argumente dazu wurden bereits dargestellt. Daneben versucht die heute herrschende Meinung mit Hilfe der systematischen Auslegung die Argumente der ehemals herrschenden Meinung gegen einen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten zu entkräften, die diese über eine dann mögliche Streitverkündung am Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) entwickelt hatte:318 310

Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. Looschelders, VersR 2005, 1721 (1722 f.); ders., ZZPInt 2007, 247 (248); so auch Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 312 Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723) mit Verweis auf Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 261. 313 Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723); ders., ZZPInT 2007, 242 (248). Dies ohne weitere Ausführungen voraussetzend: Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 314 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 315 Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). 316 Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). 317 Siehe z. B. Riedmeyer, DAR 2004, 203 (205); Fricke, VersR 2009, 429 (433). 318 Looschelders, ZZPInt 2007, 249 (250). 311

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Die heute herrschenden Meinung entwickelt aus der Argumentation gegen die Rechtsauffassung der Mindermeinung einen Erst-Recht-Schluss: Genauso wie der Geschädigte nicht unter den Begriff des Begünstigten subsumiert werden könne, sei er auch nicht mit den anderen in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personengruppen gleichzusetzen.319 Damit könne keines der Tatbestandsmerkmale des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) durch die Person des Geschädigten erfüllt sein – weshalb es sich um eine Rechtsfolgenverweisung handeln müsse und nicht um eine Rechtsgrundverweisung.320 Der Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) sei ein vom Unionsgesetzgeber gewollt installiertes Regulativ.321 Ausgehend vom Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 EuGVO (Art. 12 Abs. 1 EuGVO a. F.) kann der Versicherer nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats klagen, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich bei dem Beklagten um den Versicherungsnehmer, den Versicherten oder den Begünstigten handele. Dies gelte nach Art. 14 Abs. 1 EuGVO (Art. 12 Abs. 1 EuGVO a. F.) allerdings vorbehaltlich der Bestimmungen des Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.). Der prozessuale Schutz des Versicherungsnehmers und des Versicherten werde daher durch den Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) eingeschränkt. Nach Auffassung der Vertreter der heute herrschenden Meinung habe Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) auch eine Ausgleichsfunktion in Bezug auf die zusätzlichen Belastungen des Versicherers.322 Durch diese Möglichkeit der Verfahrenskonzentration323 werde aber lediglich auf das Innenverhältnis zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer bzw. Versichertem eingewirkt. Diese Funktion des Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) könne nicht dazu genutzt werden, um die Rechte des Geschädigten zu beschneiden.324 Im Gegenteil solle sie dazu dienen, den Versicherer zu schützen.325 H. Roth weist zudem darauf hin, dass der Versicherungsnehmer seinen nach Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) vorgesehenen Wohnsitzgerichtsstand auch dann verlieren könne, wenn der Geschädigte den Versicherer nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. a EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. a EuGVO a. F.) 319

Rothley, DAR 2006, 575 (577). Rothley, DAR 2006, 575 (577). 321 Looschelders, ZZPInt 2007, 247 (250). 322 Looschelders, ZZPInt 2007, 247 (250); in diesem Sinne auch: Fricke, in: Beckmann/ Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, § 3 Rn. 40, vgl. auch Leible, NJW 2008, 819 (821). 323 Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127). 324 Looschelders, ZZPInt 2007, 247 (250); in diesem Sinne auch: Fricke, in: Beckmann/ Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Auflage 2015, § 3 Rn. 40, vgl. auch Leible, NJW 2008, 819 (821). 325 Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127). 320

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

151

an dessen Sitz verklage.326 In diesem Fall sei die Interessensabwägung Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) unstrittig. Hinzu komme, dass im Falle einer Streitverkündung nach Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) der Versicherer gegenüber dem Versicherungsnehmer keinerlei prozessuale Vorteile habe, da der Prozess auch nicht am Sitz des Versicherers durchgeführt werde, sondern am Wohnsitz des Geschädigten.327 Darüber hinaus wäre Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) überflüssig, wenn über Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) nur die in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten besonderen Gerichtsstände eröffnet würden, da im Fall einer Streitverkündung ein ohnehin bestehender Gerichtsstand über Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) nochmals eröffnet würde.328 Dieses Argument werde auch durch Art. 14 Abs. 1 EuGVO (Art. 12 Abs. 1 EuGVO a. F.) unterstrichen. Der Vorbehalt in Art. 14 Abs. 1 EuGVO (Art. 12 Abs. 1 EuGVO a. F.) zu Gunsten des Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) mache deutlich, dass durch diese Vorschrift ein weiterer Gerichtsstand begründet werden solle, der sich von den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Gerichtsständen unterscheide.329 Im Übrigen hält Micha die Belastung des Versicherungsnehmers bzw. Versicherten durch die Streitverkündung für gering, da hier die Gerichtspraxis Lösungsmöglichkeiten anbiete:330 So könne nach Art. 10 ff. der VO Nr. 1206/2001331 die Beweisaufnahme am Wohnsitz des Versicherungsnehmers bzw. des Versicherten durchgeführt werden. Zudem hätten sich zwischenzeitlich die meisten Rechtsschutzversicherungen auf die anwaltliche Vertretung vor ausländischen Gerichten eingestellt.332 Gegen das Argument der übermäßigen Belastung des Versicherers durch einen für ihn nicht vorhersehbaren Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten, zusätzlich zu den Verpflichtungen, die durch die Möglichkeit der außergerichtlichen Schadensregulierung entstanden seien, wird vorgebracht, dass diese Unvorhersehbarkeit im Abschnitt für Versicherungssachen auch ohne einen besonderen Gerichtsstand angelegt sei, was schon aus Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 12 EuGVO (Art. 11 Abs. 2

326

H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (885). Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127). 328 Rothley, DAR 2006, 575 (577). 329 Rothley, DAR 2006, 575 (577); H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (887). 330 Micha, IPRax 2011, 121 (122). 331 VO (EG) des Rates vom 28.05.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001 Nr. L 174/1. 332 Micha, IPRax 2011, 121 (122). 327

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

i. V. m. Art. 10 EuGVO a. F.) deutlich werde: Wo ein Unfall geschieht, könne der Versicherer auch nicht vorhersehen.333 c) Historische Auslegung Wie dargestellt334 versucht die heute herrschende Meinung über die historische Auslegung den Grundsatz der Kontinuität zwischen EuGVÜ und EuGVO aufzubrechen, um den Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) neu auslegen zu können. Hierbei wird Folgendes vorgetragen: Mit der EuGVO habe im Vergleich zum EuGVÜ der Schutz des Schwächeren gestärkt werden sollen,335 was der Gesetzgeber in Erwägungsgrund 13 der EuGVO deutlich zum Ausdruck gebracht habe. Darin heißt es, dass der Abschnitt der Versicherungssachen besonders dem Schutz der schwächeren Partei dient.336 Da der Geschädigte über den Verweis in Art. 13. Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) Teil des Abschnitts für Versicherungssachen geworden sei, sei auch dieser im besonderen Maße zu schützen. Für einen unterschiedlichen Schutzumfang der im Abschnitt für Versicherungssachen aufgenommenen Personengruppen lasse dieser Erwägungsgrund hingegen keinen Raum.337 Der Wille des historischen Gesetzgebers zum im Vergleich zur EuGVÜ erweiterten Schutz werde auch an dem tatbestandlichen Ausbau des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) deutlich. Der ehemals zu Zeiten des EuGVÜ bestehende Schutz solle nicht mehr nur den Versicherungsnehmern zukommen, sondern auch dem Versicherten und dem Begünstigten.338 Das Kriterium der Verhandlungsübermacht bei Abschluss des Versicherungsvertrags sei damit so aufgeweicht worden, dass ein Festhalten an der zu Zeiten des EuGVÜ vorherrschenden Meinung nicht mehr sachgerecht sein könne und auch von den Ausführungen von P. Jenard Abstand zu nehmen sei.339 d) Teleologische Auslegung Nach der heute herrschenden Meinung kommt es bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) entscheidend auf das teleologische Auslegungskriterium an,340 da 333 334 335 336 337 338 339 340

Looschelders, ZZPInt 2007, 242 (249). Siehe oben Teil 4 § 3 I. 2. Looschelders, VersR 2005, 1722 (1723); Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127). Looschelders, VersR 2005, 1722 (1723); Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). Looschelders, ZZPINT 2007, 242 (249). Lemor/Becker, DAR 2004, 677 (684); Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723); ders., ZZPInt. 2007, 247 (249).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

153

sich die Auslegung eines Verweises überwiegend an den allgemeinen Zielen, dem Regelungsgehalt und dem Zweck der Normen orientieren müsse.341 Die heute herrschende Meinung kommt dabei zu dem Ergebnis, dass ein Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten der gemeinschaftsrechtlichen Zielsetzung entspreche, den Schutz des Geschädigten bei Verkehrsunfällen grundsätzlich zu verbessern und ihm eine effektive Durchsetzung seiner Ersatzansprüche gegen den Haftpflichtversicherer zu ermöglichen.342 Hierbei werden vor allem folgende Argumente angeführt: Der Unionsgesetzgeber habe deutlich gemacht, dass es ratio legis der Art. 10 ff. der EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) sei, in die auch der Geschädigte integriert werde, einen besonderen prozessualen Schutz des Schwächeren gegenüber dem Versicherer aufzubauen.343 Hinsichtlich des Geschädigten würden Ziel und Zweck der Vorschriften aber verfehlt, würde man ihm lediglich die Möglichkeit einräumen, Klage am Gerichtsstand des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten zu erheben344 – entstehe doch die Schutzbedürftigkeit des Geschädigten erst durch den grenzüberschreitenden Bezug des Sachverhalts. Die Möglichkeit des Geschädigten, seine Ansprüche an zusätzlichen Gerichtständen im europäischen Ausland geltend zu machen, würde den großen Nachteil eines Prozesses im Ausland nicht aufwiegen.345 Im Schwerpunkt wird mit dem Schutzzweck des Abschnitts „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ und des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) selbst argumentiert. Ausgangspunkt der Argumentation ist dabei wiederum der im Erwägungsgrund 13 der EuGVO zum Ausdruck kommende Wille des Unionsgesetzgebers,346 durch den auch die angesprochene Zwitterstellung der Erwägungsgrunde deutlich wird. Nach diesem Erwägungsgrund solle in Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitssachen der schwächeren Partei besonderer Schutz zukommen. Da der Geschädigte – wie bereits in der grammatischen Auslegung argumentiert – den anderen Verfahrensbeteiligten in den Art. 10 ff. EuGVO (Art. 8 ff. EuGVO a. F.) gleichgestellt werde, würde es diesem Erwägungsgrund widersprechen, wenn ihm der besondere Schutz durch einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand verwehrt würde.347

341

Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723); ders., ZZPInt. 2007, 247 (249). Looschelders, ZZPInt 2007, 242 (251); so auch: Lemor/Becker, DAR 2004, 677 (684); Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). 343 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 344 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 345 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (872); in diesem Sinne auch Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel I-VO Rn. 6. 346 Wittwer, ZVR 2006, 404 (406). 347 Looschelders, ZZPInt. 2007, 246 (249); Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6; H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (883 f.). 342

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Dies geschehe aber, wenn man ihm nur die in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Gerichtsstände zuspräche.348 Die Vertreter der heute herrschenden Meinung gestehen ein, dass hiergegen zwar spreche, dass der Versicherer den Wohnsitz des Geschädigten nicht kennt und so grundsätzlich damit rechnen müsse, in der gesamten Union verklagt zu werden. Allerdings mache eine Gesamtabwägung der Umstände deutlich, dass die Interessen des Geschädigten gegenüber diesem Nachteil für den Versicherer überwiegen würden.349 Im Rahmen dieser Interessenabwägung sei insbesondere zu beachten, dass der Versicherer nach Art. 14b der 6. KH-Richtlinie350 für das gesamte Gebiet der Europäischen Union die Deckung übernehmen würde.351 Zudem unterstreicht Micha, dass die Belastung des Versicherers aufgrund der existierenden Schadensregulierungsbeauftragten gering sei, da diese vom Versicherer lediglich mit entsprechenden Prozessvollmachten auszustatten seien.352 Nach Inkrafttreten der Rom II-VO wurde zudem vorgetragen, dass für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten die Sach- und Beweisnähe des Wohnsitzgerichts ebenso wie der Erwägungsgrund 33 der Rom II-VO spreche, nach dem im Rahmen der Schadensberechnung alle Umstände des Opfers zu berücksichtigen seien.353 Hinzu komme, dass der europäische Verkehrsopferschutz seit Unterzeichnung des EuGVÜ erheblich ausgebaut worden und der Schutz der schwächeren Partei damit in der jüngeren Vergangenheit generell gestärkt worden sei.354 So mache der Erwägungsgrund 12 der 4. KH-Richtlinie deutlich, dass es Ziel der Richtlinie ist, dem Geschädigten die Schadensabwicklung in vertrauter Art und Weise zu ermöglichen.355 „Dies sei aber nur zu erreichen, wenn nicht nur die außergerichtliche Schadensregulierung im Inland stattfindet, sondern auch die gerichtliche Geltendmachung von Unfallschäden,“ so Herrmann.356

Gleiches werde auch aus den 21., 22. und 23. Erwägungsgründen der 5. KHRichtlinie deutlich: Schutzzweck sei es, dem Geschädigten eine erleichterte, effiziente und rasche Schadensregulierung zu ermöglichen. Dieses für die außerge348

Vgl. Leible, NJW 2008, 819 (821). Herrmann, VersR 2007, 1470 (1475). 350 Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (kodifizierte Fassung), ABl. EG 2009 Nr. L 263/11. 351 Micha, IPRax 2011, 121 (122). 352 Micha, IPRax 2011, 121 (122); so auch Meier-van Laak, DAR 2006, 235 (236). 353 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 354 Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). 355 Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). 356 Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). 349

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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richtliche Schadensregulierung formulierte Ziel müsse letztlich auch bei der Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) beachtet werden.357 Ziel und Zweck der 4. und 5. KH-Richtlinie seien gefährdet, wenn der Geschädigte nach gescheiterter Schadensregulierung im Inland letztlich doch dazu gezwungen wäre, im Ausland Klage gegen den Versicherer der Gegenseite zu erheben.358 Bei der Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) müsse berücksichtigt werden, dass der Gerichtsstand des Geschädigten mittlerweile Teil eines zweigleisigen Systems geworden sei.359 Dabei war es Ziel und Zweck der 4. KH-Richtlinie dem Geschädigten zu ermöglichen, den bei ihm entstandenen Schaden im Inland – also in seinem eigenen Wohnsitzstaat – zu regulieren. Zwar habe der Unionsgesetzgeber deutlich gemacht, dass durch den Weg der außergerichtlichen Schadensregulierung im Inland keine weiteren Gerichtsstände geschaffen werden sollen.360 Bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) sei aber der grundsätzliche Wille des Gesetzgebers zu einer Inlandsregulierung entscheidend, da es sich hierbei um ein umfassendes gemeinschaftsrechtliches Schutzkonzept handele.361 Dass die 4. KH-Richtlinie erst am 20.07.2002 umgesetzt werden musste, spiele hierbei keine Rolle. Auch diese schrittweise Kompetenzwahrnehmung müsse bei der Auslegung beachtet werden, worauf durch Art. 5 der 5. KH-Richtlinie ausdrücklich hingewiesen worden sei.362 Eine systemübergreifende Interpretation spreche daher dafür, dass dem Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) die Möglichkeit zustehe, den Versicherer an seinem eigenen Wohnsitzgerichtsstand zu verklagen.363 Der von der ehemals herrschenden Meinung aufgezeigten Gefahr eines Bedeutungsverlusts der außergerichtlichen Schadensregulierung wird entgegengehalten, dass diese positiven Druck auf die Versicherer ausübe, ihre Beauftragten zu einer raschen Schadensregulierung anzuhalten.364 Bei mehreren Geschädigten und mehreren Verfahren in unterschiedlichen Mitgliedstaaten würde eine Lösung durch Art. 30 EuGVO (Art. 28 EuGVO a. F.) herbeigeführt.365 Das später angerufene Ge357

Herrmann, VersR 2007, 1470 (1474). Backu, DAR 2003, 145 (153); Herrmann, VersR 2007, 1470 (1475); Lemor, NJW 2002, 3666 (3667). 359 Siehe dazu ausführlich oben unter Teil 4 § 2 I. 360 Riedmeyer, in: FS für Müller, 2009, S. 473 (473). 361 Rothley, DAR 2006, 575 (577); Looschelders, ZZPInt. 2007, 246 (250); ders., VersR 2005, 1721 (1723). 362 Rothley, DAR 2006, 575 (577 f.). 363 Rothley, DAR 2006, 575 (577 f.). 364 Micha, IPRax 2011, 121 (122). 365 Micha, IPRax 2011, 121 (122). 358

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

richt müsse das Verfahren nach Art. 30 Abs. 1 EuGVO (Art. 28 Abs. 1 EuGVO a. F.) aussetzen.366 e) Erwägungsgrund 16a Der Erwägungsgrund 16a, der durch Art. 5 der 5. KH-Richtlinie in die 4. KHRichtlinie integriert wurde, ist aus der obenstehenden Darstellung ausgeklammert, da die Handhabung dieses Erwägungsgrundes innerhalb der heute herrschenden Meinung sehr unterschiedlich ausfällt.367 Die ehemals herrschende Meinung hatte es insoweit mit dieser Auslegungsanweisung durch den europäischen Gesetzgeber einfacher, als sie die Anwendung bzw. Beachtung des Erwägungsgrundes schlicht ablehnen konnte. Die heute herrschende Meinung stand an dieser Stelle vor einer größeren Herausforderung, da der Erwägungsgrund 16a das von ihr vertretene Auslegungsergebnis unterstreicht und sie ihn deshalb dogmatisch verorten musste. Einige Vertreter der heute herrschenden Meinung gehen daher sogar so weit, den Meinungsstreit für beendet zu erklären, da mit dem Erwägungsgrund 16a nunmehr eindeutig feststehe, dass der Geschädigte die Möglichkeit habe, am eigenen Wohnsitzgerichtsstand Klage gegen den Versicherer der Gegenseite zu erheben.368 So heißt es beispielsweise bei Riedmeyer: „Nachdem die 4. KH-Richtlinie vor der EuGVVO erlassen worden war, musste dieser rückwirkend eingeführte Erwägungsgrund bei der Auslegung der EuGVVO als Ausdruck des gesetzgeberischen Willens entscheidende Bedeutung finden.“369

Problematisch an den Ansätzen, dem Erwägungsgrund 16a eine so entscheidende Bedeutung beizumessen, ist allerdings, dass unklar bleibt, wie dieser nachträglich geäußerte Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung methodisch zu erfassen ist. Einzig Wittwer äußerte sich hierzu. Er sieht im Erwägungsgrund 16a gar die neue Rechtsfigur „der richtlinienkonformen Interpretation einer Verordnung.“370 Wittwer lässt hierbei offen, wie diese neue Rechtsfigur konkret auszugestalten ist und insbesondere in welchem Verhältnis sie zum historischen Willen des Gesetzgebers steht. Aufgrund des fehlenden methodischen Ansatzes stehen die führenden Stimmen innerhalb der heute herrschenden Meinung daher dem Erwägungsgrund 16a eher kritisch gegenüber.371 Es wird zwar eingestanden, dass die Beachtung des Erwägungsgrunds 16a, der einen direkten Blick auf den Willen des Gesetzgebers er366

H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (884); Micha, IPRax 2011, 121 (122). Auch problematisiert bei Sujecki/Dutilh, EuZW 2008, 124 (127). 368 Hauptfleisch/Hirtler, ZVR 2005, 388 (390); Wittwer, ZVR 2006, 404 (406 f.); Riedmeyer, in: FS für Müller, 2009, S. 473 (481). 369 Riedmeyer, in: FS für Müller, 2009, S. 473 (481). 370 Wittwer, ZVR 2006, 404 (406 f.). 371 Vgl. z. B. Looschelders, VersR 2005, 1722 (1723). 367

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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möglicht, einen deutlich einfacheren Begründungsweg bietet als eine im Schwerpunkt auf den Telos der Vorschriften gerichtete Auslegung.372 Dennoch gehen die Vertreter der heute herrschenden Meinung davon aus, dass dieser Wille des Gesetzgebers, der aus dem Jahr 2005 stammt, nicht mit dem Willen des historischen Gesetzgebers der EuGVO gleichgesetzt werden könne. Innerhalb der heute herrschenden Meinung wird der Erwägungsgrund 16a – abgesehen von den eben beschriebenen Ausnahmemeinungen – zur Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) auf unterschiedliche Art herangezogen. Der einzige gemeinsame Nenner ist, dass der Erwägungsgrund zur Bestätigung des bereits gefundenen Auslegungsergebnisses herangezogen wird. Ob er deshalb ein gewichtiges Zusatzargument darstellt,373 das zu einer notwendigen Klarstellung geführt hat,374 oder ob es sich bei dem Erwägungsgrund 16a lediglich um einen weiteren Hinweis auf das richtige Auslegungsergebnis handelt, bleibt dabei unklar. Um der wie auch immer gearteten Beachtung des Erwägungsgrundes 16a in der argumentativen Begründung des Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten eine methodische Grundlage zu geben, war Looschelders der erste, der diese mit den oben zitierten Ausführungen des EuGH in der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung375 verknüpfte.376 Ein Ansatz dem später viele Stimmen in der Literatur folgten.377 f) Zwischenergebnis Das vorrangige Ziel der Vertreter der heute herrschenden Meinung ist die Veränderungen innerhalb der EuGVO im Vergleich zur EuGVÜ zu unterstreichen und damit die Auslegungskontinuität zwischen EuGVÜ und EuGVO aufzubrechen. Eine entscheidende Rolle in der Argumentation spielen dabei die Entwicklungen und Wertungen im und aus dem europäischen Verkehrsopferschutz, insbesondere die, zu denen es im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, also nach Erlass der auszulegenden Vorschriften, gekommen ist. Daraus ergibt sich der große Vorteil, dass die Argumente für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten von dem fortschreitenden Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes weiter untermauert werden. So stützen die Vertreter der heute herrschenden Meinung ihr Auslegungsergebnis auch auf Entwicklungen, zu denen es erst nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen gekommen ist. Hier finden sich bei372

So auch Heiss/Kosma, in: FS für Wansink, 2006, S. 279 (288 f.). Staudinger, NJW 2007, 71 (73); Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723); Backu/Naumann, VersR 2006, 760 (761); dies auch feststellend: H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (880). 374 Staudinger, in: Rauscher, 4. Auflage 2016, Art. 13 Brüssel Ia-VO Rn. 6. 375 Siehe oben Teil 1 § 2. 376 Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). 377 Stellvertretend H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (879). 373

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

spielsweise Argumente für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten, die sich auf die 5. und 6. KH-Richtlinie und die Rom II-VO beziehen.

4. Bewertung des Meinungsstreits Stellt man die Argumentationen der ehemals herrschenden und der heute herrschenden Meinung gegenüber, so können die der ehemals herrschenden Meinung nicht überzeugen. Vielmehr erscheint die Meinung von Looschelders richtig, dass ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten letztlich schon zu Zeiten des EuGVÜ hätte vertreten werden können, dies aber aufgrund der Aussagen im Bericht von P. Jenard abzulehnen gewesen sei. Der tatbestandliche Ausbau des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) spricht für die Argumente der heute herrschenden Meinung, nach der die oben zitierte Aussage von P. Jenard nicht auf die Vorschriften der EuGVO zu übertragen und die Auslegungskontinuität zwischen EuGVÜ und EuGVO aufzubrechen ist. Besonders überzeugend ist hierbei, dass der noch zu Zeiten des EuGVÜ mögliche Erst-Recht-Schluss mit Bezug auf die Aussagen im Bericht von P. Jenard aufgrund des tatbestandlichen Ausbaus in der EuGVO nicht mehr möglich ist. Für das Aufbrechen der Auslegungskontinuität spricht zudem, dass ein Auslegungsergebnis, welches sich an der Vergangenheit, also dem vorherrschenden Auslegungsergebnis zu Zeiten des EuGVÜ orientiert, die Dynamik in der Entwicklung der Rechtsordnung nicht berücksichtigt. Um der Diskrepanz zwischen den zwei Schutzsystemen „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ und europäischem Verkehrsopferschutz zu begegnen, sind daher auch die Wertungen des zwischenzeitlich deutlich weiterentwickelten europäischen Verkehrsopferschutzes über eine systematische und teleologische Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) einzubeziehen. Nach Umsetzung der 4. KH-Richtlinie wurde der tatbestandseröffnende Direktanspruch europaweit eingeführt. Damit eröffnet der Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) dem Geschädigten in allen Mitgliedstaaten besondere Gerichtsstände. Der Unionsgesetzgeber hat in der 4. KH-Richtlinie deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er die größten Probleme des europäischen Verkehrsopferschutzes darin sieht, dass der Geschädigte seinen Schaden im europäischen Ausland regulieren muss. Es überzeugt, dass in der Argumentation der heute herrschenden Meinung diese Wertungen bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) berücksichtigt werden. Dabei kann es keine Rolle spielen, dass die 4. KH- Richtlinie erst 2002 in allen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden musste. Vielmehr entspricht es den Grundsätzen der Integrationsrechtsordnung, dass sich diese erst Schritt für Schritt entwickelt. Die aus der Systematik des Abschnitts gewonnenen Argumente der ehemals herrschenden Meinung zum fehlenden Schutz des Versicherten bzw. des Versiche-

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rungsnehmers im Fall einer Streitverkündung nach Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) überzeugen nicht. Die schlagenden Argumente hat die heute herrschende Meinung mit dem Verweis auf den Vorbehalt in Art. 14 Abs. 1 EuGVO (Art. 12 Abs. 1 EuGVO a. F.). Bei Art. 13 Abs. 3 EuGVO (Art. 11 Abs. 3 EuGVO a. F.) handelt es sich um ein vorgesehenes Regulativ im Abschnitt Zuständigkeiten für Versicherungssachen, welches dazu dient, den Versicherer zu entlasten und eine Verfahrenskonzentration herbeizuführen. Für das von der heute herrschenden Meinung vertretene Auslegungsergebnis sprechen zudem praktische Überlegungen. Lehnt man im Falle eines grenzüberschreitenden Schadenfalls die Möglichkeit des Geschädigten, den bei ihm entstandenen Schaden über die Direktklage am eigenen Wohnsitz geltend zu machen, ab, so wird dem Versicherer entgegen aller Wertungen der EuGVO und des europäischen Verkehrsopferschutzes ein Druckmittel an die Hand gegeben, den Geschädigten zur außergerichtlichen Schadensregulierung zu bewegen. Will der Geschädigte einen aufwändigen und kostspieligen Prozess im Ausland vermeiden, steigt sein Interesse daran, sich im Inland außergerichtlich zu einigen, und damit wachsen die Möglichkeiten des Versicherers, den Schaden unter dem eigentlichen Wert außergerichtlich zu regulieren: Verkehrsopferschutz ad absurdum. Das Auslegungsergebnis, einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten zu bejahen, wird auch durch den Erwägungsgrund 16a bestätigt. Es ist richtig, diesen bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) zu beachten. Wie der Erwägungsgrund 16a methodisch zu erfassen ist, wird in Teil E dieser Arbeit erläutert, da der Erwägungsgrund 16a für die Ermittlung der Grundsätze für den methodischen Umgang mit der Dynamik im Europäischen Sekundärrecht eine zentrale Rolle spielt.

IV. Probleme und Vorteile der sich gegenüberstehenden Meinungen Unabhängig vom Ergebnis der beiden sich gegenüberstehenden Meinungen werden daraus die Vor- und Nachteile der jeweils gewählten Argumentationen im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Kriterien der Vereinigungslehre deutlich.378 1. Die ehemals herrschende Meinung Neben den allgemeinen Argumenten, die für die Subjektive Theorie sprechen,379 birgt die Argumentation der ehemals herrschenden Meinung den Vorteil, dass sie den gerade im Europäischen Zivilprozessrecht bedeutsamen Grundsätzen der Vorher378 Vgl. hierzu Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 106 ff.; im Übrigen siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. 379 Siehe oben Teil 3 § 3 II. 1.

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sehbarkeit und Rechtssicherheit gerecht wird.380 Die weitere Verwendung der Aussagen im Bericht von P. Jenard zur Auslegung der Vorschriften des EuGVO dient auch diesen Grundsätzen.381 Hinzu kommt, dass sich die Auslegung des Europäischen Sekundärrechts auch in ihrer grundlegenden Zielsetzung daran zu orientieren hat, einfach und nachvollziehbar zu bleiben.382 Auch diesem Grundsatz wird das Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung gerecht. Nachteil dagegen ist, dass durch den Fokus auf den historischen Willen des Gesetzgebers die „[…] Gefahr einer ,Versteinerung‘ oder Erstarrung“ des Auslegungsergebnisses droht.383 Unabhängig davon, wie der methodische Umgang mit der Dynamik des Europäische Sekundärrechts ausgestaltet ist, resultiert dieser Nachteil vor allem daraus, dass dem Bericht von P. Jenard bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) maßgebliche Bedeutung zugemessen und dieser mit dem historischen Willen der Signatarstaaten und später des Verordnungsgebers gleichgesetzt wird. So zutreffend der Bericht zum Zeitpunkt des Erlasses der auszulegenden Vorschriften gewesen sein mag,384 so einschränkend wirkt er nun auf die Möglichkeiten des Rechtsanwenders, der in der Europäischen Rechtsordnung angelegten Entwicklung und damit einem wichtigen Grundsatz der europäischen Integrationsrechtsordnung bei der Auslegung Beachtung zu schenken. Selbst wenn man davon ausgeht, dass das Spannungsverhältnis zwischen subjektiven und objektiven Kriterien innerhalb der Vereinigungslehre im Ergebnis so aufzulösen ist, dass dem Willen des Gesetzgebers aus Gründen der Rechtssicherheit besonderes Gewicht beizumessen ist und die objektiven Kriterien hinter den subjektiven Kriterien zurückstehen,385 ist ein Festhalten an den Berichten aus dem EuGVÜ als problematisch zu werten. Denn die kommentarartigen Berichte sind zwar besonders praktisch und erleichtern die Auslegungsarbeit, sie lassen aber keinen Raum für die nachfolgenden Entwicklungen des Sekundärrechts. 2. Die heute herrschende Meinung Da die heute herrschende Meinung ihren argumentativen Schwerpunkt in den objektiven Kriterien hat, entstehen die eben beschriebenen Probleme nicht. Im 380

Vgl. Erwägungsgrund 15 der EuGVO. Siehe hierzu schon bei den Folgen der Europäisierung des IZPR oben unter Teil 2 § 2. 382 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 106 und 225. 383 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 106; kritisch hierzu: Looschelders/W.Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 63 f.; ausführlich zum sogenannten Versteinerungsargument: Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 419. 384 Siehe oben Teil 4 § 3 II. 1. 385 So z. B. Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015, § 11 Rn. 53 f. 381

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Rahmen der systematischen und teleologischen Auslegung sind gerade die Entwicklungen nach Erlass der auszulegenden Vorschriften von großer Bedeutung, um ein anderes Auslegungsergebnis zu begründen als das zu Zeiten des EuGVÜ vorherrschende. Allerdings ergibt sich aus dieser größeren Flexibilität gegenüber der Dynamik des Sekundärrechts auch ein großer Nachteil: Gewichtet man die objektiven Kriterien in besonderem Maße, stellt sich die Frage, ab wann ein „neues“Auslegungsergebnis das „alte“ abgelöst hat und welche Entwicklungen überhaupt bei der Auslegung der jeweiligen Vorschrift zu beachten sind.386 Auf diese Fragen liefert die heute herrschende Meinung keine eindeutigen Antworten. Im Rahmen der Argumentation werden unterschiedliche Veränderungen im Europäischen Sekundärecht für die Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) herangezogen. Bestes Beispiel ist der unterschiedliche Stellenwert des Erwägungsgrunds 16a. Während einige Stimmen in diesem Erwägungsgrund den Grund für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten sehen, gar neue Auslegungskriterien aus dem Erwägungsgrund entwickeln,387 wird er von anderen Stimmen nur am Rande erwähnt und höchstens als zusätzliches Argument herangezogen. Der Nachteil einer Auslegung, die den Willen des historischen Gesetzgebers stark verobjektiviert, ist, dass er als Bezugspunkt lediglich eine untergeordnete Rolle spielt, und nicht mehr klar ist, welche Veränderungen für die Auslegung der Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) relevant sind. Hier wiederholen sich daher die schon in der Problemstellung angesprochenen Schwierigkeiten des methodischen Umgangs mit der Dynamik des Europäischen Sekundärrechts.388 Es ist also im Rahmen des methodischen Vorgehens der heute herrschenden Meinung höchst fraglich, wie Rechtssicherheit gewährleistet werden kann und die Auslegung der Vorschriften des Europäischen Sekundärrechts einfach und nachvollziehbar bleiben.

V. Die Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen Das Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung fand mit der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen erstmals Anklang in der deutschen Rechtsprechung. Das OLG Köln als Berufungsgericht und der BGH in der Revision schlossen sich in der besagten Rechtssache dem Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung an und legten den Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO 386

In diese Richtung Bleckmann, EuR 1979, 239 (256); auf dieses Problem im Umgang mit dem Wandel der Normensituation weisen auch Larenz/Canaris hin, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, S. 173. 387 Wittwer, ZVR 2006, 404 (406 f.). 388 Siehe oben Teil 1 § 3.

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(Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) entsprechend der nach der Übertragung des EuGVÜ in Gemeinschaftsrecht aufgekommenen Literaturmeinung und entgegen der zu diesem Zeitpunkt noch herrschenden Meinung neu aus.389 Ein eigener Gerichtstand am Wohnsitz des Geschädigten wurde von beiden Gerichten bejaht und Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) insoweit als Rechtsfolgenverweisung ausgelegt.390 Die Ausführungen der deutschen Gerichte wurden zumindest im Ergebnis durch die nachfolgende Entscheidung des EuGH bestätigt.391 Der Instanzenzug in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen und die nachfolgende EuGH-Entscheidung spiegeln den Wandel von der ehemals herrschenden zur heute herrschenden Meinung, die damit einhergehende Zielverschiebung bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) und die aufgezeigten Vorteile und Probleme der sich gegenüberstehenden Meinungsblöcke wider. Stellt man die methodischen Ansätze der heute herrschenden Meinung in der Literatur und die Urteilsbegründungen der das Ergebnis dieser Meinung befürwortenden Gerichte des Instanzenzugs gegenüber, so wird allerdings deutlich, dass die deutsche Rechtsprechung völlig neue methodische Ansätze entwickelt hat, um mit der Dynamik im systematischen Umfeld der auszulegenden Vorschriften des Europäischen Sekundärrecht umzugehen. 1. Der Instanzenzug in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen a) Erste Instanz: AG Aachen vom 27.04.2005 (Az.: 8 C 545/04) Das Amtsgericht Aachen schloss sich mit dem Urteil vom 27.04.2005 der zu diesem Zeitpunkt noch herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung an und lehnte den eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten ab.392 b) Zweite Instanz: OLG Köln, 12.09.2005 (Az.: 16 U 36/05) Für den Richtungswechsel sorgte die Entscheidung des OLG Köln vom 12.09.2005.393 Als zuständiges Berufungsgericht (§ 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG) in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen bejahte das OLG Köln mit Zwischenurteil vom 12.09.2005 die internationale Zuständigkeit am Wohnsitzgericht des Geschä389 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005 1721 (1721); BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 390 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1721); BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 391 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg. 2007, I11321, Rn. 31. 392 AG Aachen, Urt. v. 27.04.2005 – 8 C 545/04, NJW-RR 2006, 70 (70). 393 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721.

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digten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.).394 Zum ersten Mal in der deutschen Rechtsprechung wurde ein bis dahin nur von einer Mindermeinung in der Literatur vertretenes Auslegungsergebnis erzielt.395 aa) Begründung Auch wenn das Ergebnis des OLG Köln mit dem Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung übereinstimmt und die Entscheidung daher im Ergebnis von der Literatur begrüßt wurde, wählte das OLG Köln eine Urteilsbegründung, die in der Literatur selbst unter den Vertretern der heute herrschenden Meinung kaum Zustimmung fand.396 Das OLG Köln ging in der veröffentlichten Urteilsbegründung einen aus methodischen Gesichtspunkten bemerkenswerten Weg. Denn anders als die Vertreter der heute herrschenden Meinung, die wie dargestellt bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ganz überwiegend einen verobjektivierten Auslegungsmaßstab ansetzen und daher dem Willen des historischen Gesetzgebers in ihrer Argumentation eine vergleichsweise geringe Beachtung schenken,397 stellte das OLG Köln in seiner Entscheidung im Schwerpunkt auf den Willen des europäischen Gesetzgebers ab.398 Die oben aufgezeigte Zielverschiebung, wie sie sich in der Argumentation der heute herrschenden Meinung im Vergleich zur ehemals herrschenden abzeichnet,399 lässt sich daher in der Begründung des OLG Köln nicht wiederfinden. Im Gegenteil beginnt das OLG Köln die Begründung des Auslegungsergebnisses mit den Worten:400 „Diese Auslegung entspricht dem ausdrücklichen Willen des europäischen Verordnungsgebers und ist mit dem Wortlaut der auszulegenden Norm sowie deren Zweck und Entstehungsgeschichte vereinbar.“

Obwohl sich die Auslegungsziele der ehemals herrschenden und heute herrschenden Meinung unterscheiden, scheint es auf den ersten Blick so, als verfolgten die ehemals herrschenden Meinung und das OLG Köln trotz unterschiedlicher Ergebnisse das gleiche Ziel: Sowohl bei den Vertretern der ehemals herrschenden Meinung als auch in der Begründung des OLG Köln spielt der Wille des europäischen Gesetzgebers eine maßgebliche Rolle. 394

OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). 396 Vgl. zum Beispiel Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). 397 Siehe oben Teil 4 § 3 I. 2. 398 Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723); BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 399 Siehe oben zusammenfassend unter Teil 4 § 3 I. 2. 400 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). 395

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Der bemerkenswerte Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt allerdings darin, dass es sich bei dem vom OLG Köln ermittelten Willen des Unionsgesetzgebers nicht um den Willen des Urhebers der EuGVO bzw. über die Auslegungskontinuität um den Willen der Signatarstaaten des EuGVÜ handelt. Das OLG Köln rückt also nicht den historischen Willen des europäischen Verordnungsgebers in das Zentrum seiner Argumentation. Vielmehr stellt es in seiner Begründung im Schwerpunkt darauf ab,401 dass der europäische Verordnungsgeber seinen Willen mit dem Erwägungsgrund 16a zum Ausdruck gebracht hat.402 Wörtlich führt das OLG aus, dass der Wille des Verordnungsgebers „[…] eindeutig in der Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.05.2005 zum Ausdruck […]“

komme.403 Diese Begründung ist aus zweierlei Gründen außergewöhnlich: Zum einen ist offensichtlich der Ausgangspunkt der Auslegung nicht der Wortlaut der auszulegenden Vorschriften404 sondern der Wille des Unionsgesetzgebers. Zum anderen handelt es sich bei diesem Willen nicht um den historischen Willen des Unionsgesetzgebers405 sondern um einen Willen, den der europäische Gesetzgeber fast fünf Jahre nach Inkrafttreten der EuGVO gefasst hat. Wie aus dem oben zitierten Ausschnitt aus der Urteilsbegründung deutlich wird, wird dieser „aktuellere“ Wille zum Ausgangspunkt der Auslegung gemacht und in einem nächsten Schritt überprüft, ob dieser im Einklang mit dem Sinn und Zweck der auszulegenden Vorschriften der EuGVO steht.406 Im Rahmen dieser Überprüfung bringt das OLG Köln folgende, schon bekannte Argumente für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten vor: Mit Blick auf den Telos der auszulegenden Vorschriften ist es auch nach Auffassung des OLG Köln der Sinn und Zweck des Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) den Schutz der schwächeren Partei im Vergleich zum EuGVÜ zu stärken.407 Da sich der Geschädigte gegenüber dem Versicherer ebenso wie die in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personengruppen in der Position des Schwächeren befindet und bei einem Unfall im Ausland besonders schutzbedürftig ist, steht das in Erwägungsgrund 16a vorgegebene Auslegungsergebnis im Einklang mit Sinn und Zweck der auszule-

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OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). 403 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). 404 Siehe oben Teil 3 § 3 III. 1. 405 Siehe oben Teil 3 § 3 III. 3. 406 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). 407 OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722), mit Verweis auf die Begründung des Kommissionsentwurfs; vgl. KOM (1999), 348 endg., S. 16. 402

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genden Vorschriften.408 Ein Grund für die Differenzierung zwischen den im Abschnitt „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ genannten Personengruppen ist daher nach Auffassung des OLG Köln nicht ersichtlich.409 Der in der 5. KH-Richtlinie eindeutig zum Ausdruck kommende Wille des Unionsgesetzgebers stehe zudem im Einklang mit dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) und komme in ihm „objektiviert zum Ausdruck.“410 Ein Ergebnis, das auch wegen des zweideutigen Wortlauts der auszulegenden Vorschriften vertreten werden kann: „Die Verweisung auf die Vorschrift des Art. 9 EuGVVO kann nach allgemeinen methodischen Grundsätzen auch ohne eine ausdrückliche Anordnung in dem Sinn verstanden werden, dass Art. 9 Abs. 1 lit b auf den Geschädigten entsprechend anwendbar sein soll.“411

bb) Methodisches Vorgehen Das OLG Köln bietet keine Erklärung für dieses ungewöhnliche methodische Vorgehen. Die Frage, über die wie gezeigt auch im Rahmen der Argumentation der heute herrschenden Meinung Uneinigkeit herrscht,412 wie der Erwägungsgrund 16a methodisch zu erfassen ist, lässt das OLG Köln offen. Das OLG Köln tauscht schlicht den historischen Willen des Gesetzgebers der EuGVO gegen den „aktuelleren“ aus, macht ihn zum Ausgangspunkt der Auslegung und prüft im Übrigen, ob dieser im Einklang mit den Ergebnissen der Auslegung anhand der übrigen Kriterien steht. Ein möglicher methodischer Ansatz mit Erwägungsgrund 16a umzugehen, war zwar schon im Bericht des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt vom 10.10.2003, welcher den Entwurf für die Änderung der 4. KH-Richtlinie lieferte, angelegt. Darin heißt es, dass es sich bei Erwägungsgrund 16a lediglich um einen Hinweis auf den bereits bei Verabschiedung des EuGVO gefassten Willen des Gemeinschaftsgesetzgers handeln solle.413 Das OLG Köln zitiert den Bericht auch, nimmt ihn aber letztlich nicht an. Es betont hingegen, dass es gerade dieser Erwägungsgrund sei, der das Auslegungsergebnis bestimme und es an dieses Ergebnis aus verfassungsrechtlichen Gründen nach Art. 20 Abs. 3 GG gebunden sei.414 Wörtlich heißt es dazu in der Urteilsbegründung: „Da nach Art. 20 III GG die Rechtsprechung ,an Gesetz und Recht gebunden‘ ist, darf der Senat sich nunmehr nach der Veröffentlichung der Richtlinie 2005/14/EG vom 11.05.2005 408 409 410 411 412 413 414

OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, SVR 2006, 73 (73). OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). Siehe oben Teil 4 § 3 I. 2. OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722). OLG Köln, Urt. v. 12.09.2005 – 16 U 36/05, VersR 2005, 1721 (1722).

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

über den eindeutigen Willen des Europäischen Parlaments und des Rates, wie er im Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 EuGVVO zum Ausdruck kommt, nicht hinwegsetzen.“

Auf das Problem, dass hier der historische Wille durch einen neueren Willen ersetzt wird, geht das OLG Köln nicht ein.415 cc) Reaktionen der Rechtsprechung Aufgrund des gewählten methodischen Sonderwegs des OLG Köln wurde die Entscheidung in der nachfolgenden Rechtsprechung in vergleichbar gelagerten Fällen unterschiedlich aufgenommen. Beispielhaft werden im Folgenden die relevanten Entscheidungen dargestellt. (1) LG Hamburg, 28.04.2006 Das Landgericht Hamburg wies am 28.04.2006416 in einem ähnlichen Fall die Klage eines in einem grenzüberschreitenden Verkehrsunfall Geschädigten mit der Begründung ab, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht gegeben sei.417 Dieser Entscheidung lag der Sachverhalt zugrunde, dass der Kläger Ansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend machte, der sich in Großbritannien ereignet hatte. Wie in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen klagte der Geschädigte an seinem Wohnsitzgericht, hier aufgrund des höheren Streitwerts am Landgericht (§§ 23 Nr. 1 i. V. m. 71 Abs. 1 GVG), direkt gegen den Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers, welcher seinen Sitz in Großbritannien hat.418 Die abweisende Entscheidung begründete das Landgericht mit den bereits dargestellten Argumenten der ehemals herrschenden Meinung.419 Das Landgericht Hamburg hat jedoch die zentralen Punkte des oben dargestellten Meinungsstreits missverstanden, da es nur über die Gleichstellung des „Geschädigten“ aus Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) mit dem „Begünstigten“ aus Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) die Möglichkeit sieht, einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten zu begründen.420 Das Landgericht setzt daher fälschlicherweise die Argumentation der heute herrschenden Meinung mit der Argumentation der Mindermeinung gleich.421 Daneben hält es das Landgericht Hamburg für falsch, dass das OLG Köln im Schwerpunkt auf den Erwägungsgrund 16a abstelle, um einen eigenen Wohnsitz415 416 417 418 419 420 421

Vgl. Looschelders, VersR 2005, 1721 (1723). LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1065). LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1065). LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1065). Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. Vgl. Argumentation der abzulehnenden Mindermeinung, siehe oben Teil 4 § 3 I. 3. LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1066).

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gerichtsstand des Geschädigten zu begründen.422 Unter Bezugnahme auf den Vortrag von Wellner423 vom 22.09.2005 auf der 4. Internationalen Interiura-Konferenz424 geht das Landgericht Hamburg davon aus, dass der einzig gangbare Weg, eine solche Änderung des Auslegungsergebnisses herbeizuführen, das ordnungsgemäße Gesetzgebungsverfahren sei.425 Der Erwägungsgrund 16a sei hingegen ein nachträglicher Auffassungswandel des Gesetzgebers, der nicht ohne Weiteres zu einer Abänderung der anerkannten Rechtslage führe.426 Das Landgericht Hamburg lässt dabei offen, ob es den Erwägungsgrund 16a generell für unbeachtlich hält, oder ob eine Beachtung erst nach Umsetzung der 5. KH-Richtlinie in Frage kommt (nach Art. 6 Abs. 1 der 5. KH-Richtlinie musste eine Umsetzung bis zum 11.06.2007 erfolgen).427 (2) OLG Wien, 28.07.2006 Anders als das Landgericht Hamburg schloss sich das Oberlandesgericht Wien im Urteil vom 28.07.2006 der Entscheidung des OLG Köln an.428 Dieser Entscheidung lag ein Rechtsstreit über einen Verkehrsunfall in Ungarn zugrunde. Ein Geschädigter mit Wohnsitz in Wien machte seinen Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer der Gegenseite mit Sitz in Deutschland an seinem Wohnsitzgericht geltend. Die Klage war zunächst in erster Instanz unter Verweis auf die unstrittige Rechtslage zu Zeiten des EuGVÜ wegen fehlender internationaler Zuständigkeit abgewiesen worden.429 In zweiter Instanz schloss sich das OLG Wien dem Ergebnis des OLG Köln an und folgte in weiten Teilen auch dessen Urteilsbegründung. So bejahte auch das OLG Wien einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.), da diese Auslegung dem ausdrücklichen Willen des europäischen Unionsgesetzgebers entspreche und dieser Wille auch mit dem Wortlaut der auszulegenden Vorschriften sowie mit deren Zweck vereinbar sei.430 Auch das OLG Wien ermittelte dabei den Willen des Gesetzgebers mit Hilfe des Erwägungsgrundes 16a. Allerdings ging das Gericht weniger weit als dies zuvor das OLG Köln getan hatte. Es wählte den oben erwähnten methodischen Ansatz, der schon im Bericht des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt vom 10.10.2003 angelegt war.431 Das Gericht ging somit davon aus, dass es sich bei dem nachträglich eingefügten Er422 423 424 425 426 427 428 429 430 431

LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1065 f.). Richter am BGH. LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1066). LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1066). LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, VersR 2006, 1065 (1066). LG Hamburg, Urt. v. 28.04.2006 – 331 O 109/05, DAR 2006, 575 (576). OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215. OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (215). OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (215). Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. b) bb).

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

wägungsgrund lediglich um einen Hinweis auf die seit Verabschiedung der EuGVO bestehende Rechtslage handele.432 Bemerkenswerterweise untermauerte das OLG Wien das so erzielte Auslegungsergebnis mit einer Gesamtbetrachtung der stattgefundenen Entwicklung im europäischen Verkehrsopferschutz:433 „Zweck aller dieser auf einheitliche Kfz-Haftpflichtvorschriften ausgerichteten Vertragsund Rechtsakte war und ist es, den bei Verkehrsunfällen mit ausländischen Kfz Geschädigten unabhängig davon, in welchem Land der Gemeinschaft sich der Unfall ereignete, eine vergleichbare Behandlung bei der Schadensregulierung zu ermöglichen und damit den Schutz der Versicherten und der Unfallgeschädigten zu verbessern.“

Das OLG Wien sah den Erwägungsgrund 16a als Hinweis auf die aktuelle Stufe des sich immer weiter entwickelnden europäischen Verkehrsopferschutzes. Der Erwägungsgrund 16a konterkariere daher die bereits bestehende Rechtslage,434 deren Grundgedanke die wesentliche Vereinfachung und Erleichterung bei der Durchsetzung von Ersatzansprüchen bei Straßenverkehrsunfällen mit Auslandsberührung sei.435 Diese „seit Jahrzehnten sukzessive ausgeweitete Erleichterung der Geltendmachung von derartigen Ersatzansprüchen“

führe dazu, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung ein eigener Gerichtsstand des Geschädigten bejaht werden müsse.436 Gegen diese Entscheidung des OLG Wien wurde vor dem Obersten Gerichtshof (OGH) Revision eingelegt. Der OGH bestätigte die Entscheidung des OLG Wien und sah von einer Vorlage an den EuGH ab.437 (3) OLG Brandenburg, 13.09.2006 Ein Jahr nach der Entscheidung des OLG Köln gab das OLG Brandenburg mit Beschluss vom 13.09.2006 ebenfalls in einem vergleichbaren Sachverhalt zu erkennen, dass es der Entscheidung des OLG Köln vom 12.09.2005 zugeneigt sei und hob die zuvor ergangene Entscheidung des LG Frankfurt/Oder über einen Prozesskostenhilfeantrag auf.438 Das für die sofortige Beschwerde gemäß §§ 127 Abs. 2, 576 Abs. 1 ZPO zuständige OLG Brandenburg sah sich zwar mangels Entscheidungsreife in der Sache zu keiner Entscheidung veranlasst und verwies die Sache 432

OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (215). OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (216), mit Verweis auf die Präambel zur 3. KH-RL des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Kfz-Haftpflichtversicherung, 90/232/EWG, vom 14.05.1990, ABl. EG Nr. L 129 S. 33. 434 OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (216). 435 OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (216). 436 OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (216). 437 OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (216). 438 OLG Brandenburg, Urt. v. 13.09.2006 – 12 W 35/06, NJW-RR 2007, 216. 433

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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wieder an das LG Frankfurt/Oder zurück.439 Es schloss sich aber dem OLG Köln insoweit an, als es unter Bezugnahme auf dessen Entscheidung vom 12.09.2005 zu der Annahme eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands das Geschädigten tendierte: Ein solches Auslegungsergebnis werde in der Begründung zu dem in der 5. KH-Richtlinie zum Ausdruck gebrachten Willen des europäischen Unionsgesetzgebers deutlich und entspreche dem Sinn und Zweck des Art. 12 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.),440 „da der Geschädigte bei den von dieser Regelung erfassten Verkehrsunfällen nicht weniger schutzwürdig ist, als der Versicherungsnehmer oder Versicherte in Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO.“441

dd) Zwischenergebnis Aus der Urteilsbegründung des OLG Köln wird deutlich, dass das Gericht dem oben dargestellten Problem der heute herrschenden Meinung442 begegnet, indem es den aktuelleren Willen des Gesetzgebers aus Erwägungsgrund 16a mit dem historischen gleichsetzt. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass die Frage danach, welche Entwicklungen für die Auslegung der streitentscheidenden Vorschriften maßgeblich sind, wieder der Gesetzgeber beantwortet. Auch wenn dieser Ansatz durch seine Einfachheit besticht, muss sich das OLG Köln doch den Vorwurf gefallen lassen, dass aus der veröffentlichten Urteilsbegründung die Methodik hinter diesem ungewöhnlichen Vorgehen nicht deutlich wird. So überzeugen doch die Argumente der ehemals herrschenden Meinung, die diese Gleichsetzung des historischen Willens des Gesetzgebers mit einem aktuelleren als eine Umgehung des ordnungsgemäßen Rechtssetzungsverfahrens innerhalb der Europäischen Rechtsordnung ablehnen.443 Insoweit sind die Bedenken des LG Hamburg hier durchaus nachvollziehbar.444 Überzeugender als der Ansatz des OLG Köln ist die Herangehensweise des OLG Wien. Das Gericht sieht im Erwägungsgrund 16a lediglich einen Hinweis auf die neue Rechtslage,445 die durch den schrittweisen Ausbau des europäischen Verkehrsopferschutzes entstanden ist.446 Zu bemängeln ist allerdings auch hier, dass nicht klar wird, ob das Gericht in seiner Begründung letztlich auf den historischen Willen des Gesetzgebers abstellt oder auf einen aktuelleren Willen. 439 440 441 442 443 444 445 446

OLG Brandenburg, Urt. v. 13.09.2006 – 12 W 35/06, NJW-RR 2007, 216 (216). OLG Brandenburg, Urt. v. 13.09.2006 – 12 W 35/06, NJW-RR 2007, 216 (216). OLG Brandenburg, Urt. v. 13.09.2006 – 12 W 35/06, NJW-RR 2007, 216 (216). Zum Nachteil der heute herrschenden Meinung siehe oben Teil 4 § 3 I. 2. Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. Siehe soeben unter Teil 4 § 3 V. 1. b) cc) (1). OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (215). OLG Wien, Urt. v. 28.07.2006 – 15 R 117/06w, DAR 2007, 215 (216).

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

c) Dritte Instanz: BGH, 26.09.2006 Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits ließ das OLG Köln gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die Revision zu. Die niederländische Haftpflichtversicherung legte daraufhin Revision vor dem BGH ein. Mit Beschluss vom 26.09.2006 legte der BGH dem EuGH gemäß Art. 234 EGV (jetzt: Art. 267 AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:447 „Ist die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO dahin zu verstehen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat?“

aa) Begründung Bemerkenswert ist die Begründung des Vorlagebeschlusses des VI. Zivilsenats.448 Auch dieser schließt sich dem Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung an, wählt allerdings teilweise wiederum einen neuen Weg, um das gefundene Auslegungsergebnis zu begründen. (1) Darstellung der ehemals herrschenden Meinung Zunächst ist Heiss insoweit Recht zu geben, als auch der VI. Zivilsenat des BGH die Argumentation der ehemals herrschenden Meinung falsch darstellt.449 Wie zuvor schon das LG Hamburg in der Entscheidung vom 28.04.2006, vermischt auch der BGH die Argumentation der ehemals herrschenden Meinung gegen das Auslegungsergebnis der dargestellten Mindermeinung mit der Argumentation gegen einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten. So geht der BGH davon aus, dass im Zentrum des Meinungsstreits zwischen heute herrschender und ehemals herrschender Meinung stünde, wie der Anspruch des Geschädigten zu qualifizieren sei, und ob damit der Geschädigte in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) mit dem Begünstigten i. S. v. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) gleichgesetzt werden könne.450 Ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten sei allein wegen der nicht möglichen Gleichsetzung dieser beiden Personengruppen von der ehemals herrschenden Meinung abgelehnt worden.451 In Bezug auf die tatsächliche Argumentation der ehemals herrschenden Meinung wird nach oben verwiesen.452 447 448 449 450 451 452

BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, IPRax 2007, 342 (324). BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, IPRax 2007, 324 (324). Heiss, VersR 2007, 327 (327 f.). BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1.

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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(2) Erkenntnisweg des BGH Auch wenn der VI. Zivilsenat den Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) nicht kategorisiert, wird in der Begründung des Vorlagebeschlusses deutlich, dass er – wie die heute herrschende Meinung auch – von einem partiellen Rechtsfolgenverweis ausgeht.453 Der Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ist so nach Auffassung des BGH über den Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) entsprechend anwendbar.454 Bezugnehmend auf die Anmerkung von Looschelders zur Entscheidung des OLG Köln heißt es in der Begründung, dass „die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVO die Reglungen des Art. 9 EuGVO auf den Geschädigten überträgt“.455

Es sei daher nach Auffassung des BGH nicht notwendig, den Geschädigten in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) neben dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten und dem Begünstigten gesondert zu erwähnen.456 In der weiteren Begründung lässt sich der Erkenntnisweg des BGH eher mit dem des OLG Wien als mit dem des OLG Köln vergleichen: Der VI. Zivilsenat hebt zunächst die stattgefundenen Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz – vor und nach dem Erlass der EuGVO – hervor.457 Er macht so deutlich, dass der Schutz eines bei einem Verkehrsunfall im Ausland Geschädigten bereits durch die europaweite Einführung der Direktklage gegen den Versicherer durch die 4. KHRichtlinie vom 16.05.2000 und damit bereits vor Erlass der EuGVO gestärkt worden sei.458 Dieser Schutz sei später durch die 5. KH-Richtlinie noch zusätzlich ausgebaut worden. Aus der Zusammenschau dieser Entwicklungen werde daher deutlich, dass nach dem Willen der Kommission und des Europäischen Parlaments neben dem Direktanspruch auch ein eigener Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) geschaffen werden sollte. Nach den Ausführungen des Senats statuiere dies erstmals der Bericht des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt des Europäischen Parlaments vom 10.10.2003,459 der sich wiederum auf ein unveröffentlichtes Gutachten des juristischen Dienstes stützt. In dem Bericht heißt es

453

Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung siehe oben Teil 4 § 3 I. 2. BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 455 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72), mit Verweis auf Looschelders, VersR 2005, 1721 (1722 f.). 456 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 457 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 458 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 459 A5 – 0346/2003 endg., S. 18. 454

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

in der Begründung des Änderungsantrags 21, der vorsieht, den Erwägungsgrund 16a nachträglich in die 4. KH-Richtlinie einzufügen:460 „Die 4. KH-Richtlinie lässt die Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer zu. Das hat zur Folge, dass durch die Verordnung für den Geschädigten ein Gerichtsstand in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, gegen den Haftpflichtversicherer begründet wurde. Es erscheint erforderlich, auf diese neue Rechtslage, die eine überragende praktische Bedeutung hat, in einer neuen Erwägung zur 4. KH-Richtlinie hinzuweisen.“

Eine Rechtsaufassung, der sich auch die Kommission in ihrer Stellungnahme vom 30.04.2004 anschloss461 und die schließlich zu Art. 5 der 5. KH-Richtlinie führte, durch den der Erwägungsgrund 16a in die 4. KH-Richtlinie integriert wurde. Der Erwägungsgrund 16a hat daher diese Entwicklungen nach Auffassung des VI. Zivilsenats letztlich nur noch bestätigt.462 Anders als das OLG Köln setzte sich der VI. Zivilsenat nach Darstellung der Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz auch mit der Frage auseinander, wie der Erwägungsgrund 16a – wenn auch nur als Hinweis – für das Auslegungsergebnis eine Rolle spielen kann, ist er doch erst vier Jahre nach Erlass der EuGVO verabschiedet worden. Hier knüpft der Senat die Verbindung zur oben zierten C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH.463 Nach Auffassung des Senats ist demnach der Erwägungsgrund 16a für die Auslegung der Vorschriften Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) daher zu beachten, weil jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstandes zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen sei.464 Auch die Entwicklungen nach Erlass der Vorschriften müssten bei der Auslegung berücksichtigt werden.465 bb) Methodisches Vorgehen Zunächst berücksichtigt der BGH bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) überwiegend „spätere Entwicklungen“ im europäischen Verkehrsopferschutz,466 also Entwicklungen nach Erlass der EuGVO, über die er auf Sinn und Zweck der Vorschriften schließt. Der BGH versucht eine Brücke zum historischen Willen des Gesetzgebers zu schlagen und drängt diesen dabei nicht im gleichen Maße zurück 460 Europäisches Parlament, Ausschuss für Recht und Binnenmarkt, Bericht vom 10.10.2003, A5 – 0346/2003 endg., S. 18. 461 KOM (2004) 351 endg., S. 3; siehe auch KOM (2005) 57 endg., S. 3. 462 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 463 Siehe oben Teil 1 § 2. 464 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 465 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 466 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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wie es bei den Vertretern der heute herrschenden Meinung in der Literatur der Fall ist.467 Der Kunstgriff des VI. Zivilsenats besteht darin, mit Hilfe der Entwicklungen der Rechtsordnung, die sich nach Erlass der EuGVO ereignet haben, auf den historischen Willen des Unionsgesetzgebers bei Erlass der EuGVO zu schließen. So wurde nach Auffassung des BGH der Grundstein für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) bereits mit Erlass der 4. KH-Richtlinie und damit vor Erlass der EuGVO gelegt.468 Das so bereits bestehende Auslegungsergebnis werde durch die nachfolgenden Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz lediglich unterstrichen. Mit diesem Ansatz umgeht der Senat das Problem, dass der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten möglicherweise erst durch die besagten Entwicklungen entstanden ist, wie es das OLG Wien in der Entscheidung vom 28.07.2006 angenommen hat.469 Trotzdem suchte der BGH nach einem methodischen Ansatz, um mit dem vom OLG Köln ignorierten Problem umzugehen, dass die Meinung eines späteren Gesetzgebers zur Auslegung eines früheren Gesetzes herangezogen wird. Um den nach Erlass der EuGVO ergangenen Hinweisen auf das richtige Auslegungsergebnis Beachtung schenken zu können, verweist der BGH daher auf die oben zitierte C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH.470 Obwohl der BGH dabei unterstreicht, dass Erwägungsgründe (Art. 296 AEUV, ex Art. 253 EGV) keine verbindlichen Rechtsvorschriften sind, sondern lediglich Mittel zur Auslegung des betreffenden Rechtsakts,471 entwickelt er damit einen methodischen Ansatz, um eine Brücke zum Erwägungsgrund 16a zu schlagen.472 cc) Zwischenergebnis Für die vorliegende Arbeit bietet die Begründung des VI. Zivilsenats des BGH zum Vorlagebeschluss vom 26.09.2006 den Vorteil, dass die methodischen Probleme bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht ignoriert werden. Im Gegenteil fällt auf, dass der Senat sichtlich darum bemüht ist, einen methodischen Ansatz zu finden, um den Besonderheiten bei der Auslegung des sich dynamisch 467

Siehe oben Teil 4 § 3 I. 2. BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 469 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. b) cc) (2). 470 Siehe oben Teil 1 § 3. 471 EuGH vom 13.07.1989, Rs. 215/88 (Casa Fleischhandel), Slg. 1989, 2789 (2808); der BGH verweist zudem auf Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts 2004, S. 171 ff. und Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften 1997, S. 253 ff. 472 BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72). 468

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Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

entwickelnden Sekundärrechts gerecht zu werden. Anders als die heute herrschende Meinung hält er dabei am historischen Willen des Unionsgesetzgebers fest, indem er die Position vertritt, dass zumindest die Fundamente eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten vor Erlass der EuGVO bereits mit der 4. KH-Richtlinie gesetzt wurden. Die Position des Geschädigten sei durch die nachfolgenden Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz weiter gestärkt worden, die der BGH über einen Verweis auf die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung des EuGH mit einbezieht.473 3. Entscheidung des EuGH, 13.12.2007 a) Argumentation in den eingereichten Erklärungen Zunächst werden die eingereichten Erklärungen der Mitgliedstaaten und Organe der Gemeinschaft dargestellt, die sich im Ergebnis alle der heute herrschenden Meinung angeschlossen haben, diese aber wiederum teilweise unterschiedlich begründen.474 Die Erklärungen folgen in weiten Zügen den schon dargestellten argumentativen Mustern der heute herrschenden Meinung. Die einzige Ausnahme macht hier die polnische Regierung und vertritt die oben dargestellte Mindermeinung.475 Der Geschädigte müsse demnach auch als Begünstigter i. S. v. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO qualifiziert werden.476 Im Übrigen wählen sowohl die deutsche Regierung als auch die Kommission den Wortlaut als Ausgangspunkt der Auslegung. Dabei machen die Erklärenden deutlich, dass ihrer Auffassung nach schon nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) die gesamte Regelung des Art. 9 EuGVO auf Klagen des Geschädigten anwendbar sei. Der Geschädigte müsse daher in Art. 11 EuGVO (Art. 9 EuGVO a. F.) selbst nicht nochmal erwähnt werden, da sonst auch der Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) obsolet wäre.477 Neben diesem bekannten Wortlautargument478 wird in allen eingereichten Erklärungen auf den Telos des Abschnitts Zuständigkeit für Versicherungssachen verwiesen. Im Erwägungsgrund 13 werde deutlich zum Ausdruck gebracht und durch die Recht-

473

BGH, Urt. v. 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72 f.). EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 16. 475 Siehe oben Teil 4 § 3 I. 3. 476 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 17. 477 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 17. 478 Siehe oben Teil 4 § 3 III. 2. a). 474

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

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sprechung des EuGH bestätigt,479 dass der Abschnitt dem Schutz der wirtschaftlich schwächeren Partei diene. Zielsetzung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO) sei es, diesen prozessualen Schutz von Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO) auf den Geschädigten zu erstrecken.480 Dabei unterstreichen die deutsche Regierung und die Kommission den in der EuGVO im Gegensatz zum EuGVÜ weiter ausgebauten Schutz.481 Abschließend stützen sich die Erklärenden auch darauf, dass „eine solche Auslegung durch die Richtlinie 2000/26 und insbesondere durch den Erwägungsgrund 16a dieser Richtlinie bestätigt werde.“482

Zwar handle es sich bei dem Erwägungsgrund 16a nicht um eine verbindliche Interpretationsvorgabe, aber doch um ein Argument von erheblichem Gewicht.483 b) Begründung des EuGH Der EuGH begründet das Auslegungsergebnis zunächst mit systematischen Erwägungen zum Abschnitt 3 des Kapitels II der EuGVO.484 Der Abschnitt „Zuständigkeit für Versicherungssachen“ schaffe Regeln, die zu den allgemeinen Regeln in Abschnitt I der EuGVO hinzukämen.485 Dabei stellt der EuGH zunächst das Zuständigkeitssystem des Abschnitts dar und die in diesem Abschnitt vorgesehenen Gerichtsstände für Klagen gegen den Versicherer mit Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.486 In das System der in Art. 11 Abs. 1 lit. a, b und Art. 11 EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. a, b und Art. 10 EuGVO a. F.) genannten Gerichtsstände verweist der Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) bei Klagen, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt.487 Es kommt daher für die 479 Hierbei wird auf folgende Entscheidungen verwiesen: EuGH vom 14.07.1983, Rs. C201/82 (Gerling Konzern Speziale Kreditversicherung u. a.), Slg. 1983, 2503; EuGH vom 13.07.2000, Rs. C-412/98 (Group Josi), Slg. 2000, I-5925, Rn. 64; EuGH vom 12.05.2005, Rs. C-112/03 (Société financière er industrielle du Peloux), Slg. 2005, I-3707, Rn. 30. 480 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 18 = NJW 2008, 819. 481 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 19. 482 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 483 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 20. 484 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 21. 485 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 21. 486 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 22. 487 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 22.

176

Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

Annahme eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten auch nach Auffassung des EuGH entscheidend darauf an, welche Tragweite dem Verweis beigemessen wird.488 Wörtlich heißt es in der Entscheidung: „Insbesondere ist festzustellen, ob diese Verweisung dahin auszulegen ist, dass durch sie nur den durch die letztgenannte Bestimmung bezeichneten Gerichten, d. h. den Gerichten des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten, die Zuständigkeit für die Entscheidung über die unmittelbare Klage des Geschädigten gegen den Versicherer zuerkannt wird [meine Anm.: Rechtsgrundverweis] oder ob aufgrund dieser Verweisung auf diese unmittelbare Klage die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung 44/ 2001 aufgestellte Zuständigkeitsregel des Wohnsitzes des Klägers angewandt werden kann [meine Anm. Rechtsfolgenverweis].“489

Dabei sei festzustellen, dass der Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht nur Personengruppen benennt, die damit die Möglichkeit haben, an ihrem eigenen Wohnsitz Klage gegen den Versicherer zu erheben. Er schaffe vielmehr sogar eine Regel für die Zuständigkeit bei Klagen gegen den Versicherer,490 „die den Personen die Befugnis zuerkennt, den Versicherer vor dem Gericht des Ortes ihres eigenen Wohnsitzes zu verklagen.“491

So gesehen wäre der Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) nicht nur eine Ausnahme sondern das prozessuale Gegenstück zu dem in Art. 2 Abs. 1 EuGVO kodifizierten Grundsatz „actor sequitur forum rei“. Ausgehend davon ist der EuGH der Auffassung, dass das Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung dem Wortlaut des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) unmittelbar zuwiderläuft.492 Denn mit Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) werde der Anwendungsbereich der in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO) kodifizierten Regel „auf anderen Kategorien von Klägern gegen den Versicherer als den Versicherungsnehmer, den Versicherten oder den Begünstigten aus dem Versicherungsvertrag erstreckt.“493

488 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 24. 489 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 24. 490 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 25. 491 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 25. 492 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 26. 493 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 26.

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

177

Damit bestehe die Funktion des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) darin, den Geschädigten zu den in Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) genannten Personen hinzuzufügen.494 Wörtlich heißt es dazu:495 „Denn die Verweisung auf diese Vorschrift durch Art. 11 Abs. 2 EuGVO dieser Verordnung ermöglicht die Erstreckung der Zuständigkeitsregel auf diese Rechtstreitigkeiten über die Zuordnung des Klägers zu einer der in dieser Vorschrift aufgeführten Kategorien hinaus.“

Neben diesen systematischen und auf den Wortlaut der Vorschrift basierenden Erwägungen stützt sich der EuGH auf das teleologische Auslegungskriterium. Mit Verweis auf den Erwägungsgrund 13 der EuGVO a. F. (heute Erwägungsgrund 18 der EuGVO) knüpft der EuGH an die bisher ergangene Rechtsprechung zum Schutz der schwächeren Partei durch besondere Zuständigkeitsregeln an, dem auch die auszulegenden Normen dienen.496 Dem Geschädigten die Klage am eigenen Wohnsitzgericht zu verweigern, würde diesen schlechter stellen als die anderen Personengruppen im Abschnitt „Zuständigkeit für Versicherungssachen“, was im „Widerspruch zum Geist der Verordnung“ stünde.497 Dabei betont auch der EuGH, dass der Schutz seit dem EuGVÜ ausgebaut worden sei.498 Durch den Erwägungsgrund 16a der 4. KH-Richtlinie sieht sich der EuGH lediglich in seiner Entscheidung bestätigt. Wörtlich heißt es hier:499 „In dieser Richtlinie hat der Unionsgesetzgeber nämlich nicht nur in Art. 3 die Zuerkennung eines Direktanspruchs des Geschädigten gegen das Versicherungsunternehmen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vorgesehen, sondern er hat auch ausdrücklich im Erwägungsgrund 16a auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/ 2001 Bezug genommen, um auf das Recht des Geschädigten hinzuweisen, eine Klage gegen den Versicherer vor dem Gericht des Ortes zu erheben, an dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat.“

Im letzten Abschnitt der Begründung hebt der EuGH nochmals den Grundsatz der autonomen Auslegung hervor und macht deutlich, dass es für die Anwendung und Auslegung der EuGVO keine Rolle spiele, wie die Klage im nationalen Recht zu

494 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 26. 495 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 27. 496 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 28. 497 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 28. 498 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 28. 499 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 29.

178

Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

kategorisieren sei.500 Einzige Voraussetzung sei, dass die unmittelbare Klage im nationalen Recht vorgesehen ist.501 c) Methodisches Vorgehen Bedauerlicherweise setzte sich der EuGH nur sehr kurz mit den Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz nach Erlass der EuGVO auseinander. Ähnlich wie zuvor der BGH sah sich der EuGH zwar durch den Erwägungsgrund 16a in seinem Auslegungsergebnis bestätigt. Er gab dabei aber keine Auskunft darüber, mit welchem methodischen Ansatz dem Erwägungsgrund 16a Beachtung geschenkt werden könne. So nahm er nicht auf seine eigene Entscheidung in der Rechtssache C.I.L.F.I.T Bezug wie es zuvor der BGH getan hatte.502 Interessant an der Begründung des EuGH ist, dass er, abgesehen von der Bestätigung durch Erwägungsgrund 16a, dem Willen des Unionsgesetzgebers keine gesonderte Beachtung schenkt. Neben dem Wortlaut legt er die Vorschriften mit Hilfe von systematischen und teleologischen Erwägungen aus. Nach den systematischen Erwägungen zum Verhältnis der allgemeinen und besonderen Zuständigkeitsvorschriften der EuGVO stellt der EuGH fest, dass der Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) eine Regel zur Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts bei Klagen gegen den Versicherer aufstellt. Eine Begründung dafür, wie er zu dieser Feststellung kommt, bleibt allerdings aus. Es wird daher nicht klar, warum das Auslegungsergebnis der ehemals herrschenden Meinung dem „Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 unmittelbar zuwiderlaufen“ soll,503 da der EuGH dieses Wortlautargument auf eben jene Regel stützt, die er zuvor festgestellt hat. Im Anschluss legt der EuGH die Vorschriften mit Hilfe teleologischer Erwägungen aus. Sinn und Zweck der auszulegenden Vorschriften ermittelt er dabei mit Hilfe des Erwägungsgrundes 13.504 d) Zwischenergebnis Der EuGH argumentiert praxisorientiert – eine Urteilsbegründung, von der auf den methodischen Umgang mit der Dynamik im europäischen Sekundärrecht geschlossen werden könnte, liefert er nicht. Auffällig ist allein, dass er weder dem historischen noch dem aktuelleren Willen des Gesetzgebers besondere Beachtung schenkt. 500 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 30. 501 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 30. 502 Siehe oben Teil 4 § 3 II. 503 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 26. 504 EuGH vom 13.12.2007, Rs. C-463/06 (FBTO Schadeverzekeringen), Slg 2007, I-11321, Rn. 28.

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

179

Auf die Entscheidung des EuGH vom 13.12.2007 hin hat der BGH am 06.05.2008 die Revision der Haftpflichtversicherung zurückgewiesen.505 In der weiteren Folge ist die deutsche Rechtsprechung bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) der Entscheidung des EuGH in der Sache FBTO Schadeverzekeringen gefolgt.506 Zuletzt hat der BGH die Entscheidung in der Sache FBTO Schadeverzekeringen im Urteil vom 24.02.2015 bestätigt.507 4. Bewertung der dargestellten Entscheidungen Die dargestellte Rechtsprechung, in denen sich die Gerichte für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ausgesprochen haben, hat auf die in dieser Arbeit im Fokus stehende Frage nach dem methodischen Umgang mit der Dynamik des Sekundärrechts unterschiedliche Antworten gefunden. Zunächst hat allein der BGH in seiner Begründung des Vorlagebeschlusses vom 29.09.2006 an den oben zitierten Ausgangspunkt der Überlegungen über einen methodischen Umgang mit der Dynamik des Sekundärrechts,508 nämlich an die C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH vom 06.10.1982, angeknüpft. Er hat sich damit als einziges Gericht der Frage gestellt, warum die Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz, zu denen es nach Erlass der auszulegenden Vorschriften gekommen ist, überhaupt für die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) von Bedeutung sein sollten. Nach Auffassung des BGH hat der EuGH durch seine Auslegungsanweisung in der C.I.L.F.I.T-Entscheidung deutlich gemacht, dass der Erwägungsgrund 16a als Indiz für den bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1

505

2429.

BGH, Urt. v. 06.05.2008 – VI ZR 200/05, NJW 2008, 2343; bestätigt in BGH NJW 2015,

506 Neben dem zitierten BGH, Urt. v. 06.05.2008 – VI ZR 200/05, beispielsweise OLG München, Urt. v. 18.01.2008 – 10 U 4502/07, BeckRS 2008, 2168; OLG Celle, Urt. v. 27.02.2008 – 14 U 211/06, NJW 2009, 86; OLG München, Urt. v. 14.03.2008 – 10 U 5007/06, BeckRS 2008, 7242; OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.07.2009 – 1 U 190/08, BeckRS 2009, 24910; OLG Zweibrücken, Urt. v. 29.09.2009 – 1 U 119/09, NZV 2010, 198; OLG Saarbrücken, Urt. v. 09.02.2010 – 4 U 449/09, NJOZ 2010, 1152; AG Geldern, Urt. v. 27.10.2010 – 4 C 356/10, NJW 2011, 686; BGH, Urt. v. 07.12.2010 – VI ZR 48/10, NJW-RR 2011, 417; LG Bonn, Urt. v. 21.09.2010 – 12 C 164/08, NZV 2010, 252; LG Saarbrücken, Urt. v. 09.03.2012 – 13 S 51/11, NJW-RR 2012, 885; AG Bergisch Gladbach, Urt. v. 02.02.2012 – 60 C 241/11, VersR 2012, 1027. 507 BGH, Urt. v. 24.02.2015 – VI ZR 279/14, NJW 2015, 2429. 508 Siehe oben Teil 1 § 2.

180

Teil 4: Der eigene Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten

lit. b EuGVO a. F.) zu beachtenden Entwicklungsstand der Rechtsordnung mit einzubeziehen sei.509 Abgesehen von der Tatsache, dass in den übrigen Entscheidungen auf einen vergleichbaren methodischen Ansatz verzichtet wurde, stützen sich die Auslegungsergebnisse aller Entscheidungen auf eben diese späteren Entwicklungen nach Erlass der EuGVO. Klammert man bei der Bewertung der dargestellten Entscheidungen zunächst das Urteil des EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen aus, so wird ein interessanter Unterschied zwischen der dargestellten Argumentation der heute herrschenden Meinung in der Literatur und den Begründungen der dieser Meinung zumindest im Ergebnis folgenden Entscheidungen der Rechtsprechung deutlich. Anders als für die heute herrschende Meinung spielt für die Richter, die zum gleichen Auslegungsergebnis kommen, der Wille des Gesetzgebers eine entscheidende Rolle in der Argumentation. Eine im Schwerpunkt auf objektiven Kriterien basierende Auslegung,510 wie sie sich im Rahmen der Argumentation der heute herrschenden Meinung abzeichnet, findet hier nicht statt. So versuchen beispielsweise der BGH511 und das OLG Wien512 in ihrer Argumentation noch vor Erlass der EuGVO einen Anknüpfungspunkt im europäischen Verkehrsopferschutz zu finden, in dem sich das heute herrschende Auslegungsergebnis bereits abzeichnet. Dieser Anknüpfungspunkt schafft die Voraussetzung für die Annahme, dass im Willen des Gesetzgebers bei Erlass der EuGVO bereits der Ausgangspunkt für die nachfolgenden Entwicklungen im europäischen Verkehrsopferschutz und damit für einen eigenen Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten angelegt war. Obwohl es auch mit dieser Argumentation richtig erscheint, den Willen des historischen Gesetzgebers als Fixpunkt in der Vergangenheit zu betrachten, enthält dieser dadurch einen die zukünftigen Entwicklungen des Sekundärrechts einbeziehenden Fokus. Nachfolgende Entwicklungen, auch wenn sie das Auslegungsergebnis wandeln, stehen so nicht gegen den historischen Willen des Gesetzgebers, sondern wurden vielmehr von diesem erwartet. Dieser Ansatz ist verwandt mit dem von Looschelders/W. Roth beschriebenen dynamisch verstandenen Willen des historischen Gesetzgebers,513 auf den sich der BGH in seiner Entscheidung auch bezieht.514 Demnach ist der historische Wille des

509 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. c) aa) (2); detailliert zur C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH siehe oben Teil 1 § 2. 510 Siehe oben Teil 4 § 3 II. 2. 511 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. c) aa) (2). 512 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. b) cc) (2). 513 Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 62 ff. 514 BGH, 26.09.2006 – VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 (72).

§ 3 Der Meinungsstreit in Literatur und Rechtsprechung

181

Gesetzgebers nicht statisch sondern dynamisch zu begreifen,515 da er sich bei Erlass der Vorschrift darüber bewusst war, dass sie einem Alterungsprozess ausgesetzt ist. Dieser Prozess entsteht in der europäischen Rechtsordnung gerade durch die Weiterentwicklung, die Dynamik des Rechts.516 Der Wille des historischen Gesetzgebers ist daher auch auf diese Dynamik des Rechts gerichtet.517 Die Ansätze des BGH und des OLG Wien ähneln zwar dem von Looschelders/ W. Roth entwickelten Ansatz des dynamischen Willens des Gesetzgebers, können aber nicht mit diesem gleichgesetzt werden. Denn in den Entscheidungen des BGH, des OLG Wien und letztlich auch der übrigen Gerichte, die sich für einen eigenen Gerichtsstand am Wohnsitz des Geschädigten ausgesprochen haben, wird der Gerichtsstand nicht nur auf den historischen Willen des Gesetzgebers gestützt, sondern auch auf einen aktuelleren. Bestes Indiz dafür ist, dass alle Entscheidungen auf den Erwägungsgrund 16a zurückgreifen. Diese Vermischung von historischem mit einem aktuelleren Willen des Gesetzgebers erscheint problematisch und ist insoweit auch zu kritisieren. Die fehlende Differenzierung in der Auslegung führt zu einer verminderten Rechtssicherheit für den Rechtsanwender. Es ist schlichtweg nicht mehr klar, wessen Wille im Rahmen der Auslegung zu ermitteln ist. Neben dieser Besonderheit in der Argumentation der analysierten Entscheidungen kann aus den übrigen Entscheidungen für die Frage nach dem methodischen Umgang mit der Dynamik des Sekundärrechts nur geringer Nutzen gezogen werden. Dies gilt insbesondere für die Entscheidung des EuGH vom 13.12.2007.518 Zwar zieht der EuGH den Erwägungsgrund 16a zur Begründung der Annahme eines eigenen Wohnsitzgerichtsstandes heran, darüber hinaus macht er aber keine Ausführungen zu der hinter diesem Vorgehen stehenden Methodik. Daneben ist zu kritisieren, dass der EuGH in seiner Entscheidung Behauptungen aufstellt und mit Hilfe dieser Behauptungen sein Auslegungsergebnis begründet.519 Anders als die übrigen dargestellten Entscheidungen, in denen sich die Richter für einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten ausgesprochen haben, ist der Argumentation des EuGH die der heute herrschenden Meinung hinzuzurechnen, die die Auslegung verobjektiviert: Der Wille des Gesetzgesetzgebers spielt eine zu vernachlässigende Rolle und das Urteil wird überwiegend auf systematische und teleologische Erwägungen gestützt.520 515

S. 63 f. 516

S. 64. 517

Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996,

Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 62 ff.; in diese Richtung auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 2003, S. 140. 518 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 3. 519 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 3. b). 520 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 3. c).

Teil 5

Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts § 1 Ein Recht im Werden Riesenhuber zitiert im ersten Teil seines Werkes „System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts“ den häufig verwendeten Ausspruch, dass das Europäische Recht mehr noch als das nationale Recht der Mitgliedstaaten ein „Recht im Werden“ sei.1 Ein Werden, das für den Bereich des Europäischen Sekundärrechts anhand der einführend beschriebenen Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts ausführlich dargestellt worden ist2 und im systematischen Umfeld des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) zu erheblichen Veränderungen geführt hat.3 Der EuGH hat in diesem Prozess nach Art. 19 Abs. 1 EUV die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung der Verträge der Union zu sichern.4 Dabei geht es auch darum, den in den Verträgen festgelegten integrativen Prozess selbst zu schützen5 und so die weitere zielgerichtete Entwicklung der Rechtsordnung sicherzustellen.6 Dass dies wie bereits in der Problemstellung angenommen und aus dem zitierten Abschnitt der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung entnommen,7 auch dazu führt, dass der EuGH Einzelbestimmungen des Sekundärrechts mit fortschreitender Integration entsprechend dem erreichten Entwicklungsstand, also dynamisch auslegt, wird durch die Begründung der Entscheidung vom 13.12.2007 in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen bestätigt.8 Zwar ging der EuGH in seiner Begründung zu1

Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, 2003, S. 62; so auch Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 1; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (531). 2 Siehe oben Teil 2 § 2. 3 Siehe Auslegungsergebnis der heute herrschenden Meinung unter Teil 4 § 3 I. 2. 4 Siehe oben Teil 3 § 2. 5 Zum integrativen Prozess siehe oben Teil 2 § 1. 6 In diese Richtung: Kutscher, EuR 1981, S. 392 (399 ff.). 7 Siehe oben Teil 1 § 2; vgl. EuGH vom 06.10.1982, Rs. C-283/81 (C.I.L.F.I.T.), Slg 1982, 3415; auch dargestellt bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, 2009, S. 266 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 267 AEUV Rn. 33; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 239 f. 8 H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (879 ff.).

§ 2 Abgrenzung von der dynamischen Auslegung des Primärrechts

183

rückhaltender vor als das OLG Köln und letztlich auch der BGH,9 da er das Auslegungsergebnis durch den Erwägungsgrund 16a nicht begründet sondern nur bestätigt sieht.10 Trotzdem bedeutet das Heranziehen des Erwägungsgrunds 16a, dass – wie in der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung angekündigt – bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) der Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts zur Zeit der Anwendung berücksichtigt wurde. Weiter wird an der Entscheidung FBTO Schadeverzekeringen deutlich, dass sich die dynamische Auslegung des Sekundärrechts nicht nur – wie von Teilen der Literatur angenommen – auf die Auslegung unbestimmter Rechtbegriffe auswirkt.11 Es ist vielmehr davon auszugehen, dass letztlich innerhalb des vom Wortlaut umgrenzten Rahmens grundsätzlich die Möglichkeit besteht,12 dass eine Vorschrift entsprechend der nachfolgenden Entwicklungen auszulegen ist. Wenn der Wortlaut so weit gefasst ist, wie im Fall des Verweises von Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) auf den Art. 11 (Art. 9 EuGVO a. F.), ist der Rahmen und damit der Raum für die zu beachtenden, nachfolgenden integrativen Entwicklungen entsprechend groß.13

§ 2 Abgrenzung von der dynamischen Auslegung des Primärrechts Die einführenden Überlegungen dieser Arbeit, die dargestellte Methodik des Europäischen Sekundärrechts, die anschließende Analyse des Meinungsstreits über die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) und die Entscheidungen des Instanzenzugs in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, die dynamische Auslegung des Sekundärrechts von der dynamischen Auslegung des Primärrechts zu differenzieren.14 Die Gründe, die zu beachtenden Grundsätze und letztlich auch die möglichen Lösungsansätze für die dynamische Auslegung des Primärrechts können nicht auf die dargestellte Problematik im Sekundärrecht übertragen werden. 9 Entscheidung des OLG Köln oben unter Teil 4 § 3 V. 1. b); Entscheidung des BGH oben unter Teil 4 § 3 V. 1. c); H. Roth, in: FS für Konuralp, 2009, S. 869 (879 f.). 10 Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. c) aa). 11 In diese Richtung Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 239. 12 Zur Umgrenzungsfunktion der grammatischen Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 III. 1.; so auch Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (532). 13 Zum Problem des weit gefassten Wortlauts von Art. 13 Abs. 2 EuGVO siehe oben Teil 1 § 3 I. 3. 14 Zur dynamischen Auslegung des Primärrechts zum Beispiel Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 239; Müller/ Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 505 ff.

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Teil 5: Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts

Zwar steht auch hinter der dynamischen Auslegung des Europäischen Primärrechts der Grundsatz, dass die Regelungen ein Teil im Prozess der fortschreitenden Integration Europas sind und daher auch mit dem grundsätzlichen Willen gefasst wurden, diese entsprechend dem Stand der Europäischen Integration fortzubilden.15 Aber der Grund für die Annahme, dass die bestehenden Regelungen des Primärrechts dynamisch auszulegen sind, liegt im nach wie vor schwerfälligen Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV. Das höhere Ziel der fortschreitenden europäischen Integration in Kombination mit der Tatsache der erschwerten Anpassungsmöglichkeit des Primärrechts an den erreichten status quo dieser Integration führt dazu, dass für den Bereich des Primärrechts der rechtsprechenden Gewalt die besondere Aufgabe zugesprochen wird,16 mit Hilfe der dynamischen Auslegung das Primärrecht entsprechend den Entwicklungen der Wirklichkeit dynamisch anzupassen.17 Eine Aufgabe, die der EuGH auch wahrnimmt.18 Der Grund für die dynamische Auslegung im Europäischen Sekundärrecht durch den EuGH ist – wie an den obenstehenden Ausführung zur Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts19 und der Beschreibung der Entwicklung des eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten nach Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) deutlich geworden ist – ein anderer: Die fortschreitende Integration, die zu dem stetigen Wachstum des Sekundärrechts führt,20 hat den kontinuierlichen Ausbau einer grundsätzlich einheitlichen Rechtsordnung zur Folge. Der EuGH legt daher das Sekundärrecht über die evolutive Auslegung – insoweit passt diese Bezeichnung für die dynamische Auslegung des Sekundärrechts hier besser – nach dem Entwicklungsstand dieses zusammenhängenden Wachstums zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift aus.21 Die dynamische Auslegung des Sekundärrechts basiert damit auf systematischen Überlegungen, während der dynamischen Auslegung des Primärrechts – wie generell bei völkerrechtlichen Verträgen – praktische Überlegungen zugrunde liegen.22 15

Ophüls, in: FS für Müller-Armack, 1961, S. 279 (289). Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 239. Hier findet sich auch ein Beispiel für die dynamische Auslegung des Primärrechts aus der Rechtsprechung des EuGH: EuGH Gutachten 1/78 (Internationales NaturkautschukÜbereinkommen), Slg. 1979, S. 2871 ff. 17 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 511; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 239. 18 So zum Beispiel: EuGH Gutachten 1/78 (Internationales Naturkautschuk-Übereinkommen), Slg. 1979, S. 2871 ff.; weitere Beispiele bei Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II Europarecht, 3. Auflage 2012, Rn. 506 ff. 19 Siehe oben Teil 2 § 2. 20 Siehe oben Teil 2 § 2. 21 Siehe oben Teil 2 § 2; vgl. dazu Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 66; Herresthal, ZEuP 2009, 598 (603). 22 Zur evolutiven Auslegung völkerrechtlicher Verträge vgl. Greschek, Die evolutive Auslegung völkerrechtlicher Verträge am Beispiel des GATT, 2012. 16

§ 3 Methodischer Umgang mit der Dynamik

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§ 3 Methodischer Umgang mit der Dynamik Bedauerlicherweise hat der EuGH in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen die Chance verpasst, die in der Problemstellung zitierte Formulierung der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung23 zu präzisieren. So ist er zwar auf den Erwägungsgrund 16a eingegangen, hat hierzu aber keine weiteren methodischen Ausführungen gemacht und diesen lediglich als Bestätigung für das bereits gewonnene Auslegungsergebnis gewertet. Gerade um dem Rechtsanwender bei der dynamischen Auslegung den Rückgriff auf den aus methodischer Sicht eher als Notlösung zu bezeichnenden effet utile zu ersparen,24 ist es aber unerlässlich, dass zumindest die Grundsätze des methodischen Umgangs mit der Dynamik des Europäischen Sekundärrechts klar sind. Aufgrund der Analyse der heute herrschenden Meinung einerseits und der Begründungen der ihr Ergebnis befürwortenden richterlichen Entscheidungen andererseits wird deutlich, dass diese Grundsätze eine Antwort auf die folgende Frage liefern müssen: Wie kann sich der Rechtsanwender bei einer dynamischen Auslegung des Sekundärrechts sicher sein, dass sich die Entwicklungen innerhalb des Sekundärrechts so auf die auszulegende Vorschrift ausgewirkt haben, dass das Auslegungsergebnis diesen Entwicklungen entsprechend dynamisch angepasst werden muss?

I. Probleme der dynamischen Auslegung Um die vorstehende Frage zu beantworten und damit Grundsätze für den methodischen Umgang mit der Dynamik des Rechts definieren zu können, sind zwei eng miteinander verknüpfte Probleme zu lösen: Erstens muss das Verhältnis von subjektiven und objektiven Elementen innerhalb der Vereinigungstheorie geklärt werden.25 Es stellt sich die Frage, wie sich der objektivierte Wille des Gesetzgebers in einer integrativen Rechtsordnung zusammensetzt, in der die einzelnen Vorschriften entsprechend dem Entwicklungsstand der Integration dynamisch ausgelegt werden (Ziel der Auslegung).26 Zweitens – und abhängig von der obigen Frage – muss geklärt werden, welche Mittel für die Auslegung zur Verfügung stehen, um das oben genannte Ziel unter Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und mit einem möglichst hohen Maß an Praktikabilität zu erreichen (Kriterien der dynamischen Auslegung).

23 24 25 26

Siehe oben Teil 1 § 2. Siehe dazu bereits oben Teil 3 § 3 III. 4. a) bb). Siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. Allgemein zum Ziel der Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 II.

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Teil 5: Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts

1. Ziel der Auslegung

Verobjektivierung des Auslegungsergebnisses

Wie bereits in § 3 des Teil 3 (Methodik des Europäischen Sekundärrechts) dargestellt,27 hängt sowohl die Möglichkeit als auch die Form einer dynamischen Auslegung des Europäischen Sekundärrechts von der Ausgestaltung des objektivierten Willens des Gesetzgebers als Ziel der Auslegung ab.28 In der Theorie stellte sich diese Ausgangssituation folgendermaßen dar: Räumt man der Dynamik bei der Auslegung der Vorschriften des Sekundärrechts Raum ein, so verliert innerhalb der Vereinigungslehre der subjektive Teil der Auslegung mit dem fortschreitendem Alter des Rechtsaktes an Gewicht.29 Denn der integrative Fortschritt hat in der Zwischenzeit die Wirklichkeit der Rechtsordnung verändert und sie damit von dem Zustand entfernt, den der historische Gesetzgeber bei Erlass des Rechtsaktes regeln wollte.30 Durch die aus diesem Prozess resultierende besondere Gewichtung der objektiven Kriterien wird also das Auslegungsergebnis im Laufe der Zeit verobjektiviert.31 Dieses theoretische Prinzip der Verobjektivierung der Auslegung mit fortschreitender Integration lässt sich grafisch folgendermaßen darstellen:

Fortschreitende Integration

Abbildung 2: Prinzip der Verobjektivierung der Auslegung

27 28 29 30 31

Siehe oben Teil 3 § 3. Siehe oben Teil 3 § 3 II. 4. Siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. Leisner, EuR 2007, 689 (693). Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 104 ff.

§ 3 Methodischer Umgang mit der Dynamik

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Übertragen auf den dargestellten Beispielsfall hatten die Vertreter der ehemals herrschenden Meinung, die den Entwicklungen im systematischen Umfeld des Art. 13 Abs. 2 EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO a. F.) keine Beachtung schenkten bzw. nicht davon ausgingen, dass diese Entwicklungen Auswirkungen auf die Auslegung des Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) haben würden,32 den großen Vorteil, dass sie die Anschlussfrage der Vereinigungslehre33 nicht beantworten mussten. Denn wie weit fortgeschritten der Prozess der Verobjektivierung zum Zeitpunkt der jeweiligen Auslegung bereits ist, und, übertragen auf die Grundsatzfrage der dynamischen Auslegung, ob dieser Fortschritt bereits ausreicht, um das Auslegungsergebnis entsprechend der Entwicklungen im systematischen Umfeld der auszulegenden Vorschriften anzupassen, spielte für die Vertreter der ehemals herrschenden Meinung keine Rolle.34 Damit wird deutlich, dass mit dem Ansatz, den historischen Willen des Unionsgesetzgebers besonderes zu gewichten, auch ein hohes Maß an Rechtssicherheit verbunden ist,35 denn das Auslegungsergebnis ist insbesondere durch die Ausführungen im Bericht von P. Jenard vorgegeben.36 Genau an dieser Stelle liegt das große Problem des eben grafisch dargestellten Prinzips der Verobjektivierung, das aufgrund des fragmentarischen Charakters der Europäischen Rechtsordnung noch verschärft und auch in der Argumentation der heute herrschenden Meinung deutlich wird:37 Dadurch, dass dem Willen des historischen Gesetzgebers weniger Beachtung geschenkt wird, kommt es auch zu deutlichen Einschnitten in der Rechtssicherheit. Denn es ist nicht eindeutig feststellbar, wo der genaue Zeitpunkt liegt, an dem sich das Auslegungsergebnis wandelt, also welche konkrete Entwicklung dazu geführt hat, dass die Vertreter der heute herrschenden Meinung heute einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten bejahen. Während hierbei einige Stimmen in der Literatur erst im Erwägungsgrund 16a die ausschlaggebende Entwicklung sehen, ziehen anderen Stimmen den Erwägungsgrund 16a nur sehr zurückhaltend heran und halten im Gegenzug den eigenen Gerichtsstand des Geschädigten bereits deutlich früher für begründet.38 Generell bleibt daher innerhalb der Argumentation der heute herrschenden Meinung unklar, welche konkrete Entwicklung schlussendlich dazu geführt hat, dass heute ein eigener Gerichtsstand des Geschädigten bejaht wird. Dabei ist bezeichnend, dass sich insbesondere bei den Stimmen, die den Gerichtsstand hauptsächlich mit dem Ausbau des europäischen Verkehrsopfer32 33 34 35 36 37 38

Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. Siehe oben Teil 3 § 3 II. 3. Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. Siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. Siehe oben Teil 4 § 3 II. 1. Siehe oben einleitend Teil 4 § 3 I. 2. Siehe oben Teil 4 § 3 I. 2.

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Teil 5: Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts

schutzes begründen, ein genauer Zeitpunkt des Wandels nicht bestimmen lässt. Als maßgeblich gelten hier sowohl die Umsetzung der 4. KH-Richtlinie als auch die Wertungen der 5. KH-Richtlinie. Argumentativ wird auch auf die 6. KH-Richtlinie und die Rom II-VO zurückgegriffen. Damit wird deutlich, dass auch mit der grundsätzlichen Annahme einer über die fortschreitenden Entwicklungen der Rechtsordnung stattfindenden verobjektivierten Auslegung die Frage nach den Mitteln, um im Rahmen dieser Entwicklungen zu einem dem Grundsatz der Rechtssicherheit entsprechendem Auslegungsergebnis zu kommen, noch nicht beantwortet ist. Zusätzlich erschwert wird die Beantwortung dieser Frage dadurch, dass, anders als in der vorstehenden Abbildung, der linear dargestellte Vorgang der Verobjektivierung in der Realität ungleichmäßig und in Schüben stattfindet. Wie sich an der Europäisierung des Europäischen Zivilprozessrechts zeigt, hängt es vom politischen Willen des Unionsgesetzgebers und der Mitgliedstaaten ab, ob es zu einem weiteren integrativen Fortschritt kommt und in welchem Umfang dieser ausfällt.39 So war die galoppierende Entwicklung des Europäischen Zivilprozessrechts erst mit der Kompetenzübertragung durch den Vertrag von Amsterdam40 möglich. Wie diese neue Kompetenz ausgeschöpft werden sollte, musste wiederum erst durch den Unionsgesetzgeber beschlossen werden (vgl. den Beschluss von Tampere).41 Wie groß der Unterschied zwischen Theorie und Praxis bei einer Verobjektivierung ist, wird deutlich, wenn man die oben auf dem Zeitstrahl dargestellten Entwicklungen im systematischen Umfeld des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) in die Grafik zur Darstellung der Verobjektivierung überträgt.42 Der Zusammenhang zwischen Integration und Verobjektivierung des Auslegungsergebnisses stellt sich dann nicht mehr linear, sondern treppenförmig dar:

39

Siehe oben Teil 2. Siehe oben Teil 2 § 2 I. 1. 41 Vgl. beispielsweis den Beschluss von Tampere oben Teil 2 § 2 I. 2. 42 Grafik zur Entwicklung des Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten oben unter Teil 4 § 1 I. 2. b). 40

§ 3 Methodischer Umgang mit der Dynamik

189

Bedeutung der anderen Auslegungskriterien: Wortlaut, teleologische Bedeutung, systematische Bedeutung...

EuGVÜ Vertrag von Amsterdam 1968

1999

4. KH- EuGVO Ums. 4. KHRichtlinie Richtlinie 07/2000

12/2000

2002

5. KHRichtlinie 2005

Rom II-VO

11/2007

6. KHRichtlinie 2009

– Fortschreitende Integration –

Abbildung 3: Verobjektivierung am Beispiel von Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO

Bei der theoretischen Darstellung in Abbildung 3 bestand grundsätzlich noch die Möglichkeit, ein gewisses Maß an Rechtssicherheit aus dem linearen Verlauf der Verobjektivierung ableiten und so darauf schließen zu können, ob das Auslegungsergebnis dynamisch angepasst werden muss. In der grafischen Darstellung des praktischen Beispiels ist jedoch deutlich zu sehen, dass diese Möglichkeit in der Realität nicht besteht. Die Zeitpunkte der Integrationsschübe erfolgen unregelmäßig, und deren Auswirkungen auf die Verobjektivierung und somit auf das Auslegungsergebnis sind daher nicht vorhersehbar. 2. Kriterien einer dynamischen Auslegung Nach den eben gemachten Ausführungen zum Ziel der Auslegung in einer Rechtsordnung, in der sich das Auslegungsergebnis entsprechend dem Entwicklungsstand verändert, wird deutlich, dass die Kriterien der dynamischen Auslegung den Rechtsanwender in die Lage versetzen müssen, das sich wandelnde Auslegungsergebnis zu erfassen. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die teleologische und die systematische Auslegung im weiteren Sinn. Da der Verweis auf diese beiden Auslegungskriterien allein aber noch kein dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügendes Auslegungsergebnis liefert, müssen diese Kriterien als Motor der dynamischen Auslegung mit einem rechtssichernden Faktor verknüpft werden. Dieser rechtssichernde Faktor muss auch im Europäischen Sekundärrecht der Wille des

190

Teil 5: Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts

historischen Gesetzgebers sein. Nur unter dessen Beachtung ist es möglich, die Vorschriften des Sekundärrechts dynamisch auszulegen und gleichzeitig ein notwendiges Maß an Rechtssicherheit zu gewährleisten. Den beiden Auslegungskriterien der Verobjektivierung, der teleologischen und systematischen Auslegung, werden insoweit durch den historischen Willen des Gesetzgebers Grenzen gesetzt. Diesem Pendel aus Wandel und Kontinuität entsprechend, messen die Richter in ihren Ausführungen zur Bejahung eines eigenen Wohnsitzgerichtsstands des Geschädigten dem Willen des Gesetzgebers große Bedeutung zu.43 So stützen sowohl das OLG Wien als auch der BGH, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, ihre Urteilsbegründungen auf den Willen des Gesetzgebers als stabilisierenden und für Rechtssicherheit sorgenden Faktor in einem evolutiven System.44 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für die dynamische Auslegung des Sekundärrechts die teleologische und systematische Auslegung im weiteren Sinn zwar die treibenden Kräfte des Wandels sind. 45 Diese beiden Auslegungskriterien sind aber aus Gründen der Rechtssicherheit s mit dem historischen Willen des Gesetzgebers zu verknüpfen. Um im Rahmen dieser Arbeit mit einem Ergebnis abzuschließen, das möglichst einfach und direkt in der Praxis umgesetzt werden kann, wird nachstehend der Versuch unternommen, diese Verknüpfung in konkrete Auslegungsanweisungen zu fassen, die neben den grundsätzlichen Regeln zur Auslegung des Sekundärrechts und zum Rangverhältnis der Auslegungskriterien beachtet werden sollten:46 a) Auslegungskorridor des historischen Gesetzgebers Besteht die Möglichkeit, dass sich das Auslegungsergebnis einer Vorschrift aufgrund der Dynamik des Europäischen Sekundärrechts gewandelt hat, sollte der Rechtsanwender in einem ersten Schritt über die subjektiv-teleologische Auslegung ermitteln, welches Ziel und welchen Zweck der historische Gesetzgeber bei Erlass der auszulegenden Vorschrift verfolgte. Hintergrund ist, dass der Unionsgesetzgeber bei Erlass von Gesetzen den nachfolgenden Entwicklungen und damit der fortschreitenden Integration bereits einen Spielraum gewährt, der bei der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts eine erste Richtung vorgibt. Verbildlicht kann man insoweit von einem „Korridor“ möglicher zukünftiger Auslegungsergebnisse sprechen. Zur Ermittlung dieses

43

Siehe oben Teil 4 § 3 V. Siehe oben Teil 4 § 3 V. 1. b) cc) (2). 45 Zur teleologischen Auslegung siehe oben Teil 3 § 3 III. 4. und zur systematischen Auslegung unter Teil 3 § 3 III. 2. 46 Allgemein zum Rangverhältnis der Auslegungskriterien siehe beispielsweise Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 (534); zu den Besonderheiten der Auslegung des Sekundärrechts siehe oben Teil 3 § 3. 44

§ 3 Methodischer Umgang mit der Dynamik

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Korridors dienen dem Rechtsanwender unter anderem die besagten Erwägungsgründe. b) Der Einfluss des aktuelleren Willen des Gesetzgebers Der im ersten Schritt über den historischen Willen des Gesetzgebers ermittelte Auslegungskorridor liefert indes noch kein konkretes Auslegungsergebnis. Es stellt sich daher die Frage, wie sich das mögliche Auslegungsergebnis in einem weiteren Schritt eingrenzen lässt, um zu einem dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügenden Ergebnis zu gelangen. Der stark umstrittene Punkt bei der Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) war der Umgang mit dem Erwägungsgrund 16a.47 Dadurch, dass der EuGH seine Entscheidung in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen auch auf den Erwägungsgrund 16a stützt, wird klar, dass das im Auslegungskorridor liegende Auslegungsergebnis auch über den aktuellen Willen des Unionsgesetzgebers zu ermitteln ist. Dynamische Auslegung des Europäischen Sekundärrechts bedeutet damit auch, dass dem Willen des Gesetzgebers Beachtung geschenkt wird, der für die nachfolgenden Entwicklungen, also für eben diese Dynamik verantwortlich ist. Zusammengefasst öffnet der historische Gesetzgeber schon bei Erlass eines Unionsrechtsaktes Raum für nachfolgende Entwicklungen; dieser Rahmen ist in einem ersten Schritt zu ermitteln. Imzweiten Schritt ist innerhalb dieses Auslegungskorridors unter Beachtung des für die maßgeblichen Entwicklungen verantwortlichen Willens des aktuellen Gesetzgebers mittels der objektiv-teleologischen und der systematischen Auslegung das Auslegungsergebnis zu suchen. Übertragen auf den Beispielfall in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen ist der Entscheidung des OLG Köln daher insoweit nicht zuzustimmen, als sich das Gericht nach Art. 20 Abs. 3 GG dazu verpflichtet sah, den Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) entsprechend den Vorgaben des Erwägungsgrundes 16a auszulegen. Vielmehr ist den Entscheidungen des BGH und des EuGH zuzustimmen: Es handelt sich bei dem Erwägungsgrund 16a nur um einen Hinweis auf das richtige Auslegungsergebnis. Ausgehend vom Wortlaut der auszulegenden Vorschrift wird der vom historischen Gesetzgeber festgelegte Auslegungskorridor vielmehr durch den Erwägungsgrund 18 EuGVO (Erwägungsgrund 13 EuGVO a. F.) vorgegeben und ist mit Hilfe der subjektiv-teleologischen Auslegung zu bestimmen.

47 Für die ehemals herrschende Meinung siehe oben Teil 4 § 3 I. 1. und für die heute herrschende Meinung unter Teil 4 § 3 I. 2.

192

Teil 5: Grundsätze der dynamischen Auslegung des Sekundärrechts

II. Ergebnis Der EuGH hat durch seine Entscheidung in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen trotz der knappen Urteilsbegründung und der fehlenden Ausführungen zum methodischen Vorgehen seine oben zitierte Anweisung48 in der C.I.L.F.I.T.Entscheidung zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Bezug auf das Sekundärrecht bestätigt. Es wird deutlich, dass der Rechtsanwender das Sekundärrecht dynamisch und entsprechend den maßgeblichen Entwicklungen auszulegen hat. Dabei ist wie auch in der deutschen Rechtsordnung zu beachten, dass es Ziel der Auslegung ist, den objektivierten Wille des Gesetzgebers zu ermitteln. Die durch die fortschreitende Entwicklung des Sekundärrechts stattfindende Verobjektivierung des historischen Willens des Unionsgesetzgebers schlägt sich über die teleologische Auslegung und die systematische Auslegung im Auslegungsergebnis nieder. Entgegen der anfänglichen Vermutung spielen sowohl der historische Wille des Gesetzgebers als auch der Wille spätere Gesetzgeber bei der dynamischen Auslegung eine maßgebliche Rolle. Zum einen wird der dynamischen Auslegung vom historischen Willen des Gesetzgebers ein Rahmen gesteckt (Auslegungskorridor), da dieser Ziel und Zweck der Vorschrift und damit auch einen Korridor für die möglichen nachfolgenden Entwicklungen der Auslegung vorgibt. Zum anderen hat der EuGH in seiner Entscheidung in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen zumindest indirekt deutlich gemacht, dass Verobjektivierung im Europäischen Sekundärrecht auch bedeutet, dass der aktuelle Wille des Gesetzgebers, der für die maßgebliche Entwicklung des Sekundärrechts verantwortlich ist, bei der Auslegung des älteren Rechts zu beachten ist. Eine verobjektivierte Auslegung unter Beachtung weder des historischen noch des aktuelleren Willens des Gesetzgebers ist hingegen abzulehnen, da in diesem Fall nicht ersichtlich ist, wie ein dem Grundsatz der Rechtssicherheit gerecht werdendes Auslegungsergebnis ermittelt werden kann.

48

Siehe oben Teil 1 § 2.

Schlussbetrachtung Die deutsche und die europäische Rechtsanwendung, hier am Beispiel des Europäischen Sekundärrechts, unterscheiden sich in scheinbar kleinen Details. Der Meinungsstreit um die korrekte Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) und die Entscheidungen in der Rechtssache FBTO Schadeverzekeringen haben indes die großen Auswirkungen dieser kleinen Details für die Rechtsanwendung deutlich gemacht. An der ehemals herrschenden Meinung zur Auslegung des Art. 13 Abs. 2 i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO (Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVO a. F.) ist dabei weniger zu bemängeln, dass sie einen eigenen Wohnsitzgerichtsstand des Geschädigten ablehnt, als dass die Meinung sich mit nur wenigen Ausnahmen dem Problem der Dynamik des Sekundärrechts und damit einem Grundprinzip der Europäischen Rechtsordnung insgesamt verschließt. Die heute herrschende Meinung hingegen versucht, die Dynamik des Europäischen Sekundärrechts methodisch zu erfassen, indem sie Entwicklungen, zu denen es nach Erlass der auszulegenden Vorschriften gekommen ist, in ihre Auslegung einbindet. Obwohl hierbei im Detail noch verschiedene methodische Ansätze angewendet werden, überzeugt doch der dahinterstehende Grundgedanke. Denn nur, wenn sich der durch die nationale Rechtsordnung geprägte Rechtsanwender auf die Besonderheiten der supranationalen Rechtsordnung – und damit auch auf die fortschreitende Integration Europas – einlässt, kann er ein Auslegungsergebnis erzielen, das den Besonderheiten und dem höheren Ziel der Europäischen Union gerecht wird.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:

Zeitliche Entwicklung der jeweils vorherrschenden Meinung Prinzip der Verobjektivierung der Auslegung Verobjektivierung am Beispiel von Art. 13 Abs. 2 EuGVO i. V. m. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVO

S. 106 S. 186 S. 189

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Sachwortverzeichnis 4. KH-Richtlinie 24, 25, 44, 47, 48, 76, 91, 98, 103, 105, 108, 109, 110, 112, 113, 121, 122, 144, 145, 154, 155, 156, 158, 165, 172, 173, 174, 177, 188, 200 5. KH-Richtlinie 24, 103, 110, 112, 144, 145, 155, 156, 165, 167, 169, 171, 172, 188, 206 Acte-clair-Doktrin 61 Auslegungskorridor 13, 190, 191, 192 Auslegungskriterien 76, 77, 79, 82, 84, 85, 86, 88, 92, 93, 94, 95, 102, 147, 149, 161, 189, 190, Autonome Auslegung 11, 72, 73 BREXIT

16, 29

EuGVÜ 11, 12, 34, 35, 36, 93, 94, 95, 104, 105, 106, 107, 109, 114, 115, 116, 127, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 139, 138, 139, 143, 144, 146, 147, 148, 152, 154, 157, 158, 160, 161, 162, 164, 167, 175, 177, 189, 199, 200, 201, 202 Europäischer Justizraum 33, 34, 36, 39, 50 Europäisches Primärrecht 184 Grammatischer Auslegung 11, 12, 83, 86, 87, 140, 148 Grundsatz der Prozessökonomie 65 Haager Übereinkommen 124, 147 Historische Auslegung 11, 12, 79, 91, 93, 94, 131, 143, 152, 200

C.I.L.F.I.T.-Entscheidung 17, 18, 24, 26, 40, 44, 48, 51, 52, 65, 66, 68, 88, 157, 172, 173, 179, 178, 182, 183, 185, 192 Cassis de Dijon-Formel 67 CISG 58, 59, 199, 200, 204

Integrationsdruck 38, 39 Inter partes-Wirkung 63

Da Costa-Entscheidung 65 Dassonville-Formel 67 Direktanspruch gegen den Versicherer 106, 109, 120, 127, 129, 137, 146, 167, 200 Dynamik des Europäischen Sekunddärrechts 9, 27, 28, 29, 32, 38, 78, 90, 100, 159, 160, 161, 178, 185, 190, 193 Dynamische Auslegung 51, 66, 79, 98, 183, 184, 190, 191, 195 Dynamische Europäisierug 30

Keck-Formel

Effet Utile 11, 97, 98, 185, 205 Erga omnes-Wirkung 64, 66, 69 Erwägungsgrund 12, 24, 25, 44, 45, 47, 48, 74, 76, 80, 91, 103, 105, 112, 113, 144, 145, 156, 157, 159, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 172, 173, 175, 177, 178, 179, 181, 183, 185, 187, 191

Justizielle Rechtsangleichung

60

67, 68

Lex posterior-Regel 10, 41, 42, 43 Lex specialis-Regel 10, 42, 43 Lex superior-Regel 10, 41, 43, 44, 45 Mehrsprachenauthentizität 11, 83, 84, 85 Methodenlehre 10, 16, 17, 25, 26, 38, 39, 42, 43, 45, 46, 48, 49, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 62, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 96, 97, 98, 149, 160, 161, 181, 196, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 206 Methodik der Rechtsanwendung 54, 56 Objektive Theorie 11, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 95, 100 Objektiv-teleologischen Auslegung 95, 191

208

Sachwortverzeichnis

P. Jenard 12, 34, 93, 94, 104, 107, 114, 116, 122, 129, 132, 133, 134, 136, 147, 148, 152, 158, 160, 187 Rechtsfortbildung 31, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 61, 68, 196, 198, 206 Rechtsquellenlehre des Unionsrechts 62 Relationsnormen des Unionsrechts 10, 40 Relativität der Rechtsbegriffe 11, 50, 86, 87, 89 Savigny’sche Auslegungskanon 71 Schadensregulierungsbeauftragte 109, 110, 144, 146, 154 Sondergipfel von Tampere 34, 35 Spillover-Effekt 9, 38, 39, 46, 90 Subjektive Theorie 11, 74, 75, 76, 77, 79, 80, 95, 100, 102, 159 Subjektiv-teleologische Auslegung 11, 92, 95, 97, 98, 190, 191 System der Grünen Karte 107, 108, 204 Systematische Auslegung 11, 12, 88, 89, 90, 91, 92, 107, 136, 141, 149, 158, 189, 190, 192

Teleologische Auslegung 11, 12, 94, 95, 96, 107, 136, 145, 152, 158, 177, 189, 190, 192, 198 Telos der Norm 96 Van Gend & Loos 15, 16, 82, 201, 202 Verkehrsopferschutz 12, 25, 105, 107, 108, 120, 121, 136, 138, 154, 157, 158, 159, 168, 171, 172, 173, 174, 179, 180, 204 Vertrag von Amsterdam 9, 34, 35, 36, 93, 94, 106, 189, 196, 205 Vertrag von Lissabon 15, 16, 31, 37, 38, 60, 195, 199, 205 Vertrag von Nizza 37 Vertragsverletzungsverfahren 59, 82 Vorabentscheidungsverfahren 59, 60, 61, 64, 70, 82, 196, 204 Willenstheorie

74

Ziel der Auslegung 11, 13, 71, 74, 75, 77, 87, 100, 136, 141, 185, 186, 189, 192 Zuständigkeit für Versicherungssachen 9, 20, 104, 107, 113, 117, 122, 128, 148, 153, 158, 165, 174, 175, 177, 204